FREDERIK POHL
SUPERCITY
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Bestseller Band 22105 Erste Auflage: ...
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FREDERIK POHL
SUPERCITY
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Bestseller Band 22105 Erste Auflage: August 1987 © Copyright 1984 by Frederik Pohl All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1987 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach
Originaltitel: The Years of the City Ins Deutsche übertragen von Harro Christensen Lektorat: Michael Kubiak/Dr. Helmut Pesch Titelillustration: James Warhola Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-22105-2
Der Held dieses Romans ist kein einzelner Mensch, sondern eine Stadt – New York City, Symbol der Freiheit, Zeichen der Tragödie und der Hoffnung unserer Zivilisation. Aus dem Hexenkessel der Armut und des Verfalls von morgen erhebt sich die gigantische, überkuppelte Megalopolis des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in einer Generationen umspannenden Geschichte von gewöhnlichen Menschen, die außergewöhnliche Probleme zu bewältigen haben. Frederik Pohl, einer der Großen der Science Fiction, Zeitgenosse von Isaac Asimov, Robert A. Heinlein und Arthur C. Clarke, hat mit diesem Roman seiner Heimat-Stadt New York ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Einleitung
Obwohl ich mein halbes Leben in eher ländlichen Vororten verbracht und zeitweise sogar in so bemerkenswert unstädtischen Orten wie Harlem, Pennsylvania, und Canadian, Texas, gelebt habe, betrachte ich mich als Stadtmenschen. Ich bin sogar ziemlich stolz darauf. Ich mag Städte. Ich respektiere sie und glaube, daß sie zur Kunst, zur Kultur, zur Wissenschaft und zum Erfindungsreichtum der Menschheit entscheidend beigetragen haben. Wie die Dinge jetzt liegen, erleben die Städte der Welt offenbar schwere Zeiten. Ich mache mir Sorgen, daß sie zu einer gefährdeten Spezies werden könnten, denn wenn man zuläßt, daß die Städte verfallen, wird es uns alle wahrscheinlich teuer zu stehen kommen. Im folgenden ist aus diesen Sorgen – und diesen Hoffnungen und sogar Gebeten – ein Science-Fiction-Roman geworden. Da ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene, Science Fiction zu schreiben, habe ich sehr viel über die Zukunft von Städten nachgedacht und auch über die Zukunft aller anderen Dinge. In diesem besonderen Fall indessen kann ich die lange Kette von Assoziationen, die zu diesem Buch führte, bis zu einem bestimmten Erlebnis zurückverfolgen, das ich Anfang 1973 nach einer Cocktail-Party hatte. Unter den Gästen war auch John V. Lindsay, der damalige Oberbürgermeister von New York. Zufällig verließen wir die Party zur gleichen Zeit und gingen in die gleiche Richtung, und Seine Exzellenz bot meiner Frau und mir freundlicherweise an, uns in seinem Dienstwagen mitzunehmen. Science-Fiction-Autoren sind nicht schüchtern, und ich nahm die Gelegenheit wahr, ihm zu sagen, was ich von der Verwaltung der Stadt hielt. In diesem
Zusammenhang äußerte ich ihm gegenüber die Ansicht, daß er den härtesten Job der Welt habe, denn New York sei viel zu groß und komplex, als daß es von einer einzigen zentralen Behörde regiert werden könne. Unsinn, sagte Lindsay. New Yorks einziges Problem sei seine unangemessen schmale Steuerbasis. Wenn es der Stadt gelänge, einen angemessenen Anteil des hier geschaffenen Steueraufkommens für sich zu behalten – ein großer Teil wird vom Staat New York an andere Regionen im Staat und von den Bundesbehörden an andere Staaten der U.S.A. verteilt – dann hätte sie eine faszinierende und goldene Zukunft vor sich. Und dann erzählte er mir, was er sich für die Zukunft der Stadt erhoffte und erträumte (wovon jedoch in diesem Buch keine Rede ist). Er hätte mich fast überzeugt. Aber ein paar Tage später verkündeten die Schlagzeilen, daß er gegen alle Erwartungen beschlossen habe, für eine weitere Amtsperiode nicht mehr zu kandidieren. So habe auch ich ihn vielleicht ein wenig überzeugt. Frederik Pohl
ICH BIN, WAS SIE DEN durchschnittlichen New Yorker nennen könnten. Ich bewege mich schnell, ich drücke mich knapp und drastisch aus, ich atme Ruß und Kohlenmonoxyd. Ich wohne in einer Gegend, wo die Wagen der Müllabfuhr und der Polizei mich die ganze Nacht wachhalten und wo es lebensgefährlich ist, über die Straße zu gehen, und dafür bezahle ich Unsummen – monströse Steuern und unverschämte Mieten gehören zu meiner Art zu leben. Ich möchte mich nicht verändern. Hier ist Action. Auch wenn Action bedeuten kann, daß ich auf der Straße ausgeraubt werde, und fast mit Sicherheit bedeutet, daß alle drei Jahre in meine Wohnung eingebrochen wird, bin ich doch Teil dieser Action. Ich habe nur vor einem Angst. Jeden Monat habe ich irgendein neues Verbrechen, einen Streik oder eine Katastrophe gesehen, und was ich fürchte, ist, daß eines Tages alles gleichzeitig geschieht… und das wird der Tag sein,
Als New York zusammenbrach
Shire Brandon, vierunddreißig, war für einen Witwer sehr jung, aber eben das war er. Er war ein vernünftiger Mann, einer der sich als Schöffe verpflichten läßt, obwohl er sich davor hätte drücken können. Aber so war er nun mal, obwohl er in seinem Job dringend benötigt wurde. Er hatte eine Tochter, die oft an Selbstmord dachte, und er lebte in einer Stadt, die ebenfalls dem Tode entgegenzutreiben schien, wenn auch nicht unbedingt absichtlich. Das war in der Tat ihr
größtes Problem. Sie schien überhaupt keinen kollektiven Plan zu haben. Brandon allerdings meinte zu wissen, wie man ihr helfen könnte, einen solchen zu entwickeln. Auf seine ungeschickte Art liebte Brandon sie beide: seine Tochter und seine Stadt. Für seine Tochter fand er nicht die richtigen Worte, und die Stadt hörte ganz einfach nicht zu. Vielleicht war die Stadt zu riesig, um eine einzelne Stimme verstehen zu können. Für jeden Tag, den das Jahr hat, gibt es eine Quadratmeile Stadt. Fast genau, denn es sind dreihundertfünfundsechzig Quadratmeilen mit ein paar Stellen hinter dem Komma. Die Stadt ist in fünf Bezirke eingeteilt, die gleichzeitig Verwaltungsbezirke des Staates New York sind. Sie hat zwanzig Inseln, die so groß sind, daß man darauf bauen kann – sie besteht fast nur aus Inseln. Als die PrudentialVersicherung vor Jahren ihr Verwaltungsgebäude in Boston errichtete, konnte sie deshalb auch stolz verkünden, der Wolkenkratzer sei das höchste Gebäude auf dem nordamerikanischen Kontinent. Das stimmte, denn Manhattan ist nicht Teil des Festlands. Die Bronx hingegen liegt auf dem Kontinent, aber wer baut schon in der Bronx? New York ist eine alte Stadt, wenigstens für die Hemisphäre, in der es liegt. Der erste, der New York besuchte (der erste Europäer natürlich, denn Farbige zählten nicht), war Giovanni Verrazano im Jahre 1524 (aber kein Teil der Stadt wurde nach ihm benannt – das blieb für Henry Hudson reserviert, der achtzig Jahre später lebte, denn auch Italiener zählten nicht). Vielleicht war schon vorher irgendein hartnäckiger Wikinger in einem Langschiff da, oder ein Ire, der sich mit seinem Boot aus mit Tierhäuten überzogenem Weidengeflecht dorthin verirrt hatte. Seither ist es von vielen besucht worden. Fast jeder war schon da. Zu Washingtons Zeit war New York eine winzige Stadt, und ein Besuch lohnte nicht. Washington selbst mochte sie nicht – hätte sie niederbrennen lassen, wenn der
Kongreß es zugelassen hätte (aber das brauchte er gar nicht erst zu tun, denn das besorgten aufrührerische New Yorker kurz nach seiner Abreise). Vorher waren da nur Indianer. Und nicht sehr viele. Und noch früher – nun, einige zig Millionen Jahre früher war New York überhaupt keine Stadt, nicht nur weil es keine Menschen gab, die dort hätten wohnen können, sondern weil es unter einigen der größten Berge lag, die der Planet Erde je hervorgebracht hat. Sie waren nicht von Dauer. Nichts ist von Dauer. Die Berge zerbröckelten (es heißt, daß sogar Gibraltar eines Tages zusammenfallen könnte), und die Wirkung des Regens und das Wasser der Ströme hobelten die Berge flach. Zweimal. Öfter als zweimal. Dieser Planet quetscht mehr Berge aus seiner Kruste, als ein junger Mann sich Mitesser ausdrückt, und die Wasser waschen sie weg, überall und endlos. Und zwischendurch, in diesem »Heute«, liegt hier die Stadt, weithin gehaßt und weithin beneidet, denn sie ist der Big Apple, das Monstrum. Man hört die einschläfernden Rhythmen des Broadway (oder bemerkt sie wenigstens), wo jeder tanzt, und manchmal trägt die Luft sie bis zum Strand von Collect Pond. Weil die Insel Manhattan so schön von tiefem fließendem Wasser umgeben ist, sahen die ursprünglichen Stadtplaner keine Notwendigkeit, Parks anzulegen. Spätere Generationen waren anderer Ansicht, und deshalb haben wir sie jetzt, Parks nämlich, sehr viele und sehr große, und man kann wunderbar in ihnen Spazierengehen – wenn man Mut hat. »Zigarette? Heh, Zigarette?« rufen herumlungernde Kerle und vergraulen die Kinder von den Schaukeln und die Älteren von den Schachtischen aus Beton. Bevor der Central Park ein Park wurde, war es eine schäbige Barackenstadt für die verzweifelnden Armen. Bevor Washington Square ein Park wurde, lag dort ein Armenfriedhof, auf dem die anonymen Toten oder die, die keine Freunde hatten, begraben wurden,
damit sie außer Sicht waren. Sie gerieten aber nicht weit außer Sicht, denn als die Planierraupen kamen, brauchten sie nur die obere Erdschicht zu durchstoßen, um gleich die Knochen der Armen zu zerbrechen. Mit seinen Prozessionen gewalttätiger Demonstranten in violetten Hemden ist der Broadway schwuler als je zuvor. Auf der Insel Manhattan gibt es mehr Ratten als Menschen, und die Stadt schwankt ständig zwischen Bankrott und Boom. Und manchmal läßt ein lauter Donner die Mauern erzittern, denn wenn jemand eine Bombe legen will, dann tut er es mit Vorliebe in New York City – warum sollte man sich die Mühe machen, in Los Angeles Bomben zu legen? Die Stadt hat schon alles gesehen, gehört und gerochen: Gletscher und Demonstrationen gegen die Wehrpflicht, Streiks der Müllabfuhr und den schlimmeren Gestank verbrennender Sklaven. Konfettiparaden und Börsenkräche. New York ist, wo das Geld ist. In dem Ausmaß, in dem Geld Macht bedeutet (und das Ausmaß ist beträchtlich), ist die Stadt die mit einem Schlagring bewehrte Faust der Macht. Wo heute das Gebäude der Vereinten Nationen steht, befand sich früher der größte Schlachthof der Stadt. An jedem Feuerhydranten parkt ein Wagen mit Diplomatenkennzeichen, und die Armen der Stadt sind – nun, nicht wirklich arm, wenn man an Kalkutta oder die lateinamerikanischen barrios denkt, aber gewiß arm an Hoffnung und Entschlußkraft. Natürlich gibt es Verbrechen. Das hat es immer gegeben. Auf dem unteren Broadway wurde 1643 ein Holländer von Indianern skalpiert. Die Holländer übten Vergeltung, und die Endabrechnung dieser Begegnung ergab: 200 tote Indianer und ein toter Holländer. Wenn New York auch nicht mehr die Mordmetropole der Nation ist (diesen Titel hat es an Städte in Florida, Arizona und Texas abgegeben), ist es dennoch kein Ort, an dem man durch den Park schlendert, um zu sehen, wie sich der Mond verfinstert, denn was verfinstert wird, könnte man selbst sein. New York
City wird verachtet und gefürchtet. New York City wird auch geliebt, aber ansonsten ist New York City ganz einfach da, eine zu gewaltige Tatsache, als daß man sie einfach wegwischen könnte. »City« und »Zivilisation« haben eine gemeinsame lateinische Wurzel, civitas, und man kann eines nicht ohne das andere haben. Hier liegt also die Stadt in diesem großen »Heute«, und hier sind einige ihrer Menschen: ein Teenager aus North Carolina, der am Busbahnhof Port Authority aussteigt, ein Bauplaner, der sich als futurologisch einwandfreien Wahrer städtischer Werte betrachtet, der Angestellte einer Denkfabrik, der glaubt, daß er alle Probleme der City lösen kann, ein Terrorist, ein Kind, das an Selbstmord denkt, eine Frau mit einer Mission und einem wahrhaft gottlosen Mundwerk, eine Million, mehrere Millionen andere. Die Stadt besteht nicht aus Holz und Steinen. Sie besteht aus Menschen. Und jeder von ihnen verfolgt seine Ziele, hat edle oder üble Motive, meistens unwichtige, aber eines wirkt auf das andere, und so funktioniert die Stadt. Es hört nie auf. Hier haben wir also vier dieser Menschen, drei sind zu sehen, und einer steht am Fenster einer Eingangshalle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um zu beobachten, was geschieht. Der Mann, den wir jetzt ganz aus der Nähe betrachten, ist der Mann, der glaubt, daß er alle Probleme der Stadt lösen kann – mit Hilfe gesellschaftlicher Neuerungen –, besonders mit solchen Neuerungen, die es den Leuten ermöglichen, die Regierung der Stadt unmittelbar zu kontrollieren. Damit ist er während seiner Arbeitszeit beschäftigt, aber zur Zeit arbeitet er nicht daran, denn seine Arbeit wurde durch eine frühere gesellschaftliche Neuerung unterbrochen. Er wurde als Schöffe verpflichtet. Auch hier macht er keine raschen Fortschritte, und das liegt an einer gesellschaftlichen Neuerung von beträchtlichem Alter. Die
Person auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat im Gebäude eine Bombe gelegt. Der Name des Denkers ist Shire Brandon. Er hat alles Vorhergegangene im Kopf, plus die Tatsache, daß seine Tochter Jo-Anne völlig fassungslos ist, weil ihre Mutter verschwunden ist. Und, ja, da ist auch noch der Streik der Müllabfuhr.
Die Verhandlung war eine Art Oratorium in gedämpfter Tonart; empörtes Kläffen vom Anwalt des Beklagten beim Kreuzverhör, feindselige Antworten mit murmelnder Altstimme von der Klägerin, und, wie im Wechselgesang, die Einwürfe ihres eigenen Anwalts – kaum genug, um die Schöffen wachzuhalten, nicht einmal den Richter. Und dann erfuhr der akustische Teil des Programms eine mimische Belebung. Ein Polizeibeamter betrat den Gerichtssaal. Er bewegte sich mit genau der Ruhe, die anzeigte, daß er allen Grund hatte, die Ruhe zu bewahren, und er flüsterte unhörbar dem Gerichtsdiener etwas zu, der es dem Gerichtsschreiber zumurmelte, der aufsprang, um dem Richter etwas zu sagen, was den Richter schockierte. Das war kein Flüstern mehr, wenn auch Brandon von seinem Platz auf der Geschworenenbank aus die Worte nicht verstehen konnte. Auch die Ruhe des Polizisten hatte sich aufgezehrt. Alle im Gerichtssaal saßen wie erstarrt. Der Richter schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. »Wir haben einen Anruf bekommen«, sagte er laut. »Man hat uns vor einer Bombe im Gebäude gewarnt. Folgen Sie dem Beamten aus dem Gebäude, bewahren Sie dabei die Ruhe und – und – warten Sie weitere Instruktionen ab!« Sofort war alles in Bewegung. Ein erstickter Schrei von der fetten Frau neben Brandon, ein nervöses Lachen vom Anwalt der Klägerin, und von dem Schwarzen im Seidenanzug ein lautes »Scheiße.«
»Beeilen Sie sich, verdammt nochmal«, brüllte der Polizist, der jetzt nicht mehr an sich hielt, und ohne Panik aber in großer Verwirrung waren alle plötzlich irgendwie zur Tür hinaus und die Marmorstufen hinuntergegangen und in die dunstige New Yorker Spätsommerluft hinausgetreten. Keiner bummelte. Keiner protestierte dagegen, über die Straße in den Park gescheucht zu werden, obwohl es dort entsetzlich stank – überall auf dem Rasen lagen drei Meter hohe Haufen von schwarzen Plastikmüllsäcken. Die Ratten hatten sich schon mit ihnen beschäftigt, und vielleicht auch die Säufer und die heruntergekommenen Weiber von der Bowery, denn die meisten Säcke waren aufgerissen, und ihr Inhalt quoll heraus. Teils als Waffe gegen den Gestank, hauptsächlich aber weil er seine Nikotinsucht so lange hatte unterdrücken müssen, holte Brandon im Weitergehen seine Zigaretten hervor. Das taten auch die meisten anderen, die mit ihm zusammen das städtische Gebäude verlassen hatten, und als er seine Taschen nach Streichhölzern abklopfte, hielt ihm jemand ein schmales Dunhill-Feuerzeug unter die Nase. Es war der Schwarze im Seidenanzug. Und hier sind unsere drei New Yorker schließlich zusammen – oder fast zusammen, denn Brandon hatte die dritte Person noch nicht gesehen, da die zweite sich gerade mit ihm bekanntmachte. »Mein Name ist Dan de Harcourt.« »Hallo, Mr. Harcourt. Ich bin – « »Nein, nein, nicht Harcourt, de Harcourt.« Brandon kannte diesen Mann, oder glaubte ihn zu kennen. Aber woher? Ach, natürlich. Dan de Harcourt war der Mann, der im Schöffenzimmer ständig das Telefon besetzte, während sie alle darauf warteten, wieder in den Verhandlungssaal zurückgerufen zu werden, und Brandon war einer der drei, fünf, manchmal zehn Leute, die Schlange standen, bis er den Apparat freigab. Was de Harcourt so lange am Telefon tat (wo
doch Brandon dringend sein Büro und noch dringender seine Tochter anrufen mußte) war nicht klar, wenn Brandon auch einmal, als er ganz vorn in der Schlange stand, bei einem solchen Gespräch das Wort »Investitionen« gehört hatte. Normalerweise bringt man einen zweiundzwanzigjährigen Schwarzen nicht mit Investitionen in Verbindung, dachte Brandon, aber dieser sah nach Geld aus – der Seidenanzug, die Gucci-Schuhe, der Hauch von Aramis, als er Brandon Feuer für seine Zigarette gab. Dies war kein Ort für Konversation. Sie wurden weitergedrängt, aber die Leute bewegten sich auch aus eigenem Antrieb, als Einzelne dem Gestank der Abfälle aus dem Fischrestaurant entgehen wollten, um dann festzustellen, daß sie sich dem Unrat des Pizza-Restaurants näherten, das einen Block weiter entfernt lag. Auf den Stufen des Amtsgebäudes standen uniformierte Polizisten, und ein paar Männer in Zivil – FBI? – führten angeleinte Hunde ins Innere – Dynamitschnüffler? Das Ganze war für alle Betroffenen eine erhebliche Unannehmlichkeit, aber es war gleichzeitig aufregend. Wenn der Gestank der Abfälle nicht gewesen wäre, hätte es fast Spaß machen können. Ein Übertragungswagen von Kanal 2 war schon am Rande des Platzes aufgefahren, und seine Kamera schwenkte herum, um die Menge ins Bild zu bekommen – ich habe eine gute Chance, dachte fast jeder der Anwesenden, heute abend in den Sechs-Uhr-Nachrichten zu erscheinen. Kanal 7 hatte eine tragbare Kamera, und eine vertraute Gestalt – Tom Snyder? – sprach auf den Stufen des Gebäudes mit einem Polizisten, der eine goldene Plakette trug, während der Wagen der WPIX gerade vorfuhr. Diese Leute verschwenden ihre Zeit gewiß nicht auf einen blinden Alarm – vermuteten die Anwesenden – und so mischte sich ein Hauch von Gefahr in die schon vorhandene Spannung, und jeder setzte sein
fotogenstes Gesicht auf, für den Fall, daß die Kamera in seine Richtung schwenkte, damit auch er zu den Helden gehören konnte – Julius und Ethel Rosenberg, Reverend Sun Myung Moon, Senatoren, Bankiers, Bankräuber – die sich an diesem Ort schon vor ihnen den Fernsehkameras gestellt hatten. Wie alle anderen schob sich Brandon näher heran, wenn auch (wie er sich sagte) seine Motive andere waren, und hätte beinahe einen schmächtigen älteren Mann umgerannt, dessen Brillengläser wie Flaschenböden aussahen. »Mr. Feigerman«, rief er erfreut. »Sie hätte ich hier nicht erwartet!« Da de Rintelen Feigermans Beziehungen zu Shire Brandon nur eine sehr kleine Facette seines Lebens ausmachten, davon, daß er fast blind war, ganz zu schweigen, reagierte er nicht gleich. Am Jefferson Commonwealth Institute for Governmental Studies war de Rintelen Feigerman Mitglied des Vorstands, wenn er das Instituts auch nur zu den zweimonatlichen Sitzungen, zu einer gelegentlichen Konferenz und zur Weihnachtsfeier aufsuchte. Dort, in der vertrauten Umgebung, erkannte er den Vorsitzenden des Komitees für Ziele und Strategien, nicht aber in der heißen Fieberatmosphäre des Foley Square während einer Bombendrohung. Dennoch gelang es ihm, das Gesicht unterzubringen, das er nur trübe vor sich sah. »Ach ja, der Mann von der Allgemeinen Stadtversammlung«, sagte er und streckte die Hand aus. »Wie kommt das Projekt voran?« Um diese Frage vernünftig zu beantworten, hätte Brandon über mindestens ein Dutzend Aspekte und Verästelungen der Angelegenheit berichten müssen. Die Allgemeine Stadtversammlung selbst war kompliziert genug, und Brandon war durchaus nicht sicher, ob Feigerman überhaupt wußte, worum es da ging, außer daß es sich darum handelte, sich der elektronischen Medien zu bedienen, um alle Einwohner von New York City zu Gesprächen zusammenzubringen. Die
vorbereitenden Gespräche mit den Rundfunk- und Fernsehsendern waren eine andere Sache – eigentlich zweiundzwanzig andere – denn jeder Sender bestand auf seinen eigenen Regeln. Aber darüber hinaus hätte Brandon erklären müssen, daß vorläufig aus der Sache nichts werden könne, weil er zur Zeit mit einem langwierigen Scheidungsprozeß befaßt war und sein Privatleben in Trümmern lag. Nur Brandons hochorganisiertem Verstand war es zuzuschreiben, daß er das alles in drei oder vier Sätzen zusammenfassen konnte. Dabei wies er auf die Leute vom Fernsehen, um anzudeuten, wie die elektronischen Medien eine Gesellschaft mit ihren Millionen Mitgliedern in Verbindung halten können, und auf die Müllsackhalden als Beispiel für die Art von Problemen, die von der Allgemeinen Stadtversammlung gelöst werden könnten. Und es war dem Begriffsvermögen des alten Feigerman zuzuschreiben, daß er genug von dem verstand, was Brandon ihm sagte, um die passende Frage zu stellen – wenn er auch aus langer Erfahrung mit verzwickten Problemen wußte, daß man sehr wohl die passende Frage stellen konnte, auch ohne vorher die Erklärungen verstanden zu haben. Feigermann sagte nur: »Was brauchen Sie denn, damit das Projekt vorankommt?« »Hilfe vom Rathaus«, sagte Brandon sofort und versuchte, an Feigermans Gesicht eine Reaktion abzulesen. Aber durch die dicken verzerrenden Brillengläser war nichts zu erkennen. Er fuhr fort: »Die Sender verzögern die Sache – keiner will der erste sein, der einen ganzen Abend Sendezeit zur Verfügung stellt. Aber sie alle wissen, daß die Bundeskommission für Kommunikation ihnen dafür Pluspunkte geben wird. Wenn also der Bürgermeister ein gutes Wort einlegen würde, könnten die Dinge vielleicht in Bewegung kommen.«
Und dann merkte er, daß die fehlende Reaktion des anderen wenigstens zum Teil darauf zurückzuführen war, daß der alte Mann sich nicht wohlfühlte. Die Hitze, der Gestank, die Menschenmenge – Mr. Feigerman sah sehr blaß aus. Schäbiges feindseliges New York – dennoch, sobald der nächste Polizist sah, was hier vorging, rannte er zu einem der Krankenwagen, um Sauerstoff zu holen, und die acht Leute, die zusammengedrängt auf einer Bank für sechs Personen saßen, standen sofort auf, damit Mr. Feigerman sich hinlegen konnte. Sie traten sogar ein Stück zurück, um ihm Raum zu schaffen; und der Schwarze mit dem Dunhill-Feuerzeug zog sein Seidenjackett aus, um Mr. Feigermann damit Luft zuzufächeln… und als der Polizist mit dem Sauerstoff zurückkam, saß Mr. Feigerman schon wieder, und seine Farbe war zurückgekehrt, und ein Captain von der Polizei mit einem Lautsprecher verkündete von den Stufen, die Bombendrohung sei ein übler Scherz gewesen. Jeder nahm also die Beschäftigung wieder auf, der er vorher nachgegangen war. Mr. Feigermans Studie über die Einwirkungen, die die neuen Wohnblocks an der Queens-Seite des East River auf die Umgebung haben würden, wurde in zweiter Lesung gebilligt; Mrs. Madeleine Finster kam von ihrem Mann frei, und ihr wurde das Haus und das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zugesprochen, und damit waren an jenem Tag wenigstens zwei Probleme der Stadt gelöst worden. Natürlich gab es andere. Die Müllhalden wuchsen immer noch an, die Polizei drohte mit Streik, wenn ihre neuen Verträge ihnen nicht mehr Geld garantierten, als die Feuerwehrleute bekamen und auf einen IRT-Express, der von einem falsch funktionierenden roten Licht gestoppt worden war, fuhr von hinten ein anderer Zug auf, dem ein falsch funktionierendes grünes Licht freie Fahrt gegeben hatte – es gab acht Tote und über zweihundert Verletzte, und der gesamte Verkehr brach
zusammen, so daß Shire Brandon selbst nach der Verhandlung des anstehenden Falles keine Aussicht hatte, sein Büro zu erreichen. Und als Brandon dann nach Hause kam, saß seine Tochter JoAnne mitten im Wohnzimmer und weinte ganz verzweifelt. Ihr Weinen war keine Überraschung. Sie hatte immer wieder geweint, seit der Mann von der privaten Müllabfuhr eines Morgens ihre Mutter auf dem Bürgersteig gefunden hatte. Die beiden Polizeibeamten in Zivil, die bei Brandons Tochter saßen, waren allerdings eine Überraschung. Nachdem er ihre Anwesenheit registriert und festgestellt hatte, daß sämtliche Bücher, die vorher in den Wandregalen gestanden hatten, auf dem Fußboden verstreut waren, war Brandon nicht überrascht zu erfahren, daß in seiner Wohnung eingebrochen worden war, während Jo-Anne sich in der Schule aufhielt und er im Gerichtsgebäude seiner Bürgerpflicht nachkam.
Mein Name ist Gwenna Anderson, aber man nennt mich Vanilla, weil ich die einzige von Dandys Huren bin, die weiß ist. Als Dandy am Busbahnhof Port Authority auf mich zukam, und mir anbot, mich mitzunehmen, wohin ich wollte, kannte ich schon das Ziel der Reise. Ich war bereit. Ich war fünfzehn Jahre alt, aber das bedeutet nicht, daß ich nicht wußte, was ein Zuhälter ist. In dem Speiserestaurant in North Carolina gab es keine Zuhälter. Nur den Mann am Verkaufstresen. Und den Kellner und den Koch für die Schnellgerichte und abends, wenn nicht viel los war, noch ein paar Gäste, und wenn ich immer noch mein Geld zu Lasten meines Rückens verdiene, liege ich dabei wenigstens im Bett, anstatt auf den schmierigen Laufbrettern in der Küche zu stehen. Und meine Füße tun nicht mehr weh.
Wenigstens das Bettzeug hatten die Einbrecher nicht mitgenommen, so daß sich wenigstens in dieser Hinsicht nichts verändert hatte, als Brandon aufwachte. Jo-Anne stand in der Tür und hielt seinen Entlassungsschein aus der Armee der Vereinigten Staaten in der Hand. »Ich habe aufgeräumt«, sagte sie. »Dabei habe ich dies gefunden. Ich weiß nicht, wo ich es hinlegen soll.« Um sich daran zu erinnern, daß in die Wohnung eingebrochen worden war, mußte Brandon von den Worten seiner Tochter aus rückwärts denken. »Leg’s irgendwo hin, Honey«, sagte er und schaute sich um. Ja, es war kein Traum; die Sachen, die aus den Schubladen gerissen und auf dem Fußboden verstreut worden waren, lagen alle wieder in der einen oder anderen Schublade, aber das Fernsehgerät, das neben seinem Bett gestanden hatte, war weg. Sie konnten nicht die Today Show sehen, während sie ihr Frühstück aßen, denn das andere Fernsehgerät war ebenfalls verschwunden. Der Kasten, in dem seine Manschettenknöpfe und sein Trauring gelegen hatten, stand leer auf dem Nachttisch. Auch seine Briefmarken waren weg, genauso wie die achtzehn silbernen Vierteldollarmünzen, die Jo-Anne seit der Münzumstellung aufbewahrt hatte. Außerdem fehlte ihre Kofferschreibmaschine und sogar ihr Porzellanschwein – der Inhalt, meinte sie, mochte fünfzig Dollar betragen haben, denn sie hatte für Skier gespart. Mr. Rozak, der Hausmeister schaute herein, als sie noch aßen, um zu sehen, wie sie mit diesem Mißgeschick fertigwurden, und mit ihm kam einer der Nachbarn, Mr. Becquerel aus dem vierten Stock. Beide glaubten, es seien die Züps von gegenüber gewesen. Die Polizei schien überhaupt keine Theorie zu haben, und sie schien auch nicht viel Hoffnung zu haben, daß die gestohlenen Gegenstände je wieder auftauchen würden. Als Brandon sich rasiert hatte und aus seinem Zimmer kam, stand Jo-Anne am Fenster, um zu
sehen, was die Züps heute taten. »Komm nicht zu spät zur Schule«, sagte er automatisch, aber als er sich neben sie stellte, sah er, daß die Züps sich einer interessanten Tätigkeit widmeten. Ihre Nachbarn von gegenüber waren was man »Zu überwachende Personen« nannte – kurz Züps – und das bedeutete, daß sie ein Jugenderziehungsheim, ein Gefängnis oder ein Obdachlosenasyl absolviert hatten. Sie waren alle jung, alle männlich und alle schwarz. Brandon war der Ansicht gewesen, daß sie eigentlich keine schlechten Nachbarn waren, wenn man davon absah, daß sie zu ungewöhnlichen Tageszeiten Lärm in nicht vorhersehbarer Lautstärke veranstalteten. Und sie taten wirklich seltsame Dinge. Der Lärm von heute morgen bestand aus Hau-ruck-Rufen, Ächzen und anderem Geschrei, während vier oder fünf von ihnen einen Chrysler Imperial hin und her schaukelten. Wer immer den Wagen dort abgestellt hatte, mußte vergessen haben, die Handbremse anzuziehen, und auch um das Schild PARKEN VERBOTEN, NUR FÜR FAHRZEUGE DER SOZIALBEHÖRDE hatte er sich nicht gekümmert. »Honey«, sagte Brandon, »ich möchte heute etwas früher losfahren, denn ich muß in der 42. Street etwas abholen…« »Ich bin fertig, Daddy«, sagte sie. Sie drückte den Fahrstuhlknopf, während er die Wohnungstür doppelt abschloß – das zweite Schloß war am Vorabend um zehn Uhr installiert worden, und er hatte seiner Tochter dabei erklärt, was es bedeutet »das Scheunentor abzuschließen, wenn das Pferd schon gestohlen ist.« »Ich fahre dich zur Schule«, sagte er wie jeden Morgen, und »Danke, Daddy«, sagte sie wie jeden Morgen, als sei überhaupt nichts geschehen. Als sie auf den Bürgersteig hinaustraten, hatten die Züps ihre Beute mitten auf die Straße geschoben. Unglücklicherweise standen die Räder geradeaus gerichtet. Da niemand in das Innere gelangen konnte, um das
Lenkrad zu bewegen, konnte der Wagen nur vorwärts oder rückwärts geschoben werden, und deshalb war jetzt der ganze Block von Fahrzeugen verstopft, von denen die meisten hupten, und sie mußten bis zur nächsten Ecke gehen, um ein Taxi zu finden. Als sie das Bekleidungszentrum erreichten, schlich das Taxi nur noch. Dann bewegte es sich überhaupt nicht mehr, während das Licht der Verkehrsampeln dreimal wechselte, denn eine Zugmaschine mit Anhänger, die abbiegen wollte, blockierte die Kreuzung. »Ich gehe zu Fuß weiter«, sagte Brandon durch das Drahtgitter, das den Fahrer vor einem Raubüberfall schützen sollte, und wer konnte es wissen, vielleicht tat es das sogar gelegentlich. Er gab dem Mann einen Dollar Trinkgeld. Das reichte nicht, den Fahrer daran zu hindern, unwillig vor sich hinzumurmeln, weil sein Fahrgast ihn bei einem kleinen Stau sofort verließ. Brandon hatte es eigentlich gar nicht eilig. Der Lagebericht, den er im alten McGraw-Hill Building in der West 42. Street abholen wollte, würde ihn den ganzen Vormittag beschäftigen, aber bevor er sich damit befassen konnte, mußte Brandon an eine Menge anderer Dinge denken. Bei Problemen bestand immer das Problem, zu entscheiden, welches man zuerst in Angriff nehmen sollte. Das war eine althergebrachte Weisheit, die Shire Brandon am Beispiel Dr. Jessica Grais illustriert sah, der Direktorin der Lebensstilanalyse. Wenn man sich überhaupt einmal mit einem Anliegen an sie wandte, lautete Dr. Grais Antwort: »Ich habe nur einen Stapel Prioritäten, und nur eine liegt oben – wohin soll ich diese tun?« Aber nach Brandons Erfahrung kamen Probleme nicht stapelweise. Sie kamen wie konzentrische Wirbel, wie schwarze Löcher im Universum. Man konnte sich mit den Kernproblemen nicht nur nicht befassen, man konnte sie nach einer Weile gar nicht mehr erkennen, weil sich ganze
Schichten anderer Probleme um sie herumgelegt hatten. Aber sie waren trotzdem noch da, und sie schmerzten. Als Brandon das alte grüne Art-Deco-Gebäude in der West 42nd Street verlassen hatte und die Eighth Avenue entlangschlenderte, widmete er deshalb seine ganze Aufmerksamkeit dem Versuch, sich daran zu erinnern, was denn eigentlich die Kernprobleme waren. Ganz außen lag das Problem, sich für die Sitzung des Planungskomitees am Nachmittag vorzubereiten. Gleich darunter der Einbruch. Irgendwo in der Nähe der äußeren Schichten sein Entschluß, einige der Gespräche mit Jo-Anne zu Ende zu führen, die er angefangen, aber unterbrochen hatte: ob sie zusammen mit ihren Freundinnen an der Pyjama-Party teilnehmen sollte; warum die Züps so waren, wie sie nun einmal waren; warum es, selbst in den späten achtziger Jahren, besser wäre, auf Klimaanlagen zu verzichten, obwohl deren Lärm bewirkte, daß die übrigen Bewohner des Hauses den Züps gegenüber etwas mehr Toleranz aufbrachten, als sie es sonst getan hätten. Dazu kam die bohrende Sorge, das er impotent sein könnte, denn nicht einmal die Mädchen in Hot Pants fand er attraktiv… in ihm geriet alles durcheinander, und unter der Oberfläche seiner geringeren Sorgen brodelte es. Der Kern allerdings stand nicht in Zweifel. Der Kern war die Tatsache, daß Jo-Anne unglücklich war, und dieser Kern war ein Quasar, so hell, daß er durch alle anderen Schichten hindurchschien. Es ist hart für einen Mann, wenn seine Frau an sechs Stockwerken vorbei durch die Luft fliegt. Aber es ist schlimmer für ein zehnjähriges Mädchen, besonders wenn die Zehnjährige als erste von den Sirenen geweckt wird und feststellt, daß von Mommy nur ein Zettel geblieben ist, auf dem steht:
Ich liebe euch beide, aber die vielen Lügen machen mich verrückt. Ich halte diese Situation nicht mehr aus. In Liebe Maude Und als Brandon aufwachte und erfuhr, daß seine Frau Selbstmord begangen hatte, war das Schlimmste nicht die Hysterie des Kindes sondern die Frage, der man nicht ausweichen, die man aber auch nicht beantworten konnte: »Was für ›Lügen‹ meint sie, Daddy?« Irgendwann mußte er antworten – aber, um Gottes willen, doch frühestens in ein paar Jahren. Das Jefferson Commonwealth Building war ein Plagiat des elegantesten aller Bürogebäude, des Rockefeller Center in der East 42nd Street. Es war dreißig Stockwerke hoch, und der Teil des Gebäudes, der der Straße am nächsten lag, war ein Garten. Die Wand zur Straße hin war aus Glas und fast hundert Meter hoch. Hinter dem Glas lag eine Laube. Es gab einen langsam fließenden Wasserlauf, in dem sich rosaweiße und goldene Karpfen unruhig bewegten. Es gab Ti-Blumen aus Hawaii und einen bengalischen Feigenbaum; es gab einen Hain mit einem halben Dutzend Bananenstauden und Orangenbäumen, und fast jede Woche gab es ein halbes Dutzend am Baum gereifte Orangen und eine oder zwei Hände voll Bananen, die die Sekretärinnen mit nach Hause nehmen konnten. Winter oder Sommer, in diesem kleinen tropischen Paradies an der Eighth Avenue wurde die Temperatur konstant auf fünfundzwanzig Grad gehalten, und die Passanten, schwitzend, frierend oder durchnäßt, gafften neidisch in den Himmel hinein. Sie konnten nur gaffen, denn wer im Institut keine Geschäfte zu erledigen hatte, kam am Portier nicht vorbei. Im Augenblick wollte Brandon sich am liebsten ein dänisches Käsebrötchen vom Kaffeewagen holen und sich damit unter
den Feigenbaum setzen und zuschauen, wie die Karpfen den Krumen hinterherjagten. Er widerstand dieser Versuchung. Wenn man für eine Denkfabrik arbeitete, mußte man viel mehr als die Angestellten irgendeiner anderen Firma darauf achten, einen fähigen und dynamischen Eindruck zu machen. Deshalb schickte er seine Sekretärin Kim Hwa Kaffee und Brötchen holen, und seinen Forschungsassistenten Al Plugman bat er, den Lagebericht zu kopieren. Beide empfing er dann auf seinem kleinen Balkon im achtzehnten Stock. Wenn es Brandon gelänge, für die Planungsversammlung eine zusammenhängende Liste von Empfehlungen zu erstellen, würde sein Bericht der Beratungskommission vorgelegt werden – die ihn ihrerseits mit der Studiengruppe des Bürgermeisters diskutieren würde, damit diese ihn vielleicht an den Bürgermeister weiterreichte – das halbe Dutzend Vorschläge für eine Wahlreform, das den Inhalt der Doktorarbeit Brandons gebildet hatte, war von der University Press als Buch herausgegeben worden, das zwar selten gelesen wurde, aber gute Kritiken erhalten hatte, und deshalb unmittelbar zu seiner Ernennung zum Direktor des Komitees für Ziele und Strategien im Jefferson Institute führte. Zu diesen Zielen gehörten: Die Allgemeine Stadtversammlung, die durch Zufallsbefragung gewöhnlicher Bürger mittels elektronischer Medien vielleicht zu einer Versammlung führen würde, die Entscheidungen treffen konnte, vergleichbar den Stadtversammlungen in New England oder der Agora im alten Griechenland. Die Fünf-Prozent-Lösung, die vorsah, daß Bürger, die bereit waren, eine Sondersteuer von fünf Prozent ihrer Einkommensteuer zu zahlen, bestimmen konnten, daß ihre gesamten Steuern für Regierungsvorhaben verwendet wurden, die sie für besonders wichtig hielten.
Die Große Bürger-Jury, ausgestattet mit den gleichen gesetzlichen Vollmachten wie ein Geschworenengericht, aber darüber hinaus befugt, alle Regierungsbehörden und quasibehördlichen Instanzen vorzuladen und zu befragen sowie Empfehlungen für die Allgemeine Stadtversammlung auszuarbeiten. Das Städtische Cafeteria-Budget, das jedem Bürger gestattete, eine bestimmte Anzahl von Dienstleistungen gratis in Anspruch zu nehmen – und wenn er sie lieber in Form von Parks oder Swimming-pools als in Form von Schulen für seine Kinder oder Freiluftkonzerten haben wollte, konnte er seine Wahl dadurch bekanntgeben, daß er bei jeder Inanspruchnahme einer solchen Dienstleistung seine »Kreditkarte« entsprechend lochen ließ. Es gab noch weitere Vorschläge, Brandon hatte drei Jahre damit verbracht, sie sich auszudenken, während Maude und er von seiner Kriegsteilnehmerabfindung lebten und Jo-Anne laufen und sprechen und ohne Windel auszukommen lernte. In mancher Hinsicht war dies die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Aber nur sieben seiner Vorschläge hatten die Kritik seines Doktorvaters überlebt, und von diesen hatte die Beratungskommission des Jefferson Institute nur vier durchgehen lassen. All diese gesellschaftlichen Neuerungen auszudenken – die Leute, bei denen er sich zuerst um einen Job beworben hatte, hielten das Ganze für Spinnerei –, hatte Spaß gemacht, und mit ihnen wäre alles erreicht worden, was er sich als hungerleidender und überalteter graduierter Student erträumt hatte. Dem stand nur eines im Wege: Kein Mensch, der in irgendeiner zivilen Behörde auch nur das geringste zu sagen hatte, zeigte Interesse, die Vorschläge in die Praxis umzusetzen.
Aber vielleicht könnte die Beratungskommission die Dinge endlich in Schwung bringen; er mußte nur einen vernünftigen Bericht zusammenstellen. Also unterzog sich Brandon der Mühe, er las, machte Notizen, diktierte Teile seiner Überlegungen in Kims Stenorette. Es war nicht einfach, denn sein Verstand mochte sich mit öffentlichen Angelegenheiten nicht befassen, sondern kam immer wieder auf Brandons privates Mißgeschick zurück. Er ertappte sich dabei, daß er träumte oder zu anderen Balkons hinüberschaute, wo Leute mit hundert verschiedenen Dingen beschäftigt waren – viele davon Frauen und viele in für den Sommer und für die Tropenlandschaft im Haus geeigneter Kleidung, in kurzen Röcken oder sogar in Shorts. Er sah, wo glatte Schenkel, blaß oder kakao- oder kaffeebraun, unter Schreibmaschinentischen verschwanden, und wünschte, er sei an der einen oder anderen Besitzerin von ihnen interessierter, als es in Wirklichkeit der Fall war… Und wurde von Simon Moberly, dem alten und ehrenwerten Direktor des Instituts, dabei erwischt, wie er eine Frau, die ein Stockwerk höher saß, unter das Kleid sah. »Was machen Sie denn hier?« wollte der Direktor wissen und schaute sich entsetzt auf dem Balkon um. »Ach, es ist einfach bequemer hier. Und es gibt weniger Unterbrechungen.« »Das meine ich nicht, ich meine, warum sind Sie hier und nicht unten im Rathaus? Haben Sie denn meine Nachricht nicht bekommen? Saul Wassermann erwartet Sie.« »Wieso… ich… mir hat niemand etwas gesagt«, antwortete Brandon. »Das hat Mr. Feigerman arrangiert – er sagte, er hätte gestern mit Ihnen darüber gesprochen. Sehr gescheit von Ihnen, es bei der Gelegenheit gleich zur Sprache zu bringen, obwohl natürlich jede Verbindung mit Mitgliedern der
Beratungskommission über die vorgesehenen Kanäle laufen müßte.« Er faßte sich wieder. »Nein«, sagte er. »Darüber zu reden, haben wir jetzt keine Zeit. Sie müssen in vierzig Minuten dort sein, Shire! Sie wollen doch gewiß Saul Wassermann nicht warten lassen!«
Gewiß wollte niemand Saul Wassermann warten lassen. Er war einer der Männer, die Macht hatten. Saul war es, der den Bürgermeister programmierte. Saul war der Drücker an der Tür des Bürgermeisters und das Hörgerät in dessen Ohr, Saul hatte eine Karte des Labyrinths im Kopf, durch das man hindurchmußte, um die politische Maschinerie der Stadt in Gang zu setzen. Um mit den Gewerkschaften ins Gespräch zu kommen. Finanzielle Zusagen von den Bankern zu erhalten. Die Mächtigen aus den Bezirken und Stadtteilen günstig zu stimmen, besonders diejenigen, die an dieser speziellen Methode, die öffentliche Kuh zu melken, nicht teilnahmen. Einen Stadtverordneten zu finden, der den Erlaß ins Gespräch brachte, ihn den Beamten und den Angehörigen der Legislative erklärte, ihn mit Albany abstimmte, wenn der Staat tangiert war, die Kongreßabgeordneten ins Bild setzte, damit Washington keine Schwierigkeiten machte. Die Bürgervereinigungen und die Vertretungen der Steuerzahler überreden, den Erlaß zu unterstützen oder wenigstens wegzuschauen, während er über die Bühne ging – rekrutieren; neutralisieren; den einen oder anderen Kuhhandel treiben; locken… und dann, wenn man Glück hatte, würden die Räder greifen und die Maschine sich in Bewegung setzen, und eine neue U-Bahnlinie würde dabei herauskommen, oder ein Park oder ein Auditorium oder ein neues Amt. Vielleicht funktionierte die Regierungsmaschinerie auch ohne Leute wie Saul Wassermann. Das wußte niemand. Das Experiment war
nie ausprobiert worden. In Städten oder Nationen, unter Diktatoren oder Bürgermeistern oder Königen waren es immer die Techniker, die wußten, wo die Hebel der Macht zu finden waren. Manchmal tarnte er sich und war freundlich, ein Colonel House oder ein Harry Hopkins. Manchmal erregte er Aufsehen: Haldeman, Rasputin, Talleyrand. Oder Saul Wassermann. Saul Wassermann entsprach der Talleyrand-RasputinKlassifizierung. Ostentativ stellte er das Zubehör der Macht zur Schau. Sein Büro war genauso groß wie das des Bürgermeisters, und wenn die beiden sich verabredeten, war es Saul, der den Zeitpunkt bestimmte. Er bestimmte auch für Shire Brandon die Zeit, indem er Brandon eine Stunde und zwanzig Minuten in einem Zimmer ohne Fenster und ohne vernünftige Sitzgelegenheit warten ließ. Als Brandon endlich das Büro betreten durfte, war die Wartezeit noch nicht zu Ende, denn Wassermann führte ein Telefongespräch. Er drehte sich auf seinem Stuhl herum und schaute über den Rathauspark hinweg auf die unter der Nachmittagshitze ächzende Stadt. Selbst im Gebäude roch man den Streik der Müllabfuhr, denn auch im Rathauspark lagen die Säcke mit Unrat drei Meter hoch. In der Nähe des Schreibtisches stand sein Stuhl. Brandon hatte keine Wahl; er mußte stehenbleiben, bis Wassermann sich umdrehte, den Hörer auf die Gabel knallte und ihn ansah. »Danke, daß Sie gekommen sind, Brandon«, sagte er freundlich. »Was haben Sie mir denn mitgebracht?« Dies war der Moment. Brandon hatte seinen Vortrag geprobt, und er fing gut an. »Dies ist das Grundsatzprogramm«, sagte er und ließ etwas über zweihundert kopierte Seiten auf Wassermanns Schreibtisch fallen. »Ich erwarte nicht, daß Sie das alles lesen – wir Akademiker sind manchmal ein wenig weitschweifig. Es enthält einige Hauptpunkte. Erstens, die
Leute lassen sich in ihrem Verhalten eher von der Vorstellung, die sie von den Tatsachen haben, leiten als von den Tatsachen selbst. Zweitens, der Grund für die meisten Streiks und Unruhen in der City, ja, in der ganzen Welt, ist das Gefühl, unfair behandelt zu werden und hilflos zu sein – die Menschen glauben, daß sie keinen gerechten Anteil an den Gütern dieser Welt bekommen, und gleichzeitig haben sie praktisch keine Möglichkeit, das zu ändern. Drittens, hinter den meisten dieser Vorstellungen verbirgt sich ein Stück Realität. Die guten Dinge dieser Welt sind nicht gleichmäßig verteilt, und die meisten Menschen haben in der Tat praktisch keine Möglichkeit, darauf Einfluß zu nehmen. Das alles gehört zur Einleitung und wird auf den ersten fünf Seiten abgehandelt – aber das wissen Sie wahrscheinlich schon.« Wassermann nickte: weiter, weiter. »Was wir also vorschlagen«, dozierte Brandon, der jetzt ein wenig schneller sprach, »ist, diese Hilflosigkeit zu steuern – diese Anomie, wie man es auch nennt –, indem wir dem Durchschnittsbürger Gelegenheit geben, die Welt, in der er lebt, auch wirklich zu kontrollieren. In einer Gemeinschaft, die so groß ist wie die unsere, kann dem Individuum natürlich kein sehr großer Anteil an Kontrolle eingeräumt werden. Aber wir können jedem das Gefühl geben, daß er wenigstens etwas Macht ausübt, indem wir ihm das tatsächlich zugestehen. Das erreichen wir, indem wir ihm die Gelegenheit geben, in einem gewissen Umfang selbst zu bestimmen, wie seine Steuergelder ausgegeben werden – wir nennen es die ›Fünf Prozent-Lösung‹ – und, von lebenswichtigen Dingen abgesehen, selbst zu entscheiden, von welchen Regierungsleistungen er Gebrauch machen will – das nennen wir das ›Städtische Cafeteria-Budget‹ – und schließlich sich durch die Allgemeine Stadtversammlung an wichtigen Entscheidungen zu beteiligen.«
Ich trage das alles recht gut vor, sagte sich Brandon, aber dennoch merkte er, daß Wassermanns Begeisterung sich in sehr engen Grenzen hielt. Sein Höflichkeitspegel sank Zoll um Zoll; der Index seiner Ungeduld stieg Stück um Stück. »Es gibt«, sagte Brandon und faßte zusammen, »noch eine Anzahl weiterer Vorschläge. Die Legislative für selektive Dienstleistungen. Die Große Bürger-Jury. Die – « »Entschuldigen Sie«, sagte Wassermann, und obwohl er immer noch höflich war, wußte Brandon, daß der Mann nicht mehr interessiert war. »Ich will wissen, ob ich alles richtig verstanden habe. Alle diese Dinge, die Sie empfehlen, laufen doch darauf hinaus, daß hier völlig anders regiert werden soll, oder irre ich mich?« »Ja, im Grunde läuft es darauf hinaus«, gab Brandon zu. »Äh-häh«, sagte Wassermann. Er blätterte eine Weile in den Papieren auf seinem Schreibtisch, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er dachte eine Sekunde lang nach und sah dann Brandon an. »Ich habe Sie nur deshalb kommen lassen, weil Feigerman & Tisdale mich anriefen. Die Leute sind ziemlich wichtig für diese Stadt. Überall laufen ihre Bauprojekte, und sie bauen gut und organisieren alles bestens. Sie haben recht weitreichende Ideen im Zusammenhang mit Projekten, für die die Stadt sich interessieren sollte, und als Mr. Feigermans Leute sagten, daß ich mich mit Ihnen einmal unterhalten sollte, war ich gleich bereit, die Gelegenheit zu nutzen.« »Das freut mich sehr«, sagte Brandon. »Aber dies hier hatte ich nicht erwartet«, sagte Wassermann freundlich. »Ich hatte gehofft, daß ich von Ihnen etwas Konkretes bekommen würde. In der Industrie verlieren wir durchschnittlich dreizehntausend Jobs im Jahr. Geben Sie mir etwas, das Arbeitsplätze schafft. Die Wohnungsmieten sprengen jedes vernünftige Maß, und dennoch können wir nicht alle Leute unterbringen, die hier leben wollen. Geben Sie
mir Pläne für das Wohnungsproblem, aber kommen Sie mir nicht mit politischen Theorien. Politische Theorien bringen mir keine Steuereinnahmen.« Er zog eine Schublade auf und holte eine dicke rote Mappe heraus. »Hier habe ich Material, das Mr. Feigerman vor ein paar Monaten für uns zusammengestellt hat. Warum nehmen Sie es nicht mit zur Stiftung? Ihre Leute sollen sich das einmal ansehen. Prüfen Sie, ob sich irgend etwas davon verwirklichen läßt. Dann kommen Sie wieder her, damit wir darüber reden können.« Er stand auf und reichte Brandon die Hand. »Wenn es überhaupt Sinn hat«, fügte er hinzu.
Der Direktor war nicht wütend, denn der Direktor gestattete sich unter keinen Umständen, wütend zu werden. Er war nur sehr, sehr enttäuscht. »Ich hatte gehofft«, sagte er matt, »daß dies für uns einen Durchbruch bedeuten würde. Was sind das denn für Vorschläge, die Mr. Feigermans Büro dem Bürgermeister unterbreitet hat?« »Sofortmaßnahmen«, sagte Brandon bitter, »Sofortmaßnahmen und Bauprojekte.« Er hob die Mappe, auf deren Deckel die Worte Feigerman & Tisdale, Ingenieurbau geprägt waren und die von einer Seidenschnur zusammengehalten wurde. »Wie Mr. Feigermans East-River-Projekt?« erkundigte sich der Direktor. »Ich muß allerdings sagen, daß die Errichtung einer ganzen Wohnstadt auf der Queens Bank für jeden die größtmöglichen Annehmlichkeiten mit sich bringt.« »Das ist alles«, sagte Brandon, und das stimmte auch fast. Die Hälfte der Vorschläge bestand aus Dingen, die man gewöhnlich auf der Titelseite von Popular Mechanics sieht. Ein Projekt sah vor, die U-Bahn durch eine Magnetschwebebahn zu ersetzen. Ein weiterer Vorschlag
richtete sich darauf, in unterentwickelten Stadtteilen neue Haftanstalten zu bauen – neue Beschäftigung für die Arbeitslosen, vorteilhafte Nutzung wertlosen Bodens, leichter Zugang für die Angehörigen der Häftlinge (die höchstwahrscheinlich, obwohl es in dem Vorschlag nicht ausdrücklich erwähnt wurde, in eben diesen unterentwickelten Stadtteilen wohnten). Zusätzlich wurde vorgeschlagen, diese Haftanstalten unterirdisch anzulegen, um Energie zu sparen, die Flucht zu erschweren und gesetzestreue Nachbarn, falls es solche gab, der Notwendigkeit zu entheben, die Sträflinge auch noch sehen zu müssen. Weitere Vorschläge sahen vor, über der Insel Manhattan eine Kuppel zu errichten, die Gezeitenströmung der Lower Bay zur Energiegewinnung zu nutzen, den Long Island Sound einzudeichen, um ihn in einen Süßwassersee zu verwandeln, die Gebäude der Stadt im Sommer zu kühlen, indem kaltes Tiefenwasser durch ihre Klimaanlagen gepumpt wurde, und über den Hauptverkehrsadern der Stadt doppelstöckige Fußgängerzonen anzulegen. Es waren recht ausgefallene Vorschläge, aber jeder dieser Vorschläge wurde von Praktikabilitätsstudien und Kosten-Nutzen-Berechnungen gestützt. »Ich muß zugeben«, sagte der Direktor, »daß einige dieser Vorschläge einfach genial sind.« Er las eine Seite über den Princeton Ice Pond, auf der die Benutzung von Schneekanonen im Winter empfohlen wurde, um Eis herzustellen und für Kühlungszwecke bis zum Sommer zu lagern. »Was mir besonders gefällt«, sagte Brandon finster, »ist der Autobilbenutzungsmesser. Jeder Wagen hat einen, und dieses Meßgerät wird in jeder Zone funkgesteuert – je näher dem Zentrum man sich befindet, um so mehr muß man für den Aufenthalt seines Wagens im Stadtgebiet bezahlen. Die Idee stammt aus England.«
Der Direktor nickte weise. »Aber sie brauchen diese Geräte genauso dringend in London, wie wir sie hier in New York brauchen. Wenn sie sie dennoch nicht verwenden, muß es mit den Dingern Pannen gegeben haben. Und das trifft wahrscheinlich auch für die anderen Studien zu, was meinen Sie, Shire? Undurchführbare Träume voller konzeptioneller Fehler?« Brandon schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es ist tatsächlich die Arbeit eines Genies«, erklärte er. Und das war es auch, weniger die Vorschläge selbst als das, was in ihnen mitschwang. Sie enthielten kein Wort von den gesellschaftlichen Neuerungen, die in Brandons Vorschlägen enthalten waren. Hier wurde nicht die geringste politische Veränderung angeregt. Was die Empfehlungen der Firma F & T anbetraf, würde New York City bis in alle Zukunft einen Bürgermeister haben, einen Stadtrat, fünf Bezirkspräsidenten und einen politischen Klub in jedem Block. Der Druckkessel der Lobbys und der politischen Rücksichtslosigkeiten würde für immer weiterdampfen. So würden die meisten Entscheidungen in den Händen von Profis liegen… und so wie die Firma F&T den Bericht abgefaßt hatte, das merkte Brandon, hatte er in Wahrheit zum Inhalt, daß Saul Wassermann untrennbar mit der Zukunft der F&T verbunden wäre, während in der Welt, die er, Brandon, erschaffen wollte, beide keinen Platz haben würden. »Wissen Sie, was wir getan haben?« fragte Brandon. »Wir haben Saul Wassermann einen Plan angeboten, der ihn überflüssig macht. Kein Wunder, daß er ihm nicht gefallen hat.«
Ich bin Maud Brandon, und ich weiß, daß es sehr unklug von mir war, mich schwängern zu lassen, während mein Mann noch in Vietnam war. Aber ich glaubte, er sei tot. Als er
zurückkam, hat er sich sehr anständig verhalten. Er sagte, wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätten wir inzwischen ohnehin ein Kind gehabt, und das wäre dann eben dieses. Er sagte, wenn wir in eine andere Stadt zögen, gäbe es keine Nachbarn oder Freunde, die auf die Idee kommen könnten nachzurechnen. Mit seiner Kriegsteilnehmerabfindung könnte er wieder das College besuchen, wir würden ein neues Leben anfangen, und niemand würde etwas merken. Aber es stellte sich heraus, daß es doch eine Person gab, die etwas merkte, und zwar als sie nachrechnete, sobald sie dazu alt genug war. Und die Stadt ging weiter ihren Angelegenheiten nach. Die U-Bahnen fuhren langsam, denn die Auswirkungen des Unglücks waren noch nicht völlig beseitigt, und die Müllberge wuchsen immer noch an und stanken wie vorher. Auf einem Dachboden in der Worth Street stopfte eine rotgeschminkte Dogensüchtige (sie hatte 1979 in Barnard den besten Abschluß gemacht) Pulver aus Feuerwerkskörpern in einen Verbandskasten und träumte von Plutonium. Ein Zuhälter mit heiserer Stimme wie Geröll betrachtete ungläubig den Brillantring, den sein Mädchen ihm als Friedensangebot mitgebracht hatte, und schlug sie zu Boden. Das war seine Art, sie zu bitten, den Ring wieder zurückzubringen und statt dessen Geld abzuliefern. In Brooklyn umringten fünfzehn italienische Jungen einen schwarzen Briefträger und zogen ihre schweren Gürtel aus den Schlaufen. Er durfte in dieser weißen Wohngegend Briefe austragen, aber er hatte den Fehler gemacht, in ihrer Stammtrinkhalle eine Cola zu trinken, und das durfte er nicht. Gleichzeitig tippte ein Autor in der East 58th Street die letzten Zeilen seines besten Romans in einen Textcomputer, ein Delegierter bei den Vereinten Nationen war im Begriff, ein entwicklungsfähiges Atomwaffenkontrollsystem vorzuschlagen, und im dreckigen und verfallenen alten Bellevue-Hospital entfernte ein Chirurg,
dem für achthunderttausend Dollar Lasergeräte und Instrumente und ein Zehn-Mann-Team hochqualifizierter Kollegen zur Verfügung standen, einen Tumor aus dem Rückenmark eines verkommenen Säufers aus der Bowery. Umsonst. So war es in New York. So war es auch in allen anderen Städten, aber New York war der Schwerpunkt. Dafür daß »City« mit »Zivilisation« gleichgesetzt wird, gibt es nicht nur etymologische Gründe. Ein Dorf kann einen Laden, einen Polizisten und ein Postamt unterhalten. Eine Stadt mehrere Läden, eine Feuerwehr und vielleicht ein Kino. Aber das alles ist nur der Schaum, den die große Welle der Zivilisation an den Strand spült. Um spezialisierte Hospitäler und spezialisierte Schulen zu unterhalten, ein oder zwei Opernhäuser, ein Symphonieorchester, Museen, große Bibliotheken, eine ganze Auswahl von Kirchen, Nachtklubs, Kongreßzentren, eine unendliche Vielfalt an Arbeitskräften, Zugang zu schnellem Geld, gut funktionierende öffentliche Transportmittel, Geschäfte, die alles führen, was man sich wünschen könnte, Läden, die, was man braucht, zu jeder Tages- und Nachtzeit anbieten, Nutten, Helden, Homosexuelle, Psychoanalytiker, Zirkusunternehmen, Gerichtspathologen und ausländische Diplomaten – um all diese Dinge und Menschen zu unterhalten, um die Mittel und ein Ventil für die vielfältigen »zivilisierten« Aktivitäten der Menschen zu schaffen, ist eine kritische Masse erforderlich. Wenn genug von all diesen Dingen zusammenkommt, haben wir eine Zivilisation, und der Ort, an dem wir sie finden, wird »City« genannt. Der Preis ist hoch, in jeder Währung, aber man kann auf die City nicht verzichten. Für die Aufgabe, Brandons Einbruch aufzuklären, stellte die Stadt ihre Organe zur Verfügung. Sie waren eindrucksvoll, auch wenn sie unzulänglich waren.
Die nächstliegenden Verdächtigen waren natürlich die Züps. Das war Brandons erste Vermutung und auch die seiner Tochter und die des Hausmeisters und die der Polizei. Man konnte nicht behaupten, daß die Polizei sich keine Mühe gab. Sie untersuchten jede glatte Fläche auf Fingerabdrücke. Sie klopften an jede Haustür im ganzen Gebäude, um festzustellen, ob die Nachbarn im Haus etwas gesehen oder gehört hatten. Sie veranlaßten Brandon, alte Verkaufsquittungen und Garantiescheine herauszusuchen, und notierten die Nummer jedes Geräts, das eine hatte. Man konnte auch nicht sagen, daß sie Brandon viel Mut machten. Als der Beamte vom Einbruchsdezernat zurückkam und berichtete, daß es nichts zu berichten gab, sagte er von sich aus, daß von hundert gestohlenen Gegenständen kaum einer wiederbeschafft werde. »Die meisten Sachen, die wir finden, wenn wir einen Einbrecher verhaften, gehen ohnehin nicht an den rechtmäßigen Eigentümer zurück«, fügte er hinzu. »Sie können nicht identifiziert werden. Deshalb werden sie von der Asservatenabteilung der Polizei versteigert.« Sie standen am Fenster, wo das große Fernsehgerät seinen Platz gehabt hatte. Auf der anderen Straßenseite taten die Züps das, was sie an Augustnachmittagen gewöhnlich taten. Zwei von ihnen gingen in einer Entfernung von etwa drei Metern zueinander in Kampfstellung. Der eine nahm eine Boxhaltung wie John L. Sullivan ein, der andere stand breitbeinig da und die Fußspitzen zeigten nach außen wie bei einer Tempeltänzerin auf einem orientalischen Fries. Hier würde es wahrscheinlich kein Blutvergießen geben. Mit dem technischen Interesse eines Panzeroffiziers, der einen Hügel beobachtet, den er im Moment nicht nehmen muß, schaute der Beamte zu ihnen hinüber. »Wenn sie es waren, die unsere Sachen genommen haben«, sagte Jo-Anne nachdenklich,
»können Sie dann nicht einfach hinübergehen und danach suchen?« »Nicht ohne Durchsuchungsbefehl, Honey, und wir haben keine Verdachtsmomente. Und wenn, dann hätten sie die Sachen sowieso schon weggeschafft.« Aber im übrigen mochte er sich über die Züps nur ganz allgemein äußern. Sie seien zu überwachende Personen, okay, aber er wolle sich auf die Gründe dafür nicht festlegen. Ja, sie seien schon inhaftiert gewesen, die Rücksicht auf die bürgerlichen Rechte der Züps verbiete es ihm jedoch, die Gründe preiszugeben – aber weshalb zum Teufel, Mr. Brandon, glauben Sie, daß junge Schwarze eingesperrt werden? Raub? Vergewaltigung? Drogen? Alles ist möglich. Die meisten Züps seien schon vor dem zwölften Lebensjahr straffällig geworden, und die Tatsache, daß sie jetzt auf freiem Fuß seien, müsse nicht bedeuten, daß sie sich gebessert hätten. Es bedeute lediglich, daß irgend jemand irgendwo hoffe, das sei der Fall. Aber als er sich verabschiedet hatte, war es klar, daß er diese Person nicht sein konnte. Wenn man den Wiederbeschaffungswert der gestohlenen Gegenstände ausrechnete, kam man auf fast zweitausend Dollar. Aber das war der Versicherungswert, nicht der reale. Das Fernsehgerät im Wohnzimmer war teuer gewesen, als er es zu ihrem zehnten Hochzeitstag kaufte, aber seine Bildröhre hätte nicht mehr lange gehalten, und die Einstellknöpfe waren so ausgeleiert, daß er bestimmte Sender gar nicht mehr empfangen konnte. Jo-Anne hatte ihren rosa Radiowecker mit den Donald-Duck-Bildern schon mit fünf Jahren bekommen und oft fallenlassen. Viel schlimmer war der seelische Schaden. Besonders für Jo-Anne. Kinder wachsen heran, indem sie sich allen möglichen Herausforderungen stellen, aber wenn diese zu brutal sind, werden sie mit ihnen nicht fertig. Sie stellte keine schwierigen Fragen mehr, die ihre
Mutter betrafen. Sie hatte es aufgegeben, diese langen und wortreichen Briefe zu schreiben, die man nicht abschicken konnte. Immer öfter blieb sie bei geschlossener Tür in ihrem Zimmer, und wenn Brandon sich Sorgen machte und sie herausrief und sie bat, sich mit ihm auszusprechen, starrte sie ihn nur an. Mein Gott, Daddy, es ist doch alles in Ordnung! Aber das stimmte nicht. Was sollte Brandon also tun? Es war nicht seine eigene Entscheidung gewesen, als Alleinerzieher seiner Tochter dazustehen, ohne je gelernt zu haben, wie man Kinder erzieht. Er hatte sogar die Demütigung auf sich genommen, Jessie Grai um Rat zu fragen – schließlich war sie promovierte Psychologin –, aber die Direktorin der Lebensstilanalyse hatte nie eine Familie gehabt. Brandon bekam besseren Rat von Ann Landers, deren Bücher er mit religiösem Eifer las. Aber jeder gute Rat lief auf dasselbe hinaus. Man mußte dem Kind viel Zeit widmen. Es zum Reden ermutigen. In seiner Gegenwart immer heiter sein, es aber nicht übermäßig verwöhnen – man mußte es zur Mitarbeit im Haus anhalten und bei den Schularbeiten beaufsichtigen. Aber immer wieder stand der Rat im Vordergrund, möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Was ihn hauptsächlich daran hinderte, war JoAnne selbst. Mein Gott, Daddy, nein, ich will nicht, daß du jetzt deinen Urlaub nimmst, damit wir nach Disney World fahren können! Nein, danke, Daddy, ich bin schon mit der Klasse zusammen in allen Museen gewesen. Nein, danke, Daddy, es gibt im Augenblick keinen Film, den ich sehen möchte. An dem letzten heißen und schwülen Sonntag, bevor die Schule wieder anfing, hatte er sie wenigstens dazu überreden können, mit ihm am Fluß spazierenzugehen, und ohne Widerrede hatte sie Thunfisch-Sandwiches gemacht und eine Thermosflasche mit Orangensaft gefüllt. Unten am entfernten
Ende des Blocks stritten sich zwei der Züps auf weite Entfernung. Der eine stand auf der einen, der andere auf der anderen Straßenseite. Worum es bei dem Streit ging, war nicht zu ermitteln. Selbst in dieser Straßenschlucht, deren hohe Betonwände das Echo vielfältig zurückwarfen, konnte man nur einzelne mit besonderem Nachdruck geschriene Worte verstehen, und das waren unanständige Flüche. Dazwischen ein unverständlicher Wortschwall. Jo-Anne ließ sich nicht anmerken, ob sie zugehört hatte. Sie nahm die Hand ihres Vaters, als sie die Avenue überquerten, und lehnte höflich ab, als er ihr die Schultertasche mit dem Frühstück abnehmen wollte. Sie setzten sich auf einen einigermaßen sauberen Betonklotz am Rande einer mehr oder weniger verlassenen Mole, und sie hörte aufmerksam zu, als er sie auf das Wasserflugzeug hinwies, das gerade zur Landung einschwebte. Er beobachtete mit ihr zusammen die vielen kleinen Boote, die Ausflugsschiffe der Circle Line und die Schlepper mit ihren Lastkähnen, und sie schauten zu den Brücken hinüber, die im Norden und im Süden den Fluß überspannten. Wenn eine zehnjährige Tochter nicht über die Dinge reden will, die sie bedrücken, liegt der Vorteil einer gemeinsamen Mahlzeit darin, daß man viele Minuten lang beschäftigt ist. Der Nachteil ist, daß man den Faden verloren hat, wenn die Mahlzeit beendet ist. »Als wir zuletzt hier waren«, sagte Brandon, als sie ihre Sandwiches gegessen hatten, »wollte Mommy mit einem Wasserflugzeug mitfliegen. Weißt du das noch?« »Ich erinnere mich«, sagte Jo-Anne in neutralem Tonfall, dann fröhlich: »Schau mal, Daddy, es fängt an zu regnen.« Brandon war der Lage gewachsen. Sie zogen sich unter den Schutz des East River Drive zurück, wo weitere Betonklötze standen, um die Autofahrer daran zu hindern, auf die Parkplätze zu fahren, ohne dafür zu bezahlen. Die Klötze
waren staubig, denn sie wurden nie vom Regen saubergespült. Deshalb blieb der Dreck aus der Luft, der sich überall in der Stadt absetzte, hier liegen. So gut er konnte, wischte Brandon einen der Klötze mit den Papierservietten ab. Dennoch, JoAnnes Shorts würden in die Wäsche müssen. Hier war es nicht so schön wie unter der Sonne am Wasser. Der Geruch von Benzin und Reifenabrieb mischte sich in den Geruch von Teer und Nässe und altem Schmutz; vor Wochen war dieser Ort eines der beliebtesten Verstecke für nicht abgeholten Müll gewesen, und auch dieser Geruch lag noch in der Luft. Aber Jo-Anne war so glücklich, wie sie es in der letzten Zeit kaum je gewesen war. Bei Gewitter draußen zu sein, war ein Abenteuer. Jenseits des East River konnten sie durch den Regen hindurch eine Zeitungsdruckerei sehen, den Turm eines Rundfunksenders, die Stelle, wo früher die Marinewerft gelegen hatte – und sogar eine Grünfläche, die beim Bau der Industrieanlagen in den letzten Jahrhunderten irgendwie übersehen worden war. Wenn de Rintelen Feigermans Pläne durchgeführt wurden, würde all das von den pastellfarbenen Wohnsilos von East River East verdrängt werden. Achtzehnhundert Wohnungen pro Einheit, und zwölf Einheiten waren geplant. Wenn man zwei komma zwei Personen pro Wohneinheit rechnete, würden dort in den nächsten fünf Jahren ungefähr fünfzigtausend Menschen wohnen, in ihren fünf großen Swimming-pools baden, auf den dafür vorgesehenen Plätzen Racketball spielen, in ihren eigenen Supermärkten und Drugstores und Boutiquen einkaufen, mit dem Hovercraft (wenn das Geld noch reicht) über den East River zu ihren Arbeitsplätzen in der Wall Street oder der 42nd Street fahren und den von der Fürsorge betreuten Familien in den Jacob-Rus-Häusern auf der Manhattan-Seite des Flusses ein interessantes Schauspiel bieten. Es war schon möglich, das mußte Brandon sich selbst
gegenüber zugeben, daß Feigerman und Tisdale und Saul Wassermann recht hatten. Es würde am East River East eine Menge Jobs geben. Und wenn man nun die Wahl hätte zwischen fünfzehnhundert gutbezahlten Jobs und irgendwelchen windigen Phantasien darüber, wie man die Stadt betreffende Entscheidungen gerecht und unter Beteiligung aller fällen könnte, was er selbst für besonders wichtig hielt – angenommen er wäre Feigerman, Tisdale oder Wassermann, mit deren Verantwortung für die Beschaffung von Geldern, indem sie entweder die Stadt aufbauten oder die Mittel besorgten, die sie brauchte, um zu funktionieren? »Es regnet jetzt ziemlich stark, Daddy«, sagte Jo-Anne. Brandon fiel ein, daß er die Unterhaltung ziemlich hatte schleifen lassen, obwohl es doch seine Absicht gewesen war, das Kind zu ermutigen, über seine Gefühle zu sprechen. Aber es schien seiner Tochter nichts ausgemacht zu haben. Sie fand schon Spaß daran, sich in der nicht sehr vertrauten Umgebung umzuschauen. Als es stärker regnete, leckte es durch die Fugen in der Straße über ihnen, und wo sie sich besonders stark abgenutzt hatte, plätscherte es herab. Es gab zwar Abflußrohre, aber die meisten waren knochentrocken – sie waren Gott weiß wie lange von Gott weiß was verstopft. Die ganze Stadt mußte dringend repariert und wiederhergestellt werden. Man konnte es Wassermann nicht zum Vorwurf machen, daß er sich fragte, woher das Geld kommen sollte… Er versuchte wieder, mit seiner Tochter ins Gespräch zu kommen. »Was meinst du, Liebling?« fragte er. »Wollen wir durch den Regen zu Fuß nach Hause laufen?« »Oh, wow!« rief sie. Heute erlebte sie ein Abenteuer nach dem anderen. Sie entdeckte sofort, daß es nicht nur eine gute Idee, sondern unbedingt notwendig war – der Regen war zu warm, als daß er ihnen körperliches Unbehagen hätte bereiten können. Alles, was sie am Leibe trugen, konnte gleich in die
Waschmaschine wandern. Und das Wichtigste: Sie mußte sich für die Geburtstags-Party am Nachmittag fertigmachen, die Brandon ganz vergessen hatte. Sie waren nicht die einzigen, die durch den Regen liefen. Sie trafen ein paar Jogger, die alles ignorierten, was mit ihnen und ihrer Therapie nichts zu tun hatte und die nicht mal einer Pfütze auswichen. Hispanoamerikanische Kinder fuhren mit ihren Fahrrädern auf der fast verkehrsfreien Straße Achten und Kreise. Einem von ihnen rutschte, im Wasser das Rad weg, und er stürzte, sprang aber sofort grinsend wieder auf, als hätte er diesen Trick eingeplant. Jo-Anne grinste fröhlich zurück. Aber es regnete wirklich heftig, und das Wasser lief Brandon in die Augen. Die Sendetürme jenseits des Flusses waren nicht mehr zu sehen, und die Boote, die mit eingeholten Segeln die Anlegestelle an der 23rd Street anliefen, um dem Sturm zu entgehen, waren nur als graue Schatten zu erkennen. Er fragte sich, wohin wohl die Wasserflugzeuge bei schlechtem Wetter gebracht wurden – keines von ihnen war in Sicht. Darüber hätte er gern mit Jo-Anne gesprochen, aber er unterließ es, denn es war ja nicht das, worüber er mit ihr reden sollte. Ober sein eigentliches Anliegen zu sprechen, brachte er einfach nicht fertig. Seit dem Selbstmord hatte er versucht, mit großer Sensibilität auf Jo-Annes verschiedene Stimmungslagen einzugehen. Er hatte auf den richtigen Augenblick gewartet, mit ihr ein Gespräch zu führen, das alle Wunden heilen und den ganzen Kummer zutage fördern würde, damit sein Kind informiert und glücklich sein konnte – als ob beides gleichzeitig möglich wäre! Aber nie stellte sich die richtige Stimmung ein. Wenn Jo-Anne fröhlich war, mochte er ihr die Laune nicht verderben, und wenn nicht, wollte er vermeiden, daß sie sich noch schlechter fühlte. An der Ecke der Avenue blieben sie stehen und lächelten sich durch den Regen hindurch an, während eine vielköpfige
Familie sich anschickte, die Straße zu überqueren. Es waren vier oder fünf Kinder, unter ihnen Babys in Kinderwagen, und mehrere erwachsene Frauen. Selbst die Babys in den Wagen hatten kleine Regenschirme über dem Kopf. Nun, dachte Brandon und betrachtete seine Tochter liebevoll, heute scheint sie nicht sehr bekümmert zu sein. Vielleicht wäre es das beste, sie nicht zu drängen. Vielleicht stellt sie eines Tages selbst Fragen, und ich sollte es ihr überlassen, den Zeitpunkt zu bestimmen. Ich sollte eine so ernste Unterhaltung zwischen Vater und Tochter nicht erzwingen, die keinem von uns Freude machen wird. Vielleicht war es kein guter Rat, den Brandon sich selbst gab, aber er war nicht nur leicht zu befolgen, sondern hatte noch einen weiteren Vorteil: Auf diese Weise konnte er vermeiden, daß sich seine Trauer noch steigerte, die er zwar verdrängt hatte, die aber jederzeit wieder an die Oberfläche kommen konnte.
Ich war nicht gerade der letzte, der den Flughafen von Ton Son Nuth verließ, aber der flog nur zweiundsiebzig Stunden später ab. Sie behielten mich zusammen mit einigen Tausend weiteren Spätheimkehrern aus Vietnam noch eine Zeitlang in Waikiki, und es war wie Flitterwochen. Natürlich ohne Braut. Maude war noch in San Francisco. Ihre Stimme hörte sich komisch an, als ich sie von Honolulu aus anrief, aber ich dachte mir nicht viel dabei – schließlich hatten wir uns anderthalb Jahre lang nicht gesehen –, bis ich in Oakland ankam. Sie war im fünften Monat schwanger. Es war nicht leicht zu verkraften. Ich traf eine Entscheidung – ich weiß nicht, ob es die richtige war. Ich sagte, wir würden nach New York ziehen, und ich würde das Kind wie mein eigenes aufziehen, und das tat ich auch. Ich kann nicht sagen, daß es
mir keinen Kummer gemacht hat. Was ich nicht wußte, war, daß es Maude zehn Jahre lang noch viel mehr Kummer gemacht hat.
Sechsmal täglich machten die Büroboten ihre Runde durch das Gebäude. Gewöhnlich brachten sie keine Post. Sie brachten Aktennotizen. Photokopien von Strategiepapieren und einzelne Ausgaben der dreihundert Zeitschriften, die das Institut bezog. Auf jedes Exemplar war eine Verteilerliste gestempelt, so daß bis zum ersten April jeder Mitarbeiter die Januarausgabe eingesehen hatte. »Bringen Sie es hierher«, rief Brandon vom Balkon, als er hörte, daß sich seine Bürotür öffnete. Der Mann entsprach seinem Wunsch, aber es war nicht der Bürobote. Es war der Direktor selbst, und er lächelte durch seinen weißen Bart. »Ich dachte, das sollte ich Ihnen persönlich bringen«, sagte er und reichte ihm die achte oder zehnte Überarbeitung der Tagesordnung der Kommissionsversammlung vom Nachmittag. Mehr sagte er nicht. Er strahlte Brandon an, und an seinen schräggestellten Augenbrauen und dem forschen Klang seiner Stimme erkannte dieser, daß die Tagesordnung irgendeine gute Nachricht enthalten mußte. Es dauerte nicht lange bis er sie gefunden hatte: Punkt Ill-a Dr. Brandon. Präsentation des Konzepts Stadtversammlung.
für
die
Allgemeine
»Oh«, sagte Brandon genauso erstaunt wie erfreut. »Das ist ja großartig? Ich dachte schon, das ganze Projekt sei gestorben.«
»Unelegant«, sagte der Direktor, »aber nicht ungenau. Sie haben übrigens noch eine Galgenfrist, Shire. Mr. Feigerman hat selbst angerufen und uns gebeten, uns bereitzuhalten.« Es war eine gute Nachricht… aber sie kam für Brandon völlig überraschend. »Ich habe nichts vorbereitet«, sagte er. Der Direktor zuckte mit den Achseln. »Ich meine, ich weiß nicht, von welcher Seite ich die Sache anpacken soll.« »Seien Sie brillant«, riet der Direktor. »Betrachten Sie die Stadt als einen Organismus. Bedenken Sie alle ihre Lebensvorgänge. Überleben, Nahrungsaufnahme, Eliminierung, Reproduktion – aber hören Sie sich das an.« Er mußte über sich selbst lachen. »Ausgerechnet ich erkläre Ihnen, was Sie sagen sollen. Sie werden es schon schaffen.« Damit verschwand er. Einer der am wenigsten liebenswürdigen Züge des Direktors war es, sich zu gestatten, in Allegorien und Andeutungen zu sprechen, während er von seinen Untergebenen Blaupausen erwartete. Brandon verbrachte also die nächsten neunzig Minuten auf seinem Balkon und stellte aus Notizen eine Präsentation zusammen. Er war sich deutlich bewußt, wie rasch die Zeit verging, und schaute dauernd auf die Uhr. Aber erst als unten eine kleine Störung eintrat, merkte er, daß er mit seiner Arbeit fertig war. Sie war nicht komplett, und er hatte nicht alle Einzelheiten aufgeführt. Aber mehr würde er zu dem Punkt IIIa ohnehin nicht sagen dürfen. Er stand auf und reckte sich. Unten zwischen den Bananenstauden und dem sprudelnden Wasser wehrte der Pförtner eine Invasion von Lieferanten ab, die die Lebensmittel für das Arbeitsessen brachten und eine unerlaubte Abkürzung machen wollten, statt um das Gebäude herumzugehen und den Lieferanteneingang zu benutzen. »Das wär’s«, sagte Brandon – zu sich selbst oder zu den Bananenstauden – und ging zum Waschraum hinüber, um sich vor seinem Auftritt rasch die Haare zu kämmen.
Wenn ich sterbe, werden sie mir keinen Grabstein errichten müssen, denn meine Grabsteine stehen in der ganzen City herum. Bürogebäude, Hotels, Stiftungen, Handelszentren; ich entwerfe sie nicht, aber ich baue sie. Ich meine nur, daß ich die Arbeiter einstelle und den Stahl kaufe. Man baut einen Wolkenkratzer nicht auf dem Stück Land, das man erworben hat. Man baut ihn in den Gerichtssälen und den städtischen Behörden, wo man behördliche Genehmigungen und Bundeszuschüsse erwirkt oder Prozesse führt, um Bestimmungen der Baubehörde rückgängig zu machen. Darin bin ich gut. Ich gewinne gewöhnlich, weil ich weiß, was gut für die Stadt ist und weil ich ein Recht darauf habe. Sie schulden es mir. Sie schulden es mir, weil ich meinen Beitrag geleistet habe, als meine B-24 abstürzte und ausbrannte, und seitdem sind meine Augen nicht mehr in Ordnung; sie schulden es mir, weil ich nie die Chance gehabt hätte, die Firma aufzumachen, wenn ich nicht Paul Tisdales verwitwete Tochter geheiratet hätte. Sie schulden es mir, weil ich mit dem guten alten holländischen Namen de Rintelen Feigerman in den Slums aufgewachsen bin. Deshalb lernte ich schon kämpfen, als ich fünf war, und damit habe ich bis heute nicht aufgehört.
»Hallo, Mr. Feigerman«, sagte Brandon, als er den Speisesaal betrat. Der alte Mann schaute zu ihm auf. »Ja?« Er reichte ihm nicht die Hand, und als Brandon den trüben Blick sah, mit dem er sich im Raum umschaute, war er nicht einmal sicher, ob der Mann ihn erkannt hatte. Er stellte sich vor, und wieder bekam er »Ja?« zur Antwort. Der alte Mann war eigentlich gar nicht so alt, er war nicht älter als Mitte sechzig, aber die dicken Gläser und sein
langsames angestrengtes Starren ließen ihn älter wirken. Brandon machte Konversation – das wird vor dem Essen der Beratungskommission von den Leuten erwartet. Darum gab es zu einem Imbiß auch Getränke, die auf Serviertischen standen. Feigermans Antworten waren nicht feindselig. Sie gingen allerdings nicht über ja und nein hinaus, ganz gleich, was Brandon auch vorbrachte. Auf die Frage, ob Feigerman sich von der Aufregung am Tage des falschen Bombenalarms erholt habe, antwortete dieser mit einem bestimmten Ja. Als Brandon beiläufig erwähnte, er habe über den East River hinweg das Grundstück gesehen, auf dem Feigerman East River East bauen wollte, hörte er ein fragendes Ja. Nur als Brandon fragte, ob er Feigermann einen Drink holen solle, schüttelte der Mann den Kopf und antwortete mit einem ganzen Satz. »Das sollten Sie besser meine Frau fragen.« Aber zu dem Zeitpunkt nahmen gerade alle ihre Plätze ein, und die Gelegenheit ergab sich nicht. Um den Tisch herum standen einige zusätzliche Stühle, und Brandon saß weit von Feigerman entfernt neben einer jungen Frau, die sofort wissen wollte, welche Auswirkungen das Cafeteria-Budget auf die Kaufkraft der städtischen Angestellten haben würde. Die Beratungskommission hatte elf Mitglieder, und erstaunlicherweise waren alle anwesend – mehr als alle, denn de Rintelen Feigerman hatte seine Frau mitgebracht; im ganzen saßen einundzwanzig Personen am Tisch. Die Frau rechts von ihm hieß Maggie Moscowitz, wie Brandon erfuhr, und sie war in Vertretung des Kommissionssprechers für organisierte Arbeit, des Präsidenten der Transportarbeitergewerkschaft, erschienen. »Vertragsfreiheit«, sagte sie, »ist kein Privileg; sie ist gesetzlich garantiert. Was geschieht, wenn, sagen wir mal, viele Leute beschließen, nicht mehr mit der U-Bahn zu fahren und daraufhin der Ertrag sinkt? Wird die Stadt den Differenzbetrag zuschießen? Und aus welchem Topf?«
»Da ändert sich nichts«, protestierte Brandon und wies darauf hin, daß das Nahverkehrssystem ohnehin schon Defizit einfahre, das aus Steuergeldern getragen werden müsse. »Jedenfalls wird die U-Bahn wahrscheinlich als letzte irgendwelche Beeinträchtigungen erfahren – es sind die Bibliotheken und Museen, die eines besonderen Schutzes bedürfen.« Sie gestattete ihm noch, ihr zu erklären, was man sich unter solchem besonderen Schutz vorzustellen habe, aber sie ging nicht darauf ein. Sie bat ihn nur ein paarmal, ihr das Salz zu reichen. Als sie sich zu Dr. Grai umdrehte, die an ihrer anderen Seite saß, behielt Brandon Feigerman im Auge. Jocelyn Feigerman war vermutlich älter als ihr Mann. Sie war keine hübsche, aber eine auffällige Frau – groß, aschblond, selbstsicher und souverän, ganz wie auf den Plakaten, auf denen sie mit einem Kind oder mit einer glücklichen ledigen Mutter abgebildet war, und mit denen sie ihren Feldzug gegen die Abtreibung führte. Sie sprach nicht viel, aber wenn sie es tat, dozierte sie, und ihre Stimme war am anderen Ende des Tisches gut zu verstehen. Brandon hörte ungeniert zu, aber nichts von dem, was sie sagte, schien mit ihm zu tun zu haben. Er widmete sich seinem Essen. Die Mahlzeit war sorgfältiger zusammengestellt als sonst; neben dem üblichen Coca-Cola und dem Kaffee gab es gekühlten Weißwein und in Servietten gehüllte Flaschen mit Rotwein. Der Direktor hatte alles getan, um auf die Kommission einen guten Eindruck zu machen. Allerdings hätte der Raum größer sein können. Er war deutlich überfüllt, und besonders unangenehm machte es sich bemerkbar, daß Maynard Meckeridge, der Banker, nicht darauf verzichten mochte, seine Zigarre zu rauchen, und Jocelyn Feigerman hatte nicht nur sich selbst zusammen mit ihrem Mann eingeladen, sondern außerdem einen dunkelhaarigen agilen jungen Mann
mitgebracht, der als eine Art Sekretär fungierte. »Hersch, noch etwas Wein, bitte«, hieß es und »Hersch, rufen Sie bitte die Fluggesellschaft an und bestätigen Sie meine Buchung für heute nachmittag«, und wenn der arme Hersch nicht gerade mit solchen Aufträgen beschäftigt war, mußte er seinem Boß Meckeridges Zigarrenrauch wegfächeln. Die Kommission war so zusammengesetzt, daß auch ein Sozialarbeiter dabei war – Msgr. Bredy, der gleichzeitig als Autorität in religiösen Dingen auftrat –, ein internationaler Waren-Broker, Vertreter der Firma Halbfleisch Freres. Für Steuern und Recht war ein Anwalt namens Milt White zuständig; Politik und Unterhaltung waren in der Person des Ex-Senators Sandstrom zusammengefaßt, der Shows finanzierte. Keine Botschaftersfrau hätte als Gastgeberin ihre Tischkarten besser sortieren können, als die Kommission ihre Mitglieder ausgewählt hatte. Neben den Mitgliedern von außerhalb gab es noch die drei im Hause selbst beschäftigten Genies Brandon, Jessie Grai und den Direktor selbst. Natürlich stellte die Kommission nicht die einzige Aktivität des Instituts dar. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt beschäftigte das Institut mindestens zwanzig Komitees, Kommissionen, Feld-Teams und Studiengruppen. Sie waren an Größe, Zuständigkeit und Funktion sehr verschieden, aber sie hatten eins gemeinsam. Der Direktor gehörte allen an. »III-a« war Brandon anfangs wie ein ziemlich entlegener Punkt der Tagesordnung vorgekommen, aber er hatte nicht ganz registriert, daß es bei Punkt I nur um Msgr. Bredys Absegnung ging und daß Punkt II nur einen Antrag betraf, auf das Verlesen der Protokolleintragungen zu verzichten. Während die aus dem Schreibsaal rekrutierten Serviererinnen noch das Geschirr abräumten, stand Brandon also schon oben am Tisch.
Da de Rintelen Feigerman dafür verantwortlich war, daß die Präsentation in die Tagesordnung aufgenommen wurde, wandte sich Brandon an Feigerman. Es war unbefriedigend. Hinter Feigermans dicken getönten Brillengläsern waren keine Augen zu sehen. »Die Allgemeine Stadtversammlung«, sagte Brandon und fragte sich, ob Feigerman ihn ansah – oder überhaupt wach war, »ist eine Synthese aus Soziologie, Kommunikationstheorie und Computer-Studien. Was sie erreichen will, ist, es jedem Bürger einer Stadt von der Größe New Yorks, also sieben bis acht Millionen Menschen, zu ermöglichen, in Wechselwirkung an Diskussionen über Problemlösungen teilzunehmen, wie es früher bei den Stadtversammlungen in New England der Fall war. Die Allgemeine Stadtversammlung benutzt dazu überschüssige Kommunikationsmedien, die in der Stadt zur Verfügung stehen: sieben VHF- und eine große Anzahl UHFFernsehkanäle sowie annähernd hundert AM- und FMRundfunksender – Wie bitte?« Feigerman hatte sein Interesse, wenn überhaupt vorhanden, noch nicht bekundet, aber seine Frau hatte die Hand gehoben. »Haben Sie auch an das Kabelfernsehen gedacht?« fragte sie. »Das habe ich in der Tat«, sagte Brandon, »aber sein Nutzen wäre nur begrenzt – wie Sie noch sehen werden.« Er hatte damit einen leisen Tadel beabsichtigt, der sie hoffentlich nicht kränkte. »Lassen Sie mich ein Szenarium skizzieren, das sofort verwirklicht werden könnte. Wie Sie wissen, hat die Stadt eine Reihe von Konfrontationen mit ihren Gewerkschaften erlebt, wobei es besonders um die uniformierten Dienste geht. Die Polizei wünscht, daß ihr Lohnniveau der Tatsache Rechnung trägt, daß sie von allen Diensten das höchste Berufsrisiko trägt, während die Feuerwehr ihr Lohnniveau dem der Polizei angeglichen wissen will. Es ist eine logische Unmöglichkeit, beide Forderungen zu erfüllen. Wie können wir dieses Problem
nun lösen? Wir laden die ganze Stadt zur Teilnahme an der Diskussion ein. Ein größerer Fernsehsender stellt ein Studio zur Verfügung, in dem sich sagen wir mal, die Stadträte versammeln. Jeder kann zuschauen. Gleichzeitig sind AMRundfunksender angewiesen, Simultanübersetzungen ins Spanische, Japanische, Jiddische, Chinesische, Italienische und in solche Sprachen zu veranlassen, die von einem genügend großen Teil der Bevölkerung gesprochen werden, um ihren Gebrauch zu rechtfertigen. Hatten Sie noch eine Frage, Mrs. Feigermann?« »Ja. Wie wäre es mit einem Volksentscheid über moralische Probleme?« Brandon sah den Direktor hilfesuchend an, aber er erntete nur ein resigniertes Blinzeln. »Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, Mrs. Feigerman.« »Dann will ich es Ihnen erklären. Wie Sie wissen, bin ich in der Recht-auf-Leben-Bewegung aktiv. Wir sind der Ansicht, daß im Wege einer Verfassungsänderung die Abtreibung verboten werden müßte, und wir sind sicher, daß eine große Mehrheit der Wähler uns zustimmen wird, wenn wir unser Anliegen auf geeignete Weise vortragen. Meine Frage – und deshalb nehme ich überhaupt an dieser Versammlung teil – ist, ob Ihr Verfahren uns da helfen kann.« Am Tisch war es sehr still geworden. Selbst der Banker hatte aufgehört, an seiner Zigarre zu ziehen, und die rekrutierten Serviererinnen blieben an der Tür stehen, um zu sehen, wie Dr. Brandon seinen Kopf aus dieser Schlinge ziehen würde. Dr. Brandon hatte recht dezidierte politische Ansichten, und Sympathie für die Anti-Abtreibungskampagnen gehörte nicht dazu; nach Dr. Brandons Ansicht wurden diese von ältlichen Einsiedlern unterstützt, die andern Leuten keinen Spaß gönnen. »In diesem Licht habe ich die Angelegenheit noch nicht
betrachtet, Mrs. Feigerman«, sagte er. »Es ist ein Instrument der Vermittlung, nicht der Überzeugung.« »Genau das meine ich«, sagte sie und nickte. »Ich denke an keine Gehirnwäsche, falls Sie das vielleicht glauben. Eine simple öffentliche Diskussion der Pros und Kontras. Wenn es Ihnen lieber ist, brauchen Sie dabei nicht nur auf das Recht auf Leben denken. Es gibt viele andere moralische Fragen, die einer ausführlichen und freimütigen öffentlichen Diskussion bedürfen. Drogen. Gewaltverbrechen. Die Rechte der Opfer. Die Frage der Todesstrafe. Ganz zu schweigen von – « Mrs. Feigerman erwähnte nicht mehr, was sie hatte erwähnen wollen, denn sie hatte ein wichtiges Problem vergessen, das nicht unerwähnt bleiben wollte. Es erwähnte sich selbst. Diese Erwähnung bestand aus einem plötzlichen scharfen Knall und einem brüllenden Donnern. Dann war in einem Chor von Schreien das krachende Splittern von Glas zu hören. Brandon, der sich eine Atempause verschafft hatte, indem er sich Feigerman zuwandte, dreht sich gerade noch so rechtzeitig um, daß er sah, wie die große gläserne Außenwand des Institutsgebäudes in gezackte Scherben zerplatzte und auf die Straße fiel. Sogar bis hier oben in den Konferenzsaal fuhr jetzt eine Druckwelle, die die Papiere auf dem hellen Konferenztisch durcheinanderwirbelte. Brandon erreichte als erster das Geländer und starrte in die Vorhalle hinab. Die Tropenpflanzen, die noch nie Außenluft gespürt hatten, lagen zerquetscht unter der eingestürzten Wand, und der Karpfenteich färbte sich rosa von irgend jemandes Blut. Auf den Bänken lagen wie Eiszapfen Haufen von zersplittertem Glas und darunter menschliche Gestalten. Brandons entsetzte Augen sahen vier Personen, von denen eine auf entsetzliche Weise und wie durch ein Wunder noch lebte.
Terroristen natürlich. Irgendwelche Terroristen; und die Bombe, die sie diesmal benutzt hatten, war keine Attrappe und kein Spielzeug gewesen. Die Bombe hatte mehr als einen Block weiter vor einem der Theatergebäude unter der Motorhaube eines geparkten Wagens gelegen. Der Fahrer und ein Beifahrer waren natürlich auf der Stelle getötet worden – mehr als nur »getötet«, denn ihre Überreste lagen in Kleiderfetzen verpackt um den rauchenden Schrotthaufen herum, der einmal ein 1982er Volvo gewesen war. Die Bombe konnte nicht nur für sie bestimmt gewesen sein. Der Overkill war enorm. Vierzig oder fünfzig Leute wurden in verschiedene Hospitäler gefahren, die meisten durch herumfliegende Glassplitter und Trümmer verletzt. Es hatte mindestens fünfzehn Tote gegeben, fünf davon im Institut. Falls die uniformierten Dienste an einen Streik dachten, war es ihnen heute nicht anzumerken. In weniger als einer Minute knirschten die Reifen des ersten Notarztwagens durch das Glas und kamen kreischend zum Stehen. Wie Feuerwerk blitzten Minuten später die roten, weißen und blauen Lichter der Feuerwehrfahrzeuge, der Polizeiwagen und der Ambulanzen in der Straße auf. Die Fahrzeuge hatten vor dem Block nicht alle Platz, und in vier Seitenstraßen und in der Eighth Avenue nördlich der 42nd Street war der gesamte Verkehr blockiert. Der Schaden war enorm. Theatermarkisen hingen herab oder waren abgerissen. Überall in der Straße schrillten die Alarmanlagen an den Türen, die aufgedrückt oder von der Wucht der Explosion zertrümmert worden waren. Ein Postauto mit eingedrückter Seite hatte ein vorbeifahrendes Taxi gerammt und sich dann in einen geparkten Sportwagen geschoben. Eine große graue Limousine war einen halben Block entfernt gewesen, aber ein Teil vom Motorblock des Bombenautos war durch ihre Windschutzscheibe geschleudert worden. Der Fahrer war tot, und sein Begleiter lag schon in
irgendeinem Unfallwagen. Radkappen, zersplittertes Glas und nicht zu identifizierende Trümmer lagen im Straßendreck, und vieles war rot von Blut. Aus brennenden Fahrzeugen quoll Rauch, und in jede Richtung schlängelten sich Löschschläuche über die Straße. Bei einer Absteige an der Ecke war durch den Druck der Detonation die Markise abgerissen worden, und eine Frau, die man aus den Scherben der Glasfront des Hotels gezogen hatte, wurde auf einer Bahre zu einem der Krankenwagen getragen. Man sah nur ihr starres verstörtes Gesicht mit den weit aufgerissenen entsetzten Augen, während ein Helfer neben ihr ging und eine Plasmaflasche hochhielt, deren Schlauch unter der Wolldecke verschwand. Ein Junge, den Kopf bandagiert wie Der Unsichtbare, wurde zu einem Unfallwagen der Polizei geführt. Niemand durfte das Institut verlassen. Die Leute standen dichtgedrängt auf den Baikonen. Personal und Besucher beugten sich fasziniert über das Geländer, zitterten in dem feuchten Wind, der durch die Öffnungen fuhr, vor denen das Glas gewesen war, und schauten den Rettungsmannschaften bei der Arbeit zu. Niemand redete über das Bombenattentat selbst. Das Ereignis war zu gewaltig, um es in Worte zu fassen. Sie unterhielten sich nur darüber, wer hier protestiert hatte – puertorikanische Nationalisten? Black-Power-Revolutionäre? Die Palästinenser? Die Iren? Die Kroaten? Es hätte fast jeder sein können, denn es gab kein noch so phantastisches Anliegen und keine noch so verlorene Sache, als daß nicht irgendeine Mörderbande bereit wäre, dafür Bomben zu legen. Sie mußten eine halbe Stunde warten; erst dann hatten die Rettungsmannschaften die Dinge einigermaßen im Griff – nun, nicht eigentlich im Griff, aber man hatte das Menschenmögliche getan in einem Häuserblock, in dem die Männer noch immer die teils scharf gezackten Trümmer
beiseite räumten, um nach weiteren Opfern zu suchen. Dann endlich durften die Leute aus dem Institut ins Freie, zuerst die Kräftigeren und Robusteren; die Sekretärinnen und die Gebrechlicheren unter den Besuchern hielten sich noch zurück. Als Brandon durch die noch funktionierende Tür ging und den Blick von der Stelle abwandte, an der unglücklicherweise vorher der Pförtner gestanden hatte und an der jetzt nur noch ein Haufen blutbeschmierter Scherben lag, stellte er fest, daß es regnete. Er blieb einen Augenblick stehen und wartete, bis er sicher über die Straße gehen konnte, als Jocelyn Tisdale Feigerman mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn zutrat. »Jetzt sehen Sie selbst, daß es Tiere sind!« rief sie. »Man sollte sie wie das Ungeziefer behandeln, das sie sind. Wenn Sie dies hier sehen, können Sie doch nicht mehr leugnen, daß die Todesstrafe wiedereingeführt werden muß!« Sie rümpfte ihre Nase wegen des Gestanks eines qualmenden Sitzkissens, das vielleicht aus dem Bombenauto selbst stammte. Dann mußte sie einem angeketteten Fahrrad ausweichen, das von einem auf den Bürgersteig geratenen Wagen völlig verborgen worden war. »Wenn ich den Bürgermeister treffe«, sagte sie zu Brandon oder zu irgendwem – in Wirklichkeit meinte sie eine unsichtbare Zuhörerschaft in irgendeiner noch nicht anberaumten Versammlung eines Frauenvereins – »ich werde ihm ein für allemal sagen, daß wir mehr Polizisten und viel strengere Gesetze gegen Terroristen brauchen!« Brandon ging weiter, aber je weiter er sich von Jocelyn Feigermans Gezeter entfernte, um so lauter hörte er einen Schwarzen über die Beule jammern, die das angekettete Fahrrad an der linken Seite seines schneeweißen Mercedes hinterlassen hatte. »Sehen Sie sich das an«, sagte er zu Brandon oder zu irgendwem. »Wie soll ich das Scheißding da bloß wegschaffen? Ich kriege ja nicht mal die verdammte Tür auf!« An diesem Tag wurden offenbar ständig unsichtbare
Zuhörer angeredet. Der Mann kam Brandon vage bekannt vor, aber nur vage, denn beide hatten den falschen Bombenalarm schon längst vergessen, bei dem sie sich kennengelernt hatten. Brandon ging auf dem Bürgersteig ein paar Schritte weiter. An der Ecke stand ein Touristenbus. Er war unbeschädigt, aber wegen des ins Stocken geratenen Verkehrs konnte er nicht weiterfahren. Japanische Touristen standen an der Tür und machten Aufnahmen von den Spuren des Blutbads, von den zertrümmerten Scheiben der Bank an der Ecke und von den Arbeitern, die schon damit beschäftigt waren, Sperrholzplatten in die Fensterrahmen einzupassen. Zweifellos halten sie ständig Sperrholzplatten bereit, überlegte Brandon… … und hörte hinter sich ein Krachen und Schreie. Er drehte sich um. Ein hängengebliebenes großes Stück Glas hatte sich aus der zerstörten Fassade des Gebäudes gelöst und einen Teil des Rahmens mitgerissen. Wie durch ein Wunder hatte das Glas die Leute, die vor der Tür standen, verfehlt. Nicht so der Metallrahmen. Er traf einen älteren Mann, der gerade das Gebäude verließ. Jocelyn Feigerman kreischte am lautesten, und es war ihr Mann, der von dem herabstürzenden Metall getroffen worden war. »Oh Gott!« schrie sie. »Holt einen Arzt!« Und plötzlich war die Szene für Brandon kein Schauspiel mehr, jetzt betraf sie sein eigenes zerbrechliches Selbst. Die Opfer waren keine unpersönlichen Objekte. Das eine war der alte Sullivan, der Pförtner des Instituts, ein anderes de Rintelen Feigerman. Leute, die er kannte, waren unter den Toten, den Verstümmelten und den Sterbenden… Es hätte auch ihn selbst treffen können.
Und auf der anderen Straßenseite sprang der Eigentümer des lädierten Mercedes über ein paar Trümmer hinweg und rannte
auf eine junge Frau zu, die fasziniert die Szene betrachtete. Sie trug einen unechten Pelzmantel über ihren Hot Pants; sie hieß Gwenna, aber in ihrem Arbeitsbezirk wurde sie von allen nur Vanilla genannt. Ihre Beschäftigung bestand darin, vor diesem Block in der Eighth Avenue auf- und abzugehen, bis irgendein Freier mit seinem Wagen anhielt und sie für eine schnelle Nummer mietete, und wegen des Bombenattentats war ihr Bezirk zur Zeit nicht sehr produktiv. »Hör zu, Nillie«, rief der Schwarze, als er sie erreicht hatte, »warum zum Teufel stehst du hier herum? Wie willst du so auch nur einen verdammten Dollar verdienen?« Seine Stimme klang wie Geröll, und das lag nicht so sehr an seinem Temperament als an der Tatsache, daß ein Konkurrent ihm einmal ein Springmesser in den Kehlkopf gestoßen hatte. Aber es fehlte ihm auch nicht an Temperament, und Vanilla antwortete deshalb nur vorsichtig. »Aber Dandy, Liebling, im Augenblick will sich bestimmt niemand mit mir verabreden.« »Ach, Scheiße!« stöhnte er. »Kapierst du denn überhaupt nichts? Du schaffst jetzt sofort deinen Arsch in die Lexington Avenue, hast du mich verstanden? Ich komme in einer Stunde nach, und ich rate dir gut, mich nicht zu enttäuschen!« »Natürlich, Dandy«, sagte das Mädchen gehorsam, aber sie zögerte. »Dandy? Darf ich noch rasch zum Hospital hinübergehen und nach Lucy Box sehen? Sie hat im Hotel böse Schnittverletzungen abgekriegt…« »Wenn du ein paar vernünftige Schnittverletzungen sehen willst«, knurrte Dan de Harcourt, »brauchst du nur noch eine Minute hier stehenzubleiben.« Mürrisch schaute er Vanilla nach, als sie auf ihren hohen Absätzen eilig davonklapperte. Er schüttelte den Kopf. Eine große Schramme an seinem Mercedes, eins seiner besten Weiber im Hospital, und die andern stehen hier herum und gaffen, statt ein paar Kerle aufzureißen – was für ein Scheißtag!
Und nicht nur für Dan de Harcourt. Die Schockwelle der Explosion hatte in der ganzen Stadt ihre Auswirkungen. Aber nach und nach glätteten sich die Wogen. Während der nächsten paar Wochen wurde die große Glasfassade des Instituts Stück für Stück wieder angebracht. De Rintelen Feigerman wurde langsam wieder zusammengeflickt und aus dem Hospital entlassen, obwohl es länger dauerte und die Reparaturen an ihm weniger perfekt ausfielen. Neue Aufregungen trübten die Erinnerung an die alten. Es gab weitere Bombenanschläge – keine so verheerenden, aber die zeitliche Perspektive ließ sie bedeutender erscheinen. Es gab weitere Katastrophen und Krisen. Der Freitagsbrandstifter tauchte in Brooklyn auf und legte Feuer in verschiedenen Wohnhäusern in Bensonhurst und Brownsville und East New York, während die Bewohner in ihren jeweiligen Kirchen am Abendgottesdienst teilnahmen. Ein verrückter Mörder nahm Prostituierte in die besten Hotels der City mit, und später fanden die Zimmermädchen ihre zerstückelten Leichen – was Vanilla entsetzte und Dan über den unzureichenden Polizeischutz schimpfen ließ. Ein verrückter Frauenschänder suchte sich seine Opfer nur unter weiblichen »Polizeibeamten«; ein verrückter Basketball-Fan wartete vor dem Madison Square Garden wochenlang geduldig auf eine Gelegenheit, den Mittelfeld-Star einer Gastmannschaft zu erschießen, und schaffte es am Ende nur, einen anderen Fan an der Schulter zu treffen. Die Männer von der Müllabfuhr hatten ihren Streik noch nicht beendet, sie hatten ihn lediglich für neunzig Tage unterbrochen, und als der Stichtag heranrückte und die Verhandlungspartner an weit auseinanderliegenden Positionen festhielten, stellten sie die Arbeit weitgehend wieder ein, und die Stadt fing erneut an zu stinken. Die Arbeiter der städtischen Verkehrsbetriebe verlangten Gefahrenzulage, als das alte System immer fehlerhafter wurde;
aber die Stadt konnte zu keinem Abschluß mit ihnen kommen, denn alle anderen städtischen Dienste warteten nur auf das Ergebnis der Verhandlungen. Wenn eine Gruppe von städtischen Arbeitern einen Dollar mehr bezahlt bekam, meinte jeder andere Bedienstete der Stadt, dieser Dollar sei damit auch ihm garantiert, und er war entschlossen zu streiken, um ihn zu bekommen, aber bei der Stadt wurde das Geld immer knapper. Ein Hauptwasserrohr brach, und drei Wochen lang mußten hundertfünfzigtausend Leute rostigen Schlamm abkochen, um etwas zu trinken zu bekommen, bis das Rohr endlich repariert war; die Polizei wurde stinksauer, als die Beamten bemerkten, daß die Feuerwehrleute im Begriff waren, Lohngleichheit mit ihnen zu erreichen; am Brighton Beach wurde ein Wal angespült, und sein Verwesungsgestank suchte drei Wochen lang zehntausend Anwohner heim, während sich Gesundheitsbehörde und Küstenwache darüber stritten, wer den Kadaver zu entfernen habe; bei einem Hotelbrand wurden drei Menschen getötet; in einem Kapuzinerkloster in Queens wurden zwölf Mönche von der Legionärskrankheit befallen; ein kubanischer Flüchtling verbrannte sich vor dem Gebäude der Vereinten Nationen; Angehörige zweier rivalisierender chinesischer Geheimbünde, die im Drogenhandel ihre Territorien abstecken wollten, richteten in einer Unterweltkneipe in Chinatown ein Blutbad an, Terrorist kapert La-Guardia-Fähre, geheimnisvoller Schütze aus dem Hinterhalt versetzt Midtown in Aufregung, Liebesnestmörder gesteht, Ex-Ehemann ermordet drei Familienangehörige, Reduzierung der Straßenbeleuchtung wahrscheinlich, drastische Verknappung der Fürsorgemittel, Schulen schließen, als Brandstifter zuschlägt. Man braucht keine Bombe, um eine Stadt zu zerstören. Man braucht nur die Zügel schleifen zu lassen, und die Stadt zerstört sich selbst.
Als das Wetter kälter wurde, zogen sich die Züps ins Haus zurück. Der Handballplatz am Ende des Blocks wurde nicht mehr sehr oft benutzt. Hin und wieder fuhr an einem Sonntag ein großer Bus mit einem Mietwagen-Schild über der Windschutzscheibe vor und brachte sie für eine Zeitlang weg. Im übrigen schienen sie in ihren Zimmern zu bleiben. Im Sommer hatten sie noch ihre Musikbox spielen lassen, hatten sich ständig auf dem Vorplatz laut schreiend Scheinkämpfe geliefert und waren bei bester Laune gewesen. Mit den Temperaturen aber sank auch ihre Stimmung. Das ging Brandon nicht anders. Übrigens auch seiner Tochter nicht, wenn sie auch über die Gründe dafür nicht reden wollte. Die ganze Stadt war von diesem Stimmungsumschwung betroffen. Berechtigte Empörung schlug in dumpfe Wut um. Brandon wurde dafür bezahlt, die verzweifelte Situation der Stadt zu studieren, aber viel mehr Sorgen machte ihm die Verzweiflung seiner Tochter. Jeden Morgen servierte sie ihm sein Frühstück. Abends besorgten sie abwechselnd das Kochen und den Abwasch. Sie hielt ihr Zimmer sauberer als je zuvor, und wenn er samstags aufwachte, hörte er oft schon das Summen des Staubsaugers, mit dem sie im Wohnzimmer beschäftigt war. Aber sie wollte nicht reden. Sie hatte vierundzwanzig Stunden lang vor Angst und Aufregung geweint, als sie erfuhr, in welcher Gefahr sich ihr Vater bei dem Bombenattentat befunden hatte, aber dann hatte sie sich ihm wieder verschlossen. Brandon machte sich wirklich Sorgen. Die Leute, mit denen er zusammenarbeitete, merkten es ihm an, und bei einer ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte am Donnerstagmorgen, bei denen sie auf seinem Balkon Brötchen aßen und Kaffee tranken, sagte der Direktor es ihm direkt – so direkt wie der Direktor überhaupt je etwas sagte. »Sie sehen aus«, sagte er und starrte verträumt aus dem neuen
Glasfenster, »als bekämen Sie nicht genug Schlaf, Shire. Sie sollten doch eigentlich vor Zuversicht sprühen.« Brandon hatte keine Ahnung, worauf seine Zuversicht sich noch richten sollte. »Mrs. Feigerman«, strahlte der Direktor. »Sie ist sehr interessiert an der Allgemeinen Stadtversammlung.« Brandon vergaß, seine Tasse zurückzustellen. »Aber sie hat doch das Ganze völlig mißverstanden«, protestierte Brandon. »Die Allgemeine Stadtversammlung ist ein Forum für Meinungsaustausch und Verhandlungen! Für die gegenwärtige Situation wäre ein solches Forum ideal. Alle interessierten Parteien könnten auf diese Weise ihre unterschiedlichen Auffassungen diskutieren und auf irgendeiner Ebene zu einer Einigung gelangen – aber sie hält es für ein PublicityInstrument.« Der Direktor zuckte die Achseln, nickte, hob belustigt eine Braue und strich Butter auf sein Brötchen, alles zur gleichen Zeit; allerdings vermied er es, seine Gedanken in Worte zu fassen. »Ich meine«, sagte Brandon und versuchte zum wiederholten Mal, die Lücken auszufüllen, die der Direktor bei jedem Gespräch offenließ, »für dieses Problem ist es nicht das geeignete Instrument – vorausgesetzt, das Problem kann überhaupt gelöst werden. Und ich sollte Ihnen sagen, Herr Direktor, daß ich mit dieser Bewegung gegen die Abtreibung überhaupt nicht sympathisiere. Ich weiß sehr wohl, daß sie gute Beziehungen zum Rathaus hat, und daß ihre Unterstützung für uns sehr nützlich wäre – « Der Direktor nickte begeistert und freute sich, daß Brandon ihn endlich verstanden hatte. »Aber ich würde es sehr ungern sehen, wenn die Allgemeine Stadtversammlung für einen Zweck benutzt wird, für den sie nicht gedacht war und bei dem sie wahrscheinlich versagen würde.« Er brach ab, denn der Direktor hatte sein Brötchen auf den Teller gelegt und schaute verträumt über die Blumen auf den
Verkehr hinaus, der draußen vorbeifloß. Es schien, als ob er etwas sagen wollte. Und das stimmte. »Sehen Sie«, meditierte er laut, »wie sehr die Straßen einer Stadt dem Blutgefäßsystem eines Tieres ähneln?« Er schien auf eine Antwort zu warten. »Es wird wohl so sein«, gab Brandon zu. »Es ist sehr nützlich«, seufzte der Direktor, »wenn man die Dinge unter diesem Blickwinkel betrachtet, finden Sie nicht auch? Nicht einige Millionen in Interessenverbänden organisierte Individuen, sondern ein Organismus.« Er strahlte und stand auf. »Nun, ich bin froh, daß wir diese Gelegenheit hatten, unsere Positionen zu klären, Shire. War das nicht Jessie Grai, die eben herunterkam? Sie ist ein wunderbarer Mensch, mein Junge, und sie versteht sich so gut auf die Probleme junger Leute.« Er klopfte Brandon lächelnd auf die Schulter und war verschwunden. Bis zu einem gewissen Grade hatte Brandon die Fertigkeit erworben, die lückenhaften Ausführungen des Direktors zu entziffern. Was er über Jessie Grai gesagt hatte, war leicht zu verstehen; nur die Art, wie der Direktor gesprochen hatte, machte es ein wenig kompliziert. Deshalb suchte Brandon sie auf. »Sie sind Psychologin, Jessie«, sagte er, »und ich habe ein kleines psychologisches Problem mit meiner Tochter.« Sie hörte ihm geduldig zu und nickte dann. »Sie müssen unterscheiden zwischen gesunden und abnormen Reaktionen, Shire. Sie hat eine Reihe recht schlimmer Traumata hinter sich – die Bombenexplosion hier, der Einbruch in Ihre Wohnung, und vor allem der Tod ihrer Mutter. Natürlich reagiert sie, aber es macht sie nicht krank. Sie wäre krank, wenn sie nicht reagierte.« »Ich müßte also…« »Ganz einfach weiterhin ihr Vater sein.« Grai nickte. »Sie lieben und sie sie auch merken lassen, daß Sie sie lieben, und
sie reden lassen, wenn sie reden will. Natürlich könnten Sie professionelle Hilfe bekommen, wenn Sie wollen. Für ein Kind ist es leichter, mit einem professionellen Fremden zu sprechen als mit einem Elternteil, jedenfalls wenn ein Elternteil das Problem ist – damit meine ich nicht, daß Sie irgend etwas falsch machen, Shire, ich meine nur, daß Jo-Anne ihre Eltern nicht so sehr als Individuen sieht, sondern als Teil eines Ganzen. Es ist schwer für die Kleine, ihre Gefühle für Sie von ihren Gefühlen für ihre Mutter zu trennen. Aber das ist Ihre Sache.« Brandon bedankte sich ein wenig trübselig – natürlich war es seine Sache, das war ja das Problem; es war seine Sache, aber er wußte nicht, was er tun sollte. Dennoch… weiterhin ihr Vater sein, sie zu lieben und sie auch merken zu lassen, daß er sie liebte, dies alles war nicht schwer, wenn auch nicht sehr originell. Es kam Brandon gar nicht in den Sinn, daß Grais Rat vielleicht ganz anders ausgefallen wäre, wenn er sie ein wenig besser informiert hätte. Der andere Teil der verschwommenen Direktive des Direktors gab mehr Rätsel auf. Die Stadt als Organismus betrachten? Nun, gewiß. Bei Städten finden Umwandlungen statt wie bei Organismen. Sie atmen, sie essen, sie schwitzen, sie sondern Exkremente ab. Wenn man ihnen die Chance gibt, wachsen sie, und wenn man sie an der Ausübung irgendeiner dieser vitalen Funktionen hindert, sterben sie sehr wahrscheinlich. Das war kein origineller Gedanke. Ganz gewiß war er nicht neu. Stadtplaner – wie übrigens auch gewöhnliche Sterbliche – hatten die Städte seit Jahren in diesem Licht gesehen. Sie hatten lediglich nicht immer die Implikationen dieses Gedankens berücksichtigt; deshalb beherrschten in so vielen Stadtlandschaften seit etwa 1920 hohe schlanke Wolkenkratzer die Szene – damit jeder ein Fenster nach draußen hatte oder so
ähnlich, und so konnte die Stadt atmen. Das war in der Zeit, bevor es Klimaanlagen gab. Das war, bevor Buckminster Fuller die Wolkenkratzer aus energiepolitischen Gründen als böse Fehlentwicklung bezeichnete. Wenn man, so Fuller, Radiatoren erfinden wollte – und damit meinte er ein System, das möglichst viel Energie verschwendet –, dann würde so etwas wie die Skyline in fast jeder Stadt der Welt entstehen. Damit meinte er besonders New York, denn diese Stadt hatte mit der Mode angefangen; aber es galt auch für alle anderen Städte, sobald sie aufgeholt hatten. Der Wolkenkratzer umschließt mit einem Maximum an Fläche ein Minimum an Raum, so daß die Wärme im Sommer sehr schnell aufgenommen wird und im Winter in einem beängstigenden Tempo entweicht. Deshalb gilt der Wolkenkratzer als Musterbeispiel für extreme Energieverschwendung. Also – betrachte die Stadt als Organismus, ermahnte Brandon sich. Betrachte sie als lebendes Wesen, zum Beispiel als einen Bären. Was macht ein Bär, wenn er weder erfrieren noch vor Hitze umkommen will? Der Bär hat zwei Strategien. Er kleidet sich in einen dichten Pelz; im Winter sucht er Schutz in einer Höhle. Die gleichen Strategien stehen dem Stadtbären zur Verfügung, und Brandon wußte, wo er sie finden konnte. Er zog den Bericht von Feigerman & Tisdale heraus und studierte ihn. Ja. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen; die Strategien waren da. Der Stadtbär konnte sich, wie ein Tier einen Pelz trägt, in einen isolierenden Mantel hüllen – er konnte, wie Buckminster Fuller vorschlug, über der City eine große Kuppel errichten. Oder der Stadtbär konnte sich in eine tiefe Höhle verkriechen, in die auch die schlimmsten Winterstürme nicht eindringen konnten. Unter der Erde ist die Temperatur das ganze Jahr hindurch erträglich, und sie bleibt
ständig gleich – um diesen Gratisvorteil zu nutzen, erfand man die Kunst der »Terratektur.« Der Vorteil war nicht ganz gratis, wie Brandon feststellte. Städte müssen nicht nur vor der Hitze von außen geschützt werden. Sie erzeugen selbst Wärme – mit ihrer Industrie, ihren Privatheizungen und ihren Fahrzeugen –, und deshalb ist es im Winter in New York immer ein oder zwei Grad wärmer als bei seinen Nachbarn, und deshalb resultiert bei ganz von Land umgebenen Städten wie Saint Louis diese zusätzliche Wärme in veränderten Niederschlagswerten, die noch in einer Entfernung von vielen Meilen gemessen werden können. Brandon war erstaunt, als er las, daß ein großer Teil dieser Wärme von den Bewohnern der Städte ausgeht. Jeder Mensch erzeugt tagein tagaus eine Wärmeenergie von etwa dreißig Watt; für eine Stadt von sechs Millionen Einwohnern bedeutet das fast zweihundert Gigawatt an Wärmeenergie, etwa die Energie von einer halben Million elektrischer Heizgeräte, die ständig eingeschaltet sind. Auch Tiere erzeugen Wärme. Das ist einer der Gründe, warum Tiere nicht größer werden, als sie sind. Der Blauwal ist das größte Tier, das je gelebt hat, aber er lebt in einem Meer von Kühlflüssigkeit. Große Landtiere, die die in ihnen gespeicherte Wärme nur an die Luft abgeben können, mußten Radiatoren entwickeln – Flossen, Flügel, die Stacheln eines Stegosaurus, die heraushängende Zunge eines hechelnden Hundes – um am Leben zu bleiben, und selbst mit diesen Wärmeabstrahlern hätte kein Landsäugetier die Größe eines im Wasser lebenden erreichen können. Ein Bär von der Größe eines Blauwals würde selbst in der Arktis einen Hitzschlag bekommen… Brandon merkte, daß er sich nicht mehr konzentrierte. Der Direktor hatte sicher nicht gemeint, daß er sich mit diesen Dingen beschäftigen sollte… wahrscheinlich nicht… nun, man wußte selten genau, was der Direktor von einem wollte.
Die Stadt als Organismus? Nun ja. Darin konnte ein anderer Sinn liegen. Wenn ein Organismus gesund ist, wirken alle Teile zusammen, um ihn am Leben zu erhalten – das ist bei einer Stadt nicht anders; wenn ein Teil des Organismus nach dem anderen versagt, wird er krank – auch das ist bei einer Stadt nicht anders. Aber wenn die Teile einer Kreatur anfangen, einander zu bekämpfen, ist es gleichgültig, wer gewinnt. In kurzer Zeit sterben sie alle. Einen solchen Zustand nennt man Krebs; und in diesem Sinne hatte der Direktor recht. Es gab eine Bösartigkeit in der City, und wenn sie nicht unter Kontrolle gebracht oder geheilt werden konnte, war die Stadt mit ihrem Leben am Ende.
Weil ich Millicent heiße, nannten sie mich »die rote Milli«. Das war nicht verächtlich gemeint. Das hat mit mir ohnehin noch keiner zweimal gemacht. Meine Eltern stammen aus Arizona, und meine Großeltern waren Cowboys, und wir wissen, wie wir uns schützen können. Es geht nicht nur um uns, es geht um die Armen, die Unterdrückten, die Getretenen, die geschützt werden müssen, und darin bin ich gut. Die Bombe vom Times Square war meine. Die Bomben in den Schließfächern sind meine. Die Briefbomben sind meine. Als mein Großvater sich gegen den Eisenbahnbau zur Wehr setzte, tat er es mit einem Colt .45 Peacemaker. Er wurde »der Gleichmacher« genannt, denn wenn mein Großvater, ein schmächtiger Mann, einen solchen am Gürtel trug, konnte er es mit dem gemeinsten und brutalsten Kerl aufnehmen, den die Eisenbahngesellschaft aufbieten konnte. Nun, heute haben wir eine andere Sorte von Gleichmachern – Plastiksprengstoff und Molotow-Cocktails – und ich bin diejenige, die sie herstellt! Am ersten Dezember begannen die Männer von der Stadtreinigung mit einem East Side-West Side Bummelstreik.
Montags, dienstags und mittwochs räumten sie den Müll östlich der Fifth Avenue weg, an den andern Tagen westlich davon; wenn die Stadt nicht bald ernsthaft verhandle, so drohten sie, würde es in Kürze in der ganzen Stadt East SideWest Side geben. Die Männer von der U-Bahn brachen ihren eigenen Bummelstreik ab, aber damit wurde der Stadt in ihren Schwierigkeiten nicht sehr geholfen, denn die Busfahrer fingen an, Dienst nach Vorschrift zu machen. Das bedeutete, daß kein Bus das Depot verließ, wenn seine Scheibenwischer und seine Lichter nicht alle funktionierten – ob sie jemals gebraucht wurden oder nicht. Es bedeutete ferner, daß kein Busfahrer einen Fahrgast ein- oder aussteigen ließ, wenn er seinen Bus nicht innerhalb des vorgeschriebenen Abstands von achtzehn Zoll zum Bordstein zum Stehen bringen konnte, was auf einigen Strecken überhaupt nicht möglich war. Die City weitete ihren Wortschatz an diagnostischen Bezeichnungen aus: Blaukrankheit. Polizisten meldeten sich in Scharen krank, weil sie nicht – noch nicht – streiken wollten. Dienst nach Vorschrift. Bedingungslose Einhaltung jeder Vorschrift, ganz gleich wie unsinnig sie ist. Gitterstau. Ein unauflöslicher Verkehrsstau, verursacht von Fahrzeugen, die auf einer Kreuzung steckenbleiben, so daß sie sich in keine Richtung mehr bewegen können. Völliger Stillstand. Die Situation, die sich ergibt, wenn mehrere nicht einlösbare Forderungen miteinander in Konflikt geraten, so daß kein Beschluß Zustandekommen kann. Und die allerneueste Prägung: Schlichtungsstau: Dieses Wort bezeichnet das, was geschieht, wenn alle Gewerkschaften der Stadt sich einer Schlichtung unterwerfen und die Schlichter selbst streiken, um gegen die Arbeitsüberlastung zu protestieren.
Shire Brandon war seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr zur Kirche gegangen. Wenn er gefragt wurde, bezeichnete er sich als »weltlichen Humanisten« – was bedeutete, daß er an eine Moral und an freundlichen Umgang mit seinen Mitmenschen glaubte, nicht aber an einen übernatürlichen Gott – aber wenn er an die Probleme der Stadt dachte, hätte er sich einen solchen gewünscht. Bei einer der abendlichen Freitagssitzungen des Instituts – an diesen Tagen ging das Personal früher nach Hause, und die leitenden Angestellten setzten sich mit dem Direktor zu einem Drink zusammen und ließen Dampf ab – äußerte er sich dahingehend. Der Direktor lächelte vage. »Das erinnert mich an einen Witz«, sagte er und schaute über den Rand seines vollen Glases Fino, »der aus dem Zweiten Weltkrieg stammt. Er hatte mit der alliierten Invasion in Europa zu tun, aber ich denke, man könnte ihn für die gegebene Situation abwandeln…ja. Hier ist der Witz: Eine Stadt hat zwei Möglichkeiten, ihre Probleme zu lösen: entweder durch ein Wunder und auf übernatürliche Weise oder auf eine relativ wahrscheinlichere Weise. Eine Möglichkeit wäre, daß der Herrgott über dem Herald Square erscheint und Brot, Fisch und Manna in solchen Mengen herunterwirft, daß jeder genug aufsammeln kann, um es an Philadelphia zu verkaufen und reich zu werden; das ist die wahrscheinliche Möglichkeit. Die andere ist so phantastisch übernatürlich, daß es schon eines Wunders bedarf, damit sie Wirklichkeit wird: die Bürger der Stadt setzen sich zusammen und einigen sich untereinander.« Gewöhnlich lachte Brandon über die Witze des Direktors, selbst wenn sie nicht besonders gut waren; über diesen konnte er nicht lachen.
Ich bin Hermann Gebtsens Sohn Erich und Zimmermann von Beruf. Zwanzig Jahre lang habe ich in Amerika hart gearbeitet und gutes Geld verdient, selbst während des Krieges, obwohl es zu der Zeit nicht günstig war, Deutscher zu sein. 1929 gab es eine Rezession. Es machte mir nichts aus, denn jede Woche hatte ich Geld zur Bank gebracht. 1931 schloß die Bank. Ich konnte meine Miete nicht mehr bezahlen, und der Vermieter schloß mein Zimmer ab und behielt mein Werkzeug. Also konnte ich mir keine Arbeit suchen. Ich ernährte mich von dem, was die Krämer wegwarfen. Zum Schlafen baute ich mir auf der Nottreppe eines Kinos einen kleinen Unterschlupf. Niemand störte mich, denn auch das Kino hatte dichtgemacht. »Zieh deinen Mantel an, Honey«, rief Brandon seiner Tochter zu. »Ich bin gleich fertig.« Dann sprach er ins Telefon: »Natürlich, Simon. Ich werde zu der Besprechung mit Mr. Feigerman rechtzeitig erscheinen. Ja, ich weiß, es wird Schnee geben, aber… Was?« Jo-Anne, die ihren Mantel schon angezogen hatte, wartete geduldig auf das Ende des Gesprächs. Sie wußte, daß der Direktor am Apparat war; mit anderen Anrufern hatte ihr Vater nie so viel Geduld, wenn er morgens gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen. Jo-Anne hatte den Direktor zweimal gesehen, einmal bei der letzten Weihnachtsfeier für das Personal und einmal beim Sommerpicknick im Central Park. Das Bild, das sie von ihm hatte, war eine Mischung aus Hexenmeister und Weihnachtsmann; er war es, der die Netzstrümpfe mit klebrigen Süßigkeiten und zerbrechlichem unnützen Spielzeug schenkte, aber er war auch der Mann, der ihren Vater dazu veranlaßte, am Telefon die Stirn zu runzeln und Grimassen zu schneiden, wenn er sich bemühte, seiner Stimme einen ruhigen und vernünftigen Klang zu geben. Das Telefon hatte geklingelt, als er gerade gehen wollte. In Stiefeln, Mantel mit Pelzkragen und mit dem Hut auf dem
Kopf stand er neben dem Bücherschrank. Ihm schien es nichts auszumachen, daß er in der dampfbeheizten Wohnung schwitzen mußte, aber Jo-Anne fühlte sich unbehaglich. Stiefel, Gamaschen, daunengefütterte Reißverschlußjacke, gefütterte Kapuze – sie war für die Arktis ausstaffiert, und was sie auch vorbrachte, sie hatte ihren Vater nicht überzeugen können, daß sie weniger hätte anziehen müssen, wenn ihre Mutter hiergewesen wäre. Sie zog die Tür hin und her, und das Knarren machte ihren Vater aufmerksam. Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr voranzugehen. Selbst in der Vorhalle war es dem eingemummten Kind zu heiß. Sie ging auf den Bürgersteig hinaus und wunderte sich, daß Mr. Rozak, der Hausmeister, nicht damit beschäftigt war, die Türgriffe zu putzen, um die Mieter daran zu erinnern, daß Weihnachten vor der Tür stand. Dann blieb sie ganz leise stehen, denn jetzt kannte sie den Grund. In seiner Daunenweste, mit bloßen Armen und ohne Hut stand er an der Straße. Ihm mußte kalt sein, aber er kümmerte sich nicht darum. Seine Aufmerksamkeit war auf die gegenüberliegende Straßenseite gerichtet. Es waren natürlich wieder die Züps. Diesmal ein ganz bestimmter Züp, den Jo-Anne den Zertrümmerer nannte, denn er suchte gern Flaschen aus dem zum Abholen bereitgestellten Abfall heraus, die er dann hoch in die Luft warf, damit sie mitten auf der Straße zerplatzten. Heute morgen aber zertrümmerte er keine Flaschen. Es sah ganz so aus, als wollte er sich selbst zertrümmern. Er saß im Obergeschoß auf dem Fenstersims, ließ die Beine baumeln und starrte in den Schnee hinaus, der langsam und in feinen Flocken vom Himmel kam. Es war kalt und feucht, und der Junge trug nur abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt. Er schien die Kälte nicht einmal zu bemerken.
Der Hausmeister bemerkte, daß Jo-Anne neben ihm stand, und sah sie grinsend an. »Was hältst du von dem Kerl, Honey? Der kleine Ba – « Er korrigierte sich: »Der kleine Kerl will springen. Los doch, sage ich! Was für ein Idiot!« Der Züp schaute herüber und bemerkte die beiden. Wie abwesend winkte er ihnen zu. Er trug nichts an den Füßen. Seine nackten Zehen bewegten sich, als prüfte er die Wassertemperatur, bevor er in einen See sprang. Unten sammelte sich eine Menschenmenge an. Ein Taxifahrer hatte angehalten und schaute nach oben, und hinter ihm stauten sich weitere Wagen. Ein paar Leute, die ihre Hunde ausführten, waren stehengeblieben und starrten nach oben, und einige Mädchen, die auf dem Weg zur Schule waren, riefen ihm etwas zu. »Los doch«, brüllte Mr. Rozak und grinste. »Warum springst du denn nicht?« Er war nicht der einzige, der den Jungen anfeuerte. Ein Stockwerk tiefer und zwei Zimmer entfernt steckte ein anderer Bewohner des Hauses den Kopf aus dem Fenster und schaute nach oben. Es folgte ein heftiger verbaler Ausbruch, aber wie gewöhnlich verstand Jo-Anne nur wenige Worte. Wieder war es ein mit Flüchen durchsetztes Gemurmel. Doch dann trat der Hausmeister der Züps ohne jede Eile ins Freie. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren und schleppte ungefähr zweihundertvierzig Pfund mit sich herum, obwohl er nicht sehr groß war. Immer wenn die Züps übermütig zu werden drohten – etwa einmal in der Woche –, war er es, der die gröbsten Ausschreitungen verhinderte. Das tat er jetzt auch. »Heh, Malcolm!« rief er laut. »Mach daß du mit dem Arsch wieder in die Bude kommst! Sofort!« Und damit war der Fall erledigt. Als Rozak sich zu Jo-Anne umdrehte, um seinem Ärger darüber Luft zu machen, daß die Show nun zu Ende war, verschwand das Lächeln aus seinem
Gesicht. »Oh, Scheiße!« stöhnte er. »Bist du nicht Brandons Tochter?« Als Brandon eine Minute später ins Freie trat, waren die Züps wieder in ihrem Haus, die Hundeführer waren weitergegangen, Rozak schaufelte vor dem Eingang Schnee, und Jo-Anne stand stumm da und wartete. Er bemerkte den starren Ausdruck in ihrem Gesicht, aber sie schien sich dazu nicht äußern zu wollen. »Ich muß mich beeilen, Honey, also – « Er schwieg mit offenem Mund anklagend in den Himmel. »Mein Gott, es schneit ja tatsächlich!« Als meine Mutter sich per Luftpost aus dem Fenster befördert hatte, lag sie ganz verrenkt auf dem Pflaster, und sie machten es wie im Kino. Sie zeichneten um sie herum die Umrisse ihres Körpers, bevor der Krankenwagen sie wegbringen durfte. Ich dachte immer, sie machen es mit Kreide, aber sie benutzten eine Art Fettstift, und obwohl Mr. Rozak es wegwusch, sah ich noch wochenlang die Spuren. Ich habe versucht, mit Daddy darüber zu sprechen, aber er wollte nichts davon hören. Ich wünschte, er würde öfter mit mir reden, denn ich weiß, daß etwas nicht stimmte. Meine Freundin denkt, ich sei adoptiert worden, aber das glaube ich nicht. Vielleicht ist es etwas viel Schlimmeres.
Es schneite wirklich. Die Straßen waren glatt. Noch nicht sehr glatt, aber hier brauchte nicht viel zu passieren, um dieses Verkehrsdurcheinander in noch größeres Chaos zu stürzen. Als Brandon mit seiner Tochter die Schule erreicht hatte, bezahlte er das Taxi und ging zur U-Bahn, um Zeit zu sparen. Von Zeitersparnis war keine Rede. Der Fahrer hatte vor der Haltestelle an der 34th Street rotes Licht. Streng nach Vorschrift hielt er an – und dann ging er, ebenfalls streng nach Vorschrift (die kein vernünftiger Mensch sonst jemals einhielt)
um den ganzen Zug herum, der aus zehn Wagen bestand, und stellte an jedem Rad die Bremsen neu ein, bevor er weiterfuhr; so funktionierte der »Dienst nach Vorschrift.« Als Brandon im Institut ankam, saß der Direktor blaß an seinem Schreibtisch und sah ihn vorwurfsvoll an. Er hörte sich zwar seine Entschuldigung an, aber er tat es wie eine Marmorskulptur von Rodin – seine Haltung deutete Aufmerksamkeit an, aber wenn in diesem steinernen Gehirn überhaupt Gedanken abliefen, dann hatten sie gewiß nichts mit den Gründen für diese Verspätung zu tun. »Ich hatte gehofft«, sagte der Direktor zu der Luft über den Pflanzen draußen, »daß Sie rechtzeitig hier sein würden, um mit Mr. Feigerman die Konsolidierung der Angelegenheit zu diskutieren. Es ist nicht gut gelaufen, Shire. Mr. Feigerman ist der Ansicht, daß Ihr Programm mit Feigerman & Tisdales Empfehlungen kollidiert, wie ich Ihnen ja schon am Telefon sagte. Er war völlig außer Fassung. Da er sich von diesem entsetzlichen Bombenattentat noch nicht ganz erholt hat, konnte ich ihn nicht bitten zu warten.« Er seufzte. »Vielleicht hätten Sie die Sache besser vortragen können als ich. Wenn Sie nur dagewesen wären.« »Herr Direktor, die ganze Stadt ist heute morgen lahmgelegt…« Wieder neigte sich der Marmorkopf. »Natürlich ist noch keine endgültige Entscheidung gefallen. Aber im nächsten Monat findet die jährliche Versammlung statt…« Er spreizte die Hände. »Ich glaube nicht, daß ich heute morgen mit Ihnen Kaffee trinken werde, Shire. Zu viel zu tun.« Vielleicht hatte der Direktor zu viel zu tun, aber was sollte Shire Brandon tun? Der Kommentar des Direktors war nicht leicht zu deuten, aber es sah fast so aus, als sei sein Job in Gefahr. Der Direktor hatte das Wort »Konsolidierung« gebraucht, und das ist ein sehr bedeutsames Wort für einen Akademiker, der keinen Anspruch auf ein Amt hat und dessen
Job nur so lange sicher ist, wie er überhaupt weiterbesteht. Was für eine himmelschreiende Schande, dachte Brandon, der die Dinge als Ganzes betrachtete, was für ein Jammer, daß gerade jetzt, wo die Stadt sich mehr als gewöhnlich in Krämpfen wand, die Programme gestrichen wurden, die diesen Zustand heilen konnten. Und die Stadt war in der Tat in einer schlechten Verfassung. Das Radio seiner Sekretärin, das den ganzen Tag lief, brachte eine alarmierende Nachricht nach der anderen. Wegen des Sturms schlossen viele Büros früher als sonst. Die Sturmwarnung verwandelte sich zusehends in einen Blizzard-Alarm, und für die nächsten vierundzwanzig Stunden waren über fünfundzwanzig Zentimeter Schnee vorausgesagt. Die Flughäfen waren noch alle offen, aber Kennedy und Newark verzeichneten Verspätungen von dreißig Minuten, La Guardia solche von einer Stunde oder mehr. Und wenn Washington und Wilmington ein Maßstab für das waren, was New York erwartete, wenn das Zentrum des Tiefs sich unerbittlich die Küste hinaufpflügte, dann würde es wirklich schlimm werden – vor Hatteras hatte ein Tanker große Schwierigkeiten, und in Virginia und auf der DelmaraHalbinsel hatte es schon mindestens fünf Tote gegeben. Um vier Uhr kam der Bescheid, daß der Direktor das Büro für das Wochenende habe schließen lassen und daß jeder nach Hause fahren solle, bevor der Sturm mit aller Gewalt zuschlug. Dagegen hatte Brandon nicht das geringste einzuwenden. Aber als er seinen Schreibtisch aufräumte, klingelte das Telefon. »Hier ist Jocelyn Feigerman«, klang ihre herrische Stimme ihm ins Ohr. »Ich wollte Sie bitten, mich heute nachmittag noch aufzusuchen. Hoffentlich macht es Ihnen keine Umstände. Gut. Dann also in zwanzig Minuten.«
Der alte grüne Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, in dem die Firma Feigerman & Tisdale in drei ausgedehnten Stockwerken residierte, lag nur ein halbes Dutzend Blocks vom Institut entfernt, aber Brandon brauchte für den Weg mehr als zwanzig Minuten. Dabei ging es zu Fuß noch schneller als mit dem Auto; lange Schlangen von Wagen schoben sich Zoll um Zoll die Eighth Avenue entlang, um den Lincoln-Tunnel zu erreichen, in dem es aus irgendeinem Grunde ungewöhnliche Schwierigkeiten zu geben schien. Als Brandon aus dem Fahrstuhl trat, hatte er Schneematsch auf den Schuhen, und seine Augen schmerzten, weil er sie ständig gegen die treibenden Flocken hatte zukneifen müssen. Jocelyn Feigerman bot ihm Tee gegen die Kälte an und wurde gleich direkt. »Mein Mann«, sagte sie, »hat mir erzählt, daß sie ihn heute morgen nicht treffen konnten.« Brandon fiel keine plausible Antwort ein; er hätte sich höchstens für seine Verspätung entschuldigen können – aber der Schnee, der gegen die Scheiben trieb, erklärte alles. Wie sich herausstellte, erwartete sie auch gar keine Antwort. »Ich dachte«, sagte Mrs. Feigerman, »Sie wären so vernünftig gewesen, mich nach unserer letzten Versammlung aufzusuchen. Sie wissen doch, daß ich an Ihrem Projekt interessiert bin.« Der Akademiker ohne Pfründe wurde hellwach. Der Idealist kniff die Lippen zusammen. Ganz kurz bekämpften sich in Shire Brandon widerstreitende Gefühle, aber dann schüttelte er den Kopf. »Mrs. Feigerman«, sagte er, »die Allgemeine Stadtversammlung ist genau für das bestimmt, was jetzt in New York um uns herum vorgeht – und in jeder anderen Stadt der Welt und auch in den meisten nichtstädtischen Gemeinwesen. Sie ist eine Methode, die gesamte Bevölkerung des jeweiligen Gebiets zu veranlassen, ihre Probleme zu überdenken und die nötigen Kompromisse und
Ausgleichsmaßnahmen zu verwirklichen. Um mehr handelt es sich nicht.« Jocelyn Feigerman runzelte die Stirn. »Dann haben Sie es wohl nicht deutlich genug erklärt«, sagte sie. »Ich habe das Ganze für eine Art Referendum gehalten.« »Ein Referendum, Mrs. Feigerman«, sagte er geduldig, »hat sehr viel mit einer Präsidentschaftswahl gemeinsam. Steht die Frage erst einmal zur Abstimmung an, ist sie so konventionalisiert und kompliziert geworden, daß die Hälfte der Wähler nicht mehr weiß, worum es geht, während der größte Teil der anderen Hälfte mit Teilen einverstanden ist, mit anderen nicht, und sich so oder so entscheiden könnte. Bei einem Referendum sind keine Verhandlungen möglich, Mrs. Feigerman, und nur darum geht es bei der Allgemeinen Stadtversammlung.« »Sie sagten, es sei eine Methode, wichtige Reformen zu bewerkstelligen, Mr. Brandon.« »Ja! Ganz recht! Nach Art einer Stadtversammlung in New England, bei Abwägung der Vor- und Nachteile. Für Reformen, um die es sich lohnt.« Mrs. Feigerman schürzte die Lippen. »Würden Sie sich einmal dieses Bild ansehen, Mr. Brandon?« Sie zeigte auf ein Plakat an der Wand. Es zeigte zwei Personen, Mrs. Feigerman selbst und ein kleines Mädchen mit einem Engelsgesicht. Brandon hatte das Bild schon lange bemerkt, ohne es sich genauer anzuschauen; jetzt sah er entsetzt, daß das kleine Mädchen keine Arme hatte. »Ihr Leben, Mr. Brandon, ist eine Reform, um die es sich lohnt! Und wenn Ihre Allgemeine Stadtversammlung helfen kann, Kinder wie sie davor zu bewahren, im Mutterleib ermordet zu werden, dann will ich, daß das geschieht.«
Der harte Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Nun, Mr. Brandon«, sagte sie, »erzählen Sie mir, wie wir Ihren Plan zum Vorteil meines eigenen nutzen können.« Mit der U-Bahn fuhr er bis zur 23nd Street, aber an Busse war nicht zu denken, und natürlich war auch kein Taxi in Sicht. Also stapfte Brandon durch immer dichteren Schnee quer durch die Stadt. In seiner Wohnung war niemand. Jo-Anne war nicht zu Hause. Das war unmöglich! Jo-Anne war immer zu Hause, wenn er aus dem Büro kam! Nach der Schule blieb sie noch dort, um ihre Extrakurse zu absolvieren, Klavier, Ballett, Schwimmclub; es gab jeden Tag einen, aber sie hatten alle die Güte, um fünf Uhr zu Ende zu sein, gerade so rechtzeitig, daß sie im Wagen mitgenommen und vor dem Haus abgesetzt werden konnte. Sie war also immer in der Wohnung, wenn Brandon zur Tür hereinkam. Niemals hatte es eine Ausnahme gegeben. Es war unmöglich, daß sie nicht hier war. Aber es stimmte. Heiße Malcolm White. Sie haben mich zweimal wegen Hehlerei eingebuchtet und einmal, weil ich geklaute Sachen verkauft hab, und der verdammte Richter sagte, daß er es leid ist, mein Gesicht in seinem Gerichtssaal zu sehen, und er sperrt mich ein. War gar nicht schlecht. Ich kam raus, und sie stecken mich in diesen verdammten Hühnerstall mitten in der Stadt, kenn keine Seele, hab nichts zu tun und war lieber wieder im Knast. Da bringen sie mir was bei, wenn sie mich auch zu ihrem Sklaven machen. Sagen sie. Tun’s aber nicht. Sie tun nie, was sie sagen, außer mich in den Arsch treten. Das können sie gut.
Jo-Anne war nicht in der Wohnung, und Brandon wäre fast verrückt geworden. Sie hatte keinen Zettel hinterlassen, aber er fand eine Botschaft. Sie lag auf seinem Bett. Bei dem Einbruch war Brandons verschließbare Kassette aufgebrochen worden, und er hatte sie durch eine neue Stahlkassette ersetzt. Diese Kassette hatte zwei Schlüssel. Einen davon hatte er versteckt, aber Jo-Anne hatte ihn unter einer seiner Schreibtischschubladen gefunden, wo er ihn mit Tesa-Film festgeklebt hatte. Sie war nicht an der einen Ausgabe von Penthouse interessiert gewesen oder an seinen Finanzunterlagen. Auch nicht an der Handvoll Aktien und Sparbriefen. Zwei andere Dinge hatten ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie hatte sie auf seinem Bett liegenlassen. Das eine war ihre Geburtsurkunde. Das andere war Brandons Entlassungsschein von der Armee, zusammen mit seinen Armeepapieren. Jo-Anne hatte im Sexualkundeunterricht gut aufgepaßt. Sie wußte, daß eine Schwangerschaft neun Monate dauert. Und sie wußte auch, was das bedeutete. Brandon hatte alle Lampen eingeschaltet. Er hatte seinen Mantel noch an, und der Schneematsch schmolz und lief ihm in die Schuhe. So saß er am Telefon und hörte das endlose Klingelzeichen der Notrufnummer 911. Für Notfälle war dieser New Yorker Tag so recht geeignet. Er zählte vierzig Rufzeichen, und immer noch hörte er keine menschliche Stimme. Dabei fixierte er unentwegt den Türknopf und hoffte inbrünstig, daß er sich drehen möge. Sein Verstand weigerte sich beharrlich, ruhig zu bleiben, wie sehr er ihm auch zuredete. Das Radio im Nebenzimmer, das er automatisch angestellt hatte, brachte keine Musik, sondern Katastrophenmeldungen: Auf der Jersey-Ausfahrt des LincolnTunnels hatte sich ein Lastzug quergestellt, und alle Fahrspuren waren blockiert. Die LIRR hatte die Hälfte ihrer
Züge annulliert, und die restlichen hatten bis zu zwei Stunden Verspätung. Alle Flughäfen waren geschlossen. Die GeorgeWashington-Brücke, die Tappan-Zee-Brücke und die Verrazano-Brücke waren für jeden Verkehr gesperrt, und auf den Brücken über den East River schlich der Verkehr. Genauso quälend langsam ertönten die Rufzeichen, und Brandon hielt das Warten nicht mehr aus. Er hielt auch das Warten auf den Fahrstuhl nicht aus. Auf der Nottreppe nahm er zwei Stufen auf einmal, um möglichst schnell die Wohnung des Hausmeisters zu erreichen. Der Hausmeister hatte nicht das Radio, sondern den Fernseher eingeschaltet, aber die Worte zu den Bildern waren auch nicht angenehmer. Im Grand Central-Bahnhof hatte es Bombenalarm gegeben. Zwanzigtausend Pendler saßen fest und mußten in den Schnee hinausgeführt werden; ein Feuer an der West Side brannte unkontrolliert, weil die paar Feuerwehrleute, die überhaupt arbeiteten, wegen des Schnees und der vielen abgestellten Fahrzeuge nicht durchkamen. »Oh ja, ich habe Joie gesehen«, sagte der Hausmeister, aber es hörte sich nicht sehr beruhigend an. »Sie, äh, sie weinte.« Er zögerte. »Ich denke, dieser Schwarze heute morgen hat sie aufgeregt.« Brandon hörte zu, als Rozak ihm von dem Schwarzen im Fenster erzählte. Von seiner – angedrohten? vorgetäuschten? – Absicht, aus dem Fenster zu springen, und er verfluchte sich dafür, daß er nicht begriffen hatte, daß er Jo-Anne nicht gefragt hatte, was denn los gewesen sei – er verfluchte sich für alles, was im letzten Jahr passiert war, aber der Katalog war zu lang, als daß er alles hätte aufzählen können. »Dann, als die Schule schloß…« »Was war mit der Schule?« »Sie haben die Kinder gleich wieder nach Hause geschickt. Wußten Sie das nicht? Wahrscheinlich wegen des Sturms – jedenfalls war sie gegen neun Uhr dreißig wieder hier, und
gleich nach dem Lunch sah ich sie wieder weggehen. Und da weinte sie, Mr. Brandon. Hören Sie zu, es ist wahrscheinlich nichts, aber vielleicht sollten Sie die Polizei anrufen.« »Die Polizei anrufen! Ich habe 911 angerufen, aber niemand nimmt ab!« »Vergessen Sie Nummer 911 und rufen Sie die Revierwache an. Sie können mein Telefon benutzen. Die Nummer finden Sie drüben an der Wand – da, machen Sie schon.« Wie betäubt tat Brandon, was ihm gesagt wurde. Auch bei der Revierwache dauerte es endlos lange, aber er blieb verbissen am Apparat, denn etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Inzwischen unterhielt sich der Hausmeister mit seiner Frau in ihrer gemeinsamen Muttersprache, was immer das für eine war. Er war sich klar darüber, daß die Polizei an einem Tag wie diesem, und angesichts der Tatsache, daß die Stadt im Begriff war, sich selbst zu zerstören, an einem weiteren vermißten kleinen Mädchen sehr wenig interessiert sein würde. Er hatte recht. Als er endlich den wachhabenden Beamten erreichte, brachte dieser nur deshalb die Geduld auf, die Beschreibung des Mädchens für die Vermißtenmeldung aufzunehmen, weil Brandon Mr. Rozaks Namen erwähnte. Das war wenigstens etwas! Etwas, über das man lachen konnte, wenn sie wieder nach Hause kam, dachte er, vielleicht sogar etwas, das für sie lehrreich sein könnte, denn daraus würde sie erkennen, welche Sorgen er sich um sie gemacht hatte. »Mr. Brandon?« Er merkte, daß er immer noch den Hörer in der Hand hielt, obwohl der wachhabende Beamte längst aufgelegt hatte. »Was ist?« Der Hausmeister hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Es hätte der eines Leidtragenden bei einer Beerdigung sein können, aber auch der eines Mannes, der
einem Patienten auf der Intensivstation Mut zuspricht. »Meine Frau sagt, daß einer der Mieter ihr etwas erzählt hat.« Er schien nur ungern mit der Sprache herauskommen zu wollen. »Was denn?« bellte Brandon. »Nun, vielleicht ist es nichts, aber – jedenfalls hat die Frau in 2-H gesagt, sie habe drüben bei den Züps im Haus ein Mädchen gesehen.« Er zögerte. »Es sah nicht so aus, als hätte mit ihr irgendwas nicht gestimmt«, fügte er hinzu. »Aber es war ein weißes Mädchen, und es war irgendwie komisch. Die Mieterin sagt, sie hätte eine Weile im offenen Fenster gelegen, und dann hätte dieser schwarze Kerl sie gepackt und reingezogen.«
Der fette alte Hausmeister der Züps hörte eine Weile zu, aber er blockierte dabei mit dem Fuß die Tür. Dann machte er sie weit auf. »Ihre Tochter ist nicht hier, Mister«, sagte er, »aber kommen Sie mit nach oben. Fragen Sie die Jungs, ob sie was gesehen haben. Dann werde ich Ihnen was zeigen.« Brandon hatte schon immer gern wissen wollen, wie dieses öde vierstöckige Gebäude mit der leeren Fahnenstange wohl von innen aussehen mochte. Es war peinlich sauber. Der Flur war in sterilem Weiß gehalten, der Fußboden mit Linoleum ausgelegt. Die Wände waren leer; nur an den Schlafzimmertüren hingen beschriftete Kärtchen – die Namen der Bewohner, und daneben etwas, das aussah wie eine Hausordnung. Möbel waren nirgends zu sehen. Aus jeder Tür schauten schwarze Gesichter hervor, die Brandon und Mr. Rozak und den fetten Hausmeister betrachteten. Sie blickten nicht feindselig, nicht einmal neugierig. Sie glotzten einfach nur. Vorn im vierten Stock führte der Dicke sie in einen Raum mit drei Metallbetten, einem Schreibtisch, ein paar alten Kommoden, Bildern von Mean Joe Green und Herschel
Walker, die mit Klebestreifen an der Wand befestigt waren. Der Hausmeister nickte den drei jungen Männern im Zimmer zu und griff unter eins der Betten. Er zog etwas heraus, das wie ein zusammengeknüllter Ballon aussah. Es war klein und schien gelbes Haar zu haben. »Hat die Lady vielleicht dies hier gesehen?« fragte der Hausmeister und schüttelte das Ding, um zu zeigen, was es war. Eine lebensgroße Gummipuppe. Eins dieser Sexdinger, die man in der 42nd Street in den Pornoläden sehen konnte. Wenigstens die Züps amüsierten sich. Als sie Brandons und Rozaks Gesichter sahen, wußten sie sich vor Lachen kaum zu halten, und so laut sie konnten, erzählten sie alles, was geschehen war, den andern Hausbewohnern. Brandon hörte zu. Auf welche schreckliche Weise können sich menschliche Tragödien in eine Farce verwandeln! Einer der Züps hatte die Puppe, die einem anderen gehörte, versteckt; der beraubte Züp hatte gedroht, aus dem Fenster zu springen, wenn er sie nicht wiederbekäme; dann hatte der Räuber gedroht, die Puppe rauszuwerfen – es war alles recht unerquicklich und – ja, komisch. Aber Rozak hörte nicht mehr zu. Er stand am Fenster und schaute über die Straße zu seinem eigenen Haus hinüber. »Um Gottes willen«, sagte er. Brandon brauchte eine Weile, bis er merkte, welche Wohnung Rozak beobachtete, aber eigentlich bestand darüber kein Zweifel. Eine Wohnung war weit heller als alle anderen. Es sah aus, als brannten in jedem Zimmer mindestens ein Dutzend Lampen – Tischlampen, Hochleistungstensoren, Stehlampen in verschiedenen Ausführungen. Es war die Eckwohnung im vierten Stock, und Brandon fiel ein, daß diese Wohnung Mr. Becquerel gehörte, dem netten Mann, der bei den Vereinten Nationen arbeitete – und die Wohnung strahlte.
Über die Straße hinweg konnte Brandon in das Wohnzimmer sehen, bis zur Kochnische und bis auf den Flur. Er konnte auch in das Schlafzimmer sehen, in dem ein großes ungemachtes Bett und mit Geräten aller Art beladene Kommoden standen. Mitten in seinen drängenden Sorgen nahm sich Brandon Zeit, hinüberzuschauen. Fast war es wie Lüsternheit. Es lag ein heimliches und hinterhältiges Vergnügen darin, in das Privatleben eines flüchtigen Bekannten Einblick zu nehmen. Mr. Becquerel mußte ein richtiger Fernsehfan sein, denn allein im Wohnzimmer standen drei Geräte, plus zwei komplette Videogeräte und mehrere Kameras; das hätte man von Mr. Becquerel gar nicht vermutet! Aber dieser flüchtige Gedanke wurde rasch von einer erschreckenden Erkenntnis verdrängt. Seine eigene Wohnung war fast genau so offen einzusehen. Die Fenstervorhänge, die von innen undurchsichtig wirkten, waren bei eingeschalteter Innenbeleuchtung nichts anderes als dünner Baumwollstoff. All die vielen Male hatte er sich allein und unbeobachtet gewähnt, wenn er private und persönliche Dinge tat – wie oft mochte er dabei den Züps ein amüsantes Schauspiel geboten haben? Bei den vielen eingeschalteten Lampen konnte er genau so ungehindert in seine eigene Wohnung hineinschauen wie in die Becquerels mit der strahlenden Beleuchtung zwischen den Fernsehgeräten und Stereoanlagen, den Textverarbeitungsgeräten und den Cuisinarts und den elektrischen Schreibmaschinen – Und plötzlich erkannte Brandon, daß der hellrosa Radiowecker seiner Tochter gehört hatte. Also ging der Einbruch in seine Wohnung doch nicht auf das Konto der Züps.
Mr. Rozak war aufgeregt – so aufgeregt, daß er fast nicht mehr an Brandons vermißtes Kind gedacht hätte – so aufgeregt, daß
er drauf bestand, die Information an seinen Freund in der Revierwache weiterzugeben. Er drängte Brandon, zusammen mit ihm und seiner Familie zu Abend zu essen, sich keine Sorgen mehr zu machen, denn in neun von zehn Fällen kämen vermißte Kinder nach ein paar Stunden von selbst wieder zurück, ja, er könne sich selbst noch erinnern, als er ein kleines Kind war und eben in Amerika angekommen, habe er die falsche U-Bahn genommen und sei in der Main Street in Flushing gelandet, und das ohne einen Cent in der Tasche, um die Rückfahrt zu bezahlen oder zu telefonieren… es war alles so gut gemeint, aber für Brandon war es widerwärtig. Das letzte was er wollte, war, von Leuten angestarrt werden, die seine Sorgen nicht teilten. Und es war immer noch möglich, daß Jo-Anne anrief. Und das brachte ihm eine ganze Menge neuer Probleme. Inspiration: Die Eltern all ihrer Klassenkameradinnen nacheinander anzurufen, für den Fall, daß sie irgendwo untergekrochen war. Nachteil: Wenn sie nun versuchte, ihn anzurufen, wenn die Leitung besetzt war? Würde eine Zehnjährige die Hartnäckigkeit aufbringen, es immer wieder zu versuchen, bis aufgenommen wurde? Würde sie in einer Situation sein, in der das möglich war? Und plötzlich überkam ihn eine rasende Wut auf Becquerel, der seinen Anrufbeantworter gestohlen hatte; möglicherweise hatte JoAnne hundertmal angerufen, ohne eine Nachricht hinterlassen zu können! Er widerstand dem Impuls, hinüberzurennen und Becquerel zu zwingen, die Beute herauszurücken – vielleicht mit dem zusätzlichen Reiz, ihm das Gesicht einzuschlagen. Gegen Mitternacht war er mit der Liste möglicher Zufluchtsorte so weit gekommen wie nur irgend möglich – die letzten beiden Elternpaare hatte er mit seinem Anruf aus dem Bett geholt, und wenn sie auch Mitgefühl zeigten, waren sie
doch verärgert. Und keine Spur von Jo-Anne. Die ganze Nacht kamen aus dem Radio an seinem Bett und dem Fernsehgerät im Wohnzimmer Katastrophenmeldungen – ein Zusammenstoß von zwanzig Wagen auf dem Long Island Expressway (aber da keiner der Wagen im Sturm schneller als zehn Meilen in der Stunde fahren konnte, gab es keine Toten), die U-Bahnen fuhren noch, wenn sie unter der Erde waren, aber über der Erde fuhren sie unregelmäßig oder gar nicht, Leute saßen auf den Bahnhöfen fest, weil Züge ausfielen oder mit riesigen Verspätungen eintrafen, die Leute blieben auf Busbahnhöfen stecken, sie blieben auf Flughäfen stecken, jedes Hotel war gerammelt voll, und sie blieben im Foyer stecken… sie blieben stecken. Die ganze Stadt blieb stecken. Nichts bewegte sich mehr. Er hatte die Veränderung kaum wahrgenommen, als er draußen vor dem Gebäude einen Schneepflug hörte, aber er war zu sehr mit seiner Verzweiflung beschäftigt, um ans Fenster zu treten und hinauszuschauen. Als der Polizeibeamte an die Tür klopfte, durchfuhr ihn Entsetzen. »Ist es – haben Sie meine Tochter gefunden?« würgte er hervor. Der Beamte wischte sich den Schnee von der Brille, ein älterer Mann mit einer goldenen Litze an der Mütze. Er machte ein erstauntes Gesicht. »Sind Sie Shire Brandon?« Und auf dessen Nicken hin: »Es tut mir leid, aber ich weiß nichts von Ihrer Tochter. Sie sind sehr schwer zu erreichen, Mr. Brandon. Wir haben den ganzen Abend versucht, Sie anzurufen.« »Ich verstehe.« Brandon verlor den Rest seiner Energie. Er spürte, wie er in sich zusammensank. »Nun, wenn es sich um die Beute aus dem Einbruch handelt, sie liegt in der Wohnung nebenan. Ich weiß nicht, ob der Mann zu Hause ist, aber – « »Auch von einem Einbruch weiß ich nichts, Mr. Brandon. Ich komme vom Bürgermeister. Er will Sie sofort sprechen, und ich soll Sie zu ihm bringen.«
Seit Vietnam war Brandon nicht mehr in einem Lastwagen gefahren und noch nie in einem, an dem vorn eine Einrichtung zum Schneepflügen angebracht war – in Vietnam wurde nicht sehr viel Schnee gepflügt. Auch diesmal war davon kaum die Rede. Die Hauptaufgabe des Lastwagens war, Brandon und den Polizeioffizier hinunter ins Rathaus zu bringen. Er pflügte nur, wo es nötig war, um Zeit zu gewinnen, und meistens, weil stehengelassene Wagen die Avenues in der Mitte blockierten. In dem Lärm saß Brandon zwischen dem Fahrer und dem Police Captain eingezwängt und schrie dem Captain Satz für Satz seine Sorge um seine Tochter ins Ohr. Als Antwort bekam er dieselbe Statistik, die ihm schon der Hausmeister geliefert hatte, und er empfand sie als genauso wenig tröstlich. Der Platz vor dem Rathaus war fast schneefrei, und zwei Pflüge schoben die Reste zur Seite. Außerdem standen dort fünfzehn oder zwanzig weitere Fahrzeuge, die meisten mit Fahrern, die ihre Motoren laufen ließen und hin und wieder den Pflügen auswichen. Der Captain stieg zuerst aus, und während er Brandon die Tür aufhielt, sagte er: »Eins habe ich nicht verstanden. Sie sagten, Ihre Tochter habe einen bestimmten Grund zur Aufregung – macht es Ihnen etwas aus, mir diesen Grund zu nennen?« Brandon blieb stehen, und der Schnee schlug ihm ins Gesicht. Machte es ihm etwas aus? Darüber hat er bisher mit keinem Menschen in dieser Stadt gesprochen – mit überhaupt noch niemandem. Aber gab es einen Grund, die Sache jetzt noch geheimzuhalten? Er leckte sich den Schnee von den Lippen und sagte: »Sie ist nicht mein Kind, und das hat sie heute morgen herausbekommen.«
»Hmm.« Der Beamte nickte, und sein Gesicht zeigte jene Scheu vor einer Beurteilung, die verrät, daß das Urteil bereits gefällt wurde. Leute, die vor ihren Kindern etwas verbergen! »Darüber würde ich mir weiter keine Sorgen machen. Adoptierte Kinder lernen, damit fertig zu werden…« »Sie ist kein adoptiertes Kind. Sie…« Er zögerte, aber dann sagte er: »Meine Frau wurde schwanger, als ich in Vietnam war. Jo-Anne hat es nie erfahren. Ich wußte nicht, was ich ihr sagen sollte.« Was der Captain daraufhin sagte, wußte Brandon nicht – etwas Beruhigendes, vielleicht etwas Mitfühlendes. Vielleicht hatte er überhaupt nichts gesagt, sich vielleicht nicht einmal verabschiedet. Brandon nahm kaum wahr, was irgendwer zu ihm sagte oder wo er sich befand. Er dachte nicht einmal an Jo-Anne, nicht einmal an seine Frau; er dachte an die Stunden im Warteraum des Hospitals, wo er versuchte, in der Time zu lesen, während er die ganze Zeit überlegte, wer der Vater des Kindes sein mochte… ob das Baby ihm ähneln würde… und mehr als alles andere noch, welche Farbe das Baby haben würde. Die Frage war nicht aus Rassevorurteilen entstanden. Es war die Schwierigkeit, die Unmöglichkeit, so zu tun, als sei das Kind sein eigenes, wenn es eine auffällig abweichende Hautfarbe hatte – eine praktische Frage, keine Frage der Voreingenommenheit. Davon war er überzeugt. In dieser Blizzardnacht, wo jeder vernünftige Mensch im Haus bleibt, herrschte im Rathaus mehr Betrieb als an einem normalen Arbeitstag. Niemand schien genau zu wissen, warum Shire Brandon hier war. Eine Frau, die eine Plakette der Abtreibungsgegner trug, führte ihn zu einem Sitzplatz, ein Mann von der Schwulenbefreiungsbewegung brachte ihm eine Tasse InstantKaffee, und eine Frau von der Gesellschaft für HaitianischAmerikanische Freundschaft gab ihm eine Zeitung. Der große
Warteraum war voll von Menschen, die sich miteinander unterhielten, aber Brandon kannte keinen von ihnen. Brandon wollte auch mit keinem von ihnen reden. Die einzige Person, die er gern gesprochen hätte, war nicht hier. Er wandte sich an die Frau, die ihn gebeten hatte zu warten. Als er sie bat, das Telefon benutzen zu dürfen, mußte er sich über ihren Schreibtisch beugen, damit sie ihn hören konnte. Man merkt es immer gleich, wenn man am schlechteren Ende sitzt. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Hier geht es um das Geld des Steuerzahlers, und ich trage die Verantwortung.« »Ich will das Gespräch gerne bezahlen.« »Das ist nicht so einfach. Ich müßte Ihnen eine Quittung unter Verschiedenes ausstellen und sie getrennt verbuchen lassen und…« Aber am Ende durfte er sein Gespräch führen. Natürlich nahm in seiner Wohnung niemand ab; darauf hatte er nicht hoffen können. Als er Mr. Rozak bat, einen Zettel an seiner Wohnungstür anzubringen, und ihm gerade erklärte, wie er zu erreichen sei, falls der Hausmeister auch nur das geringste von Jo-Anne hören sollte, klopfte ihm jemand auf die Schulter. Als er auflegte und sich umdrehte, sah er einen jungen Mann mit krausem Bart, der über einem Rollkragenpullover eine Lammfelljacke trug; der Raum war überheizt, und er mußte fürchterlich schwitzen. »Sind Sie Shire Brandon?« fragte er. »Mein Name ist John Harvey. Ich bin damit beauftragt worden, ihre Sendung zu organisieren.« »Meine Sendung?« Der junge Mann nickte. »Kommen Sie mit ins Studio. Vielleicht gefällt Ihnen, wie ich alles eingerichtet habe.« Er klemmte Brandon ein Namensschild an den Mantel und zog ihn mit sich. Er redete weiter, aber er sprach immer über die Schulter, und im Rathaus war es so laut, daß Brandon nur
gelegentlich ein Wort verstand. John Harvey wartete nicht auf einen Fahrstuhl. Er führte Brandon die Nottreppe hinunter und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Sie gingen an Polizeiposten vorbei durch einen Gang, der genau so stank wie zur Zeit jeder andere New Yorker Keller, denn auch vom Rathaus wurde der Müll nicht abgeholt. Das Fernsehstudio des Rathauses war im ehemaligen Presseraum untergebracht. Es hatte keine der Annehmlichkeiten der großen Sendeanstalten. Eine Ecke war wie für eine Talk-Show eingerichtet, mit einem schon abblätternden Bild der New Yorker Skyline an der Wand und zwei Stühlen davor. Kameras und Lampen waren den Stühlen gegenüber auf schwankenden Metallständern angebracht. »Dies ist für den Bürgermeister und seinen Gast«, erklärte Harvey. »Wir übermitteln an das WNYC-Studio drüben im Gebäude der Stadtverwaltung, und von dort gehen die Bilder an Zwei, Vier, Fünf, Neun, Elf und Dreizehn, und die Sprache geht über Telefon an die Simultandolmetscher – wir haben acht, darunter je einen für Japanisch, Chinesisch und Arabisch. Die Sendezeit für den Bürgermeister ist morgen früh zehn Uhr, aber wir geben Berichte über alle Sender, AM, FM, TV und alles, was es so gibt, und damit fangen wir sofort an. Wie gefällt Ihnen das?« Wie es ihm gefiel? Das war nicht leicht zu sagen. Wie hatte es ihm gefallen, als Blanche Ehler, die ihn bei einem HighSchool-Picknick zur Seite gezogen und ihm gesagt hatte, daß es ganz gut wäre, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben endlich einmal etwas bis zum Ende durchstehen würde? Er war aufgeregt, er hatte Angst – und er konnte es noch gar nicht glauben. Harvey wartete seine Antwort nicht ab. Er grinste nur und führte Brandon zu einer Tür, gegen die er klopfte. Geschah es wirklich? Würde die Allgemeine Stadtversammlung heute tatsächlich ihre Generalprobe erleben – und das unter den
gegenwärtigen Umständen, wo die Augen der Welt auf New Yorks qualvolle Leiden gerichtet waren und jeder also Zeuge dieser Generalprobe werden mußte? Die Tür führte zu seiner Überraschung in einen Raum, der aussah wie ein gewöhnliches Zimmer in einem Holiday-InnHotel. Das einzig Ungewöhnliche daran waren der Polizeileutnant vor der Tür, der Harvey anklopfen ließ, und die Tatsache, daß der Raum keine Fenster hatte, wie Brandon bemerkte, als die Tür sich öffnete. Im Zimmer waren vier oder fünf Leute. Brandon erkannte den Bürgermeister, Saul Wassermann und die einzige Frau, Jocelyn Feigerman… Brandons gute Stimmung war dahin, sein Zustand nervöser Erwartung nicht mehr vorhanden. Und schlagartig begriff er. Sie gingen nicht hinein. Die Tür schloß sich, und Harvey zog Brandon ein Stück weiter. »Er wird gleich kommen«, versprach er. »Haben Sie einen Eindruck bekommen? Hatte ich Ihnen von den Außenübertragungen erzählt? Wir haben mobile Einheiten der kommerziellen Sender im Hauptquartier der Transportarbeitergewerkschaft und in den Hotels, in denen die Gewerkschaften der Feuerwehr und der Polizei sich versammeln. Wir schicken die Signale über Mikrowelle zum Sammelpunkt und dann über Draht an die Studios. Alle größeren Gewerkschaften der Stadt werden berücksichtigt, und – was ist denn los?« »Was hat Jocelyn Feigerman mit der Sache zu tun?« wollte Brandon wissen. John Harveys Gesichtsausdruck veränderte sich. Er kniff die Lippen zusammen, verzog die Mundwinkel und hob die Brauen. »O ja«, sagte er nach einer Weile. »Saul sagte, da könnten Sie uns Schwierigkeiten machen.« »Ich habe Sie etwas gefragt!«
»Sie ist hier Ihr Boß«, sagte Harvey geduldig. »Warum, glauben Sie, machen wir dies? Es geht nur als Kraftakt und Kraft hat sie nun einmal.« Brandon blieb noch Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Er nickte. »Gut, das verstehe ich ja alles, aber was machen wir hier eigentlich?« »Was? Was ist denn los, Brandon? Hören Sie denn nicht zu? Es ist diese Allgemeine Stadtversammlung – « »Aber zu welchem Zweck? Denken Sie an irgendeine PublicRelations-Sache, etwa eine Telefonaktion mit dem Ziel, ein Verbot der Abtreibung durchzusetzen, oder an eine richtige Allgemeine Stadtversammlung? Was sollen die Außenübertragungen aus dem Hauptquartier der Gewerkschaften?« »Scheiße, Mann! Das sind doch die Leute, die für die städtischen Arbeiter sprechen!« »Aber der ganze Sinn liegt doch gerade darin, daß die Leute für sich selbst sprechen. Warum keine Direktübertragungen, bei denen möglichst viele Bürger zu Wort kommen? Warum – « Er brach ab, als Saul Wassermann herauskam, der aussah wie ein Mann, der keine Zeit zu verschwenden hat. »Ich glaube, Sie machen alles falsch!« sagte Brandon, der sich jetzt an Wassermann wandte. »Sie haben das ganze Projekt nicht verstanden!« »Ach, Scheiße«, stöhnte Wassermann. »Harvey! Schmeißen Sie diesen Affen raus!« Aber Brandon schüttelte die Hand des bärtigen Mannes ab. »Sie haben nicht zugehört!« schrie er. »Die Allgemeine Stadtversammlung ist keine Übung in Gehirnwäsche! Sie ist eine Methode, den Leuten wirkliche Kontrolle über die Ereignisse zu verschaffen! Sie ist nicht dazu da, dem Bürgermeister die Möglichkeit zu geben, noch mehr Scheiße zu reden. Sie ist nicht dazu da, den Interessenverbänden die
Verteilung der öffentlichen Mittel zu überantworten. Ungehindertes Geben und Nehmen. In dieser Stadt soll jeder Bürger die Chance haben, seine Meinung zu sagen und über das, was getan werden soll, abzustimmen… das ist der Sinn der Allgemeinen Stadtversammlung, und nur so kann eine Veränderung herbeigeführt werden!« Er wußte, daß er schrie. Das Schreien machte ihm Spaß. Er freute sich darüber, daß alle Leute im Saal sich nach ihm umdrehten, daß der Kameramann aus dem Studio gekommen war, um zuzuhören, daß der Polizeileutnant stirnrunzelnd ein paar Schritte näher herangekommen war. Er wußte nicht, daß der Bürgermeister selbst sich unter den Leuten befand, bis er sich umdrehte und seine Exzellenz vor sich stehen sah. Am Gesichtsausdruck des Bürgermeisters war nichts abzulesen. Auch aus seiner Stimme war nichts herauszuhören, denn sein Gesichtsausdruck veränderte sich nie sehr stark, und das galt auch für seine Stimme – schlimmstenfalls ein angedeutetes Lächeln, bestenfalls ein leicht schulmeisterlicher Tonfall. Er schaute Brandon nicht an. Er schaute auch Saul Wassermann nicht an, obwohl seine Worte an diesen gerichtet waren. »Sagen Sie mal, Saul«, sprach er in die Luft, »wozu haben wir diesen Mann überhaupt hergeholt?« Es war eine rhetorische Frage, aber eine von besonderer Art: Sie erforderte auch eine rhetorische Antwort. Wassermann tat ihm den Gefallen. »Weil Mrs. Feigerman der Ansicht war, daß er uns im Zusammenhang mit dieser Allgemeinen Stadtversammlung von Nutzen sein könnte. Weil Sie gesagt haben, daß es schlimmer ohnehin nicht kommen kann. Weil der Gouverneur sagt, daß die Nationalgarde bei diesen Straßenverhältnissen nicht in die Stadt einrücken kann, und weil Sie nächstes Jahr erneut kandidieren wollen.« Der Bürgermeister nickte. »All das stimmt immer noch, Saul«, bemerkte er. »Wenn wir dies Ding ausprobieren, darf
keiner später sagen können, wir hätten ihm keine faire Chance gegeben.« »Nein«, pflichtete Wassermann bei. Er schaute kurz Brandon an, und Brandon hatte Herzklopfen. Er wußte, was jetzt kommen würde, aber er konnte es nicht glauben. Es kam. »Geben Sie also diesem Hundesohn, was er will«, sagte der Bürgermeister. Ich war John Barrett, Schiffsausrüster, gottesfürchtig und königstreu. Wir verkauften Waren in einem Laden in South Street, mein Nigger und ich, und das Geschäft lief gut. Von drei Frachten für Nordamerika gingen zwei nach South Street. Ich behandelte ihn gut, aber das hat er mir nicht gedankt. Er hatte den Ofen nicht entschlackt. Das Lattenwerk fing Feuer, und das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. Ich war ruiniert, und die Stadt noch mehr als ich, denn mein Nigger war nicht allein. Aber zwei Wochen später stellten sie ihn und die andern rebellierenden Sklaven. An diesem Tag ging ich zum Collect Pond hinüber, um nachzuschauen, und da wurde auch er verbrannt.
Es stimmte, die Stadt hatte sich noch nie in einem schlechteren Zustand befunden. Es war nichts geschehen, was es nicht schon gegeben hätte. Nicht eins der Dinge, die jetzt aus dem Ruder liefen, war nicht schon früher aus dem Ruder gelaufen – sogar schon oft. Aber noch nie war die ganze Scheiße auf einmal hochgekocht. Streiks und Sturm, Unfähigkeit der Bürokraten, anhaltender Unmut der einzelnen Bürger, Terroristen und Gangster, als das zusammengenommen, hatte die Kräfte der Stadt bis zum Zerreißen strapaziert. Stellenweise waren sie schon zusammengebrochen. Das Feuer im Hell’s Kitchen, nur zwei Blocks von Times Square und Broadway entfernt, wäre zu jeder Zeit schlimm gewesen, aber die
wenigen Feuerwehrleute, die Dienst taten, konnten ihr Gerät nicht durch die verstopften Straßen bekommen, die von den wenigen diensttuenden Männern von der Stadtreinigung nicht gepflügt worden waren, und der Wind fachte die Flammen an, und das Feuer breitete sich aus. In Bedford-Stuyvesant wagten sich acht Halbwüchsige aus dem Haus und zerschlugen die Scheiben eines Getränkeladens, und an der Fifth Avenue zündete ein vor Kälte zitternder Puertorikaner mit Wut im Herzen vor einer Bank ein Paket Dynamit, aber es gelang ihm nur, sich selbst in die Luft zu sprengen – fast vollständig; und in einem der vornehmsten Hotels der Stadt wurde eine Frau aus Palm Beach vergewaltigt, ihrer Juwelen beraubt und ermordet. Fast. Sowohl der Touristin als auch dem Terroristen blieb ein Funken Leben. Und so war es auch mit der Stadt. Es gab Plündereien und Raub, o ja! Aber das taten nur kleine Gruppen und Individuen an weit verstreuten Orten. Es war zu kalt, als daß sich Banden hätten bilden können. Verbrechen wurden begangen, und keine Polizei war da, um es zu verhindern; aber nur wenige potentielle Opfer wagten sich auf die Straße, und für Räuber und Banditen liefen die Geschäfte schlecht. Für die Nutten war es noch schlechter. Vanilla schaute aus einem Cafe in der Eighth Avenue nach draußen und hoffte dringend, daß ihr Zuhälter bald auftauchte. Wenn er kam, war es gut möglich, daß er ihr in den Arsch trat, weil sie hier im Cafe herumhing, statt draußen Kunden zu suchen. Aber es war auch möglich, daß er ihr sagte, sie solle den Abend freinehmen, ins Kino gehen oder vielleicht sogar zu Hause bleiben und fernsehen. Genau wie Bühnenschauspieler, Lehrer an Abendschulen und Oberkellner, konnten auch Nutten nie zur besten Sendezeit vor dem Fernsehgerät sitzen. Es gab Abende, an denen sie alles
mögliche darum gegeben hätte zu erfahren, wie es in Dallas und Hill Street Blues weiterging. Als sie zu einer Entscheidung gekommen war und einen Fuß nach dem andern aus dem Schnee zog, meinte sie, sich falsch entschieden zu haben. Auf der Avenue waren keine Wagen mit Jersey-Kennzeichen zu sehen und schon gar keine Passanten, denen sie ihre Dienste hätte anbieten können. Von der Tenth Avenue klang der Lärm der Feuersirenen herüber, und sie sah den roten Schein am schneeverhangenen Himmel; ansonsten schien die Stadt menschenleer. Unten im Süden sah sie grünweiße Lichter aufblitzen – ein verirrter Schneepflug, der vielleicht versuchte, die Kreuzung an der 42nd Street freizuhalten. Ein Quietschen und Jaulen vom Nachbarblock zeigte an, daß dort ein Fahrer seinen Wagen auf einer glatten Stelle vor- und zurücksetzte, um freizukommen – wie es schien, ohne Erfolg. »Heh, Nillie!« Vanilla zuckte zusammen und wäre fast in den Schnee gefallen. »Mein Gott, Dandy«, keuchte sie und hielt sich mühsam im Gleichgewicht. »Du hast mich aber erschreckt.« »Du bist wohl zu erschrocken, um vernünftig zu arbeiten, Mädchen.« Er sprach immer knurrend, aber heute klang seine Stimme so rauh, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Hier ist weit und breit niemand«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, »das siehst du doch hoffentlich selbst, Honey.« »Was ich sehe, ist eine faule Hure. Du versuchst es jetzt sofort in den Bars, verstanden?« »Ach, Dandy, die jagen mich sofort wieder raus. Das weißt du doch genau…« »Darüber machst du dir Sorgen? Du solltest dir lieber Sorgen über das machen, was ich tun könnte!«
In diesem Augenblick erwartete Vanilla, daß er sie schlagen würde. Das tat er auch, aber nur mit der flachen Hand. Der Schlag traf sie auf den Hintern und war eher ein Klaps. »Wenn es in den Bars nichts ist, gehst du eben zum Busbahnhof«, befahl er. »Dort werde ich dich suchen.« Aber er sah sie nicht einmal an. Sie starrte ihm nach, als er seine Mantelschöße hob wie eine vornehme Dame und so durch die Schneewehen watete und um die Ecke bog. Heute war Dandy nicht mit dem Herzen dabei. Das bedeutete wahrscheinlich, daß er andere Geschäfte im Kopf hatte. Vanilla hoffte, daß es nichts allzu Dummes oder gar Gefährliches war. Dandy war nicht stark, vielleicht auch nicht mutig genug, um bei härteren Verbrechen mitzumachen. Wann immer er es versuchte, schadete er sich selbst. Zuhälterei war für ihn gerade das Richtige. Er war nicht einmal gemein genug, um als Zuhälter erfolgreich zu sein. Er konnte keinen großen Stall unterhalten – alle Mädchen bis auf zwei hatte er an die brutalere Konkurrenz verloren, und als die Geschäfte nach dem Erntedankfest wieder besser liefen, hatte er das andere Mädchen davongejagt, weil es anfing, Drogen zu nehmen. Mit harten Drogen hatte Dandy nichts im Sinn; alles in allem fehlten ihm fast alle Fähigkeiten, die sein Job eigentlich erforderte. Aber das konnte Vanilla nur recht sein. Alles in allem war sie mit ihrem Leben einigermaßen zufrieden – außer wenn das Wetter so schlecht war wie heute. Die Bars waren voll, aber sie war in keiner von ihnen willkommen. Egal, wer wäre schon mit ihr in den Schnee hinausgegangen? Beim Busbahnhof würde es natürlich nicht anders sein, aber dort war es wenigstens warm. Nillie wandte sich nach Süden und freute sich auf eine Tasse Kaffee und auf die Gelegenheit, ihre nassen Stiefel auszuziehen. Auf der anderen Straßenseite sah sie einige Gestalten.
Sie zögerte, aber dann beschloß sie, an ihnen vorbeizuschlendern. Dandy würde sich freuen, wenn ihr wenigstens ein Fang gelang. Durch den Schnee konnte sie nicht viel erkennen. Sie sah nur, daß eine der beiden Gestalten groß, die andere klein war. Als Nillie mit langen Schritten über die Straße ging, verschwand die größere Gestalt im Gebäude und ließ die kleinere draußen stehen. Das Wasser in Nillies Stiefeln schien allmählich zu gefrieren. Sie waren aus rotem Leder und dienten nur als Blickfang; sie waren nicht dazu da, das Wasser und die Kälte abzuhalten, und die unechte Pelzjacke schützte nur den oberen Teil ihres Körpers. Vanilla glitt durch den matschigen Schnee und wünschte sich Jeans – sogar rote Flanellunterwäsche. Gott mochte wissen, was Dandy sagen würde, wenn sie in solcher Kleidung zur Arbeit käme! Natürlich würde es heute abend keine Rolle spielen, denn heute würde niemand von ihr verlangen, daß sie sich rasch nackt auszog. Die Gestalt auf dem Bürgersteig stand immer noch da, und es war ein Kind. Ein kleines Mädchen. Nillie betrachtete die kleine voller Neid. Schal, Gamaschen, dicke Fäustlinge – so müßte man sich heute abend anziehen! »Hi, Sweetie«, sagte sie und ging noch ein paar Schritte weiter bevor sie sich umsah. Es war sonst nicht Vanillas Gewohnheit, sich während ihrer Rundgänge mit Kindern zu unterhalten. Das würde Dandy sogar noch weniger gefallen, als wenn sie Flanellunterwäsche trüge. Aber wer sollte sie hier schon sehen? Also machte Nillie auf dem Absatz kehrt und trat auf das kleine Mädchen zu. »Honey, was machst du denn hier mitten in der Nacht?« fragte sie. Und das Kind fing an zu weinen. Ich bin Timothy Beyley, Spritzenwagenfahrer in McClanahans Feuerlöschzug. Es war eine Woche vor
Weihnachten im Jahre 1835. Es war bitterkalt. Der North River fror zu, die Brunnen froren zu, die Hydranten froren zu und die Zisternen. Die einzige Möglichkeit, Wasser zu bekommen, war, auf das Eis des Flusses hinauszufahren und ein Loch zu hacken. Also pumpten wir mit zehn Mann Wasser in Nix’ Behälter, und Nix pumpte es weiter in Marions, und so ging es weiter bis zum Feuer am Broadway. Aber es reichte nicht. Wir verloren sie alle. Jedes Haus am Broadway brannte ab bis hinunter zur Battery. Jo Anne wußte ungefähr, was eine Prostituierte ist. Das heißt, sie wußte, was sie taten, obwohl sie nicht begriff, warum jemand sie dafür bezahlen sollte. Aber Jo-Anne war ein Stadtkind, das zusammen mit anderen gescheiten Stadtkindern aufgewachsen war. Für wie naiv ihr Vater sie auch halten mochte, sie erinnerte sich sehr gut an die Witze, die die älteren Kinder über die Frauen machten, die in der Lexington Avenue und am Cooper Square an den Ecken herumstanden. Sie wußte, daß diese junge Frau in den schmutzigen roten Stiefeln und in dem kurzen Rock kein Modell war. Aber als sie Vanilla ansah, sah sie zugleich ihre Mutter. Ihre Mutter hatte es getan, was immer »es« genau bedeutete, und sie hatte es wahrscheinlich auf die gleiche Weise getan wie diese junge Frau. Die Witze und der Sexualkundeunterricht hatten in Jo-Annes Kopf keine klare Unterscheidung zwischen einer untreuen Ehefrau und einer Hure hinterlassen. Das nahm sie nicht gegen ihre Mutter ein, es weckte in ihr den Wunsch, ihr Gesicht an diese unechte Pelzjacke zu schmiegen und zu weinen. »Ach, Honey«, sagte Vanilla und streichelte ihr durch ihre Strickmütze den Kopf. »Komme, Sweetie, sag mir, was los ist.« Und dann fing das Kind an, ihr zu erzählen, daß heute wegen des Sturms früher Schulschluß gewesen sei, und sie habe
immer schon die Wahrheit über ihre Mutter herausfinden wollen, hauptsächlich aber über sich selbst. »Heh«, sagte Vanilla, »wird das eine lange Geschichte? Denn dann sollten wir zum Port Authority runtergehen und uns ein bißchen aufwärmen, okay? Und jetzt nimmst du meine Hand – nein, warte. Kannst du nicht einen Handschuh ausziehen, Honey. Den ziehe ich an, und du behältst auch einen. Die andere Hand stecken wir dann in meine Tasche…« »Ich bin ein Bastard«, sagte Jo-Anne und fing wieder an zu weinen. Jetzt mußten die Hände wieder aus der Tasche kommen, damit Vanilla das Mädchen in die Arme nehmen und sich ausweinen lassen konnte. Als sie weitergingen, fing Jo-Anne wieder an zu sprechen. Sie hörte nicht auf. Sie stapften durch den Schnee und stolperten über die Deckel von Abfalleimern und über andere größere Hindernisse, die unter den Schneewehen lagen, und dabei brachte Jo-Anne Satz für Satz ihre Geschichte heraus. Und Nillie drückte die Hand in ihrer Tasche und nickte und hörte zu. Sie konnte sich vorstellen, wie ein kleines Mädchen suchte, bis es fand, was es suchte, aber eigentlich nicht finden wollte. Bastard! Ihr Daddy nicht ihr Daddy und ihre Mutter voller Haß? Haß auf das Kind, das ihr Leben zerstört hatte –, jedenfalls mußten es Gefühle gewesen sein, die so stark waren, daß sie Selbstmord beging, um ihnen zu entrinnen. So war Jo-Anne nichts anderes übrig geblieben, als aus dem Hause zu fliehen, das nicht ihr Zuhause war. Stundenlang war sie ziellos durch die leidenden sturmdurchtobten Straßen Manhattans gelaufen. Sie dachte ihr Problem nicht zu Ende. Sie hielt es von sich fern. In ihrer Winterkleidung war sie warm genug angezogen. Sie hatte Geld genug, um sich etwas zu essen zu kaufen, wenn sie hungrig wurde, denn sie hatte ihr Sparschwein geleert. Einen Big Mac
und Pommes frites hier, eine Cola und ein Hot Dog da – Dinge, die Mommy ihr nur sehr selten gekauft hatte, aber welches Recht hatte Mommy nun noch, ihr Vorschriften zu machen? Sie hatte sogar Geld genug, um ins Kino zu gehen, und sie sah zwei Vorstellungen eines Films, in dem Polizisten und Drogenhändler sich gegenseitig durch die ganze Stadt jagten. Daß sie den Film zweimal sah, spielte keine Rolle. In Wirklichkeit hatte sie ihn überhaupt nicht gesehen, denn sie hatte fast die ganze Zeit geweint. Als sie das Kino verließ, verdrängten Gewissen und Erziehung ihren Kummer, und sie versuchte, ihren Vater zu Hause anzurufen. Der Apparat war besetzt. Sie ging von Zelle zu Zelle und rief alle zehn oder fünfzehn Minuten wieder an, aber obwohl die Leitung dann frei war, nahm niemand ab. Sie wußte, daß es spät wurde – konnte er um diese Zeit noch fortgegangen sein? Ahnte er irgendwie, daß sie es war, die anrief, und wollte er sie bestrafen, indem er den Hörer nicht aufnahm? Sie war gescheit genug, um zu wissen, daß die zweite Möglichkeit ausschied; sie war zu unwahrscheinlich – aber das galt auch für die erste! Noch einen Film? Aber das nächste Kino, an dem sie vorbeikam, war wegen des Sturms geschlossen, und sie hatte nicht mehr viel Geld. Sie merkte, daß der Verkehr stark nachgelassen hatte, und sie sah kaum noch Passanten. Es war sehr dunkel. Sie hatte jetzt Angst. In einer City mit numerierten Straßen und Avenues konnte sie sich nicht verirren, aber als sie Straßenschilder sah, die der Schnee noch nicht zugedeckt hatte, wußte sie, daß sie weit von der ihr vertrauten Umgebung entfernt war. Nach Hause zu gehen, kam für sie jetzt nicht mehr in Frage; sie war zu müde, um noch fünfzig oder sechzig Blocks weit zu gehen. Aber das Büro ihres Vaters war näher. Näher, aber unerreichbar. Als sie es endlich gefunden hatte, war der Mann an der Tür nicht der
alte Mr. Sullivan, den sie kannte – und der, wie sie wußte, tot war. Es war ein Fremder. Er war freundlich zu ihr, aber alles, was er ihr geben konnte, war guter Rat – »Geh nach Hause, Mädchen. Ich kann dich nicht hereinlassen, sie würden mich feuern!« Gewiß hätte er es sich anders überlegt, wenn sie gebettelt oder ihm alles erklärt hätte – aber das wußte sie nicht. Und dann war Nillie gekommen. Jo-Anne und Vanilla blieben in der 42nd Street an der Kreuzung stehen, denn mit röhrendem Motor fuhr ein Schneepflug vorbei und kratzte den Schnee von der Straße. Schweigend schauten sie zu und warteten, bis sie über die Straße gehen konnten. Der Pflug räumte die Straße nicht für den allgemeinen Verkehr frei – das war unmöglich. Er versuchte, Platz zu schaffen für die stehengebliebenen Busse, die den Busbahnhof Port Authority nicht mehr erreicht hatten. Aber er schaffte es nicht, denn auch das war unmöglich. Stadtbusse, Überlandbusse, Greyhound-Ungeheuer, Lastwagen, Taxis, Personenwagen und Polizeifahrzeuge standen wild durcheinander. Der Busbahnhof war der Drehpunkt eines der verkehrsreichsten Komplexe der Welt gewesen. Jetzt sah er eher aus wie der Plastikschnee unter dem Weihnachtsbaum eines Zweijährigen. Die Geschenkpakete waren geöffnet worden, die Spielzeugautos achtlos verstreut – und die Person, die das getan hatte, war ins Bett geschickt worden und hatte es Daddy und Mommy überlassen, sie wieder aufzusammeln. Aber Daddy und Mommy waren der Aufgabe nicht gewachsen. »Honey«, sagte Vanilla, als sie über die Straße gingen, »weißt du, was eine Abtreibung ist?« »Natürlich weiß ich das!« – empört. »Dann solltest du froh sein. Wenn deine Mutter nun beschlossen hätte, dich nicht zur Welt zu bringen?« Jo-Anne blieb abrupt stehen und schaute mit offenem Mund zu ihr hoch. Nillie nickte. »Hat dein Daddy sie schlecht
behandelt?« Jo-Anne schüttelte den Kopf. »Oder dich? Nein, das habe ich auch nicht geglaubt Sie bat ganz einfach irgendwie ihr Leben versaut. Das passiert schon mal, Honey. Ich weiß, daß du traurig bist, aber glaubst du, daß er es nicht ist? Es kommt mir ganz so vor, als ob ihr beide euch braucht – und jetzt komm mit rein, damit wir uns ein bißchen aufwärmen!«
Es schneite jetzt nicht mehr ganz so stark, und auch der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, aber Jo-Anne fror immer noch, als sie die Drehtür erreichten. Sie ließ sich schwer bewegen und drehte sich erst, als eine Latino-Familie, deren Bus nach Bayonne nicht mehr abgefahren war, mürrisch Platz machte. Innen konnte man sich kaum bewegen. Für zwei weitere Personen schien im Wartesaal kein Platz zu sein. Dicht an dicht lehnten die Leute an der Wand und versuchten zu schlafen. Auf jeder Bank, auf dem Fußboden und selbst auf der Theke lagen die Menschen, von den verschiedenen Treppen ganz zu schweigen. Bis auf zwei waren alle Fahrstühle außer Betrieb, und vollgestopft mit Wartenden. Auch die beiden anderen hatten zuerst gestanden, aber die Leute hatten sich in ihnen so gedrängt, daß niemand nach oben oder nach unten fahren konnte. Deshalb hatte man die Motoren wieder angelassen und die Schlafenden gewaltsam aus ihnen entfernt. »O je«, sagte Vanilla und rümpfte die Nase, »in dieser Luft könnte man sich ja mit allem möglichen anstecken.« Sie schaute sich um und runzelte die Stirn. Es war nicht nur die stickige, verrauchte und nach Schweiß riechende Luft, die ihr Sorgen machte, aber das kleine Mädchen erriet ihre Gedanken. »Es wird schon gehen«, sagte sie. »Ehrlich. Ich werde immer wieder zu Hause anrufen, bis Daddy abnimmt. Dann wird er mir sagen, was ich tun soll.«
»Bist du sicher?« »Ganz sicher.« »Ich weiß nicht…« Aber eigentlich konnte dem Kind hier nichts passieren. »Ich könnte versuchen, einen Polizisten zu finden«, schlug Nillie vor. Jo-Anne schüttelte weise den Kopf. »Die können sich bestimmt nicht ausgerechnet jetzt um mich kümmern.« »Ja, das stimmt.« Nillie schaute sich um und fand eine Ecke, in der noch ein wenig Platz war. Sie mußten schubsen und sich durchschlängeln, aber dann schafften sie es. Gehorsam setzte Jo-Anne sich, und Nillie stützte sich mit der Hand an ihrem Kopf ab, als sie ihre Stiefel auszog. »Meine Füße erfrieren«, klagte sie, und wieder schaute sie sich um. »Gut. Du bleibst hier, ich meine, so gut es geht. Hier wird dir nichts passieren.« Hatte sie das eben gesagt? Es schien so, aber ihre Gedanken waren nicht mehr bei dem kleinen Mädchen. Jetzt dachte sie an Dandy. »Alles in Ordnung«, sagte sie und machte sich barfuß auf den Weg zum Fahrstuhl. Jo-Anne nickte und sah ihr nach. Das Nicken bedeutete nicht Zustimmung. Es bedeutete nur, daß sie begriffen hatte, daß die Frau nicht länger für sie verantwortlich sein wollte. Ob sie schlafen sollte? Aber aus irgendeinem Grund war sie gar nicht richtig müde. Übermüdet hätte ihre Mutter es genannt. Außerdem war es sehr laut – einige Leute stritten sich, jemand schnarchte, und über ihrem Kopf dröhnte Rockmusik aus einem Fernsehmonitor. Sie sah allerdings kein Bild, nur eine Schrift: Bleiben Sie auf Empfang und warten Sie weitere Meldungen ab. Jo-Anne sah Vanilla verschwinden. Dann stand sie auf, ganz vorsichtig, damit die fette Dame nicht aufwachte, die neben ihr schlief, und ging zum Fahrstuhl. Sie fuhr nach oben und quälte sich nur mit Mühe durch die Menge. Einige der Läden waren noch geöffnet – ein Cafe, eine Eisdiele, eine
Bar –, aber anscheinend nur, damit die Gestrandeten Platz hatten. Anscheinend gab es in ihnen sowieso nicht mehr viel zu kaufen. Jo-Anne blieb zögernd vor der Damentoilette stehen. Die Schlange war abschreckend lang, aber ihr Bedürfnis war dringend. Als sie wieder herauskam, war Vanilla natürlich schon lange verschwunden. Jo-Anne wurde allmählich müde, aber gegenüber standen einige Telefonzellen. Auch dort bildeten die Leute eine lange Schlange, aber jetzt machte ihr Gewissen ihr zu schaffen. Fast war sie erleichtert, als der Hörer nicht aufgenommen wurde. Sie suchte einen besseren Platz, um sich ein wenig hinzusetzen, und sie fand einen, den die meisten Leute gemieden hatten, weil es hier nicht sehr warm war. Es war eine der Laderampen, die gegen die Außenluft nur notdürftig geschützt war. Kein Problem für ein junges Mädchen in einem Schneeanzug und zwei Pullovern. Ihre Nachbarn gefielen ihr nicht sehr. Sie reichten eine braune Papiertüte von einem zum andern, als ob darin etwas zu trinken sei. Aber hier war es nicht so laut. Dann übermannte sie der Schlaf – bis sie aufwachte, als sich eine Hand in ihren Schneeanzug schob. Es war ein Mann, älter als ihr Vater und viel größer. Sein Atem und sein Körper rochen schlecht, und er hatte sich lange nicht rasiert. Und die anderen, die diesen Platz mit ihr teilten, schienen zu schlafen oder taten so, als schliefen sie. Jo-Anne schrie. Der Mann veränderte rasch seine Position, und sein Gesicht fuhr auf sie zu. Seine andere Hand lag an ihrer Kehle. »Schön ruhig, Sweetie«, keuchte er, »oder ich drücke zu.« Es war kein Bluff. Er war nicht nur bereit, es zu tun, er tat es schon. Jo-Anne versuchte trotzdem zu schreien; sie war zu Tode erschrocken und wußte überhaupt nicht mehr, wo sie
war, und sie hätte wie am Spieß geschrien, wenn der Druck an ihrem Hals den Schrei nicht in ein heiseres Röcheln verwandelt hätte. Aber jemand hatte ihn offenbar gehört. Fluchend drehte sich der Mann um und schleuderte sie von sich. Als sie wieder etwas erkennen konnte, sah sie einen anderen Mann, einen hochgewachsenen jungen Schwarzen mit einer roten Kappe. Er hielt den Angreifer im Schwitzkasten und starrte zu ihr herüber. Dann wich die Wut in seinem Gesicht einem Ausdruck des Erkennens. Auch sie kannte ihn. Es war der Zertrümmerer, der Züp von gegenüber. Um elf Uhr vormittags hatte Brandon seine Müdigkeit überwunden. Das Operationszentrum war aus dem Rathaus in die Studios einer der großen Fernsehgesellschaften verlegt worden. Es sollte also Wirklichkeit werden! Seit zwei Uhr nachts hatten alle Rundfunk- und Fernsehsender der Stadt die Ankündigung ausgestrahlt, daß die Allgemeine Stadtversammlung um zwölf Uhr mittags beginnen würde. Mobile Kamera-Teams waren an verschiedenen Stellen in der City postiert, bereit, mit den Außenaufnahmen zu beginnen. Sie an ihre Einsatzorte zu schaffen, war kein Problem gewesen; es waren dieselben Teams, die schon am Vortag und während der Nacht über den Sturm berichtet hatten; es würde horrende Überstunden und Sonderzuschläge kosten, aber die Teams waren alle an Ort und Stelle. Der Bürgermeister, der nach vier Stunden Schlaf gerade wieder aufgewacht war, hatte ein Band besprochen, auf dem er angekündigt hatte, was hier vorging; irgendwie waren die Mitglieder des Stadtrats herbeigeholt worden und hatten sich im Rathaus versammelt; die Verhandlungskommissionen der Gewerkschaften, die streikten oder einen Bummelstreik durchführten, waren zusammengetreten; von den Vereinten Nationen abgestellte
Dolmetscher standen bei den verschiedenen Rundfunksendern zur Verfügung; sogar der Direktor war aus seiner gemütlichen Wohnung am Central Park West gescheucht und ins Studio gebracht worden, wo er kicherte und strahlte und jedem im Weg stand. »Oh, Shire!« rief er begeistert, »es sieht doch gut aus, nicht wahr?« Ein Grund dafür, daß die Welt gut aussah – oder wenigstens besser –, war die Tatsache, daß es nicht mehr schneite. Einige der Nord-Süd-Avenues in Manhattan waren schon fast wieder frei; auch bei den wichtigen Querstraßen waren Fortschritte erzielt worden, und überall, wo es U-Bahnen gab, fuhren sie wieder. Es würde noch einige Zeit dauern, bis die Tunnel und Brücken wieder benutzt werden konnten, aber wenigstens waren die Dinge in Bewegung geraten. Brandon nahm seinen Platz im Kontrollraum ein und hielt dabei vorsichtig einen Pappbecher mit Automatenkaffee in der Hand. Er war schon lange kalt und schmeckte nicht besonders gut, aber immer wenn ihm der Kaffee wieder einfiel, benetzte er die Lippen mit der Brühe. »Alle Außenstationen eingeschaltet«, sagte der Regieassistent. »Bänder klar«, sagte der technische Direktor. »Achtung«, sagte der Leiter der Sendung und nickte; und dann genau zehn Sekunden vor der festgesetzten Zeit nickte er noch einmal. »Aufnahme acht«, sagte er. Brandon hörte sich den Countdown an – neun, acht, sieben – und dann sagte der Sendeleiter: »Acht abfahren!« Von irgendwoher erschien ein Bild auf dem Schirm. Es war der Bürgermeister, der seinen Text sprach. »Heute«, sagte er, »wollen wir unsere Meinungsverschiedenheiten austragen, anstatt sie unter den Teppich zu kehren. Wir werden über die Dinge sprechen, die unsere Stadt lahmlegen, und uns alle Vorschläge anhören, die zur Lösung der Probleme gemacht worden sind. Dann werden Sie, die Bürger, uns bei unseren
Entscheidungen helfen. Ich sage nur deshalb ›helfen‹, weil unsere Gesetze eine Verbindlichkeit solcher Bürgerentscheidungen nicht vorsehen, aber ich versichere Ihnen, daß Ihre Stimme Gehör finden wird. Von Zeit zu Zeit wird es heute eine Abstimmung geben. Sie geben Ihre Stimme dadurch ab, daß Sie auf Ihrem Telephon eine Nummer wählen. Ihr Anruf wird nicht beantwortet, aber Zählgeräte werden registrieren, wie oft die jeweilige Nummer angewählt wurde – eine Nummer für ja, eine Nummer für nein. Wenn es eine klare Mehrheit für die eine oder die andere Seite gibt, werden wir das als die Stimme des Volkes betrachten, und der Stadtrat, der jetzt zu einer Sitzung zusammengetreten ist und sofort handeln kann, wird das Nötige veranlassen. Er ist nicht an das gebunden, was Sie sagen, aber ich versichere Ihnen, daß seine Mitglieder aufmerksam zuhören werden. Das sind die Grundregeln – « Jemand berührte Brandons Schulter. »Ja? Was ist?« Ein Sicherheitsmann des Senders reichte ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier. »Eine Nachricht für Sie, Mr. Brandon.« »Danke.« Es hatte Dutzende von Nachrichten gegeben. Auch diese konnte warten. Brandon hörte weiter zu. »Sollte es keine klare Mehrheit geben, verweisen wir den Fall an die Verhandlungskommissionen oder wenden uns an einzelne Hörer und Zuschauer. Wenn die Wahl auf sie fällt, haben Sie genau dreißig Sekunden Zeit, Ihr Anliegen vorzutragen – Sie können für die eine oder die andere Seite sprechen, alternative Standpunkte vertreten oder Änderungsvorschläge machen –, es ist Ihre Zeit, und Sie können sie nach Gutdünken nutzen. Aber sie haben nur dreißig Sekunden – « »Es ist wichtig, Mr. Brandon.« Der Sicherheitsbeauftragte stand immer noch da.
»Oh, ja, okay.« Aber er ließ sich mit dem Zettel Zeit und hörte zu, wie der Bürgermeister erklärte, daß jeder neue Vorschlag der Gesamtheit der Zuschauer zur Abstimmung vorgelegt werden würde, und daß diejenigen, die mit der Mehrheit gestimmt hatten, an der nächsten wichtigen Abstimmung teilnehmen würden. »Das erste Problem, mit dem wir uns zu befassen haben«, erklärte der Bürgermeister, »ist der Streik im öffentlichen Dienst. Zuerst kommt also der Leiter der Verhandlungskommission der Polizeibeamten zu Wort – « Aber inzwischen hörte Brandon nichts mehr, denn er las, was auf dem Papier stand: Ein Mann namens Willbur Perkins, der behauptet, er sei Ihr Nachbar, sagt, daß Ihre Tochter sich im Hauptwartesaal des Busbahnhofs Port Authority befindet, und zwar am Südausgang unten. Es geht ihr gut, und ihr ist nichts geschehen, aber sie ist sehr müde, und er wird bei ihr bleiben, bis Sie sie abholen können. Nur außergewöhnliche Eltern werden allen ihren Kindern gleichermaßen gerecht. Man versucht, jedem zu geben, was es braucht; das ist das Mindesterfordernis. Man gibt jedem, was es verdient – das ist fair; und man gibt ihnen Liebe – das ist Elternschaft. Und wenn es Konflikte gibt? Wenn Bobby zu seinem Gitarrenunterricht gefahren werden muß, wenn Sue zur gleichen Zeit eine Sportstunde hat? Wenn das Geld für Chets Zähne oder für Maisies Hochzeit reicht, aber nicht für beides? Was macht man dann? Man macht das beste daraus. Und so widmete Brandon jedem seiner beiden Kinder einen Teil seiner Aufmerksamkeit, obwohl keins von ihnen ein Kind von seinem Fleisch war – die erschöpfte Zehnjährige, die getröstet, umsorgt und beruhigt werden mußte, und das Kind seines Geistes und seines
Herzens, das gerade jetzt den Blicken von Millionen von Fremden ausgesetzt war. Und sie inspizierten es. Sie benutzten es! Vom Sender bis zum Busbahnhof war es ein Zwanzigminutenweg durch verstopfte City-Straßen – normalerweise – aber heute würde es eine Stunde dauern, und er würde so oft wie möglich Umwege durch Bürogebäude und Hotelfoyers machen; dann würde er schneller vorankommen als in den belebten Straßen, und außerdem war es da wärmer. Und in jedem dieser Gebäude, wenn sie überhaupt geöffnet waren, hatte jemand ein Fernsehgerät aufgestellt, um das sich die Leute versammelten. Sie würden zuhören, Einwände erheben, Vorschläge machen. Und hin und wieder würden sie zustimmen. Stimmen drangen ihm ans Ohr, Fragmente, einige aus der Menge, einige von den Fernsehmonitoren. Ein Polizist – ohne mehr Geld auskommen, aber verdammt, könnte einem der Dienst nicht ein wenig leichter gemacht werden? Sorgt dafür, daß die Leute uns nicht bekämpfen.« Ein Hispanoamerikaner: »Es ist falsch. Wie können sie verlangen, daß ein Feuerwehrmann so groß sein muß – ich schwöre, ich kann schneller eine Leiter hochklettern als diese Affen!« Ein Gewerkschaftsführer auf dem Bildschirm: »Ihr wollt, daß wir vernünftig sind? Sagt doch den Mitgliedern, daß sie vernünftig sein sollen! Sie wollen nicht die Gründe wissen, warum sie nicht mehr bekommen können, sie wollen nur mehr haben!« Und auf dem langen Weg, als er sich durch den Schnee schleppte, auf dem glatten Parkett der Foyers ausrutschte, durch Lieferanteneingänge schlich und den Bergungsfahrzeugen auswich, die liegengebliebene Autos abschleppen wollten – auf diesem ganzen langen Weg erfüllten ihn Liebe und Stolz und Sorge; es war eine ungeteilte Gefühlsaufwallung, die mit seiner Tochter zu tun hatte und mit seinem Projekt, und als er Jo-Anne gefunden hatte und sie in die Arme schloß, hatte er Tränen in den Augen. »Die U-Bahn
fährt wieder«, sagte er nur. »Komm nach Haus.« Und sie antwortete nur: »Okay, Daddy.« Und Hand in Hand eilten sie durch die Menge in die City hinaus, die im Begriff war, sich aus den Wirren der Sturmnacht zu erheben, langsam aber sicher.
WISSEN SIE, WAS EIN ›SLUMLORD‹ IST? ICH
bin einer. Ich und Leute wie ich, die ihr Geld gespart haben, um es in Immobilien zu investieren. Nun, wo findet man etwas, das zu kaufen man sich leisen kann? In den Slums, genau da. Und dann erwarten die Mieter, daß man ihnen Saunen baut und Swimming-pools, und daß alle sechs Monate neu gestrichen wird, und die städtischen Behörden lassen keine Mieterhöhungen zu. Was soll man da machen? Gut, mir sind ein paar Übertretungen anzulasten. Vielleicht kriegen nicht alle das heiße Wasser, das sie brauchen, und man kann nicht gleich den Kammerjäger rufen, wenn jemand eine Wanze sieht, aber was erwarten sie denn? Und das ist ja noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß sie eine dieser Allgemeinen Stadtversammlungen abhalten und beschließen, das ganze Viertel neu zu bauen, und was wird dann aus den Investitionen? Sie nennen es Fortschritt! Aber in Wirklichkeit bin ich das erste Opfer dieses Projekts. Sie nannten es
Begrünung von Bed-Stuy
I
Marcus Garves de Harcourts letzte Schulstunde war heute K. E. und das hieß »Körperertüchtigung« und bedeutete, in der muffigen kahlen Turnhalle der Public School 388 an Seilen hochzuklettern. Für ihn war es Ehrensache, das zu vermeiden, wenn er nur irgend konnte. Heute konnte er. Er hatte ein Schreiben seines Vaters, das ihn für den Rest des Tages von der Schule freistellen würde, und außerdem war heute Razzia. Die Polizei war in der Schule. Vielleicht ging es um Drogen, vielleicht suchten sie eine Waffe; es konnte auch sein, daß irgendein klappriger alter Lehrer für amerikanische Geschichte bei dem Aufruhr in seiner Klasse die Angstschwelle überschritten und um Hilfe gerufen hatte. Was es auch sein mochte, die Polizei war in der Schule, und die Ordner standen an den Treppen und lauschten nach oben, denn dort schien ein Handgemenge stattzufinden. Diese Ablenkung wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, denn die Ordner der P. S. 388 waren angewiesen, nicht allzu streng zu verfahren, wenn es darum ging, die Schüler in der Schule zu halten – sonst würden sie überhaupt nicht erst kommen. Auf der anderen Straßenseite versteckte sich Marcus hinter einem Berg von Müllsäcken, um zu sehen, welcher seiner Mitschüler – oder Lehrer! – in Handschellen herauskommen würde, aber er erlebte eine Enttäuschung, denn die Polizisten kamen allein wieder heraus. Wenigstens diesmal hatten die Bullen nichts gefunden, was eine Festnahme erforderte – und das bedeutete zweifellos, daß das Problem nicht mehr existierte und daß der betroffene Lehrer die Täter entweder nicht identifizieren wollte oder es nicht wagte.
Ein Uhr vierzig, und sein Vater hatte ihm befohlen, sich bereitzuhalten, um zwei Uhr zum Gefängnis zu gehen. Kein Problem. In der Nostrand Avenue schlängelte er sich an dem Schild Baustelle – Umleitung vorbei, stieg auf einen der großen Erdhaufen und schaute sehnsüchtig zu den Baumaschinen hinüber, die wegen irgendeiner Arbeitsunterbrechung stillstanden. Dann suchte er im Dreck irgendwas, mit dem er sie bewerfen konnte. Es gab genug. Trümmerbrocken von den abgerissenen Häusern, Holzrahmen von Erkerfenstern der Jahrhundertwende, Stücke von ArtDeco-Ladenfassaden aus den Zwanzigern, Hohlziegel aus den Achtzigern, alles zusammengeschoben. Marcus fand einen Türknopf aus Keramik, und der paßte genau. Krachend zersplitterte er, als er eine Planierraupe traf. Es hieß, Bedford-Stuyvesant sei ein Dschungel, und vielleicht war es einer. Es war ein Dschungel, in dem der junge Marcus de Harcourt sein ganzes Leben verbracht hatte. Er fürchtete ihn nicht – gewiß, einigen Dingen begegnete er mit Vorsicht, aber er war ihm vertraut. Und er war voller interessanter Kreaturen, von denen Marcus die meisten kannte und von denen einige Marcus kannten – wie die jungen Männer im Priesterkragen, die vor der Franziskanermission standen. Sie winkten ihm von der anderen Straßenseite zu. Bloody Bess an der Ecke winkte nicht. Als er an ihr vorbeiging, führte sie eine sehr vernünftige, wenn auch ein wenig aufgeregte Unterhaltung: »Sie läßt eine Abtreibung machen. Er hatte zehnmal mit ihr Verkehr und deshalb tut sie das.« Das Seltsame war nur, daß sie sich mit einem Feuerhydranten unterhielt. Der Mann im Hauseingang, der einen Müllsack als Kopfkissen benutzte, winkte nicht; er konnte es nicht, denn er schlief. Marcus überlegte, ob er ihm die Schuhe stehlen und sie verstecken sollte, aber bei den Pennern in den Hauseingängen konnte man nie wissen.
Manchmal waren es Polizisten. Und als er sich die Schuhe näher ansah, mochte er sie nicht mehr anfassen. Die Uhr oben am Gebäude der Williamsburgh Bank zeigte ein Uhr fünfundvierzig an; er mußte sich beeilen. Er trabte über das freie Gelände bei den Eisenbahnwerkstätten von Long Island. Unter ihm lagen die Schienenführungen aus Beton mit ihren silberglänzenden Metallsäumen. Marcus trat gegen Radkappen, bis er eine fand, die locker saß. Er nahm sie ab und schaute sich dabei nach Polizisten um. Dann schleuderte er sie nach unten auf die Schienen. Krachend traf sie auf den Führungsstreifen, aber da schwebte sie schon im Magnetfeld. Bevor sie auf die Schiene traf, bewegte sie sich seitwärts. Sie wurde immer schneller und hüpfte im Magnetfeld auf und ab. Funken sprühten, wenn sie auf die Schiene traf, bis die magnetische Levitation ihren Kurs fixierte. In wenigen Augenblicken war die Radkappe im Atlantic Avenue Tunnel verschwunden. Marcus freute sich und schaute wieder auf die Uhr am Bankgebäude. Es war ein Uhr fünfundfünfzig; er hatte sich verspätet, aber wenn er sich beeilte, konnte er ein paar Hieben mit der Katze gerade noch entgehen. Also beeilte er sich. Marcus Garvey de Harcourt fand seine Wohngegend nicht öde. Sie sah ganz einfach aus wie die Gegend, in der er schon immer gewohnt hatte. Nur die vielen Baumaschinen waren neu. Marcus ahnte, daß das Projekt die Nachbarschaft drastisch verändern würde – zu ihrem Vorteil, hieß es. Er hatte im Modell gesehen, was aus Bedford-Stuyvesant werden sollte, und im Fernsehen hatte er die Politiker darüber reden gehört, und auch in der Schule war immer wieder darüber gesprochen worden. Es würde sehr schön werden, das mußte er zugeben, aber noch war es alles andere als schön. Die ausgebrannten Wohnhäuser und die abgeräumten Grundstücke vom vergangenen Jahr sowie die laufenden Ausschachtungen und
die erst im Rohbau hochgezogenen Gebäude ließen das endgültige Bild noch kaum erahnen. Aber die Ratten waren aus ihren Löchern aufgescheucht worden, und man sah sie jetzt öfter als vorher über die Straße laufen, um in den Abfallhaufen herumzuwühlen. Marcus rannte die letzten sechs Blocks, die ihn noch vom Candy-Store seines Vaters trennten. Er lief an dem großen Kernkraftwerk vorbei, das ein Viertel Brooklyns mit Elektrizität versorgte, duckte sich, wenn er auf eine Stacheldrahtabsperrung traf, lief über freies Gelände und zwischen den hohen Türmen hindurch, aus denen Windmühlen entstehen sollten. Er blieb an der Ecke stehen, um die Lage zu sondieren. Der schwarze Wagen stand nicht da, und das war gut so. Auch seine Mutter wartete vor dem Laden nicht auf ihn; aber als er die Tür erreichte und ein wenig schwerer atmete als nötig, um zu zeigen, wie schnell er gelaufen war, machte sie ihm auf. Auch sein Vater war da und hatte schon den Mantel angezogen. Er sagte nichts, aber er schaute auf die Uhr über dem Mineralwasserbehälter. »Verdammt, Marcus«, sagte seine Mutter wütend, »du weißt, daß dein Vater nicht gerne wartet. Was ist nur los mit dir?« »Sie haben mich nicht früher weggelassen, Nillie.« Sein Vater schaute erst auf ihn und dann auf die Tür zum Lagerraum. Hinter ihr, das wußte Marcus, hing die neunschwänzige Katze. »Du willst Ärger, Marcus«, sagte seine Mutter, »und du weißt verdammt gut, daß du ihn bekommen wirst.« »Keinen Ärger, Nillie. Ich kann doch nichts dafür.« Es hatte keinen Zweck, diesen Punkt zu diskutieren, denn entweder holte der Alte die Katze, oder er holte sie nicht. Wahrscheinlich nicht, denn die Sache im Gefängnis war für ihn wichtig, und er wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden. Marcus jedenfalls hatte keinen Einfluß darauf.
Der Alte wandte ruckartig den Kopf und humpelte aus dem Laden. Er sagte immer noch nichts, aber er redete nie viel, denn das Sprechen machte ihm Schwierigkeiten. Am Kantstein angekommen, hob er gebieterisch die Hand, und ein vorbeifahrendes Taxi hielt an. Marcus war erstaunt. Sein Vater konnte nicht gut gehen, denn irgendwann hatte man ihm systematisch die Kniescheiben zertrümmert, aber ihr Ziel lag ungefähr zwölf Blocks entfernt. Für das Taxigeld mußte man eine Menge Sonntagszeitungen verkaufen. Aber Marcus gab keinen Kommentar ab. Er sprach genauso selten mit seinem Vater wie dieser mit ihm. Jetzt sprang er in den Wagen, drückte sich in die gegenüberliegende Ecke und schaute aus dem Fenster. »Zum Nathanael-Greene-Institut«, befahl sein Vater. »Aber schnell!« Weil das Nathanael-Greene-Institut unterirdisch angelegt war, sah die Zufahrt aus wie der Eingang zu einem Park. Die Nathanael-Greene-Anstalt war kein Park. Sie hatte viertausendachthundert Insassen, die von fünftausenddreihundert Mann Personal betreut wurden. Jeder Insasse hatte einen fast privaten Raum mit Fernsehen, Toilette und Klimaanlage zu seiner Verfügung, und die Baukosten, fünfundachtzigtausend Dollar pro Raum, waren geringfügig höher gewesen als die Kosten für die Errichtung eines erstklassigen Hotels. Nathanael Greene war kein Hotel, und der Luxus, den es hier gab, konnte zum größten Teil auch für nützliche Zwecke verwendet werden: die Rohrleitungen der Klimaanlage waren so angelegt, daß in jedem Teil des Gebäudes auch Tränengas oder Rachenreizstoffe verabfolgt werden konnten; die Begrenzung auf höchstens zwei Personen pro Zelle diente dazu, Meutereien zu verhindern. Nathanael Greene war ein Ort, an dem gearbeitet wurde, mit einer Fließbandproduktion mikroelektronischer Geräte; aber es war auch ein Ort des Lernens; von Nachhilfeunterricht im
Englischen bis zu Tischtennis konnte man an allen möglichen Kursen freiwillig teilnehmen; ein wahrer Ort der Besserung. Pflicht hingegen waren die Programme, die auf eine Korrektur selbst der schlimmsten Charakterfehler abzielten. Wie zum Beispiel Mord, Raub und Vergewaltigung. Was die Insassen anbetraf, hatte Nathanael Greene nur eine sehr geringe Fluktuation aufzuweisen. Im Durchschnitt blieb ein Strafgefangener elf Jahre, acht Monate und einige Tage hier. Wenn einer früher ging, fand er sich gewöhnlich an einem sehr viel weniger attraktiven Ort wieder – hinter einer Einpfählung in Alaska, zum Beispiel, oder in einer Gaskammer. Nicht jeder wurde in Nathanael Greene aufgenommen. Das mußte man sich erst verdienen: mit wenigstens vier durchschnittlichen Schwerverbrechen oder mit ein paar wirklich guten, etwa mit zwei oder mehr Morden. Generalmajor Nathanael Greene aus Potowomut, Rhode Island, der Quakerkommandeur, dessen einzige Erfahrung im Strafrecht darin bestand, daß er beim Kriegsgerichtsverfahren gegen John Andre den Vorsitz geführt hatte, wäre vielleicht nicht damit einverstanden gewesen, daß man seinen Namen für das Gefängnis mit der höchsten Sicherheit von allen Hochsicherheitsgefängnissen in New York City benutzte, aber da er schon seit zweihundert Jahren tot war, wurde seine Meinung nicht registriert. Natürlich trafen sie auf eine Schlange von Besuchern; fast hundert Leute hatten sich angestellt, um den Kiosk zu erreichen, der wie eine Kinokasse aussah. Die meisten waren ärmlich gekleidet, über die Hälfte waren Schwarze, und alle waren ungehalten, weil sie warten mußten. Marcus’ Vater schob seinen Sohn zu dem großen Modell von BedfordStuyvesant hinüber, bevor er humpelnd seinen Platz in der Schlange einnahm. Der Junge tat, was man von ihm erwartete. Er ging zu dem Modell, um es sich anzusehen. Es war ein sehr viel größeres Modell als das in der öffentlichen Bibliothek, und
es zeigte viel mehr Einzelheiten. Marcus versuchte, die Stelle zu finden, wo der Laden seines Vaters lag, aber nach Fertigstellung des Projekts nicht mehr liegen würde. Wie beauftragt ging er aufmerksam um das ganze Modell herum, aber als er das getan hatte, waren ihm die Aufträge ausgegangen, und sein Vater stand in der Schlange noch immer sehr weit hinten. Marcus benutzte die Gelegenheit, sich auf dem Kiesweg immer weiter von der Besucherschlange zu entfernen. Das Dach des Nathanael Greene sah wie eine recht exzentrische Farm aus; wenn man zwischen den Geländern entlangging, die die Sojabohnen auf der einen Seite von den Tomatenstauden auf der anderen trennten, hatte man nicht das Gefühl, über den Köpfen von zehntausend Strafgefangenen und Wachen spazierenzugehen. Es sah so aus, wie Marcus sich die südafrikanischen Ebenen vorstellte, und er kam sich wie ein schwarzer Krieger vor, der sich aus einer der schwarzen Republiken auf den Weg nach Kapstadt gemacht hat, nur daß die Iglus aus Beton keine Termitenhügel, sondern Maschinengewehrnester waren, und daß der Posten, der ihm zuschrie, er solle umkehren, ein richtiges Gewehr trug. Er sah eine Gruppe von Sträflingen, die damit beschäftigt waren, in vorgepflügten Reihen Tannenstecklinge zu pflanzen, wahrscheinlich Weihnachtsbäume, die in einem oder zwei Jahren verkauft werden sollten. Man würde sie nicht allzu hoch wachsen lassen, denn auf diesem parkähnlichen Dach der Haftanstalt durfte nichts so hoch wachsen, daß es das Schußfeld der Wachen beeinträchtigte. Ein Blick auf die Uhr am Bankgebäude sagte ihm, daß es für seinen Feierabend-Job bei dem alten Mr. Feigerman und seinem piependen und klappernden Sehgerät zu spät werden würde; ein Blick auf seinen Vater sagte ihm, daß es Zeit war, zur Schlange zurückzugehen.
Aber sein Vater hatte nichts gemerkt. Er starrte nur geradeaus, und als die Leute in der Schlange sich ein paar Schritte vorwärtsbewegten, humpelte er ziemlich schlimm. Marcus war besorgt, und als er sich umdrehte, sah er gerade noch einen langen schwarzen Wagen um die Ecke biegen und verschwinden. Es gab viele schwarze Wagen auf der Welt, aber nicht sehr viele, bei deren Anblick sein Vater noch schlimmer als sonst humpeln mußte. Für Marcus gab es keinen Zweifel: dies war der Wagen, den der Mann mit dem Narbengesicht fuhr, der seinen Vater gelegentlich im Laden aufsuchte, um festzustellen, ob die Zahlen stimmten und die Bücher ordentlich geführt wurden; der Mann, der ihm immer Süßigkeiten schenkte; der Mann dessen Anwesenheit dazu führte, daß sein Vater schlimmer humpelte und daß seine rauhe Stimme noch schwerer zu verstehen war; und es gefiel Marcus überhaupt nicht, daß dieser Mann sich für seinen Besuch im Gefängnis interessierte. Als sie ganz vorn in der Schlange standen, fing die Frau an, mit ihnen zu debattieren. Sie trug eine altmodische getönte Brille, die ihre Augen verbarg. Die Sprechanlage, über die sie sich mit ihnen durch das kugelsichere Glas unterhielt, ließ ihre schrille Stimme noch häßlicher klingen. »Sind Sie ein Verwandter des Inhaftierten?« wollte sie wissen, wobei ihre Brillengläser unangenehm auf Marcus’ Vater gerichtet waren. »Nein, Madam.« Die Stimme klang rauh, aber sie war gut zu verstehen – Nillie hatte dem Jungen gesagt, sein Vater solle froh sein, daß er überhaupt noch sprechen könne, nachdem man ihm so schwere Verletzungen am Kehlkopf beigebracht habe. »Ich bin nicht eigentlich verwandt, aber wir sind eine Familie«, erklärte er mit reumütigem Gesichtsausdruck und in ehrerbietigem Tonfall. »Denn der kleine Marcus hier ist sein
Sohn, und die Schwester meiner Frau ist seine Mutter. Aber nein, Madam, wir sind nicht blutsverwandt.« »Dann können Sie ihn nicht besuchen«, sagte sie bestimmt, und ihre Gläser blitzten. »Nur direkte Familienangehörige sind als Besucher zugelassen, und wir machen keine Ausnahmen.« Marcus’ Vater beherrschte die Kunst der Überredung, aber er wußte auch sehr gut, wann eine andere Taktik angebracht war. »Ihn besuchen?« rief er wütend mit seiner rauhen Stimme. »Wozu sollte ich diesen Hundesohn besuchen wollen? Er hat das Leben meiner Schwägerin zerstört. Aber trotzdem hat der Mann das Recht, seinen eigenen Sohn zu sehen, oder etwa nicht?« Die Frau schürzte die Lippen, und ihre Gläser leuchteten zuerst auf Marcus’ Vater und dann auf den Jungen. »Sie werden den obersten diensttuenden Beamten um die Genehmigung bitten müssen«, erklärte sie. »Fenster Acht.« Der oberste diensthabende Beamte war jung, schwarz und kahlköpfig. Er öffnete die Tür zu seiner winzigen Kabine und ließ sie eintreten. Dann musterte er Marcus eingehend. »Wen möchtest du denn hier besuchen, Marc?« »Meinen Vater«, sagte der Junge, ohne zu zögern und genau nach Drehbuch. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich klein war. Außerdem heiße ich nicht Marc sondern Marcus.« »Dann also Marcus.« Der Beamte drückte auf einen Knopf über seinem Schreibtisch und das Aktenphoto des Häftlings Nummer 838-10647 erschien auf dem Bildschirm. HARVEY John T. verurteilt zu dreimal zwölf bis zwanzig Jahren wegen Tötungshandlungen, alle drei Totschlag, begangen in Ausführung eines schweren Verbrechens – in diesem Fall die Beraubung eines Spirituosenladens. Der Junge sah dem Häftling nicht sehr ähnlich. Der Häftling war korpulent, in mittleren Jahren, bärtig – und weiß. Der Junge war nichts von
alledem. Immerhin, seine Hautfarbe war so hell, daß man einen weißen Elternteil nicht ausschließen konnte. »Ist das dein Daddy, Marcus?« »Yes, Sir, das ist er«, sagte Marcus und betrachtete den Fremden auf dem Bildschirm. »Weißt du, warum er hier ist?« »Yes, Sir. Er ist hier, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat. Aber er ist immer noch mein Daddy.« »Richtig, Marcus«, seufzte der Beamte und stempelte den Passierschein. Er reichte ihn Marcus’ Vater. »Der ist für den Jungen, nicht für Sie. Sie können den Jungen zum Besuchertrakt begleiten, aber Sie dürfen nicht hineingehen. Sie werden allerdings durch das Fenster schauen können«, fügte er hinzu, aber er verschwieg, daß das auch jeder andere konnte, besonders die Wachen. Mit dem Passierschein konnten sie zum Fahrstuhl gehen, und der Fahrstuhl brachte sie nach unten, immer weiter nach unten, bis sie acht Stockwerke tief unter der Erde waren. Im vierten Stock allerdings wurde der Fahrstuhl angehalten, und ein bewaffneter Posten prüfte ihren Passierschein noch einmal. Das Nathanael-Greene-Institut nannte sich nicht ausbruchsicher, denn so etwas gibt es nicht; aber bei der Konstruktion der Anlage waren so viele Sicherungen eingebaut worden, daß ein Entkommen fast ausgeschlossen werden konnte. Jeder Häftling trug ein magnetisch kodiertes Band am Fußgelenk, so daß der Zentral-Computer zu jeder Minute des Tages wußte, wo er sich aufhielt; Besucher, wie Marcus und sein Vater, bekamen Plaketten, die völlig anders kodiert waren und die sie während ihres Aufenthalts tragen mußten; der Besuchstrakt war weit von den Türen zur Außenwelt entfernt, und selbst die Fahrstühle, mit denen man ihn erreichen konnte, waren gegen den Hauptkomplex der Haftanstalt isoliert. Und als Marcus seinen Vater in einem abgeschlossenen Warteraum
zurückließ, nahmen zwei Wachen ihn in die Mitte und führten ihn in einen separaten Raum. Eine freundliche aber gründliche Matrone half ihm bei Ausziehen und durchsuchte alles, was er bei sich hatte, auf unzulässige Mitteilungen oder verbotene Geschenke. Dann wurde er in den kahlen Raum mit den Holzstühlen und den metallenen Trennwänden geführt. Marcus hatte gut eingeübt, was er zu sagen und zu tun hatte, und er hatte keine Schwierigkeiten, nach dem Photo den Häftling 838-10647 zu erkennen. »Hallo, Daddy«, sagte er und legte genau das Zittern in seine Stimme, das die Wachen überzeugen mußte. »Hallo, Marcus«, sagte sein vermeintlicher Vater und beugte sich gegen die Trennwand vor, wie es ein Vater wohl tun mochte, der nach langer Zeit seinen Sohn wiedersieht. Auch das Interview selbst war ausreichend geprobt worden, und Marcus war darauf gefaßt, gefragt zu werden, wie es seiner Mutter ginge, was die Schule mache, ob er einen Job habe, um seiner Mommy zu helfen. Die Beantwortung dieser Fragen bereitete ihm keine Mühe, und Marcus konnte den stämmigen weißen Mann mit dem strengen Gesichtsausdruck, der als sein Vater posierte, genau beobachten, während er ihm über Nillies Arthritis berichtete und über ihren Teilzeitjob als Gesellschafterin der Frau des alten Mr. Feigerman, die nun bald sterben würde. Er erzählte, daß er eine gute Arbeit über Julius Caesar von William Shakespeare geschrieben und in Geschichte eine B-Note bekommen habe; er erzählte auch, daß seine Mutter ihm einen Job bei Mr. Feigerman selbst beschafft habe, dem Blinden mit den komischen Apparaten, mit deren Hilfe er sehen und sogar als technischer Berater am Bed-Stuy Projekt mitarbeiten konnte… dennoch war er froh, als alles vorbei war und er diesen Raum wieder verlassen konnte. Zuletzt mußte er an die dreißig Meter Felsen und Stahl und an Häftlinge und Wachen über seinem Kopf denken, und es
wurde alles immer bedrückender. Die Wachen im Nathanael Greene hatten im Durchschnitt eine Dienstzeit von zehn Jahren hinter sich und hatten schon oft erlebt, daß Kinder Aufträge ausführten, die Erwachsenen unmöglich gewesen wären. Deshalb wurde Marcus, als er wieder herauskam, noch einmal durchsucht, und er ließ es sich geduldig gefallen. Sie fanden natürlich nichts, denn es gab nichts zu finden. Bei diesem Besuch.
II
Marcus’ Freizeitjob wartete schon ungeduldig auf ihn. Der Job hieß de Rintelen Feigerman, und er war nicht nur ein sehr alter Mann, er sah auch ziemlich seltsam aus. Mr. Feigerman saß in einem Rollstuhl. Nicht etwa weil seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten – sie funktionierten noch –, sondern wegen der vielen Apparaturen, die er mit sich herumschleppen mußte. Er trug ein glitzerndes Metallband um sein langes schütteres Haar, das eine filigranartige Metallkonstruktion trug. Seine Augen waren geschlossen. Für immer geschlossen. In den Höhlen saßen keine Augäpfel mehr, nur Plastikkugeln, die verhindern sollten, daß die Lider eingefallen wirkten, und hinter diesen Kugeln lag eine chirurgische Wüste, denn man hatte das ganze Sehsystem herausoperiert und weggeworfen. Die Operation hatte ihm damals das Leben gerettet, ihn aber auch auf Dauer aus der Gruppe von Menschen ausgeschlossen, die hoffen durften, irgendwann einmal wieder sehen zu können. Bei einigen schafften das Transplantate. Das einzige Transplantat, das Mr. Feigermans Situation hätte verändern können, wäre ein ganz neuer Kopf gewesen. Und doch, als Marcus den Hang hinaufstieg, drehte sich der weißhaarige alte Kopf zu ihm um, und Feigerman redete ihn mit seinem Namen an. »Du hast dich verspätet, Marcus«, beschwerte er sich mit seiner schrillen Altmännerstimme. »Tut mir leid, Mr. Feigerman. Sie haben mich nach der Schule noch dabehalten.« »Wer sind diese ›sie‹, von denen du immer redest, Marcus? Ach, laß nur. Ich hatte an eine Pizza gedacht. Was hältst du davon?«
Für sich selbst hatte Marcus eher an einen Big Mac gedacht, aber das hätte bedeutet, zweimal anhalten zu müssen, und das in verschiedenen Richtungen. »Pizza hört sich gut an, Mr. Feigerman«, sagte er und nahm die Geldscheine, die der alte Mann geschickt aus seiner Brieftasche zog, die Einer ungefaltet, die Fünfer an einer Ecke geknickt, damit er sie identifizieren konnte, die Zehner an zwei Ecken. »Ich werde Julius sagen, daß ich hier bin«, sagte Marcus und ging den langen Hang hinunter zu der Limousine, die an der Myrtle Avenue wartete. Der alte Mann drückte ein paar Knöpfe, und der Stuhl drehte sich. Er konnte das Projekt über den Abhang hinweg nicht sehen. Die Apparatur, die seine Augen ersetzte, funktionierte auf kurze Entfernung recht gut, aber über den gepflasterten Streifen oben im Fort-Greene-Park hinaus war sie nutzlos. Allerdings brauchte er keine Augen, um zu wissen, was hier vor sich ging – und das war nicht viel. Das halbe Projekt lag still. Als er sein Hörgerät lauter stellte und das Parabolmikrophon einschaltete, hörte er in der Ferne das Kreischen der Turbinen im Brüger-Reaktor und das Stampfen und Rasseln der Bagger, denn stellenweise wurde noch ausgeschachtet. Dazwischen hörte er die schwächeren Geräusche des vorbeiflutenden Verkehrs. Aber die Planierraupen bewegten sich nicht. Das Bedienungspersonal verbrachte die Woche zu Hause und wartete auf den Bescheid, daß wieder Lohngelder zur Verfügung standen. Das war schlimm. Es war schlimmer als es schien, denn wenn die Mittel nicht bald zur Verfügung standen, würden die besten Leute sich andere Jobs suchen, wo sie sicher sein konnten, daß die Mittel schon auf der Bank lagen und nicht darauf warten mußten, daß die Politiker ihre Arbeit erledigen und den Antrag genehmigen – wenn die Politiker überhaupt dazu bereit waren. Das war das Schlimmste von allem; denn Feigerman mußte
sich eingestehen, daß dieser Teil der Angelegenheit durchaus noch nicht geregelt war. Es war ein schöner sonniger Tag im Fort-Greene-Park, aber es gab zu viele Sorgen, als daß man sich an ihm hätte freuen können – einschließlich einer besonders unangenehmen Sache auf einem ganz anderen Gebiet, an die Feigerman gar nicht denken mochte. Während sie sich mit ihrem späten Lunch oder frühen Dinner beschäftigten, oder wie immer man die Mahlzeit nennen mochte, die sie seit einiger Zeit regelmäßig einnahmen, wenn Marcus aus der Schule kam, tat der Junge seine Arbeit. »Sie haben eine Wand des Pumpenhauses gegossen«, berichtete er und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die narbige Landschaft hinaus, die früher eine normale narbige Wohngegend in Brooklyn gewesen war. Schweigend reichte ihm der alte Mann ein Fernglas, und Marcus bestätigte, was er schon gesagt hatte. »Ja, das Pumpenhaus macht Fortschritte, und – und – sie heben auch die Fäkaliengrube aus. Aber die Planierraupen arbeiten nicht. Sie stehen nur da, Mr. Feigerman; ich denke, sie haben Ihr Geld noch nicht freigegeben. Ich verstehe sowieso nicht, warum sie das machen.« »Was machen?« »Noch einen Hügel aufschütten. Sie haben doch schon diesen hier.« »Dieser hat die falsche Form«, sagte Feigerman geduldig – er mochte den Jungen und freute sich über seine Fragen, und manchmal wünschte er, er hätte selbst einen Sohn – sein Stiefsohn hatte keine erkennbare Liebe zu seinem Adoptivvater gezeigt. »Außerdem ist dies ein historischer Hügel, auf dem sie keine Windmühlen bauen wollen. Genau hier hat George Washington die Briten zurückgeschlagen – du solltest einmal die Inschrift auf dem Monument lesen.« Er leckte sich die Pizzareste von den Lippen, und ungebeten
entfaltete Marcus eine Papierserviette und tupfte dem alten Mann das stachelige Kinn sauber. Statt des Sonargeräts schaltete Feigerman jetzt seine optischen Sensoren für weite Entfernungen ein und schaute auf die Stadt hinaus, aber natürlich sah er keine Einzelheiten, sondern nur verschwommene Umrisse. »Es ist eine große Sache«, sagte er – zu Marcus und zu der Stadt, die seine Worte nicht beachtete. »Das weiß ich, Mr. Feigerman. Bed-Stuy wird wirklich schön werden.« »Hoffentlich.« Aber es war mehr als Hoffnung. Für Feigerman war er Gewißheit: der energieunabhängige in sich geschlossene Stadtbezirk, für den er zwanzig Jahre lang gekämpft hatte. Es war wunderbar, daß das Projekt in Brooklyn verwirklicht werden konnte, ganz in der Nähe seines Heims. Das hatte er natürlich seinem Glück zu verdanken – und ein paar einflußreichen Freunden. Das Projekt hätte überall erstellt werden können – das heißt, in jedem heruntergekommenen Stadtbezirk, in dem die Hausbesitzer ihre Häuser aufgaben. Und das waren noch die anständigen Hausbesitzer; die weniger anständigen steckten ihre Gebäude in Brand, um die Versicherungssumme zu kassieren. Die südliche Bronx brauchte ein solches Projekt. Drei Bezirke in Chicago ebenfalls, drei in Detroit, fast ganz Newark und halb Philadelphia – ja, es hätte überall sein können. Brooklyn wurde aus zwei Gründen vorgezogen. Der eine war der Wille seiner einflußreichen politischen Freunde. Der andere war der weiche Schwemmboden. Der Boden in Brooklyn bestand hauptsächlich aus dem Geröll, das die Gletscher der letzten Eiszeit vor sich hergeschoben hatten, und aus Flußschlamm. Der Boden ließ sich schneiden wie Käse. Wenn Bed-Stuy erst fertig war, würde es keine einzige Kilowattstunde Energie importieren müssen – nicht von der Ontario Hydro, nicht aus Appalachia und nicht aus den
unsicheren und krisengeschüttelten Araberstaaten. Von nirgendwo. Im Winter würde die Beheizung durch die thermalen Wasservorräte in den in fast dreihundert Metern Tiefe unter der City liegenden natürlichen Salzwasserreservoirs erfolgen. Die Kühlung im Sommer würde dazu dienen, diese Wasservorräte wieder aufzuwärmen, und zur zusätzlichen Kühlung würde man Eis verwenden. Durch die Benutzung von Eis und Wasser zur Wärme- und Kältespeicherung würden sich die Spitzenwerte im Sommer und im Winter erheblich reduzieren lassen, und das bedeutete, daß die Maximalkapazität niedrig gehalten werden konnte. Sie würde innerhalb der Konstruktionsparameter der Windmühlen und der Methangeneratoren an der Fäkaliengrube liegen, von allen anderen reproduzierbaren Energiequellen ganz zu schweigen; und das Ghetto würde florieren. BedfordStuyvesant war ein Demonstrationsprojekt. Wenn es funktionierte, würde es überall im Land solche Projekte geben, und Watts und Libertyville und Ironbound und Northside würden ihre Chance bekommen – und es würde funktionieren! Aber es war natürlich unwahrscheinlich, daß de Rintelen Feigerman diese Paradiese der zweiten Generation noch erleben würde. An seine Sterblichkeit erinnert, hob Feigerman das Handgelenk ans Ohr, und seine Uhr piepte die Zeit. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Meine Frau wird heute abend sterben.« »Hat sie sich dazu entschlossen, Mr. Feigerman?« »Sieht ganz so aus, und das tut mir leid; ich denke, deine Mutter wird ihren Job loswerden. Hat sie irgendwelche Pläne, außer daß sie im Laden mithilft?« »Ein Freund von Daddy sagt, daß er ihr einen Job als Müllsortiererin besorgen kann.«
Feigerman seufzte; aber es war schließlich nicht sein Problem. »Fahr mich den Hang hinunter«, sagte er. »Der Wagen müßte inzwischen wieder zurück sein.« »Okay, Mr. Feigerman.« Marcus kuppelte den Elektromotor aus und drehte den Rollstuhl in Richtung auf den steilen Pfad, der vom Hügel nach unten führte. »Kommt mir trotzdem komisch vor«, sagte er. »Was kommt dir komisch vor, Marcus?« »Daß man sich den Tag aussucht, an dem man sterben will.« »Das ist wahrscheinlich auch komisch«, sagte Feigerman nachdenklich und lauschte dem Geschwätz einiger Teenager auf einer Parkbank und dem fernen Verkehrsgeräusch. Marcus schob den Rollstuhl vorsichtig, aber Feigerman behielt die Hand trotzdem in der Nähe der Bremse. »Der richtige Zeitpunkt zum Sterben«, sagte er, »ist der Tag, an dem man eine schwierige Arbeit nicht mehr länger aufschieben kann, an dem man keine saubere Kleidung mehr hat und an dem man dringend einen Haarschnitt braucht.« Und dieser Zeitpunkt rückt für mich bedenklich näher, dachte er, als sein Fahrer Julius ihm einen Gruß zurief. Im Mercy General Hospital herrschte einige Verwirrung, denn sie schienen seine Frau verlegt zu haben. Feigerman wartete in seinem Rollstuhl und schaute zu, wie die Pfleger ihre fahrbaren Tragen von Zimmer zu Zimmer schoben, wie die Krankenschwestern auf ihrem Weg durch die Korridore Daten und Anfragen in ihre Monitore eingaben und mit Medikamenten und Klistierschläuchen die Runde machten, während Marcus davonrannte, um festzustellen, was geschehen war. Schnaufend kam er wieder zurück. »Sie haben sie verlegt«, berichtete er. »Fünfter Stock. Zimmer 583.« Jocelyn Feigerman war aus der Intensivstation herausgenommen worden, denn die Pflege, die sie jetzt brauchte, war dafür zu intensiv. In jedem bedeutsamen Sinne
des Wortes war ihr Körper tatsächlich schon tot. Ihre Hirnströme waren noch phantastisch, aber ihr Körper selbst mit seinen Myriaden von Fabriken zur Herstellung von Materie und mit der Maschinerie, die ihn am Leben erhielt, war nur noch eine Hülle. Maschinen außerhalb ihres Körpers pumpten und filterten ihr Blut und bewegten, was von ihren Lungen noch übrig war. Nichts von alledem war neu, es war nicht einmal besonders ernst. Nur tödlich. Früher oder später würde das gesamte System zusammenbrechen, aber dieser Zeitpunkt ließ sich noch um Tage, Wochen, ja, Monate hinausschieben – überall in den Hospitälern des Landes lagen Menschen, die sogar schon seit Jahren künstlich am Leben gehalten wurden – solange jemand die Rechnungen bezahlte – wenn nicht sie selbst oder ihre Verwandten Einhalt geboten. Jocelyn Feigermans Fall war jedoch schlimmer. Man konnte noch hinnehmen, daß sie nie wieder das Bett würde verlassen können, daß sie sich höchstens eine Stunde am Tag in wachem Zustand befand, daß sie intravenös ernährt werden mußte und nur durch Apparate sprechen konnte; aber wenn sie nicht mehr denken konnte, gab es für sie keinen Grund, noch länger zu leben. Und dieser Zeitpunkt rückte näher. Die winzigen Spuren von Stoffen wie Acetylcholine und Noradrenalin, die die Funktion der Gehirnzellen gewährleisteten, wurden weniger, und winzige Zellverbände, die tief im Gehirn an Stellen lagen, die Locus coeruleus und Nucleus basalis Meynert hießen, fingen an abzusterben. Das Gedächtnis ließ nach. Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster gingen verloren. Die fehlenden Chemikalien konnten eine Zeitlang durch Medikamente ersetzt werden; aber dieser Aufschub wurde durch Nebenwirkungen eng begrenzt, die schlimmer waren als die Krankheit selbst. Es war Zeit, daß sie starb.
Man hatte sie also in ein großes sonniges Eckzimmer verlegt. Der Raum war in lebhaften Farben gestrichen, und überall standen Blumen. Es gab Stühle für Besucher, und an den Wänden hingen dreidimensionale Landschaftsphotographien. Und mitten dazwischen stand das Bett, in dem sie lag, ein technisches Wunder. Die Ausstattung des Raumes war sehr teuer – was unwesentlich war, denn er wurde selten benutzt, außer bei völlig hoffnungslosen Fällen, und auch dann selten länger als ein paar Stunden. Der Raum war voll Menschen, als Feigerman mit seinem Rollstuhl hineinfuhr – ein halbes Dutzend ohne Marcus oder ihn selbst und ohne die stumme Gestalt auf dem Bett, die, von ihrem Lebenserhaltungssystem umgeben, kaum zu sehen war. Feigerman sah seine Schwiegertochter Gloria, eine winzige schwatzhafte Person, die sich mit einem kräftigen dunkelhäutigen Mann unterhielt, den er als Bezirksbürgermeister von Brooklyn erkannte. Auch sein Stiefsohn war gekommen, inzwischen ein ältlicher Mann. Er stand am Fenster, rauchte eine Zigarette und schaute sinnend zu der fast vollständig verhüllten Gestalt seiner Mutter hinüber. Auch ein Arzt war da. Er hatte sein Stethoskop umhängen und trug auch alle anderen Insignien seines Berufs sichtbar an sich, obwohl es für ihn nichts mehr zu tun gab, außer sich die Diskussion zwischen Gloria und Bezirksbürgermeister Haisal anzuhören – eine Krankenschwester stand herum –, und ein Notar saß an einem Tisch an der Wand und hielt seinen Computer-Terminal bereit. Es war laut im Zimmer. Man konnte bei dem Stimmengewirr das Zischen der künstlichen Lunge, an die Jocelyn Feigerman angeschlossen war, nicht hören und auch nicht das Surren des Dialysegeräts, und sie selbst sprach nicht. Sie schläft, dachte Feigerman – oder hoffte es wenigstens. Jeder mußte sterben, aber den Termin dafür selbst zu bestimmen, kam ihm
entsetzlich kaltblütig vor… Er hob das Kinn und wandte sich an alle Anwesenden: »Worauf warten wir noch?« David, sein Stiefsohn, drückte seine Zigarette in einem Topf mit einem Farngewächs aus und sagte: »Aus irgendeinem Grund wollte Mutter, daß Nillie herkommt.« »Das ist ihr gutes Recht«, fauchte Gloria und unterbrach ihren Streit mit Haisal, um sich jetzt mit ihrem Mann zu streiten. Haisal war von arabischer Herkunft und stammte aus der Palästinenser-Wohngegend an der Atlantic Avenue. Gloria war Vietnamesin und als verängstigte Dreijährige in die Vereinigten Staaten gekommen; es war seltsam, diese beiden Menschen mit den exotischen Gesichtern unverfälschtes New Yorker Amerikanisch sprechen zu hören. »Vater! Haisal sagt, es wird zu einem Referendum kommen.« Feigerman spürte plötzlich Wut in sich aufsteigen. Er rollte mit seinem Stuhl zu den Streitenden hinüber. »Wieso, zum Teufel, Haisal? Sie haben doch die Stimmen in Albany!« »Hören Sie, Rinty«, protestierte der Araber. »Sie wissen doch, wie diese Dinge laufen. Es gibt eine Menge Druck – « »Sie können doch selbst eine Menge Druck ausüben!« »Bitte, Rinty«, dröhnte er. »Sie wissen doch, was Bed-Stuy auch für mich bedeutet; glauben Sie nicht, daß ich tue, was ich kann?« »Nein. Das glaube ich nicht.« Haisal stieß einen zischenden Laut des Unwillens aus. »Was soll das, Rinty? Gloria hat mich hergebeten, weil Sie für das Testament Ihrer Frau einen Magistratsbeamten brauchen, nicht, damit wir uns um Geld für das Projekt streiten! Wir stehen an einem Totenbett. Wo bleibt Ihre Ehrfurcht?« »Wo bleibt Ihr Ehrgefühl?« fragte Gloria. »Sie haben ein Versprechen abgegeben, Haisal!« »Ich tue, was ich kann«, knurrte der Bezirksbürgermeister. »Es wird ein Referendum geben, und mehr kann ich dazu nicht
sagen – wollen wir jetzt nicht endlich diese gottverdammte Testamentsangelegenheit erledigen?« »Wir müssen auf Vanilla de Harcourt warten«, fuhr Feigerman ihn an. »Sie ist schon hier, Mr. Feigerman«, rief die Schwester von der Tür herüber. »Sie ist eben gekommen.« »Dann fangen wir an«, sagte Haisal gereizt. »Ich bitte um Ruhe. Sam, sind Sie bereit, alles aufzuzeichnen? Doktor, würden Sie sie bitte wecken?« Im Zimmer wurde es still, als der Notar seinen Monitor einschaltete und der Arzt Mrs. Feigerman den leichten elektrischen Schock verabfolgte, von dem sie aufwachte. Dann sprach der Bezirksbürgermeister: »Mrs. Feigerman, hier spricht Agbal Haisal. Können Sie mich hören?« Auf dem Bildschirm über ihrem Bett war das rasche Pulsieren der Alphawellen zu sehen, und eine blecherne Stimme antwortete »ja«. Es war natürlich nicht Jocelyn Feigermans Stimme, denn sie hatte keine mehr. Es war eine elektronisch erzeugte synthetische Sprache, die nicht von den Nerven kontrolliert wurde, die zu den gelähmten Stimmbändern führten, sondern durch Manipulation der Alpha-Rhythmen des Gehirns, und ihr Vokabular war sehr beschränkt. »Ich werde den Arzt bitten, Ihnen Ihre Krankheitssituation zu erklären, wie wir schon besprochen haben«, sagte Haisal förmlich, »und wenn Sie Fragen haben, sagen Sie einfach ›Nein‹. Bitte, Doktor.« Der junge Krankenhausarzt räusperte sich und schaute stirnrunzelnd auf seine Notizen. Es war sein erster Fall dieser Art, und er wollte sich genau richtig verhalten. »Mrs. Feigerman«, fing er an, »zusätzlich zu den gravierenden physischen Problemen, die Ihnen bekannt sind, wurde bei
Ihnen Alzheimers Syndrom im Frühstadium diagnostiziert, das man manchmal auch Altersschwachsinn nennt. Die Laboranalysen weisen fibröse Proteinablagerungen in Ihrem Gehirn nach, die an Zahl und Größe zunehmen. Dieser Zustand ist progressiv und zur Zeit irreversibel, und die Prognose für Ihren Zustand lautet auf Gedächtnisverlust, Verlust der Verhaltenskontrolle, psychotische Schübe und Tod. Das habe ich mit Ihnen schon diskutiert, und ich wiederhole es jetzt, damit Sie meine Fragen beantworten können. Ist Ihnen Ihr Zustand bekannt?« Eine Pause. Die Alphawellen auf dem Bildschirm zeigten Unregelmäßigkeiten. »Ja.« »Danke, Doktor«, knurrte der Bezirksbürgermeister. »In diesem Fall, Mrs. Feigerman – Joss – muß ich eine Reihe von Fragen an Sie richten. Es mag Ihnen scheinen, als wiederholte ich mich, aber das Gesetz schreibt vor, daß ein Magistratsbeamter diese Fragen stellt. Erstens. Wissen Sie, warum wir hier sind?« »Ja.« »Sie wissen also, daß Sie sich in einem Zustand befinden, der vermutlich in weniger als dreißig Tagen zu irreversiblem Hirnschaden und Tod führen muß?« »Ja.« »Dann, Mrs. Feigerman«, sagte er feierlich, »stehen Ihnen folgende Möglichkeiten zur Wahl. Erstens. Sie können in Ihrem jetzigen Zustand verharren; in diesem Fall bleiben Sie an das Lebenserhaltungssystem angeschlossen, bis die Gehirnsonden und die Induktionstests anzeigen, daß der Gehirntod eingetreten ist und keine medizinischen Maßnahmen mehr eingeleitet werden können. Zweitens. Sie können das Lebenserhaltungssystem jetzt oder zu jedem von Ihnen gewünschten Zeitpunkt von sich aus abschalten lassen; auch in diesem Fall können keine weiteren medizinischen Maßnahmen
ergriffen werden. Drittens. Sie können das Lebenserhaltungssystem abschalten lassen und Ihrer Einfriedung zustimmen. Für diesen Fall müssen wir Ihnen mitteilen, daß die Prognose ungewiß ist, daß jedoch die nötigen finanziellen und physikalischen Arrangements für Ihre Gefrierlagerung getroffen worden sind, mit dem Ziel, Sie zu heilen und wiederzubeleben, wenn und falls solche Verfahren zur Verfügung stehen. Ich werde Sie jetzt fragen, ob Sie eine dieser Alternativen akzeptieren.« Diesmal dauerte die Pause sehr lange, und Feigerman merkte plötzlich, wie ungeheuer müde er war. Vielleicht war es mehr als Erschöpfung; vielleicht war es sogar Trauer über diesen Verlust. Er hatte zwar nicht das Bedürfnis zu schreien oder seine Kleider zu zerreißen, aber er spürte die bedrückende Gewißheit, daß ihm ein Teil seines Lebens genommen wurde. Dieser Teil seines Lebens hatte ihn nicht immer beglückt. Es war schon viele Jahre her, daß er für ihn irgendeine sinnliche Besessenheit empfunden hatte… aber er hatte zu ihm gehört. Feigerman versuchte, die vagen Bilder vor sich zu erkennen, um festzustellen, ob seine Frau wenigstens die Augen geöffnet hatte, aber es gelang ihm nicht… »Ja«, sagte die blecherne Stimme endlich ohne Emotion und ohne Nachdruck. Ohne Leben. Es war buchstäblich eine Stimme aus dem Grabe; und man konnte sich kaum noch vorstellen, wie überaus lebendig dieser ausgezehrte Leib einmal gewesen war. »Wählen Sie also, Mrs. Feigerman, die Alternative Nummer Eins, die Sie in Ihrem gegenwärtigen Zustand beläßt?« »Nein.« »Ist es dann die Alternative Nummer Zwei, bei der das Lebenserhaltungssystem abgeschaltet wird, ohne daß weitere medizinische Maßnahmen eingeleitet werden können?« »Nein.«
»Also wählen Sie die Alternative Nummer Drei, bei der das Lebenserhaltungssystem abgeschaltet wird und Sie anschließend eingefroren werden?« »Ja.« Alle Anwesenden seufzten tief auf; keiner konnte sich dieser Gefühlsäußerung enthalten. »Danke, Mrs. Feigerman«, fuhr der Bezirksbürgermeister fort. »Nun muß ich Sie bitten, eine weitere Wahl zu treffen. Sie können sich einer neurocryonischen Konservierung unterziehen, die bedeutet, daß nur Ihr Kopf und Ihr Gehirn eingefroren werden. Oder Sie können sich zu einer Ganzkörperkonservierung entschließen. Ihr Arzt hat Ihnen erklärt, daß Ihr Körper so stark geschädigt ist, daß eine Wiederbelebung und eine Heilung während der nächsten Jahre, sogar während der nächsten Jahrzehnte, als höchst unwahrscheinlich betrachtet werden müssen. Werden andererseits nur Ihr Kopf und Ihr Gehirn konserviert, ergibt sich irgendwann in der Zukunft die Notwendigkeit, einen kompletten Körper für Sie zu beschaffen, und zwar entweder durch Klonen, durch Transplantation eines neuen Spenderkörpers oder durch andere Verfahren, die heute noch nicht bekannt sind. Keines der erwähnten Verfahren kann heute schon durchgeführt werden. Die Entscheidung über diese Dinge bleibt ausschließlich Ihnen überlassen, Mrs. Feigerman; Ihre nächsten Verwandten wurden konsultiert und haben übereinstimmend erklärt, daß sie jede Ihrer Entscheidungen respektieren werden. Haben Sie das alles verstanden, Mrs. Feigerman?« »Ja.« Haisal seufzte schwer. »Nun gut, Joss, jetzt werde ich Sie fragen, für welche Alternative Sie sich entschieden haben. Ziehen Sie die neurocryonische Konservierung vor, bei der lediglich Ihr Kopf und Ihr Gehirn eingefroren werden?« »Nein.«
»Dann wählen Sie also die Ganzkörperkonservierung?« »Ja.« »Und so soll es geschehen«, murmelte der Bezirksbürgermeister ernst und gab dem Notar ein Zeichen. Der Mann zog eine transparente Kopie aus seinem Monitor, setzte seinen Daumenabdruck in eine Ecke und reichte das Dokument an die übrigen Zeugen weiter, die das Gleiche taten. »Nun«, sagte der Bezirksbürgermeister, »sollten wir die Familienangehörigen alleinlassen, damit sie Abschied nehmen können.« Mit einem Blick bedeutete er dem Notar, der Schwester und Marcus’ Mutter, ihm zu folgen. Bevor er den Raum verließ, winkte er dem Arzt, und seine Lippen formten stumm die Worte: »Ziehen Sie den Stecker heraus.«
III
Am ersten Tag in seinem neuen Leben als Witwer wachte de Rintelen Feigerman voller Entsetzen und mit dem Gefühl eines grausamen Verlustes auf. Es ging nicht darum, daß er seine Frau verloren hatte, denn selbst im Traum hatte er sich damit abgefunden, daß Jocelyn tot war oder daß sie, wenn sie noch nicht ganz tot war, weder in rechtlicher noch in praktischer Hinsicht in dem Sinne lebte, wie es bei ihm selbst der Fall war. Der Schock rührte daher, daß er im Traum nicht blind gewesen war. In seinen Träumen konnte Rinty immer sehen. Das war etwas Feststehendes: jeder kann sehen. Die Menschen sehen ganz einfach, genauso wie sie atmen, essen und scheißen. In seinen Träumen sah er, ohne es als etwas Besonderes zu registrieren, die leuchtenden grünen und roten Scheinwerfer eines U-Bahnzuges der IRT, der in die Clark Street Station einfährt, das lautlose Fallen der großen weißen Schneeflocken über dem East River, die gelbe Hitze des Sommers am Strand, die blauen Augen der Frauen und die Sterne und die Wolken. Nur wenn er erwachte, war es immer dunkel um ihn. Rosalyn, seine große alte Weimaraner-Hündin, knurrte leise neben dem Bett, als Feigerman sich aufrichtete. Das Knurren hatte keine Bedeutung; auf diese Weise sagte sie ihm lediglich, wo sie sich gerade aufhielt. Feigerman griff nach unten und fand ihren zottigen Kopf genau da, wo er ihn erwartete, nämlich unter seiner herabfahrenden Hand. Er brauchte dieses Knurren am Morgen eigentlich nicht mehr, denn er konnte sie fast schon nach dem Geruch lokalisieren. Rosalyn war nämlich wirklich schon ein sehr alter Hund. »Platz«, rief er und hörte sie gehorsam schnaufen, als sie sich neben dem Bett
ausstreckte. Er verspürte das Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen, aber vorher gab es noch etwas Wichtigeres. Er nahm den Handapparat vom Nachttisch, lauschte dem Piepen, das ihm die Uhrzeit ansagte, und drückte die Taste, die ihn mit seinem Büro verband. »Rinty hier«, sagte er. »Lagebericht, bitte.« »Guten Morgen, Mr. Feigerman«, sagte das Mädchen vom Nachtdienst. Er kannte ihre Stimme, eine hübsche junge Frau, oder wenigstens eine, deren Züge sich unter seinen Händen glatt und regelmäßig anfühlten und die kurzes weiches Haar hatte. Janice soundso. »Wetter heute kein Problem. Heute nacht normale Wartungsarbeiten; keine größeren Ausfälle. Die Schichtleiter berichten gerade, und wir erwarten für heute volle Besetzung. Allerdings«, fügte sie hinzu, und ein wenig Besorgnis schlich sich in ihre Stimme, »hatten wir eine Menge Anfragen von den beurlaubten Leuten. Sie wollen wissen, wann sie wieder arbeiten können.« »Ich wünschte, ich könnte es ihnen sagen, Janice. Wir reden später noch darüber.« Er legte auf, seufzte und machte sich auf den vertrauten Weg: zur Toilette, zur Dusche, zur Kaffeemaschine – er spürte schon ihre Wärme, als sie sich automatisch einschaltete und seinen Frühstückskaffee durchlaufen ließ – kurz, er tat all die Dinge, die ein Blinder morgens verrichten muß. Es war jeden Morgen dasselbe, und der schwierigste Teil war, überhaupt den Entschluß zu fassen, einen weiteren Tag durchzustehen. Als Feigerman in seinem Büro ankam, war er fast heiter, hauptsächlich weil sein Fahrer gute Laune hatte. Julius war ein beurlaubter Polizist; als Polizist hatte er meistens Nachtschichten gemacht und bis zu seiner Beurlaubung nur in der Freizeit für Feigerman gearbeitet. Er war beurlaubt worden, weil man bei einer nicht angekündigten Blutuntersuchung in seinem Körper in geringfügigen Spuren
Zerfallprodukte von Tetrahydrocannabinol gefunden hatte. Julius beteuerte seine Unschuld. Feigerman hielt das Ganze für unwichtig, da jeder Drogen nahm, Polizisten und andere. Julius’ gute Laune rührte daher, daß sein Boß ihn angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, daß man die Vorwürfe gegen ihn nicht aufrechterhalte. Deshalb lachte und scherzte er während der ganzen Fahrt, und Feigerman lächelte immer noch, als er den Fahrstuhl verließ und sich, nach allen Seiten das Personal begrüßend, zu seinem Schreibtisch piepte. Zuerst mußte er sich von dem schweren Teil seiner Ausrüstung befreien. Das tat er mit einer Hand, während er mit der anderen auf den Knopf an der Sprechanlage drückte, der die Verbindung mit seinem Stiefsohn herstellte. »David?« rief er und nahm den Hörer ans Ohr. »Ich bin gerade gekommen. Hör zu, ich brauche nächste Woche einen neuen Fahrer. Julius nimmt seinen Dienst wieder auf.« »Das finde ich gut«, sagte sein Stiefsohn, obwohl seine Stimme sich kaum jemals so anhörte, als ob er etwas gut fände. »Du mußt in einer halben Stunde an einer Besprechung teilnehmen, Dad.« Dad. Feigerman, der sich gerade die roten Streifen an seiner Stirn rieb, ließ die Hand sinken, und seine Miene verfinsterte sich. Der Ausdruck »Dad« war neu bei David. Hatte der Tod seiner Mutter ihm vielleicht ins Gedächtnis zurückgerufen, daß sie eine Familie waren? Im übrigen hatte er keine Reaktion gezeigt. Falls er überhaupt eine Träne vergossen hatte, dann nicht in Feigermans Gegenwart. Das war vielleicht verständlich, denn Davids Mutter hatte ihren politischen Interessen wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als ihrem Sohn. Oder ihrer Schwiegertochter. Oder gar ihrem Ehemann… »Was ist das für eine Besprechung?« fragte Feigerman.
»Ein Mann von S. G. & H.«, sagte David, aber seine Stimme klang gequält. Es lag Trotz darin, aber gleichzeitig schien es, als wollte er ihn zu etwas überreden. »Und wer sind S. G. & H. wenn sie gerade zu Hause sind?« »Eine Anlagebank. Außerdem haben die Leute jeden Politiker von Buffalo bis Rochester in der Hand. Sie sind es, die das Geld für das Bed-Stuy-Projekt aus dem Komitee herauskitzeln könnten.« Feigerman lehnte sich zurück, und seine Miene wurde noch finsterer. Davids Tonfall weckte in ihm den Wunsch, gleichzeitig sein Gesicht zu sehen. Aber das war in doppelter Hinsicht unmöglich – »Der Mann von S. G. & H. heißt doch nicht etwa Gambia, oder?« »Genau der ist es.« »Er ist ein gottverdammter Gangster!« »Er wurde noch nie überführt, aber im übrigen bin ich deiner Meinung, Dad.« Aufsässigkeit war seiner Stimme nicht mehr anzuhören; jetzt klang alles, was er sagte, nur noch wie ein einziger Versuch, sich anzubiedern. »Du brauchst ihm nur zuzuhören. Seine Leute haben Optionen aufgekauft, und er ist natürlich an Bed-Stuy interessiert…« »Ich weiß, worin dieses Interesse besteht! Er will es haben!« »Wahrscheinlich will er ein Stück davon haben. Dad? Ich verstehe ja deine Gefühle – aber willst du den Bau denn nicht fertigstellen lassen?« Feigerman atmete ganz langsam aus. »Wenn er kommt, werde ich mit ihm reden«, sagte er und unterbrach die Verbindung. Wenn er bis zu einer sehr unangenehmen Aufgabe nur noch dreißig Minuten Zeit hatte, mußte er rasch mit den Vorbereitungen beginnen. Er griff nach dem Apparat neben seinem Stuhl und schaltete ihn an. Dies war sein dritter Satz Augen, die einzigen, die auch über eine Entfernung von mehr
als ein paar Metern etwas taugten. Sie hatten einen weiteren Vorteil. Feigerman nannte sie seine Traumaugen, denn sie ließen ihn sehen, was nicht da war – noch nicht. Feigerman hatte das Gerät selbst konstruiert, und die Apparaturen auf seinem Schreibtisch und um ihn herum hatten über dreihunderttausend Dollar gekostet, und für die Lizenzvergabe hatte er kaum die Hälfte dieser Summe wieder hereingeholt. Es war eben kein Produkt für den Massenmarkt. Selbst die Produktionsmodelle kosteten über hunderttausend, und es gab keine tragbaren Geräte. Keine Ingenieurskunst konnte etwas gegen diese Größenzwänge ausrichten; sie entsprachen den Beschränkungen des menschlichen Fingers. Das Herzstück des Geräts war eine Videokamera mit einem Photonenmultiplikator. Diese Kamera registrierte Gegenstände, die vor ihr lagen, lokalisierte die Kontrastebenen, setzte das Erfaßte in Zahlen um und ließ dabei alles weg, was zu klein war, um innerhalb der Auflösungsgrenzen dargestellt zu werden. Der ganze Vorgang lief synchron ein zweites Mal ab, um den Stereoeffekt zu erzielen. Eine Matrix aus zweihundert mal zweihundert Elementen gab die eingehenden Impulse wieder, wobei jedes dieser vierzigtausend Elemente, die aussahen wie oben abgerundete Zahnstocher aus Plastik, von null bis zu etwa 6,5 Millimeter aus der glatten Fläche hervortrat. Das Ganze ergab ein Flachrelief, das Feigerman mit den Fingern abtasten konnte, ähnlich wie er vielleicht, vorsichtig das Gesicht eines Fremden berührte. Durch Abtasten dieses Reliefs konnte Feigerman tatsächlich Gesichter erkennen, und das konnten außer ihm fast hundert andere Blinde, die so gute Beziehungen hatten, daß man ihnen ein solches Gerät zur Verfügung stellte, oder die reich genug waren, es sich selbst zu kaufen. Manchmal konnte er sogar den Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners ablesen, oder einen
»Schnappschuß« herstellen, indem er das Bild stoppte, um dann das reglose Relief so lange er wollte zu studieren. Das Erstaunliche war, daß auch Sehende die Gesichter erkennen konnten – und nicht nur Gesichter. Die Bilder an der Wand interessierten Feigerman nicht, aber wenn er die Rocky Mountains oder die Mondoberfläche »betrachten« wollte, konnte er die im Gerät digital gespeicherten stereo-taktilen Bilder abrufen und mit seinen Fingern über den Donner-Paß fahren oder an den Hängen von Tycho Spazierengehen. Während er darauf wartete, daß der Gangster auftauchte, um ihm den Tag und vielleicht sogar das Projekt zu versauen, tat er etwas ganz anderes: er »schaute aus dem Fenster«. Dazu reichte die hinter seinem Stuhl montierte elektronische Kamera nicht aus. Die elektronische »Pupillendistanz« war zu gering, um ein stereoskopisches Bild herzustellen. Aber hoch oben auf der Aussichtsplattform des Gebäudes hatte er zwei Kameras installieren lassen, und als er sie einschaltete, konnten seine Finger ganz Bedford-Stuyvesant ertasten. Was Feigermans Finger fühlten, war der Mondoberfläche gar nicht einmal unähnlich. Die ausgeschachteten Gruben waren wie Krater. Sie sollten die unterirdischen Wohnanlagen aufnehmen, in denen zweihunderttausend Menschen leben würden. In ihnen sollten auch die Kleiderfabriken, die Fertigungsbetriebe für elektronische Teile und andere saubere Industrien untergebracht werden, die diesen zweihunderttausend Menschen Arbeitsplätze bieten würden. Dann waren da noch die alten Gebäude – die noch nicht abgerissenen Wohnhäuser, die Wachgebäude über dem Nathanael-Greene-Institut, die verlassenen Fabriken, die Schutzhaube über dem Brüter-Reaktor, die Strecke der Rhode Island Rail Road – ein Zug der magnetischen Schwebebahn lief gerade zischend in den Bahnhof ein, und er spürte dabei ein Kitzeln in den Fingern. Da waren die angefangenen
Projekte und die Bauten, die schon hochgezogen wurden – er erkannte die langsame Drehbewegung eines Krans, der vorgefertigte Betonteile für das Thermalwasserbecken absenkte. Und dann waren da noch die langen Reihen von Kippern, Baggern, Planierraupen und Erdbohrmaschinen, die untätig herumstanden, weil die Mittel fehlten. De Rintelen Feigerman zählte seine Jahre nicht mehr. Jetzt, da der eingefrorene Körper seiner Frau tief unter Inwood lag, wußte kein Mensch mehr genau, wie alt er war; aber alle wußten, daß es viele Jahre waren. Ihm blieben nur noch wenige. Feigerman war Verzögerungen gewohnt. Man konnte in der kompliziertesten Stadt der Welt im Ingenieursbau keine Karriere machen, wenn man nicht bereit war, lange Terminverschiebungen hinzunehmen. Aber dieses eine Mal in seinem Leben hatte er keine Geduld, denn jede verschwendete Minute minderte seine ohnehin geringe Reserve. Und dieses Projekt war sein Meisterwerk. East River East war nur eine Wohnanlage von vielen. Der Gefrierkomplex von Inwood war nur ein Kühlhaus. Nathanael Greene war nur ein weiteres Gefängnis. Aber Bed-Stuy… Bed-Stuy würde für die Menschen fast der Himmel auf Erden sein oder doch die denkbar größte Annäherung an einen solchen Zustand. Es war ursprünglich nicht seine eigene Idee gewesen; er hatte sie aus alten Publikationen und verstaubten Datensammlungen ausgegraben; ein Mann namens Charles Engelke hatte schon in den siebziger Jahren darüber nachgedacht, wie man ein kleines Gemeinwesen in einer Vorstadt energieunabhängig machen könnte – aber wer war seitdem noch an Vorstädten interessiert? Jemand anders hatte aufgezeigt, daß die heruntergekommenen Viertel in den amerikanischen Städten, wie die südliche Bronx werden könnten. Aber es war de Rintelen Feigerman gewesen, der
alles zu einem Plan zusammengefügt hatte. Nur er hatte die Energie, die Beziehungen in der Politik, den Zugang zu Kapital, und, nicht zuletzt, das Prestige des Initiators – kurz, er hatte alles, was zur Verwirklichung dieses Traums nötig war. Sonnenenergie, Sonnenenergie konnte man auf vielfältige Art verwenden: im Sommer konnte man sie dazu benutzen, das Wasser zu erhitzen und zu austauschbaren Wasservorräten tief unter der Erde zu pumpen; das neue warme Wasser drückt das kalte nach oben, und das kalte Wasser dient im Sommer zum Betrieb der Klimaanlagen. Im Winter wird das im Sommer erwärmte Wasser zu Heizzwecken heraufgepumpt. Sonnenenergie als photogalvanisches Mittel zum Betrieb elektronischer Geräte, hauptsächlich aber, um das Wasser in den Thermalbecken auszutauschen. Und ganz besonders gut konnte man die Sonnenenergie dazu benutzen, die Wohnungen zu beheizen. Feigerman rief jetzt die Daten für das fertige Projekt ab, und unter seinen Fingern wuchs Bed-Stuy von dem, was es jetzt war, zu dem, was es einmal sein würde. Bei einem Projekt, das eine Fläche von mehr als einer Quadratmeile beanspruchte, konnten selbst vierzigtausend Elemente nicht alle Einzelheiten wiedergeben. Jedes Element konnte Gegenstände von etwa der Größe eines Lastwagens darstellen; Dinge wie ein Fußgänger, ein Feuerhydrant und selbst ein geparkter Wagen waren einfach zu winzig, als daß man sie hätte sehen können. Und dennoch, was für ein wunderbares Panorama! Fast zärtlich glitten Feigermans Finger über den riesigen aerodynamisch geformten Hügel, der die Wasservorräte an der Erdoberfläche umschließen und die Windmühlen tragen würde, die die Pumpen antreiben wollten. Sie glitten über die kleinere Kuppel für das Eisreservoir, wo der Winterfrost eine Niedrigtemperaturreserve für die Sommerkühlung, ja selbst für die Verarbeitung von Lebensmitteln schaffen konnte. Über den
sanft abfallenden Hang, unter dem die Methanerzeuger verborgen lagen – vielleicht gefielen ihm die Methanerzeuger am besten, denn was konnte eleganter sein als das widerlichste Nebenprodukt des Menschen – Scheiße! – in den wertvollsten Rohstoff zu verwandeln, den der Mensch braucht: Brennstoff? Alle Abwässer von den Wohnungen, den Büros und den Fabriken und auch die der Männerhaftanstalt nebenan würden in diese Methanerzeuger geleitet werden. Der Kot würde zu Schlamm und Methan verkochen; die bei diesem Vorgang entstehenden Temperaturen würden alle Bakterien abtöten; der Schlamm würde als Düngemittel Verwendung finden, und das Methan würde durch Verbrennen nutzbare Wärme abgeben. Industrien, wie etwa die Glasproduktion, die genau die Temperaturen benötigte, die das Gas erzeugen konnte, würden billig und zuverlässig beliefert werden können – das bedeutete Arbeitsplätze – das bedeutete größere Unabhängigkeit – das bedeutete… Feigerman seufzte und fand in die Wirklichkeit zurück. Ein Befehl, und das künftige Utopia zerschmolz unter seinen Fingern, und er berührte jetzt wieder das unvollendete Projekt Bed-Stuy, wie es sich heute darbot. Die Methanerzeugungsanlage bestand aus einer häßlichen Grube neben dem Gefängnis. Der große Hügel für die Windaggregate war ein gezacktes, nach oben offenes Betonrund, das aussah wie die Steine von Stonehenge. Die stillgelegten Baumaschinen standen noch immer aufgereiht. »Ich wollte Sie nicht stören, deshalb bin ich einfach hereingekommen. Sie haben doch nichts dagegen?« Der Blinde fuhr auf seinem Stuhl zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Kameraaufhängung hinter ihm. Er versuchte, zwei Dinge auf einmal zu tun: er griff nach seiner Krone, um den Eindringling sehen zu können, und schaltete die Matrize auf die inneren Kameras um, damit er ihn fühlen konnte.
Freundlich und ein wenig amüsiert sagte der Mann: »Sie brauchen das Ding nicht, Feigerman. Ich bin es, Mr. Gambiage. Wir müssen über Geschäfte reden.« Feigerman gab es auf, nach der Krone zu suchen; die Kamera hinter seinem Kopf fing das Bild des Besuchers auf, und Feigerman fühlte es unter seinen Fingern. »Nehmen Sie Platz, Mr. Gambia«, sagte er – ein wenig scharf, denn der Mann machte schon Anstalten, sich zu setzen. Er bewegte sich wirklich leise! »Sie halten mein Geld zurück«, sagte Feigerman. »Wollen Sie darüber mit mir reden?« Das Bild bewegte sich unter seinen Fingern, als Gambiage eine ungeduldige Handbewegung machte. »Wir wollen keinen Scheiß reden«, sagte er zu Feigerman. »Ich kriege Ihr Geld in Albany schon frei, kein Problem. Ich kann es aber auch für immer zurückhalten lassen, auch das ist kein Problem. Andererseits kosten Sie mich eine Menge Geld, und deshalb biete ich Ihnen ein Geschäft an.« Feigerman ließ ihn reden. Das Reliefbild von Gambiage verriet ihm nicht viel über den Mann. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt; das wußte Feigerman aus Presseberichten. Er konnte fühlen, daß der Mann klein und untersetzt war, daß er aber ein scharf geschnittenes energisches Gesicht hatte. Eine klassische Nase. Dichte Brauen. Ein eigensinniges breites Kinn. Aber schaute er ihn freundlich an, oder lag Arglist in seinem Blick? Lächelte er oder grinste er oder hatte er sein Gesicht zu einer Fratze verzogen? Gambiage sprach leise, aber trotz seines Gossenjargons hatte er eine gepflegte Aussprache. Vielleicht sogar Ivy League – denn warum sollten die Söhne der Paten nicht das College besucht haben? Außerdem mußte Feigerman zugeben, daß der Mann gut roch, er roch nach gewaschenen Haaren, nach teuren Lederschuhen und nach dem besten Rasierwasser. Feigerman hörte das leise Geräusch seiner Bewegungen, als Gambiage es sich auf seinem Stuhl
bequem machte und weitersprach; er roch ihn, hörte ihn, fühlte ihn… und hatte Angst vor ihm. Dieser Mann war nämlich Exponent einer Macht, die man nicht ignorieren konnte. Feigerman hatte sich schon wiederholt mit der Mafia auseinandersetzen müssen – in Amerika konnte man sich nicht mit größeren Bauvorhaben befassen, ohne irgendwann festzustellen, daß man sie auf vielfältige Weise zum Partner hatte. Die Gewerkschaften; die Lieferanten; die Politiker – die Stadtplaner, die Bauinspektoren, die Leute, die für die einschlägigen Vorschriften verantwortlich waren – wo immer tausend Dollar Bestechungsgeld eine Million Dollar lockermachen oder eine Genehmigung oder eine Lizenz erwirken konnten, hatte auch die Mafia ihre Hand im Spiel. Sie übte nicht immer die Kontrolle aus, aber man konnte sie nicht beiseite schieben. Im Umgang mit der Mafia gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder man zog mit oder man setzte sich zur Wehr. Feigerman hatte schon beides getan. Aber diesmal konnte er weder das eine noch das andere tun. Er konnte sich nicht zur Wehr setzen, weil ihm für einen längeren Kampf keine Zeit mehr blieb. Und er konnte nicht mitziehen bei einer Sache, die auf nichts Geringeres hinauslief als die Pervertierung seines Traums. »Da ist dieses Energieproblem«, erklärte Gambiage. »Sie erzeugen Ihre eigene Energie, und das kostet die Versorgungsbetriebe ein Vermögen. Ich habe Optionen gekauft. Sie werden einen Scheißdreck wert sein, wenn die Kurse nicht steigen, und Sie sind der Mann, der sie daran hindert.« »Mr. Gambiage, beim Bed-Stuy-Projekt geht es ja gerade darum, die Energieunabhängigkeit zu gewährleisten, damit…« »Ich sagte doch, daß wir keinen Scheiß reden wollen«, erinnerte ihn Gambiage. »Wir werden Tacheles reden. Sie werden Ihre Empfehlungen ändern. Sie werden damit
einverstanden sein, daß alle Anlagen zur Erzeugung von Energie an die Versorgungsbetriebe verkauft werden. Dann werde ich meinen Freunden in Albany empfehlen, Ihre Mittel freizugeben, und ab sofort geht alles glatt. Ich will es Ihnen sogar noch schmackhafter machen. Ich verkaufe Ihnen meine Optionen auf fünfzigtausend Anteile zum Einstandspreis. Das wären dreißig Cents pro Aktie, und Sie können für einundneunzigein-viertel kaufen.« Feigerman antwortete nicht gleich. Er gab einen Befehl in seinen Computer ein und ließ sich den aktuellen Börsenkurs der Aktie geben. »Consolidates Metropolitan Utilities, Notierung fünfundachtzig«, tönte eine geschlechtslose synthetische Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Fünfundachtzig«, wiederholte Feigerman. »Richtig«, sagte Gambiage, und in seiner Stimme lag ein Lächeln. »Die Differenz haben Sie mich inzwischen schon gekostet, Feigerman. Einigen Sie sich mit uns über die Energieerzeugungsanlagen und warten Sie ab. In jedem Fall können wir von hundertzehn ausgehen.« Feigerman machte sich nicht die Mühe, das zu überprüfen; in diesem Zusammenhang zu lügen, wäre witzlos. Er gab eine simple Rechenaufgabe ein: $110 minus (91,25 plus 30) minus, sagen wir mal 1 % Maklergebühren mal fünfzigtausend. Und die Stimme flüsterte: Neunhundertdreizehntausendzweihundertfünfundsiebzig Dollar. Hier sollte er mit fast einer Million Dollar bestochen werden. Eine Million Dollar. Mit einer Erbschaft von weniger als einem Zehntel dieser Summe hatte er seine gesamte Ausbildung finanziert und noch genügend Startkapital für seine Karriere übrigbehalten. Es war eine magische Zahl. Es spielte keine Rolle, daß sein Vermögen diesen Betrag erheblich überstieg. Es spielte auch keine Rolle, daß Geld
einem Mann wenig nützen konnte, der zu alt war, um, was er hatte, auszugeben. Eine Million Dollar! Und das nur, damit er einen Entschluß faßte, der durchaus richtig sein konnte. Feigerman sah sehr wohl, wie Gambiage seine Macht gebrauchte. Laut aber sagte er mit rauher Stimme: »Und wie viele Anteile bleiben Ihnen dann noch? Eine Million? Zwei?« »Meine Partner und ich haben eine Menge, das stimmt.« »Wissen Sie, daß man uns wegen dieser Sache einsperren kann?« »Feigerman«, sagte Gambiage gelangweilt, »dafür halten wir uns schließlich Anwälte. Die ganze Transaktion kann ohnehin vom Ausland aus abgewickelt werden, und zwar unter jedem beliebigen Namen. Keine Gesetze der U.S.A werden verletzt. Die Optionen sind auf Grand Cayman registriert.« »Und was geschieht, wenn ich nein sage?« Feigermans Finger lagen immer noch auf dem Flachrelief, und er spürte die Bewegung, als Gambiage die Achseln zuckte. »Dann gibt Albany das Geld nicht frei, das Projekt stirbt, und die Aktien stehen wieder da, wo sie hingehören. Vielleicht auf hundert.« »Und Sie kommen nur deshalb zu mir«, sagte Feigerman, um diesen Punkt klarzustellen, »weil Sie glauben, daß ich billiger bin als ein paar Dutzend Abgeordnete.« »Ein wenig billiger schon. Aber meine Partner und ich würden auch im anderen Fall gut abschneiden.« Die Nadeln kitzelten Feigermans Finger, als der Mann aufstand, und irritiert stoppte er das Bild. »Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung«, versprach Gambiage. Es würde höchstens drei Minuten dauern, schätzte Feigerman, bis sein Stiefsohn sich über die Sprechanlage melden würde. Das mußte er vermeiden. Er drückte auf den Knopf, der die Anlage sperrte und gleichzeitig die Tür verriegelte.
Jetzt kam es darauf an zu entscheiden, was das Wichtigste war. War es die Hauptsache, daß überhaupt weitergebaut wurde? Oder mußte er dafür sorgen, daß so gebaut wurde, daß er stolz darauf sein konnte? Feigerman wußte, was er wollte – er wollte dieses Gefühl des Triumphes und der Rechtschaffenheit, das ihn jene Totenbettszene leichter überstehen ließ, die nicht mehr lange auf sich warten lassen würde und die er in Gedanken fast jeden Tag probte. Jetzt galt es, sich mit dem Zweitbesten abzufinden – oder eine Möglichkeit zu suchen, das Beste zu erreichen. Er könnte den Kampf natürlich aufnehmen. Die wichtigsten Schlachten hatte er schon lange gewonnen. Das Projekt im Ganzen war genehmigt worden, das Land erworben. Die Pläne waren erstellt, und man hatte mit dem Bau schon begonnen. Was Gambiage auch an bestochenen Abgeordneten und Gerichtsverfügungen gegen ihn aufbieten mochte – oder welche anderen Strategien ihm einfallen mochten, und es gab tausende – auf lange Sicht würde Feigerman gewinnen… Aber würde er seinen Sieg noch erleben? Er seufzte und schaltete die Sprechanlage wieder ein. Natürlich meldete sich sofort sein Stiefsohn. »Du kannst doch nicht einfach das Gerät abschalten, Dad. Warum hast du abgeschaltet? Was hat er gesagt?« »Er will unser Partner werden, David.« »Dad! Dad, er ist schon unser Partner. Wirst du andere Empfehlungen geben?« »Zuerst werde ich eine Weile darüber nachdenken.« Er schwieg. Dann fiel ihm etwas ein: »David? Hast du in letzter Zeit Optionen gekauft?« Keine Antwort. »Dein Blindenjunge ist da«, sagte David dann und legte auf.
Als Marcus hereinkam, um Mr. Feigerman zu helfen, sich für den Spaziergang zu rüsten, erwartete er nichts Gutes, denn der andere Boß, Mr. Tisdale, schwitzte vor Aufregung und führte Selbstgespräche, in denen es um Ärger und den alten Feigerman ging. Vielleicht würde der Spaziergang ausfallen, vielleicht würde er schlechte Laune haben – es könnte ihn sogar der Schlag treffen –, in seinem Alter mußte man mit allem rechnen, dachte Marcus. Aber nichts dergleichen geschah. Mr. Feigerman mühte sich, die Kameraausrüstung anzulegen, aber seine Stimme klang heiter, als er den Jungen begrüßte. »Hallo, Marcus, hast du Lust zu einem kleinen Spaziergang?« »Klar, Mr. Feigerman«, sagte Marcus. Er trat hinter Feigerman und half ihm, die Riemen festzuschnallen. Dabei fiel sein Blick auf die Matrize, mit deren Hilfe der alte Mann sehen konnte. »Was ist los?« fragte Feigerman scharf. »Ach nichts«, sagte Marcus, aber das war gelogen. Er hatte keine Schwierigkeiten, das Gesicht auf der Matrize zu erkennen. Er hatte es schon oft gesehen, wenn der Mann, zu dem es gehörte, in seiner schwarzen Limousine beim Candy Store seines Vaters vorfuhr.
IV
Der Häftling 838-10647, HARVEY John T. hatte nicht nur einen der besten Jobs im Nathanael-Greene-Institut für Männer, er hatte zwei. Nachmittags hatte er oben die Hofaufsicht. Teils, weil er das weitaus höchste »Gefängnisdienstalter« aufzuweisen hatte, teils, weil es ihm gelungen war, ein ärztliches Attest beizubringen, das für ihn täglichen Aufenthalt in der Sonne und in der frischen Luft vorschrieb. Dem Häftling Harvey machte es keine Schwierigkeiten, jedes ärztliche Attest zu besorgen, das er gerade brauchte. Vormittags arbeitete er in der Bibliothek. Auch das war zum Teil seinem Dienstalter zuzuschreiben, aber mehr noch verdankte er es der Tatsache, daß er sehr viel von Datenverarbeitungsgeräten verstand. Häftling Harveys Bibliotheksarbeit bestand hauptsächlich darin, das Datenrückgewinnungssystem zu reparieren, wenn es nicht funktionierte. Hin und wieder gab er auch Bücher an andere Häftlinge aus. Heute morgen aber war er mit etwas anderem beschäftigt. Es war, als setzte er ein Puzzlespiel zusammen. Unter den Augen zweier wütender Wachen und des besorgten Bibliotheksleiters setzte Harvey sorgfältig die Glasscherben zusammen, die von der zerbrochenen Scheibe eines verschlossenen Buchregals stammten. Als sie noch heil war, hatte sie die »nicht allgemein zugänglichen« Bücher gesichert – Bücher, die an die meisten Gefangenen nicht ausgeliehen wurden, weil sie politischen Zündstoff enthielten. Jetzt, wo die Scheibe in rasiermesserscharfe Bruchstücke zersprungen war, mußte sie den Häftlingen erst recht vorbehalten bleiben, denn die Scherben stellten einen Zündstoff ganz anderer Art dar.
Auf Harveys Schreibtischkante, von einem dritten Beamten argwöhnisch beobachtet, saßen die beiden Häftlinge, bei deren Gerangel das Glas zu Bruch gegangen war. Der eine hatte Nasenbluten. Dem anderen blutete die Hand. Sie hießen Esposito und La Croy, und keiner von beiden schien sich besondere Sorgen zu machen – weder über die Verletzungen noch über den achtundvierzigstündigen Entzug aller Erleichterungen, der die unausweichliche Strafe für eine Prügelei war. Diese Dinge waren ein geringer Preis für eine Fluchtchance. Kaum jemandem war es je gelungen, aus dem NathanaelGreene-Institut zu fliehen. Natürlich hatten es schon viele Häftlinge versucht. Jeder Häftling wußte, daß es genau drei Fluchtmöglichkeiten gab. Zwei Methoden lagen auf der Hand, die andere war nicht durchzuführen. Die ersten beiden Methoden bestanden natürlich darin, das Gefängnis auf dem Wege zu verlassen, auf dem es auch betreten wurde – durch die »Besucherpforte«, durch die nicht nur Anlieferungen erfolgten, sondern auch im Gefängnis erzeugte Produkte und Abfälle nach draußen gelangten; und durch die Hochsicherheitspforte, durch die Gefangene abtransportiert und Neuzugänge eingelassen wurden. Häftlinge mit Vorzugsbehandlung, die das Glück hatten, im Freien arbeiten zu dürfen, wo sie die Pflanzen versorgten oder Gras mähten, konnten den Komplex ohne weiteres durch die Besucherpforte verlassen. Manche versuchten es, aber sie blieben alle im Netz der elektronischen Überwachung hängen. Durch die Hochsicherheitspforte war es ein wenig leichter – dreimal hatte es dort eine erfolgreiche Flucht gegeben, gewöhnlich mit Hilfe gefälschter Verlegungspapiere. Aber nach der dritten Flucht war das System geändert worden, und es sah so aus, als sei dieser Fluchtweg endgültig versperrt.
Die beiden beschriebenen Methoden waren also zu streichen. Blieb also noch die nicht durchführbare Methode, nämlich, das Gefängnis durch einen anderen Ausgang zu verlassen. Das war deshalb nicht möglich, weil es keinen anderen Ausgang gab. Nathanael Greene war unterirdisch angelegt. Wenn man wollte, konnte man natürlich versuchen, einen Tunnel zu graben, aber ein solcher Tunnel mußte mindestens hundert Meter lang sein und über den größten Teil der Strecke direkt nach oben führen. Außerdem gab es die nach dem Echoprinzip funktionierenden Geophone. Mit ihnen konnte man nicht nur Öllager und seismische Verschiebungen lokalisieren, sondern auch einen Tunnel orten – gewöhnlich schon auf den ersten drei Metern – vorausgesetzt, es gelang dem Häftling, die um die Uhr eingeschaltete elektronische Überwachung zu unterlaufen, um überhaupt mit dem Graben anzufangen. Deshalb war diese Methode für fast jeden zu fast jeder Zeit undurchführbar. Dennoch gaben viele Häftlinge die Hoffnung nicht auf – wie auch Esposito und La Croy die Hoffnung nicht aufgaben. Und sie versuchten es sogar, und dazu waren auch Esposito und La Croy bereit. Es gibt kein perfektes System, und wenn es jemanden gab, der das Sicherheitssystem des Nathanael-Greene-Instituts knacken konnte, dann war es Häftling 838-10647 HARVEY John T. Es gelang ihm nicht, das Puzzlespiel zur Zufriedenheit der Wachen zusammenzusetzen, aber nachdem er es zwei Stunden lang versucht hatte, nachdem er einige Scherben noch ein paarmal mit dem Fuß zerstampft hatte und es klar war, daß die Scheibe nicht mehr zusammenzusetzen war, entschlossen sich die Wachen, alle Stücke, die sie noch finden konnten, aufzusammeln und Esposito und La Croy abzuführen. Sie hatten keinen Grund, den Häftling Harvey zu schikanieren,
aber das hielt sie nicht davon ab, ihm zu drohen. Aber als das Zeichen zum Lunch ertönte, ließen sie ihn gehen. Der Weg von der Bibliothek zu seiner Zelle führte über drei Treppen und sechs lange Korridore, und Harvey ging ihn ganz allein. Wie alle anderen Gefangenen auch, denn, ganz gleich, wo sie sich aufhielten und was sie taten, ein lückenloses Überwachungssystem registrierte sie an jedem Kontrollpunkt. Dort hoben sie das Bein und ihre am Fußknöchel angebrachte Identifikationsmarke wurde von einer optischen Sonde erfaßt. Diese Sonde stellte anhand der Stimme, des Gesichts, der Figur und manchmal sogar des Geruchs die Identität fest. Dann befragte sie den Zentralcomputer, ob der betreffende Häftling sich aufhalten durfte, wo er sich aufhielt, und wenn alles in Ordnung war, ging der Mann weiter. Der ganze Prozeß beanspruchte nicht mehr Zeit, als man zum Öffnen einer normalen Tür benötigt, und niemand hielt sich gern lange auf, denn dort stand man die ganze Zeit unter allerstrengster Kontrolle. Häftling Harvey in seinem sauberen Bibliothekarshemd, ein Buch unter den Arm geklemmt, nickte Bekannten zu, die denselben Korridor entlanghasteten, und machte ein paar Bemerkungen über den Methangestank, der das ganze Gefängnis durchzog. Er erreichte seine Zelle in knapp fünf Minuten. Sein Zellengenosse war ein Mann namens Angelo Muzzi, der schon auf Harvey wartete. »Gib her«, sagte Muzzi und streckte die Hand nach dem Buch aus, das Harvey mitgebracht hatte: Der Gottkaiser des Dünenplaneten. Vorsichtig betrat Harvey die Zelle – bei Muzzi mußte man aufpassen. »Du versaust den ganzen Plan«, sagte er. »Du brauchst das Ding doch gar nicht.« Aber er gab ihm das Buch und schaute zu, als Muzzi die Seiten aufblätterte, zwischen denen die Glasscherbe lag.
»Die ist ja viel zu kurz, du Arschloch«, knurrte Muzzi. Er war nicht sonderlich wütend. Er redete immer so. Er riß ein paar Seiten aus dem Buch, faltete sie zusammen und wickelte sie um das dicke Ende der Glasscherbe. Als er sie hob, als wollte er zustechen, ragte ein etwa acht Zentimeter langes rasiermesserscharfes Stilett aus seiner Faust – scharf, tödlich und für die Metalldetektoren der Anstalt nicht auffindbar. »Viel zu kurz«, wiederholte er wütend, aber seine Augen glänzten vor Freude, falls Muzzi überhaupt Freude empfinden konnte. »Besser ging’s nicht«, sagte Harvey. Er machte sich nicht die Mühe, dem andern zu erzählen, wie lange er über den Fragmenten gesessen und so getan hatte, als versuchte er, die komplette Scheibe zu rekonstruieren; das würde Muzzi nicht interessieren. Aber er sagte etwas anderes: »Die Kerle wollten mir vierundzwanzig Stunden verpassen.« Das würde Muzzi schon eher interessieren. Und so war es auch. »Idiot! Und jetzt kann der Junge dich nicht besuchen, was?« Jetzt lag ein drohender Unterton in Muzzis Stimme, und rasch wehrte Harvey ab. »Doch, der kommt doch erst am Donnerstag. Ich hab dir doch gesagt, daß es nicht besser ging.« »Hast du gesagt. Und jetzt halt’s Maul.« Harvey wartete nicht, um zu sehen, wo Muzzi die Waffe verstecken würde. Er wollte es nicht wissen. Glücklicherweise aßen er und Muzzi nicht in derselben Schicht. Harvey ging, ohne sich umzuschauen. Muzzi brauchte die Scherbe überhaupt nicht. Im ersten Stadium war sie völlig nutzlos. Wenn sie nicht mehr nutzlos war, würde sie überflüssig sein. Aber mit Muzzi stritt man sich nicht. Schon gar nicht, wenn er einem befahl, eine Glasscherbe zu stehlen. Auch nicht, wenn er noch mehr Leute in den Plan einweihte und ihnen befahl, die Scheibe zu zerbrechen, um die
Scherbe zu bekommen. Unter gar keinen Umständen. Das lag nicht nur daran, daß Muzzis Beziehungen das ganze Projekt überhaupt erst ermöglichten, es lag an dem Mann selbst. »Mann« war das falsche Wort. Muzzi war ein reißendes Tier. Das Dienstags-Lunch war immer gleich: matschige Sandwiches, Salat aus den Gärten oder den Treibhäusern und Milch. Oder was man so »Milch« nannte; sie hatte nie eine Kuh gesehen, denn sie bestand aus Fett und einem Weißfärbemittel. Schlimmer wurde alles noch dadurch, daß der Methangestank von den Arbeiten an den neuen Klärgruben mittlerweile durch den Boden in die Zellentrakte selbst eingedrungen war. Harvey beteiligte sich nicht am Klagegeschrei und an den Mißfallenspfiffen; er ließ auch nicht aus Versehen die klebrige Soße aus den Sandwiches auf den Fußboden fließen, und er ließ auch keine Fleischbrocken fallen, um sie unter den Füßen breitzutreten. Er tat nichts von dem, womit die anderen ihr Mißfallen äußerten. Das letzte, was er jetzt brauchen könnte, wären verschärfte Haftbedingungen, selbst für lächerliche vierundzwanzig Stunden. Dennoch litt er bei jedem Bissen. Häftling Harvey war Besseres gewöhnt. Das Vorstrafenregister des Häftlings 838-10647 HARVEY John T. reichte dreißig Jahre zurück; zurück in die Zeit, als er noch ein schmächtiger, aber gescheiter Junger war. Er hatte nie die Absicht gehabt, in Gewaltverbrechen hineinzugeraten. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er Telefone geknackt, ganz wie der fast legendäre Captain Crunch. Als die Bell Telephone Company so wütend wurde, daß der Captain in den Knast mußte, hatte der junge Johnny Harvey begriffen. Auf seinem blauen Kasten umsonst den Papst anzurufen, lohnte sich nicht, und er schaute sich nach ungefährlicheren Vergnügungen um. Er fand sie in geschützten Computerprogrammen. John Harvey knackte jeden Code. Ganz gleich, wie viele Sicherheiten Apple
in seine Software einbaute, innerhalb einer Woche gelang es Harvey, sie zu umgehen. Er stellte Kopien her und gab sie wie Popcorn an seine Freunde weiter, bevor die Firma merkte, daß sie gelinkt worden war. Die Leute von Apple waren zuletzt so verzweifelt, daß sie ihm einen Job anboten – er sollte ihre Programme nicht mehr knacken, er sollte sie selbst schreiben – aber das wurde langweilig. Auch Programme zu klauen wurde langweilig. Eine Zeitlang arbeitete Harvey dann für die Stadt, hauptsächlich an Programmen für die elektronische Stimmabgabe und für die Allgemeine Stadtversammlung, aber auch das war auf längere Sicht ziemlich langweilig, bis er jemanden kennenlernte, der viel mehr kriminelle Energie besaß, als Harvey je gehabt hatte, und der genau erkannte, welche Schätze der junge Mann erschließen könnte. Er erschloß sechs bedeutende Schätze. Zwei waren größere Auszahlungen von Lebensversicherungen auf Policen, die nie existiert, und Versicherte, die nie gelebt hatten. Drei waren Verkäufe von Aktien, die Harvey nie gehört hatten. Sie existierten nur im Datenbestand des Computers einer Maklerfirma, den Harvey gefälscht hatte. Einer war eine Barüberweisung von einer Bankfiliale an eine andere. Dabei handelte es sich um eine Bank, die glaubte, ihr Sicherheitssystem könne unter gar keinen Umständen unterlaufen werden. Als die Bank merkte, wie sehr sie sich geirrt hatte, baute sie eine Falle auf. Als Harvey das nächste Mal eine viertel Million Dollar abheben wollte, die ihm nicht gehörten, kratzte sich die Kassiererin mit der genau richtigen Handbewegung an der Nase, und zwei Beamte in Zivil führten Johnny Harvey ab. Da es ein Wirtschaftsverbrechen war und sowieso niemand Banken liebt, verzichtete der Staatsanwalt auf ein Geschworenengericht und bewertete es als strafmildernd, daß Harvey geständig war. Niemand war wirklich wütend. Er
wurde für achtzehn Monate aus dem Verkehr gezogen. Aber er wurde nach Attica geschickt, der besten Ausbildungsstätte der Welt für jede Art von Verbrechen. Anschließend fand Harvey keinen Job, und die Programme waren nicht mehr so leicht zu knacken. Im großen und ganzen konnte er das im Knast Gelernte am leichtesten mit einer Kanone durchsetzen. Und als das schiefging und er wieder eingesperrt und später entlassen wurde, hatte sich die Lage nicht gebessert. Er versuchte noch einmal dasselbe. Diesmal ging es sehr schief, und als er versucht hatte, sich den Weg freizuschießen, blieben drei Tote liegen. Eines der Opfer war ein Polizist. Eines war eine schwangere Kundin. Das dritte war ihr dreijähriges Kind. Nun, der großmütige Staat New York ließ über einen Totschlag oder zwei mit sich reden, aber diesmal nannten sie ihn schon in den Sechs-Uhr-Nachrichten einen »tollwütigen Hund«, und in der öffentlichen Meinung war er schon überführt, bevor der erste Geschworene bestimmt war. Er wurde zu dreimal fünfundzwanzig Jahren bis lebenslänglich verurteilt. Wenn er sich als mustergültiger Häftling aufführte, konnte er hoffen, zwei Monate nach seinem hundertneunten Geburtstag entlassen zu werden. Damit gab er sich nicht zufrieden. Deshalb besann Johnny Harvey sich auf seine Fähigkeiten. Er verstand sich noch immer sehr gut auf Computer, und Nathanael Greene war ein computerkontrolliertes Gefängnis. Der Zentralcomputer wußte immer, wo jeder Insasse war und ob er dort sein durfte, denn an jeder Tür, jeder Treppe und jeder Zelle gab es einen Kontrollpunkt. Mit Hilfe der am Fußknöchel angebrachten Identifikationsmarke wurde jede Bewegung jedes einzelnen Häftlings genau registriert, und zwar überall und während seiner gesamten Haftzeit. Auch damit gab Harvey sich nicht zufrieden, aber dann traten zwei Ereignisse ein, die die Situation veränderten. Das erste
begann damit, daß No Meat, sein erster Zellengenosse, die Hand in den Mikrowellenherd steckte. Eigentlich war es Harveys Schuld. Er hatte No Meat erklärt, wie man die Sicherheitsverriegelung des Geräts ausschalten konnte. Allerdings hätte er nicht gedacht, daß No Meat seinen Protest gegen die Gefängnisverpflegung so weit treiben würde. Das erfuhr Harvey erst, als No Meat am Abend nicht zur Einschließung erschien und ein Wärter ihm erzählte, was vorgefallen war. Inzwischen war No Meat schon auf dem Weg in eine Anstalt ganz anderer Art, und am nächsten Tag bekam Harvey einen neuen Zellengenossen. Der Mann hieß Muzzi und machte keinen vielversprechenden Eindruck. Er war untersetzt und ständig mißmutig. Er betrat die Zelle, als kehrte er zu seinem Sommersitz zurück und sei mit der Arbeit des Hauspersonals nicht zufrieden. Sofort ernannte er Harvey zum Hausbesorger. Die ersten Worte, die er an ihn richtete, waren: »Du bist zu alt. Ich bumse keinen über zweiundzwanzig.« Was Harvey an dem Mann besonders auffiel – mehr noch als seine Gewalttätigkeit und seine paranoide Brutalität –, war sein Geruch: er roch wie eine mit teurem Herrenparfüm übersprühte Katzentoilette. Als Muzzi ihm erzählt hatte, wer er war und wie Harvey sich zu verhalten habe, begriff Harvey, daß der Mann über ausgezeichnete Beziehungen verfügte. Muzzi verzichtete auf eine Vorzugsbehandlung, die er hätte haben können, wenn er mit seiner Aussage nicht so zurückhaltend gewesen wäre. Statt dessen saß er ganz einfach seine Zeit ab. Deshalb mußte jemand ihm verpflichtet sein; einer von den Großen. Das zweite Ereignis war der Beginn der Ausschachtungen für die Methanerzeuger von Bed-Stuy, die kaum zehn Meter von der Gefängnismauer entfernt stattfanden.
Am Donnerstagmorgen ging Häftling 838-10647 HARVEY John T. wie alle anderen Häftlinge aus seinem Zellentrakt nach dem Frühstück zum Morgenappell in seine Zelle zurück. Das Bettzeug wurde auseinandergerissen, die Matratze auf den Boden geworfen. Die Insassen standen dabei an der Tür. Wie immer kamen die Wärter zu dritt. Gewöhnlich schauten sie nur kurz in jede Zelle. Manchmal machten sie Stichproben und suchten gründlicher: Leibesvisitation, jemand fuhr mit einem tragbaren Metalldetektor über die Matratze; manchmal brachten sie die Matratze sogar ins Labor und ersetzten sie durch eine neue, besser durch eine noch ältere, noch fleckigere und noch übelriechendere von der Palette, die ein Kalfakter hinter ihnen herzog. Harvey und Muzzi standen ungerührt vor ihrer Zelle, als die Wärter vorbeigingen. Diesmal interessierte die Überprüfung sie nicht; aber vom anderen Ende des Trakts hörte Harvey Fluchen und Jammern. Bei irgendwem, möglicherweise bei dem jungen Schwarzen, der gerade eingeliefert worden war, hatten sie verbotene Sachen gefunden. Dann geschah ein paar Minuten lang nichts, bis es aus den Lautsprechern dröhnte: »An alle Insassen, begeben Sie sich sofort an Ihren Arbeitsplatz.« Muzzi arbeitete in der Bäckerei. Harveys Bibliothek lag in der entgegengesetzten Richtung. Sie verabschiedeten sich nicht voneinander. Sie sagten überhaupt nichts. Harvey war nicht überrascht, als es gegen Ende der Vormittagsschicht trotz der Schilder, die RUHE geboten, aus dem Lautsprecher gellte: »Sechs Vier Sieben Harvey! Melden Sie sich im Besuchertrakt!« Muzzi mit seinen guten Beziehungen hatte diese Beziehungen gut genutzt. Er hatte ein Empfangskomitee bestellt, das außerhalb des Gefängnisses auf sie warten würde. Er hatte ein paar Assistenten besorgt, die den
Plastiksprengstoff herstellten und beim Graben halfen – und natürlich Harvey, der ihm die Glasscherbe besorgt hatte. Für Harvey hatte er sogar einen »Sohn« aufgetrieben, der als Kurier diente, und dieser Sohn war gar nicht schlecht. Der Junge war nicht viel anders als Harvey im gleichen Alter gewesen war – von der Hautfarbe abgesehen. Abgesehen auch vom familiären Hintergrund, denn hier stand Short Hills gegen Bed-Stuy, und ganz gewiß abgesehen von den Eltern – in Harveys Fall zwei College-Dozenten, in Marcus’ eine ehemalige Nutte und ihr Zuhälter. Um ehrlich zu sein, eine Ähnlichkeit war kaum zu erkennen, außer daß der junge Marcus de Harcourt die Welt und alles in ihr mit der gleichen unersättlichen Neugier betrachtete, wie es der junge Johnny Harvey getan hatte. Als Marcus kam, paßte es also genau ins Bild, daß er sofort hervorsprudelte: »Ich hab das Modell von Bed-Stuy gesehen, Dad! Oh, Junge! Da sind aber interessante Sachen – da sind Windmühlen, die das warme und das kalte Wasser pumpen sollen, und sie haben eine Maschine, die das Abwasser zu Gas verarbeitet, sie haben Solarzellen und ein Eisbassin…« »Was gefällt dir denn am besten?« fragte Harvey, und prompt kam die Antwort: »Die Windmühlen!« Und das war der eigentliche Sinn des Besuchs, der Rest war nur Mache. Da Harvey den Drang des Künstlers nach Perfektion hatte, dehnte er das Gespräch über die volle halbe Stunde aus. Er fragte Marcus über seine Schule aus, über seine Mutter, seinen Vetter Will, seine Tante Flo und ein halbes Dutzend weitere erfundene Verwandte. Der Junge dachte sich rasch geeignete Antworten aus, denn auch ihm machte das Spiel offensichtlich Spaß. Als die Besuchszeit abgelaufen war, beugte sich Harvey über den Tisch und umarmte ihn, und natürlich reagierte die
Wärterin. »Verdammt, Harvey«, seufzte sie – aber es klang nicht unfreundlich, denn sie wollte den Mann nicht vor seinem Sohn bloßstellen. »Sie wissen doch, daß das nicht geht. Jetzt müssen wir euch beide filzen.« »Völlig in Ordnung«, sagte Harvey großzügig. Und es war in Ordnung. Er hatte nichts bei sich, was er nicht bei sich haben durfte, und auch der Junge nicht. Nicht mehr.
Eine Ausrede, er müsse während der Nachmittagsschicht den Fußboden um das Modell herum reinigen, ein Vorwand, um nach dem Abendessen noch einmal in die Bibliothek gehen zu können – das alles ging Harvey glatt von der Zunge, wenn er dabei auch ins Schwitzen kam. Denn jetzt hatte er etwas Verbotenes bei sich; wenn er jetzt in eine Routinekontrolle geriet und man den eingeschmuggelten Gegenstand fand… Aber das geschah nicht. Vor der Einschließung am Abend hatte Harvey seinen Teil geleistet. Der Chip steckte im Computer der Bibliothek. Der Chip, den Marcus eingeschmuggelt hatte, war eigentlich kein Chip. Er war eine flach ausgearbeitete Sperre aus Galliumarsen mit einer Füllung aus Silizium und Beryllium. Als Harvey das Teil aus seinem Versteck unter den Windmühlen des Modells hervorgeholt hatte, bedurfte es nur noch einiger einfacher Befehle – »Ich überprüfe das Gerät nur«, grinste er in der Bibliothek den Beamten von der Nachtschicht an – und der Chip hatte für den Zentralcomputer eine ganze Serie von Anweisungen neu definiert. Wieder in seiner Zelle angekommen, legte Harvey sich auf seine Pritsche und starrte vergnügt die Decke an. Sogar Muzzi lächelte, soweit es ihm überhaupt möglich war. Sie waren bereit. Esposito hatte schon die Vaseline und die anderen Chemikalien zur Herstellung des Sprengstoffs gestohlen. La
Croy hatte die Werkzeuge besorgt, die sie brauchten, um für den Sprengstoff ein Loch in die Wand zu stemmen: Hämmer, Schaufeln und ein Stemmeisen. Und der Chip steckte im Computer. Er funktionierte perfekt, ganz wie Harvey es geplant hatte, und das bedeutete, daß er in diesem Augenblick überhaupt nichts tat. Wenn die Häftlinge einen Kontrollpunkt passierten, wurde anhand ihrer Identifikationsmarke ihre Anwesenheit an eben diesem Kontrollpunkt registriert. Der Zentralcomputer wußte, welcher Häftling sich wann wo aufhalten durfte, und verglich die Angaben mit seinen Daten. In den siebeneinhalb Stunden, nachdem Harvey seinen Job erledigt hatte, stellte der Computer bei etwa einem Dutzend Häftlingen Unregelmäßigkeiten fest. Die Sektorengitter schlossen automatisch, bis ein Wärter erschien, um die Angelegenheit zu prüfen. Drei von den Häftlingen standen unter dem Einfluß von Drogen. Einer war ein unverbesserlicher Unruhestifter, der sich in einer so schönen Anstalt wie dem Nathanael Greene eigentlich gar nicht aufhalten durfte. Die andern hatten alle eine plausible Erklärung. Keiner von ihnen war Häftling 83810647 HARVEY John T. Er und seine drei Komplizen hatten keinen Alarm ausgelöst, und das würde ihnen auch nie wieder passieren. Der Computer registrierte ihren jeweiligen Aufenthalt. Wenn die Informationen an den Zentralcomputer gingen, verwies dieser auf besondere Instruktionen, nach denen sich die Häftlinge Harvey, Muzzi, Esposito und La Croy zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort aufhalten durften. Wenn der Computer einen von ihnen in seiner Zelle suchte und seine Abwesenheit registrierte, gab der Zentralcomputer die Anweisung, diese Abwesenheit als Anwesenheit zu behandeln. Der Computer stellte das nicht in Zweifel. Auch die Wärter nicht. Es war eigentlich nicht die Aufgabe der Wärter, irgend etwas zu bewachen. Sie hatten lediglich dafür zu sorgen, daß
die Befehle des Computers ausgeführt wurden – und hin und wieder mußten sie sich vergewissern, daß keiner der Häftlinge aus Dummheit oder absichtlich durch unsachgemäßen Gebrauch der Identifikationsmarken die optischen Sonden blockierte, was automatisch dazu geführt hätte, daß jeder, wo er sich gerade befand, eingeschlossen wurde. Die Wärter stellten keine Fragen, denn genau wie jede Bank und jede Maklerfirma waren sie von der Unfehlbarkeit des Computers überzeugt. Bald sollte Harvey sie eines besseren belehren. Am nächsten Morgen um fünf Uhr gingen sie alle vier zu einer Zelle im Ostflügel des Nathanael Greene. Dieser Trakt war für die Zeit der Ausschachtungsarbeiten an der Fäkaliengrube für Bed-Stuy evakuiert worden. »Fangt an, ihr Schwachköpfe«, befahl Muzzi und leckte sich die Lippen, während Esposito das Stemmeisen hielt und La Croy den Hammer bereithielt. »Ich bin in zehn Minuten wieder zurück.« Er streichelte die mit Papier umwickelte Glasscherbe, und Harvey hatte ein ungutes Gefühl. »Ich muß noch mit einem Wärter abrechnen«, sagte Muzzi und verschwand. »Scheiße«, sagte Harvey und seufzte. Dann nickte er La Croy zu, der sofort den Hammer schwang. Da sonst niemand sich in diesem Flügel aufhielt, hörte es auch niemand. Nur das Geophon, das die Information an den Zentralcomputer weiterleitete, worauf derselbe Chip es informierte, daß die Geräusche von den Ausschachtungsarbeiten an der Fäkaliengrube herrührten. Fünf Minuten später hörte das Geophon auch in dem gebohrten Loch den Plastiksprengstoff explodieren, meldete es dem Zentralcomputer und erhielt dieselbe Antwort. Dann hatten sie die Wand durchbrochen. Nun brauchten sie sich nur noch etwa zwölf Meter weit durch die Erde zu wühlen. Sie hatten gerade angefangen, als Muzzi taumelnd auf sie zukam. Er hielt sich
das Gesicht, und sein Unterkiefer sah merkwürdig aus. »Der verdammte Hund hat mich verletzt«, stöhnte er. »Jetzt grabt das verdammte Loch!« Sie schaufelten verbissen. Hin und wieder nervenaufreibendes Hämmern, wenn sie auf Fels stießen, und die ganze Zeit hielt Muzzi sich den gebrochenen Unterkiefer und jammerte: die Scherbe war zu kurz gewesen und abgebrochen, und der verdammte Wärter hatte sich gewehrt. Muzzi hatte das verdammte Schwein erdrosseln müssen, um ihm eine Lektion zu erteilen. Nie wieder würde er Muzzi schikanieren – Harvey geriet in Panik; der ganze ausgeklügelte Plan ging aus den Fugen, weil dieser Wahnsinnige dazugehörte… Sie schafften den Durchbruch in die ausgeschachtete Grube und betraten eine schmale Bohle, und unter ihnen lag eine vier Stockwerke hohe offene Stahlkonstruktion. Sie erreichen eine Leiter und stiegen weitere fünf Stockwerke nach oben bis zur Erdoberfläche. Sie sahen Gebäude, sie sahen Straßen, und sie sahen den Morgenhimmel, der allmählich heller wurde. Es hatte geklappt, es hatte tatsächlich geklappt! Sie sahen auch den schwarzen Wagen, der genau da wartete, wo er warten sollte, und der Kleidung, Waffen und Geld für sie mitgebracht hatte. Und dann ging wieder alles schief – mein Gott, stöhnte Harvey, wie schrecklich – denn ein Sicherheitsposten an der Baustelle, der keinen Computer hatte, der ihm sagte, was er tun sollte, sah die vier Männer aus der Grube steigen und versuchte, sie aufzuhalten. Das ging sehr schlecht für ihn aus, aber die Schüsse lösten den Alarm aus, und der Lärm und die Aufregung waren für den Mann in dem schwarzen Wagen zuviel. Der Wagen rollte davon und fuhr um die Ecke, und da standen sie nun, Esposito tot und Muzzi mit einer Kugel im Arsch. Sie hatten zwar das
Gefängnis verlassen und waren frei – aber sie waren allein in einer Welt, die voll Haß gegen sie war.
V
Marcus kam viel zu früh in Mr. Feigermans Büroetage im neunundzwanzigsten Stockwerk an, und das würde Mr. Feigerman nicht gefallen. Er war nicht deshalb so früh gekommen, weil der Auftrag, den er ausführen mußte, nicht hätte warten können. Nein, seine Füße waren so schnell gelaufen, obwohl sein Verstand ihn ermahnt hatte, sich nicht so sehr zu beeilen. Seine Füße hatten gewußt, was sie taten. Sie hatten Angst. Der ganze Marcus Garvey de Harcourt hatte Angst. Es war schlimm, aus der Schule nach Hause geholt zu werden, weil der Vater verletzt worden war. Aber es war noch schlimmer, ihn auf einer Trage liegen zu sehen, während ein Pfleger sich um ihn kümmerte und zwei Polizisten ihn wütend und unter Drohgebärden verhörten. Marcus stellte fest, daß der Laden ausgeraubt worden war. Die Räuber waren keine gewöhnlichen Räuber gewesen, sondern aus dem Nathanael Greene geflohene Sträflinge. Sie hatten den Laden überfallen, seinen Vater zusammengeschlagen und alles Geld gestohlen. Dann waren sie in einem Lieferwagen mit Jersey-Kennzeichen weggefahren, den sie sich mit Gewalt angeeignet hatten. Das alles hatte Marcus eigentlich nicht geängstigt. Es waren die normalen Gefahren des Dschungels, und der Überfall kam nur deshalb überraschend, weil bekannt war, daß sein Vater unter dem Schutz eines der Großen stand. Es kam Marcus nicht in den Sinn, daß das Ganze eine einzige große Lüge war, bis sein Vater sich von den Polizisten abwandte, um ihm etwas zuzuflüstern. »Um die Ecke«, flüsterte er. »Mr. Gambiage. Tu, was er sagt.« Es war ernst – so ernst, daß Dandy de Harcourt
es nicht für nötig hielt, Marcus mit der Katze zu drohen. Er wußte, daß der Junge begriff, daß die Strafe viel schlimmer ausfallen würde, wenn er versagte. In diesem Augenblick kam in Marcus Angst auf, und noch mehr Angst hatte er, als Mr. Gambiage ihn in seinen Wagen zerrte und ihm sagte, was er tun sollte. Zusammen mit den Anweisungen nahm er einen Rucksack entgegen und trabte davon, und wenn der mutige Junge sich nicht vor Angst die Hosen naßmachte, dann nur, weil er vor Angst nicht einmal pinkeln konnte. Gambiage hatte ihm gesagt, daß ein Demonstrationszug organisiert worden sei. Um ihn herum begann sich dieser Zug schon zu formieren. Zu dritt und zu viert eilten die Leute zum Bed-Stuy-Projekt hinüber. Einige trugen Transparente, andere hockten auf dem Bürgersteig und beschrifteten neue. Er kam nur langsam vorwärts, aber nicht langsam genug; er erreichte das Gebäude der Williamsburgh Bank schon neunzig Minuten vor der festgesetzten Zeit, und das war wirklich zu früh. Das beste wäre es, die Toilette aufzusuchen, seine Gedanken zu sammeln, sich zu beruhigen und inzwischen die Zeit verstreichen zu lassen. Aber ein Mann vom Sicherheitspersonal stellte sich in der Toilette hinter ihn. »Was hast du in dem Rucksack, Junge?« fragte der Mann ohne jede Schärfe. Marcus ließ sich mit der Antwort Zeit. Gut, daß er endlich groß genug war, die Pinkelbecken für Männer zu benutzen, denn für Kinder gab es hier keine. Er urinierte in aller Ruhe, und als er fertig war und den Reißverschluß wieder hochgezogen hatte, drehte er sich um und sagte: »Ich bin Mr. de Rintelen Feigermans persönlicher Assistent, und diese Sachen sind für Mr. Feigerman.« Der Mann war nicht sehr groß. Er hatte eine hellere Haut als Marcus, aber einen
Augenblick lang sah er ganz so aus wie Dandy, der gerade zur Katze greifen wollte. Aber dann grinste er. »Ach ja, richtig. Mr. Feigermans Blindenjunge, stimmt’s?« Er wartete keine Antwort ab, sondern griff unter seinen Gürtel und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. »Wenn du jemanden kommen siehst, Junge, mußt du laut husten, verstanden?« befahl er in Dandys Tonfall und verschwand in einer der Kabinen. Gleich darauf roch Marcus Haschisch. Billiger Stoff, sagte er, aber nicht laut, denn es bestand keine Aussicht, daß ein Sicherheitsbeauftragter, der für Mr. Feigerman arbeitete, dessen Schützling einen Joint anbieten würde, ganz gleich, wie dringend dieser Schützling etwas benötigte, was seine Nerven beruhigen konnte.
Im Warteraum der Firma Feigerman & Tisdale Engineering Associates besann sich Marcus auf seine besten Manieren, bevor er den Mann am Empfang ansprach. »Mr. Feigerman erwartet mich«, sagte er. »Ich weiß, daß ich viel zu früh gekommen bin, Sir. Vielleicht darf ich mich einen Augenblick in die Ecke setzen. Sie brauchen Mr. Feigerman nicht zu stören, Sir.« Natürlich gab der Mann alles sofort an Mr. Feigerman weiter, und Marcus wurde fast eine Stunde vor der Zeit zu dem alten Mann eingelassen. Aber nicht in sein großes Büro mit den riesigen nutzlosen Fenstern. Feigerman war unten in seinem Modellraum, wo er sich besonders gern aufhielt. Sofort wandte er sich dem Jungen zu, und der Apparat, den er auf dem Kopf trug, klapperte und klickte. »Ich habe das mit deinem Vater gehört, Marcus«, sagte er besorgt. »Hoffentlich geht es ihm einigermaßen.«
»Er ist ziemlich übel zusammengeschlagen worden, Mr. Feigerman. Sie bringen ihn ins Krankenhaus, aber sie sagen, daß er wieder gesund wird.« »Wie entsetzlich. Diese Tiere. Hoffentlich erwischt die Polizei sie.« »Yes, Sir«, sagte Marcus, aber er machte sich nicht die Mühe, Mr. Feigerman zu erklären, daß wahrscheinlich nicht die entflohenen Sträflinge seinen Vater zusammengeschlagen hatten, sondern eher ein paar von Mr. Gambiages Leuten, damit die Geschichte auch gut aussah. »Entsetzlich«, wiederholte Feigerman. »Und gegen das BedStuy-Projekt wird eine Art von Demonstration veranstaltet, hast du das gesehen? Ich schwöre dir, Marcus«, sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten, »ich weiß nicht, wie Gambiage diese Leute auf die Beine bringt! Sie müssen doch wissen, wer er ist. Und sie müssen auch wissen, daß das Projekt ihnen nur Nutzen bringt, oder etwa nicht?« »Natürlich wissen sie das«, sagte Marcus, und wieder verschwieg er etwas Offensichtliches: Das Projekt mochte ihnen Nutzen bringen, aber nicht annähernd so viel Nutzen oder Schaden, wie Gambiage ihnen bringen konnte. »Wollen wir uns die Sache ansehen?« »O ja«, sagte Feigerman ohne rechte Begeisterung. Marcus merkte, daß der alte Mann einen schlechten Tag hatte, und wenn seine quälende Angst nicht gewesen wäre, hätte er ihn bedauert. Feigerman strich über das eins-zu-sechzehn-Modell eines der Windrotoren, und seine Miene hellte sich auf. »Du bist lange nicht mehr hier unten gewesen, Marcus. Möchtest du dich ein wenig umschauen?« Wenn es nach Marcus gegangen wäre, hätte er diesem Vorschlag gern zugestimmt, denn das Schönste an der Arbeit für Feigerman war es, die wirklich funktionsfähigen Modelle der Windmühlen zu betrachten, die Thermalwasserbassins, die
photoelektrische Anlage, die Strom erzeugte, wenn sie mit Licht bestrahlt wurde – eigentlich war alles interessant. Und heute sah er etwas Neues: eine Konstruktion aus Glasrohren, in denen unten Frigen verdampfte, durch eine Wassersäule nach oben stieg und dabei das Wasser mit sich zog. Von dort floß das Wasser durch ein anderes Rohr und wieder nach unten, wobei es eine Turbine antrieb, die weitere Energie erzeugte. Feigermans Sonaraugen konnten ihm nicht sagen, was ein anderer dachte, aber er sah, was Marcus gerade betrachtete. »Dies ist eine raffinierte Anlage«, sagte er stolz. »Sie benutzt das warme Wasser unter der Erde, um diese Flüssigkeit den ganzen Winter lang zirkulieren zu lassen. Sie bringt unten eine andere Flüssigkeit zum Kochen, die sich oben wieder verdichtet – was ist denn los?« fragte er besorgt, als er sah, daß Marcus den Kopf schüttelte. »Es ist nur wegen Dandy«, erklärte Marcus. »Bevor sie ihn wegbrachten, hat er gesagt, ich soll ein paar Zigaretten wegbringen – es sind gute Kunden, sie wohnen unten beim Kraftwerk…« Feigerman war enttäuscht, dann verärgert. »Verdammt, Junge, was redest du da? Zigaretten gibt es doch nicht in Blechdosen.« Zur Hölle mit dem Alten! Manchmal vergaß man, daß er die Dinge anders sah. Selbst in einen Rucksack gepackt mußte Metall ein auffälliges Echo zurückwerfen. »Natürlich nicht, Mr. Feigerman«, improvisierte Marcus. »Aber ich habe auch noch zwei Behälter mit Kaffee. Und Dandy sagt, er holt die Katze, wenn der Kaffee kalt ankommt.« »Oh, verdammt«, sagte Feigerman. Den Gesichtsausdruck anderer Leute konnte er schlecht erkennen, und vielleicht war das der Grund, warum sich auch in seinem eigenen Gesicht selten eine Regung zeigte. Aber jetzt war ihm seine Enttäuschung deutlich anzusehen. »Ich will nicht, daß du mit
deinem Vater Ärger bekommst, Marcus, schon gar nicht jetzt, wo diese Kerle ihn zusammengeschlagen haben.« Dann wandte er sich an den Modellbauer, der schweigend am anderen Ende des Raumes stand. »Sam!« sagte er. »Bestellen Sie bitte meinen Wagen.« Aber als sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren, schwieg er und war offensichtlich deprimiert. Marcus ging es nicht anders. Er war nicht nur deprimiert, er hatte Angst, denn ihm wurde klar, daß irgend jemand früher oder später seine Besuche im Gefängnis mit der Tatsache in Verbindung bringen würde, daß die entflohenen Häftlinge den Laden seines Vaters überfallen hatten… und sehr wahrscheinlich war dies der letzte Tag, den er mit Mr. Feigerman verbringen würde. Julius wartete schon mit dem Wagen auf sie. Er parkte vorschriftswidrig direkt vor dem Haupteingang, denn es hatte angefangen zu regnen. Mr. Feigermans Apparatur klickte und piepte, und er bewegte unruhig den Kopf, aber durch die Fenster der Limousine konnte das Sonargerät nichts registrieren. »Draußen sind eine Menge Leute«, sagte Marcus, der dem alten Mann helfen wollte, ohne ihn gleichzeitig aufzuregen. »Das höre ich, verdammt nochmal! Was machen sie?« Sie schrien und sangen, und es waren viel mehr Leute, als Marcus erwartet hatte. Der alte Feigerman war nicht zufrieden. Er mochte blind sein, aber sein Gleichgewichtssinn funktionierte; er spürte, wie der Fahrer beschleunigte und abbremste und merkte, daß der Mann Mühe hatte, durch die Menge hindurchzufahren. »Ist das die Demonstration, die dieser verrückte Gambiage organisiert hat?« wollte er wissen. »Wahrscheinlich, Mr. Feigerman«, sagte Marcus. »Viele von den Leuten tragen Transparente.« »Lies mir vor, was draufsteht, verdammt!« Gehorsam las Marcus die Aufschriften vor: Bed-Stuy soll selbst entscheiden! hieß es da und Salvemos nostras casas! und
Arbeitsplätze, keine Theorien! Zwei oder drei Aufschriften spielten auf Mr. Feigerman selbst an, aber die las Marcus nicht laut vor. Das brauchte er auch gar nicht. Als sie im Kriechtempo einen Block nach dem anderen passierten, wurde das Geschrei lauter und persönlicher. »Hören Sie zu, Feigerman«, brüllte ein Mann und beugte sich dabei über die Motorhaube, »Bed-Stuy ist unser Zuhause – lassen Sie die Finger davon!« Und der alte Feigerman sah noch älter als gewöhnlich aus. Er ließ sich in die Polster zurücksinken und kaute an seinem Daumen. Der Regen schien die Leute nicht zu stören, die sich in den Straßen drängten. Es waren Dutzende, ja Hunderte von Leuten aus der Nachbarschaft – fünf oder sechs schwankende Betrunkene, die fette und liederliche alte Bloody Bess, sogar zwei junge Geistliche von der Franziskanermission schwenkten ihre durchnäßten Plakate und schrien dabei – Marcus konnte die Aufschriften nicht entziffern, denn sie waren lateinisch abgefaßt. Männer in blauen Arbeitsanzügen hatten sich zusammengerottet, einige von ihnen Bauarbeiter, andere Lastwagenfahrer und technisches Personal. Wieder andere sahen eher wie Bankangestellte oder Verkäufer aus – alle zusammengenommen, waren sie ein überzeugender Beweis für Mr. Gambiages Fähigkeit, in kürzester Zeit eine spontane Demonstration zu organisieren. Und die Leute waren nicht alle friedlich. Weiter vorn, wo die Baumaschinen untätig herumstanden, waren Polizeisirenen und das Zerplatzen von Tränengasgeschossen zu hören. »Es wird ungemütlich«, brüllte Julius und machte ein besorgtes Gesicht. »Sieht aus, als wollten sie die Baumaschinen zerstören!« Mr. Feigerman nickte stumm und mit verzerrtem Gesicht. Marcus sah ihn an und fürchtete, daß der alte Mann dieser Belastung kaum gewachsen sein würde – wenn Marcus selbst
es überhaupt war. Er verrenkte den Kopf, um auf die Uhr am Gebäude der Williamsburgh-Bank zu schauen. Er knirschte mit den Zähnen. Es war schon sehr spät, und sein Auftrag vertrug keinen Aufschub; hier würde er mit einer einfachen Entschuldigung nicht davonkommen. Aber es ging nicht schneller. Ein Polizeifahrzeug mit heulender Sirene hielt neben ihnen an und zerstreute dabei eine Gruppe schreiender Schulmädchen. »Nehmt die Reichen aus und helft den Armen«, riefen sie. »Macht Bed-Stuy zur offenen Tür!« Der Beamte drehte sein Fenster herunter und schrie Julius etwas zu. Dann erkannte er ihn als Kollegen, schaute nach hinten und sah Mr. Feigerman. »Willst du wirklich weiterfahren?« fragte er Julius. Seine Stimme klang wütend – der Streifenpolizist hatte zu Beginn seiner Schicht ein paar verzweifelte entflohene Häftlinge erwartet. Dann war die gute Nachricht gekommen, daß sie wahrscheinlich schon jenseits des Hudson seien, und jetzt sah er sich plötzlich mit einer Demonstration konfrontiert, die sich leicht zu einem gewaltigen Aufstand ausweiten konnte. Julius gab die Frage an eine höhere Autorität weiter. »Was meinen Sie dazu, Mr. Feigerman?« rief er über die Schulter zurück. »Jeden Augenblick könnten ein paar von den Kerlen auf den Gedanken kommen, Autos umzukippen.« Feigerman schüttelte den Kopf. »Ich will sehen, was sie machen«, sagte er, und seine Stimme klang schrill und unglücklich. »Aber du vielleicht nicht, Marcus. Vielleicht solltest du aussteigen und umkehren.« Der Junge zuckte zusammen. »Oh, bitte nein, Mr. Feigerman«, bat er. »Ich muß dies, äh, diesen Kaffee abliefern – und allein unter den vielen Menschen hätte ich Angst! Ich bin bei Ihnen und Julius bestimmt besser aufgehoben!« Das konnte man dahingestellt sein lassen, aber der Polizist hatte den Kopf zu voll, um darüber zu streiten, und Feigerman war
zu unglücklich. Nur Julius schüttelte den Kopf, als er den großen Wagen vorsichtig durch die immer schmaleren Abstände zwischen den schreienden und singenden Gruppen steuerte. Aber als sie die Gleise der Long Island Rail Road überquert hatten, verliefen sich die Menschen ein wenig. »Dort unten«, befahl Marcus und beugte sich vor. Drüben zwischen dem Kraftwerk und der Fäkaliengrube. »Das Zeug ist für die Wachen bei der Ausschachtung…« Julius drehte sich zu Marcus um, aber als Feigerman nicht protestierte, bog er mit dem Wagen gehorsam in einen holprigen Weg ein. Feigerman ächzte, als der Wagen über die Schlaglöcher rumpelte. »Dieser verdammte Gambiage! Ich dachte, er wollte mich kaufen – und warum jetzt dies?« Marcus antwortete nicht, aber er konnte sich denken, daß es etwas mit dem Zeug zu tun hatte, das in seinem Rucksack steckte. »Direkt bei der Wachbaracke«, wies er Julius an, und sie fuhren durch einen Eingang mit einer Maschendrahtpforte. Ein Mann in Uniform kam ihnen entgegen. »Hast du die Sachen für uns, Junge?« fragte er. Dabei kaute er an einem Strohhalm und hielt die Hand am Griff seiner Waffe. »Yes, Sir!« rief Marcus, nahm den Rucksack von den Schultern und drehte das Fenster herunter. Er war heilfroh, seinen Auftrag so friedlich erledigt zu haben. Aber es blieb nicht lange friedlich. Julius starrte den Uniformierten an, und mit wachsender Sorge bemerkte er, daß sich sonst niemand an der Grube befand. Bevor Marcus seinen Rucksack überreichen konnte, schrie Julius: »Dieser Hurensohn! Es ist Jack La Croy – runter mit Ihnen, Mr. Feigerman!« Er griff nach seiner Waffe. Aber nicht schnell genug. La Croy hatte die Hand nicht vom Griff seiner eigenen Waffe genommen. Direkt zwischen Kinn und Adamsapfel traf der Schuß Julius an der Kehle, und wie ein warmer Regen spritzte das Blut Marcus ins Gesicht. Zwei
weitere Männer kamen aus der Baracke heraus. Der eine humpelte und fluchte, der andere, Marcus’ vorgeblicher Vater, wirkte ängstlich, aber sein Gesicht ließ nichts Gutes ahnen. La Croy stieß Julius zur Seite und schob sich hinter das Steuer. Die anderen beiden sprangen hinten in den Wagen, und als der fette und brutale Muzzi nach dem Rucksack mit den Waffen und dem Geld griff, blitzte in seinem Gesicht wilde Freude auf. Mit heulendem Motor und gellender Sirene kam von hinten ein Wagen. Alle schrien durcheinander. Der Killer Muzzi erdrückte Marcus fast mit seinem Gewicht, so daß der Junge nicht sehen konnte, was vor sich ging, aber er merkte, daß der Wagen vorwärtsschoß, abbremste, schleuderte und in eine andere Richtung fuhr. Dann eine Verzögerung und ein Krachen, als sie durch etwas hindurchbrachen. Der Wagen kam zum Stehen, und die Männer sprangen hinaus und schossen auf etwas, das sich hinter ihnen bewegte. Julius wird nie wieder bei der Polizei Dienst tun, dachte Marcus und versuchte, sich das Blut vom Gesicht zu wischen – ob er selbst die nächste Stunde überleben würde, war bestenfalls eine offene Frage.
Schon bevor sie die Wand durchbrochen hatten, war für Johnny Harvey alles ganz entsetzlich schiefgegangen, und seitdem war es immer schlimmer geworden. Nur mit Glück war es ihnen gelungen, den Posten zu erschießen und seine Waffe an sich zu nehmen. Glück war es auch gewesen, daß sie in ihrem Versteck ein Telefon gefunden hatten und daß Muzzi Zeit genug gehabt hatte, die Geheimnummer anzurufen, um den Boß durch Bitten oder Drohungen zu veranlassen, sie hier rauszuholen. Dafür waren komplizierte Arrangements nötig gewesen – die Bereitstellung von Waffen und Geld, ein vorgetäuschter Überfall, um die Bullen in die falsche Richtung
zu schicken, ein rasch organisierter Krawall, um sie in Atem zu halten – aber es hatte alles recht gut funktioniert, und auch das hatten sie nur ihrem Glück zu verdanken, mehr Glück als sie hätten erwarten dürfen. Aber dann hatte das Glück sie verlassen. Als der Junge mit den Kanonen kam, wollte es das Unglück, daß der Fahrer des Wagens ein Polizist war, der gerade Freizeit hatte und der La Croy erkannte. Ein noch größeres Unglück war es, daß direkt hinter ihm ein Polizeifahrzeug stand. La Croy tat das Einzige, was er tun konnte. Sie konnten aus der Straße nur herauskommen, wenn sie zurückfuhren, und an den vielen Polizisten vorbei war das unmöglich. Deshalb raste er mit dem Wagen durch die geschlossene Pforte auf das Gelände des Kraftwerks. Und jetzt waren sie im Kraftwerk. Vier entsetzte Ingenieure lagen im Kontrollraum auf dem Boden, und draußen versammelten sich vierzigtausend New Yorker Polizisten. Der Junge war halb verrückt vor Angst, und der alte Mann lag neben den andern auf dem Boden, verzweifelt und wie gelähmt und mit zerbrochenem Sehgerät. »Wir haben wenigstens Geiseln«, sagte La Croy und streichelte seine Waffe. Muzzi schaute sich im Kontrollraum des Kernkraftwerks um und sagte: »Du Arschloch! Die ganze verdammte Stadt ist unsere Geisel!«
VI
Der Job als Gesellschafterin und Bettschüsselwechslerin bei Mrs. Feigerman war gut bezahlt und wenig anstrengend gewesen, einfach zu schön, als daß sie ihn hätte behalten können. Aber als sie den Job verlor, jammerte Nillie de Harcourt nicht. Sie wandte sich dem nächsten Kapitel ihres Lebens zu: Sie arbeitete als Müllsortiererin. Das bedeutete, daß sie täglich acht Stunden in ihrem blaßgrünen Kittel vor einem Sortiertisch sitzen mußte, wobei sie sich mit den anderen Sortiererinnen unterhielt. Während Magneten Metallteile aus den Abfällen herauszogen, wurde Glas in eine Richtung transportiert, um später nach Farbe sortiert zu werden, organische Stoffe in eine andere. Die Hauptaufgabe bestand darin, gewisse organische Stoffe zu isolieren, damit sie die Abfälle nicht vergifteten, die in Schlamm umgewandelt werden sollten. Die Arbeit war ziemlich leicht und, wenn man sich an den Gestank gewöhnt hatte, nicht einmal besonders unangenehm. Aber auch dieser Job war zu gut, als daß er hätte dauern können, denn alles, was gut war, stellte sich für Gwenna Anderson Vanilla de Harcourt immer als zu gut heraus. Deshalb war sie nicht überrascht, als der Mann sich durch den lärmerfüllten stinkenden Gang zielbewußt auf sie zubewegte. »Kommen Sie mit nach unten, Nillie«, sagte er und zeigte ihr seine Marke. »Wir brauchen Sie.« Sie fragte nicht warum. Sie schaute nur ihre Vorarbeiterin an, die die Achseln zuckte und nickte. Betrübt zog Nillie ihren grünen Kittel aus, faltete ihn zusammen, legte ihn weg und tat, was man ihr gesagt hatte. Er sagte ihr nicht, worum es ging. Das brauchte er auch gar nicht. Es ging um irgendwelchen Ärger, denn um
Ärger ging es immer. Ohne Kommentar folgte sie ihm zu dem wartenden Polizeifahrzeug und stieg ein. Der Fahrer ließ sofort den Motor an und fuhr mit heulender Sirene los. Der Polizist hinten im Wagen schaltete ein Tonbandgerät ein, räusperte sich und sagte: »Diese Befragung wird von Sergeant Marvin Wagman durchgeführt. Heißen Sie Gwenna Anderson?« »So hieß ich, bevor ich de Harcourt heiratete.« »Nach meinen Unterlagen, Mrs. de Harcourt, gab es in Ihrem Fall vierzehn Verhaftungen und sechs Verurteilungen wegen Prostitution, fünf Verhaftungen ohne Verurteilung wegen Ladendiebstahls, zwei Verhaftungen und eine Verurteilung wegen Besitz einer verbotenen Substanz und eine Verhaftung ohne Verurteilung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.« Nillie zuckte die Achseln. »Sie reden von Dingen, die fünfzehn Jahre zurückliegen, Mann.« Wagman sah sie verärgert an, aber Nillie sah auch, daß der Mann eine nervöse Spannung zeigte, die durch das, was er bisher gesagt hatte, nicht gerechtfertigt war. »Richtig«, sagte er sarkastisch, »und jetzt ist es eine Erfolgsgeschichte. Sie haben den Boß geheiratet und sind selbst ins Geschäft eingestiegen. Drogenhandel, Wettschwindel, undurchsichtige Geschäfte.« »Wenn das alles stimmte, würde ich dann als Müllsortiererin arbeiten?« »Die Fragen stelle ich«, wies er sie zurecht, aber er wußte nur zu gut, daß ihre Frage berechtigt war. Nur konnte er sie nicht beantworten; das konnte wohl nur Nillie selbst – und die meisten Leute würden es nicht glauben, wenn man es ihnen erzählte. »Sie haben einen Sohn namens Marcus Garvey de Harcourt?« fuhr er fort. Nillie fuhr hoch. »Mister, ist Marcus etwas passiert?« Der Sergeant war trotz allem ein Mensch; er zögerte einen Augenblick, aber dann sagte er: »Ich darf Ihnen nichts sagen, ich muß nur feststellen, ob Sie wirklich die gesuchte Person
sind. Aber nach meinen letzten Informationen ist Ihr Sohn bei guter Gesundheit.« »Mister?« »Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen. Also, haben Sie jemals für Henry Gambiage gearbeitet?« »Eigentlich nicht. Aber irgendwie haben alle Mädchen für ihn gearbeitet, denn er bekam auf alles seine Prozente. Aber das war, bevor er Gambiage hieß. Was ist mit Marcus?« »Und arbeiteten Sie und Ihr Mann jetzt für ihn?« »Ich nicht!« »Aber Ihr Mann?« beharrte er. »Fragen Sie ihn doch selbst«, sagte sie kurz. »Aber Sie haben mir noch nichts von meinen Rechten erzählt.« »Sie stehen nicht unter Arrest«, sagte er und schaltete das Tonbandgerät aus. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Mrs. de Harcourt«, sagte er. »Stellen Sie also bitte keine weiteren Fragen.« Sie tat es nicht, aber ihre Sorge verwandelte sich in Entsetzen. Ihren Sohn zu erwähnen, war schlimm genug; Gambiage zu erwähnen, war noch viel schlimmer. Aber wenn ein Bulle sie »Mrs.« nannte und das Wort »bitte« benutzte – dann war es Zeit, es mit der Angst zu bekommen. Es war Nillie fast physisch unmöglich, einen Polizisten anzuflehen, aber im Verlauf der Fahrt war sie nahe daran. So nahe wie an jenem Nachmittag, als sie an der Ecke Eighth Avenue und 45th Street von einem Beamten in Zivil festgenommen wurde, den sie angesprochen hatte. Sie war damals fünfzehn Jahre alt und erst vor zwei Tagen auf den Strich geschickt worden. Sie glaubte immer noch, daß sie vielleicht eines Tages wieder zu den Hügeln des östlichen Tennessee zurückkehren würde. Jetzt schaute sie auf die schmutzigen verregneten Straßen hinaus, als der Wagen mit fünfzig Meilen in der Stunde durch den dichten Verkehr
rauschte, und sie wünschte, sie könnte sich übergeben. Marcus! Wenn ihm etwas zugestoßen war… Plötzlich konnte Nillie die dreckigen Straßen vor Tränen kaum noch sehen, und sie fing an zu beten. Wenn Nillie betete, wandte sie sich an keinen Gott. Was sie an Religion empfand, hatte sie während ihres letzten Aufenthalts im Frauengefängnis angenommen – und sie hatte sich geschworen, daß es endgültig der letzte sein sollte. Es war gleich nach den großen gewalttätigen Demonstrationen in New York. Während der ersten Nacht in der Zelle war sie eingeschlafen, und plötzlich hatte eine große kräftige Frau mit einem harten groben Gesicht sie angefaßt. Nillie glaubte automatisch, daß die Frau lesbisch war. Sie hatte sich geirrt. Es war eine Missionarin. Sie hatte sich nur verhaften lassen, um zu den Insassinnen predigen zu können. Ihre Religion nannte sich »Ich, der Tempel« – ich selbst bin ein Tempel, ich selbst bin heilig. In ihrer Kirche spielte es keine Rolle, welchen Gott man anbetete. Man konnte jeden oder gar keinen verehren; aber man mußte sich selbst heilig halten. Man durfte keine Drogen nehmen, und Hurerei und Diebstahl waren verboten; und am wichtigsten war, daß man sich nie zum Komplizen machen durfte, ganz gleich, welche Untaten um einen herum begangen wurden… und gleich nach ihrer Entlassung ging Nillie deshalb zu ihrem Zuhälter, um ihm zu sagen, daß jetzt Schluß sei… Und Dandy war in einem viel schlechteren Zustand als sie. Er hatte keine Mädchen mehr, die er auf die Straße schicken konnte. Er hatte kein Geld mehr. Und seine beiden Kniescheiben waren zertrümmert, weil er den Fehler gemacht hatte, sich auf einen Machtkampf in der Bande einzulassen. Also pflegte sie ihn, und als sie feststellte, daß sie von ihm schwanger war, behielt sie es für sich, bis er wieder im Haus umherhumpeln konnte, und inzwischen war an eine schnelle
und leichte Abtreibung nicht mehr zu denken. Sie war überrascht, daß er sie heiraten wollte. Für einen Zuhälter war Dandy eigentlich kein schlechter Kerl, aber als Zuhälter war er auch verdammt nicht zu gebrauchen. Aber er wünschte sich einen Sohn, und sie freuten sich beide, als sie dann auch einen Sohn bekam. Es war allerdings keine ungetrübte Freude. Der Junge wog schon bei der Geburt wenig, und er bekam jede erdenkliche Krankheit. Bis zu seinem achten Lebensjahr blieb er jedes Jahr sechs Monate lang der Schule fern. Aber das war nicht einmal so schlimm, denn die frommen Damen und die Schwestern in den verschiedenen Hospitälern brachten ihm das Lesen und gute Manieren bei. Inzwischen ist er schon gescheiter als seine Eltern, dachte Nillie… Wenn er überhaupt noch lebte. Sie richtete sich auf und wischte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Sie erkannte jetzt die Straßen, die draußen vorbeiflogen – sie waren in ihrer eigenen Wohngegend, nur zwei Blocks vom Candy Store entfernt. Aber was war geschehen? Die Straßen lagen voller regennasser und schlammbespritzter Plakate, und die Luft roch intensiv nach Tränengas. In der Ferne plärrten Lautsprecher, und sie hörte etwas von Evakuierung und von einem nuklearen Unfall, und immer wieder das Wort Warnung… Der Polizeiwagen näherte sich der Streckenführung der Long Island Rail Road, auf deren Magnetgleisen ein Pendlerzug vorbeiraste, als liefe er vor etwas weg. Als Nillie sah, daß der Wagen zum Kraftwerk fuhr, fand sie, daß es wohl Zeit sei, wegzulaufen, wenn es etwas gab, wohin man laufen konnte. Sie parkten am Ende der Sackgasse, wo Barrikaden und Polizeifahrzeuge die Straße blockierten. Geblendet von den kreisenden blauen und weißen und roten Lichtern, rannten sie die Straße entlang, bis sie gegenüber der Kettenabsperrung vor der Anlage eine Ladenfront erreichten. Hier standen Dutzende
von Polizisten, und nicht nur Polizisten. Sogar der Oberbulle war da, der Polizeipräsident persönlich, und er schrie einem halben Dutzend grauhaariger Beamter mit Goldlitzen an den Mützen Befehle zu. Und sie sah eine Krankenhaustrage, und aus einem Turban weißer Bandagen schauten Augen hervor, die Nillie instinktiv als die ihres Mannes erkannte; und dort stand auch David Tisdale, Mrs. Feigermans mürrischer ältlicher Sohn, der zugleich ängstlich und wütend wirkte. Und außerdem sah sie den Mann mit der blassen Narbe und den zusammengekniffenen Lippen, der sie mit der kalten Nachdenklichkeit eines Schlachters ansah, der im Begriff ist, einem Stier das Bolzenschußgerät anzusetzen, und dieser Mann war Henry Gambiage. Die Lage war nicht nur übel, sie war viel schlimmer, als Nillie für möglich gehalten hätte. Wenn Marc noch lebte – und das war vor ein paar Minuten noch der Fall gewesen, wie sie über Funk mitgehört hatte – gehörte auch er zu den Geiseln. Er war nicht irgendeine Geisel, er war in der Hand des wahnsinnigsten und gemeinsten Mörders im ganzen Gefängnissystem New Yorks, Angelo Muzzi. Und er war nicht nur hilflos den Waffen dieses tollen Hundes ausgesetzt, er befand sich direkt am Bodennullpunkt der gewaltigsten Explosion, die die bombengewohnte Stadt je erlebt hatte. Mit einer solchen hatten die entflohenen Sträflinge nämlich gedroht. Die Debatte, die gerade stattfand, als Nillie den Ort des Geschehens erreichte, hatte nichts mit den Geiseln zu tun. An ihr beteiligten sich drei Leute, zwei Ingenieure von Con Ed und ein Professor von der physikalischen Abteilung des Brooklyn College, und sie stritten sich darüber, ob die entflohenen Sträflinge lediglich in der Lage sein würden, Bredford-Stuyvesant zu verseuchen, oder ob es gar möglich sei, daß die ganze City, große Teile von Long Island und die Küste von North Jersey in Mitleidenschaft gezogen würden.
Der Polizeichef wollte davon nichts hören. »Holt sie raus«, befahl er kurz. »In einer halben Stunde ist der Bürgermeister hier, und bis dahin muß die Sache erledigt sein.« Aber Nillie hörte nicht zu. Sie stellte sich Marcus Garvey de Harcourt, zehn Jahre alt, im Zentrum einer nuklearen Explosion vor, welche Ausmaße sie auch haben mochte. Alles andere beeindruckte sie nicht. Sie hörte zwei Polizisten darüber streiten, ob sie richtig gehandelt hätten, als sie Marcus und seinem Rucksack mit den Waffen folgten, um zu sehen, wo sich die Flüchtlinge aufhielten, oder ob sie den Jungen einfach daran hätten hindern sollen, die Waffen abzuliefern, nachdem sie gemerkt hatten, daß der Raubüberfall nur vorgetäuscht war. Sie hörte, wie der Polizeichef Gambiage anbrüllte und wie Gambiage in aller Ruhe wiederholt darauf bestand, mit seinem Anwalt zu sprechen. Sie hörte ihren Mann flüstern – er war noch schlechter zu verstehen als sonst, denn seine Lippen waren geschwollen wie die eines Ubangimädchens – daß Muzzi ihn gezwungen habe, den Jungen mit den Waffen loszuschicken. Dann habe er ihn gezwungen, einen Überfall vorzutäuschen, und habe ihn anschließend zusammengeschlagen, damit die Geschichte auch glaubhaft klang. Sie begriff vage, daß man sie und Dandy geholt hatte, weil sie beide Gambiage dazu zwingen sollten, seine Verbrecher aus dem Kraftwerk zu beordern, indem sie ihm drohten, sonst gegen ihn auszusagen. Das Gleiche galt für Tisdale, aber das alles interessierte sie nicht. Sie schaute schweigend zu der Kettenabsperrung hinüber und zu dem trostlosen flachen Gebäude, das dahinter lag. »Hören Sie zu, Sie Scheißkerl«, brüllte der Polizeichef, »Ihr Anwalt würde nicht einmal kommen, wenn ich es erlaubte, denn wenn Sie Muzzi nicht aus diesem Kontrollraum rausholen, könnte die ganze Stadt in die Luft fliegen!«
Und Gambiage breitete die Hände aus. »Glauben Sie wirklich, daß ich mir um die Stadt keine Sorgen mache? Mir gehört doch die Hälfte davon. Aber bei Muzzi kann ich nichts machen.« Und dann flog er zur Seite und war eher überrascht als wütend. Nillie hatte ihn weggedrängt. »Aber ich kann etwas machen«, rief sie. »Ich kann mit meinem kleinen Sohn sprechen! Wo ist das Telefon?«
Marcus H. Garvey de Harcourt, König des Dschungels, stark und furchtlos – Marcus, der jeden Tag der Bedrohung durch Dandys neunschwänzige Katze ausgesetzt war, der Bedrohung durch größere Jungen, die bereit waren, ihn blutig zu schlagen und ihm sein bißchen Kleingeld abzunehmen. Marcus, der Päderasten kennengelernt hatte, die ihre Opfer mit Springmessern überzeugten, streunende Hunde und hartherzige Polizisten und brutale Säufer – dieser unerschrockene Marcus war vor Angst halb von Sinnen. Die Stadt in die Luft jagen! Diese Vorstellung war entsetzlich. Konnte das wirklich passieren? Marcus zog sich in seine Ecke zurück und schaute zu den Männern hinüber. Muzzi war bestimmt nicht intelligent genug, die Explosion auszulösen, und auch La Croy nicht. Die Ingenieure oder Mr. Feigerman wären dazu vielleicht in der Lage, aber Marcus konnte sich nicht vorstellen, wie die Verbrecher sie dazu veranlassen wollten. Blieb nur noch Johnny Harvey. Ach, Scheiße, dachte Marcus, natürlich. Wenn überhaupt jemand, dann könnte Johnny Harvey darauf kommen, wie es zu schaffen wäre. Aber würde er es tun? Je mehr Marcus darüber nachdachte, um so eher war er bereit zu glauben, daß Harvey sich tatsächlich dazu entschließen könnte. Aus dem Wenigen, was er von Nathanael Greene
gesehen hatte, schloß Marcus, daß das Leben dort ziemlich schlimm sein mußte, so schlimm, daß man sogar den Tod in einem Atompilz in Kauf nehmen würde, um nicht sein ganzes Leben dort verbringen zu müssen. Oder gar an einem noch schlimmeren Ort… Aber für Marcus wäre das kein Vorteil. Marcus wollte nicht sterben. Und wenn Muzzi endgültig durchdrehte und Harvey den Trick in Szene setzte, sah Marcus nur eine Möglichkeit, sein eigenes Leben zu retten: er mußte Harvey vorher umbringen – »Heh, Junge!« Marcus fuhr zusammen und sah, daß Muzzi ihn finster anschaute. »W-was?« stammelte er. Muzzi sah ihn prüfend an, und dann verwandelte sich seine finstere Miene in etwas, was Muzzi vielleicht für ein gewinnendes Lächeln hielt. »Es ist deine Mutter, Kleiner. Sie will mit dir sprechen.«
Die Frage, wie sie in diese Scheiße geraten waren, interessierte Johnny Harvey nicht mehr. Die Frage, wieviel Hoffnung es für sie noch gab – wenn es überhaupt noch welche gab – nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er saß vor den blinkenden Signallampen und Anzeigen der Stromleistungsreglung, würgte seinen dritten Hamburger herunter und trank dazu einen Becher kalten Kaffee. Dabei überlegte er sich genau das, worüber sich auch Marcus schon Gedanken gemacht hatte. Würde er es tun? Hatte es Sinn, aus Wut und Rachsucht, eine ganze Stadt in die Luft zu sprengen? Oder hatte es etwa Sinn, es nicht zu tun, wenn das die Rückkehr ins Nathanael Greene bedeutete? – oder in einen noch schlimmeren Knast. Er griff nach dem nächsten Hamburger, aber dann schob er den Pappteller angewidert von sich. Man konnte sich darauf verlassen, daß Muzzi Verpflegung anforderte, die für einen vernünftigen Gaumen
ungenießbar war. Aber die Worte »sich auf etwas verlassen können« und »Muzzi« gehörten nicht in einen Satz. Weil er sich auf Muzzi verlassen hatte, war er in diese Lage gekommen. Aber damit nicht genug. Da stand Muzzi und streichelte den Arm des Niggerjungen, während der am Rande der Hysterie mit seiner Mutter sprach; Muzzi, dessen Unterkiefer gebrochen und dessen eine Hand kaum noch zu gebrauchen war, und der dennoch so von Wut und Begierde erfüllt war, daß es für ein Dutzend gewöhnliche Menschen ausgereicht hätte. Man konnte Feigerman und die Ingenieure vergessen, sie hatten mit der Sache kaum noch etwas zu tun; aber da waren Muzzi und La Croy, dieses Arschloch, und der Junge und er selbst, und wie sollten sie hier rauskommen? Angenommen, der Gouverneur gab nach. Angenommen am Kennedy Airport wartete tatsächlich eine Düsenmaschine auf sie. Zuerst mußten sie hier raus und in einen Wagen – nicht hier auf der Straße, denn hier konnte es tausend Fallen geben, die ihre Pläne vereitelten, sondern irgendwo draußen im Freien. Vielleicht jenseits der Eisenbahngleise, wo sie bis an die Straße zum Flughafen freies Schußfeld hatten. Es war fast wie bei den Denksportaufgaben, die er aus seiner Kindheit kannte, in denen es darum ging, Missionare und Kannibalen von einem Ufer eines Flusses zum anderen überzusetzen. In solchen Aufgaben war Harvey immer gut gewesen. Gab es eine Möglichkeit, diese zu lösen? Der erste Missionar mußte den ersten Kannibalen in einem Boot über den Fluß bringen – nur, daß es diesmal über die Eisenbahngleise ging – und mußte allein an die Stelle zurückkehren, wo die übrigen Missionare und Kannibalen warteten… Nur, diesmal war er einer der Kannibalen, und das Spiel war blutiger Ernst. Der Junge hing immer noch am Telefon. Er weinte jetzt, und Muzzi war offenbar irgend etwas Verrücktes eingefallen, denn
er war in die Ecke gegangen, wo Feigerman lag. Erbarmungslos riß er Feigerman, der nicht mehr protestieren konnte, die zerbrochene Sehapparatur vom Leib. Der alte Mann war nicht tot, aber er gab keinen Laut von sich, als Muzzi das geknickte Metall und die lädierte Krone geradebog. Dann stand er auf und trat auf Johnny Harvey zu. Harvey stand auf und wich mißtrauisch zurück; man konnte nie wissen, was Muzzi im Schilde führte. Und dann sah er, daß Muzzi vor den Kontrollschaltern stand und mit wutverzerrtem Gesicht die Hand nach ihnen ausstreckte; und in diesem Augenblick hatte Johnny Harvey wirklich Angst. Als Nillie den Hörer aufgelegt hatte, setzte sie sich einfach nur hin. Sie weinte nicht. Nillie de Harcourt hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, die Tränen zurückzuhalten. Weinen war ein Luxus, den sie sich nicht mehr leisten konnte, schon gar nicht, solange Marcus in der Hand dieser Männer war – sie dachte dabei besonders an Muzzi. Sie kannte Muzzis Ruf, sie hatte viel über ihn gehört, und sie kannte ihn auch aus eigener leidvoller Erfahrung. Deshalb wußte sie, in welcher Gefahr ihr Sohn schwebte. Deshalb weinte sie nicht. Sie saß nur mit gespannter Aufmerksamkeit da, beobachtete alle Vorgänge und wartete ab. Als sie hörte, wie Harvey am Telefon sagte, Muzzi sei im Begriff, die Geduld zu verlieren, und man solle ihnen besseres Essen geben als den Mist, den sie bekommen hätten, sah sie eine Weile sehr nachdenklich aus. Aber sie sagte nichts, auch nicht, als der Bürgermeister und Mr. Gambiage sich für einen Augenblick in einen Nebenraum zurückzogen. Was immer sie dort zusammen ausheckten, befriedigend konnte es für keinen von beiden sein. Als sie wiederkamen, machte der Bürgermeister ein finsteres Gesicht, und Gambiage schüttelte den Kopf. »Unterschätzen Sie Muzzi
nicht«, warnte er. »Er ist ein wildes Tier, aber er erkennt eine Falle, wenn er eine sieht.« »Halten Sie das Maul«, sagte der Bürgermeister, der für einen Augenblick vergaß, daß er in dieser Situation einen bedeutenden Beitrag zu leisten hatte. Der Bürgermeister sah jetzt wirklich aus, als ob er Angst hätte. Irritiert lauschte er auf irgendwelche entfernten Geräusche und wandte sich wieder Gambiage zu. »Die Leute dort draußen schreien immer noch. Wollten Sie die Demonstration nicht abblasen?« »Sie wurde abgeblasen«, sagte Gambiage dumpf. »Es braucht Zeit. Es ist leichter, etwas in Gang zu setzen, als es wieder aufzuhalten.« Nillie hörte gespannt zu, eine Hand in der ihres Mannes. Erst als zwei Polizeibeamte einen Servierwagen mit Lebensmitteln hereinschoben, ließ sie los und trat vor. »Es ist alles vorbereitet«, sagte einer der Beamten, und der Bürgermeister nickte. Nillie de Harcourt legte die Hände an den Wagen. »Ich bringe ihn hinein«, sagte sie. Der Bürgermeister schrak zusammen – vielleicht hatte er sogar Angst um sie. Warum, wollte Nillie gar nicht erst untersuchen. »Kommt nicht in Frage, Mrs. de Harcourt. Sie wissen nicht, um was für Männer es sich da handelt.« »Ich weiß es«, sagte Nillie gelassen. »Wer sollte es besser wissen als ich? Und ich bringe die Lebensmittel hinein, damit ich bei meinem Sohn sein kann.« Der Bürgermeister öffnete den Mund zu einer wütenden Entgegnung, aber Gambiage legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Warum denn eigentlich nicht?« sagte er ganz leise. »Warum nicht? Seien Sie doch kein Idiot, Gambiage…« Aber er schien darüber nachzudenken. Er schwieg eine Weile unentschlossen. Dann zuckte er die Achseln. »Wenn Sie vor
Zeugen darauf bestehen«, sagte er, »habe ich wohl nicht das Recht, Sie zurückzuhalten.« Bevor er es sich anders überlegen konnte, war sie mit ihrem Wagen schon unterwegs. Unter der Brücke blitzten die Lichter eines Zuges auf, aber sie schaute nicht einmal hin. Ihr war völlig klar, daß hier etwas vorging, was sie nicht begriff, etwas sehr Schlimmes – etwas, das den Bürgermeister der Stadt und den Boß aller Verbrecherbosse der Stadt dazu veranlaßte, miteinander zu flüstern; aber sie wußte nicht, was es war, und sie glaubte auch nicht, daß das eine Rolle spielte. Unbeirrt schob sie den Wagen über die Gleise und wurde auch nicht unsicher, als sie den verrückten La Croy am Fenster stehen sah, der sie anschrie und seine Waffe auf ihren Kopf gerichtet hielt. Sie antwortete nicht, und sie blieb nicht stehen. Sie schob den Wagen direkt durch die Tür und schob dabei die Kraftwerksingenieure mit dem Fuß aus dem Weg. Und da standen sie, der verrückte Muzzi und der verrückte La Croy, die beide laut fluchten, und der etwas gelassenere aber hinterhältige Johnny Harvey, der die Hand nicht von seiner Waffe ließ; und sie sah auch den alten Mr. Feigerman, der aussah, als sei er schon seit Tagen tot… Und da war Marcus, dem man seine Angst anmerkte, der aber anscheinend unverletzt war. »Mein Liebling!« rief sie, ließ die Lebensmittel stehen und rannte hinüber, um ihn in die Arme zu nehmen. »Laß ihn in Ruhe, du Miststück!« schrie La Croy, und Muzzi, der hinter ihm stand, brüllte: »Nimm deine verdammten Hände hoch! Wer weiß, was du da hast…« Sie drehte sich ruhig zu den Männern um. »Ich habe nur mich«, sagte sie und wartete ruhig ab, was die Kerle tun würden.
Aber sie taten gar nichts. Johnny Harvey, weder an ihr noch an seinen Kumpanen interessiert, ging auf den Wagen zu, auf dem die riesige Schüssel mit dem silbernen Deckel stand; er hob den Deckel… Ein greller Lichtblitz, eine donnernde Detonation, und irgend etwas hob Nillie de Harcourt auf und schleuderte sie gegen die Wand.
Ein großes Metallstück hatte La Croy am Hinterkopf erwischt, er hatte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt. Von Johnny Harvey war fast nichts mehr übrig. Muzzi kam mühsam wieder auf die Füße und schaute sich wütend in dem zertrümmerten Raum um. Die Schmerzen in seinem Kiefer waren schlimmer als je zuvor, und er konnte kaum sehen. Es war keine gewöhnliche Bombe gewesen – sie hätten es nicht gewagt, hier eine Bombe einzusetzen, die groß genug gewesen wäre, sie alle zu erledigen; diese Bombe hatte so etwas wie Tränengas enthalten, und Muzzi würgte und keuchte. Aber verschwommen sah er den jungen Marcus, der seiner Mutter durch die Tür half. »Halt, oder ich puste dir deinen verdammten Kopf weg!« Und der Junge drehte sich zu ihm um, und sein Gesicht war hundert Jahre älter als er selbst, und in diesem Augenblick empfand sogar Muzzi eine ganz ungewohnte Angst. Wenn der Junge eine Kanone hätte… Aber er hatte keine. »Bewegt eure verdammten Ärsche!« brüllte Muzzi, und langsam und verzweifelt betraten sie wieder den Raum, in dessen Luft sie fast erstickten. Aber sie blieben nicht lange. Zwei Minuten später gingen sie wieder nach draußen, aber etwas hatte sich geändert. Nillie de Harcourt stolperte halb bewußtlos voran. Marcus Garvey de Harcourt schob den Rollstuhl, und der Mann, der im Rollstuhl saß, die Metallkrone
auf dem Kopf, das Gesicht vom Jackenkragen halb verdeckt… war Muzzi. Marcus hatte so viel Angst wie noch nie in seinem Leben, denn er glaubte nicht, daß er jenseits der Brücke noch leben würde. Er sah, wie der Gouverneur auf sie zukam, von einer ganzen Kette von Polizeibeamten flankiert, alle mit gezogener Waffe; und er wußte, was Muzzi im Sinn hatte. Der Mann war endgültig wahnsinnig geworden. Wenn er schon nicht fliehen konnte, und wenn er auch die Stadt nicht in die Luft jagen konnte, dann konnte er wenigstens den Gouverneur erschießen. Als sie mitten auf der Brücke waren, traf Muzzi schon seine Vorbereitungen; aber Marcus traf seine eigenen. Nicht, daß ihm der Gouverneur wichtig gewesen wäre, aber zwischen dem Gouverneur und Muzzis Revolver befand sich jemand, der ihm sehr wichtig war. Er holte tief Luft, richtete den Rollstuhl auf eine Stelle, wo das Geländer entfernt worden war und nur hölzerne Sägeböcke den Fußweg gegen die Magnetschienen unter der Brücke absperrten… und schob. Muzzi reagierte schnell, aber nicht schnell genug. Er war noch nicht ganz aus dem Rollstuhl heraus, als dieser schon über die Kante kippte. Marcus rannte an das Geländer und starrte nach unten, und er sah Muzzi mit seinen Patronengurten und seiner metallverstärkten Jacke auf die Magnetstreifen zusausen. Er prallte ab und schlug wieder auf, wobei er immer schneller wurde, bis er in der Ferne verschwand, tot und für niemanden mehr eine Bedrohung.
ICH HABE MIR EIN SCHÖNES KLEINES GESCHÄFT ALS
Straßenverkäufer aufgebaut. Sonnenbrillen im Sommer, Ohrenschützer bei Kälte, Regenschirme bei Regen. Ich kann Ihnen für jede Jahreszeit etwas verkaufen. Natürlich sperren die Bullen mich manchmal ein, aber das bringt das Gewerbe so mit sich. Es ist ein recht angenehmes Leben. Ich habe keinen Boß. Wenn ich einen freien Tag haben will, nehme ich ihn mir. Außerdem arbeite ich im Freien; ich brauche also nicht nach Coney Island zu fahren, um diese schöne männliche Bräune zu bekommen. Das einzige ist, was soll jetzt aus mir werden? Wie ich es sehe, lande ich direkt bei der Sozialhilfe, wenn die das Ding fertig haben. Welches Ding ich meine? Na was schon –
Die Blase
I
Der Kerl von der Gewerkschaft hieß Ella Jennalec, und sie war kein Kerl. Wahrscheinlich war in ihrer Familie mindestens ein Großelternteil schwarz gewesen. Sie war klein und kräftig, aber die Pfunde saßen an den richtigen Stellen. Sie war nicht mehr ganz jung, wahrscheinlich an die vierzig, und damit war sie ein gutes Dutzend Jahre älter als John Fitzgerald Kennedy Bratislaw III. Das vermutete er wenigstens, als er sich aufrichtete, um sie besser sehen zu können, und dabei spürte er fast körperlich den bohrenden Blick seiner Frau in seinem Rücken. Sie wußte genau, was er dachte: auch ältere Modelle sind nicht unbedingt zu verachten. Gebrüll vom Vorarbeiter: »Heh, Bratislaw! Du solltest dich um deine verdammte Arbeit kümmern!« Bratislaw schnaufte und stellte sich ein wenig anders hin, als die Winde das Kabel straffte. Der Rest der Mannschaft stemmte sich gegen den kalten und nassen Wind. Alle warfen verstohlene Blicke in die gleiche Richtung – sie betrachteten nicht das Kabel, das sich zur Stahlkonstruktion über dem Battery Park emporspannte, sondern sie schauten zu der Frau von der Gewerkschaft hinüber, die oben auf einem Träger stand und sich lebhaft mit einem Ingenieur der Baugesellschaft unterhielt. Sie war nicht dem Wetter entsprechend gekleidet, und die Männer wußten das zu schätzen; ihre Jeans schmiegten sich zärtlich um ihre Hüften, und die Blicke der Männer taten es auch. Der Diesel knatterte, die Winde drehte sich, und mit dumpfen Schlägen rastete die Sperre ein. Der Vorarbeiter schrie: »Verdammt nochmal, paßt doch auf! Heh, Carmen! Nimm die Handkurbel, falls das Ding wegrutscht!« Der alte Arbeiter sah
auf und nickte. Er wechselte mit Bratislaw den Platz, und die beiden rutschten aus, als sie sich bewegten. Ihre Stiefel mit den Stahlkappen fanden auf der glatten Fläche keinen Halt, und der Wind wehte – nein, er ergoß sich – über das Hudson Valley. Wie durch einen Trichter schien er sich auf die kleine künstliche Insel zwischen Ellis Island und Governor’s Island zu ergießen, wo die Männer die Kabel nachzogen. Man hätte meinen sollen, daß es gegen Anfang April wärmer sein würde, aber das war nicht der Fall. Die schmutziggrauen Wellen brachen sich in schmutziggrauem Schaum, der die Männer bespritzte und erschauern ließ. Und die Spritzer stanken. »Aufpassen!« Die Sperre überschlug einen Zahn und schien nicht einzurasten, und die Männer schrien auf und bemühten sich um festen Halt. Aber dann war alles in Ordnung. Der Boß las die Zugkraft ab und befahl der Mannschaft, vorläufig nicht weiterzumachen. Ella Jennalec schaute zu den Männern herunter, hob den Daumen und grinste. Dann wandte sie sich wieder dem Mann von der Baugesellschaft zu und setzte den Streit über die Prämienhöhe fort. Die Mannschaft, einschließlich Bratislaw – seine Freunde nannten ihn Jeff, eine Abkürzung für John Fitzgerald Kennedy – zogen die Kabelenden durch die Verankerungen zu den Kabelrollen. Dieses Kabel sollte demnächst zum alten World Trade Center hochgezogen und dort in einem Kilometer Entfernung und über einen halben Kilometer hoch befestigt werden. Es war harte Arbeit. Eine üble Schinderei. Sie war nur mit Maschinen möglich, aber trotzdem brauchte man Kraft. Man brauchte starke Männer wie Bratislaw und Carmen, und manchmal auch eine starke Frau wie Merrimee, die alte schwarze Großmutter. Ungefähr ein Viertel der Männer holten sich in einem oder zwei Jahren einen Bruch. Aber Jeff Bratislaw war für diese Arbeit wie geschaffen. Er hatte seine Kindheit auf einer heruntergekommenen Rinderfarm in
Wisconsin verbracht. Er war an schwere körperliche Arbeit bei jedem Wetter gewöhnt, denn das Vieh mußte gefüttert werden, nicht nur in linder Juniluft, sondern auch bei Schneesturm im Winter. Als die heißen Winde die Ebenen ausgedörrt hatten, war er nach New York gekommen und hatte festgestellt, daß die schwerste Arbeit, die die Stadt zu bieten hatte, gegen die Arbeit bei den Rinderherden ein Kinderspiel war. »Noch einen Schlag«, befahl der Boß, und der alte Carmen startete den Diesel. Das Kabel bestand aus einer Stahllegierung und konnte einen Druck von zweihundert Kilogramm pro Quadratzentimeter aushalten. Außerdem würde es fünfzig Jahre lang der Witterung ausgesetzt sein. Aber es war entsprechend konstruiert. Die einzelnen Kabelstränge wurden mit Hilfe zylindrischer Stahlklammern miteinander verflochten. Während die andern die Klammern festschraubten, war es Jeffs Aufgabe, die Enden zusammenzuhalten. Wurden die Klammern ein wenig gelockert, damit das Kabel durchlaufen konnte, mußte er die Zugkraft auffangen. Eine verdammt schwere Arbeit und dreckig dazu; aber sie war dreiunddreißig fünfzig die Stunde wert, und das war auf einer verrotteten Rinderfarm in Wisconsin nicht zu verdienen. Aber es reichte dennoch nicht so weit, daß Heidi ihren Job aufgeben konnte, um ein Kind zu bekommen, und das wußte Jeff sehr genau, denn seit zwei Monaten hatte Heidi ihn fast täglich darauf hingewiesen. Sobald der Vormann nickte, weil im Augenblick alles in Ordnung war, und während die Ingenieure sich wieder einmal über die Werte für die Zugkraft stritten, winkte Jeff deshalb seiner Gewerkschaftsvertreterin zu. »Ella? Ich muß Sie einen Augenblick sprechen.« Sie nickte und zwinkerte ihm zu. Dann stritt sie weiter mit den Jungs von der Baugesellschaft, worüber auch immer. Jeff
beugte sich vor und spuckte in die kalte Bucht. Er zog seine Jacke fester um sich. Es gab immer irgendeinen Streit. Es würde auch in den nächsten zwanzig Jahren immer irgendeinen Streit geben, darauf hätte er wetten mögen. Wenn die Blase erst gebaut war, würde sie fast die ganze Insel Manhattan überspannen, und es hieß, man würde jährlich riesige Mengen natürliches Gas sparen. Das stimmte wahrscheinlich. Aber es würde während dieser Jahre auch jeden Tag eine Menge Gas kosten, denn jede Gewerkschaft in der City würde geben und nehmen und ganz besonders eine neue Einstellung gewinnen müssen. Wenn man die City mit einer Kuppel versah, würde alles in ihr ganz anders ablaufen. Die Müllabfuhr würde keine Wagen mehr benutzen, und die Feuerwehr würde es mit einer vertikalen Stadt zu tun haben. Die Polizisten würden keine Streifenwagen mehr fahren, und auch sonst würde es keine Autos mehr geben. Die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, wären die öffentlichen Verkehrsmittel, und oft würde es aufwärts oder abwärts gehen. Die Arbeiter der Verkehrsbetriebe und die Fahrstuhlführer kämpften das gerade aus, und deshalb hatte Jeff am Vorabend sechsundzwanzig Treppen hochsteigen müssen, um ins Bett zu kommen. Aber hauptsächlich und schon gleich war es ein Problem der Bauarbeitergewerkschaften, denn ein solches Bauprojekt hatte es noch nie gegeben. Denn was taten sie hier? Das Gerüst der Kuppel wurde von Kabeln gehalten – auch Brücken haben Kabel –, und deshalb meldeten die Gewerkschaften der Brückenbauer und der Stahlbauarbeiter ihre Ansprüche an. Aber es war gleichzeitig, als errichtete man eine Kuppel über einem großen Auditorium, also waren auch die Beton- und Tiefbauarbeitergewerkschaften interessiert. Die künstlichen Inseln mußten auf Senkkästen gebaut werden, was die entsprechenden Gewerkschaften auf den Plan rief, und das
fertige Gebäude würde durchsichtig sein, und folglich fühlten sich die Glaser betroffen; hinzu kamen die Sprengmeister, die Bohrarbeiter und die Bergleute, und weil einige der größten Wolkenkratzer in den Randgebieten abgerissen oder verkürzt werden mußten, kamen die Abbrucharbeiter; und wegen der vielen Maschinen Maschinisten und Techniker und Ingenieure – und hundert andere –, und dann bot die Transportarbeitergewerkschaft an, sie alle gemeinsam zu vertreten; und wenn man es recht überlegte, hatte Ella Jennalecs Verein allen viel Kopfzerbrechen erspart, indem er den großen Gewerkschaftszusammenschluß zustande brachte. Der Stadt gefiel es, weil sie nur noch mit einer einzigen Gewerkschaft verhandeln mußte. Den Unternehmern gefiel es, weil die Stadt die meisten Verhandlungen führte. Den Arbeitern gefiel es, weil sie sich nun nicht mehr zu überlegen brauchten, in welche Gewerkschaft sie eintreten sollten. Es gefiel praktisch allen, möglicherweise mit Ausnahme der ABS, der O.A.W, der C.A.W, der Glaser, der Sprengmeister und der Transportarbeiter selbst. Ihnen hatte es überhaupt nicht gefallen, aber einige Typen aus dem mittleren Management hatten ihnen geholfen, sich daran zu gewöhnen, Typen wie Ellas Genosse, der oben auf dem Träger mit ihr und den Ingenieuren debattierte. Er hieß Tiny und war größer und kräftiger als Jeff Bratislaw, und seine vernarbten Knöchel zeigten, daß er wahrscheinlich auch in anderer Hinsicht besser war. Im Organisationsplan der Gewerkschaft für Hoch-, Tunnel- und Straßenbau war er als Verwaltungsangestellter ausgewiesen. Das mochte er mal gewesen sein, aber bestimmt jetzt nicht mehr; man brauchte sich nur seine Hände anzusehen. »Machen wir Schluß«, brummte der Gang-Boß, als die Ingenieure ihren Kampf mit Ella beendet hatten, und winkte
Bratislaw zu. Ella sprang vom Träger, und Jeff fing sie mit den Armen auf, als sie auf dem glatten Boden landete. »Wie sieht’s aus, Alter?« Sie grinste. »Du wolltest mich sprechen?« »Ja. Ich bin Jeff Bratislaw – wir haben zu Neujahr zusammen Mambo getanzt, wenn Sie sich erinnern. Das war beim…« »Ja, das weiß ich noch. Sie tanzen gut, Jeff Bratislaw.« »Mag sein, aber ich brauche einen besseren Job. Dreiunddreißig fünfzig reichen nicht mehr. Vielleicht als Decksmann auf einem Schlepper.« »Kommen Sie, Jeff! Darüber können wir nicht bestimmen, das muß ein Gewerkschaftsmitglied doch wissen.« Das stimmte. Ihre Gewerkschaft war für alle Jobs zuständig, die mit der Kuppel selbst im Zusammenhang standen, aber mit den Hafenschleppern hatte sie nichts zu tun. »Dann vielleicht beim Abbruch.« Er machte eine Kopfbewegung zum südlichen Turm des World Trade Center, der langsam abgetragen wurde. »Ich habe gehört, daß die Jungs achtundvierzig Dollar die Stunde verdienen.« »Und einige stehen nicht einmal die erste Stunde durch, Sie Arschloch«, sagte sie fröhlich. »Haben Sie schon mal einen Träger aus Spannbeton auseinandergenommen? Sie haben doch eine Frau, nicht wahr? Warum wollen Sie sie zur Witwe machen?« »Ich will sie zur Mutter machen, Ella, aber bevor ich das tu, brauch ich mehr Geld.« »Um das zu tun«, sagte sie grinsend, »brauchen Sie nur das, was Sie schon haben, und als wir Mambo tanzten, habe ich gemerkt, daß es reichlich ist.« »Ja, aber…« »Ja.« Sie unterbrach ihn. »Ich sage ja nicht nein, Jeff, aber ich muß mich jetzt um sehr viele Dinge kümmern. Diese Arschlöcher wollten euch die Gefahrenzulage streichen,
wußten Sie das? Und dann ist da diese Sache mit dem Großen Geschworenengericht, die uns bevorsteht. Hören Sie zu, Abbruch kommt nicht in Frage. Kein Mensch weiß noch, wo die gespannten Kabel in den Trägern verankert sind. Haben Sie schon mal gesehen, wie eine Bombe explodiert? Allein in den oberen zehn Stockwerken hat es schon zweiundzwanzig Schadensersatzfälle gegeben. Und…« Jeff merkte, daß sie Zeit gewinnen wollte; aber dann war es damit vorbei. Tiny, ihr muskelbepackter Begleiter, ging langsam zu der an der Insel vertäuten Barkasse hinüber, die darauf wartete, sie wieder nach South Ferry zu bringen; die Ingenieure hörten sich mit verkniffenen Gesichtern die Erklärungen des Vorarbeiters an; niemand achtete auf die Winde. Und das Kabel, das sich langsam spannte, ließ die Sperre einen Zahn weiterrutschen. Diesmal achtete Carmen auf den Gang-Boß und nicht auf seine Winde. Wegen der verschiedenen Drehgeschwindigkeiten ergab die Verschiebung um nur einen Zahn eine Vierteldrehung der Handtrommel. Die Handkurbel riß sich aus der Lagerung. Jeff Bratislaw hörte das Klicken und sah, daß die Trommel anfing, sich zu bewegen. Er tauchte weg und riß Ella mit sich. Sekundenbruchteile später sprang auch Tiny zur Seite, aber er war zu groß und schwer, um sich auf dem glatten Boden schnell zu bewegen. Er schlug in dem Augenblick lang hin, als die Kurbel über ihn hinwegsauste und hundert Meter weiter im Wasser verschwand. Jeff fühlte sich plötzlich kälter als die Luft um ihn herum. Vor zwei Sekunden hatte er genau in der Flugbahn des schweren Metallstücks gestanden, und da hätte seinem Kopf auch kein Schutzhelm geholfen. »Verdammt«, sagte Ella ein wenig zittrig und stand auf. »Vielleicht wäre es beim Abbruch doch gar nicht so schlecht. Danke, Bratislaw.«
Aber sie sah ihn nicht an, sie schaute zu Tiny hinüber, der stöhnend auf dem glatten Boden lag. Eins seiner Beine war auf eine Weise abgespreizt, die bei Beinen nicht üblich ist. Alle brüllten durcheinander, aber bald hatten sie sich so weit beruhigt, daß sie Tiny vorsichtig zur Barkasse tragen konnten, wenn er auch schrie, als sie ihn anhoben. Dann sprang auch Ella in das Boot. Bevor es ablegte, hob sie den Kopf und rief Jeff Bratislaw zu: »Sieht ganz so aus, als hätten wir eine freie Stelle. Kommen Sie morgen früh um acht in meine Wohnung. Auf jeden Fall werden wir es eine Woche mit Ihnen versuchen.«
II
Die Fahrstühle funktionierten – der Tag verlief weiter gut. Sobald Jeff wieder in seiner Wohnung war, zog er sich im Badezimmer aus und ging splitternackt in die Küche, um das Abendessen zu bereiten. An der Kühlschranktür war mit einem Magnetclip ein Zettel befestigt: Bitte, doch nicht schon wieder Fisch? Als Unterschrift war ein kleines Herz auf den Zettel gemalt. Jeff hielt die Tür der Tiefkühltruhe auf und überlegte die Möglichkeiten. Endlich zog er zwei Salisbury-Steaks heraus, die er zusammen mit anderen vor einer Woche eingefroren hatte, jedes in einem separaten Beutel. Sie bestanden zu hundert Prozent aus Fleisch; verdammt, dieser Tag mußte gefeiert werden! Er nahm drei große Möhren und ein paar Kartoffeln heraus, holte einen leeren Beutel aus der Geschirrschublade und legte alles auf die Spüle. Dann stellte er einen Topf heißes Wasser auf den Herd, und während es langsam anfing zu kochen, zog er die Schmirgelhandschuhe an und putzte das Gemüse. Es war in den großen Sandkästen der City gewachsen, für die das Kühlwasser des Kraftwerks an der 14th Street genutzt wurde, und es war von hervorragender Qualität. Er schnitt es mit dem Hackmesser in Scheiben und tat es zusammen mit einem Stück Butter, etwas Salz und Pfeffer und einer Handvoll getrockneter Petersilie in einen Beutel. Er verschloß ihn, ließ ihn in das kochende Wasser fallen, stellte die Uhr ein und ging ins Bad, um zu duschen. Als er geduscht hatte, war es Zeit, das Fleisch in den Topf zu geben. Er stellte die Uhr neu ein, rasierte sich, zog sich Hose und Hemd an und hatte gerade angefangen, ein paar Drinks zu mixen, als es klingelte.
Heidi klingelte normalerweise nicht; er schaute durch den Spion und sah verschwommen eine weibliche Gestalt in Polizeiuniform. »Hallo, Lucy«, sagte er und öffnete die Tür; es war die Schwester seiner Frau. »Dich hätte ich heute wirklich nicht erwartet. Möchtest du zum Essen bleiben?« Er hatte noch ein Steak in der Tiefkühltruhe, und das Gemüse mußte eben reichen. »Ich kann nicht, Jeff, ich werde nicht einmal hereinkommen.« Aber sie tat es doch, jedenfalls so weit, daß er die Tür schließen konnte. »Ich bin im Dienst, aber ich bin rasch heraufgekommen, um dich zu fragen, ob du jetzt die Eingabe unterschreiben willst.« »Was für eine Eingabe?« Er wußte es sehr gut, aber er hatte keine Lust, sich mit ihr über die Korruption in der City zu unterhalten. »Es geht um das Große Geschworenengericht zur Überprüfung des Großen Geschworenengerichts – das weißt du doch! Wir haben uns am Samstagabend darüber unterhalten.« Er schaute auf das Stück Papier – zwei kurze Absätze und dann mindestens fünfzig Zeilen für die Unterschriften von Bürgern. Aber bisher standen erst zwei Unterschriften da, und eine von ihnen war Lucys eigene. »Nun, ich weiß nicht recht, Lucy«, sagte er. »Damit könnte ich mir Ärger einhandeln – du übrigens auch. Besonders wenn du im Dienst für Unterschriften wirbst.« »Ich werbe nicht, Jeff. Ich gebe hier nur diese Liste ab. Außerdem mußte ich sowieso ins Haus – es liegt auf meiner Runde. Hör zu, ich lasse dir und Heidi die Liste hier, okay? Nach Feierabend hole ich sie wieder ab.« »Dann bis später«, sagte er, aber das war keine Zusage. Allerdings wußte er nicht, wie er sich aus dieser Sache herauswinden sollte. Lucy war der Stolz der Familie, eine
ehrliche Polizistin, die niemals auch nur einen Cent nahm; und Heidi war viel zu stolz auf sie, um sie in dieser Angelegenheit zu enttäuschen. Und wenn Heidi unterschrieb, konnte er genauso gut gleich selbst unterschreiben; die Leute, die sich über eine solche Unterschrift ärgerten, würden sich nicht lange überlegen, ob beide Familienmitglieder unterschrieben hatten, sie würden den Namen Bratislaw ankreuzen, wo immer sie ihn fanden. Er ließ die Liste auf die Fensterbank fallen und starrte auf die City hinaus. Oben am noch nicht fertiggestellten Gerüst blitzten rote Laserlichter, um Flugzeuge zu warnen, und es nieselte wieder. Eigentlich war die Stadt ein schöner Anblick. Warum ließen die Leute sie nicht einfach in Ruhe? Als er Heidi die Tür aufschließen hörte, stand das Essen schon auf dem Tisch. Er begrüßte sie mit einem Kuß. »Ich habe den Job«, sagte er. »Oh, Jeff, das ist ja wunderbar!« Sie sah müde aus, als sie zur Tür hereinkam, aber sie überspielte die Erschöpfung mit einem Lächeln. »Erzähl.« Aber dann sah sie ihn genauer an. »Ach du Scheiße, was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?« Er hatte die Schramme selbst erst bemerkt, als er sich rasierte. »Arbeitsunfall«, sagte er. »Ich bin gestürzt. Hör zu. Ich werde Assistent des Betriebsratsvorsitzenden. Büroarbeit. Ich muß dann nicht beim Abbruch arbeiten oder im Schnee Kabel ziehen.« »Bekommst du mehr Geld?« Jeff zögerte. »Ich weiß noch nicht genau, wieviel Geld ich bekomme.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk und ging an den Eßtisch. In ihrem Gesicht zeigte sich wieder diese Müdigkeit, und sie sah ihn erstaunt an. »Würdest du mir das bitte erklären, Jeff?«
»Das Geld ist dabei nicht das Wichtigste«, sagte er und verteilte das Essen auf die Teller. »Es gibt viele zusätzliche Vergünstigungen.« »So?« »Weißt du.« Er entschloß sich, es ihr zu sagen; sie würde Verständnis haben; sie war anders als ihre verrückte Schwester. »Wenn jemand einen besseren Job haben will, wendet er sich an die Gewerkschaft, und er zahlt dem Mann, der ihm den Job besorgt, eine Art Finderlohn.« »Ich würde es Schmiergeld nennen«, sagte sie und nickte. »Heidi, du wirst doch keine Schwierigkeiten machen? So funktioniert das System nun einmal.« »Hmm.« Das klang nicht wie Zustimmung, aber es war auch kein Einspruch. »Wir werden es also tun?« drängte er. Sie kaute und sah ihn dabei an. Keiner von ihnen mußte sagen, was mit »es« gemeint war, denn »es« war während der letzten drei Monate das Hauptgesprächsthema gewesen – seit sie die genetischen Laborbefunde kannten, die besagten, daß sie Kinder bekommen konnten und keine besorgniserregenden Defekte aufwiesen. »Nun, Alter«, sagte sie, »ich denke schon. Aber erst wenn wir mit dem Essen fertig sind.« Heidi hielt sich immer dreimal so lange im Badezimmer auf wie Jeff, aber dagegen hatte Jeff nichts einzuwenden, denn das Ergebnis konnte sich immer sehen lassen. Während sie die Hälfte der täglichen Wasserzuteilung verbrauchte, stellte Jeff das Geschirr in den Spüler, klappte den Tisch hoch und zog das Bett aus. Er packte die organischen Abfälle zusammen, um sie in den Müllschlucker zu werfen, aber dann ließ er es: der Streik. Bis der beendet war, mußte er das Zeug in der Tiefkühltruhe aufbewahren. Er strich die Kissen glatt, schlug das Bett auf, legte die Kleidung ab und zog seinen Morgenrock an; das tat er immer, wenn er sein Verlangen nach
Geschlechtsverkehr signalisieren wollte – Heidi trug zu diesem Zweck immer ihr Pyjamaoberteil ohne die Hosen. Dann setzte er sich auf die Fensterbank und zündete sich einen Joint an. Er sah das eiffelturmähnliche Ding, das man am Madison Square errichtet hatte, den ersten Pfeiler für die Kuppel, und jenseits der Wolkenkratzer konnte er sogar die Doppellichter der Verrazano-Narrows-Brücke erkennen, wo Heidi ihre Arbeitszeit verbrachte. Sie war bei der Schiffsabfertigung im Hafen beschäftigt. Sie und fünfundzwanzig Kollegen und Kolleginnen im Kontrollturm regelten den gesamten Hafenverkehr: Schlepper, Kähne, Frachtschiffe, Arbeitsschiffe, Schwimmbagger, Ausflugsdampfer, Motorboote – alles was zwischen der Nordspitze Manhattans und Sandy Hook und dem Ufer von Brooklyn im Süden auf dem Wasser schwamm. Am schlimmsten war es mit den Ausflugsdampfern. Die meisten hatten keine Radar-Reflektoren, so daß sie nur nach Sicht dirigiert werden konnten. Aber wenn ein Ausflugsdampfer in Schwierigkeiten geriet, war er meist wendig genug, sich daraus zu befreien, und die Passagiere waren ohnehin die einzige Fracht, auf die es ankam, und selbst im schlimmsten Fall wurden sie fast immer gerettet. Ernsthafte Arbeit machten die großen Pötte, die von Südamerika und vom Golf heraufkamen, die paar Schiffe, die über den Atlantik kamen, und die Küstenschiffahrt – und vor allem die Lastkähne, die Treibstoff und Ausrüstungsgegenstände für die Industrie heranschafften. Befanden sich zwei auf Kollisionskurs, konnte man sie nicht einfach zu einem Ausweichmanöver veranlassen. Dazu war es dann in der Regel zu spät. Bei ihnen mußte man weit vorausdenken, ihnen den richtigen Kurs vorgeben und alles aus dem Weg scheuchen, was kleiner und beweglicher war. Während die Müllabuhr streikte, war ihr Job ein wenig leichter. Die Schuten, manchmal fünfzehn auf einmal, wurden
nicht mehr zu den Verklappungsgründen im Baltimore Canyon zweihundert Meilen vor der Küste geschleppt. Die Tagschichten waren weniger anstrengend als die Nachtschichten. Am Tage hatte man besseren Sichtkontakt zu den kleineren Schiffen, die keine Radareinrichtung hatten oder sie nicht instandhielten. Aber kaltes und windiges Wetter machte alle Vorteile wieder zunichte. Es bewirkte, daß manche Schiffe schwerer zu kontrollieren waren, und vor allem erinnerte es einen an die bekannte Tatsache, daß der Westturm der Verrazano-Brücke der kälteste Ort in New York City ist. Der Turm war natürlich geheizt. Aber wenn der Regen in Schnee überging und die Sicht beeinträchtigt war, gab es keine andere Möglichkeit, als mit den Ferngläsern bei eisigem Wind auf die Plattform hinauszugehen, und das geschah hundertmal am Tag. Wenn schlechtes Wetter war, kam Heidi deshalb immer sehr erschöpft nach Hause. Jeff mußte bei seiner Arbeit vierzigmal so viel physische Energie aufwenden wie sie; aber Jeff brauchte nur zu duschen und sich zu rasieren, um bis spät in die Nacht hinein wieder fit zu sein. Heidi war eine große Frau, aber sie hatte nicht annähernd die körperliche Kraft ihres Mannes. Das Geräusch der Dusche war nicht mehr zu hören. Dafür klappte die Tür des Arzneischranks, und Cremetöpfe klirrten. Jeff drückte seinen Joint aus und schaltete das Licht zurück. Im Halbdunkel sah er die grüne Lampe neben der Tür aufleuchten. Verdammt, er hatte die Post vergessen! Es waren ohnehin wahrscheinlich nur Rechnungen. Aber Heidi würde es bemerken und wissen wollen, ob etwas von ihrer Mutter dabei war. Jeff ging also an den Terminal und drückte die Kombination für die Post. Die ersten drei Sachen waren allerdings Rechnungen – sie wurden automatisch von ihrem Konto abgebucht, so daß er sich um sie nicht weiter zu kümmern brauchte. Die vierte Mitteilung –
Die vierte Mitteilung begann mit der Überschrift: Von der Musterungskommission Nr. 143
»Ach du Scheiße«, sagte Jeff. Als Heidi aus der Dusche kam, war das Zimmer wieder hell erleuchtet. Jeff mixte sich seinen zweiten Drink, und der Text des Schreibens war auf dem Bildschirm fixiert: Grüße vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie haben Ihren allgemeinen Militärdienst abzuleisten und werden hiermit aufgefordert, sich am 3. April zur abschließenden Untersuchung im Einberufungszentrum der Streitkräfte, 1 Penn Plaza einzufinden…
»Ach, du Scheiße«, sagte auch Heidi und nahm den Drink, den Jeff ihr reichte. Sie trug einen Bademantel, aber Jeff sah, daß sie darunter nur ihr Pyjamaoberteil und sehr viel warme feuchte rosige Haut trug. »Natürlich mußten wir irgendwann damit rechnen«, sagte er. »Aber warum ausgerechnet jetzt, verdammt nochmal!« Jeff tat mehr Eis in sein Getränk und sagte: »Ich habe darüber nachgedacht. Ich könnte mich natürlich zum City Corps melden, und nach der Grundausbildung würde ich im ersten Jahr wahrscheinlich Parkzettel schreiben oder so etwas…« »Für neun Dollar die Stunde«, sagte Heidi. »Nun ja. Vielleicht könnte deine Schwester mir ja dabei helfen, in einem Jahr die Sergeantenprüfung zu bestehen.« »Oder du könntest deine achtzehn Monate Felddienst ableisten…«
»Und mir in Puerto Rico oder in Miami Beach den Arsch abschießen lassen.« »Aber dann hättest du es wenigstens hinter dir. Ach, Scheiße.« »Oder ich könnte bei der ärztlichen Untersuchung durchfallen.« Sie sah ihn an, schob seinen Morgenmantel zur Seite und boxte ihm in seinen straffen Bauch. »Wie willst du das wohl anstellen? Du hättest es schon am College hinter dich bringen sollen. Wie ich.« »Ich habe nie ein College besucht«, sagte er. »Scheiße.« Der Abend, der so vielversprechend begonnen hatte, schien plötzlich endgültig versaut; und in diesem Augenblick zeigte die Türklingel an, daß Lucy zurückgekommen war, um die Unterschriftenliste abzuholen. Inzwischen war Bratislaw die ganze Bedeutung dieser Nachricht klar geworden, und als er die Tür öffnete, sagte er zum etwa zwanzigsten Mal »Scheiße.« Die Schwestern waren Küßschwestern, aber während sie sich küßten, schaute Lucy am Ohr ihrer Schwester vorbei zu Bratislaw hinüber. »Was ist denn nun?« fragte sie, aber dann sagte sie ahnungsvoll: »Du hast Heidi überhaupt nichts von der Liste erzählt.« Bratislaw freute sich über diese Ablenkung. »Ja, das stimmt. Es tut mir wirklich leid, Lucy.« Sie schüttelte den Kopf. »Hier geht es um wichtigere Dinge«, sagte sie und sah jetzt ihre Schwester an. »Komm. Was ist denn nun?« Bratislaw erzählte Lucy von der Einberufung, und seiner Frau erzählte er von der Unterschriftenliste, und als sie alles aussortiert hatten, war die zweite Flasche Wein schon fast geleert, und der Abend schien wirklich nicht mehr der geeignete Zeitpunkt, ein Kind zu zeugen. Aber Lucy sah sich
im Recht. Sie war der Stolz der Familie, sie war es, die sich erstens gegen jede Vernunft dazu entschlossen hatte, Polizeibeamtin zu werden, und die zweitens dabei ehrlich geblieben war – gegen alle Usancen. »Es ist eine gute Sache für dich, Jeff«, sagte sie weise, »und ich werde dir schon weiterhelfen, das verspreche ich dir. Wenn ihr jetzt bitte beide unterschreiben wollt…« »Moment«, sagte ihre Schwester. »Das können wir nicht tun, Honey.« »Natürlich könnt ihr…« »Nein«, sagte Heidi, »wir können nicht, und wenn du darüber nachdenkst, wirst du es einsehen. Du willst es riskieren. Gut. Deine Probezeit ist vorbei, und du hast deinen Job sicher. Ziemlich sicher. Aber was passiert, wenn Jeff die Liste unterschreibt und dann zur Armee geht? Ein Dienstpflichtiger? Ohne Rang? Sie haben ihn sofort am Arsch, Lucy, und das weißt du genau.« Lucy sah erst ihre Schwester, dann Bratislaw an, und in ihren Augen blitzte Wut auf. »Ihr zwei! Ist euch das denn alles gleichgültig? Wollt ihr, daß die verdammten Gangster die Stadt übernehmen?« »Das haben sie schon getan, Lucy, und wir können nichts daran ändern. Es tut mir leid, aber so liegen die Dinge nun einmal. Gute Nacht, Lucy. Besuch uns bald wieder.« Das dumme war, daß sie recht hatte; das wußte Bratislaw, das wußte Heidi, und das wußte sogar Lucy. Bratislaw ging zum Fenster hinüber und schaute auf die Stadt hinaus. Dann zuckte er die Achseln, griff nach der Fernschaltung für das Licht und nahm die Helligkeit zurück, bis es fast dunkel war. Gähnend ging er zum Schlafzimmer hinüber, aber die Stimme seiner Frau ließ ihn stehenbleiben. »Jeff, du hast die Rechnungen vergessen.«
»Was?« Er drehte sich um, und der Schirm zeigte immer noch die Rechnungen, die mit der heutigen Post gekommen waren. »Mein Gott«, stöhnte er, »das Gerät ist immer noch eingeschaltet. Sie werden doch alle automatisch abgebucht. Sie hätten gezeigt und dann gleich gespeichert werden müssen…« Er starrte auf den Schirm. »Scheiße!« sagte er. Es war das einundzwanzigste Mal, und er sagte es besonders laut, denn unter den Kontoauszügen der Versorgungsbetriebe, der Versicherungen und denen für die Ratenkäufe las er eine Zeile in leuchtend roten Buchstaben: Saldo nicht ausreichend »Verdammt! Heidi? Hast du Geld vom Konto abgehoben, ohne es mir zu sagen?« »Natürlich nicht, Jeff.« Aber bevor sie den Satz beendet hatte, wußte er es schon, denn er hatte ihren Bank-Code eingegeben, um einen Auszug zu bekommen, und die Zahlen erschienen schon vor seinen Augen. 17. Mai 11.23 Uhr **Auszahlung** $ 1710.50 *** Saldo $ 8.26 »Wir sind beraubt worden!« rief er. »Jemand hat unsern Code geknackt und unser Konto leergeräumt! Mein Gott, diese Stadt geht tatsächlich vor die Hunde!« »Ich hab’s dir ja gleich gesagt«, rief seine Frau wütend. »Wir hätten in ein privates Chiffriersystem investieren sollen.« Es gab nicht viele Dinge, die Bratislaw im Moment von seiner Frau hätte hören mögen. Der Hinweis darauf, daß sie es ja gleich gesagt habe, stand ganz unten auf der Liste. Natürlich hatten alle ihre Bekannten ihre Telebanksysteme durch private Chiffren doppelt gesichert, aber das kostete Geld, und man
mußte das Code-Wort im Kopf behalten – eine zusätzliche Belastung. Jeder wußte, daß die Computerkriminalität in der Stadt gewaltig zugenommen hatte – aber manche Leute, unter ihnen Jeff, liefen im zuversichtlichen Glauben durchs Leben, daß es nicht sie, sondern andere treffen würde. Was für ein Ende eines vielversprechenden Tages! Der Einberufungsbescheid, der Streit mit Lucy, das beraubte Bankkonto; es war einfach zu viel. Inzwischen hatte sich die Beleuchtung ganz ausgeschaltet, und er stolperte in der Dunkelheit ins Schlafzimmer, wo seine Frau lag und gegen die Decke starrte. Merkwürdigerweise lächelte sie. »Was ist denn los mit dir?« fragte er alles andere als liebenswürdig. »Ich habe es mir überlegt«, sagte sie zur Decke. »Einberufung verschoben. Lebenswichtige Industrie…« Er setzte sich erstaunt zu ihr auf das Bett. »Was redest du da? Meine Einberufung verschoben? Nun ja, aber ich arbeite doch in keiner lebenswichtigen Industrie…« »Oh, doch«, krähte seine Frau fröhlich, »wenn die Schlampe, für die du arbeitest, das sagt. Morgen früh mußt du ihr das gleich als erstes sagen.« Sie korrigierte sich: »Ich meine, du mußt sie bitten, das für dich zu erledigen. Und warum kommst du jetzt nicht zu mir ins Bett?« Und es stellte sich heraus, daß dieser Abend doch kein so ungünstiger Zeitpunkt war, ein Kind zu zeugen.
III
Ella Jennalec traf ihn im Erdgeschoß, und draußen wartete ein Wagen. »Fahren Sie bitte«, sagte sie, und nachdem sie ihm einige Anweisungen gegeben hatte, setzte sie sich auf den Rücksitz. Während der Fahrt zum alten Zuchthaus von BedStuy hatten sie kaum Gelegenheit, sich miteinander zu unterhalten. »Warten Sie«, sagte sie und ging zum Eingang hinüber. Nach einer Minute kam sie wieder zurück. »Das Arschloch ist gerade bei der Polizei zu einer Gegenüberstellung«, sagte sie angewidert. »Ich muß warten, bis sie fertig sind.« Das »Arschloch« war offenbar ein Häftling. »Ein Freund von Ihnen, Ella?« fragte Bratislaw. Sie sah ihn an. »Jeder, der mir nützen kann, ist mein Freund«, sagte sie. »Und was ist mit Ihnen?« fügte sie hinzu. »Können Sie mir auch nützen?« »Das hoffe ich doch, Ella.« Er erzählte ihr von dem Einberufungsbefehl und daß Heidi und er gern ein Kind hätten. Er kam nicht sehr weit, denn sie hatte schon begriffen, was er wollte, bevor er zur Sache kam. »Einen Augenblick«, sagte sie und schaute nachdenklich zum Stadtentwicklungsprojekt Bed-Stuy hinüber, mit den schwarzen Solarzellen auf den Dächern und den seltsamen spiralenförmigen Windmühlen. Sie läßt sich sehr viel Zeit, dachte Bratislaw. Schließlich verlangte er nichts Unmögliches! Wenn man einberufen wurde, hatte man die Wahl zwischen drei Jahren Dienst in der City und achtzehnmonatigem regulären Dienst in der Armee, ohne jede Garantie hinsichtlich der Verwendung oder des Ranges – es war nicht einmal
garantiert, daß man überlebte, wenn man zu irgendeinem Unruheherd geschickt wurde. Es unterschied sich eigentlich nicht sehr von anderen Jobs. Nach der Grundausbildung arbeitete man vierzig Stunden in der Woche. Man fing mit Parkzetteln an und durfte schließlich mit einem regulären Polizeibeamten Streife gehen – man konnte sogar zu Hause wohnen und vielleicht sogar nachts arbeiten. »Wissen Sie, Jeff«, sagte sie ganz ernsthaft, »es gibt einige gute Jobs bei der Polizei. Ein gescheiter Bursche kann da einen Haufen Geld verdienen.« »Ich möchte lieber bei Ihnen arbeiten, Ella«, sagte er bescheiden. Ganz davon zu schweigen, daß die Schwester seiner Frau ihn kreuzigen würde, wenn er sich als die Sorte Polizist erwies, die einen Haufen Geld verdient. Sie lächelte strahlend. »Kein Problem, mein Freund«, sagte sie fröhlich. »Ich werde mich gleich heute darum kümmern.« »Und was geschieht mit meinem Einberufungsbefehl?« »Zerreißen Sie ihn. Aber jetzt warten Sie einen Augenblick, während ich meinen Freund besuche.«
Bratislaw arbeitete nicht so sehr als Ella Jellanecs Assistent wie als ihr Leibwächter; ihm wurde bald klar, daß sie ihn hauptsächlich wegen seiner Größe für diesen Job ausgesucht hatte. Wohin sie auch immer ging, er war bei ihr, und sie ging überall hin. Nach Brooklyn, wo die Ortsgruppe 2432 der Energiearbeitergewerkschaft von Amerika mit einem Streik drohte, denn die Kuppel würde die Windverhältnisse in Bedford-Stuyvesant verändern, und die an dem Projekt für die Wiederverwertung von Rohstoffen beschäftigten Leute sahen ihre Jobs gefährdet. Zum Rathaus, wo die Stadterneuerungskommission des Bürgermeisters tagte. Zur
125th Street, um sich dort über den Fortschritt der Arbeiten zu orientieren; nach Jersey City, um mit der Ortsgruppe jenseits des Flusses zu verhandeln; in die oberen Stockwerke des World Trade Center und zu dem riesigen Bogen über dem Central Park, wo die Kuppel ihre größte Höhe erreichen sollte. Manchmal nahm Ella ihr Kind mit. Bratislaw war erstaunt, als er feststellte, daß die Gewerkschaftschefin ein Kind hatte; er hatte nicht einmal gewußt, daß sie verheiratet war, und wenn sie einen Mann hatte, lebte er jedenfalls nicht mit ihr zusammen. Nach dem ersten Tag hatte er es sich angewöhnt, sie in ihrer Wohnung abzuholen. Sie hatte eine sehr schöne Wohnung. Wie vor allen Wohnblocks in New York, lagen auch vor ihrem Haus die Müllsäcke mannshoch und warteten auf den fernen Tag, da jemand sie abholen würde, und zweimal sah Bratislaw, als er ankam, ein paar schmutzigbraune Ratten davonhuschen. Aber das Haus hatte einen Pförtner, und in allen Ecken der Eingangshalle waren Fernsehkameras angebracht. Am ersten Tag mußte Bratislaw zwanzig Minuten in der Halle herumstehen, weil Ella dann erst den Hörer abnahm. Als sie sich endlich meldete, bat sie den Pförtner, ihn gleich nach oben zu lassen. Sie empfing ihn an der Tür, ein Handtuch turbanartig um den Kopf gewickelt, ein zweites umhüllte ihren nassen Körper. »Warten Sie im Wohnzimmer, Jeff. Da steht Kaffee, falls Sie welchen mögen.« Das Wohnzimmer war doppelt so groß wie Bratislaws ganze Wohnung. Der dicke weiße Teppich reichte von einer Wand zur anderen. In einer Ecke stand eine Videoanlage, und die Lautsprecher waren in die Zimmerdecke eingelassen. Er saß auf einer Couch, deren Länge ungefähr seiner Körpergröße entsprach – sie war so lang, daß man sie zu einem riesigen Bett hätte ausziehen können, aber er hätte wetten mögen, daß es ganz einfach nur eine Couch war. Unruhig stand er auf und
schaute aus dem Fenster auf den Hudson hinaus, der grau und trübe zwischen den Gebäuden zu sehen war. Dann schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich wieder. Und wartete. Bratislaw hatte keine Ahnung, worauf er eigentlich wartete, denn das Aufblitzen der Schenkel unter dem Handtuch, als Jennalec sich abwandte, hatte ihm zu denken gegeben. Aber als sie hereinkam, ganz angezogen, in Jeans und Stiefeln, eine Baskenmütze auf dem feuchten Haar, war sie die Sachlichkeit selbst. Und er wußte nicht, ob er enttäuscht sein sollte oder nicht. Als er an diesem Abend nach Hause kam und Heidi von Jennalecs Wohnung erzählte, fragte sie: »War sie nackt, als sie öffnete?« »Aber nein, Heidi. Sie hatte ein Handtuch um.« »Das hatte ich auch«, sagte sie bitter, »als du in Stuyvesant Town mir gegenüber wohntest und ich dich bat, mein Fenster heilzumachen. Aber ich wußte was ich tat, und das weiß sie auch.« Jeff Bratislaws Arbeit bestand also darin, Ella Jennalec zu begleiten, wo immer ihre Arbeit sie hinführte. Und das war ganz New York – das richtige New York, nämlich die Insel Manhattan. Das war die City, wie sie existiert hatte, bevor die Brücken dazu führten, daß Brooklyn aufgeschluckt wurde, und bevor durch die weitere Entwicklung die anderen Stadtteile hinzukamen. Das war das New York, das die Leute aus New Jersey und Texas und China meinten, wenn sie »New York« sagten. Sehr selten verließ Jellanec auch einmal die Insel, aber zwischen Battery und Harlem River gab es genügend Dinge, mit denen sie sich beschäftigen mußte. Womit genau sie sich beschäftigte, war allerdings nicht so leicht zu verstehen. Jennalecs Stellung in der Gewerkschaft war unklar. Ihr Titel war »Gewerkschaftsvorsitzende«, aber die Vorsitzende welcher Gewerkschaft war sie eigentlich? Sie war
am Pfeiler von Fordham genauso zu Hause wie im World Trade Center. Manchmal erzählte sie ihm von sich aus, um was es gerade ging – ein Streit um Gefahrenzulage in der Nähe des alten Gebäudes der Vereinten Nationen, ein Kompetenzdisput beim Brückenbauprojekt an der 59th Street. Wenn sie sich nicht äußerte, fragte Jeff manchmal, aber nach zwei Tagen nicht mehr. »Jeffy, Schätzchen«, sagte sie und sah ihm dabei in die Augen, »was Sie wissen müssen, werde ich Ihnen schon sagen, und was ich Ihnen nicht sage, geht Sie nichts an. Okay?« »Okay«, sagte Bratislaw und hielt sich daran. Das war auch selbstverständlich. Jeder wußte, daß eine Überprüfung des Großen Geschworenengerichts in der Luft lag, und wenn eine dieser geheimnisvollen Fahrten etwas damit zu tun hatte, war es sinnlos, darüber zu reden. Jeden Abend ließen die Fernsehreporter Neuigkeiten über das Große Geschworenengericht durchsickern. Sollten sie ihren Spaß haben, Ella würden sie nichts anhängen können! Sicher tat sie gelegentlich einem Gewerkschaftsmitglied einen Gefallen – vielleicht hin und wieder auch einem Unternehmer. Eine Hand wäscht die andere. Wie sonst sollte man mit einer großen Aufgabe fertigwerden? Aber etwas Strafbares beweisen? Nie. Je öfter Bratislaw mit Ella Jennalec zusammen war, desto mehr bewunderte er sie, und nicht nur wegen der Art, wie sie ihre Jeans ausfüllte. Sie hatte Mut. Sie hatte genau den Mut, der auch ihn dazu zwang, mutig zu sein, wenn sie zum Beispiel auf Laufplanken hundert Meter hochstieg, um mit einem Monteur zu reden – wobei Bratislaw ihr beherzt folgte, die Hände ständig am Drahtgeländer. Er begleitete sie auch im offenen Lastenaufzug bis zur Spitze des Kuppelpfeilers, aber während sie lebhaft gestikulierend mit dem Vorarbeiter sprach, hielt Bratislaw den Blick fest auf die hohen Gebäude jenseits des Flusses gerichtet.
Auf der Rückfahrt schaute er erst wieder nach unten, als sie zehn Meter über dem Boden waren. Einmal stieß sie ihn an. »Wenn Sie immer noch wollen, könnte ich Sie hier oben beim Abbruch unterbringen«, sagte sie und grinste. »Ich mache natürlich nur Spaß. Sie machen es schon ganz gut, mein Lieber. Beim ersten Mal ist es immer etwas schwierig – oh, Scheiße, was ist denn das schon wieder?« Wenn Bratislaw sich nicht so elend gefühlt hätte, wäre seine Reaktion vielleicht schneller gewesen und er hätte sich zwischen Ella und den kleinen Mann mit dem blauen amtlichen Schreiben gestellt. Aber er war zu langsam. Nervös beobachtete der kleine Kerl Bratislaw, als er Jennalec die gerichtliche Vorladung reichte, und er schaute sich noch einmal um, als er sich rasch entfernte. Bratislaw öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, aber Jennalec grinste schon wieder. Sie warf dem davoneilenden Gerichtsboten eine Kußhand hinterher und gab Bratislaw das Papier. »Geben Sie es auf dem Heimweg beim Anwalt ab und zittern Sie nicht so. Wofür, denken Sie, bezahlen wir unsere Anwälte?«
Natürlich brachte das Fernsehen die Nachricht, und natürlich hatte Lucy es schon vorher erfahren. Sie wartete in der Wohnung, als Bratislaw nach Hause kam. Es war Heidis freier Tag. Die Schwestern hatten irgend etwas gebacken – aus dem Herd kamen angenehme Düfte –, und dann hatten sie es sich mit einem Drink bequem gemacht. Lucy war noch in Uniform, aber sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und die Bluse oben aufgeknöpft. Ihr hübsches Gesicht war gerötet. »Lieber Jeff«, sagte sie sofort, »du solltest dich wirklich von dieser Hexe trennen.«
»Ach, Lucy, ich hatte einen harten Tag. Mach’s nicht noch schlimmer.« Er zeigte auf die Gläser und das Eis und schaute zu, als sie ihm einen Whiskey on the Rocks machte. »Ich weiß, worüber du dir Sorgen machst«, sagte sie und reichte ihm das Glas. »Es ist die Einberufung. Stimmt’s? Aber das ist doch halb so schlimm. Du machst einfach Dienst bei der City Police, und ich werde dein Boß. Gewiß, die Bezahlung ist lausig, aber…« »Es geht mir gar nicht um die Bezahlung, Lucy.« »Nun, der Stolz auf den Job kann es auch nicht sein! Weißt du nicht, was mit Ella Jennalec passieren wird? Das Große Geschworenengericht wird gegen sie Anklage erheben wegen Erpressung im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen!« »Ein Komplott!« »Sei kein Trottel, Jeff. Sie haben die Beweise. Sie haben Zeugen, und…« sie zögerte und wechselte dann die Richtung. »Ich weiß, was sie gegen Jennalec in der Hand haben, und sie selbst weiß es auch; es geht hier um ein Schwerverbrechen, und sie muß mit fünf bis fünfzehn Jahren rechnen.« »Wofür, denkst du, bezahlen wir unsere Anwälte?« sagte er. Er brachte die Worte richtig heraus, aber sie klangen alles andere als echt. »Hör zu, Jeff«, sagte Lucy in einem Tonfall, als redete sie mit einem Kind. »Sie muß vor Richter Horatio Margov erscheinen, dem Blutrichter von Harlem. Sie wird ins Gefängnis gehen, Jeff, und du solltest dich von ihr trennen, bevor du in ihre Verbrechen verwickelt wirst.« Lucy empfand keine Schadenfreude. Das hätte nicht zu ihr gepaßt, aber Bratislaw war wütend. »Kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten, Lucy. Ella leistet Enormes für die Gewerkschaft.« »Den Teufel tut sie! Sie ist Abschaum, Jeff. Sie haben – verdammt, es ist alles in den Akten nachzulesen: allein
Erpressung wird ihr in sechs Fällen vorgeworfen, ganz zu schweigen von den zwei Mordversuchen, die ihrem Schläger Tiny Martineau zur Last gelegt werden. Willst du damit etwas zu tun haben? Heidi! Sag ihm doch, daß er auf mich hören soll!« Heidi zuckte die Achseln, aber sie sah ihren Mann fest an. Jeff protestierte: »Sie tut nichts, was nicht alle anderen auch tun!« »Das ist ja gerade das Schlimme! Zu viele Ganoven in Vertrauensstellungen, und keiner tut was dagegen. Das Böse kennt keinen schöneren Triumph, als daß die Guten untätig bleiben. Das ist ein Zitat.« »Das ist ein Dreck! Ella hat einflußreiche Freunde. Weißt du überhaupt, wie viele Politiker ihr verpflichtet sind?« »Die werden alle mit ihr zusammen den Bach runtergehen«, prophezeite Lucy. »Dafür wird Horatio Margov schon sorgen. Gewiß, viele sind ihr verpflichtet. Sie hat den Bürgermeister in der Hand, und den Polizeichef und drei Viertel der Beamten in meinem Bezirk. Kein Problem! Aber wir brauchen nur einen unbestechlichen Richter und einen Staatsanwalt, der den Fall energisch vorantreibt, und sie ist erledigt. Jeff«, bat sie, »gebrauch doch deinen Kopf. Das Syndikat steckt in Schwierigkeiten. Seit Drogen legalisiert wurden, läuft auf dem Gebiet bei ihnen nichts mehr. Es gibt keine nennenswerte Prostitution mehr, und sie können nicht einmal stehlen, es sei denn, sie könnten Computercodes knacken, und dazu sind sie meistens nicht gescheit genug. Was bleibt den Gangstern also übrig? Erpressung und korrupte Gewerkschaften! Wenn wir die erst einmal gesäubert haben, sind sie aus dem Geschäft! Wenn wir also deine Freundin festnageln, wäre das der letzte Schritt.« Sie sah ihre Schwester an und sprach rasch weiter: »Wenn ich sie deine Freundin nannte, war das nicht bös
gemeint.« Aber Heidi mischte sich nicht ein. Sie starrte nur mit zusammengekniffenen Lippen die Wand an.
Es stimmte ohnehin nicht. Ella war nicht seine Freundin. Gewiß, Bratislaw glaubte schon, daß daraus etwas werden könnte, wenn er die richtigen Schritte unternahm, denn Jennalec schien es nie etwas auszumachen, sich ihm in Unterwäsche zu zeigen, in Hosen und freiem Oberkörper oder mit einem Handtuch um die Hüften; und sie hatte auch nichts dagegen, daß er es merkte, wenn das Handtuch gelegentlich ein wenig verrutschte. Aber er unternahm nichts, und sie schien keinen Gedanken daran zu verschwenden. Sie hat wahrscheinlich Männer genug, dachte er. Allein mit ihrem Kind in dieser großen Wohnung, da konnte niemand wissen, wer zur Tür hereinkommen würde, wenn Bratislaw abends gegangen war. Aber das ging ihn wirklich nichts an. Er hatte lediglich zu tun, was sie ihm auftrug. Als er ihr sagen wollte, was seine Schwägerin ihm erzählt hatte, befahl sie ihm, die Sache zu vergessen. »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit? Dann tun Sie sie. Die juristische Seite überlassen Sie bitte den Anwälten.« Und sein Job gefiel ihm tatsächlich – er war nicht nur interessant, auch im Zusammenhang mit seiner Einberufung hatte sie, wie versprochen, einen Aufschub erwirkt, und das Gehalt hatte ihn überrascht. Angenehm überrascht. Er bekam nicht nur anderthalb mal so viel wie an der Winde, sondern hatte den zusätzlichen Vorteil, daß die Hälfte seines Gehalts in bar ausgezahlt wurde. In bar! Ohne Papiere und steuerfrei! »Achten Sie darauf, wie Sie es ausgeben«, wies sie ihn an. »Kleidung, Schnaps, Partys oder Ähnliches. Oder Sie stecken es in einen Safe. Aber zahlen Sie keine Bankdarlehen damit zurück, denn sobald eine solche Transaktion in den Unterlagen
für die Buchprüfer auftaucht, fliegen Sie auf. Und jetzt holen Sie den Wagen. Wir fahren in die südliche Bronx, und Sie können mitkommen. Dabei lernen Sie vielleicht etwas.«
Der Ort hieß Bellamy-Windkanaltestanlage, und das erste, was ihm auffiel, war der Lärm. Was für ein Lärm! Es hörte sich an, als ob zehn Jets gleichzeitig starteten, und alle in seinem Schlafzimmer. Bratislaw blieb stehen, und Jennalec stieß ihn in den Rücken. »Weiter«, schrie sie ihm ins Ohr und zeigte auf eine Frau in einem hellgrünen Kittel, die in einem Glaskäfig saß. »Sie wird Ihnen alles erklären.« Dann verschwand sie hinter einer Tür mit der Aufschrift Direktion – Zutritt verboten. Obwohl Bratislaw an den Fundamenten der Kuppel mitgearbeitet hatte, wußte er erstaunlich wenig von diesen Dingen. Der Windkanal selbst war riesig. Das mußte er auch sein, denn das Modell der Kuppel, das in ihm getestet wurde, war fast zwölf Meter lang. Es rotierte langsam und unregelmäßig auf einer Drehscheibe. Der Tunnel, das erkannte Bratislaw, konnte seine Windrichtung nicht ändern, und deshalb drehte sich das Modell auf der Drehscheibe. Das Modell zeigte nicht Manhattan selbst sondern nur die Kuppel, die es überdachen sollte. Sie sah aus wie zwei Kugeln schmelzendes Vanilleeis auf einem überdimensionalen Banana Split – nein, sie sah aus wie das Wachsmodell eines Banana Split mit Vanilleeis, das zu lange im Schaufenster gestanden hatte und jetzt voller Pockennarben und Fliegendreck war. Aus dem Lautsprechersystem tönte eine Stimme: »Warum kommen Sie denn nicht herein?«, und als Bratislaw aufschaute, sah er, daß die Technikerin ihm zuwinkte. Dankbar ging er zu ihr in den Glaskasten. Der Lärm war immer noch schlimm genug, aber hier erreichte er wenigstens nicht die Schmerzschwelle.
Vor der Technikerin stand ein kleineres Modell der Kuppel, das von roten und blauen Lampen erleuchtet wurde, die flackerten und heller und dann wieder dunkler wurden. »Hallo«, sagte die Frau im grünen Kittel. »Ich bin Marilyn Borg. Gefällt es Ihnen?« Bratislaw gab zu, daß er nicht genug darüber wußte, um eine eigene Meinung zu haben. Die Frau lächelte. »Häßliches Ding«, sagte sie. »Es wäre besser gewesen, wenn man Phoenix oder sogar Los Angeles überdacht hätte. Wissen Sie, dann hätte es eine schöne runde Kuppel gegeben. New York ist so lang und schmal, und dann die vielen Brücken und das tiefe Wasser um die Stadt herum. Das ist strukturell schlecht.« »Sie meinen, es wird nicht funktionieren?« »Natürlich wird es funktionieren. Aber sehen Sie sich die Druckunterschiede an. Die Löcher an dem Modell draußen, erklärte sie, seien Druckventile, die die Werte für den Druck durch Umwandler an das kleinere Modell, das vor ihr stand, übermittelten.« Die roten Lampen am Modell zeigten negativen, die blauen positiven Druck an; je größer der Druck, um so heller die Farbe. »Sehen Sie den Unterdruck hier oben über der Kuppel? Das ist wie bei einer Flugzeugtragfläche. Sie will abheben und fliegen. Dann hier der hohe Druck, wo der Wind auftrifft und auch, wo die Kuppel endet – warten Sie einen Moment.« Sie schaute auf eine Digitaluhr und gab einige Befehle ein. Als die nächste Sequenz begann, drang weißer Rauch aus den Aknenarben an der Kuppel im Windkanal und verteilte sich auf der Oberfläche. Sie gab einige weitere Befehle ein, und der Rauch verwandelte sich in einen vielfarbigen Regenbogen, an dem man erkennen konnte, wie die Rauchströme ineinanderflossen und verschmolzen. »Schauen Sie sich die alten Brücken über den East River an! An einem stürmischen Tag würde ich wirklich nicht versuchen, nach Brooklyn zu spazieren!« Und unten am
Modell gab es tatsächlich erhebliche Turbulenzen, besonders an den Stellen, wo die Brücken nach draußen führten. »Sie werden den Rand verstärken müssen«, prophezeite Borg düster, »besonders am Hudson. Von Palisades kommt der Wind wie durch einen Trichter den Fluß herab, wenn er von der richtigen Seite kommt, aber das haben wir berücksichtigt.« Sie grinste. »Ein Orkan ist allerdings stärker. Und auch der Schnee und der Regen, wenn er dort friert. Dann haben wir einen Zentimeter Eis auf der Kuppel, und über die gesamte Oberfläche gerechnet, sind das vielleicht hunderttausend Tonnen.« Sie lehnte sich zurück und sah Bratislaw an. »Sie sind ziemlich groß«, bemerkte sie. »Und Sie«, sagte Bratislaw galant und schaute auf die Stelle, wo sich der Kittel über ihren Brüsten spannte, »geben auch keine schlechte Figur ab.« Sie tippte selbstzufrieden auf das Modell. »Mein Freund sagt, daß er nicht weiß, ob ich das Ding studieren oder tragen sollte.« Nun, es kann nicht schaden, dem Mädchen ein wenig zu schmeicheln, dachte Bratislaw und amüsierte sich. Natürlich würde daraus nichts entstehen. Es durfte nichts daraus entstehen. Allerdings, je länger er Marilyn Borg betrachtete, umsomehr war er davon überzeugt, daß sich unter ihrem grünen Kittel etwas sehr Sehenswertes verbarg. Es war eine sehr angenehme Art, etwas über die Konstruktion der Kuppel und die an ihr auftretenden Druckbelastungen zu erfahren – die Spitze reichte, wie er feststellte, bis durch die »Grenzschicht« der Atmosphäre, wo die meisten Turbulenzen entstanden, aber die Form der Kuppel würde die Belastung verringern. Sie erzählte ihm auch einiges von dem Windkanal, in dem drei sechsblättrige Propeller bei verschiedenen Temperaturen und Feuchtigkeitsgraden einen Orkan von hundertfünfzig Meilen in der Stunde oder die Belastung durch eine Schneeschicht von
sechzig Zentimeter Höhe simulieren konnten. Und dann redete Marilyn Borg über sich selbst, bis eine Stimme aus dem Lautsprecher über seinem Kopf ertönte: »Kommen Sie, alter Junge, es ist Zeit zu gehen.« Und irgend etwas an Jennalecs Ton ließ vermuten, daß sie zugehört hatte. Im Wagen überraschte Ella Bratislaw, denn sie stieg nicht hinten ein, sondern setzte sich neben ihn. »Wohin, Boß?« fragte er, aber sie antwortete nicht gleich. Sie sah ihn prüfend an, und er wußte beim besten Willen nicht, was sie dabei im Sinn hatte. Aber dann fragte sie: »Wie geht es Ihrer Frau?« »Oh, gut«, sagte er, und sie nickte, als hätte er damit ein schwieriges Diagnoseproblem endgültig gelöst. »In den nächsten paar Stunden liegt nichts vor«, sagte sie, »und ich denke, ich schulde Ihnen eine selbstgekochte Mahlzeit. Sind Sie daran interessiert?« Er schluckte und grinste. »Und wie«, sagte er und gab Gas.
Sie zog sich nichts Bequemeres an, und sie legte auch keine Stimmungsmusik auf; sie verschwand einfach in der Küche, und ihm blieb nichts übrig, als die antiken Möbel anzustarren. »Fünf Minuten«, rief sie. »Länger dauert es nicht. Das meiste habe ich schon fertig.« Zu Bratislaws Überraschung war die selbstgekochte Mahlzeit kaum gekocht. Sie bestand aus Salat und einer Terrine Suppe, und er erkannte am Geruch, daß die Suppe Fischbrühe war. »Es schmeckt besser, als es riecht«, versprach sie. »Ich hätte Sie warnen sollen. Ich esse nämlich kein Fleisch.« Er kostete die Suppe, und es war wirklich Fisch; eine sehr dünne Suppe, fast nach japanischer Art, aber nicht schlecht, und der Salat war frisch und knackig und enthielt Nüsse und
etwas, das Bratislaw für geröstete Kartoffelstückchen hielt. »Wieso?« fragte er. »Sie meinen, wieso ich kein Fleisch esse? Oh, früher habe ich Fleisch gegessen. Zu Hause in Bed-Stuy aß ich immer Fleisch; Sie wissen ja wie Kinder sind. Aber mein erster Job war bei den Rindermastbetrieben in Flushing Meadows. Kennen Sie die? Dort werden Wasserhyazinthen angebaut. Sie werden auf den Teichen gemäht und in der Abwärme der städtischen Pumpen getrocknet. Dann werden sie gehäckselt und an die Rinder verfüttert. Die Rinder sind ganz wild nach dem Zeug, und es gibt hervorragende Steaks.« »Und warum essen Sie dann kein Fleisch?« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Weil ich festgestellt habe, was die Rinder sonst noch fressen! Sterilisierten Klärschlamm. EZP – das heißt einzelliges Protein; es wird im Klärschlamm kultiviert, und man behauptet, daß es völlig sauber ist. Aber ich weiß, woher es kommt! Und das ist noch nicht alles. Steinstaub, hätten Sie das für möglich gehalten? Abfälle aus Papierfabriken! Ihre eigene Scheiße. Man ißt einen Hamburger, aber in Wirklichkeit ißt man einen Kuhfladen mit Konfetti und Kraut – nein, danke!« »In Wisconsin war es nicht anders«, sagte Bratislaw, »nur, daß dort die Molkeabfälle aus der Käserei verfüttert wurden. Sie haben keine Ahnung, was Gestank ist, bevor Sie das Zeug gerochen haben.« »Und trotzdem stecken Sie es in den Mund?« Sie aß den Rest ihres Salats und lehnte sich zurück. Dann zündete sie sich einen Joint an und sah ihm nachdenklich ins Gesicht. »Was stecken Sie überhaupt alles in den Mund, Brat?« erkundigte sie sich. Das beste ist, dachte Bratislaw, ich fasse das als Witz auf. Er lachte, während er sich eine Gabel voll Karottenscheiben und
rohem Blumenkohl in den Mund schob. Dann wechselte er das Thema. »Wo ist Ihr Junge?« fragte er. Ella nickte, als sei ihr der Themawechsel gar nicht aufgefallen. »Er ist in der Schule und kommt erst in drei Stunden nach Hause«, sagte sie. »Nehmen Sie doch einen Zug«, fügte sie hinzu, reichte Bratislaw ihren Joint und richtete sich im Stuhl auf. »Helfen Sie mir, das Geschirr in die Maschine zu stellen, und dann gibt es für Sie etwas zu tun. Wissen Sie, Brat, außer mich in der Gegend herumzufahren, hatte Tiny noch besondere Pflichten. In der letzten Zeit hatte ich wenig Bedarf – aber ein paar meiner Freunde sind nicht in der Stadt, und ein paar andere sind keine Freunde mehr.« Sie stand auf und nahm seine Hand. »Ich denke, es ist an der Zeit, daß Sie erfahren, worin diese besonderen Pflichten bestehen.« Falls Heidi argwöhnte, daß sich in ihren Beziehungen etwas geändert hatte, zeigte sie es nicht. Die Schlepperkapitäne waren in den Streik getreten, und deshalb mußte sie schwerer und länger arbeiten als vorher. Wenn sie abends nach Hause kam, war sie erschöpft. War Jeff Bratislaw noch nicht zu Hause, wenn sie schlafen wollte, ging sie trotzdem ins Bett. Das war auch gut so. Bratislaw war zwar ein potenter Mann, aber er wurde von Ella Jennalec doch erheblich gefordert – es waren keine ausgedehnten Orgien; nur morgens vor Beginn der Tagesarbeit und meistens abends, bevor er nach Hause ging. Manchmal veranstalteten sie auch während des Tages irgendwo ein kleines Turnier. Davon abgesehen aber hatte sich in ihren Beziehungen kaum etwas geändert; sie traf die üblichen Verabredungen, tat die übliche Arbeit, absolvierte die üblichen Gespräche am Autotelephon. Aber sie sprach mehr mit ihm. Über sich. Über ihn. Über die Welt. Sie sprach sogar über die bevorstehende Verhandlung vor Richter Margov, und als sie über das Verfahren sprach, zeigte sie den gleichen Mut, den sie hoch oben auf den stählernen Baugerüsten zeigte. »Sie
sind schon eine Frau«, sagte Bratislaw, und die Bewunderung in seiner Stimme war echt. Auf dem Weg in die Stadt saß sie vorn neben ihm. »Ja«, meinte sie nachdenklich und sah ihn dabei an. Als sie vor einem verwahrlost wirkenden Gebäude halten ließ und ausstieg, war sie immer noch nachdenklich, und als sie eine halbe Stunde später zurückkam, grinste sie. Er wollte gerade anfahren, als sie ihn stoppte. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine. Erstaunt hielt er inne… und dann sah er worauf sie wartete. Aus demselben Hauseingang kam eine große weißhaarige Gestalt und schaute sich vorsichtig um, bevor sie in einer U-Bahnstation verschwand. Es war Horatio Margov, der Blutrichter von Harlem. Er drehte sich erschrocken zu Ella um, die triumphierend grinste. »Sie halten ganz einfach den Mund«, riet sie Bratislaw. »Und nächstes Mal dürfen Sie mir ruhig glauben, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.« Aber er machte sich dennoch Sorgen, hauptsächlich darüber, ob er die Willenskraft aufbringen würde, Heidi nichts zu erzählen, und ob sie im Stande sein würde, es ihrer kämpferischen Schwester zu verschweigen… aber diese Sorge hätte sich erübrigt. Als er an diesem Abend nach Hause kam, schlief Heidi nicht. Sie war nicht einmal da. Alle Lampen brannten, und auf dem Computerschirm blitzte in grellem Rot eine Botschaft auf: Jeff, Lucy ist verletzt worden. Komm bitte ins Bellevue. Er brauchte zwanzig Minuten bis zum Hospital, und es dauerte eine halbe Stunde, bis er seine Frau gefunden hatte. Er fand sie im sechsten Stockwerk in einem Warteraum, der nach Desinfektionsmitteln und ungewaschener Kleidung roch. »Man hat ihr den Schädel eingeschlagen«, schluchzte sie. »Jemand
hat sie überfallen. Sie liegt auf der Intensivstation, und niemand weiß, ob sie durchkommt.« »Oh, Honey«, sagte er und nahm sie in die Arme. »Ich durfte sie sehen«, schluchzte Heidi. »Ich konnte nicht einmal ihr Gesicht erkennen, Jeff! Was für ein Tier bringt so etwas fertig? Der anständigste und beste Mensch, den ich je gekannt habe…« Sie löste sich ein wenig von ihm und hob ihr Gesicht zu ihm auf. »Und noch etwas«, sagte sie. »Ich war heute selbst beim Arzt. Ich bin schwanger.«
Der Polizeibericht war knapp und trocken. Police Officer Lucille R. Sempier hatte in der South Water Street ihren regulären Streifendienst versehen und sich um siebzehn Uhr dreißig, wie vorgeschrieben, über Funk gemeldet. Um achtzehn Uhr war ihre Routinemeldung ausgeblieben. In der Zwischenzeit hatte sie mit niemandem Verbindung aufgenommen, und niemand hatte sie angesprochen. Als keine Verbindung zu ihr hergestellt werden konnte, wurde eine Suche angeordnet, und Police Officer William Gutmacher und Police Officer Alicia Mack fanden sie in einem Torweg. Sie hatte von einem stumpfen Instrument verursachte Kopfverletzungen sowie mehrere Fleischwunden, die auf einen vorausgegangenen Kampf hinwiesen. Keine Zeugen. Kein ersichtliches Motiv. Untersuchung der vorhandenen Spuren durch das Polizeilabor. Die Ermittlungen laufen weiter. Die Polizei selbst war nicht mehr mitteilsam, nicht, weil sie irgendeine Taktik verfolgte, sondern weil sie nichts wußte. »Lucy schaute immer sehr gründlich nach dem rechten«, sagte der Captain ihres Reviers. »Wahrscheinlich war es jemand, den sie mal verhaftet hat. Wir prüfen jeden Hinweis – und sie war so ein feines Mädchen.«
Auch Bratislaw hielt Lucy für ein feines Mädchen. Er wußte, daß seine Frau noch viel mehr von ihr hielt; aber wie sehr Heidi wirklich an ihrer Schwester hing, konnte er kaum ermessen. Bratislaw wußte, wie es mit schwangeren Frauen war; er hatte eine sechzehn Jahre jüngere Schwester, und er erinnerte sich an die Monate vor ihrer Geburt. Auf Übelkeit am Morgen war er vorbereitet, und die stellte sich auch ein. Ein nachlassendes Interesse an Geschlechtsverkehr hatte er vermutet, und auch darin hatte er sich nicht geirrt. Aber seine Mutter hatte im ersten Monat ihrer Schwangerschaft nicht erleben müssen, daß ihre geliebte Schwester fast ermordet wurde, und deshalb war er auf Heidis nicht endenwollende tränenlose Traurigkeit nicht vorbereitet. Bei ihr war jede Fröhlichkeit geschwunden. Wenn er abends spät nach Hause kam, lag sie fast immer schon im Bett, aber fast nie fand er sie schlafend vor; sie tat nur, als schliefe sie. ET wollte es genau wissen. Nachdem er ihr Verhalten etwa eine Woche lang beobachtet hatte, wälzte er sich eines Abends im Bett herum, veränderte seine Lage ein paarmal und zwang sich dazu, langsam und regelmäßig zu atmen. Er hatte sich nicht geirrt: ein paar Minuten später schlüpfte Heidi aus dem Bett und zog sich leise ins Wohnzimmer zurück, wo er sie anschließend reglos am Fenster sitzen sah. Als er sie ansprach, antwortete sie nicht. Nach der Arbeit eilte Heidi jeden Abend ins Hospital, um eine Stunde an Lucys Bett zu verbringen. Sie bat Bratislaw nicht, sie zu begleiten, aber er war so besorgt, daß er es einmal von sich aus tat. Es war erstaunlich. In Gegenwart ihrer Schwester war Heidi wieder die alte. Sie strahlte und lachte und plauderte und machte Pläne für die Zeit, da es Lucy wieder »bessergehen« würde. Und natürlich kam von Lucy, deren Kopf wie der einer Mumie bandagiert war, keine Antwort. Sie
konnte nicht antworten. Sie konnte wegen der Schläuche in ihrem Mund nur gurgelnde Laute von sich geben oder über der Bettdecke nervös die Finger bewegen. Als sie wieder draußen waren, sagte Bratislaw: »Honey? Es hat wenig Zweck, Pläne für ihre Zukunft zu machen. Sie wird nie wieder gesund. Sie hat dich doch nicht einmal gehört.« Heidi brauste nicht auf, und sie weinte auch nicht, aber ihr Gesicht war wieder wie eine Maske. »Man wird sie wahrscheinlich bald in die Psychiatrie verlegen«, bemerkte sie fast gleichgültig. »Das ist gut«, sagte Bratislaw und meinte damit das ist genauso gut wie tot, nicht wahr? Bei Menschen, die nur noch vegetierten, ließ sich auf dem Gebiet der Verhaltensveränderung viel erreichen, aber es war unmöglich, sie wieder zu reaktionsfähigen, aktiven und geselligen Menschen zu machen. Heidi begriff, was er meinte. »Ich bin müde, Jeff«, sagte sie, »und ich mag nicht länger reden. Laß uns nach Hause gehen.« Ihre übrige Freizeit verbrachte Heidi damit, der Polizei auf die Nerven zu gehen. Es hatte in diesem Fall noch keine Festnahmen gegeben, und Bratislaw bezweifelte, daß es je welche geben würde. Die Chancen eines durchschnittlichen New Yorkers, in irgendeinem beliebigen Jahr Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, standen eins zu sechzig, und wenn es sich um einen Überfall ohne Zeugen handelte, wurde das Verbrechen nur selten aufgeklärt. Heidi teilte diese Ansicht nicht. Deshalb rief sie einmal am Tag das Polizeirevier an und verlangte von Lieutenant Finder, endlich etwas zu unternehmen. Bratislaw ließ sich das drei Wochen lang gefallen, aber dann wurde er energisch. »Heidi, Honey«, sagte er, »warum läßt du nicht endlich den Lieutenant in Ruhe? Der Mann tut doch, was er kann.«
Sie stocherte in ihrem Essen herum und antwortete nicht. Nun versuchte er es auf andere Weise. »Sie werden sie doch bald zur psychiatrischen Behandlung nach Peekskill schicken, nicht wahr? Ich meine, es hat doch keinen Sinn, sie noch im Hospital zu lassen.« »Sie hat vor ein paar Tagen sogar meinen Namen gewußt«, gab Heidi zu bedenken. »Nun ja, aber auch ich habe mit den Ärzten gesprochen, und viel mehr wird ihr nie gelingen. Honey? Sollten wir nicht über Alternativen nachdenken?« Sie sah ihn an. »Du meinst kryonische Aufbewahrung? Einfrieren?« »Vielleicht. Das wäre gar keine so schlechte Idee. Dann bestünde eine gewisse Hoffnung, daß sie eines Tages geheilt wird, weißt du, und dann…« »Und dann bin ich schon lange tot, Jeff, und du auch, und ich würde meine Schwester nie wiedersehen.« Bratislaw seufzte und fing an, das Geschirr abzuräumen, während Heidi sich ins Badezimmer zurückzog. Eine Stunde später, als Bratislaw ins Bett ging, lag sie still da, die Decke über den Kopf gezogen. »Ich weiß, daß du nicht gern darüber sprichst«, sagte er, »aber du kannst sie nicht ins Leben zurückholen.« Heidi reagierte nicht. Aber als er sich seufzend von ihr abwandte, sagte sie, ohne sich zu bewegen: »Du hast recht.« Bevor er einschlief, überlegte er, warum ihm diese Antwort so unbefriedigend vorgekommen war. Überraschenderweise war Ella Jennalec für ihn in seinen Schwierigkeiten eine große Hilfe, wenn sie auch nicht mehr sexuell miteinander verkehrten. Sie deutete nicht an, daß ihre sexuellen Beziehungen beendet oder bis zur Lösung seiner familiären Probleme unterbrochen seien, aber praktisch war das der Fall. Sie lud ihn einfach nicht mehr in ihr
Schlafzimmer ein. Es blieb eine gewisse Intimität, aber sie war von anderer Art. Wenn sie ihn zu einer Tasse Kaffee einlud, war ihre Haushälterin dabei, eine watschelnde alte Frau aus Kenya, die Bratislaws kräftige Muskeln bewunderte und ihm Leckerbissen servierte, wann immer sich die Gelegenheit bot. Oder Jennalecs Sohn Michael war im Haus, ein gescheiter Zehnjähriger mit immer neuen Einfällen. Er hatte noch nie eine Farm gesehen und bestürmte Bratislaw immer wieder, ihm Geschichten aus Wisconsin zu erzählen. Allmählich wurden die beiden zu seiner eigentlichen Familie. Mehr als Heidi und ganz gewiß mehr als Lucy. Und dann gab es noch diese andere Intimität, die auf politischem Gebiet, das für Jennalec den Kern ihrer Existenz bildete, und das auch bei Bratislaw immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Je mehr sie ihn mit den Kreisen vertraut machte, in denen die Macht ausgeübt wurde, um so besser begriff er die Wichtigkeit dieser seltsamen Ausflüge in Bereiche, die außerhalb ihrer Zuständigkeit lagen, und bei denen es um Gewerbe und Berufe ging, über die sie nicht bestimmen konnte. Irgend etwas braute sich zusammen, und das mußte etwas Großes sein. Diese Intimität erstreckte sich nicht auf Einzelheiten, aber er erfuhr, daß es um ein Dutzend Gewerkschaften ging, daß es einen Zeitplan gab, daß ein entscheidender Schlag geführt werden sollte – und daß der Zeitpunkt nicht mehr fern war. Eine ganze Woche lang standen Brückenbesuche auf Jennalecs Programm – die George-Washington-Brücke, die Triborough-Brücke und zuerst die Brücken über den East River – und das kam nicht überraschend. An allen mußten Umbauten vorgenommen werden, so daß sie nach Fertigstellung der Kuppel in das Innere hineinführen konnten, ohne die geodätische Integrität zu zerstören oder die verheerenden Turbulenzen zu verursachen, die Bratislaw an dem Modell im Windkanal beobachtet hatte. Aber was hatte
die Brücke über die Verazano Narrows damit zu tun? Bratislaw wußte es nicht, und Jennalec äußerte sich dazu nicht. Sie ließ ihn unten an einem der Pfeiler warten und stieg ganz nach oben. Hier arbeitete Heidi – sie war auch jetzt hier, um ihren Job bei der Hafenkontrolle zu versehen; einen Augenblick lang spielte Bratislaw mit dem Gedanken, sie unangemeldet zu besuchen. Zu einer anderen Zeit wäre das eine gute Idee gewesen, jetzt aber schien die Situation ungünstig. Deshalb blieb er im Windschatten des Pfeilers stehen und wartete auf Ella Jennalec. Obwohl es Sommer war, ließ der nasse stürmische Wind ihn zittern. Als Ella zurückkam, runzelte sie ärgerlich die Stirn. »Bei Ihrer Frau tut einem der Arsch weh, haben Sie das gewußt?« verkündete sie. »Haben Sie sie gesehen?« »Ich habe nicht mit ihr gesprochen, wenn Sie das meinen – aber sie macht den andern Angst. Ihre Frau hat ein ziemlich großes Maul! Macht sich gewaltig stark für die Allgemeine Stadtversammlung.« Bratislaw war erstaunt. Heidi war fast so anständig wie ihre verstorbene Schwester – nun, ihre noch nicht ganz verstorbene Schwester – aber er hatte bei ihr bisher keinerlei Engagement weder für noch gegen die Allgemeine Stadtversammlung festgestellt. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er. »Das geht Sie auch nichts an«, erwiderte sie scharf und zog ihre Wolljacke enger um die Schultern. »Und jetzt wollen wir aus diesem verdammten Wind raus! Den können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen!« Was sie damit meinte, ging ihn wahrscheinlich ebenfalls nichts an. Aber die Dinge, in die sie ihn einweihte, waren interessant genug, wenn auch ein wenig beängstigend. Er wußte noch nicht genau, welche Geldbeträge schon hin und her geflossen waren, aber er wußte, wie viele Leute Jennalec
inzwischen klammheimlich aufgesucht hatte. Er war fast erleichtert darüber, daß Heidi in letzter Zeit wenig Neigung zeigte, sich mit ihm zu unterhalten. Er hätte Schwierigkeiten gehabt, sie davon abzuhalten, eine ähnliche Rechnung aufzustellen, und wer konnte wissen, zu welchen Schlüssen sie gelangt wäre? In anderer Hinsicht konnte man sich über diese Entfremdung wirklich nicht freuen. JFK Bratislaw war ein gesunder Mann in der Blüte seiner Jahre, der wenig Lust hatte zu onanieren. Wenn seine Frau und seine Arbeitgeberin jeden Sex gestrichen hatten, traf es ihn hart – jetzt, nach einigen Wochen, war er der Verzweiflung nahe. Was mochte die Technikerin vom Windkanal wohl treiben? Er dachte schon daran, sie anzurufen, fragte sich, ob es Ella Jennalec etwas ausmachen würde – und unternahm nichts. Die erste Besserung seines Liebesschicksals trat ein, als er eines abends früher nach Hause kam und angenehme Kochdünste in der Wohnung roch. Heidi war bei guter Laune. Während im Mikrowellenherd eine Makrele garte, mixte sie Drinks und lachte über sein erstauntes Gesicht. »Ist dir an dieser Woche etwas Besonderes aufgefallen?« fragte sie. Er schürzte die Lippen, während er seine geistigen Karteikarten durchging. Es war nicht Weihnachten und nicht der Valentinstag. Auch nicht ihr Hochzeitstag… »Dein Geburtstag!« rief er. »Aber der ist doch erst am Sonntag.« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Den meine ich nicht, aber ich möchte es gern von dir hören. Ist dir wirklich nichts aufgefallen?« »Was sollte mir aufgefallen sein?« »Ich habe mich schon eine Woche lang nicht mehr übergeben!« Und wirklich, sie hatte noch nie besser ausgesehen. Und anscheinend fühlte sie sich auch sehr gut.
Während des ganzen Essens erzählte sie wie in alten Zeiten komplizierte Geschichten von den LNG-Leichtern, die sie zuerst für Abfallkähne gehalten hatte, und was wohl geschehen wäre, wenn man ihnen bei einer Windgeschwindigkeit von dreißig Knoten die Fahrt unter der Brücke hindurch freigegeben hätte. Sie sprach über ihre Kollegen und darüber, wie gut es Lucy in der psychiatrischen Klinik getroffen habe, und wann das Baby sich wohl zum ersten Mal bewegen würde. Aber sie redete nicht nur, sie hörte auch zu. Sie ließ sich von Bratislaw über seinen Job berichten, über die Verzögerungen, die ihnen auf den Morningside Heights zu schaffen machten, und den zwölf Kilometern Kabel, die den Zug-Test nicht bestanden hatten und zurückgeschickt werden mußten, und über Ella Jennalecs Abneigung gegen die Allgemeine Stadtversammlung… »Nun, natürlich stinkt ihr die Allgemeine Stadtversammlung«, war Heidis Kommentar. »Die hindert sie ja daran, die ganze Stadt zu beherrschen.« »Ich bitte dich, Heidi. Sie hat’s doch geschafft. Warum sollte sie noch mehr wollen?« »Sie können alle den Hals nicht voll genug kriegen, Jeff, das ist Regierungsprinzip. Und darum geht es auch bei der Allgemeinen Stadtversammlung. Sie will verhindern, daß die Energielieferanten und die Schmiergeldzahler an die Macht kommen. Es sind nicht nur die Gewerkschaften. Es geht auch um die Bauunternehmer. Es geht um alle, die damit einen Extradollar verdienen, daß sie die Gesetze brechen oder die Regierung zwingen, ihnen unerlaubte Vorhaben zu genehmigen. Lucy hat gesagt…« Sie schwieg und schüttelte dann lächelnd den Kopf. »Aber wir wollen uns heute abend doch nicht streiten, Honey. Komm, hilf mir, das Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.« Und sobald sie das Geschirr abgeräumt und die Abfälle sortiert und eingelagert hatten, gingen sie ohne weitere
Diskussion sofort miteinander ins Bett. Heidis Leib wölbte sich schon, und Bratislaw empfand das zuerst als störend – aber es behinderte ihn nicht. Nicht einmal beim ersten Mal. Schon gar nicht beim dritten und vierten. Als sie endlich genug hatten, schmiegten sie sich eng aneinander, und Bratislaw hielt seine Frau lange in den Armen. Er dachte schon, sie sei eingeschlafen, als sie sich bewegte. »Honey?« sagte sie. »Wegen Sonntag…« Bratislaw war schon im Halbschlaf, aber er ließ sich nicht überrumpeln. Er wußte was Sonntag war. »Du meinst deinen Geburtstag. Was wünschst du dir denn?« »Nun – eigentlich nur eins. Würdest du mit mir zusammen Lucy besuchen?« »Sehr gern«, sagte Bratislaw, und diesmal meinte er, was er sagte.
Am Sonntag war er nicht mehr so sicher. Die Fahrt den Hudson hinauf war allerdings sehr angenehm, denn sie fuhren die ganze Strecke nach Peekskill mit einem Ausflugsdampfer an den Klippen vorbei und das schöne Hudson-Ufer entlang. Das Schiff legte vom Battery Park ab, und während der ersten paar Meilen konnte Bratislaw seiner Frau erklären, wie die Kuppel verlaufen sollte, die aussehen würde wie zwei Kamelhöcker. Der große igluförmige über dem unteren Manhattan mit der Verbindungsbrücke zwischen Canal Street und den Zwanzigern, der große, spitzer zulaufende über dem mittleren Manhattan und dem Central Park. Bisher war nur der mittlere Teil fast völlig mit sechseckigen Plastikplatten verkleidet. Im Norden stand nur die Stahlkonstruktion, die mit ihren straff gespannten Seilen wie ein riesiges Spinnennetz wirkte. Auf dem Schiff fuhren hauptsächlich Familien mit, die einen Ausflug nach Bear Mountain oder Indian Point machen
wollten. Die Atmosphäre war fröhlich, und viele Kinder waren an Bord. Bratislaw bemerkte, daß seine Frau besonders die kleineren unter ihnen mit liebevollen Blicken bedachte. Es war nicht leicht, mittags in das Restaurant vorzudringen, aber eine Serviererin, die Heidis Zustand erkannt hatte, verschaffte ihnen rasch Plätze. Das Essen war gar nicht so schlecht, und Heidi gönnte sich zu ihrem Käse-Omelette sogar eine Flasche Bier. Als der Kaffee serviert worden war, sagte sie: »Ich hab ein Geschenk für dich.« Nach vier Jahren Ehe war Bratislaw mit den Gewohnheiten seiner Frau vertraut, aber er protestierte: »Es ist doch nicht mein Geburtstag.« »Wenn ich dir nicht einmal zu meinem Geburtstag etwas schenken darf, wann dann? Warte.« Und sie zog ein in Glanzpapier gehülltes Päckchen aus ihrer Handtasche. Sie öffnete es, und ein geschnitztes Holzamulett an einer goldenen Kette kam zum Vorschein. »Es ist der Liebesknoten«, sagte sie. »Er hält Leute, die sich lieben, zusammen.« »Ich werde es nie abnehmen«, sagte Bratislaw gerührt. Seine Frau nickte feierlich. »Außer vielleicht unter der Dusche«, empfahl sie. »Jeff, ich wollte dir doch dafür danken, daß du mitgekommen bist. Das rechne ich dir hoch an.« »Das hab ich doch gern getan«, sagte er freundlich. Aber eine halbe Stunde später stimmte das nicht mehr ganz. In dieser Anstalt in New York Peekskill war er noch nie gewesen – man nannte sie gewöhnlich »das städtische Irrenhaus«. Als das Taxi die Einfahrt hinauffuhr, waren nur grüne Bäume und Blumenbeete zu sehen, und die Tatsache, daß die Beete in gezackten Mustern angelegt und stellenweise kahl waren, tat dem ländlichen Charme der Gegend keinen Abbruch. Auch die Gebäude sahen gut aus. Die meisten waren niedrige zweistöckige Gartenhäuser, und in der Mitte stand ein hübsches Klinkergebäude. Auf den Wegen gingen Menschen
spazieren. Erst wenn man sich diesen Menschen näherte, wirkten sie seltsam. Auf einer Mauer neben dem Eingangstor saß ein magerer Zwanzigjähriger und bewegte seinen Oberkörper vor und zurück, als säße er in einem unsichtbaren Schaukelstuhl. Er pendelte hin und her wie ein Metronom. Ein junger Mann mit offener Hose trat auf sie zu und lächelte wortlos, wobei kein einziger Zahn zu sehen war. Ein entsetzlich fettes, vielleicht vierzehnjähriges Mädchen lag mitten im Weg reglos auf dem Bauch; Bratislaw mußte über sie hinwegsteigen, um vorbeizukommen, und selbst in der frischen Luft am Hudson stieg in der heißen Sonne ein widerlicher Schweißgeruch von ihrem unförmigen Körper auf. Heidi, die dies alles schon kannte, schaute besorgt zu ihrem Mann hinüber. »Honey? Da drüben ist eine Kaffeestube. Warum bestellst du dir nicht eine Tasse? Ich suche inzwischen Lucy und bringe sie her.« »Natürlich«, sagte Bratislaw dankbar, und hörte sich an, was er für Lucy und Heidi bestellen sollte. Aber in der Kantine war es auch nicht besser. Irgendwie hatte er sich vorgestellt, daß die Patienten hier keinen Zutritt hätten, außer vielleicht Lucy, aber der Raum war voll von Anstaltsinsassen. Der Junge mit der offenen Hose stellte sich hinter ihn, als er seinen Platz in der Schlange einnahm. Vor ihm stand eine etwa fünfzigjährige Frau mit dem glatten Gesicht eines Teenagers, die sich zu ihm umdrehte und ihn prüfend ansah. »Wie heißt du?« wollte sie wissen, und als er es ihr sagte, fragte sie weiter: »Was machst du? Bei wem arbeitest du? Wie ist sie?« Bratislaw war sich durchaus nicht sicher, ob sie seine Antworten überhaupt registrierte. Sie kam ihm vor wie ein Papagei, der diese Art von rituellen Fragen zwar gelernt hatte, an den Antworten seines Gesprächspartners aber kaum interessiert sein konnte. Er besorgte sich seinen Kaffee und Eistee und eine Cola für Heidi und Lucy. Außerdem, wie
gewünscht, zwei große Tüten Corn-Chips. Er fürchtete, daß einer der Insassen sich zu ihm setzen könnte, und lehnte sofort die freien Stühle gegen die Tischkante, als er einen Ecktisch fand. Niemand versuchte, sich an seinen Tisch zu setzen, aber der Junge mit der offenen Hose saß am Nebentisch und leckte an seinem Eisbecher, als sei dieser eine Eistüte. Ohne ein Wort zu sagen, grinste er Bratislaw zahnlos an. Verzweifelt hoffte er, daß seine Frau und seine Schwägerin bald auftauchten, aber als sie kamen, war alles fast noch schlimmer. Er war nicht darauf gefaßt gewesen, seine Schwägerin mit einem Football-Helm auf dem Kopf anzutreffen, auf dem vorn in großen Buchstaben ihr Name stand. Auch auf dem Rücken ihres T-Shirts von der PolizeiAkademie sah Bratislaw ihren aufgedruckten Namen. Arme Lucy! Ihr Gesicht war so hübsch wie vorher, ihre Augen blitzten eher noch fröhlicher, und ihr Gesichtsausdruck war lebhafter. Der Ausdruck moralischer Überlegenheit war aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie erklärte Bratislaw auch nicht mehr, auf welche Weise er sich schinden solle, um die Welt zu verbessern. Sie sprach überhaupt kaum. Sie hörte Heidi zu, die von der Kleidung sprach, die sie für das Baby kaufen wolle, und wie schön es doch sei, daß man nach der entsetzlichen Hitze endlich wieder ein bißchen Wind habe, und ob das Gewitter hier draußen auch so schlimm gewesen sei wie in der City. Lucy antwortete fast immer nur mit »ja« oder »nein«, wie ein binäres Bit in einem Computer. Wenn sie einmal sprach, waren es nur ein oder zwei Worte. »Freundin«, sagte sie und berührte den Arm eines riesigen, mindestens ein Meter fünfundachtzig großen schwarzen Mädchens, das gekommen war, um den Tisch abzuräumen. »Molly« verkündete Lucy und lächelte freundlich, aber das Mädchen ließ sich nicht bei ihrer Arbeit stören. Stumm warf sie die Pappteller in den mitgebrachten Müllsack.
Heidi konnte gerade noch ihren Eistee retten. »Molly macht bald ihre Prüfung«, sagte Heidi zu Bratislaw. »Stimmt das nicht, Molly?« Aber das Mädchen antwortete nicht, bevor sie den Tisch abgewischt hatte und zum nächsten gegangen war. Dann erst drehte sie sich um und sagte höflich und mit klarer Stimme: »Das stimmt, Mrs. Bratislaw, und ich freue mich schon sehr darauf.« Aber Lucy hörte nicht mehr zu. Sie hatte den Teenager mit der offenen Hose erspäht, der jetzt vor ihnen stand. Er zeigte den Frauen seine Genitalien und lächelte stolz. Lucy sprang auf. »Dan!« schrie sie wütend. »Zähne!« Das Lächeln Verschwand aus dem Gesicht des Jungen. Er steckte seinen Penis wieder in die Shorts, holte sein künstliches Gebiß aus der Tasche, stopfte es sich in den Mund und ging mürrisch davon. »Er haßt seine künstlichen Zähne«, sagte Heidi in ganz normalem Gesprächston, aber ihrer Stimme war anzuhören, wie irritiert sie war. Dieser Ort ging auch ihr auf die Nerven – und sie hatte Lucy seit fast zwei Monaten dreimal die Woche besucht! Das Schiff fuhr jede Stunde, und die Rückfahrkarten in seiner Tasche kamen Bratislaw immer wertvoller vor, aber er brachte es nicht übers Herz, Heidi zum Gehen zu überreden. Er war entschlossen, so zu tun, als mache ihm dieser Besuch Spaß – auf jeden Fall wollte er so großzügig und entgegenkommend sein, ihn noch ein wenig zu verlängern. Er wurde zum Opfer seiner eigenen Verstellungskunst. Zweimal fragte Heidi ihn, ob er gehen wolle, und zweimal log er. Als Lucy plötzlich aufstand und »Arbeitszeit!« rief, war er ganz auf eine freundliche und lächelnde Verabschiedung gefaßt, aber Heidi sagte zögernd: »Honey? Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, noch eine Weile zu bleiben, möchte ich gern einmal sehen, was
Lucy hier arbeitet. Weißt du, sie ist nämlich befördert worden. Sie macht wirklich gute Fortschritte.« Und wie hätte er das ablehnen können? Seine Niedergeschlagenheit verringerte sich durchaus nicht, als sich herausstellte, daß die Arbeit, zu der man Lucy befördert hatte, darin bestand, bettlägerige Patienten zu versorgen, aber es erstaunte ihn, daß Lucy ihnen vorausging, als sie die Kantine verließen. Draußen gingen sie einen golden gefärbten Weg entlang und bogen dann in einen Weg ein, dessen Beton schwarzweißgestreift war. Erst als sie die nächste Kreuzung erreichten, mußte Lucy stehenbleiben, um zu überlegen. Sie zuckte die Achseln fast so, wie sie es früher immer getan hatte, lächelte ihren Schwager an und sagte laut und deutlich: »Wo ist die Pflegestation?« Sie trug eine Art Armbanduhr, größer als eine normale, aus der eine leise Stimme flüsterte: »Welche Farbe hat der Weg, Lucy?« »Komme von schwarz und weiß. Habe rot, habe gelb mit Wellenlinien, habe grün mit weißen Punkten.« »Nehmen Sie den grünen mit weißen Punkten, Lucy. Biegen Sie vor dem Speisesaal links ab.« Lucy war schon wieder unterwegs, und tapfer lächelnd folgte Heidi ihr. Den Schluß bildete Bratislaw, und es war gut, daß niemand sein Gesicht sehen konnte. Pflegestation! Aber er kam noch einmal davon, denn vor der Tür des flachen nüchternen Gebäudes, aus dessen Innern die bekannten Gerüche drangen, blieb Lucy stehen und schüttelte den Kopf. Heidi übersetzte: »Dies sind Frauenangelegenheiten, Honey. Würde es dir etwas ausmachen, draußen zu bleiben?« Er war über dieses Angebot nur allzu froh, und Lucy sagte fröhlich: »Besucherband.« Wie sich herausstellte, meinte sie damit, daß er zur Hauptverwaltung gehen könne, wo man ihm zwar keine Besichtigungstour genehmigen, wohl aber einen Kassettenrecorder zur Verfügung stellen würde, von dem er
alles erfahren könne, was er über die Peekskill-Anstalten wissen wollte. In Wirklichkeit konnte man daraus sehr viel mehr erfahren. Bratislaw holte sich zwar die Kassette, aber dann wagte er sich noch einmal in die Kantine, um sich einen Becher Kaffee zu holen – Stärkeres war nicht zu haben – den er in einem verlassenen Winkel des Gebäudes trinken wollte. Aber er blieb nicht lange allein. Der Junge mit der offenen Hose schlenderte einige Male vorbei und winkte freundlich. Bratislaw bemerkte, daß er seine Zähne wieder herausgenommen hatte. Auch die Frau mit dem weißen Haar und dem glatten Gesicht kam herbei und starrte ihn zwanzig Minuten lang ununterbrochen an. Sie hatte einen Freund mitgebracht, einen uralten Schwarzen in einem Rollstuhl, der unaufhörlich mit rauher und belegter Stimme vor sich hinmurmelte. Aber sie sprachen Bratislaw nicht an, der jeden Blickkontakt mit ihnen vermied, bis sie endlich verschwanden. Aber natürlich nur, um von weiteren Exemplaren aus dieser Freakparade abgelöst zu werden. Er war froh, als er sich endlich den Stöpsel des Geräts ins Ohr stecken und die Augen schließen konnte, um der herzlichen Stimme der Frau vom Informationsbüro für Besucher zu lauschen, die ihm erzählte, auf wie mannigfache Weise die Peekskill-Anstalten ihren Insassen dienten. John Fitzgerald Kennedy Bratislaw der Dritte war fast immer ein humaner Mensch, und er war von Natur aus großzügig. Ganz gewiß war er seiner Familie gegenüber rücksichtsvoll, wenn er es nicht gerade mal vergaß. Er hatte liebenswerte Züge. Heidi liebte ihn so sehr, daß sie sich ein Kind von ihm wünschte, und Heidi war eine intelligente und sensible Frau. Als er erfuhr, wie die Peekskill-Anstalten Persönlichkeitsveränderung und soziale Förderung praktizierten, und als er hörte, welche Fertigkeiten hier gelernt
und welche Prüfungen hier abgelegt werden konnten, war er höchst befriedigt. Wie wunderbar, daß man Behinderten so helfen konnte. Er freute sich, als er entdeckte, daß der lästige Geruch, der vom entfernten Ende des Grundstücks herüberdrang, nur von einem Hühnerstall herrührte, in dem ganze Batterien von Hühnern aufgezogen wurden, um Eier zu legen und später geschlachtet zu werden. Die bunten Dinger zwischen den Gemüsekulturen, die wie überdimensionale Cocktailspießchen aussahen, dienten den Leuten, die jäteten oder ernteten als Markierung: Plastiknachbildungen von Gurken, Tomaten und Avocados in leuchtenden Farben zeigten, welche Früchte in Ruhe gelassen werden mußten und welche erntereif waren. Es gab auch Arbeitstrupps, die außerhalb der Anstalten arbeiteten. In den Gemeinden Newburgh und Poughkeepsie sammelten und sortierten sie Abfälle und gewannen aus ihnen das wertvolle Glas, die Metalle und die organischen Stoffe. Die psychiatrischen Anstalten bestritten natürlich nicht annähernd ihren Gesamtetat, aber sie konnten die Insassen mit einem Viertel der benötigten Verpflegung versorgen und sparten Aufsichtspersonal ein, indem in jeder Gruppe von fünfzig eine Person die Aufgabe hatte, die anderen auf vernünftigen Haarschnitt, Waschgewohnheiten und Geburtenkontrolle zu überprüfen. Es gab besondere Wettbewerbe – für Leute mit einem IQ von unter neunzig gab es Nachhilfestunden in Rechtschreibung, für die unter siebzig wurden Spiele veranstaltet. Insassen, deren Koordination noch leidlich funktionierte, lernten Häkeln oder sie zogen Perlen auf Fäden, um Ketten herzustellen. Die Unbeholfenen, aber noch Erziehbaren arbeiteten im Gemüseanbau oder in den RecylingAnlagen, und das Geld, das sie verdienten, half, die »Unterrichts«-Kosten gering zu halten. Selbst die endgültig Senilen und Sterbenden wurden zum großen Teil von
besonders dafür ausgebildeten Insassen versorgt – und in diesem Augenblick lösten sich Bratislaws Gedanken von den objektiven Verdiensten der psychiatrischen Anstalten und wandten sich dem zu, was von seiner hübschen lebhaften Schwägerin noch übrig war. Sie war auch stark, seine Schwägerin, stark in ihren Prinzipien und körperlich stark, denn nicht jeder hätte einen so brutalen Angriff überlebt, und das sollte er eigentlich auch nicht… Oder vielleicht doch? Bratislaw schaltete das Gerät aus, um sich nicht auch noch die dritte Wiederholung anhören zu müssen, und machte sich auf den Weg zur Krankenstation. Ihm hatten die Gedanken, die ihm eben gekommen waren, überhaupt nicht gefallen. Er kam zu früh und erwartete nicht, daß man ihn einlassen würde, aber offensichtlich waren die Bettschüsseln schon alle gereinigt, die Windeln gewechselt. Geduldig fütterte Lucy den letzten ihrer Schützlinge mit einem schleimigen Brei, der aussah wie verdünnte Babykost. Wahrscheinlich war es das auch, und die alte Frau sabberte und spuckte wie jedes Dreijährige. Heidi saß neben dem Bett und sah wieder völlig erschöpft aus. Das kann in ihrem Zustand nicht gut sein! dachte Bratislaw empört. »Gut«, sagte Lucy zufrieden und wischte der alten Frau das borstige Kinn ab. »Nachtisch?« fragte sie. Die alte Frau glotzte sie nur an, und Lucy versuchte es mit der Speisekarte: »Lalapudding? Nanajoghurt?« Beim zweiten Vorschlag starrte die Frau sie an, atmete schwer und wurde dunkelrot im Gesicht. Dann brachte sie einen scharfen Zischlaut hervor. Mit dem Bananenjoghurt schien es eine Ewigkeit zu dauern, aber schließlich war alles vorbei, und Lucy hatte ihre Tagesarbeit erledigt. Jetzt wurde es Zeit – wirklich höchste Zeit – zum Taxi zu gehen, um das letzte Schiff noch zu erreichen. An der Eingangspforte drehte sich Lucy plötzlich zu den anderen Insassen um, die ihnen in einiger Entfernung folgten.
Es waren der Schwarze im Rollstuhl, seine weißhaarige Begleiterin und Lucys Freundin und Zimmergenossin. Sie scheuchte die drei wie Hühner davon. »Weg, Molly, Dandy, Elise. Weg.« Es war die längste Rede, die er heute von ihr gehört hatte. Als Lucy sich wieder ihrer Schwester zuwandte, sah man ihrem Gesicht an, wie sehr sie sich konzentrierte. »Baby okay?« fragte sie, als hätte Heidi nicht schon den ganzen Tag von dem Baby gesprochen. Heidi nickte. »Oh ja, Honey, es entwickelt sich prächtig.« Lucy nickte ebenfalls. »Kasten?« fragte sie und kniff dabei vor Anstrengung die Augen zusammen. »Ja«, sagte Heidi, als hätte sie verstanden, was Lucy meinte, »dafür ist gesorgt.« »Wiederkommen?« Und jetzt schien Lucy den Tränen nahe. »Du kannst dich darauf verlassen, daß wir wiederkommen«, versprach Heidi. »Sobald wir können – aber da steht unser Taxi, und es fängt gleich an zu regnen!« Ein paar Abschiedsküsse – überraschend innig und angenehm, wenn man den Football-Helm vergaß und nicht darüber nachdachte, was Lucy einmal gewesen war… Und endlich waren sie erlöst. Es regnete wirklich. Das Wasser kam herunter wie bei einem tropischen Wolkenbruch, mit Donnern und Blitzen und Sturmböen, die den alten Ausflugsdampfer erzittern ließen. Die Decks waren leergefegt, und alle Ausflügler drängten sich im Innern des Schiffs. Sie konnten nirgends sitzen, aber Bratislaw fand eine Ecke neben einem Fenster, wo Heidi sich wenigstens auf die Fensterbank hocken konnte und wo es nicht allzu stark hereinregnete. Er dachte über Verschiedenes nach. »Honey«, sagte er, »es muß einen Haufen Geld kosten, jemanden dort unterzubringen.« Der anstrengende Tag war Heidis Gesicht anzusehen. »Aber das zahlen wir doch nicht, Jeff. Das zahlt alles die Unfallversicherung der Polizei.«
»Ja, sicher, aber gibt es hier nicht auch die Frage der sozialen Verantwortung. Besonders, weil es sich um Lucy handelt. Besonders, weil sie so sehr für gutes staatsbürgerliches Verhalten eintritt.« »Jeff«, sagte seine Frau energisch, »ich weiß, worauf du hinauswillst. Du willst, daß ich sie dort weghole. Du willst, daß ich sie einfrieren lasse, wie man es mit einigen von den Boat-People macht.« »Zu ihrem eigenen besten, Honey!« »Ach, Jeff.« Sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Der eindringende Regen bespritzte sie, aber sie achtete nicht darauf. »Hör zu, ich will es dir erklären. Das Einfrieren ist für die Boat-People gar nicht so schlimm – sie wollen nicht zurück, und bleiben können sie auch nicht. Außerdem werden ganze Familien gemeinsam eingefroren. Wenn einer nun unerträgliche Schmerzen hat, gut, dann soll er sich eben einfrieren lassen. Aber es bleibt ein Risiko… und selbst wenn es funktioniert, selbst wenn man in hundert Jahren Lucys Kopf wieder in Ordnung bringen und sie ins Leben zurückholen kann, selbst wenn sie dann so gut wie neu ist – wo werde ich dann sein, Jeff? Und sie ist meine Schwester.« Ein schlechtes Ende eines sowie schon lausigen Tages. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Als sie an der Battery ankamen, stürmte es nicht mehr. Die Straßen waren saubergespült, und es wehte ein frischer kühler Wind. Während sie nach einem Taxi ausschauten, sagte Bratislaw: »Ich denke, das mit Lucy regeln wir, wie du es willst, Honey.« Sie nickte und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Wir werden einfach nicht mehr darüber reden«, schlug sie vor. »Es gibt so vieles, an das wir denken müssen. Zum Beispiel an uns«, fügte sie hinzu und hob ihr Gesicht zu ihm auf, damit er sie küssen konnte.
V
Langsam zog sich der Sommer dahin. Die Tage waren schwül, wenn es nicht gerade stürmte. Jeff war eigentlich ganz zufrieden. Heidi setzte ihre Pilgerfahrten zu den PeekskillAnstalten fort, aber sie hörte auch nicht auf, ihn zu küssen. Ella Jennalec mochte gelegentlich verkniffen oder zerstreut wirken, aber ihre Verärgerung, wenn er Fragen stellte, war überzeugend. »Sie machen sich zu viele Sorgen«, sagte sie. »Ich sagte es Ihnen doch, diese Anklage ist schon so gut wie vom Tisch.« »Gewiß, Ella«, sagte er höflich. Da jeder ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, machte er sich auch keine Sorgen mehr. Nicht einmal über das Wetter. Immer wieder gab es Sturm. Alle vier oder fünf Tage brauten sich im Südatlantik Stürme zusammen. Keiner erreichte die Ostküste, aber Bratislaw fragte sich oft, was wohl geschehen würde, wenn es doch einmal geschah. Deshalb fragte er Ella. »Sie meinen, wenn die Kuppel fertig ist? Nichts. Es heißt, sie kann sogar Orkangeschwindigkeiten von bis zu zweihundert Meilen in der Stunde widerstehen. Im Augenblick allerdings – oh, Gott!« Sie grinste vor Vergnügen. »Dann würde es sogar in Portugal Plastik regnen. Und deshalb werden wir auch gewinnen, Jeff. Ich werde Streiks organisieren, wenn man uns nicht Gefahrenzulage zahlt, sobald der Sturm die sogenannte Stärke Drei mit Steigerungen erreicht. Oh, und noch etwas. Morgen wird mein Sohn mit uns fahren, wenn Sie nichts dagegen haben. Er kommt heute abend aus dem Schul-Camp zurück.« »Warum sollte ich etwas dagegen haben?«
Sie nickte, denn sie fand die Frage berechtigt. Dann wechselte sie das Thema. »Ich habe gehört, Sie waren in der psychiatrischen Klinik in Peekskill.« Das war beunruhigend. Bratislaw mochte sie nicht fragen, woher sie das wußte, aber schon sein Gesichtsausdruck reichte ihr. Sie grinste. »Mein Vater ist dort«, sagte sie, »und deshalb bleibe ich mit der Klinik in Verbindung. Ich habe ihn in meiner Wohnung behalten, solange es ging, wenn er auch ein widerlicher alter Bock ist. Inzwischen ist es senile Aphasie. Er wird immer vergeßlicher und weiß manchmal nicht einmal mehr seinen Namen – meinen hat er noch nie richtig gewußt«, fügte sie bitter hinzu. »Aber er ist immer noch mein Vater, und ich hätte ihn länger behalten, wenn er nicht angefangen hätte, ins Bett zu pinkeln. Die psychiatrische Behandlung nützte allerdings einen Scheißdreck. Ich nahm ihn für ein Wochenende nach Hause mit, und die Bettnässerei war schlimmer als je zuvor.« Sie schaute auf die Uhr. »So, und jetzt fahren Sie nach Hause zu Ihrer schwangeren Frau«, befahl sie. »Ich erwarte Gesellschaft.« Gesellschaft! Ein anderer Liebhaber? Das würde erklären, warum sie ihn in letzter Zeit schnitt – nicht, daß es ihm etwas ausmachte, denn so, wie es jetzt mit Heidi lief, wer brauchte da noch Ella Jennalec? Aber hier hatte er sich geirrt, wie er feststellte, als er den Wagen geparkt hatte. Er sah ein Taxi heranfahren, und darin erkannte er Ellas Jungen, einen Haufen Gepäck und eine Begleitperson. Dieser Begleiter trug einen Gehgips und hatte einen Stock in der Hand, aber Bratislaw erkannte ihn sofort. Es war Tiny Martineau. Bratislaw gegenüber erwähnte Ella Jennalec Tiny nicht, und Bratislaw sprach mit seiner Chefin nicht darüber. In letzter Zeit war mit Ella nicht gut Kirschen essen. Die Stadt erlebte eine Hitzewelle, wie sie sie seit zehn Jahren nicht gekannt hatte.
Ella war gereizt und übellaunig – manchmal geradezu unangenehm. Bratislaw fragte sich schon, ob es wirklich so viel schlimmer gewesen wäre, zum City Control Corps eingezogen zu werden. Sie mußten zu immer mehr Konferenzen fahren, und weder Bratislaw noch die übrigen Leibwächter/Schläger/Verwaltungsassistenten durften mit hinein. Selbst die Gewerkschaftsfunktionäre mußten Metalldetektoren passieren. Sie wurden durchsucht, und ihre Brieftaschen wurden fluoroskopiert, während Muskelmänner in den Korridoren und Vorzimmern herumstanden und einander argwöhnisch musterten. Eine neue Organisation wurde geboren, ein Aktionskomitee für das Städtische Gewerbe, und die Geburtswehen waren geheim. Das hörte sich alles ganz vernünftig an. Wenn die Stadt mit einer Kuppel überdacht wurde, entstanden für die Gewerkschaften große Probleme, weil sich dadurch die technischen Abläufe erheblich änderten. War die Kuppel erst einmal fertig, brauchten die Leute von der Müllabfuhr keine Lastwagen mehr: ein ganzer Beschäftigungsbereich fiel aus. Es würde sehr viel mehr Recycling an Ort und Stelle geben – wenn das nicht überhaupt von Privatfirmen übernommen wurde, es sei denn, die Gewerkschaften konnten dem zuvorkommen oder, falls privatisiert wurde, wenigstens einen Teil für sich behalten. Alle organischen Abfälle gingen künftig in das Abwassersystem, und es gab gute Möglichkeiten für die mit der Verarbeitung des Klärschlamms befaßten Gewerbe, aber was sollte aus den Besatzungen der Abfallkähne werden? Industrielle Abfälle würden gelagert und vielleicht sogar abgebaut werden, etwa durch Biokonzentration über Algen etc. – die Technologie war kompliziert, und Bratislaw war nicht sicher, ob er sie begriff. Aber das taten auch die Gewerkschaftsführer nicht, und sie mußten darüber informiert sein, um ihre Einflußsphären abzustecken.
All das ergab Sinn, aber im Gespräch mit den anderen Leibwächtern fand Bratislaw seine Ansicht bestätigt, daß das Hauptthema dieser Geheimbesprechung mit den oben erwähnten Dingen wenig zu tun hatte. Die alles überschattende Sorge galt dem großen Geschworenengericht. Ella war nicht die einzige, die eine Vorladung bekommen hatte. Mit großem Geschick erwirkten ihre Anwälte Aufschübe und Verzögerungen. Aber das konnte nicht ewig dauern. Das hörte man auch in den Nachrichtensendungen. Das Dumme war, daß die Journalisten sich hämisch über die feste Entschlossenheit des Blutrichters von Harlem freuten, dem organisierten Verbrechen innerhalb der Gewerkschaften der City ein Ende zu setzen. Bratislaw hatte nicht vergessen, wen er einmal aus einer dieser Geheimsitzungen hatte herauskommen sehen. Mehr als alles andere wünschte er sich, er hätte immer noch Lucy als seine soziale Datenbank, vielleicht sogar ein wenig als sein soziales Gewissen. Lucy hatte ihm erklärt, daß, seit der Aufhebung der Drogengesetze und aller die Prostitution betreffenden Vorschriften, das aus organisiertem Verbrechen erzielte Einkommen um über die Hälfte geschrumpft sei; denn heute würde sogar auf den Wohltätigkeitsveranstaltungen des Bürgermeisters Kokain geschnupft, und die Gelben Seiten der Telefonbücher enthielten fünfzehn Seiten unter der Rubrik »Sexuelle Dienstleistungen«. So waren ihnen nur noch die Gewerkschaften geblieben. Es gab noch ein paar Gewerkschaften in der City, die nicht von Gangstern kontrolliert wurden, aber auf Anhieb fielen Bratislaw keine ein. Ellas Sohn kam braungebrannt und mit ein paar Pfunden mehr aus dem Camp in den Rockaways zurück, und Bratislaw mußte feststellen, daß jetzt auch Baby-Sitting zu seinen Pflichten gehörte. Nicht oft. Aber wenn Ella Jennalec den
ganzen Tag an einem Ort zu tun hatte, sollte der Gewerkschaftswagen und der Gewerkschaftsfahrer ruhig etwas Nützlicheres tun, als vor dem Gebäude herumzustehen. Deshalb stieg Bratislaw mit Marvin auf die Freiheitsstatue und zeigte dem Jungen die Brücke, auf der seine Frau arbeitete, und die Verankerungen im Hafen, an denen er selbst geschuftet hatte. Er ging mit ihm zum Zoo in der Bronx und zum Amerikanischen Museum für Naturgeschichte und zum Planetarium. Sie gingen sogar zusammen ins Gefängnis, das heißt, sie besuchten das große Nathanael-Greene-Institut für Männer; und der Sommer neigte sich allmählich seinem Ende zu. Der Junge war ein Lichtpunkt in Bratislaws Leben. Und Heidi war ebenfalls einer. »Ich denke, ich werde meinen Mutterschaftsurlaub ein wenig früher nehmen«, sagte sie eines Abends zu ihm, als sie aus der Dusche kam und er gerade hineinwollte. Er strich ihr über den Bauch, der sich schon ganz schön rundete und vom Duschen noch feucht war. »Ich finde auch, daß du dich zu wenig schonst«, sagte er. »Wir haben so viel zu tun«, erklärte sie; und ihr Gesicht war wirklich schmal geworden, wenn auch sonst nichts an ihr. Sie macht sich zu viele Sorgen um ihre Schwester, überlegte Bratislaw, während er sich einseifte und wieder abspülte. Noch triefend und mit dem Badetuch in der Hand verließ er die Dusche, um es ihr zu sagen. Das Wasser tropfte auf den Teppich. Heidi war im Schlafzimmer, aber sie lag noch nicht im Bett. Sie beugte sich über etwas, und als er eintrat, fuhr sie erschrocken hoch. Sie hielt sein Amulett in der Hand. »Du hast mich aber erschreckt«, rief sie. Und als sie die unausgesprochene Frage in seinem Gesicht las, fügte sie hinzu: »Ich habe es nur abgewischt. Du schwitzt so, Jeff.«
Er war gerührt: wie schön sie ihm ihre Liebe zeigte. Er nahm sich fest vor, das auch zu tun; und wenig später war er schon dabei, und sie zeigte sich alles andere als abgeneigt.
Die Orkane hatten schon im Juni eingesetzt. Alfred geriet draußen auf dem Weg nach Bermuda außer Atem, Betsy zog in den Golf von Mexico, Curtis rasierte Cuba und bedrohte ganz Florida, vollführte dann eine verrückte Kehrtwendung und verlor sich mitten im Atlantik. Am Tag der Arbeit waren sie bei Michael angelangt, der unbeirrbar die Küste entlangzog, wenn auch über zweihundert Meilen von ihr entfernt, und Ella fand, daß es an der Zeit war, mit ihrem Sohn den schon lange versprochenen Ausflug zu machen. Nicht zur großen Kuppel. Nicht einmal zu der kleinen röhrenförmigen Kuppel, die die beiden großen miteinander verband. Aber es gab ja noch die Aquaduct-Rennbahn, die auch eine Kuppel hatte, und Ella nahm sich einen Tag frei. Marvin war nicht an Pferdewetten interessiert, aber die Pferde selbst begeisterten ihn, und die Macht seiner Mutter reichte so weit, daß er einen Paß und einen Führer bekam, um mit Bratislaw die Ställe und die Einzäunung auf der Pferdekoppel des Besitzers besuchen zu können. Ella Jennalec schloß sich ihnen nur für kurze Zeit an, denn ihre Liebe zu Pferden erschöpfte sich darin, auf den Sieger zu wetten. Lange vor dem ersten Rennen saß sie wieder auf ihrem Platz, studierte die Listen und plazierte die Zweierwette. Bratislaw und der Junge schauten zu, wie die Stallknechte nach dem ersten Rennen die Pferde zurückbrachten. Der Sieger war ein dreijähriger Wallach, ein Rotschimmel. Während die anderen Pferde zu ihren Boxen geführt wurden, brachte man den Wallach zu einem Schuppen, wo ein Mann in einem weißen Kittel ihm die Lippen hochschob und die Zähne mit
einem weißen Bausch abtupfte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte der Junge, und ihre Führerin, ein zwanzigjähriges Stallmädchen, deren Pferd gestrichen worden war, erklärte es ihm: »Das ist der Schuppen, wo die Sieger einen Speicheltest machen müssen.« »Meinen Sie, die sind gedopt?« fragte der Junge interessiert. »Wer weiß? Es ist jedenfalls Gesetz. Ein sehr schönes Pferd«, fügte sie neidisch hinzu, und als der Junge näher herantrat, warnte sie ihn: »Aber jetzt nicht anfassen.« »Warum nicht?« »Weil er mit dem Test noch nicht fertig ist.« Und als der Junge dem hübschen schweißdunklen Pferd folgte, blieb sie zurück und flüsterte Bratislaw zu: »Sind Sie sicher, daß der Junge das alles sehen soll?« »Was sehen?« Aber sie brauchte nicht zu antworten, denn das Pferd stand schon in einer Box, und ein Mann mit einer langen Stange, an deren Ende eine glänzende Metallkanne befestigt war, schlurfte durch das Stroh und wartete in der Nähe des Tieres. Entzückt schaute der Junge zu, als das gewaltige Sexualorgan des Wallachs länger wurde. Rasch schob der Mann die Kanne unter den Penis des Pferdes und fing einige Spritzer Urin auf. »Verdammt«, rief der Junge. »Was Ma wohl dazu sagen würde?« »Ich denke, wir sollten ins Klubhaus zurückgehen«, sagte Bratislaw. Der Junge grinste. »Da kommen Sie wohl nicht mit, was?« Aber er folgte Bratislaw gehorsam, und die nächsten ein oder zwei Stunden brachte er damit zu, für seine Mutter Pferde auszusuchen und gelegentlich zum Erfrischungsstand hinüberzulaufen, um Mineralwasser, Hot-dogs oder Fisch und Chips zu holen. Aber bei den Gewinnern hatte er keine sehr
glückliche Hand. Ella hatte einen schlechten Tag, und sie wurde immer gereizter. »Was meinst du, mein Junge«, sagte sie. »Zeit, nach Hause zu gehen?« »Ma! Du hast es mir versprochen! Du hast gesagt, daß ich auf die Kuppel steigen darf…« »Es ist zu stürmisch«, sagte seine Mutter, »und ich habe ein ungutes Gefühl. Wir gehen.« Gegen das »zu stürmisch« hätte sich der Junge vielleicht aufgelehnt, gegen das ungute Gefühl seiner Mutter nicht. Er schmollte lediglich. Auf dem Weg in die City versuchte Bratislaw, ihn mit Versprechungen aufzuheitern – »Ein anderes Mal vielleicht. Vielleicht schon morgen?« Aber aus diesem »Morgen« sollte nie etwas werden.
Als Bratislaw den Wagen abgestellt hatte, ging er nach oben. Schon bevor er die Wohnung betrat, hörte er Ella schreien, und als er die Haushälterin fragend anschaute, schüttelte die Frau nur den Kopf. Der Junge hatte sich in seinem Zimmer versteckt. Ella kreischte und warf im Wohnzimmer mit diversen Gegenständen. Sie unterbrach diese Tätigkeit nur, um Bratislaw anzuschreien: »Dieser Hundesohn! Dieser verdammte jüdische Bastard!« Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und in dem Blick, den sie ihm zuwarf, lag nackter Haß. Bratislaw zuckte zurück. »Ist etwas passiert?« stieß er hervor. »Passiert!« schrie sie, und der nächste Gegenstand war auf Bratislaw gezielt. Er wich einem Souvenir-Aschenbecher von der Weltausstellung 1939 aus und hörte, wie der Spiegel an der Tür hinter ihm zersplitterte. »Der Hurensohn hat sich einfrieren lassen, das ist passiert! Sehen Sie sich an, womit ich hier empfangen wurde!« Sie zeigte mit dem Daumen auf den TV-Schirm, auf dem das rote Licht für dringende Botschaften
flimmerte. »Lesen Sie selbst! Und bleiben Sie hier, bis ich wieder zurückkomme.« Sie verschwand in ihrem Büro und schlug die Tür hinter sich zu; ein schwaches Murmeln verriet Bratislaw, daß sie telefonierte, und zweifellos schrie sie, denn sonst wäre durch diese solide Tür überhaupt nichts zu hören gewesen. Er schaute zum Schirm hinüber, der auf einen der Datafax-Kanäle eingestellt war, und las die Nachricht: BUNDESRICHTER LÄSST SICH KRYONISCH AUFBEWAHREN Richter Horatio Margov wurde heute nachmittag um fünf Uhr in die Aufbewahrungsabteilung des Bronx General Hospital aufgenommen. Ein Sprecher der Familie ließ verlauten, bei dem einundsechzigjährigen Richter sei eine inoperable Krebsgeschwulst der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert worden, und er habe sich daher entschlossen, sich in kryonische Aufbewahrung zu begeben bis zu einem Zeitpunkt, da die zur Behandlung seines Leidens geeigneten chirurgischen Verfahren so weit entwickelt sein werden, daß eine Heilung möglich ist. Bei dem genannten Leiden sei die Sterblichkeitsrate derzeit auf über achtzig Prozent zu beziffern. Richter Margov, der gelegentlich »Der Blutrichter von Harlem« genannt wird, hat sich als Kämpfer gegen politische Korruption einen Ruf erworben. Aus einer Quelle im Büro des Bezirksstaatsanwalts verlautet jedoch, daß hinsichtlich Richter Margovs Rolle bei den laufenden Ermittlungen im Zusammenhang mit Korruption in den Gewerkschaften gewisse Ungereimtheiten aufgetaucht seien. »Wenn er sich nicht hätte einfrieren lassen«, so die Quelle weiter, »wären ihm einige Fragen gestellt worden.« Das Büro des Bezirksstaatsanwalts habe sein Vermögen, einschließlich aller Dokumente, unter Zwangsverwaltung
stellen lassen und umfassende Ermittlungen angekündigt. Ein zweiter Sprecher des Büros des Bezirksstaatsanwalts habe jedoch darauf hingewiesen, daß die unklare rechtliche Situation einer in kryonischer Aufbewahrung befindlichen Person die weiteren Ermittlungen erschweren werde.
Als Ella aus ihrem Büro herauskam, tobte sie nicht mehr, aber sie war voll eiskalter Wut, und als Bratislaw Fragen stellen wollte, sagte sie nur: »Warten Sie noch etwas.« Sie wies ihm einen Platz in der Nähe des ruinierten Spiegels an, setzte sich selbst an das andere Ende des Raumes, rauchte und weigerte sich, auch nur eine einzige Frage zu beantworten. Als es klingelte, bedeutete sie ihm mit einer Handbewegung, die Tür zu öffnen. Es waren zwei Schläger von der Gewerkschaft. Ganz offensichtlich hatte Ella sie erwartet. Sie blieb sitzen und rauchte seelenruhig weiter. Ihr war nicht einmal Überraschung anzumerken. Sie sagte nur: »Gehen Sie mit ihnen, Bratislaw. Sie haben keine Wahl.« Und dann, als sich die Tür gerade hinter ihnen schloß, hörte er noch etwas, oder glaubte, es zu hören: »Viel Glück.«
Und viel Glück war genau das, was er brauchte. Als sie ihn in die Kellergarage geführt hatten, fingen sie sofort an, ihn zu bearbeiten – nicht bösartig, nicht mit der Absicht, ihn zum Krüppel zu schlagen; der eine hielt ihn fest, während der andere ihn ein halbes Dutzend Mal in Bauch, Brust und Nieren schlug; dann tauschten sie die Rollen, und der andere durfte zuschlagen. Es war schlimm genug; üblere Schmerzen hatte Bratislaw noch nie erlebt. Als er nicht mehr kotzte und nicht
mehr keuchte, stießen sie ihn in ihren Wagen, und er erkannte die Umgebung nur noch verschwommen. Aber sie hatten ihm keine Knochen gebrochen. Als der Wagen vor der nächsten Gewerkschaftszentrale hielt und seine Bewacher ihn zu einem Privateingang hinter dem Gebäude führten, leistete Bratislaw deshalb auch keinen Widerstand. Es war auch fraglich, ob er dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, denn nach ihren sorgfältig dosierten Boxhieben hatte er wütende Schmerzen im ganzen Oberkörper. Als der Posten am Privateingang die Tür hinter ihnen zugeschlagen hatte, fragte sich Bratislaw, ob er die andere Seite je wiedersehen würde; aber das war nur Angst und hatte mit Vernunft nichts zu tun. Seine Vernunft sagte ihm, daß sie sich einen geeigneteren Ort ausgesucht hätten, wenn sie ihn wirklich hätten umbringen wollen. Offensichtlich wollten sie nicht seinen Tod – jedenfalls noch nicht. Sie brachten ihn in einen Raum im Kellergeschoß, und seltsamerweise glaubte Bratislaw einen Augenblick lang, er sei in einer Klinik. Vielleicht wollten sie ihn bandagieren, ihm einen Breiumschlag machen und sich vielleicht sogar für das Mißverständnis entschuldigen. Aber auch hier irrte er. Die Klinik diente anderen Zwecken. Die beiden Schläger setzten sich in eine Ecke des Raumes und sagten und taten weiter nichts. Was jetzt geschah, lag in den Händen dreier kompetent wirkender Männer in weißen Kitteln. Sie stießen Bratislaw eine Nadel ins Hinterteil, umwickelten ihn mit Schläuchen und schnallten ihm feuchte Kontaktscheiben an Hals und Armen fest, und drei Stunden lang stellte einer von ihnen ihm Fragen, die er von einem weißen Bogen ablas, während die beiden anderen die Linien studierten, die die Griffel der Instrumente auf durchlaufendes Papier zeichneten. Sie erklärten ihm überhaupt nichts. Nicht gleich, und auch nicht, als alles vorüber war und die Männer miteinander
tuschelten. Aber wenigstens wurde er losgeschnallt und durfte eine Zigarette rauchen. Das taube und schwindlige Gefühl, das sich sofort eingestellt hatte, als die Nadel ihm in die Haut drang, war verschwunden. Gewisse Dinge brauchten sie ihm nicht mehr zu erzählen; sie waren schon durch ihre Fragen beantwortet. Es hatte irgendwo eine undichte Stelle gegeben. Irgend jemand hatte irgendwelche Beweise dafür, daß zwischen Ella Jennalec und Richter Margov Verbindungen bestanden hatten. Diese Verbindungen hatten etwas mit der Vergewaltigung eines Homosexuellen zu tun, die der Richter sich vor einundzwanzig Jahren hatte zu Schulden kommen lassen; Ella erpreßte ihn, und das war für Bratislaw völlig neu. Vielleicht sprach es ganz besonders zu Bratislaws Gunsten, daß er bei dieser Frage so erschrocken gewesen war. Zuletzt verschwand einer der Männer in einem Nebenraum, um zu telefonieren. Während sie auf ihn warteten, hatte Bratislaw genügend Zeit, nachzudenken. Sein Kopf war inzwischen wieder klar. Die Schmerzen in Bauch und Rücken hatten zwar nicht nachgelassen, aber wenigstens waren sie ihm jetzt vertraut. Er steckte in Schwierigkeiten. Ella steckte in Schwierigkeiten; sie war aller ihrer Gewerkschaftsämter enthoben worden, und deshalb war ihr persönlicher Assistent erledigt, ganz gleich, was sonst noch geschah – kein Job mehr, keine Freistellung von der Einberufung; er konnte höchstens noch darauf hoffen, daß man ihn am Leben lassen würde… Und das tat man. Ohne Erklärung; ohne Entschuldigung. Er wurde zu derselben Hintertür geführt. Dann wurde er auf die Straße gestoßen, und die Tür schloß sich hinter ihm. Er mußte etwas ganz Bestimmtes unternehmen. Ob es klug war, es zu tun, war eine andere Frage. Das würde davon abhängen, wie weit sich der Fall schon herumgesprochen hatte. Er riß sich zusammen, betrachtete sein Gesicht in einem Schaufenster, wischte sich irgendein angetrocknetes Zeug von
der Jacke und nahm sein Amulett ab. Mitsamt der Kette steckte er es in die Tasche und ging um das Gebäude herum zum vorderen Eingang. Der Mann am Metalldetektor nickte und zeigte auf den Privateingang. Bratislaw war unendlich erleichtert. Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte mir nur rasch Ihr Fluoroskop ausleihen«, sagte er. »Das haben wir irgendeinem Witzbold abgenommen, und ich möchte gern einmal hineinschauen.« »Aber gern, Bratislaw.« Der Mann nahm das Amulett und schob es in das Gerät. Bratislaw drängte sich neben ihn und schaute auf den Schirm. Das Bild erschien. Die scharfen dunklen Konturen der Goldkette und der Geist des Amuletts. Aber der Geist hatte ein Skelett. Zwei winzige Spulen, etwas Draht, einen dunklen Fleck, der wahrscheinlich der Aufnahmekopf war, und die dünnen Umrisse eines Magnetbandes. »Scheint, daß ihr einen Wanzenleger erwischt habt«, sagte der Mann neben Bratislaw und lächelte neidisch. »Es scheint so«, sagte Bratislaw und versuchte, eine Art Triumphgefühl zur Schau zu stellen, obwohl er nichts anderes wollte als schreien oder wegrennen oder etwas in tausend Stücke schlagen. Da das alles nicht ging, wollte er etwas anderes, und daran war ihm sehr gelegen: er wollte der Person gegenüberstehen, die ihn in diese Scheiße hineingeritten hatte. Möglichst sofort.
VI
Es war Heidis Glück, daß sie nicht zu Hause war. Er fand nur eine Notiz auf dem Bildschirm: NACHTSCHICHT – BIN UM FÜNF UHR MORGENS WIEDER ZURÜCK Aber bis fünf Uhr morgens konnte Bratislaw nicht warten. Aber so wie er war, konnte er auch nicht hinausgehen. Er riß sich die Kleidung von seinem schmerzenden Körper und duschte so lange, wie es die Zeituhr zuließ. Dann zog er sich frische Wäsche an. Als er mit dem Anziehen halb fertig war, schenkte er sich fünf Unzen Whiskey ein und nahm einen Schluck. Dabei fiel ihm ein, daß er seit fast zehn Stunden nichts gegessen hatte, und er schlug zwei Eier in die Pfanne; aber bevor sie noch recht angefangen hatten zu brutzeln, hatte er es sich schon anders überlegt. Er warf das Ganze in den Schacht für organische Abfälle, trank den Rest Scotch aus und ging nach unten, um ein Taxi heranzuwinken. Während der ganzen Fahrt murrte die Fahrerin darüber, daß sie einen Fahrgast mitten auf der Verrazano-Brücke absetzen mußte, aber Bratislaw hörte nicht einmal zu. Er war eiskalt und ruhig und zog sich in seine Gedanken zurück. Es waren keine guten Gedanken. Als sie am Pfeiler angekommen waren, reichte er der Frau einen Schein und eilte, ohne auf das Wechselgeld zu warten, zum Fahrstuhl. »Haben Sie einen Paß, mein Freund?« fragte der Wächter, aber Bratislaw hatte sich seine Geschichte schon zurechtgelegt. Er schüttelte den Kopf. »Keinen Paß, Sir, aber es handelt sich um einen Notfall. Wissen Sie, meine Frau arbeitet oben bei der Hafenkontrolle. Sie ist schwanger, und sie hat ihre Medizin zu Hause
vergessen. Ich will nicht, daß etwas passiert. Es ist unser erstes…« Bratislaw wußte nicht, ob er den Wächter überzeugt hatte, aber der Mann hinderte ihn wenigstens nicht daran, mit dem Fahrstuhl nach oben zu fahren. Er hatte nicht erwartet, in den Kontrollturm selbst hineingelassen zu werden, und das wurde er auch nicht. Aber er wurde in einen Besucherraum geführt, der durch dickes kugelsicheres Glas vom Kontrollraum getrennt war. Er sah Heidi, die vor einer mehrfarbigen Konsole saß und die Finger über die Tastatur gleiten ließ. Dabei sprach sie in ein Mikrophon, das an ihrer Bluse befestigt war. Als der Beamte, der Bratislaw hereingeführt hatte, mit ihr sprach, schaute sie zu Bratislaw hinüber und nickte. Ein paar Minuten später kam sie zu ihm in den Besucherraum. »Hallo, Honey, was gibt’s?« sagte sie. »Ich habe nur zehn Minuten Zeit – dies ist nur meine Pinkelpause.« »Was es gibt?« sagte er. »Du hast mir eine Wanze untergejubelt. In dem Amulett, das du mir schenktest, habe ich die ganze Zeit ein Aufnahmegerät mit mir herumgetragen. Ich wäre fast umgebracht worden, und das könnte immer noch passieren.« Sie nickte. Es war kein ängstliches Nicken und auch keines, mit dem sie um Verzeihung bitten wollte – sie war nicht einmal erschrocken; es war, als hätte er ihr erzählt, die Co-op habe keinen Schwertfisch mehr gehabt, und so habe er Lachssteak für das Dinner nehmen müssen. Information erhalten, Reaktion gleich Null. Sie setzte sich ihm gegenüber auf eine Bank und faltete die Hände auf dem Schoß. »Ich habe gefürchtet, daß sie dich früher oder später verdächtigen würden«, sagte sie. »Mich verdächtigen? Sie haben mich pulverisiert, verdammt nochmal!«
Wieder nickte sie genau so abwesend wie vorher. »Ja, auch damit habe ich gerechnet. Deshalb war es gut, daß du von der Wanze nichts wußtest. So brauchtest du nicht zu lügen.« »Heidi!« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber an ihren Lidern hingen zwei Tränen. Sie atmete tief ein und sagte: »Ich habe darüber nachgedacht, was mit dir passieren würde, wenn sie es erführen – wenn sie dich erwischten, was auch immer. Du hast ein Recht darauf, zu erfahren, worum es geht.« Er lachte bitter und ein wenig zu laut, aber sie reagierte nicht; sie fuhr einfach mit ihrer vorbereiteten Rede fort. »Deine Chefin will der City die Pistole auf die Brust setzen. Sie will die Allgemeine Stadtversammlung abschaffen, und sie plant etwas Gewalttätiges.« »Komm, Heidi! Sie ist natürlich dagegen, aber das beweist doch nicht, daß sie etwas Ungesetzliches tun wird.« »Die Beweise waren ja das Schwierige, und meine Schwester hatte keine«, sagte Heidi, und die Tränen, die von den Lidern über ihre Wangen liefen, wurden durch zwei andere ersetzt. »Sie ließ das Amulett machen und bat mich, dich dazu zu bringen, es zu tragen. Ich weigerte mich. Aber dann, als Ella Jennalec sie zusammenschlagen ließ…« »Das hat sie nicht getan!« »Doch, und wenn du darüber nachdenkst, wirst du wissen, daß es stimmt. Aber wie dem auch sei, Lucy kann es nicht mehr tun, und deshalb erledige ich es für sie. Ich habe jedes einzelne deiner Bänder an den Bezirksstaatsanwalt weitergegeben.« Bratislaw war entsetzt. »Sie werden mich töten!« ächzte er. »Sie werden für deinen Schutz sorgen, wenn du bereit bist, als Zeuge aufzutreten.« »Ich werde als Leiche auftreten.«
»Das Risiko bleibt dir nicht erspart, Jeff«, sagte Heidi fest. Sie schaute auf die Uhr. »Tut mir leid, Jeff, aber wenn ich noch einmal vor dieser Situation stünde, würde ich nicht anders handeln. Nun haben wir schwangeren Frauen so unsere Probleme, und ich sollte meine Pause lieber für den Zweck nutzen, für den sie gedacht ist.«
In dieser Nacht schlief Bratislaw nur wenig. Schon vor Tagesanbruch stand er auf, kleidete sich an und verließ die Wohnung. Er wollte seine Frau jetzt nicht sehen. Nicht, weil es nicht Dinge gab, die er ihr gern gesagt hätte. Aber er fürchtete die Dinge, die er ihr vielleicht antun würde. Und war das nicht seine einzige Angst, denn der Tag, der gerade mit Regen und Wind heraufzog, war voller Dinge, die er fürchten mußte. Die Chancen, daß er jetzt arbeitslos war, standen ausgezeichnet; aber wie stand es dann um seine Einberufung? Heidi würde dem Bezirksstaatsanwalt doch sicherlich nicht erzählen, er habe von den Magnetbändern gewußt; es würde Vorladungen hageln, und was sollte er mit der tun, auf der sein Name stand? In einem Restaurant an der unteren West Side trank er eine Tasse Kaffee und schaute zum Kuppelskelett hinauf, das regengepeitscht über dem Fluß aufragte. Dabei überlegte er trübselig, daß all das noch nicht das Schlimmste war. Das Schlimmste war: Wenn Jennalec erfuhr, was tatsächlich passiert war, würden ihre brutalen Schläger keine Informationen von ihm wollen, sie würden versuchen, ihn umzubringen. Und vielleicht war der Tag, der gerade heraufzog, sein letzter. Bratislaw mußte seinen ganzen Mut aufbieten, um Ella Jennalec an diesem Morgen gegen sieben Uhr dreißig in ihrer Wohnung aufzusuchen.
Aber das Komische war, daß dieser Tag, der so schlecht begonnen hatte, sich rasch aufhellte. Jennalec entschuldigte sich nicht. Man konnte allenfalls sagen, daß sie sich fair verhielt oder es wenigstens versuchte. Aber das war schon mehr, als Bratislaw erwartet hatte. »Fehler passieren nun mal, Jeff«, sagte sie, als sie am Tisch stand, eine Scheibe Toast in der einen Hand, eine Tasse Kaffee in der anderen. »Berufsrisiko. Sie haben gedacht, daß Sie es waren, der geredet hat.« Bratislaw öffnete den Mund, aber sie sprach weiter. »Sie sollten allerdings lieber nicht mehr für mich arbeiten. Ich werde Sie vermissen. Aber Sie wollten doch ohnehin im Stahlbau arbeiten, nicht wahr? Und sie legen jetzt Extraschichten ein. Sie sollten sich an Woody Vult wenden. Oben auf Governor’s Island. Er erwartet Sie schon, und Sie sollten gleich hingehen.« Und neunzig Minuten später arbeitete Jeff oben auf der Kuppel.
Der Regen kam jetzt nur noch tropfenweise aus verschiedenen Richtungen, je nachdem, woher der Wind wehte. Kein guter Tag, auf den gerundeten Walrücken aus Stahlgeflecht hinauszugehen, den Bratislaw vor sich sah, aber den anderen Männern schien das keine Sorgen zu machen, und der Vorarbeiter scheuchte sie alle zusammen in den Aufzugskäfig. Als die Beschleunigung einsetzte, hatte Bratislaw das Gefühl, als drückte sein Magen auf die Gedärme. Der Aufzug fuhr nicht direkt nach oben. Zuerst ging es hoch und dann über die große Rundung des Kuppelskeletts, und während des Aufstiegs variierte der Schub. Der Aufzug war in seinem halbzylindrischen Schacht kardanisch aufgehängt, so daß der
Boden immer unten blieb. Aber die Kabine rüttelte wie bei einer Karussellfahrt. Als ein Drittel des Weges nach ganz oben hinter ihnen lag, hielt die Kabine an, und die Männer traten auf eine Bühne hinaus. Bratislaw fühlte eine Hand auf seiner Schulter. »Du auch«, sagte der Vorarbeiter. »Zieh dir die Schuhe an!« Dann sah er, daß Bratislaw das tellerförmige Stück Plastik unschlüssig in den Händen drehte. »Ach, du Scheiße«, sagte er. »Komm hier rüber!« Außer Hörweite der anderen griff er locker an das Sicherungskabel, an das Bratislaw sich klammerte, als sei sein Leben in unmittelbarer Gefahr, und sagte: »Schon mal oben im Stahl gearbeitet? Nein? Das dachte ich mir. Diese verdammte Ella!« Er starrte wütend zu den anderen Männern hinüber, die auf der Bühne standen und sich miteinander unterhielten. Sein Gesicht verfinsterte sich, während er nachdachte. Er hatte ein dunkles Gesicht, wenn auch kein negroides, und sein Akzent war eher der eines Mannes aus New England als der eines Schwarzen. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder trete ich dir in den Arsch und schick dich nach Hause, und das sollte ich eigentlich tun. Oder ich riskiere, daß du dich hier umbringst. Was ist dir lieber?« Was ihm lieber wäre, mochte Bratislaw nicht sagen: nur weg von hier, wo der Wind aus allen Richtungen kam und durch alle Öffnungen rauschte und pfiff und kreischte. Woody Vult teilte ihm einen, wie er sagte, leichten Job zu. Bratislaw sollte Bündel von optischen Fasern an den tragenden Strukturen der Kuppel anbringen. Wenn sie einer gewissen Zugbelastung ausgesetzt waren, variierte die Intensität des durch sie übertragenen Laserlichts, und auf diese Weise konnte unten auf den Monitoren die Belastung genau registriert werden; rissen sie, wurde ein Reparaturtrupp angefordert. Bratislaw band sich also die schüsselförmigen Schuhe an seine Stiefel, nahm eine Rolle farbiges Klebband auf die Schulter und zog
die Faserstränge hinter sich her, wobei er sich ängstlich an den Sicherheitskabeln der Kuppel entlangzog. Dies war ein Job für einen Mann mit mindestens drei Händen, vorzugsweise für einen Mann wie Vult, dessen Vorfahren Irokesen waren. Bratislaw hatte weder das eine, noch konnte er mit dem anderen aufwarten. Was er hatte, war die Entschlossenheit durchzuhalten, aber während der ersten Stunde, als er sich verzweifelt festhielt und wild schwitzte und vor Angst zitterte, schien das nicht genug. Als die Sonne hervorkam und es wärmer wurde, kam es ihm nicht mehr ganz so schlimm vor. Im Freien war Bratislaw noch nie so hoch oben gewesen. Die Brücke und der Fluß hundertfünfzig Meter unter ihm waren wie Spielzeuge; jenseits von Brooklyn und Queens sah er Flugzeuge starten und landen, und der dünne Streifen Blau weit hinten konnte der Atlantik sein. Um sich herum sah er auf der Wölbung der Kuppel weitere Gruppen von Männern arbeiten. Sie fügten die transparenten Plastikteile ein und schraubten sie fest, und sie bewegten sich dabei mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit, um die er sie glühend beneidete. Das schaffte er nicht. Sein Griff am Sicherheitskabel war immer noch verkrampft. Das entging den anderen nicht, und wenn er alle halbe Stunde zurückkam, um neue Faserstränge zu holen, war er die Zielscheibe ihrer Witze. Aber manchmal gaben sie ihm auch Ratschläge oder sogar Informationen. »Eine Hand für dich, eine Hand für den Job – das darfst du nie vergessen!« »Dreißig Meter höher bedeutet eine Meile mehr Windgeschwindigkeit – doppelte Windstärke, achtmal soviel Druck!« Und immer wieder der Vorarbeiter: »Bewegt eure verdammten Ärsche! Wir müssen einen Termin einhalten!« Der Termin war in Wirklichkeit gar nicht so wichtig – Bauvorhaben werden nie zum Termin fertig. Das eigentlich Wichtige war das Wetter. Wenn die Kuppel rechtzeitig
abgedeckt gewesen wäre, hätte es keine Probleme gegeben, denn nach ihrer Fertigstellung würde die Aerodynamik der Kuppel Windstärken bis zu hundertfünfzig Meilen in der Stunde standhalten können – und solche Windgeschwindigkeiten waren in New York bisher noch nie registriert worden. Bisher aber war erst die Hälfte der Plastikplatten angebracht, und ein wirklich starker Wind würde alles wegreißen. Auf dem Weg nach Oz würde sich das alles in eine Tragfläche verwandeln – und eine wahre Hölle hinterlassen. Die Pfeiler würden umstürzen, die Kabel reißen, und riesige Segel würden über die Stadt hinweggefegt werden. Bisher waren sie vom Wetter verschont geblieben. Aber jetzt war die Zeit der Stürme. »Heh! Bratislaw! Was zum Teufel machst du da?« Es war Vult, der Vorarbeiter, der hinter ihm aufgetaucht war. »Mein Gott, siehst du denn nicht, wie lose du das Zeug angebracht hast? Da kann ja die ganze verdammte Kuppel zusammenbrechen, bevor das unten registriert wird!« Fast eine halbe Stunde lang hatte Bratislaw sich auf seine Arbeit konzentriert und auf die seltsame Befriedigung, die er empfand, weil er seine Angst schon fast vergessen hatte, obwohl er sich in solcher Höhe aufhalten mußte. Aber plötzlich fiel ihm wieder ein, daß fünfzig Stockwerke unter ihm lagen, und das bei zunehmender Windstärke. »Ich werd’s nochmal machen«, keuchte er. »Du wirst einen Scheißdreck machen! Ich hole jemanden, der was davon versteht! Du wirst ohnehin nach oben versetzt.« »Nach oben versetzt?« »Du hast mich gehört. Jennalec will, daß du nach oben gehst, und sie hat schon einen Mann geschickt, der dich raufbringt.« Und Bratislaw drehte sich um und schaute am Vorarbeiter vorbei, und wer zwischen den Sicherheitskabeln auf sie zukam, war Tiny Martineau.
Wäre es Bratislaw schneller eingefallen, hätte er dem Vorarbeiter sagen können, er solle sich den Job sonstwohin stecken. Damit hätte er sich einen sicheren, wenn auch wenig heroischen Abgang verschaffen können. Aber als er sich dazu entschlossen hatte, war der Vorarbeiter schon außer Hörweite, und Martineau grinste. »Rauf mit dir«, sagte er genüßlich und stellte sich zwischen Bratislaw und den Weg nach unten. Obwohl er keinen Gehgips mehr trug, schien er das Bein noch zu schonen. »Hör zu, Tiny«, sagte Bratislaw und schätzte die Größe des anderen ab. Martineau war größer als er, aber der Unterschied war gering. In einem fairen Kampf hätten sie etwa die gleichen Chancen… »Hmm«, grinste Martineau und zeigte die Klinge, die er in der Hand hielt. Er hatte sie im Ärmel verborgen getragen, und sie war scharf wie ein Rasiermesser. Der Kampf würde nicht fair sein. Die Augen auf den Stahl gerichtet, wich Bratislaw langsam zurück. »Tiny«, sagte er, »du und Ella, ihr habt alles falsch verstanden. Ich weiß nicht was du denkst, aber ich würde nie gegen euch aussagen!« »Ganz recht«, sagte Tiny fröhlich. »Geh nur weiter nach oben, und wir werden keine Schwierigkeiten mehr haben.« Das glaubte Bratislaw nicht so recht, zumal er weiter oben auf der Kuppel nichts sah, das sich aufzusuchen lohnte. Sie verließen jetzt den Teil der Kuppel, der schon mit Plastik ausgekleidet war, und seine Schneeschuhe waren überflüssig geworden. »Ich kann nicht weiter, Tiny«, sagte er. »Oh ja, du kannst. Nimm die Schuhe ab. Wir haben es nicht mehr weit.« Mit einer Hand am Kabel bückte sich Bratislaw, um mit der anderen die Verschnürung zu lösen. Er hielt den Blick dabei auf Martineau gerichtet. Das war nicht schwer, denn es war
sonst niemand da, den er hätte anschauen können, und Martineau hielt sich freundlicherweise auf Distanz. Als Bratislaw aus dem Schuh stieg, konnte er ihn nicht festhalten, und der Wind erwischte ihn. Durch das Netz aus Metallstreben segelte er davon, und irgendwo tief unten würde wahrscheinlich irgendein Bürger eine böse Überraschung erleben. »Tiny«, schlug er vor, »ich denke, wir sollten mit Ella reden.« Tiny schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie will mit dir nicht mehr reden, Jeffer«, sagte er und entrollte ein Kabel, das er an der Hüfte trug. Bratislaw war erstaunt; es war ein Sicherheitskabel, und zuerst dachte er, daß Martineau es ihm geben wollte. Er hatte falsch geraten. Tiny klinkte das eine Ende am Gerüst ein und befestigte das andere an seinem Gürtel. »Das kannst du nicht tun!« kreischte Bratislaw und trat auf der Laufplanke einen Schritt zurück. »Und ob ich das kann«, sagte Tiny und grinste. »Ich kriege meine Befehle von Ella, und deshalb weiß ich, daß alles okay ist. Und nun halt einen Augenblick still…« Und Bratislaw hätte vielleicht stillgehalten, gelähmt wie ein Affe vom Blick einer Python, aber der Wind pfiff um ihn herum, und der kalte Stahl war glatt; er trat einen Schritt zurück, stolperte und stürzte auf die Laufplanke. Er umklammerte sie, wie er noch nie im Leben eine Frau umklammert hatte. Und jetzt galoppierte Tiny Martineau auf ihn zu. Das Messer steckte wieder in seinem Ärmel. Für den Job, den er jetzt erledigen wollte, brauchte er es nicht mehr. Sein Gesichtsausdruck wirkte ernst und nachdenklich, als er den Fuß hob, um Bratislaw von der Planke zu treten.
Es war keine Geschicklichkeit. Es war ein von nacktem Entsetzen hervorgerufener Reflex. Bratislaw trat zuerst zu. Er erwischte Martineau am Knöchel des Beins, das im Gips gesteckt hatte; der glatte Stahl glitt unter ihm weg; der Riese schrie laut auf vor Wut und Angst; er stürzte über Bratislaw hinweg, griff am Metall vorbei. Und war verschwunden. Als Bratislaw über den Rand der Laufplanke schaute, sah er fünfzehn Meter weiter unten Martineau hilflos an seinem Kabel baumeln. Er brüllte und konnte überhaupt nichts dagegen unternehmen, daß Bratislaw keuchend aufstand, den verbliebenen Schneeschuh aufhob und sich langsam und vorsichtig auf den Weg nach unten machte.
VII
Als das Baby zwei Wochen alt war, erklärte Heidi, sie sei jetzt in der Lage, die Reise anzutreten, um den Jungen seiner Tante vorzuführen. Sie fuhren mit dem Zug nach Peekskill und nahmen von dort ein Taxi zur Irrenanstalt, wo Lucy schon an der Pforte wartete. Sie war nicht allein. Sie schob einen Rollstuhl, in dem eine Frau in den mittleren Jahren saß, die weder Arme noch Beine hatte. »Ich heiße Dorothy«, sagte die Frau, »und bin hier eine Art Beraterin.« Die Tauben führen die Blinden? dachte Bratislaw, aber er sagte kein Wort. Das brauchte er auch nicht. Lucys wirres Gehirn hatte nicht vergessen, wie man ein Neugeborenes begrüßt, und sie streichelte seine niedlichen weichen Wangen. Sie freute sich über die kleinen gurgelnden und quäkenden Laute, die bisher John Fitzgerald Kennedys des Vierten einziges Vokabular waren. »Hübsches Kind«, war der Kommentar der Frau im Rollstuhl, und dabei schaute sie Bratislaw konzentriert an. Sie war nicht ganz ohne Arme, wie er jetzt sah, aber es waren nur flossenartige Auswüchse an den Schultern, und was sie an den Hüften hatte, konnte er wegen ihrer Kleidung nicht erkennen. Aber ganz gewiß waren es keine normalen Beine. »Ich gratuliere«, fügte sie hinzu. »Das ist das Verdienst meiner Frau.« Er grinste. »Ich meine nicht das Baby. Ich meine den Prozeß.« »Ach, ja«, sagte Bratislaw, aber die Zeit war vorbei, da er sich auf eine solche Bemerkung etwas eingebildet hätte. Ella Jennalecs Anwalt war einer von der altmodischen Sorte gewesen. Er machte kein Kreuzverhör. Er zerschmetterte. Er wandte jede Taktik an, die eine fruchtbare Phantasie und ein
nachsichtiges Gericht ihm gestattete, um Bratislaws Glaubwürdigkeit als Zeuge zu erschüttern, und nicht die unwirksamste seiner Waffen war das unwiderlegbare Zeugnis – unwiderlegbar, weil es stimmte – daß Bratislaw einen guten Teil seiner Zeit in Jennalecs Bett verbracht hatte, während seine arme schwangere Frau Überstunden machte, um die Familienschulden abzuzahlen und Geld für das Kind zu sparen. Das änderte natürlich nicht den Ausgang des Prozesses. Das Amulett in Bratislaws Tasche war noch in Betrieb gewesen, und Tiny Martineaus auf Band aufgenommenes Eingeständnis, daß Ella Jennalec den Mord befohlen habe, beseitigte in den Köpfen der Geschworenen auch die letzten Zweifel – ganz zu schweigen von den übrigen Bändern und anderen Beweisen aus einem Dutzend Quellen, die das ganze System von Erpressung, Verschwörung und allgemeiner Kriminalität erhellten. So ergab sich das Urteil von selbst. Heidi Bratislaw war normalerweise nicht besonders eifersüchtig, aber durch die Ereignisse war doch viel von dem ursprünglichen Vertrauen in ihrer Ehe abgebröckelt, und an das, was Lucy zugefügt worden war, durfte man gar nicht denken. »Ja«, wiederholte Bratislaw, und schaute zu den beiden Schwestern hinüber, die sich über seinen Sohn beugten, »aber, um ehrlich zu sein, ich wünschte, nichts von alledem wäre passiert, denn es hat uns nur Kummer gebracht.« Und Lucy richtete sich auf und sah ihn an. Alle Freude wich aus ihrem hübschen leeren Gesicht. Sie biß sich auf die Lippen, und ihre Wangen verzogen sich, aber endlich brachte sie es heraus: »Es hat sich gelohnt«, sagte sie.
ICH WAR EIN KIND DER DEPRESSION. GEBOREN WURDE ICH
während des Krieges, der allen Kriegen ein Ende setzen sollte – dem von 1914. Im Herbst 1929, dem Jahr des großen Börsenkrachs, fing ich mit der Vorbereitungsschule an und wurde 1930 auf eine staatliche High-School umgeschult, weil Daddy das Schulgeld nicht mehr zahlen konnte. Ab 1933 ging ich überhaupt nicht mehr zur Schule. Ich mußte mir meinen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich überhaupt Arbeit fand. Schlechte Zeiten! Da waren die Leute, die um Brot Schlange standen, die Wanderarbeiter, die sich aus dem Staubloch davonmachten, die Kriegsveteranen mit ihren Protestmärschen, Armut, Angst – ich haßte die harte und schmutzige Welt, in der ich leben mußte. Wissen Sie, was mich einigermaßen aufrechterhielt? Das Kino. Besonders Filme über die Zukunft. Wenn ich im Kino saß und zwei oder drei Vorstellungen von Stellt Euch Das Nur Vor oder Die Welt Der Zukunft nacheinander ansah, kapselte ich mich gegen die wirkliche Welt ab. Ich konnte mir vorstellen, daß ich tatsächlich in einer dieser großen Glitzerstädte wohnte, in denen jeder glücklich ist und reich und gesund, und in denen alle wie die Könige leben, unter einem
Himmel aus zweiter Hand
I
Und als die Kuppel fertig war, entstand eine neue Welt. Eine herrliche Welt mit herrlichen neuen Versuchungen. Sie war ein Magnet, und Jamespercy Nutlark war einer der Späne, die dieser Magnet anzog. »Bleib in Atlanta, Jimper«, baten ihn die Freunde im Klub. »Was willst du in New York? Wenn sie dich da beim Drachenfliegen in der Luft hängen sehen, hängen sie dich!« Aber er ging trotzdem nach New York. Man mußte dorthin gehen, wo die Arbeit war, und außerdem war New York die Große Blase, und welcher Drachenflieger hätte seine Schwingen nicht gern einmal daran ausprobiert? Deshalb nahm er das alte Gerät mit, als er umzog, und sobald er einen Schrank, ein Bett und einen Job hatte, in dieser Reihenfolge, war er schon unterwegs, um die Luft zu prüfen. Er fand bald den geeigneten »Hügel« und fuhr mit dem Expreßfahrstuhl in den fünfundsiebzigsten Stock. Lässig trug er dabei die große Einkaufstasche von Macy’s in der Hand, und sein Herz klopfte. Er mußte auf den normalen Fahrstuhl eine Weile warten und trat an das Aussichtsfenster. Dies war schon die richtige Stelle. Tief unter ihm lag der Central Park, und Stahlbauarbeiter waren damit beschäftigt, alles für die Ausstellung herzurichten, und, mein Gott! hundert Meter oder mehr klarer freier Luftraum! Er konnte es kaum erwarten. Aber er zwang sich zur Geduld – reckte sich und gähnte und schaute irritiert auf die Uhr. Er zog die Stirn in Falten und gab sich den Anschein eines hart arbeitenden Bürgers, der den Kopf viel zu voll hat, um auch nur daran zu denken, gegen die Gesetze zu verstoßen. Der Polizist in der Umsteigestation im fünfundsiebzigsten Stock war ein
Dienstverpflichteter und keine ernsthafte Bedrohung. Er war mehr daran interessiert, seinen Kaugummi zu kauen, ohne daß die Kieferbewegungen auffielen, als daran, was Jimper wohl unternehmen könnte, aber dennoch beobachtete er ihn. Jimper beschloß, hier nicht länger herumzuhängen. Sobald die Türen sich geöffnet hatten, stellte er sich ganz hinten in den Fahrstuhl. Der Polizist verlor das Interesse an ihm. Rasch füllte sich die Kabine, die Türen schlossen sich, und Jimper war der einzige, der im neunundsiebzigsten Stock ausstieg. »Appartement 7900«, hatte ihm der Mann in der Bar gesagt. »Es wird Sie zwanzig Dollar kosten, und der Mann ist wirklich ein Arschloch. Aber er hat das richtige Fenster.« Das Appartement 7900 war eine solide Metalltür mit der Aufschrift T. I. Hallen & Co. – Import, und sie war verschlossen. Jimper nahm die Tasche von Macy’s in die linke Hand und klopfte kräftig an. Als er den Türspion klicken hörte, lächelte er die unsichtbare Person hinter dem Glasauge an und sagte: »Der Baron schickt mich.« Stille. Dann drang kaum hörbar die Stimme eines Mannes durch die Tür: »Baron wer?« Jimper runzelte die Stirn. »Wie sollte ich Baron wer kennen? Ich soll nur sagen, daß der Baron mich schickt. Und zwanzig Dollar.« Wieder Stille. Dann hörte er das Knacken, als drei Schlösser geöffnet wurden – dachte dieser Idiot vielleicht, er lebt im Mittelalter? Die Tür öffnete sich zu zwanzig Prozent, und Jimper quetschte sich hindurch. Der Mann nahm seinen Arm, schob ihn von der Tür weg und schaute nach draußen. Dann schlug er die Tür wieder zu, ohne sie jedoch abzuschließen. Einen Augenblick lang schaute er Jimper an, als könne er einen Wolf genau von einer bettlägrigen Großmutter unterscheiden und sei gerade im Begriff, ihn zu entlarven. Dann riß er Jimper die Tasche aus der Hand und griff unter die
leeren Zigarettenpackungen, die oben lagen. Als er Jimpers Fluggerät sah, war er einigermaßen beruhigt. »Fünfzig Dollar«, sagte er. Jimper, der schon nach seiner Geldtasche gegriffen hatte, ließ die Hand wieder sinken. »Was soll das heißen, fünfzig? Mir wurde gesagt, der Preis sei zwanzig Dollar.« »Auf Wiedersehen«, sagte der Mann leise und legte die Hand an den Türgriff. Aber als Jimper stehenblieb, öffnete er die Tür nicht. »Ich kenne Sie doch überhaupt nicht, oder?« sagte er, und es klang wie eine Entschuldigung. »Und außerdem wissen Sie nicht, wie viel Ärger ich schon gehabt habe. Zwanzig Dollar wiegen das nicht auf. Fünfzig auch nicht, aber ich muß leben. Geben Sie mir also die fünfzig und machen Sie sich fertig, und sobald Sie aus dem Fenster springen, verschwinde ich durch die Tür, und wenn es Fragen gibt… ich habe Sie nie gesehen.« Er zählte die Münzen, die Jimper ihm rasch gab, und nickte. »Okay, und jetzt beeilen Sie sich. Und springen Sie geradeaus.« Was machte es schon aus. Jimper ließ den Mann stehen und ging zum Fenster oder jedenfalls zu der Stelle, wo hinter dicken Vorhängen das Fenster sein mußte. Mein Gott! Da mietet jemand im neunundsiebzigsten Stock ein Büro und bringt Vorhänge an den Fenstern an! Aus schäbigem Polyestersamt noch dazu, Zeug, das man für Kleidung nie benutzen würde. Höchstens als Besatz, als Kragen oder als Band ums Handgelenk… Er merkte, daß er Zeit zu gewinnen suchte, und zog den Vorhang zur Seite. Das Fenster war eine Pracht, mindestens drei Meter breit, und bot reichlich Platz für das Gerät. Es sah nicht aus, als ließe es sich öffnen, aber es ging. Jimper versuchte, das Gerät so zu manövrieren, daß es nirgends
anstieß, und kniete über der Tiefe. Er atmete schwer vor freudiger Erwartung und aus dieser wunderbaren leisen Angst heraus, die man vor dem Start spürt und von der man eine Gänsehaut bekommt. Er zog die Riemen an den Schultern straff und schloß den Gürtel. Dann band er sich das Tuch ums Gesicht, das nur die Augen freiließ, so daß er selbst sehen konnte, aber, mit Glück, von Polizeikontrollen nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt werden konnte. Und er war bereit. Noch bevor er die Füße anhob, hörte er, wie hinter ihm am anderen Ende des Raumes die Tür ins Schloß fiel. Er ließ den oberen Fensterrahmen los und sprang in die wunderschöne klare Luft hinaus.
Und jetzt kam der Augenblick, für den sich alles gelohnt hatte! Über ihm zweihundertfünfzig Meter klare Luft bis hoch oben, wo er die Männer der Wartungstrupps unter der Kuppeldecke arbeiten sah. Unter ihm zweihundertfünfzig Meter klare Luft, und er sah die Fahrräder und andere Fahrzeuge zwischen den Baustellen im Park herumkriechen, und der Wind pfiff ihm um die Ohren, und die Schwingen klappten aus und rasteten genau richtig ein. Flatternd fiel er zwölf Stockwerke tief, und der Vorbau im sechzigsten kam bedrohlich näher – aber dann spürten die Schwingen die Luft. Er hatte Aufwind. Er schwebte über den kühlen Grün- und Blautönen des Central Park und seiner Seen, und er war ganz allein am Himmel! Gewiß, aus den Augenwinkeln sah er an der Westseite und nördlich des Parks zwei oder drei weitere illegale Drachenflieger, aber auch sie waren allein! Deshalb tat man es ja; es war der Reiz des einsamen Abenteuers, man hatte nur sich und sein Gerät und die Kuppel hoch oben und den Boden tief unten.
Vom Ausstellungsgelände gellte ein erschreckender ohrenbetäubender Pfiff herauf. Für einen Augenblick verlor Jimper die Kontrolle über seinen Flugapparat und geriet ins Taumeln; aber das konnte er sofort wieder ausgleichen. Es war nicht irgendein Superpolizist, sondern jemand, der die Umwelt durch Lärm verschmutzte, war in das Geräuschsystem der Ausstellung eingedrungen. Aber er hatte fast hundert Meter an Höhe verloren. Er nahm Kurs auf die 58th Street, um die Thermik der großen alten Hotels zu nutzen. Den Aufwind bekam er, aber vom Dach des Plaza kam ein Röhrenblitz – irgendein Polizist mit einer Fernkamera. Das spielte keine Rolle. Bis auf die Augen war sein Gesicht unter dem Tuch verborgen, und er hatte schon lange das Kennzeichen von den Schwingen entfernt. Auf diese Weise würden sie ihn nie identifizieren können. Erst bei der Landung würde er wirklich in Gefahr sein, und dafür hatte er vorgeplant. Anfänger und Dummköpfe würden vielleicht mitten im Park landen, wo die Parkpolizisten sie auf einen Kilometer Entfernung sehen konnten. Die waren schon da, bevor man noch die Schwingen einklappen konnte. Im günstigen Fall verlor man nur sein Gerät, ohne selbst erwischt zu werden. Jimper Nutlark war gescheiter. Schon an seinem ersten Tag in New York hatte er die ganze Innenstadt nach einem günstigen Landeplatz abgesucht. Jeder Idiot konnte drachenfliegen – aber nur die Gescheiten behielten ihre Schwingen, um auch am nächsten Tag noch fliegen zu können! In einer weiten Spirale stieg er zur Kuppel auf und schaute auf die City hinab, und Frieden zog in seine Seele ein. In dreihundertachtzig Metern Höhe, nach dem Höhenmesser an seinem Handgelenk, ließ die Thermik nach, und er schaute sehnsüchtig nach Süden über den Times Square und die hohen Gebäude in der City hinweg. Von hier konnte man sehen, wo die obere Kuppel zu der kleineren hin abfiel, durch die sie mit der anderen großen
Kuppel südlich der Hudson Street verbunden war. Er nahm sich fest vor, einmal hier irgendwo zu starten, unter dem Verbindungsstück hindurchzusegeln und erst in Bowling Green zu landen! Aber nicht heute. Er war mit den Luftverhältnissen noch nicht genügend vertraut. Deshalb drehte er nach Norden und Westen ab, und unter sich sah er die hübschen Farben des Parks. Jimper registrierte die Farben, und ein Teil seines Verstandes übersetzte sie in Stoffe, aus denen Blusen wurden und geschlitzte Röcke und Schärpen. Aber abgesehen davon, ruhten seine Gedanken, und er gab sich dem angenehmen Gefühl hin, unbeschwert durch die Luft zu segeln. Die Kuppel von Atlanta war mit dieser nicht zu vergleichen. Die Temperatur unter der großen Blase betrug im Durchschnitt fünfundzwanzig Grad Celsius, ein warmer Mainachmittag. (Die Tatsache, daß außerhalb der Kuppel ebenfalls von einem warmen Mainachmittag gesprochen werden konnte, war natürlich belanglos.) Bei Hitzewellen stiegen die Temperaturen bis auf siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Grad an, und mitten im Winter sanken sie bis auf fünfzehn Grad. Dann zogen sich die New Yorker Hemden mit langen Ärmeln an oder sogar leichte Jacken, und redeten aufgeregt miteinander über die Kälte. Bei Sonnenuntergang kondensierte die Luftfeuchtigkeit an der Kuppeldecke, und was nicht durch die dafür vorgesehenen Leitungen abfloß, fiel als weicher Regen herab. Schnee gab es nie, jedenfalls nicht innerhalb der Kuppel, aber wer ein Fernglas hatte, konnte jeden Winter durch die durchsichtigen Sektionen der Kuppel das Schneetreiben beobachten. Jenseits des Parks bekam er Aufwind von den großen Wohnblocks am Central Park West, und er kurvte zum Kuppelrand hinüber, wo er hinter dem Riverside Drive im Fluß verschwand. Es gab so viele Wunder zu erforschen, und sie waren so schön. Viele der neueren Gebäude waren sehr hoch
und reichten bis an die Wölbung der Kuppel. Dadurch verliehen sie ihr zusätzliche Stabilität gegen die Windbelastung. Weil sie so hoch waren, wurden nicht so viele Gebäude benötigt, und so waren viele freie Flächen entstanden. Von oben gesehen, bestand mehr als die Hälfte der West Side New Yorks aus kleinen Parks – allerdings lagen einige von ihnen, jeder vier oder fünf Hektar groß, dreißig Stockwerke über dem Boden. Jimper merkte sich bestimmte Straßenzüge und Bezirke, die man zu Fuß durchstreifen konnte. Vielleicht, wenn Joan-Mary ihren nächsten freien Tag hatte – Aber er hatte ganz vergessen, daß Joan-Mary es vorgezogen hatte, in Atlanta zu bleiben; wer nicht aufpaßt, dem spielt sein Verstand manchmal solche Streiche. Und der Gedanke drückte auf seine Stimmung. Jedenfalls hatte es keinen Zweck, gleich am ersten Tag unter einer neuen Kuppel ein zu hohes Risiko einzugehen. Die längste Zeit, die Jimper bisher während eines einzigen Fluges in der Luft geblieben war, betrug drei Stunden und fünfzig Minuten, und das war in Atlanta gewesen – er war so hoch aufgestiegen, daß er die Kuppel von Atlanta fast hätte berühren können. Aber das war an einem heißen Augusttag mit einem hohen Radonwert, und aus den oberen Öffnungen schoß die verbrauchte Luft, während unten am Rand Frischluft eingesogen wurde, und der Aufwind war so stark, daß er fürchtete, in die Luftschächte selbst hineingezogen zu werden. Heute war ein schöner Tag, aber mit jedem anderen Tag war er nicht zu vergleichen. Jimper gewann über der West End Avenue genügend Höhe, um quer über den Park zurückzugleiten und den riesigen Pfeiler zu umkreisen, der die Rainbow Bridge trug (von dort müßte man einmal starten! – aber das würde die Polizei mit Sicherheit verhindern). In etwa hundert Metern Höhe, nicht weit von der Stelle, an der er landen wollte, erreichte er die Grand Army Plaza.
Über der Fontäne zwischen den hohen Gebäuden wendete Jimper rasch. Weiter vorn war in Höhe des zehnten Stockwerks eine überdachte Fußgängerbrücke, die über die Fifth Avenue hinwegführte. Der Rest war schwierig: dicht an den Gebäuden an der West Side entlanggleiten, eine steile Linkskurve, und dann wäre er auf dem Dach der Brücke und müßte im Laufen versuchen, die Geschwindigkeit abzubremsen… Aber er flog die Kurve steiler als beabsichtigt. Bei seinen Bemühungen, die Fluglage auszugleichen, rutschte ihm das Tuch aus dem Kragen und wehte ihm vor das Gesicht. Er verlor die Balance, warf sich nach rechts, um zu korrigieren, und schlug dabei mit dem Kopf gegen eine Strebe seiner Schwingen. Jetzt war er tatsächlich in Schwierigkeiten. Für einen kritischen Moment nahm ihm das Tuch die Sicht, er schätzte seine Höhe falsch ein, und die Brücke war früher da, als er erwartet hatte. Es war kein schwerer Unfall. Er stolperte, stürzte und rutschte weiter, aber er fiel nicht über den Rand. Seine rechte Schwinge war zerknittert, der Rahmen verbogen, und wo er sich das Knie aufgeschürft hatte, lief Blut am Bein herab. Mit einem Griff löste sich Jimper aus dem Geschirr und betrachtete das Neunhundert-Dollar-Wrack. Dann sah er, daß jemand aus einem der breiten Fenster an der Ostseite der Avenue mißbilligend zu ihm herüberschaute. Das Fenster öffnete sich; die Person dahinter lehnte sich heraus. Noch halb betäubt starrte er sie an. »Lassen Sie das Gerät liegen«, befahl sie. »Kommen Sie in mein Büro. Ich bin Ärztin.«
Und das war sie auch. Eine höchstens hundertsechzig Zentimeter große Ärztin, denn selbst, als er auf ihrem Untersuchungstisch saß, mußte sie zu ihm aufschauen, während sie ihn ausschimpfte. Dunkles Mäusehaar, samtige
braune Augen – mit denen sie ihn zornig ansah. Aber ihre Hände waren sanft. Sorgfältig säuberte sie die rissige Schürfwunde, sprühte etwas darauf, das einen stechenden Schmerz verursachte, bestrahlte kurz mit Ultraviolettlicht und sprühte dann eine andere Substanz, die den Schmerz abklingen ließ. Und während der ganzen Prozedur erklärte sie ihm, was für ein Idiot er doch sei. »Diesmal haben Sie nur Hautabschürfungen am Knie. Vermutlich das Glück der Besoffenen und der Narren.« »Nennen Sie es Glück, wenn man sein Gerät verliert?« Der Apparat war fast neu und hatte neunhundert Dollar gekostet. Zwanzig Stunden hatte er aufgewendet, um gewisse Umbauten vorzunehmen. »Sie hatten Ihr Fluggerät schon verloren, bevor Sie landeten, Sie Trottel. In Höhe des dreißigsten Stockwerks habe ich eine Gruppe Polizisten gesehen. Die haben Sie die ganze Zeit beobachtet. Wären Sie eine Minute länger dort geblieben, könnten Sie Ihre Geschichte jetzt im Polizeirevier erzählen.« Während sie sprach, wickelte sie einen Verband um das verletzte Knie. »Wissen Sie, daß dieses Delikt mit Gefängnis bestraft wird? Plus Konfiszierung des Geräts. Plus Verlust der Lizenz, wenn der Richter schlechte Laune hat, so daß Sie nicht einmal außerhalb der Kuppel fliegen können – war es das wert?« Jimpers Bein fing jetzt an zu schmerzen, und er konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. »Ich bin Ihnen sicherlich zu Dank verpflichtet«, sagte er, »aber das brauche ich mir nicht anzuhören. Sie wissen nicht, wie es dort oben ist, sonst würden Sie mir nicht sagen, daß es das nicht wert war.« Sie schlug auf den Verband, um anzudeuten, daß sie fertig war – der Schlag tat weh! – und trat einen Schritt zurück. »Wenn Sie Kinder hätten, die im Park spielen und nie wissen,
wann irgendein Idiot ihnen von oben einen Schuh auf den Kopf fallen läßt, wissen Sie, warum es gegen das Gesetz ist.« Jimper zuckte die Achseln und ließ die Beine vom Untersuchungstisch gleiten. Zur Probe stand er auf. Sein Bein schmerzte nicht mehr als vorher. »Dann also vielen Dank«, sagte er widerwillig. »Wollen Sie die Nummer meiner Behandlungskarte?« »In meinem Büro«, sagte sie und zeigte auf die Tür. Auf dem Weg schaute er rasch aus dem Fenster, und richtig: Sein Gerät war verschwunden. Jetzt mußte er wirklich anfangen zu arbeiten – es würde Wochen dauern, genügend Geld für ein neues Gerät zusammenzusparen. Als sie nebeneinander standen, sah Jimper, daß er gute fünfundzwanzig Zentimeter größer war als sie. Selbst für ihre schlanke Figur war sie winzig. Während sie seine Karte durch den Terminal laufen ließ, betrachtete er die gerahmten Objekte, die an der Wand hingen. Ein Bild von ihr selbst, neben ihr ein kleines, nicht sehr hübsches Kind – das Bild sah eigenartig versetzt aus, als sei eine dritte Person darauf gewesen, die sie entfernt hatte. Ein Diplom der New York School of Medicine, das sie als approbierte Internistin und Chirurgin auswies und auf dem er ihren Namen las: Jo-Ellen Redfan. Ein Photo daneben sagte ihm noch mehr. »Verdammt«, sagte er und betrachtete dabei einen Schnappschuß, auf dem sie an einem General Dynamics Dreißig-Null-Drei hing, »warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß sie auch drachenfliegen?« Sie reichte ihm den Lichtstift, damit er seine Rechnung unterschreiben konnte. »Aber ganz bestimmt nicht unter der Kuppel. Von den Klippen aus, ja. Dort kann man länger oben bleiben und hat anschließend keine Schwierigkeiten, und wenn man Mist macht, bringt man nur sich selbst um.« Sie stoppte ihn, als er gehen wollte. »Sie sollten das Bein eine Stunde lang nicht belasten. Außerdem sind Ihre Shorts ganz blutig, und das
wird den Polizisten auffallen. Gehen Sie ins Untersuchungszimmer zurück und legen Sie sich eine Weile hin.« »Oh, vielen Dank«, sagte Jimper überrascht. Er betrachtete sie jetzt mit anderen Augen, und sein Bild von ihr schloß jetzt die Tatsache ein, daß sie immerhin doch ein Mensch war. Sie errötete unter seinem Blick. »Draußen warten noch Patienten«, sagte sie und öffnete die Tür – Und draußen vor der Tür standen zwei Polizisten, die gerade anklopfen wollten, eine hagere junge Frau in der regulären blauen Polizeiuniform und ein Hilfspolizist im braunen Anzug, und sie schauten beide Jimper Nutlark an. Jimper seufzte. »Vielen Dank, daß Sie es wenigstens versucht haben«, sagte er zu der Ärztin und ging traurig hinaus, seinem Schicksal entgegen. Die Beamten benutzten im Fahrstuhl besondere Schlüssel, damit er zur Polizeiwache im obersten Stockwerk ohne Halt durchfuhr. Unterwegs prüften sie Jimpers Papiere. »Gerade vom Lande gekommen«, dachte sie laut. »Ihr Farmer bereitet mir Zahnschmerzen«, sagte sie dann. »Nun, Sie werden ja sehen, wie wir diese Dinge in New York City regeln, und ich wäre sehr erstaunt, wenn es Ihnen gefällt.«
II
»Dreißig Tage«, sagte der Richter bei der Verhandlung, »oder fünftausend Dollar. Ihr Farmer bereitet mir Zahnschmerzen. Der nächste Fall.« Jimper hatte nicht gerade mit einem Freispruch gerechnet, aber das hatte er auch wieder nicht erwartet. Fünftausend Dollar? Dreißig Tage wären sogar noch schlimmer, wo er doch seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Er trat vom Richtertisch zurück, hob das Handgelenk an die Lippen und sprach mit seinem Anwalt. »Das ist absurd!« zischte er. »Ich habe keine fünftausend Dollar!« »Entweder oder, Nutlark«, sagte sein Anwalt müde. »Dreißig Tage oder fünftausend Dollar. Haben Sie schon verhandelt?« »Verhandelt?« »Mein Gott«, sagte der Anwalt unwirsch, »hören Sie denn nie zu, wenn ich mit Ihnen rede? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie nach dem Urteil verhandeln müssen. Gehen Sie zu dem Schalter mit der Aufschrift ›Vertragsverhandlungen‹, okay?« Jimper hob den Kopf und schaute sich um. Dann ging er zur Tür, um auf dem Korridor nachzusehen. Der Schalter lag direkt vor ihm. Drei oder vier Verurteilte standen davor Schlange. Der erste stritt sich kopfschüttelnd und gestikulierend mit der Person hinter dem Fenster. »Ich sehe den Schalter. Was soll ich jetzt tun?« »Treffen Sie Ihre verdammte Vereinbarung«, sagte der Anwalt. »Hören Sie zu, am besten rechnen Sie so: angenommen, Ihre Zeit ist zwanzig Dollar die Stunde wert,
dann darf die Strafe nicht höher sein als – warten Sie – fünftausend geteilt durch zwanzig – « »Zweihundertfünfzig Stunden?« »Stimmt das? Nun, wenn Sie es sagen. Wenn ich rechnen könnte, wäre ich Ingenieur oder sowas Ähnliches und kein gottverdammter Anwalt.« »Ich wollte, Sie könnten für mich verhandeln«, sagte Jimper. Der Anwalt seufzte. »Wenn Sie für mein persönliches Erscheinen vor Gericht bezahlten, würde ich es tun, aber Sie haben mit mir telefonische Beratung abgesprochen. Ich will Ihnen was sagen. Wenn der Feststellungsbeamte versucht, Ihnen mehr als zweihundertfünfzig Stunden zu geben, rufen Sie mich an. Aber im Moment habe ich gerade einen Mandanten im Büro.« Und er unterbrach die Verbindung. Während Jimper in der Schlange vorrückte, hatte er Zeit, die Flüssigkristallanzeige über dem Fenster zu lesen. Die Zahlenangaben änderten sich von Minute zu Minute, aber nicht erheblich. Er las: Gültige Tarife Einstufung $ 100 Äquivalent in Stunden Allgemeine Büroarbeiten 13,4 Stunden Müllabfuhr 7,1 Stunden Nothilfsdienste 5,3 Stunden Lehrtätigkeit* 8,5 Stunden Verkehrsbetriebe, technisch* 8,0 Stunden Park/Farm 10,5 Stunden Schlichtung 16,2 Stunden * Nur für Sträflinge mit entsprechenden Qualifikationen. Als Jimper sich von dem unangenehmen Wort »Sträflinge« erholt hatte, stand er ganz vorn in der Schlange, und der Mann hinter dem Fenster griff nach seinen Ausweispapieren. Er gab die Identifikationsnummer ein und schaute auf den Schirm.
»Oh, verdammt«, murmelte er, »Sie sind vom Lande? Soll das heißen, daß ich Ihnen das ganze System erklären muß?« »So etwas gibt es in Atlanta nicht«, entschuldigte sich Jimper. »Das glaube ich gern. Dann hören Sie also zu. Sie haben die Wahl. Zuerst müssen Sie sich entscheiden, ob Sie Ihre Zeit im Knast absitzen wollen. Bei guter Führung kämen Sie vielleicht in plus minus achtzehn Tagen wieder raus. Oder Sie können die fünftausend zahlen. Wenn Sie weder das eine noch das andere wollen, können Sie, was Sie der Gesellschaft schulden, auch abarbeiten, und deshalb sitze ich hier. Abarbeiter«, dröhnte er weiter und lehnte sich zurück, als brauchte er sich das, was er sagte, nicht länger anzuhören, »Abarbeiter müssen Tag und Nacht zur Verfügung stehen, jeden Tag, bis sie bezahlt haben, und Sie müssen die volle Zeit abarbeiten – und zwar Äquivalent, wie oben angegeben, mal Anzahl der Hundertdollareinheiten in Ihrer Geldstrafe. Soweit kapiert? Okay, und jetzt reden wir über den Job, für den Sie geeignet sind. Nicht, daß ich da viel erwarte. Ihr Farmer macht mir Zahnschmerzen.« Das Schachern dauerte eine ganze Weile, denn Jimper bestand darauf, daß ihm jeder Job erklärt wurde, und versuchte dann auch noch, die Äquivalente herunterzuhandeln. Als er das Fenster verließ, war die Schlange hinter ihm fünfzehn »Sträflinge« lang, und ihre Kommentare waren nicht sehr zurückhaltend. Aber er grinste. Am Ende des Korridors blieb er stehen, um seinen Anwalt anzurufen. »Hallo, Mr. Seymour«, sagte er triumphierend, »hier spricht Jimper Nutlark, und ich glaube, ich habe einen guten Handel abgeschlossen. Natürlich muß ich jetzt die ganze Zeit diesen Transponder tragen, damit sie wissen wo ich bin und mich jederzeit erreichen können – «
»Nutlark, ich weiß, wie das System funktioniert. Was haben Sie gekriegt?« »Nicht schlecht, Mr. Seymour. Ich habe sie auf hundertdreißig Stunden runtergehandelt. Wie finden Sie das? Nicht schlecht für einen, der gerade vom Lande kommt!« Pause. »Würden Sie mir bitte sagen, für welche Arbeit Sie sich gemeldet haben?« fragte der Anwalt mißtrauisch. »Sie nennen das ›Nothilfsdienste‹«, sagte Jimper stolz. »Oh, mein Gott«, stöhnte der Anwalt. »Wenn Sie doch nur – nun, jetzt ist es zu spät, und vielleicht lernen Sie ja eine Kleinigkeit. Aber hören Sie zu, Nutlark – sollte Ihnen so etwas noch einmal passieren, dann zahlen Sie lieber die Differenz, damit ich dabeisein kann!« Drei Tage lang blieb der Transponder stumm, und Jimper vergaß schon fast, daß er verurteilt war. Nicht, daß sie ihn nicht daran erinnert hätten. Als er an diesem Abend in sein fensterloses muffiges Zimmer zurückkam, hatte er eine offizielle Benachrichtigung auf dem Bildschirm, die besagte, daß er hundertdreißig Stunden auf Abruf akzeptiert habe, und das bedeutete, daß er bei Bedarf jederzeit als Hilfspolizist, Feuerwehrmann oder für Schwerarbeit verpflichtet werden konnte. Was geschehen würde, wenn er sich nicht meldete, nicht ständig seinen Transponder trug oder auf irgendeine andere Weise gegenüber der City of New York Majestätsbeleidigung beging, füllte drei ganze Absätze. Aber er war zu beschäftigt, um sich Sorgen zu machen. Er war wegen der Ausstellung von Atlanta nach New York gekommen, und er hatte die Hälfte seiner Zeit damit zugebracht, das Ausstellungsgelände zu inspizieren, auf dem die verschiedenen Exponate langsam Gestalt annahmen. Dabei bot er den leitenden Männern und Verbindungsleuten seine Dienste als Designer für Projekte aller Art an. Die meisten wollten davon nichts wissen, aber es waren so viele da, daß er
dennoch die Hoffnung nicht aufgab. Er schaute in die Gräben, die für den russischen Pavillon ausgehoben wurden – hier sollte die Nachbildung eines Teils von Leningrad errichtet werden, mit den Kanälen und Brücken des Venedigs des Nordens – und er betrachtete die Tierkäfige, in denen die australischen Koalabären und Känguruhs untergebracht werden sollten. Dann ging er in ein Büro zurück, das er als Studio gemietet hatte, machte Skizzen von Stoffdekorationen und Kostümen, fertigte Kopien davon an und rannte mit ihnen zum Ausstellungsgelände zurück. Dort hielt er sie jedem unter die Nase, der bereit war, einen Blick darauf zu werfen. Selbst wenn er abgewiesen wurde, hatte er seinen Spaß. Die City war ein einziger Spaß. Ihm gefielen die muskelbetriebenen Zweiund Dreiräder und die Schnapsautos, deren Sterling-Motoren Alkohol verbrannten und deren Auspuffgase wie eine Kneipe am Sonntagmorgen rochen. Ihm gefielen auch die flachen Straßenbahnen mit Schwungradantrieb. Man sprang einfach auf, wenn man mitfahren wollte, und sprang ab, wenn man sein Ziel erreicht hatte – kein Fahrgeld, keine Sitze, kein Luxus; ganz einfach eine Gelegenheit, die Beine auszuruhen, wenn man vom Laufen müde war. Er durchstreifte auch gern die ethnisch, religiös oder kulturell andersartigen Viertel der City, obwohl einige ihm Angst machten. Noch lieber wäre ihm jemand gewesen, der all dieses mit ihm hätte teilen können, oder sogar jemand, der nicht daran interessiert war, irgend etwas außer einem Bett mit ihm zu teilen, aber Joan-Mary war noch in Atlanta. Er war zwar in Bars schon mit New Yorker Frauen ins Gespräch gekommen, aber sie waren für ihn nicht besonders attraktiv gewesen; und, wie es schien, bereiteten Farmer den meisten anderen Leuten Zahnschmerzen. Nicht, daß Jimper Nutlark ein Farmer oder Ähnliches war. Aber die meisten New Yorker schienen zu glauben, daß alles außerhalb der Großen Blase meterhoch mit Kuhfladen bedeckt war.
Er stellte fest, daß es nicht so sehr daran lag, daß die New Yorker andere Leute nicht mochten. Sie mochten sich auch untereinander nicht sonderlich gern, wie er an den Wortfetzen erkannte, die aus dem öffentlichen Lautsprechersystem drangen, wüstes Geschrei und Beschimpfungen und Rufe wie »Trottel aus Brooklyn!« und »Nieder mit Stuyvesant Town!«… und an den auf jede freie Fläche gesprühten Parolen, die, wenn man eine repräsentative Anthologie zusammenstellte, gegen Juden, Schwarze, Iren und Südstaatler gerichtet waren, gegen Leute aus New England, Araber, Chinesen, Engländer, die Bewohner von Brooklyn und Leute aus dem Mittleren Westen, gegen Schweden, Kalifornier, Italiener, Frauen, Männer, Schwule beider Spielarten und gegen die Angehörigen jeder in den Gelben Seiten verzeichneten Konfession. Warum sie sich gegenseitig so schlecht behandelten, war Jimper nicht klar. Sie lebten doch in einer sehr schönen Gegend, jedenfalls mußte es einem Besucher so vorkommen. Die Große Blase hatte ein viel besser kontrolliertes Klima als die in Atlanta. New York hatte optimale Bedingungen hergestellt; die Luftfeuchtigkeit lag immer angenehm zwischen Verschimmeln und Hautjucken, und die Temperaturen waren so, daß man in Unterwäsche herumsitzen konnte. Man konnte lieben, ohne unter eine Decke kriechen zu müssen. Das heißt, wenn man jemanden hatte, den man lieben konnte. Das blieb Jimper versagt, aber er tröstete sich mit anderen Dingen, und zu denen gehörte die Aussicht auf einen leibhaftigen Job! Die Firma hieß Mawzi Freres. Sie hatten den Vertrag für den britischen Pavillon auf der Ausstellung, und sie brauchten Kleidung für das Personal. Sie hatten sehr viel Personal. Sie brauchten Ordner, Leute, die die Exponate erklärten, und Leute, die Vorträge hielten; sie brauchten Kellner für das New Simpson’s und Bardamen für Ye Olde
Englysshe Pub; und jedes Kleidungsstück – das war sehr wichtig – mußte britisch sein. Nicht unbedingt ein britisches Fabrikat, und auf keinen Fall von Briten entworfen. Aber sie mußten dieses einzigartige seltsame britische Flair ausstrahlen, so etwas zwischen Carnaby Street und dem Tower von London. So verlangte es der fette alte Rafah Mawzi und wedelte mit den Händen, um das auszudrücken, was ihm mit Worten nicht gelang, und Jimper verbrachte einen ganzen Tag damit, bei allen Händlern, die er finden konnte, Muster von britischen Stoffen (oder solchen, die so aussahen) zusammenzubetteln. Er speicherte die Besonderheiten jedes dieser Stoffmuster in seiner Datenbank, und dann setzte er sich hin und zerknüllte ein Muster nach dem anderen mit der Hand. Dabei stellte er sich die Shetlandwolle und den schottischen Kaschmir und die Baumwollstoffe aus den Midlands gefärbt und gemustert und zugeschnitten und plissiert und gerafft vor, und das auf vielfältige Art. Es war wichtig, das Design der Kleidung auf das Tuch abzustimmen. Jedes Tuch hatte ein anderes Gewicht, fühlte sich anders an und wurde mehr oder weniger leicht kraus. So würde man zum Beispiel keine Uniform für die Königliche Garde entwerfen, ohne zu wissen, wie der Stoff fällt, oder ob er für einen warmen Maitag unter der Kuppel zu dick ist. Die Stoffe waren alle so schwer. Stirnrunzelnd zeichnete Jimper mit seinem Lichtstift zur Probe ein paar Kilts, gab die Spezifikationen für die leichtesten Stoffe ein, die er unter seinen Mustern finden konnte, drapierte sie auf seine Standard-Modellprogramme und ließ die kleine Figur auf dem Bildschirm hin und hergehen und sich drehen. Er sah wohl, daß der Kilt sich elegant bewegte. Aber was war mit dem armen Schwein, das ihn tragen sollte? Stimmte es, daß man unter dem Kilt nichts trug, und mußte der Stoff nicht fürchterlich kratzen?
Irritiert schaute er hoch. Er nahm einen unangenehmen Geruch im Raum wahr. Er untersuchte seine Papierkörbe und schaute zu den Tischen der übrigen Freiberufler hinüber. Es schien nichts zu brennen, aber der Geruch war nun einmal da – ein wenig roch es nach verkohltem Holz, ein wenig nach Asphalt und ein wenig, als hätte jemand einen Haufen alter Autoreifen und gebrauchter Präservative in Brand gesteckt. Er schaltete den Ventilator auf seinem Arbeitstisch ein und schaute wieder auf den Bildschirm. Diesmal waren es Militärshorts. Helle Farben aber seriös – »James Percy Nutlark, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit.« Er hätte fast den Lichtstift fallen gelassen, als ihm diese Kommandostimme ins Ohr drang. Er hatte sie noch nie gehört, aber er wußte sofort, um was es sich handelte. »Sie sind aktiviert!« schnauzte die Stimme. »Melden Sie sich sofort. Water Street Station. Dort erhalten Sie Ihre Ausrüstung und weitere Anweisungen. Bereiten Sie sich auf einen längeren Einsatz vor.«
III
Die Spitze der Insel Manhattan war seit über vier Jahrhunderten wie ein Tumor gewachsen. Was früher eine Insel gewesen war, wurde Battery Park. Was früher das tiefe Süßwasser eines Flusses gewesen war, in dem Störe, so groß wie Haie, schwammen, verlandete… und das geschah durch alles, was gerade in den Fluß fiel: Ziegel und Steine, Erde und Schutt von Ausschachtungen und illegal abgeladener Müll. Da waren die alten Hafenmolen und die versenkten Schiffe und jede Art von Unrat, die man sich nur vorstellen kann. Die alten Hafenmolen waren das Schlimmste. Die waren gegen die Meereswürmer mit Kreosot imprägniert worden und bis auf die harten Bodenschichten eingerammt worden, damit sie Gewicht tragen konnten, und später hatte man sie einfach zugeschüttet, wie sie da standen, damit sie nicht mehr zu sehen waren. Als sie anfingen zu brennen, war es wie der Brand in einem Kohlebergwerk in Pennsylvania. Sie brannten, und sie brannten immer weiter. Einige dieser unterirdischen Feuer hatten wahrscheinlich schon seit hundert Jahren geschwelt. Hin und wieder hatte das eindringende Flußwasser das Feuer gedämpft, bis das letzte Wasser weggekocht war und das Holz wieder glühendheiß wurde. Die Feuer richteten kaum Schaden an… bis sie die frische Luft erreichten. Und frische Luft hatte die Stadt New York ihnen verschafft. Für die Tausende von Besuchern, die zur Ausstellung erwartet wurden, baute die Stadt neue Hotels. Die Luxushotels in Central Park West. Hotels der mittleren Preisklasse in East Village. Und die billigsten hier unten, eine lange U-Bahnfahrt vom Ausstellungsgelände entfernt. Die Räume in diesen
billigen Hotels waren nichts weiter als drei Meter lange Schubladen, in die man hineinsteigen konnte, um dann die Tür hinter sich abzuschließen. Jedes hatte Licht, eigene Belüftung, einen Platz für das Gepäck, Kissen und eine sterilisierte Matratze. Da im Budget kein Geld für Luxusgegenstände wie Fenster vorgesehen war, gab es keinen Grund, diese Hotels in den teuren Luftraum unter der Kuppel hineinzubauen. Man ging also nach unten. Unglücklicherweise erreichte man dabei die Bodenschichten, in denen das alte Feuer noch schwelte. Große graue stinkende Wolken quollen in den versiegelten Innenraum der Kuppel.
In der Water Street Station herrschte großes Gedränge, als Jimper dort ankam. Mehr als hundert Sträflinge, die, wie er, Zeit abarbeiten mußten, hatten sich dort versammelt. Er sah Schwarze und Weiße, Hispano-Amerikaner und Orientalen, zwei Irokesen aus Red Hook, zwei ernste bärtige Schwule aus Yorkville, die Händchen hielten und sich errötend von ein paar nackten Männern abwandten, zwei dicke schnaufende japanische Geschäftsleute, die man aus ihren Büros in der Wall Street geholt hatte, einige Hassidim, die ihre Gebetsriemen küßten, bevor sie sie ablegten, und die sich empört weigerten, ihre Gebetskappen abzunehmen, Frauen in Purdah-Gewändern, Frauen in Minikinis, junge und alte – es war ein Querschnitt der Bevölkerung der Stadt, oder wenigstens des leicht kriminellen Anteils, der die Strafe für seine verschiedenen Delikte abarbeiten mußte. Die meisten schimpften wie die Rohrspatzen. Die regulären Polizisten kümmerten sich nicht darum. »Macht euren Krempel klar und dann rein in die Scheiße«, dröhnten sie. »Bewegt eure Ärsche!« Und als die Häftlinge ihre Sachen in den ihnen zugewiesenen Fächern
verstaut und rasch geduscht hatten, stellten sie sich bei der Geräteausgabe an. Jimper war nicht überrascht, als Feuerbekämpfungsgerät ausgegeben wurde, aber er war auch nicht besonders erfreut. »Ich habe keine Ahnung von Feuerbekämpfung«, sagte er zu der Frau, die neben ihm stand. Sie sah ihn angewidert und voll Verachtung an – sie war fünfzig Jahre alt, wenn nicht älter, und hatte eine schlaffe birnenförmige Figur. »Denken Sie, ich etwa?« fragte sie. »Mein Gott, was fällt ihnen als nächstes ein? Gestern eine Rattenjagd, und jetzt dies – hören Sie, es war sowieso eine Scheißstrafe. Das Thermometer funktionierte nicht, und wie konnte ich da wissen, daß ich gegen die Heizrichtlinien verstoßen habe?« Aber Jimper hörte gar nicht zu. Die Kleidung, die er anziehen sollte, nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es waren lange Unterhosen aus dickem Baumwollstoff, steife kratzige Arbeitshosen, die man am Knöchel zubinden mußte, Stiefel mit Stahlkappen, die alles andere als neu waren – sie waren rissig und abgeschabt, und an ihren Reißverschlüssen hatte sein Vorgänger die Spuren irgendeiner elenden Schlammarbeit in Gestalt von angetrockneten Dreckklumpen hinterlassen. Eine Gesichtsmaske und ein Atemgerät vervollständigten die Ausrüstung. »Heh!« schrie Jimper den Berufsfeuerwehrmann an, der sie antrieb. »Das sieht aber gefährlich aus!« »Halt’s Maul und beweg deinen Arsch!« brüllte der Mann zurück. Er führte je zwanzig Leute nach draußen und ließ sie auf breite Wagen steigen, auf denen es keine Sitze gab; der Fahrer betätigte das Schwungrad, und sie rollten dem Feuer entgegen. Sie waren in der Nähe des Kuppelfundaments, und stinkender schwarzer Qualm stieg aus einer Baugrube auf. Jimper überlegte, ob die Hitze des Feuers wohl die Plastikteile der
Kuppel in Mitleidenschaft ziehen konnte, und als er aufschaute, war er überrascht, daß ihm warmes Wasser ins Gesicht gesprüht wurde. Er sah, daß die Notklappen der Luftschächte geöffnet waren. Ein Frühlingsregen drang in das Innere der Kuppel, aber jeder wußte, daß die Luftklappen nur einige Male im Jahr geöffnet wurden, um die Radongase abziehen zu lassen, und auch das nur bei günstigen Wetterbedingungen. Wenn die Leute vielleicht hofften, daß auch der Qualm durch die Öffnungen abziehen würde, hatten sie sich geirrt; der ölige und erstickende Rauch blieb in Bodennähe, und der Feuerwehrmann, der ihre Gruppe befehligte, schrie: »Die Masken auf! Bewegt eure Ärsche!« Jimper gehorchte nur allzu gern. Rutschend und fluchend stiegen sie einen schlammigen Hang hinunter zu Feuer hin. Sie sollten das Feuer natürlich nicht direkt bekämpfen. Dafür waren die Profis zuständig, die die steifen zappelnden Schläuche bedienten und einen dichten CCVTeppich auf das Geröll vor dem Feuer sprühten. Auf den Brandherd selbst spritzten sie schnellbindenden Zement, der besonders bei Hitze rasch hart wurde. Die Häftlinge mußten Arbeit der übelsten Art verrichten, und das auch noch gebückt. Die regulären Mannschaften waren mit ihren Wasserschläuchen und trägen Gasen hier schon gewesen. Das Feuer, soweit es sichtbar war, hatten sie schon unter Kontrolle, aber es war noch nicht gelöscht. Auch diesseits der Fläche, die jetzt mit heißem qualmenden Beton abgedeckt war, gab es Taschen, in denen die Kohle noch brannte, schwelendes Geröll, das unter dem schon gelöschten verborgen lag. Es würde geduldig warten, bis die Feuchtigkeit verdampft war und die sauerstoffarmen Gase sich verteilt hatten, und dann erneut aufflammen, wenn man nichts dagegen unternahm. Die Aufgabe der Häftlinge war es nun, eben dies erneute Aufflackern zu verhindern.
Dazu mußten sie alles Brennbare entfernen. Bulldozer hätten den Abschnitt in wenigen Minuten abräumen können. Aber Bulldozer konnten Asche nicht von Kohle unterscheiden; sie hätten das Feuer also nur von einem Ort zum andern getragen – ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie dem Rand der Kuppel so nahe waren, daß Jimper an den riesigen Betonfundamenten jede Einzelheit erkennen konnte, und niemand wollte die schweren Geräte an einer Stelle einsetzen, wo sie eine ganze Sektion der Kuppel zum Einsturz bringen könnten! Deshalb waren sie auf ihre Schaufeln angewiesen. Einige der Fortgeschritteneren hatten Preßlufthämmer, mit denen sie Felsbrocken und den steinharten getrockneten Schlamm lösten. Aber hauptsächlich mußten sie ihre durch die dicken Handschuhe ziemlich ungelenken Hände benutzen. Immer wieder schrien die Berufsfeuerwehrleute ihre Befehle: »Sammelt alles auf, was lose ist! Abbrechen, was noch dranhängt! Schleppt alles von hier weg – und wenn ihr auf eine heiße Stelle stoßt, spielt nicht damit herum, sondern ruft einen Profi!« Das Problem, oder eines der Probleme war, daß Jimper unter der Gesichtsmaske nicht richtig sehen konnte. Die anderen Probleme waren Erschöpfung, die ungewohnte körperliche Arbeit, Ungeschicklichkeit und ganz besonders die verqualmte stinkende Luft, in der es heiß war wie in einer Sauna. Die Atemgeräte versorgten die Leute mit Sauerstoff, aber sie konnten sie nicht abkühlen. Auch die Luft reichte jeweils nur für eine halbe Stunde, aber das war gar nicht schlecht, denn mehr als eine halbe Stunde hätte Jimper ohne Pause gar nicht durchgehalten. Er maß die Zeit nach den Arbeitsunterbrechungen zum Auswechseln der Sauerstoffpatronen, und er hielt sich dabei möglichst lange auf, rückte immer wieder seine Gesichtsmaske zurecht und stellte so lange die Ventile ein, bis die Schreie seiner Aufseher
wirklich unangenehm wurden. So ging es ihm besser als den meisten andern. Der Vorrat an Sauerstoffpatronen schmolz langsam zusammen, als immer mehr von den Älteren und Schwächeren die Laufkatzen bedienten, die die gefüllten Eimer zu den für den Abtransport des Gerölls bereitstehenden tragbaren Behältern schafften. Nach dem dritten oder vierten Patronenwechsel schaute Jimper nach oben und sah, daß die Luftklappen der Kuppel wieder geschlossen waren: immerhin schon ein Fortschritt. Nach dem sechsten Mal, es konnte auch das zehnte gewesen sein, bemerkte er, daß es außerhalb der Kuppel schon dunkel wurde, und zu spät fiel ihm ein, daß der Mann von Mawzi Freres heute vor Geschäftsschluß seine Skizzen hatte sehen wollen. Wenn er nicht so fürchterlich erschöpft gewesen wäre, hätte er sich aufgeregt… aber so seufzte er nur, schob sich die Maske zurecht und ging wieder zurück, um noch ein wenig Geröll aufzulesen.
Als der Feuerwehrmann ihm auf die Schulter klopfte und auf den wartenden Wagen zeigte, begriff Jimper nicht gleich, daß die Qual ein Ende hatte. Als er es endlich kapierte, war er zu müde, sich darüber zu freuen. In der Feuerwache angekommen, entledigte sich Jimper, genau wie die anderen Hilfskräfte, seiner Schutzkleidung, erhielt eine Quittung für jedes einzelne Stück und ging unter die Dusche. Jeder Muskel schmerzte, und das Wasser brannte, als es Teile seines Rumpfes und seines Rückens traf – ganz schwach erinnerte er sich, daß er gestürzt war. Oder war er zweimal gestürzt? Aber er dachte an andere Dinge. Besonders an die Ausrüstung der Feuerwehrleute. Mußte sie so schrecklich unbequem sein? Und so häßlich? Könnte sie nicht leichter sein, weniger scheuern, vielleicht, mein Gott, von
etwas gefälligerem Design und dabei genau so gut funktionieren? Vielleicht etwas aus den neuen, aus Meerespflanzen gewonnenen halbsynthetischen Fasern, dehnbarer, so daß die Größe keine so große Rolle mehr spielte? Natürlich, dachte er und berührte vorsichtig seine rechte Hinterbacke, die besonders heftig schmerzte, mußte diese Bekleidung in erster Linie strapazierfähig sein. Deshalb durfte sie nicht zu elastisch sein, jedenfalls nicht in alle Richtungen – Ein Gewebe aus Polymeren, daß sich in eine Richtung beliebig dehnen ließ und dabei die anderen Dimensionen beibehielt, wäre da genau das Richtige. Er betrachtete seine Finger und sah, daß sie blutbeschmiert waren, wässeriges Blut, das unter der Dusche an seinem Körper herablief. »Verdammt«, ächzte er, schaute unter seinem erhobenen Arm hindurch und sah die blutende Abschürfung, die vom Brustkorb bis über die Hinterbacke lief. Er hatte sie vorher kaum gespürt, aber er wollte nicht gern seine eigene Kleidung mit Blut beschmieren. Deshalb wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften, ging zur Unfallstation und ließ sich auf das erste freie Bett fallen. Auf dem Bauch liegend merkte er, daß jemand die Wunde abtupfte und besprühte und dann seine Schulter antippte. »Das scheint zur Gewohnheit zu werden«, sagte die Stimme. Er drehte sich mühsam um. Es war Dr. Jo-Ellen Redfan, die Frau, die nach seiner Bruchlandung seine Wunde versorgt hatte, und sie trug eine Armbinde, die sie als Hilfskraft auswies – eine Verbrecherin, die ihre Strafe abarbeitete, wie er! »Wobei sind Sie denn erwischt worden?« fragte er. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie, aber es klang nicht unfreundlich. Sie verband ihn und gab ihm einen Klaps, als sie
damit fertig war – aber als er den Raum verließ, zwinkerte sie ihm zu. Er ließ sich beim Ankleiden Zeit, und als er ging, gab ihm der diensthabende Beamte eine Bescheinigung mit seinem Namen und seiner Identitätsnummer, auf der ihm die abgeleistete Zeit bestätigt wurde: »5 Std. 41 Min. abgeleistet. Rest 124 Std. 19 Min.« Er war zum Gehen viel zu müde. Deshalb sprang er auf einen Bus, lehnte sich gegen das Geländer, und während der Fahrer das Fahrzeug mit dem Trägheitsantrieb gemächlich den Hudson entlang zur Fähre an der 23d Street steuerte, schaute er auf Tribeca, Soho und Chelsea, ohne etwas wahrzunehmen. 124 Std. 19 Min. Vielleicht hätte er doch lieber seine Zeit absitzen sollen. Immerhin, in New York City war es gesetzlich vorgeschrieben, daß Arbeitgeber Sträflingen, die eine Strafe abzuarbeiten hatten, für die entsprechende Zeit beurlaubten. Er wußte allerdings nicht, ob sich Mawzi Freres in diesem Sinne als »Arbeitgeber« betrachten würden. An der 21st Street verlangsamte der Bus die Fahrt, damit jemand abspringen konnte. Es war die Ärztin. Jimper überlegte keine Sekunde und sprang ihr nach. »Jo-Ellen!« rief er, und als sie sich umdrehte, korrigierte er sich: »Hallo, Dr. Redfan. Wohnen Sie hier in der Nähe?« Ihr Gesichtsausdruck paßte nicht zu der freundlichen Verabschiedung von vorhin. Er war nicht feindselig. Aber er ließ auch nicht das geringste Interesse vermuten. Sie nickte zerstreut – distanziert. Es war ein Nicken, das auch nicht entfernt andeutete, daß sie seine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen hatte. Es war abschreckend, aber Jimper ließ nicht locker. »Harter Tag heute«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich könnte ein schönes kaltes Bier vertragen – was halten Sie davon?«
Jimpercy Nutlark sah durchschnittlich gut aus und war keine unangenehme Persönlichkeit. Er war sich dessen durchaus bewußt, und das gab ihm eine gewisse Sicherheit im Umgang mit jungen Frauen. Sie mochten im Einzelfall nicht auf ihn eingehen, aber abgestoßen fühlte sich kaum je eine. Also lächelte er und wartete, während Jo-Ellen stirnrunzelnd auf die Uhr schaute, und er war eigentlich nicht überrascht, als sie die Achseln zuckte. »Aber bei einem Bier muß es bleiben, Meister«, sagte sie, und das klang nicht unfreundlich. »Sie haben recht, es war wirklich ein verdammt harter Tag.« Sie wohnte tatsächlich in dieser Gegend, und Jimper vertraute sich ihrer Führung an. Hier drüben auf der Hudson-Seite der Insel war die Kuppel nicht sehr hoch, und das galt auch für die Gebäude. In Chelsea gab es noch viele von den alten Reihenhäusern mit kleinen gartenähnlichen Parks zwischen einigen Blocks, und an der Eighth Avenue waren die Gebäude niedrig und die Ladenfronten ethnisch bestimmt. Hier lebten Volksgruppen aller Art. Zwischen einem libanesichen Lebensmittelladen und einem Geschäft, in dem religiöse Artikel des Islam feilgeboten wurden, fanden sie ein Lokal, das sich The Bank of Ireland Bar nannte. Auf dem Boden lag echtes Sägemehl, und an der Wand stand eine echte alte Jukebox. »Also, was haben Sie verbrochen?« fragte Jimper grinsend. Sie zuckte die Achseln. »Ich sehe keinen Grund, warum ich es Ihnen nicht sagen sollte. Ich habe öffentliches Ärgernis erregt.« »Aha.« Er nickte und trank einen Schluck Bier. Er überließ es ihr, seinen Ausruf als Frage zu verstehen. Auch sie grinste jetzt. »Ich war nicht betrunken, und ich habe auch nichts Ordnungswidriges getan. Zwei Männer haben sich um mich geprügelt, wenn Sie es genau wissen wollen.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte er galant.
»Das glaube ich«, sagte sie, aber das war ihr einziger Kommentar zu seiner Bemerkung. Sie hörte höflich und interessiert zu, während er die Geschichte erzählte, die üblicherweise in einer Bar für Singles erzählt wird: seine Autobiographie. Sie hörte so aufmerksam zu, daß sie sogar die richtigen Fragen stellen konnte. »Und warum entwerfen Sie jetzt Kleidungsstücke?« »Hatten Sie es mit diesem Mädchen in Atlanta ernst gemeint?« »Glauben Sie, daß viele Touristen die Ausstellung besuchen werden?« Aber dabei leerte sich ihr Glas zusehends, und als der Boden erreicht war, schaute sie wieder auf die Uhr. »Jimper«, sagte sie, »es tut mir leid, aber ich habe wirklich nur Zeit für ein Bier. Jemand kommt gleich nach Hause, und dann muß ich da sein.« »Ach so«, sagte Jimper mit philosophischer Gelassenheit und nahm sein unabänderliches Schicksal auf sich. Aber sie schüttelte den Kopf. »Es handelt sich nicht um meinen Mann«, sagte sie. »Ich bin nicht verheiratet, und ich bin auch sonst nicht gebunden. Aber ich treffe keine Verabredungen.« »Ach so«, wiederholte er, und wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich bin auch nicht lesbisch oder frigide.« Sie grinste. »Sie können nicht jede haben, alter Junge. Nein, bleiben Sie sitzen – ich wohne direkt um die Ecke, und das schaffe ich schon allein.« Er schaute ihr nach, als sie das Lokal verließ, und er bewunderte die Bewegungen ihres Körpers unter dem scharlachroten durchsichtigen Sommerkleid. Er fand es sehr schade, daß sie so war, wie sie war. Daß Männer sich um sie prügelten und sie dennoch mit keinem Mann etwas zu tun haben wollte.
Oder jedenfalls mit ihm nicht; aber auch das sah Jimper philosophisch. Er war recht aufgeräumt, als er die Bar verließ, und stieß mit einem riesigen lächelnden Mann zusammen, der am Eingang auf irgend etwas zu warten schien. »Entschuldigung, Sir«, rief der Mann und strahlte Jimper an. »Das war meine Schuld. Es tut mir leid.« Jimper war angenehm davon berührt, daß dieser riesige Kerl so höflich war. »Es ist doch nichts passiert«, sagte er und wollte aus dem Weg gehen, aber der Mann legte ihm eine Hand wie eine Bärentatze auf die Schulter. »Ich denke, ich sollte Sie zu einem Bier einladen«, sagte er. »Sozusagen als Wiedergutmachung.« Jimper war erstaunt und ein bißchen gerührt. Aber dann fielen ihm seine schmerzenden Glieder wieder ein und das steife Gefühl an seinem Hintern. »Im Moment möchte ich lieber ablehnen«, sagte er höflich. »Ich habe den ganzen Tag unten in der Stadt bei der Brandbekämpfung geholfen und bin jetzt völlig fertig – ich habe nur mit jemandem aus der Unfallstation ein Bier getrunken, noch eins könnte ich gar nicht vertragen.« »Ich verstehe«, sagte der Mann fröhlich und trat zur Seite, um Jimper Platz zu machen, der sich gleich auf den Weg zu seinem Bus machte. Als Jimper sich umdrehte, stand der Mann immer noch vor der Bar und lächelte ihn strahlend an. Das ist aber ein netter Kerl, dachte Jimper erfreut. Wer sagt denn, daß die New Yorker reserviert sind? Er war überzeugt, daß es ihm hier gefallen würde. Jedenfalls ließ es sich ganz gut an.
IV
Und tatsächlich fühlte er sich im Laufe der Zeit hier immer mehr zu Hause. Zweimal wurde er wieder zu Hilfsdiensten aufgerufen, aber es war leichte Arbeit – eine Stunde lang mußte er oben in East Harlem Parkzettel ausschreiben, vier Stunden lang bei einer Doppelveranstaltung im Shea-Stadion den An- und Abmarsch der Fans überwachen. Und Mawzi Freres nahmen es ihm nicht übel, daß er seine Entwürfe nicht rechtzeitig vorgelegt hatte. Besser noch, den Leuten gefielen die Entwürfe. Darüber hinaus empfahlen sie ihn sogar einer Reihe von weiteren Unternehmern. Und das Schönste war: Es stellte sich heraus, daß der alte Rasfah Mawzi eine Tochter hatte. Nach Auskunft ihres Vaters hieß sie Fatima, aber sie sagte: »Bitte, nennen Sie mich Doll«, und obwohl sie weder lüstern blickte noch ihm zuzwinkerte, hatte er den Eindruck, daß man mit dieser Puppe etwas anstellen konnte. Unglücklicherweise hatte ihr Vater auch diesen Eindruck, und wann immer Jimper auch nur bis auf einen Meter an Doll herankam, hatte er bei den Blicken des Alten ein Gefühl, als habe ihm jemand einen Eiswürfel in den Kragen gesteckt. Für eine Ägypterin oder Irakerin oder was immer sie war – das wußte Jimper nicht genau – hatte Doll eine stattliche Größe, aber sie war immer noch klein genug, um zu ihm aufschauen zu müssen. Sie lief nicht im Schleier und in wallenden Gewändern herum, aber sie trug auch keine engen Jeans, sondern einen sittsamen Rock, der fast bis an die Knie reichte, und eine hochgeschlossene Bluse aus einem viel schwereren Material, als unter der Kuppel eigentlich erforderlich war. »Daddy hat mich für zu Hause angezogen«, erklärte sie, als sie
sich über ihn beugte und zuschaute, wie sein Lichtstift Damenunterwäsche zeichnete. »Und zu Hause ist Edinburgh.« »Sie sprechen gar nicht mit schottischem Akzent«, sagte Jimper. Und auch nicht mit arabischem, dachte er. »Daddy wollte, daß ich mein Examen an der ColumbiaUniversität mache, da ist es doch klar, daß mein Englisch sich amerikanisch anhört. Und was Daddy betrifft«, fügte sie hinzu. »Er kommt gerade. Sie sollten an der Dame rasch ein paar Veränderungen vornehmen.« Die Dame sah fast wie Fatima aus. Er machte sie länger und dicker und änderte die Haarfarbe zu blond. Jetzt sah sie nicht mehr wie Fatima aus, dafür aber wie Jo-Ellen. Jimper seufzte. In Atlanta war das Leben sehr viel leichter gewesen. Was war nur mit den New Yorker Frauen los? Das beste, was ihm passierte, war, daß der Feststellungsbeamte vom Gericht ihn inzwischen kannte. »Sie müssen sich freiwillig melden, alter Junge«, riet er ihm. »Melden Sie sich für jede leichte Arbeit und warten Sie nicht, bis Sie geholt werden.« »Ich weiß ja nicht einmal, welche Jobs leicht sind«, gab Jimper kleinlaut zu. Der Beamte seufzte und sagte ihm, daß Farmer ihm Zahnschmerzen bereiteten. Ratten aufzustöbern sei schlecht, die Jagd auf sie vorzubereiten, sei gut. Im Vergnügungsviertel um den Times Square und die 14th Street Streife zu gehen, sei schlecht, in den Docks Streife zu gehen, sei gut. Am besten wäre es, als Rettungsschwimmer zu arbeiten, falls er sich gelegentlich einen freien Tag nehmen könne. Und so saß Jimper eines Tages auf einem Hochsitz im städtischen Bad am Asser Levy Place. Die Schicht dauerte acht Stunden, und seine Arbeit bestand praktisch nur darin, einen Polizisten zu rufen, wenn jemand sich ungebührlich benahm. Da er unter der Kuppel saß, brauchte er nicht einmal zu befürchten, einen Sonnenbrand zu bekommen. Er konnte sogar
ein wenig Schlaf nachholen, hin und wieder etwa zwanzig Minuten; und das bedeutete, daß er sich auch für nächtliche Streifengänge in den Docks an der Spitze der Insel melden konnte. Atlanta war keine Hafenstadt, und er staunte über den enormen Verkehr in den Buchten und Flußarmen New Yorks. Von den Laufplanken unter der Kuppel konnte er nach unten schauen und die großen Unterwasserschiffe unter der Wasseroberfläche dahingleiten sehen, die Versorgungsgüter zu den Ölbohrinseln im Baltimore Canyon brachten. Außerhalb der Kuppel fuhren die Leichter, die von Delaware Bay und Jersey Shore kamen und Gefrierfleisch und anderen Schiffsproviant geladen hatten. Auch Brennstoff und Rohmaterial für die Industrien wurden auf dem Seeweg transportiert, ebenso wie die verschiedensten Waren für die Geschäfte der City. Stromaufwärts unter dem abgehackten Skelett des World Trade Center liefen nachts die riesigen tauchfähigen Abfalltransporter ein. Sie pumpten den Ballast aus ihren Laderäumen und kamen an die Oberfläche wie große aufgedunsene tote Wale, bis die Mannschaften jedes von ihnen wieder mit zweitausendfünfhundert metrischen Tonnen übelriechenden teerartigen Abfällen vollgepumpt hatten und sie wieder untertauchten; dann glitten auch sie davon, stumm wie Haifische, und nahmen Kurs auf die Verklappungsgründe am Rande des Festlandsockels. Wenn ihm all dies zu langweilig wurde, gab es immer die Möglichkeit, sich in irgendeinen Eingang zurückzuziehen und eine Weile zu schlafen, bis der Lärm der Krabbenfänger ihn weckte, wenn mit abziehendem Wasser die Krebse hereinkamen. Früh morgens waren sie hier das große Geschäft. Die Krabbenfänger schwärmten innerhalb oder außerhalb der Kuppel am Ufer aus und stellten überall dort ihre Fallen auf, wo das Wasser seicht genug war. Es schien, als könnten sie
unbegrenzte Mengen an Krebsen fangen, große achtzehn Zentimeter lange Tiere, die sich wieselflink bewegten und die mit ihren Scheren schraubstockähnlich zupacken konnten, wenn sie die Gelegenheit bekamen. Als Jimper sah, wie einer der Fänger seinen Korb auf dem Pflaster leerte, um den Fang zu sortieren, hütete er sich, seine Hilfe anzubieten. Er mußte nur einmal offiziell eingreifen. Das war, als zwei der Männer ihre Körbe gleichzeitig ausschütteten und die Krustentiere sich in alle Richtungen zerstreuten. Jimper brauchte etwa eine halbe Stunde, um den Streit zu schlichten. Aber dann waren die beiden alten Männer wieder friedlich, und sie baten ihn unter den Schatten des Kuppelpfeilers, um mit ihnen einen Joint zu rauchen. Als Jimper die Größe der Krebse lobend erwähnte, blies einer der alten Männer den Rauch aus, hustete und sagte: »Sie mögen die Abwässer.« »Den Schlamm«, sagte der andere und streckte die Hand nach dem Joint aus. »Es kommt aber als Abwasser raus. Pisse und Scheiße und Gott weiß was sonst noch. Die Schlammtransporter laden hier ab.« Jetzt war Jimper an der Reihe. Er stieß eine dünne blaue Rauchwolke aus. »Ich dachte, sie müssen ihre Laderäume draußen auf See entleeren.« »Natürlich müssen sie das. Sie müssen die Luken vorn und hinten öffnen und zwanzig Minuten lang durchspülen. Wissen Sie, innen sind die Transporter nichts als ein großes Abwasserrohr. Das Wasser kommt vorn rein und scheuert sie sauber. Aber sie tun es nicht. Wenn sie die Luken fünf Minuten lang geöffnet halten, ist das schon viel, denn sie werden nach Anzahl der Ladungen bezahlt und sind natürlich nicht an einer gründlichen Reinigung interessiert. Aber das ist ganz in Ordnung. Das bißchen Schlamm, das sie hier ablassen, bemerkt man gar nicht, wenn man nicht eins dieser kleinen
Meerestiere ist, die froh sind, daß sie ihn kriegen. Dann kommt der Krebs, der froh ist, daß er die kleinen Tiere kriegt, und Marty und ich sind froh, wenn wir die Krebse kriegen.« Er schaute in seinen Korb paßte einen günstigen Moment ab, griff mit beiden Händen zu und holte zwei dieser klauenbewehrten Ungeheuer heraus. »Hier. Nimm sie mit nach Hause. Deine Dame wird schon wissen, wie man sie kocht.«
Das Dumme war, daß Jimper keine Dame hatte. Das Mädchen in Atlanta beantwortete seine Briefe nicht. Die Ärztin war nicht in ihrem Büro, als er sie anrief, und sie rief auch nicht zurück. Und Fatima-Doll studierte fleißig. Die Krebse hatten schon viel von ihrer Energie verloren, als Jimper sich endlich entschloß, sie Fatimas Vater anzubieten, der so dankbar war, daß er Jimper am nächsten Tag ein Paket mitbrachte. »Sandwich«, sagte er. »Krebssalat. Ihre Krebse. Hat Fatima gemacht. Sehr gut.« »Danke«, sagte Jimper, der mit seinem Schlafdefizit fertigwerden mußte. Er saß noch etwa eine halbe Stunde an seinem Lichttisch und änderte einige Skizzen, ohne sie wesentlich zu verbessern, als ihm einfiel, daß Krebssalat ohne Kühlung schnell verdirbt. Er fing an zu essen, aber er war zu müde, um überhaupt zu merken, ob der Salat gut war oder nicht. Fast zu müde, um zu merken, daß etwas in dem Salat war, das sich für Krebsfleisch zu hart und für ein Stück Schale zu weich anfühlte. Es stellte sich als eine Art Kapsel heraus, und als er sie öffnete, fand er einen zusammengefalteten Zettel: Heute nachmittag 1730 Uhr, New Gotham Tower East, 83. Stock, TÜR.
Das Gebäude lag in einer dieser ethnisch andersartigen Gegenden, wo es die üblichen Auseinandersetzungen der ethnisch Andersartigen mit Freidenkern und Angehörigen der Gegenkultur gab, mit Möchte-gern-Künstlern und sogenannten Bohemiens, die niedrige Mieten zu würdigen wußten und deren Dreck ihre Verachtung materieller Werte dokumentierte. Der dreiundachtzigste Stock war ein Expreßstop, und hier gab es die üblichen Läden, Imbißbuden und fliegenden Händler. Jimper brauchte nicht lange dazu, sein Ziel zu finden. Auf dem Schild über der Tür stand zwar TÜR aber es war gar keine richtige Tür, es war ein Wolkenvorhang. Das heißt, es war ein Luftstrom, der große organische Moleküle enthielt, die aus Schlitzen am oberen Teil des Rahmens herausgepumpt und von Schlitzen im Fußboden aufgesaugt wurden. Von irgendwoher projizierte ein Projektor eine seltsame dunkelgetönte Szene auf diese Wolke, einen leeren Rasen mit einer stehenden Gestalt, deren schattenhafter Rücken Jimper zugekehrt war, als er sich der Tür näherte. Die Gestalt war nur vage zu sehen. Jimper erwartete Kontakt, als er eintrat, aber er spürte nur einen warmen Luftzug, bei dem sich ihm die Nackenhaare sträubten. Als er sich umschaute, sah er das Gesicht der Schattengestalt; es war eine Frau mit Haarbüscheln, die fast wie Hörner aussahen. Sie trug ein TShirt mit der Aufschrift: Wir verkaufen Magie Keine Tricks Magie
Ein seltsamer Ort, dachte Jimper. Das Licht war gedämpft, aber alle seine andern Sinne wurden heftig attackiert. Es roch nach Moschus und Fichten und Knoblauch, und dazwischen nahm Jimper seltsame, mehr orientalische Gerüche wahr; im Hintergrund hörte er Sitarmusik; und plötzlich ein wütender roter Lichtblitz, als ein Angestellter hinten im Laden zu Demonstrationszwecken eine Prise von irgend etwas in eine Pfanne mit glühenden Kohlen warf. Außer ihm war nur eine Verkäuferin im Raum, die gerade mit einem Kunden sprach. Jimper trat auf sie zu. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie sah ihn irritiert an und sprach weiter. »Ich bin froh, daß Sie heute nachmittag gekommen sind! Wir haben gerade Friedhofserde hereinbekommen.« Der Kunde war ein halbwüchsiger Junge mit Akne. »Wieviel kostet ein viertel Kilo?« »Zwölf-fünfzig«, sagte sie bedauernd. »Mein Gott!« »Aber es ist wirklich das Wahre«, redete sie ihm zu. »Von – « sie senkte die Stimme » – Sie kennen doch den alten portugiesischen Friedhof an der 11th Street? Von dort. Und legal. Und mit Zertifikat.« Der Junge schürzte die Lippen und berührte sie leicht mit zwei Fingern. »Ich überlege es mir noch«, sagte er und verschwand. Die Angestellte seufzte und wandte sich Jimper zu. Sie hob die Brauen. »Ich suche Doll«, sagte er. »Aber gewiß. Aus Wachs? Oder vielleicht wünschen Sie etwas Ausgefalleneres? Ab vierzig Dollar machen wir Sonderanfertigungen – « »Nein, keine Puppe, sie heißt nur Doll, Fatima Mawzi«, sagte er. Die Verkäuferin verlor jedes Interesse. »Im Hinterzimmer«, sagte sie so teilnahmslos, daß Jimper sich fragte, wie oft eine solche Transaktion wohl schon stattgefunden haben mochte.
Und dann stand er am Ende des langen schmalen Ladens und ging in das Hinterzimmer – diesmal war es eine richtige Tür mit einem richtigen Schloß – und da saß Doll und inhalierte tief aus einer Wasserpfeife und schaute durch den Haschischdunst zu ihm auf, und sie trug überhaupt keine Kleidung. Das Geschäft mit der Magie, mit der wirklichen Magie ohne Tricks konnte so profitabel nicht sein, denn der Raum war genau für den Zweck ausgestattet, für den Doll ihn ausgesucht hatte, und Jimper wollte gar nicht wissen, wie sie ihn gefunden hatte. Die technischen Spielereien, die er hier vorfand, faszinierten Jimper. Mit Hilfe von beweglichen TV-Kameras konnte er auf einem großen Schirm beobachten, was in verschiedenen seiner inneren Organe vor sich ging, die für die Augen sonst nicht sichtbar sind. Apparate, die zitterten, und Apparate, die pulsierten. Elektronische Geräte, die den nachlassenden Hormonausstoß ignorierten, wenn der Körper bereit war aufzugeben, das Gehirn aber weitermachen wollte. Betten, die sich bewegten, und Vorrichtungen, die ein Bett überflüssig machten. Liköre. Düfte. Bänder mit herkulischen Leistungen, selbst eigenen, wenn man sich entschloß, die Bänder zu behalten. Während der ersten drei oder vier Male, da Jimper und Doll dieses Zimmer aufsuchten, war er so beschäftigt, daß sie kaum Gelegenheit fanden, miteinander zu sprechen; und auch später war Doll nie sehr gesprächig. Sie mußte sich die Zeit für Jimper stehlen, und das konnte sie nur selten. Deshalb wollte sie diese wenigen Augenblicke nicht mit Geschwätz vergeuden. Ihr Aufenthalt in New York neige sich seinem Ende zu, erzählte sie ihm. Schon sehr bald würde man sie nach Edinburgh zurückschicken, wo sie den Jungen von nebenan heiraten solle. »Was für ein Mann ist er denn?« fragte Jimper, als er auf dem Bett lag, das von ihren gemeinsamen
Anstrengungen noch zitterte. Doll zog sich das Kleid über den Kopf und sah ihn an. »Ein Mann. Sehr streng. Sehr religiös. Sehr wahrscheinlich würde er sich weigern, mich zu heiraten, wenn er wüßte, was ich hier in New York so treibe. Und außerdem ist er sehr, sehr reich.« Am schwersten war es, den Schleier wieder anzulegen, aber er gehörte zum Ensemble, und jetzt sah Doll aus wie jede andere streng religiöse Moslemfrau in einer Moslemgegend. »Doll?« fragte er. »Wird er nicht erwarten, daß du noch Jungfrau bist?« »Vorn nicht«, sagte sie, betrachtete sich im Spiegel und ging zur Tür. »Die Raummiete reicht nur noch für zehn Minuten, Jimper. Würdest du also bitte mit dem Hintern hochkommen? Ich muß zur Ausstellung.« Doll ließ sich im Zeichenraum nicht mehr sehen, und gegen den guten Rat des Gerichtsbeamten meldete Jimper sich freiwillig zur Bewachung des Ausstellungsgeländes. Der Eröffnungstermin rückte näher. Die Rainbow-Brücke führte jetzt quer über den Park, und jeden Tag krochen Ingenieure auf der Brücke herum, um die Belastungswerte zu messen. Die wichtigsten Pavillons waren jetzt fertiggestellt, Island mit seinen Lavastrukturen aus Schaumstoff und den künstlichen Geisern, die Saudis mit ihrer Miniaturnachbildung eines Strandes am Roten Meer und winzigen Eisbergen, die über den See in der Mitte des Parks zu diesem Strand gezogen wurden. Die Imbißstände und die Stände mit Neuheiten wurden hereingefahren und aufgestellt, und die Konzessionsinhaber stritten sich um die besten Plätze und beklagten sich über das Wetter. Unter der Kuppel brauchte man Regen oder grellen Sonnenschein nicht zu fürchten, aber das half nicht viel, wenn gewaltige Staubwolken über den Himmel zogen und es um die Mittagszeit schon dunkel war. »An einem dunklen Tag ist kein
Geschäft zu machen«, sagte einer der Händler verzweifelt zu Jimper, während er überlegte, wieviel Maismehl er einkaufen sollte. »Wenn es nicht hell wird, verkaufen wir nichts.« »Es wird schon besser werden«, versicherte Jimper ihm, obwohl er keine Ahnung hatte, denn Atlanta liegt nicht im Einzugsgebiet von Sandstürmen. Er lächelte huldvoll, rückte sein rotes Käppi zurecht und ging weiter, um im britischen Pavillon seine Kostüme zu bewundern. In einer Generalprobe übte das Personal seine künftigen Aufgaben ein, und Jimper nahm die Gelegenheit wahr, sie dabei zu beobachten. Zufrieden stellte er fest, daß die Entwürfe wirklich gelungen waren. Die Kilts saßen gut und fielen elegant, wenn die Leute sich in ihnen bewegten; die UnionJack-Blusen brachten das, womit die Frauen sie ausfüllten, sehr gut zur Geltung. Inzwischen hatte er sogar schon so etwas wie eine Stammkundschaft. Wenn er den Rest seiner Strafe erst abgearbeitet hatte, wenn die Ausstellung vorüber war, wenn es diese zeitlichen Unterbrechungen nicht mehr gab, dann, da war er ganz sicher, würde er einer der zuverlässigen und erfolgreichen Designer in der City werden, und er hielt schon Ausschau nach einem geeigneten Standort für seine Boutique. Die Dinge laufen recht gut, fand er nicht ohne Selbstgefälligkeit. Mit einer Ausnahme.
Als er Dolls Rücken sah und auf sie zuging, merkte, er, daß sie zum Himmel hinaufschaute, und da sah er diese Ausnahme. Hoch über dem Park schwebte eine Libelle durch die Luft. Ein Drachenflieger. Er war an diesem düsteren Nachmittag schwer zu erkennen, aber es mußte ein Experte sein, der jeden Aufwind und jede Bö nutzte. »Weiter so, alter Junge«,
murmelte Jimper und schaute sehnsüchtig zu dem Drachen hoch. Doll warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ich wünschte, ich wäre da oben«, verkündete sie. Überrascht schaute er sie an. »Ich wußte nicht, daß du selbst springst«, sagte er. Sie zuckte die Achseln und sagte nichts. Ihr Vater, der hinter Jimper getreten war, beantwortete an ihrer Stelle die Frage. »Ja, Fatima hat so etwas schon gemacht«, brummte er. »Aber jetzt, wo sie im heiratsfähigen Alter ist, sind solche Dinge unpassend.« Jimper lächelte, entschuldigte sich und schlenderte davon. Er beobachtete den Drachenflieger so lange er konnte, und als er nicht mehr zu sehen war, betete er für seine sichere Landung. Er hatte eine Idee. Er und Doll hatten in dem kleinen Raum hinter der Aufschrift TÜR schon fast alles getan, was zwei Menschen, die sich einig sind, gemeinsam tun können; aber es gab ein Erlebnis, das sie noch nie gemeinsam gehabt hatten. Es war albern. Es war sogar gefährlich. Aber er wünschte es sich so sehr. Von seiner winzigen Wohnung bis nach East Village zum New Gotham Tower East war es nur eine kurze Fahrt mit dem Hydromobil, und während der ganzen Fahrt starrte Jimper zur Kuppel empor. Es war dunkel, obwohl es Mittag war. Als er den kleinen Raum hinter der Aufschrift TÜR erreichte, hatte Doll sich schon ausgezogen und ihre Wasserpfeife angezündet, und der Haschischgeruch hing schwer in dem winzigen Zimmer. »Was ist denn los mit dir, Jimper?« fragte sie und reichte ihm das Mundstück. Er nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete. »Es ist die Mittagsdunkelheit«, sagte er.
»Sie deprimiert dich, nicht wahr? Nimm noch einen Zug«, befahl sie, »und dann wollen wir sehen, ob wir dich ein bißchen aufmuntern können.« Und das gelang ihnen natürlich, wenigstens physisch. Aber während Jimpers Körper auf einem Gebiet aktiv war, beschäftigten sich seine Gedanken mit etwas anderem: der Mittagsdunkelheit. Wenn die Erde sich erwärmte, und das tat sie angeblich, warum hörten dann die Farmer nicht auf, über die Kälte zu klagen? Man brauchte sich bloß das lausige Zeug im Supermarkt anzusehen. An den Rändern brauner Salat, Kartoffeln, von denen man genau wußte, daß sie innen schwarz und löchrig waren, welke Karotten. Und wenn man sich bei dem Mädchen an der Kasse beschwerte, sagte sie, es läge am Wetter. Und das Wetter sollte wärmer werden! Jimper hatte die Berichte darüber aufmerksam verfolgt. Die Atmosphäre ist eine Wärmemaschine. Je mehr Wärme man hineingibt, um so heftiger reagiert sie. Bei Wärmemaschinen geht es nicht um die Temperatur an sich, sondern um die Temperaturunterschiede; sie funktionieren nach den sogenannten Carnotschen Gesetzen. Wenn man fünfundsiebzig Multimegawatt-Kraftwerke und fünfzehn Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren in einer Ecke eines Staates im Westen, etwa Kalifornien, konzentrierte und zwei oder drei einige hundert Meilen entfernt gelegene Staaten, zum Beispiel Utah und Nevada, völlig in Ruhe ließe, würde ein Temperaturgefälle entstehen, das die Luft nicht hinnehmen kann. Luft verlangt perfekte Demokratie, in der jedes Molekül sich mit der gleichen Geschwindigkeit bewegt. Das nennt man Entropie oder die Zustandsgröße der Stoffe, die den Irreversibilitätsgrad physikalischer Prozesse angibt. Die Luft nimmt die Wärme von Malibu auf und transportiert sie nach Salt Lake City, und unterwegs bläst sie dir das Dach vom
Haus, wenn es zufällig im Weg steht. Dann fegt sie über die Ebenen und reißt die Ackerkrume in den Himmel, die dann über Kansas und Connecticut schwebt. Oder über New York. Oder sie rast durch Kanada, wo sie ihre Feuchtigkeit verliert und so kalt und trocken wird wie eine platonische Hölle, um dann Arkansas und Mississippi zu erreichen, wo die Zecher im Mardi Gras vor Kälte zittern. Inzwischen taut Fairbanks, und Honolulu schwitzt, aber das hilft den Farmern im Mittleren Westen nicht. In den Staaten, die Gemüse anbauen, ist es kalt und stürmisch. Die Saison ist zu kurz. Und einige zehn Millionen Tonnen ihres Ackerbodens kommen nach Osten auf Besuch und verursachen die Mittagsdunkelheit. Und dieser Staub schwebte jetzt über ihren Köpfen, vom Wind getragen und mit der Thermik nach oben steigend. »Wenn du willst, können wir es tun«, sagte Doll. Jimper kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »W-was?« stammelte er. Sie stand vor ihm, rieb sich den Rücken und sah ihn an. »Du hast doch vom Fliegen geredet.« sagte sie. Jimper nickte und versuchte, sich an die Augenblicke zu klammern, die an ihm vorbeizogen. Es war nicht leicht. Er hatte ziemlich viel von dem Zeug geraucht. »Mein Rücken wird es schon aushalten«, sagte sie. Er nickte zustimmend, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie redete. Doll war ein munteres kleines Ding, fast winzig, aber ihre Brüste waren eindrucksvoll entwickelt, und jetzt klagte sie über Rückenschmerzen. Hatten sie irgend etwas besonders Strapaziöses mit ihrem Rücken angestellt? Er konnte sich an nichts erinnern. »Jedenfalls«, sagte sie, »habe ich irgendwo ein paar Flügel versteckt, und meine Freundin hat mir ein gutes Fenster verraten. Es gibt nur eine Schwierigkeit, man muß blind rausspringen. Aber es fällt steil ab, und die Thermik ist gut.«
»Oh, ja«, sagte er und nickte, als hätte er begriffen. »Dann zieh dich an«, sagte Doll, »denn der Alte bleibt den ganzen Nachmittag weg, und eine solche Chance kriegen wir nie wieder.« Jimper fiel auf, daß er sehr viel nickte, aber da ihm kein überzeugenderer Beitrag zu diesem Dialog einfiel, fuhr er fort zu nicken, während Doll in ihre Kleider schlüpfte und ihn in seine scheuchte. Es war eine Menge Haschisch gewesen. Jimper befand sich in jenem willenlosen Zustand, in dem man jeden Vorschlag für eine gute Idee hält, besonders, wenn man nur ja oder nein zu sagen braucht. Unglücklicherweise gab sich Doll mit einem bloßen Ja nicht zufrieden. Sie wollte, daß er sich bewegte. Sie befand sich in jenem anderen Zustand, in dem man jede gute Idee auch gleich in die Tat umsetzen will, und das taten sie: Anziehen, aus dem Zimmer, mit einem Fahrstuhl nach unten, über ein Laufband, mit einem zweiten Fahrstuhl wieder nach oben – Jimper hätte in diesem zweiten Fahrstuhl vielleicht eine Ewigkeit gestanden und das hübsche Fußbodenmuster bewundert, wenn Doll nicht zurückgerannt wäre und ihn nach draußen gezerrt hätte, kurz bevor die Türen sich wieder schlossen. Erst als er sich unter dem geliehenen Drachen anschnallte, lichtete sich der Haschischnebel. »Ich weiß nicht, ob es wirklich eine so gute Idee ist, Doll«, sagte er; aber seine Finger prüften schon die Schnallen, berührten die Schwingen und suchten nach schadhaften Stellen und Verbindungsstücken, die sich vielleicht gelockert hatten – es war ein altes, wenn auch gut erhaltenes Gerät – aber es war alles in Ordnung. »Komm«, sagte sie und zog ihn zu einem großen breiten Fenster hinüber. Seltsam, daß man einen so auffälligen Absprung nicht schon lange gesperrt hat, überlegte er und sagte: »Das Ganze kommt mir etwas gefährlich vor – «
Und damit hatte er recht. Er wußte es gleich, nachdem sie Hand in Hand abgesprungen waren, er wußte es, als er das Rasseln hörte, etwas vor sich hochschießen sah, den abgefederten Ruck spürte und merkte, daß sie in einem Netz hingen. Wie Kaninchen in der Falle blieben sie zehn Minuten lang dort hängen, bis drei grinsende Polizisten von der regulären Truppe sie einholten.
»Sie, junge Dame«, sagte der Richter, »werden zur Bewährung in die Obhut Ihres Vaters entlassen, und wenn ich Sie hier noch einmal sehe, wird es Ihnen schlecht ergehen. Und was Sie betrifft – « Er schaute auf Jimper hinab, der vor dem Richterpult stand, und man konnte fast hören, wie sein Juristengehirn bei einem Urteil einrastete. »Wiederholungstäter«, sagte er. »Zweiter Verstoß. Keine Strafmilderung. Neunzig Tage oder fünfzehntausend Dollar, der nächste Fall.«
V
Wiederholungstäter kamen nicht so glimpflich davon wie Ersttäter. Sie hatten nur beschränkte Möglichkeiten, sich für leichte Arbeit zu melden; sie mußten jede Arbeit annehmen, die man ihnen zuwies, und es gab für sie noch andere Strafen, die den Ersttätern erspart blieben. Und dazu mußten sie ein Gebäude aufsuchen, über dessen Eingang Städtisches Hospital – Notaufnahme und Rehabilitation stand. Und Jimper mußte über zwei Stunden warten, bis er an der Reihe war. Es war der Mann vor ihm, der so viel Zeit in Anspruch nahm, denn er wollte reden, und, wie Jimper entsetzt bemerkte, hatte er sehr viel zu erzählen. »Nachdem ich mein, wissen Sie, meine Hand an sie gelegt hatte«, sagte der Mann, »da sagte sie, sie sagte, daß sie Angst hat.« »Angst vor Ihnen?« fragte der Berater und machte Notizen, um zu zeigen, daß er der Geschichte folgte. »Sie hatte Angst, daß ihre Mutter etwas merkt. Aber ich hörte nicht auf.« Aber jetzt hörte er auf, jedenfalls für einen Augenblick; er schwieg, leckte sich die Lippen und schaute zu Jimper hinüber, der vor dem breiten Aktenschrank stand, der im Büro des Beraters als Wand diente. Jimper versuchte, sich den Anschein zu geben, als hätte er nicht zugehört, aber es war ganz offensichtlich, daß alle Häftlinge im Wartezimmer gespannt zuhörten. Der kleine Mann stellte mit jedem von ihnen Blickkontakt her, bevor er sich wieder zu dem Berater umdrehte. »Ich hörte nicht auf«, wiederholte er und wischte sich mit dem Handgelenk über die Lippen. »Dann, als ich ihr den Schlüpfer
ausgezogen hatte, nahm ich – ich nahm das – ich nahm das, äh, Ding – « »Ja, das Schlachtermesser«, half ihm der Berater weiter. »Ja, ich nahm das Schlachtermesser, und ich stieß es in – ich stieß es ihr in – « »Sie penetrierten sie damit im Genitalbereich«, beendete der Berater den Satz für ihn. »Eins allerdings erstaunt mich dabei, Willy.« »Und was?« fragte der kleine Mann eifrig. »Waren Sie sich nicht darüber klar, daß Sie ihr damit wehtun würden? Sie vielleicht sogar umbringen?« »Oh, ja«, sagte der kleine Mann. »Aber Sie sagten doch, daß Sie dieses fünfjährige Mädchen lieben.« »Nun ja. Aber das andere konnte ich doch nicht tun, denn sie ist erst fünf«, erklärte Willy tugendhaft. »Ich verstehe.« Der Berater machte eine Notiz. Er dachte eine Weile nach und beugte sich vor. »Sie wissen doch, daß dies alles Phantasien sind, nicht wahr, Willy?« fragte er freundlich. Willys Züge umwölkten sich. »Verdammt, natürlich weiß ich das«, murmelte er. »Vor diesem Gespräch habe ich ihre Mutter angerufen, um mich zu vergewissern. Sally fehlt nicht das geringste.« »Das weiß ich! Aber der Richter hat gesagt, daß ich herkommen und mit Ihnen sprechen soll – Wenn ich solche Gedanken habe – « »Natürlich«, sagte der Berater strahlend. »Das haben Sie sehr gut gemacht, Willy, und ich freue mich darüber. Gibt es sonst noch was?« Willy rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als wollte er aufstehen, aber er blieb sitzen. »Ja, Willy?« ermutigte ihn der Berater. »Nun – Muß ich denn nicht bestraft werden?« fragte Willy.
»Ah!« Der Berater schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das hätte ich fast vergessen! Vielen Dank, daß Sie mich daran erinnern, Willy. Warten Sie, da wäre eine Geldstrafe von – sagen wir mal fünfundzwanzig Cents. Und die zahlen Sie bitte sofort!« Dankbar griff der Mann in die Tasche, und als er hinausging, strahlte er Jimper an, der als nächster an der Reihe war. »Das ist ein großartiger Arzt«, flüsterte er ihm zu. Der großartige Arzt ließ die Münze mit finsterer Miene in einen großen Krug fallen. Nach dem Klang zu urteilen, hatte das Geldstück dort reichlich Gesellschaft. »Name?« fragte er, ohne aufzuschauen, und als Jimper antwortete, seufzte er und gab den Namen ein. »Was sind denn Ihre Probleme?« fragte er, während er darauf wartete, daß die Daten auf dem Schirm erschienen. »Ich habe kein Problem. Ich habe nur zwei Verurteilungen, weil ich mit dem Drachen unter der Kuppel geflogen bin.« Jetzt fing der Doktor an, Interesse zu zeigen. »Keine Mordphantasien? Und Sie haben auch keine asozialen Impulse ausgelebt?« »Nein, nichts«, murrte Jimper. »Ich habe nicht einmal einen anständigen Anwalt.« Der Doktor betrachtete ihn jetzt eingehender. »Sie glauben, Sie hätten keinen fairen Prozeß bekommen? Wollen Sie die Sache vielleicht vor das Oberste Bundesgericht bringen?« »Doktor«, sagte Jimper, »ich habe nicht einmal solche Phantasien.« Der Doktor zuckte die Achseln. »Der Himmel mag wissen, wo das Oberste Bundesgericht überhaupt ist – zuletzt war es in Houston.« Er schaute mißmutig auf seinen Bildschirm. »Was ist denn los? Habe ich den Namen falsch buchstabiert?« Er wollte den Namen neu eingeben, aber dann zog er schockiert die Hand zurück. »Oh, Gott«, stöhnte er, »das ist doch das
Letzte! Es ist heute der erste Fall, bei dem es sich nicht um einen Idioten handelt, und jemand stiehlt ihn mir.« »Stiehlt mich?« fragte Jimper. »Hat mir den Fall freiwillig abgenommen«, sagte der Berater verbittert. »Ich hätte es wissen müssen. Einem geschenkten Gaul muß man immer ins Maul schauen, stimmt’s? Und dabei ist sie eine so nette Frau – « »Hören Sie zu, mein Freund«, sagte Jimper. »Man hat mir gesagt, daß ich mich bei Ihnen zur Beratung melden soll, weil das für Wiederholungstäter vorgeschrieben ist. Ansonsten bin ich an Ihren Problemen nicht interessiert. Beraten Sie mich und lassen Sie uns zum Ende kommen.« »Wenn das so leicht wäre.« Der Berater schüttelte betrübt den Kopf. »Die neue Ärztin im Büro nebenan. Der Name steht an der Tür. Dr. J. Redfan. Machen Sie bitte Platz. Der nächste!« J. Redfan. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, aber erst als er in der zweiten Schlange – die glücklicherweise kürzer war – ganz vorn stand und ins Büro gebeten wurde, brachte er den Namen mit dem Gesicht in Verbindung. »Hallo, Jimper«, sagte Jo-Ellen Redfan. »Ich habe mir schon überlegt, wann Sie hier wohl auftauchen.« Er setzte sich und fühlte sich plötzlich sehr erleichtert. »Das habe ich wirklich nicht erwartet«, sagte er. »Ich dachte, Sie seien in Ihrer Privatpraxis.« »Wenn man eine Strafe abarbeitet«, sagte sie, »muß man die Arbeit tun, die einem zugeteilt wird. Hören Sie zu. Sie sind doch Maler, nicht wahr? Deshalb habe ich nämlich Ihren Fall übernommen.« »Nun – ich wollte, ich wäre Maler. In Wirklichkeit bin ich hauptsächlich Modedesigner. Leider reicht mein Talent nicht so weit, daß meine Sachen im städtischen Museum ausgestellt werden.«
»Aber Sie können malen?« »Nun, ja – « Aber sie hörte nicht mehr zu. Sie wählte eine Nummer, und als aufgenommen wurde, fing sie sofort an zu sprechen. »Hallo, Willy? Ich bringe einen Gast zum Essen mit. Geh auf den Balkon und fang ein Dutzend große. Ich werde dann Grillen mit Chili kochen. Ich komme in einer halben Stunde.« »Grillen mit Chili?« fragte Jimper erstaunt. »Ich nehme Sie zum Essen mit nach Hause«, erklärte sie. »Das ist kein Problem. Sie sind Wiederholungstäter, und deshalb brauchen Sie irgendeine Art von Therapie, nicht wahr? Die beste Therapie ist Arbeitstherapie – und, Jimper ich habe Malerarbeit für Sie!« Jo-Ellen Redfan hatte eine sehr schöne Wohnung hoch oben in den Zwanzigern, drei große Zimmer und einen breiten Balkon. Sie hatte sie nach dem sogenannten kanadischen Coop-System gemietet: Sie zahlte ein Viertel ihres Einkommens an Miete, und die Wohnung gehörte ihr. Jedenfalls so lange, bis sie aufhörte zu zahlen oder sich entschloß auszuziehen. »Aber ich ziehe nicht aus«, erklärte sie und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd, »denn wir bekamen die Wohnung, als wir beide verdienten, und da ich jetzt allein bin, ist es ein gutes Geschäft für mich. Willy! Ich will sie jetzt brühen!« Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Willy schaute heraus. Er hatte eine Tastatur in der Hand und sah ganz so aus wie ein junger Mann, der gerade seine Schulaufgaben macht. »Sie sind auf dem Balkon, Jo.« »Dann hole sie bitte herein!« Der Junge seufzte, legte die Tastatur weg und ging durch das Wohnzimmer an der Küche vorbei auf den Balkon hinaus. Jimper ging mit ihm, bewunderte die Aussicht und hörte das Zirpen der Grillen aus dem Käfig am Ende der Terrasse. Ein kleinerer Käfig stand daneben. Der Junge nahm ihn auf und
reichte ihn mit gequältem Gesichtsausdruck seiner Mutter. »Kann ich jetzt endlich meine Algebra-Aufgaben machen?« fragte er. »Geh schon«, sagte Jo-Ellen und öffnete vorsichtig den Deckel des kleinen Käfigs. Eine nach der anderen nahm sie die lebhaften Grillen heraus und ließ sie in das kochende Wasser fallen. Dann nahm sie den Topf vom Herd, gab den Inhalt durch ein Sieb und fing an, die Tiere abzuschälen. »Man hat Sie also mit dem alten Netztrick erwischt«, sagte sie. »Machen Sie sich nichts daraus. Jeder Farmer wird einmal erwischt. Wenn man das Fenster öffnet, spannt sich automatisch das Netz auf, und ein Alarm wird ausgelöst.« »Ich habe mir den Platz nicht ausgesucht«, sagte er abwehrend und überlegte, wie er ihr helfen könnte. Aber JoEllen schien das Dinner unter Kontrolle zu haben; ein Topf mit Zwiebeln, Bohnen und Tomaten wurde auf dem Herd schon heiß, und sie gab das geschnittene Grillenfleisch dazu. »Was macht denn Ihre kleine Freundin?« fragte sie. »Ihr Vater hat sie nach Hause geschickt«, sagte Jimper. »Ich glaube, sie soll drüben heiraten.« Er hatte etwas verloren, aber es machte ihm nicht sehr viel aus; hier schien sich etwas anderes anzubahnen, wenn er den Anzeichen trauen durfte, und dieses andere hatte eine eigene Wohnung. Jedenfalls fast. Aber der Junge ging wahrscheinlich früh schlafen. »Schade«, sagte Jo-Ellen. »Wissen Sie, wie man Palmenherzen pflückt?« »Leider nicht, Jo-Ellen.« »Ihr Farmer! Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.« Jimper fand, daß Jo-Ellen selbst eine Art Farmerin war, und er schaute sich neidisch in der Wohnung um. Der Balkon stellte sich als wahres Füllhorn verschiedenster Gemüsesorten heraus, und alles war von besserer Qualität, als man sie im Supermarkt kaufen konnte. An gestutzten Palmen wuchsen
zarte Blattknospen, und es gab frischen jungen Salat für das Chiligericht. Für das Dessert waren Papayas vorgesehen, die reif gepflückt und dann eine Weile in die Tiefkühltruhe gelegt wurden; für den Tisch gab es Blumen, die um den Balkon herum wuchsen. Das Wichtigste sei, erklärte sie ihm, einen nach Süden gelegenen Balkon mit einer niedrigen Einfassung zu haben, damit die Pflanzen auch im Winter genügend Sonne bekamen – und man mußte natürlich solche Sorten anpflanzen, die unter dem diffusen Licht gediehen, das durch die Kuppel fiel. Zum Essen gab es Wein und danach starken süßen Kaffee aus einer Kupferkanne. Aber dann war es mit der Ruhe vorbei. Die Malerarbeiten sollten beginnen. Es ging um die Küche. »Sehen Sie, Jimper«, sagte Jo-Ellen, räumte einiges Geschirr weg und fuhr mit einem Lappen über die Wand, wo sich der Wasserdampf vom Wasserstoffherd niedergeschlagen hatte. »Wir sind nicht groß genug. Sie sind groß und nett dazu. Will? Wo ist das trockene Tuch? Jimper, helfen Sie ihm bitte.« Und Jimper machte sich an die Arbeit. Ungefähr eine Stunde lang die Küche zu streichen war ein vernünftiger Preis für eine gute Mahlzeit, von den möglichen zusätzlichen Vergünstigungen ganz abgesehen. Allerdings konnte sein berechnender Blick nicht entdecken, wo denn diese Vergünstigungen gewährt werden könnten. Es gab nur ein Schlafzimmer mit zwei Betten – offenbar eines für jeden der Bewohner. Ein weiteres Bett gab es in der Wohnung nicht. Nicht einmal eine Couch; im Wohnzimmer standen nur Stühle, die meisten mit gerader Lehne. Der dritte Raum war als eine Art Behandlungszimmer eingerichtet – anscheinend praktizierte Jo-Ellen gelegentlich zu Hause – und dort stand eine Pritsche. Aber sie war nicht breit genug für zwei. Der Balkon? Aber dann würde man die Blumen zerdrücken. Es war ein Rätsel – aber Jimper war überzeugt, daß Jo-Ellen dieses
Problem schon bei früherer Gelegenheit gelöst hatte, ganz gleich, was sie ihm erzählte. Es würde interessant sein zu erfahren, wie sie es anstellen wollte, aber Jimper zweifelte nicht daran, daß es irgendwie funktionieren würde. Keine Frau lädt einen Mann ein, ihr die Küche zu streichen, ohne Pläne für den weiteren Verlauf des Abends zu machen. Da sie alle drei arbeiteten, ging es schnell. Jo-Ellen deckte den Fußboden ab, während Jimper mit der Sprühdose zu Werke ging. Bevor eine leer war, schüttelte Will schon die nächste, und er wischte Farbspritzer ab, wo sie nicht hingehörten. Da die letzten Ausläufer des Sandsturms immer noch den Himmel verdunkelten, verlor Jimper jedes Zeitgefühl. Als der letzte Lappen aufgehoben war und sie die Malgeräte wieder verstaut hatten, war er deshalb überrascht, als Jo-Ellen plötzlich rief: »Mein Gott, Will, du hättest schon lange Schlafengehen müssen. Hoffentlich hast du deine Hausaufgaben gemacht.« »Die mache ich morgen früh«, sagte der Junge und gähnte. »Gute Nacht, Jo. Gute Nacht, Jimper.« Jo-Ellen holte den Rest Wein und ein paar Joints, und als der Junge im Badezimmer fertig war und die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl so weit zurück, wie es die gerade Lehne zuließ, nahm sich Feuer und reichte Jimper die Zigarette. »Hören Sie zu«, sagte sie, »das Ganze ist ein wenig peinlich.« »Was ist peinlich, Honey?« fragte er. »Nun, einmal, daß Sie mich Honey nennen. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mich mit Männern nicht verabrede.« Es wäre sehr schlechtes Benehmen, sich beleidigt zu zeigen, wenn eine Frau einem bedeutet, daß sie nicht interessiert ist, und Jimper hatte sich schon immer bemüht, in jeder Situation höflich zu bleiben. Er behielt also sein Lächeln bei, während er
den Rauch inhalierte, aber als er sprach, klang seine Stimme weniger freundlich als beabsichtigt: »Sie müssen es ja wissen, Jo-Ellen«, sagte er. Sie seufzte gereizt. »Es liegt ja nicht an Ihnen. Sie sind kein schlechter Kerl. Sie sind vielleicht sogar sehr nett. Es ist auch keine moralische Frage, und ich liebe auch keinen anderen. Außerdem habe ich keine ansteckende Krankheit.« »Dann – « »Was ich aber habe«, sagte sie bitter, »ist ein Ex-Ehemann.« Es war auch schlechtes Benehmen, ein Gesicht zu machen, als hätte die Person, mit der man sich unterhielt, eben etwas unglaublich Dummes gesagt, aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Hälfte der Leute, die er kannte, hatten Ex-Ehemänner oder Ex-Ehefrauen, wenn sie nicht sogar noch verheiratet waren, ohne daß sich auf dem Gebiet etwas tat. Er sagte etwas in diesem Sinne, aber Jo-Ellen schüttelte den Kopf. »Mit Dinny ist es anders. Er wollte die Scheidung nicht, Jimper, und er hat sie nie akzeptiert. Er spioniert mir nach. Wenn ich ausgehe, hängt er oft bei den Fahrstühlen herum. Er hat ein Fernglas, und in den Gebäuden auf der anderen Seite des Platzes hat er ein paar Treppenabsätze gefunden, von denen aus er in meine Wohnung sehen kann; und wenn ich die Vorhänge zuziehe, bekomme ich Telefonanrufe, ohne daß sich am andern Ende jemand meldet. Und – « sie runzelte verlegen die Stirn – »das Schlimmste ist, Jimper, wenn ich wirklich, äh, etwas mit einem anderen Mann zu tun habe, schlägt er ihn zusammen.«
Jimper hatte schon bessere Neuigkeiten gehört, ganz davon abgesehen, daß er es kaum glauben konnte. Unwillkürlich schaute er zu den zurückgezogenen Vorhängen hinüber und sah die beleuchteten Fenster auf der anderen Seite.
»Aber heute abend ist er in Chicago«, bemerkte Jo-Ellen. Jimper griff nach dem Joint und fühlte sich schon ein wenig entspannter. »Aber ich weiß nicht, ob er nicht jemanden beauftragt hat, mich zu beobachten, während er weg ist«, sagte sie und lachte. »Sie müßten sich mal beobachten. Erst sind Sie ganz entspannt und bereit, und dann sind Sie plötzlich wieder verkrampft und verschränken die Arme vor der Brust und nehmen die Knie zusammen. Sie verschließen sich, und dann öffnen Sie sich wieder – « »Jo-Ellen«, sagte Jimper, der schon die Wirkung des Joints spürte, »was wollen Sie von mir? Befriedigt Sie das? Ist das vielleicht eine Art Spiel?« »Nein. Ich schildere Ihnen lediglich die Situation.« »Wie bei einem Tennismatch, stimmt’s? Erst ist der Ball in diesem Feld und dann in jenem, und ich renne hin und her, um im Spiel zu bleiben?« »Nein, so ist das nicht gemeint. Hier zeigt sich wohl nur meine Ausbildung in Psychologie – mich interessiert es, wie die Leute auf Reize reagieren – « »Da war gerade von Psychologie reden«, sagte er ärgerlich, »welche Diagnose würden Sie einer erwachsenen Frau stellen, die ihr Schlafzimmer mit einem zehnjährigen Jungen teilt? Wissen Sie, daß Sie ihm damit jede Chance nehmen, erwachsen zu werden?« Sie lachte. »Komisch«, erklärte sie. »Jeder Mann, der hier raufkommt, erzählt mir, daß ich Will’s Sexualität versaue, während er sich in Wirklichkeit Sorgen um seine eigene macht.« »Und worüber machen Sie sich Sorgen, Jo-Ellen?« Sie drückte den halb aufgerauchten Joint aus und sah ihn an. »Ich mache mir Sorgen um meinen Ex-Mann. Ich mache mir Sorgen darüber, daß er wieder jemanden zusammenschlägt und
ich dazwischen stecke und wieder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt werde. Ich mache mir Sorgen darüber, daß Will seelisch gestört heranwachsen wird, nicht weil er mit seiner Mutter in einem Zimmer schläft, sondern weil sein Vater einen Spion aus ihm macht! Schauen Sie sich doch um! Ich habe alles herausgenommen, was einen Mann auf dumme Gedanken bringen könnte – aber dennoch sagt Dinny, daß er ja nicht wissen kann, was ich mit den vielen Kissen auf dem Fußboden mache. Und – Und – Ach, Scheiße!« Sie fing an zu weinen. Vom Haschisch benommen, von dem Gespräch erhitzt und mit wirren Reflexen stand Jimper auf. Er wollte sie entweder in die Arme nehmen und trösten oder hinauslaufen und sie nie wiedersehen. Erst als er die schweren Vorhänge zuzog, merkte er, daß er sich für das erstere entschieden hatte, und dann nahmen die Dinge ganz einfach ihren Lauf. Die Pritsche erwies sich als entbehrlich. Mit den Kissen ging es wunderbar. Überhaupt war alles wunderbar, wenn da nicht diese kleine Sorge gewesen wäre. Erst als er Stunden später das Haus verließ und sich nach lauernden Gestalten umschaute und keine sah, wußte er, daß Dinny, ihr Ex-Ehemann, an diesem Abend tatsächlich in Chicago gewesen war.
Neunzig Tage Arbeit waren nicht die einzige Strafe, die Jimper erleiden mußte. Er bekam noch eine zusätzliche Strafe: den schrecklichen Zorn des alten Mr. Mawzi. Mawzi Freres waren nicht mehr daran interessiert, den Schänder der Mawzi-Tochter zu beschäftigen, und die Rechnungen für schon geleistete Arbeit waren irgendwie in der Buchhaltung hängengeblieben. Schlimmer noch. Die anderen potentiellen Kunden, die Mawzi ihm vermittelt hatte, wußten Bescheid, und er wurde nicht
mehr mit Herzlichkeit empfangen. Von den meisten wurde er überhaupt nicht erst empfangen. Und deshalb waren die neunzig Tage Arbeit eine Wohltat, denn er wurde für die Arbeit, die er tat, entlohnt. Er bekam natürlich nur den Mindestlohn, aber der Mindestlohn war erheblich mehr als nichts, und nichts war genau das, was ihm aus allen anderen Quellen zufloß. Wie er allerdings diesen Mindestlohn verdienen mußte, stand auf einem anderen Blatt. Sie steckten ihn überall dort hin, wo sie ihn gerade brauchten. Er mußte Wände von Graffiti säubern, und das bedeutete manchmal, auf Balkons und Gitterwerk an hohen Gebäuden zu klettern, um abzuwaschen, was andere dort aufgesprüht hatten. (Besonders lange dauerte es und besonders schwer war es fünfzig Stockwerke hoch unter der Kuppel, wo es jemandem gelungen war, die Reste des World Trade Center mit der drei Meter hohen Aufschrift Verschandelt unsere Stadt nicht! zu versehen.) Inspektionen, bei denen er in einem bestimmten Gebiet der City an die hundert Geschäfte und Privatwohnungen am Tag besuchen mußte, um festzustellen, ob dort alle Sicherheits- und Hygienevorschriften eingehalten wurden. »Rattenfängerei«, wobei er in rattenverseuchten Stadtvierteln Hochfrequenzschallgeneratoren aufstellen mußte. Nun, die ganze Stadt war rattenverseucht – wie jede andere Stadt – aber wenn die Rattenfänger auch nicht den Krieg gegen die Ratten gewinnen konnten, war es doch zumindest möglich, die Ratten so zu desorientieren, daß sie umherirrten und gefangen, vergiftet oder totgeschlagen werden konnten. Es machte Jimper nichts aus, die Schallgeneratoren aufzustellen oder Invaliden, Haustiere und Kinder aus den Gebieten zu evakuieren, die von Ratten befreit werden sollten; die fetten widerlichen Tiere zu erschlagen, wenn die Generatoren ihre normale Vorsicht ausgeschaltet hatten, war allerdings die schlimmste Arbeit, die die Behörden anzubieten hatten. Fast
die schlimmste. »Fahrstuhlwartung« war mindestens genauso schlimm. Das hatte mit der technischen Wartung der Fahrstühle selbst nichts zu tun – dafür standen Spezialisten zur Verfügung. Es bedeutete, in den Schacht hinunterzusteigen und den Unrat zu entfernen, der sich dort angesammelt hatte, während die riesigen Kabinen sich auf die Arbeitstrupps herabsenkten, daß sich den Männern der Druck auf die Ohren legte und einem vor Angst fast das Herz stehenblieb. Die Kabinen waren zwar immer rechtzeitig zum Stehen gekommen, aber würde das immer der Fall sein? Andererseits hatte er Jo-Ellen. Nicht ganz, aber fast hatte er Jo-Ellen – hätte sie gehabt, wenn ihr eifersüchtiger ExEhemann Dinny nicht gewesen wäre. Dinny unternahm keine weiteren Reisen nach Chicago, und während Dinny in der Stadt war, ließ Jo-Ellen Jimper einfach nicht in ihre Wohnung. Es dauerte eine Woche, bis Jimper einfiel, wie man dem abhelfen konnte. Er zählte sein Geld, fand, daß es reichte, und fuhr in den 83. Stock des New Gotham Tower. Den kleinen Raum für zwei Stunden zu mieten, war teurer, als er erwartet hatte. Aber es hatte sich gelohnt. Es hat sich wirklich gelohnt, sagte er sich, als er ein wenig schläfrig die Wasserpfeife wieder anzündete, nachdem Jo-Ellen und er ihre lange aufgestauten Bedürfnisse befriedigt hatten. Er lächelte zärtlich, als er ihr das Mundstück reichte. Aber sie nahm es nicht. »Jimper«, sagte sie, »das ist ja alles schön und gut, wenn auch ein wenig seltsam – « »Haben sie versucht, dir Friedhofserde zu verkaufen?« kicherte er. » – aber du hast doch begriffen, daß es Realität ist?« »Was ist Realität, Darling?« fragte er. »Dinny ist eine Realität, Jimper. Diesmal mag noch alles in Ordnung sein – ich glaube es jedenfalls –, ich war sehr
vorsichtig, als ich herkam, und ich bin ziemlich sicher, daß mir niemand gefolgt ist. Aber wenn wir öfter hierher kommen, wird er uns früher oder später erwischen.« »Dann gehen wir eben woanders hin. Die Stadt ist groß.« Jo-Ellen seufzte und schmiegte sich an ihn. Sie lagen Fleisch an Fleisch, und ihre Haut war noch naß und klebrig, und Jimper hatte es weder eilig, noch empfand er Angst. Aber JoEllen bewegte sich und stand auf. »Ich muß dir ein Gedicht zeigen«, sagte sie und wühlte in ihrer Schultertasche. »Ein Gedicht?« »Ein Gedicht, das Dinny geschrieben hat«, sagte sie entschlossen und reichte ihm einige gebundene gelblichweiße Blätter. Auf jeder Seite standen zwei sauber geschriebene Zeilen. Verdammt, dachte Jimper, warum zeigt sie mir die Liebesgedichte eines anderen? Aber es waren eigentlich keine Liebesgedichte. Auf der ersten Seite stand: Es gibt ein Axiom, das sage ich dir: treibst du’s mit ihm, dann auch mit mir. »Was zum Teufel ist das?« fragte er. »Lies weiter«, befahl sie. Und daraus ergibt sich dann ein Vertrag. Hältst du ihn nicht ein, dann ich ihn schlag. Und dann der kleine Junge von zehn; Polizei, und du wirst ihn nie wiedersehn. »Mein Gott«, ächzte Jimper. »Der Mann ist ja ein Psychopath!« Er las die restlichen Zeilen. Es war auf allen Seiten das Gleiche – nein, das stimmte nicht; auf einigen war es noch schlimmer! »Was soll das heißen? Will er dich zwingen, die Scheidung als ungeschehen zu betrachten?«
»Er sagt, er sei nicht mit der Scheidung einverstanden gewesen, und deshalb fühle er sich daran auch nicht gebunden«, klärte sie ihn auf. »Was Dinny betrifft, sind wir noch Eheleute. Weißt du, er verbietet mir nicht, andere Männer zu lieben. Aber wenn ich es mit einem andern tue, muß ich es auch mit ihm tun. Das sagt er jedenfalls.« »Du – Äh, du – « »Aber das will ich nicht, Jimper. Deshalb – Nun.« Sie schaute weg. »Ich habe mir schon überlegt, daß ich es vielleicht mit jemandem tun könnte, den ich nicht besonders leiden kann. Verstehst du? Dann würde es mir nichts ausmachen, wenn Dinny ihn verprügelt.« Jimper mußte schlucken. Dann schluckte er nochmal. Er schluckte seine Worte hinunter, denn ihm fielen nur Dinge ein, die er nicht gern aussprechen wollte. »Ich weiß«, sagte Jo-Ellen finster. »Deshalb habe ich ja versucht, dich zu warnen. Er hat schon zwei Männer krankenhausreif geschlagen.« Zwei Männer! Das (Jimper rechnete schnell) wären dann die, die er erwischt hatte. Jimper versuchte, Jo-Ellens Gesamtbilanz zu schätzen und seine Aussichten auszurechnen, ebenfalls Prügel zu beziehen. »Das Gute an unserer Beziehung«, sagte Jo-Ellen – »ich meine, das Sichere daran ist, daß er uns wahrscheinlich noch nie zusammen gesehen hat. Wenn ich also sehr vorsichtig bin – und du wenigstens ein bißchen vorsichtig – « »Ja«, sagte Jimper. Er zog an der Wasserpfeife, aber das Haschisch war verbrannt, und die Pfeife schmeckte nur noch fade und sauer – nicht fader und saurer als sein Mund schon vorher registriert hatte. Zwei Männer im Krankenhaus. Ein verrückter Ex-Ehemann. Er blätterte die Seiten durch. »Außerdem sind die Gedichte lausig«, beschwerte er sich
wütend, und dann merkte er, daß Jo-Ellen neben ihm auf dem Wasserbett saß und weinte. Das ließ die Sache ganz anders aussehen. Jimper gehörte zu den Männern, die leicht dahinschmelzen. Es gab sicherlich Unrecht, das man nicht verzeihen kann, und Unannehmlichkeiten, gegen die man auch mit Tränen nichts ausrichten konnte – aber beides war nicht sehr häufig. Im Augenblick konnte er nur versuchen, sie zu trösten, und dann führte natürlich eins zum anderen. Als sie wieder zur Ruhe gekommen waren, sagte er ernst – er hatte darüber nachgedacht, während sein Körper anderweitig intensiv beschäftigt war – »Du solltest zur Polizei gehen, Liebling.« »Du hast doch gelesen, was er darüber geschrieben hat«, sagte sie. »Ich habe schon mit einem Anwalt darüber gesprochen. Ich kann nicht beweisen, daß er dies geschrieben hat – es ist nicht seine Handschrift; ein anderer muß es für ihn geschrieben haben. Und er hat mir die Blätter nicht gegeben. Ich fand sie eines Tages auf meinem Schreibtisch.« »Dennoch – « »Dennoch ist er Wills Vater. Oh, Jimper, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich würde es dir nicht übelnehmen, wenn du rausliefest und mich nie wiedersehen wolltest!« Und was ihm eben noch als vernünftige Alternative erschienen war, wurde damit unmöglich. »Keine Chance!« sagte er entschlossen. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, welcher Mann so etwas tun könnte.« Sie zögerte. Dann sprang sie vom Bett auf, und ihr schlanker nackter Rücken war eine Armlänge von ihm entfernt, als sie in ihrer Tasche kramte. Sie drehte sich um und reichte ihm ein gerahmtes Photo. »Ich habe es mir aus Wills Zimmer ausgeliehen«, sagte sie, »denn ich habe mir gedacht, daß du vielleicht wissen willst, wie er aussieht. Aber er ist größer als er auf diesem Bild wirkt.«
»Ich weiß«, stöhnte Jimper und betrachtete das Gesicht des Mannes, der ihn einen Block von Jo-Ellens Wohnung entfernt in der Bar um die Ecke zu einem Bier hatte einladen wollen. Auf dem Weg nach Hause überquerte Jimper an diesem Abend eine Straße, die zur Kuppel hin offen war, und ein flackerndes rotes Licht ließ ihn hochschauen. Die große Kuppel oben blitzte immer wieder dunkelrot auf. Es war ein Warnlicht. Am nächsten Tag sollten die Radongase nach draußen gespült werden. Als er sich am nächsten Morgen seine Arbeit zuweisen ließ, war er deshalb auch nicht überrascht, als er auf das Ausstellungsgelände geschickt wurde, um alles zu befestigen, was dort lose herumlag. Es gab viel zu tun, und es war harte Arbeit, aber Jimper tat sie gern – ungesicherte Dächer mit Seilen festbinden, herumfliegende Plastikteile auflesen, behelfsmäßige Wände abstützten. Da Drachenfliegen verboten war, hatte er zu wenig Bewegung und war froh, daß er hier endlich einmal schwitzen konnte. Und der Schweiß floß reichlich, denn die Kuppelkontrolleure suchten sich warme und windstille Tage aus, wenn sie die Luftschächte öffnen und die Luft unter der Kuppel austauschen wollten, um eine gefährliche Konzentration von Radongasen zu verhindern. In einer halben Stunde war er völlig durchnäßt, und genauso erging es den übrigen Männern seines Arbeitstrupps. Sie machten eine Pause und ruhten sich zwischen den beiden Exponaten aus, die Jimper besonders gut gefielen. Die großzügig gestalteten Betontröge waren für Saudi-Arabien; nach ihrer endgültigen Fertigstellung würden sie mit Wasser gefüllt werden, und von Spielzeugschleppern gezogene kleine Eisberge würden auf ihnen entlanggleiten, die Kühlwasser für die Klimaanlagen, Trinkwasser und Wasser zur Berieselung lieferten. Islands Pavillon auf der anderen Seite bestand aus Schaumstofflava und zeigte die Windbrecher, die von heißen Quellen erwärmte
Mikroklimata entstehen ließen, und deshalb nannte sich Reykjavik jetzt »das Waikiki des Atlantiks.« Oben bewegten sich die Stahlkabel der Rainbow-Brücke im leichten Aufwind zu den Luftschächten hin. Wenn alles fertig war, würden die Kabel unter einer ballonartigen Konstruktion verschwinden, auf der die Leute gehen konnten und auf der noch hundert Jahre nach der Ausstellung Fahrzeuge rollen würden. Für die Stabilität der Brücke waren die dynamischen Verstärker wichtig – Schwellkörper wurden die einzelnen Zellen genannt; wenn die Sensoren Schwankungen oder eine ungleichmäßige Belastung registrierten, versteifte unter Druck stehende Flüssigkeit die Zellen, wo es nötig war. Um die Kabel herum summten drei ultraleichte Fluggeräte, deren Motoren sich ausschalteten, wenn sie segeln konnten, und wieder ansprangen, wenn sie die Richtung ändern oder Höhe gewinnen mußten. Die lächelnde Geringschätzung, mit der Jimper sie betrachtete, verwandelte sich in Sehnsucht. Sie verpesteten die Luft, gewiß – aber sie flogen! Wenn er doch nur so einen Job bekommen könnte – Der Boß der Stahlbauarbeiter war ein riesiger Mann in mittleren Jahren, der Jimper anschaute, als hielte er ihn für verrückt. »Warum willst du in einem dieser Dinger herumfliegen?« fragte er, und als er erfuhr, daß Jimper wegen Drachenfliegens verurteilt worden war, schüttelte er verständnislos den Kopf. »Das wäre nichts für mich. Ich bleibe in Bodennähe.« »Mr. Bratislaw, gibt es denn hier auf der Ausstellung irgendeinen anderen Job? Ich bin ein guter Designer…« »Nicht, solange du noch eine Strafe abarbeiten mußt«, sagte Bratislaw nicht unfreundlich. »Warum sollten wir euch auf die Gehaltsliste setzen, wenn wir euch für den Mindestlohn kriegen können?«
Aber er versprach, an Jimper zu denken, falls sich irgend etwas ergeben sollte, und das war die freundlichste Resonanz, die Jimper erlebt hatte, seit er bei dem einflußreichen Mr. Mawzi in Ungnade gefallen war. Während der nächsten Wochen nahm Jimper also jede Gelegenheit wahr, auf dem Ausstellungsgelände zu arbeiten. Zweimal wurde er bei der Rattenbekämpfung eingesetzt, denn die Ausstellungsverwaltung war entschlossen, das Gelände zu einer rattenfreien Zone zu machen. Einmal gelang es ihm, einen Job bei der Fahrbereitschaft zu erwischen. Er hatte zu wenig Ahnung, um an den Motoren der kleineren Fahrzeuge zu arbeiten – Elektromotoren bei den Buggys; NiedertemperaturStirling-Motoren, die nur Alkohol verbrannten, bei den kleineren Lastwagen. Aber die großen Tourenbusse hatten dicke breite Schwungräder, die wenig Wartung brauchten und nach jeder Fahrt nur gereinigt werden mußten. Und dann war da natürlich noch Jo-Ellen. Widerwillig erklärte sie sich dazu bereit, noch einmal die TÜR aufzusuchen – aber danach weigerte sie sich beharrlich. Es war ihr zu riskant, denn Jimper hatte inzwischen zugegeben, daß ihr eifersüchtiger Ex-Ehemann ihn kannte. Damit war wenigstens ein Hindernis aus dem Weg geräumt. Jetzt entfiel jeder Grund, sich nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit zu zeigen – in höchst aseptischer Umgebung, wo keine Versuchungen auftreten konnten. Manchmal fuhren sie gemeinsam mit dem Bus oder aßen in einem vielbesuchten Terrassenrestaurant oder gingen am hellen Tag am Wasser spazieren. Aber nach diesen Zusammenkünften achteten sie immer darauf, auffällig in verschiedenen Richtungen zu verschwinden. Intimere Begegnungen mußten sie genau vorausplanen. Hin und wieder ergab sich eine günstige Gelegenheit, zum Beispiel wenn JoEllen zu den Pilzkulturen im Nathanael-Greene-Institut geschickt wurde, um dort die Strahlungswerte zu messen.
Dann konnten sie über eine Stunde in der milden ammoniakhaltigen Luft der dunklen Höhlen allein sein. Und dann gab es die Aussicht auf einen Job in einer Faserfabrik in New Jersey, und gleichzeitig holte Dinny den Jungen für einen Tag in seine Wohnung und ließ ihn dort übernachten. Das bedeutete eine ganze gemeinsame Nacht! JoEllen fand einen Vorwand, mit dem Zug nach Philadelphia zu fahren, um dann heimlich über Atlantic City und anschließend mit den wasserstoffgetriebenen Küstenbooten wieder zurückzukommen. Jimper dagegen nahm das konventionelle Luftkissenboot nach Sandy Hook.
Genau wie die Deutschen im neunzehnten Jahrhundert lernten, aus stinkendem Kohlenteer die buntesten Farbstoffe herzustellen, so kamen in New York jetzt die schönsten Stoffe aus den Abwässern der City. Auch einige der in der Stadt verzehrten Lebensmittel. Man brauchte nur die Flüssigkeit, und schon von Anfang an war das Problem halb gelöst, denn sämtliche industriellen Schadstoffe wurden ferngehalten. Kein Motorenöl aus den Altölgruben der Tankstellen. Kein PVC, keine Säuren, keine Schwermetalle, keine Farbstoffe und keine Pestizide. Die Flüssigkeiten, die aus New Yorks Abwasserkanälen kamen, waren zu neunzig Prozent reine Scheiße, Pisse und Fäulnis. In den Recycling-Tanks brodelte und stank es, und die Algen gediehen prächtig. Sie wurden fett. Die Eingeweide jedes Bürgers produzierten täglich zuverlässig mehrere hundert Gramm Fäkalsubstanz, und das entsprach der gleichen Menge Algenprotein in den Ablagerungstanks, die wiederum die tägliche Ration an Algen der Gattung Spirulina für ein Huhn, ein kleines Kaninchen oder etwa ein zwanzigstel Schwein ausmachte. Es war nicht der Mangel an Fäkalsubstanz, der die
Anlage von Sandy Hook daran hinderte, mehr Fleisch zu produzieren. Es gab dort nicht genug Platz für größere Herden. Deshalb wurde nicht der gesamte Flüssigkeitsausstoß für die Fleischproduktion gebraucht, und deshalb war Jimper da. »Sie fangen gerade damit an, Stoffe herzustellen«, erklärte er JoEllen, als er sie an der Bootsanlegestelle begrüßte, »es ist ein völlig neues Gebiet, und ich kann dabei von Anfang an mitmischen.« Er merkte, daß sie den Kopf nach allen Seiten drehte und glaubte zu wissen, warum. »Keine Chance, daß Dinny uns hierher gefolgt ist«, beruhigte er sie. »Oh, das sag lieber nicht, Jimper«, protestierte sie. »Aber daran denke ich gar nicht. Ich bin erstaunt, daß man hier überhaupt nichts riecht.« »Es ist eben eine sehr saubere Anlage«, sagte er stolz. »Hier, ein Stück die Straße hinauf, sind Touristenunterkünfte. Ich habe für uns schon Räume gemietet. Mein Termin ist in einer halben Stunde, wir haben also keine Zeit für, – äh – « Sie sah sich neugierig im Raum um, ging ins Bad und kam mit einem recht mürrischen Gesicht wieder heraus. Nun, man hätte sich eine luxuriösere Unterbringung vorstellen können, aber auf jeden Fall war es hier sehr viel besser als in den Höhlen mit den Pilzkulturen! »Komm doch mit«, schlug er vor und hoffte, sie damit ein wenig aufzuheitern. »Es wird interessant werden.« »Ich will doch bei diesem Interview nicht stören – « »Das ist schon in Ordnung. Am Telefon war Mr. Bermutter sehr nett – hier, halt bitte das Prüfgerät fest, damit ich meine Muster sortieren kann – « Bermutter war tatsächlich ein netter Kerl – jung, blond, voller Vertrauen in die Zukunft der Faserproduktion aus Abwasser und begeistert von der Qualität der Entwürfe, die Jimper mitgebracht hatte. »Schöne Farben«, sagte er und prüfte ein Stück nach dem andern, schnell genug, daß es nicht langweilig
wurde, und langsam genug, um den Schöpfer der Entwürfe davon zu überzeugen, daß er sich jedes Muster auch wirklich ansah. »Wie gefällt Ihnen mein Hemd?« Er streckte einen Arm aus, damit sie den Stoff befühlen konnten. »So etwas Ähnliches trage ich im Operationssaal«, sagte Jo-Ellen. »Sehr gut beobachtet! Dieser Stoff gehört zur ersten Partie, die wir verkaufen konnten – Dienstkleidung für Krankenschwestern. Sind Sie Krankenschwester?« »Ich bin Ärztin«, sagte Jo-Ellen lächelnd. »Können Sie dieses Material in verschiedenen Farben herstellen?« »Nun, dafür haben wir Sie ja hier«, sagte er und nickte Jimper leutselig zu. »Da gibt es nur eine Schwierigkeit: es ist noch zu früh, eigentliche Kleidung zu entwerfen. Vorläufig hatten wir an Meterware gedacht. Dennoch – lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie wir es machen!« Und er führte sie aus dem Bürotrakt in eine lange niedrige Halle. Hier war das Glucksen von Flüssigkeiten zu hören, aber sie strömten durch Rohre, von denen die meisten undurchsichtig waren. Der Geruch war nicht schlimm, eher überraschend. Es roch wie in einem Hotelzimmer, in dem man sich zu lange aufgehalten hat. Bermutter öffnete eine Klappe, steckte den Arm in das Rohr und zog etwas heraus, das wie gallertartiger Seetang aussah. »Dies ist das Zeug. Wir trocknen und spinnen es, und der Stoff sieht dann aus wie der meines Hemdes. Er hält ewig. Sehr leicht und sehr strapazierfähig. Ich glaube, das Gewebe, das wir herstellen, ist ein wenig zu fein. Es atmet kaum, und bei heißem Wetter fühlt es sich leicht etwas feucht an.« »Unter der Kuppel gibt es bei uns kein heißes Wetter«, sagte Jo-Ellen. Er grinste bedauernd. »Leider auch, wenn es nur ein bißchen warm ist. Dennoch – das ließe sich abstellen.« Sie ließen sich den
Fabrikationsvorgang erklären. Bakterien, so sagte er, trügen zum Schutz gegen bakterienfressende Viren eine Art Panzer. Diese »Panzer«-Substanzen hießen Polysaccharide und seien von sogenanntem hydrierten Gel umschlossen. Man könne die Bakterien veranlassen, jede Art von Polysacchariden anzusetzen – Chitin, wie es sich im Panzer von Insekten findet, Kollagen und viele andere. Einigen Bakterien gelinge das besser als anderen. Sie hätten mit etwas begonnen, das er Klebsiella nannte, und später auf das sogenannte Acetobacter mylinum – das noch verwendet wurde und den Geruch von faulem Obst verursachte, der Jimper schon aufgefallen war. »Hier«, sagte Bermutter und zog sich das Hemd aus. »Fühlen Sie mal.« Ein schönes Gewebe, das sehr schön fiel und sich schön anfaßte – »Mit diesem Material würde ich sehr gerne arbeiten«, sagte Jimper begeistert. »Nun«, sagte Bermutter, als er sie in sein Büro zurückführte, »hoffentlich bekommen Sie dazu die Gelegenheit. Das geht leider noch nicht gleich. Zuerst müssen wir das Webverfahren und verschiedene andere Dinge in Ordnung bringen – « »Wann, glauben Sie, wird die Produktion anlaufen?« fragte Jimper. »Das ist schwer zu sagen. Aber Ihre Arbeiten gefallen mir – andererseits, Dr. Redfan, werden wir einen Betriebsarzt brauchen, wenn die Produktion voll anläuft, und diesen Arzt müßten wir schon vorher einstellen, damit er uns bei der Planung helfen kann. Wenn Sie also interessiert sind – « Alles in allem war dies also doch nicht das beste Gespräch, das Jimper je geführt hatte. Er bekam den Job nicht, aber JoEllen hatte ein festes Angebot. Als sie wieder in ihrem Zimmer waren, sagte sie ihm, daß sie unglücklicherweise heute morgen ihre Tage bekommen habe. Und als sie am nächsten Morgen aufbrachen und Jimper seine Karte in das Gerät schob, bekam
er nicht nur einen Ausdruck seiner Rechnung. Außerdem erschien eine. Nachricht auf dem Schirm. »Komisch«, sagte der Angestellte, als er sie las. »Sie haben einen Anruf von einem Mann namens Dennis Redfan bekommen, aber er wollte nicht zu Ihrem Zimmer durchgestellt werden, sondern nur eine Botschaft übermitteln.« »Oh, mein Gott«, sagte Jo-Ellen, und Jimper fragte: »Wie lautet denn die Botschaft?« »Auch das ist komisch. Er sagte nur ›Hallo‹.«
Während der nächsten paar Tage hatte Jimper ununterbrochen Angst davor, daß Dinny jeden Augenblick auftauchen und ihm den Schädel einschlagen könnte. Dinny kam nicht; und jetzt hatte Jimper noch mehr Angst, jetzt hatte er Angst, weil Dinny nicht kam. Jetzt, wo alles bekannt war, gab es eigentlich keinen Grund mehr, sich nicht zusammen sehen zu lassen – in aller Öffentlichkeit. Was Jimper betraf, so sah er auch keinen Grund mehr, sich privat nicht mit ihr sehen zu lassen, aber davon konnte er Jo-Ellen nicht überzeugen. »Es lohnt sich einfach nicht«, sagte sie, und damit traf sie Jimper ins Herz. »Und ich will nicht die Konsequenzen tragen.« – Damit traf sie ihn an einer anderen Stelle. »Wenn er es mir heimzahlen will, soll er es nur versuchen«, knurrte er. Jo-Ellen zuckte die Achseln. »Und was das andere anbetrifft, sollst du wirklich nicht – « »Jetzt aber Schluß!« befahl sie. Sie war durchnäßt und gereizt, denn sie hatte in einem Gebäude bei einem Feuer im 55. Stock erste Hilfe leisten müssen. Das Feuer war schnell gelöscht worden – in jedem Gebäude waren Sprinkler-Systeme eingebaut, die ihr Wasser von den Swimming-pools auf den Dächern bezogen – aber sie hatte drei Rauchvergiftete
wiederbeleben müssen, und das in der vom Löschwasser überfluteten Wohnung. »Du hast kein Anrecht auf mich, Jimper!« »Natürlich nicht«, gab er mürrisch zu. »Aber ich denke, wenn du deine Selbstachtung behalten willst – « »Jimper!« »Ich wollte doch nur sagen, daß – « »Schluß jetzt, Jimper!« Sie fuhr mit der Gabel noch einmal in den Salat, von dem sie kaum gegessen hatte, und legte sie dann auf den Tisch. »Es war ein Fehler. Ich bin müde. Ich bin schmutzig. Ich will mich nicht streiten – ich gehe nach Hause.« Sie stand auf und kam um den Tisch herum. Sie zögerte, strich ihm mit der Wange über den Kopf und verließ das Restaurant. Böse erwiderte Jimper die Blicke einiger anderer Gäste, die sofort wegschauten. Finster starrte er auf seinen Teller, aber er hatte auf sein Wasserkastanienquiche keinen Appetit mehr. Es war kein guter Tag. Was ihre Beziehungen anbetraf, wollte sich Jo-Ellen einfach nichts sagen lassen. Sie hatte in allen Einzelheiten über dieses lächerliche Feuer berichtet, und er hatte geduldig zugehört. Aber als er ihr über das komische Erlebnis erzählen wollte, das er am Tag vorher bei der Arbeit gehabt hatte, hörte sie nicht einmal zu. Dabei war es wirklich komisch gewesen: auf einer Inspektionstour hatte er einen seltsamen Geruch wahrgenommen und einen Verstoß gegen die Hygienevorschriften vermutet. Er hatte einen Polizisten geholt, und dann hatte sich herausgestellt, daß der Geruch von einer vietnamesischen Fischsuppe stammte. Und zu allem Überfluß hatte sie vergessen, ihre Rechnung zu bezahlen.
Jimper war ziemlich weit unten in der Stadt, und er war nahe daran, seine Mittagspause zu überziehen. Mit düsterer Miene
bezahlte er seine Zeche und stieg zwei Stockwerke nach unten, um den Expreßbus zu nehmen. Sehnsüchtig schaute er zu den Gebäuden hoch, an denen sie vorbeifuhren. Hier unter der Kuppel der Unterstadt gab es keine besonders hohen. Erst hinter Madison Square war die Szenerie wieder beeindruckend. So viele geeignete Startplätze… Aber auch das war ihm verschlossen. Am Grand Army Plaza stieg er wieder ganz nach unten und eilte zum Ausstellungsgelände hinüber. Unter der hohen Kuppel, unter diesem Ersatzhimmel nahm die Ausstellung langsam Gestalt an. Der Eröffnungstag rückte näher. Die Arbeiten wurden im Eiltempo zu Ende geführt, und die meisten Pavillons und Stände waren fast fertig… die Jobs, in denen er seine Strafe abarbeitete, waren die eigentlichen Höhepunkte seines Lebens, und das ließ ungünstige Schlüsse auf die Qualität seines Lebens zu. Natürlich war Jimper sich dessen vollauf bewußt. Und doch – Zu Jimpers Überraschung besserte sich seine Laune. Eine Ausstellung war schließlich ein Ort, an dem man sich vergnügen sollte. Und das taten die Leute auch. Ein paar Aussteller gaben einigen besonders glücklichen und einigen besonders unglücklichen Leuten eine Vorausschau auf ihre Attraktionen – eine ganze Karawane behinderter Erwachsener rollte, jeder in seinem eigenen Elektrorollstuhl, zwischen den Plastikpyramiden des mexikanischen Pavillons umher. Die Leute riefen oh! und ah!, als die Elefanten auf eine kleine Insel geführt wurden, von wo aus sie an der Eröffnungsparade teilnehmen sollten, und sie stopften sich voll mit GauchoErbsen, Eiscreme, Kuchen, dampfenden Maiskolben, Baklava, gefüllten Kartoffeln – oder wenigstens solchen Leckerbissen, die ihre Diätvorschriften und Prothesen ihnen gestatteten. Jimper mußte ihre Karren in den amerikanischen Pavillon hinein- und wieder aus ihm herausschieben. Ein junger Mann,
der eine scharlachrote Schärpe, ein Halstuch und schwarze Haare trug, wiederholte immer wieder: »Ich bin für heute Ihr Führer. Ich bin Angehöriger des Lenni-Lenape-Stammes, und mein Name ist Alexander.« Zwischendurch schaute Jimper neidisch zur Rainbow-Brücke hinauf, über der immer noch die Fluggeräte schwebten, während Alexander seinen eingelernten Text wiederholte – » – als mein Volk hier lebte, bevor die Holländer und die Engländer kamen – « – und Jimper sagte sich, daß es ihm zwar schlechtging, daß er sich aber im Vergleich mit diesen unglücklichen Menschen wahrhaftig nicht beklagen konnte. Einige hatten weder Arme noch Beine, andere waren an künstliche Herzen oder Lungen oder Nieren angeschlossen. Einige waren blind und trugen Sonargeräte auf dem Kopf. » – diese riesigen Kanus wurden mit Feuer ausgehöhlt – « Er sah, daß Jeff Bratislaw vor dem amerikanischen Pavillon stand und ihn beobachtete, und er überlegte krampfhaft, ob er vielleicht etwas falsch gemacht hatte, aber ihm fiel nichts ein. » – strichen feuchten Lehm auf den Stamm, um das Feuer zu begrenzen, und verteilten dann glühende Kohlen über das Holz –« Bratislaw trat auf ihn zu. »Bist du hier fertig?« fragte er. Jimper sah, daß hier tatsächlich nichts mehr zu tun war, denn die letzte Besuchergruppe hatte den amerikanischen Pavillon schon verlassen. »Gut, dann werden wir dir eine Schaufel besorgen. Ich habe einen andern Job für dich. Übrigens, warst du es nicht, der so gern fliegen wollte?« Jimpers Herz tat einen Sprung, als er Bratislaw folgte. »Ja!! Soll das heißen, daß ich fliegen – « Der Aufseher drehte sich um. »Noch nicht gleich«, sagte er, »aber vielleicht ergibt sich die Möglichkeit. Weißt du, am Eröffnungstag wollen sie tausend Ballons steigen lassen. Das
Wartungspersonal der Kuppel hat sich darüber beschwert. Sie fürchten, daß die Ballons die Luftschächte verstopfen und damit den Luftaustausch stören. Was meinst du? Wenn wir dir ein Fluggerät und einen leichten Speer besorgen – oh, verdammt!« Er unterbrach sich. »Da mißbraucht schon wieder jemand die Lautsprecheranlage!« Er zog sein Telefon aus der Tasche und brüllte Befehle, während aus den Lautsprechern der Lärm illegal abgespielter Musik drang. »Ich hasse diese Kerle«, knurrte er und steckte sein Telefon wieder ein. »Nun? Was hältst du von der Sache?« »Aber natürlich!« sagte Jimper, der schon lange nicht mehr so glücklich gewesen war. »Ich soll die Ballons aufstechen, die den Ärger verursachen, nicht wahr? Kein Problem! Das werde ich sehr gern tun!« »Das dachte ich mir«, sagte Bratislaw lächelnd. »Die Flugzeit wird doppelt gerechnet – und vielleicht kann ich dir auch ein paar Überstunden verschaffen, damit du deine Strafe schneller abarbeiten kannst.« »Das wäre ausgezeichnet«, sagte Jimper begeistert – die Lage wurde immer besser. »Nur – Sie sprachen von einem Speer. Ich soll die Ballons doch nicht mit dieser Schaufel aufstechen?« Bratislaw sah ihn verdutzt an. Dann grinste er. »Ach, jetzt verstehe ich. Nein, es geht um zwei verschiedene Dinge. Wegen der Ballons brauchst du dir erst am Eröffnungstag Sorgen zu machen. Wofür du die Schaufel brauchst«, er öffnete die Tür zum Elefantenstall, »siehst du hier.«
VI
Der Eröffnungstag! In die Ausstellung kam Leben. Durch die Luken hoch oben in der Kuppel fiel glitzernder Schnee in Gestalt von Trockeneis, und Laserstrahlen zeichneten leuchtende Muster in den Nebel. Unter dem alten Springbrunnen in der Ecke des Parks spielte das New York Philharmonie Orchestra Tschaikowskys 1812-Ouvertüre, eine Polka-Band brachte die im See schwimmende Plattform zum Schwanken, und Bläsergruppen schmetterten Souza und Dixieland, während sie um das Ausstellungsgelände herummarschierten. Anderthalb Millionen New Yorker und Touristen drängten sich vor den Eingängen und warteten auf das Signal zur Öffnung der Kassenboxen. Die Luft hing voller Gerüche – es roch nach Schmalzgebackenem, nach Braten, kochender Grillsauce, Karamel und Curry; dazwischen die Ausdünstung der Tiere, die zur Parade aufgestellt wurden, und Gerüche, die von den Ausschachtungsarbeiten unter der alten City stammten, wo die Abfallgruben ausgehoben wurden. Die Geräusche, die interessanten Dinge, die es zu sehen gab, die gespannte Erwartung der Menge – wenn die Erregung in der City irgendwo aufgezeichnet würde, dann wären jetzt schon Spitzenwerte erreicht. Jimper holte seine superleichten Schwingen aus der Umzäunung unter dem Netz, in dem die Ballons darauf warteten, freigelassen zu werden, und spürte, wie die allgemeine Erregung sich auch ihm mitteilte. Es würde ein wunderbarer Tag werden! Hoch oben auf der RainbowBrücke von wo er abspringen würde, standen Jo-Ellen und ihr Sohn, die dort auf ihn warteten. Sie sahen wie winzige Puppen
aus und winkten in seine Richtung. Er winkte zurück und nahm sein Gerät auf. »Hallo, James Percy«, sagte eine fröhliche Stimme hinter ihm. »Oh, mein Gott«, sagte Jimper. Schon bevor er sich ‘umdrehte, wußte er, wen er sehen würde. »Hören Sie zu, Dennis!« fing er an. »Ich will keinen Ärger, und was Sie tun, ist kriminell – « »Was tue ich denn?« fragte Dinny ganz sachlich. Er machte eine Bewegung mit dem Gasschlauch, den er in der Hand hielt. »Wir arbeiten doch alle hier nur unsere Strafen ab. Ich fülle die Ballons, und Sie stechen sie nachher auf. Wenn wir irgendwelche persönlichen Dinge zu regeln haben, tun wir das später, okay?« Jimper trat einen Schritt zurück und hielt die dünnen, mit Puder bestreuten Schwingen wie einen Schild vor sich. Eine Prügelei hätte er überstanden – so oder so – aber mit dem plötzlich so vernünftigen Verhalten des Ex-Ehemannes seiner Freundin wurde er nicht so leicht fertig. »Okay«, sagte er endlich. »Ich wußte gar nicht, daß Sie hier arbeiten.« »Aber von Ihnen wußte ich das«, sagte Dinny freundlich. »Wissen Sie, diese Ballons steigen in etwa zwanzig Minuten auf. Sie sollten lieber an den Start gehen.« Jimper zögerte. Er wußte nicht warum. Dinny Redfan war der letzte, den er hier hätte treffen mögen, und er war selbst überrascht, daß er nicht so schnell wie möglich verschwand. Aber Redfan wandte sich schon ab, zog einen weiteren Ballon über den Schlauch, ließ das Gas hineinzischen und verknotete den Ballon. Er sah Jimper nicht mehr an, aber er rief ihm über die Schulter zu: »Nutlark? Warum wollen Sie Ihr Glück denn so strapazieren?« »Okay«, sagte Jimper und ging rückwärts. Er drehte sich erst um, als er sich mindestens fünf Meter entfernt hatte, und selbst
dann zuckte er so lange nervös mit den Schultern, bis er den Fahrstuhl erreicht hatte, der ihn zur Rainbow-Brücke emportrug. Auf dem Weg zur Höhe von etwa fünfzig Stockwerken überlegte er, ob er Jo-Ellen in Gegenwart des Jungen von dieser Begegnung erzählen sollte. Aber die Sorge war unnötig. »Verdammt, Jimper«, sagte der Junge atemlos, »ich war sicher, daß Dinny dich schon dort unten zusammenschlagen würde!« Er wirkte eher freudig erregt als erschrocken, fand Jimper, aber Jo-Ellen schaffte einen Ausgleich. »Was hat er zu dir gesagt?« fragte sie und hörte besorgt zu, als Jimper sie über die Glanzlichter der Konversation informierte. Sie schüttelte den Kopf und nahm ihrem Sohn das Fernglas ab. Sie richtete das Glas auf die Stelle im Park, wo Dinny fröhlich einen Ballon nach dem andern füllte und in das Netz entließ. »Er sieht nicht aus, als sei er wütend, aber das tut er nie. Er lächelt auch noch, wenn er zuschlägt.« »Das ist ja nett von ihm«, sagte Jimper entsetzt und steckte die Arme in die Gurte seines Geräts. »Ich glaube nicht, daß er dir etwas tun wird, Jimper«, bemerkte der Junge weise. »Er muß schon eine Million Stunden abarbeiten. Beim letzten Mal war es schwere Körperverletzung, sagten sie, denn der Mann hätte sterben können.« »Machst du bitte die Schnalle zu?« bat Jimper. »Gern, aber vergiß nicht: er kann sich keine Verurteilung mehr erlauben. Er würde die Strafe nicht abarbeiten können. Beim nächsten Mal sperren sie ihn endgültig ein.« Jimper trat ein Stück zurück, während Jo-Ellen und der Junge prüften, ob die Schwingen richtig eingerastet waren. »Glaubt ihr das wirklich?« fragte Jimper. »Da gibt es überhaupt keinen Zweifel«, versicherte Will. »Hier wird er dir nichts tun, das steht fest!« Und als Jimper
den Startknopf drückte und die Wasserstoffturbine aufheulte, fügte der Junge hinzu: »Es ist natürlich etwas anderes, wenn er dich allein erwischt und niemand es sieht.«
Er hatte zuviel Zeit dazu gebraucht, sich in Position zu bringen, und die Ballons stiegen schon aus dem Netz nach oben, bevor er genügend Auftrieb hatte. Aber sie stiegen nicht sehr schnell. Das sollten sie auch nicht. Man hatte irgendein schweres Gas mit dem Helium zusammengebracht, so daß die Ballons nur wenig leichter waren als die Luft, in der sie schwebten. Aber sie waren ein ganzes Stück von der Brücke entfernt. Deshalb schwang Jimper sich herum, gab den Schwingen den richtigen Anstellwinkel und stieg gemächlich zu den hohen Gebäuden auf, die er vor kurzer Zeit erst verlassen hatte. Er brauchte nur Auftrieb. Die Ultraleichten stiegen gut, wenn auch nicht sehr schnell; eine gute Thermik würde ihn über den Schwarm Ballons hinwegtragen, und er könnte sie dann in aller Ruhe zum Zerplatzen bringen… Nein. Ein ruhiger Job würde das nicht werden. Es waren Hunderte von Ballons, und sie blieben dicht zusammen. Als er auf sie zuflog, waren sie noch keine hundert Meter hoch, aber sie hatten sich schon über den ganzen Himmel verteilt. Sie stiegen einfach nicht schnell genug auf, um eine Einheit zu bilden. Jeder leise Luftzug, jeder Wärmehauch, der von den Imbißständen aufstieg, trieb sie in diese oder in jene Richtung. Gemeinsam war ihnen nur, daß sie alle nach oben stiegen. Es hatte keinen Zweck, sie schon in hundert Metern Höhe anzugreifen. Dort richteten sie keinen Schaden an. Erst oben an den Luftklappen der Kuppel, in fünfhundert Metern Höhe, wurden sie lästig. Er mußte bis unter die Kuppel steigen und dort auf die Ballons warten. Einige würden dort oben von selbst platzen. Manche würden in Bäumen, an Gebäuden, unter
Brücken oder unter Fußgängerpassagen hängenbleiben – an den Ecken und Kanten der alten aus Stein gemeißelten Wasserspeier, an den Resten ausgedienter Fernsehantennen, an den Metallteilen der Kuppelbedachung selbst. Er brauchte sich nur um den Rest zu kümmern, hauptsächlich die Ballons, die in so großer Zahl in die Nähe einer Luftklappe geraten waren, daß sie ein Problem darstellten. Er mußte ganz nach oben und auf sie warten. Und natürlich war Jimper sehr froh, daß er diesen Job übernehmen konnte. Auf der Suche nach günstiger Thermik flog er über dem Ausstellungsgelände eine Schleife. Er genoß das unbeschwerte Schweben hoch in der Luft, und er stieg rascher als die Ballons. Er war so glücklich wie schon lange nicht mehr. Die ganze City lag unter ihm. Die Kuppel des alten Planetariums, die klobigen Umrisse des Metropolitan Museum of Arts und daneben die bis zur Unkenntlichkeit verkürzte Nadel der Kleopatra. Die Parade mit den Elefanten hinter den tänzelnden Pferden hatte schon die Mitte der Rainbow-Brücke erreicht, und aus der Ferne hörte er die Musik nur noch dünn und undeutlich. Er schwebte jetzt über den alten Hotels am Rand des Parks, fast schon über den neueren, oben offenen Wolkenkratzern, die nach Fertigstellung der Kuppel gebaut worden waren. Er sah den alten Waldorf Tower mit seinen Zwölf-Zimmer-Suiten, in denen alte Präsidenten und Generale ihren Tod erwartet hatten. Dort drüben, von ihm abgewandt, stand die Solarzellenfassade der Citi-Corp, die jetzt für immer blind bleiben würden. Weiter hinten die Chrysler-Nadel und das gefällige Oval des Pan-Am-Gebäudes. Die Besucher, die immer noch auf das Ausstellungsgelände strömten, bildeten zwischen den Pavillons ein Muster von bunten Tupfen. Weiter oben im Park blühten die Ingwerpflanzen und die Bananenstauden des botanischen Gartens. Alles in allem war
es für Jimper der schönste Flug seines Lebens – und der Flug war legal. In der Nähe aufblitzendes grünes und blaues Licht erinnerte ihn daran, daß er auch ein wenig gefährlich war. Er schwebte jetzt hoch oben, wo die Kondensationskristalle des CO2 einen Nebelschleier entstehen ließen, und immer wieder schossen die Laserstrahlen durch diesen Nebel. Einen solchen Strahl ins Auge zu bekommen, wäre kein Spaß mehr. Er schob sich die Schutzbrille vor die Augen und prüfte die Schnur, mit der der Speer an seinem Gürtel befestigt war – was für ein Geschoß würde er abgeben, wenn er ihn in die Menge fallen ließ! Knapp hundert Meter unter sich sah er die ersten Ballons auf sich zukommen. Jimper grinste zu den TV-Kameras hinauf, die von der Kuppel aus auf ihn gerichtet waren. Er stieß einen lauten Freudenschrei aus. Dann beugte er sich vor, brachte seinen Speer in Position und schwebte zu den Ballons hinab. Plopp-plopp-plopp erledigte er gleich drei nacheinander. Eine angenehmere Art, seine Strafe abzuarbeiten, hätte er sich nicht vorstellen können. Es war überhaupt keine Strafe. Es war nicht einmal Arbeit. Es war das reinste Vergnügen mit einem Hauch von mittelalterlicher Turnieratmosphäre. Als er eine Kurve flog und wieder aufstieg, um die Ballons zu treffen, die er verfehlt hatte, glaubte er aus der Menge tief unter sich schwachen Applaus zu vernehmen. Ein paar Dutzend Ballons später machte es nicht mehr ganz so viel Spaß. Die Ballons stiegen jetzt schneller auf, als ihm lieb war; seine Vermutung, daß sie hier oben von selbst platzen würden, bestätigte sich nicht. Er geriet in gefährliche Nähe der Luftschächte; der Luftzug war für sein ultraleichtes Fluggerät zu stark, viel zu stark, als daß die winzige Wasserstoffturbine etwas dagegen hätte ausrichten können. Und er nahm einen seltsamen Geruch wahr, den er nicht identifizieren konnte – vielleicht stammte er von den Plastikteilen der Kuppel,
vielleicht auch vom Auspuff seiner Turbine, jedenfalls wurde ihm von dem Geruch schwindlig. In diesem Augenblick blitzten die Laserstrahlen wieder auf. Vom Boden aus mußte es ein schöner Anblick sein – rote und grüne und violette Lichtpfeile durchschnitten den leichten CO2-Nebel und wurden von den aufsteigenden Ballons reflektiert. Aus der Nähe war der Anblick eher furchterregend. Immer wenn ein Strahl ihn erreichte, ja, sogar, wenn ein Ballon ihn zurückwarf, wurden die Gläser seiner Schutzbrille für einen Augenblick schwarz. Das schonte zwar seine Augen, aber es brachte seine Reflexe durcheinander. Ihm wurde im falschen Augenblick schwarz vor Augen, und er verfehlte drei Ballons; er kurvte, zielte und durchstach zwei von ihnen. Dann geriet er ins Trudeln, fing sich wieder und wurde im Geschirr seines ultraleichten Geräts heftig hin und her geschleudert. Dann flog er wieder geradeaus. Was war nur mit ihm los? An der Höhe konnte es nicht liegen – in dieser Höhe hätte nicht einmal ein Anfänger Schwierigkeiten bekommen. Es war auch nicht die Anstrengung… und gewiß auch nichts, was er gegessen hatte… ihm fiel einfach nichts ein; aber die Ballons verschwammen vor seinen Augen, und seine Reflexe waren deutlich beeinträchtigt. Ein Lichtblitz, und die Gläser wurden wieder schwarz; plopp-plopp, und wieder platzten vor ihm zwei Ballons – und jemand rief seinen Namen. Jimper! Lieber Jimper – Wer konnte denn hier oben mit ihm sprechen? Das war unmöglich. Niemand war in der Nähe. Kein Mensch war zu sehen. Außerdem klang es kaum wie eine menschliche Stimme: zu laut, zu entfernt, zu unscharf, als käme die Stimme gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen. Das stimmte. Sie kam aus den Lautsprechern der TVAußenstationen, und es war eine Stimme, die er kannte. Oh,
Jimper, schluchzte sie, komm runter – bitte! Dinny hat irgendwas in die Ballons getan – Nun, dachte Jimper vergnügt, das würde den seltsamen Geruch erklären, nicht wahr? Aber er hielt den Gedanken für absurd. Welchen schädlichen Stoff hätte jemand wohl in die Ballons tun können? Es war lächerlich. Es hätte zum Beispiel unmöglich schuld daran sein können, daß sein Fluggerät völlig außer Kontrolle geraten war und er zum Boden herabflatterte, daß das Ausstellungsgelände sich unter ihm drehte, die hohen Gebäude um ihn herumwirbelten und er nur ein paar hundert Meter weiter unten aufzuprallen drohte – Als ihm endlich klar wurde, daß es wichtiger war, das Problem zu lösen, als über seine Ursachen nachzudenken, reichte seine Flughöhe gerade noch aus, die wild flatternden Schwingen festzuhalten, den Sturz abzufangen und den Bäumen auszuweichen, die auf ihn zurasten. Ihm war immer noch ganz wirr im Kopf. Er wußte nicht, ob er gerettet war, bis er merkte, daß er, die Arme noch im Geschirr, in einem See schwamm, und daß die Wasserstoffturbine verstummt war und ihn unter das Wasser zu ziehen versuchte. Das wäre ihr vielleicht gelungen, wenn der See tiefer als einen Meter gewesen wäre.
Und als er halb ans Ufer gewatet war, kam Jo-Ellen ihm schlammspritzend entgegen, und ihr Sohn folgte ihr mit Begeisterung. »Das war eine richtige Horror-Show, als du da so runterkamst!« rief Will. Jo-Ellen versuchte, ihn von seinem Geschirr zu befreien. »Es wird tatsächlich zur Gewohnheit«, sagte sie. Und als er (fast) sauber und (gründlich) verbunden war und das Ausstellungsgelände erreicht hatte, standen dort die Tanks mit Stickstoffoxyd, in denen gewöhnlicher Stickstoff hätte sein müssen, und der Aufsichtsbeamte der Ausstellung,
der, genau wie er selbst, hier eine Strafe abarbeitete, erklärte stolz: »Und als die Ärztin anrief und mir sagte, was sie von der Brücke aus gesehen hatte, habe ich ihn mir sofort geschnappt. Es ist schon sein fünfter Verstoß, und er wird seine Strafe in Idaho abarbeiten. Vielleicht auf den Aleuten! Vielleicht zehn Jahre!« Und als sie der Ausstellung den Rücken gekehrt hatten und wieder in Jo-Ellens Wohnung waren, sagte der Junge mit wichtiger Miene: »Ich weiß, was du essen willst, und deshalb gehe ich raus und fange ein paar große!« Und als er mit einem Sieb voll zirpender und hüpfender großer Grillen wieder hereinkam, sah er Jimper an, der mit dem Kopf auf Jo-Ellens Schoß lag, und sagte: »Ich habe darüber nachgedacht. Ein Junge braucht doch einen Vater, nicht wahr? Und es sieht so aus, als sollte ich meinen richtigen längere Zeit nicht wiedersehen. Da habe ich mir gedacht, daß du vielleicht weißt, wo man einen Ersatz finden kann?« Und Jimper Nutlark (Leb wohl, Atlanta-Lady; good-bye, Tochter von Mawzi Freres) lächelte zu der Frau hinauf, der der Schoß gehörte, und sagte: »Tatsächlich, altes Mädchen, ich glaube, das weiß ich.«
ICH BIN VIERUNDACHTZIG JAHRE ALT,
wenn man es mir auch nicht ansieht. Über die Jahre hat man meine Gefäße repariert, die meisten meiner Sinne erneuert und aus meinem Gesicht das gespenstische Aussehen entfernt. Obwohl siebenundfünfzig Jahre vergangen sind, seit ich an der juristischen Fakultät der Columbia University mein Abschlußexamen bestand, praktiziere ich immer noch, wenn es mal sein muß – oder, was eher der Wahrheit entspricht, in den sehr seltenen Fällen, wo jemand, der einen Anwalt braucht, an mich verwiesen wird. Ich habe viele Veränderungen erlebt. Ich habe erlebt, daß achtzig Prozent der in den Gesetzbüchern niedergelegten Straftatbestände abgeschafft und fast alle Gründe für zivile Rechtsstreitigkeiten wegverbessert wurden. Ich habe erlebt, daß Computer die Gerichtsangestellten und sogar den einen oder anderen Richter ersetzten – und ich habe sogar Verträge und Testamente gelesen, zu deren Verständnis man keinen Anwalt braucht. Aber nie im Leben hätte ich erwartet, so etwas kennenzulernen wie
Gwenanda und das Oberste Gericht
I
Der Vertreter der Anklage war eine Maus, die Angeklagte war ein geborenes Untier, und der Tag fing wirklich nicht gut an. Der Sitzungssaal des Obersten Bundesgerichts war gerammelt voll. Heute hatte man die Kandidaten für die nächste Amtsperiode in den Saal gelassen, damit sie sich ein Bild davon machen konnten, wie ein Verhandlungstag abläuft. Es waren vierzig Leute. Hinzu kamen die Leute, die immer wieder mal hereinschauten. Manchmal hatte Gwenanda es gern, wenn das Haus voll war. Wenn man ein lebhaftes Publikum hatte, und wenn viel argumentiert wurde, konnte ein Fall wirklich Spaß machen. Aber heute waren alle zu Tode gelangweilt. Die Hälfte der Anwesenden schaute nicht einmal zum Zeugenstand hinüber. Sie lasen oder dösten vor sich hin, und einige verfolgten sogar die Sprüche, die in Leuchtbuchstaben ununterbrochen über die Saalkuppel zogen. Jetzt lief da gerade: »Verträge ohne das Schwert sind nur Worte und haben nicht die Kraft, einem Mann Sicherheit zu gewähren.« – Thomas Hobbes. Gwenanda seufzte und duckte sich unter ihren Tisch, um gegen die Langeweile rasch einen Zug aus ihrem Joint zu nehmen, als Richter Samelweiss auf dem Weg zur Toilette an ihr vorbeikam. Sie wußte, daß es Samelweiss war. Keiner der anderen Richter hätte Gwenanda bei dieser Gelegenheit in den Hintern gekniffen. »Ich will verdammt sein, wenn dieses Weib nicht schuldig ist«, murmelte er im Vorbeigehen. »Geht dieser Tag denn überhaupt nicht zu Ende?«
»Schalte dein Gerät ein, Alter«, sagte Gwenanda, als sie sich wieder aufrichtete. Man konnte nie wissen, wann irgendein mit den Vorschriften vertrauter Angeklagter sich über einen Verfahrensfehler beschwerte, bloß weil ein Richter seine Kopfhörer nicht eingeschaltet ließ, wenn er zum Pinkeln ging. Und gerade dieser Angeklagten war das durchaus zuzutrauen. Man mußte Samelweiss allerdings zubilligen, daß hier wirklich nichts gesagt wurde, was ein vernünftiger Mensch hätte hören mögen. Die Angeklagte, dieses Untier, hatte sich eine Redezeit von zwanzig Minuten erbeten, um eine Erklärung abzugeben, und Samelweiss, dieser alte Narr, hatte sie ihr gewährt. Wahrscheinlich nur, weil er austreten mußte. Inzwischen redete sie schon sechs oder sieben Minuten. Es war entsetzlich langweilig. Es war eine einzige Anklage gegen die Gesellschaft, von der sie auf vielfältige Weise verbogen und brutalisiert worden sei. Deshalb sei nichts von dem, was man ihr vorwerfe, ihre eigene Schuld. Inzwischen war sie bei dem tyrannischen Lehrer angelangt, der sie in der ersten Klasse unterrichtet und ihr das Etikett Diebin angehängt hatte. Sie wurde von einem lauten Piepen unterbrochen – es kam von einem der Blechzwillinge. »Moment mal, Darling. Sie haben dem Lehrer doch die Brieftasche gestohlen, oder etwa nicht?« Verärgert über die Unterbrechung, schwieg die Angeklagte einen Moment. »Was?« rief sie dann. »Nun, ja. Aber ich war doch erst ein Kind, Euer Ehren.« »Und dann haben Sie laut Anklageschrift Ihren Mann erstochen, stimmt das?« »Aber nur weil die Gesellschaft mich geächtet hat, Euer Ehren.« »Richtig«, sagte der Zwilling und verlor jedes Interesse. Gwenanda sah, daß es Ai-Max war. Sie beneidete ihn. Wenn ein wirklicher Richter einschlief, merkte man es in der Regel
daran, daß er anfing zu schnarchen. Wenn die Blechzwillinge ausfielen, gab es keine äußeren Anzeichen, und deswegen konnten sie sich alles erlauben. »Nun beeilen Sie sich endlich«, fuhr Gwenanda die Angeklagte an und schaute auf ihren Schirm, um den Namen festzustellen. Donna Maris Delius. »Heh, Delius, kommen Sie bitte zum Schluß!« Die Angeklagte warf ihr einen haßerfüllten Blick zu, las einen Augenblick in ihren Notizen und fuhr dann fort: »Als ich acht Jahre alt war, hatten alle anderen Kinder Videospiele, aber meine Familie war zu arm…« Gwenanda seufzte und hoffte, daß Samelweiss bald zurückkommen würde, um die Angeklagte rasch auszuzählen. Unter der gerundeten Kuppel des Sitzungssaals erschien ein neues Motto: »Wir haben eine Verfassung, aber was die Verfassung ist, bestimmen die Richter.« – Charles Evans Hughes. Gwenanda lehnte sich zurück und gab verstohlen ein neues Schlüsselwort in ihren Computer ein. Gehorsam zeigte er auf dem Schirm eine Karte von Nordamerika. Vom Yukon bis halb nach Mexiko hinein waren hellrote Linien eingezeichnet, und die Legende darunter lautete: NAFUP DAS NORDAMERIKANISCHE FLUSSUMLEITUNGSPROJEKT Mürrisch studierte sie die Karte. Warum gab es in der östlichen Hälfte des Kontinents keine vernünftigen Flüsse? Und warum mußte Kriss Ingenieur und Experte für Flußregulierung sein? Und wenn diese beiden Tatsachen unverrückbar feststanden, warum konnte sie nicht mit ihm gehen, wenn er dorthin ging, wo seine Arbeit war? Es war nicht nur dieses Untier von einer Angeklagten, die ihr den Tag
versaute, es war auch ihr Leben selbst. So großartig mochte es in Tucson nicht gewesen sein, aber seit sie ihre Einberufung erhalten und sich zum Kandidatenkorps des Obersten Bundesgerichts gemeldet hatte – das war in Atlanta – war alles ziemlich durcheinandergeraten. Richterin am Obersten Bundesgericht hörte sich nicht schlecht an, wenn man an die Alternativen dachte, aber wenn man die Alternativen aussortierte, wußte man noch von Gerichtsvorsitzenden, die einen in den Hintern kniffen, und von Tagen, an denen zwei Morde, eine Urkundenfälschung und ein Prozeß um zwei Milliarden Dollar auf der Tagesordnung standen. Wie lautete noch der schöne Spruch von dem Schwert, mit dem man die Einhaltung der Regeln erzwingen müsse? Nun gut, dachte Gwenanda, bringt das Schwert herein. Und in eben diesem Augenblick fiel das Schwert. Die zwanzig Minuten waren um. Ein Piepen aus den Lautsprechern erinnerte daran, daß die Zeit abgelaufen war, und mitten in einem Wort wurde das Mikrophon der Angeklagten ausgeschaltet. Samelweiss beeilte sich, seinen etwas erhöhten Sitz in der Reihe zu erreichen, und konnte noch rechtzeitig seine eigene Sprechanlage einschalten. Seine verstärkte Stimme drang bis in den letzten Winkel des halbkreisförmigen Saals. »Gut«, sagte er. »Dies ist ein Fall für ein schnelles Urteil, wenn es je einen gegeben hat, und ich werde die Kugel ins Rollen bringen. Schuldig. Was meint ihr, Leute?« Die Angeklagte stieß wütend immer wieder ihren Anwalt an. Der Anwalt selbst war entsetzt. »Äh, Sir«, sagte er, »es gibt doch noch weitere Zeugen…« Aber seine Worte gingen im Chor der Richter unter: »Schuldig.« »Das höre ich gern«, sagte Samelweiss und bedachte die anderen Richter mit freundlichen Blicken. »Und jetzt kommen wir zum Urteil. Ich bin für Einfrieren. Oder haben Sie andere –
Moment mal. Was gibt’s, Herr Anwalt?« fügte er stirnrunzelnd hinzu, denn der Verteidiger gestikulierte wild. Schlimmer noch, seine Mandantin flüsterte ihm etwas ins Ohr und kratzte dabei mit den Fingernägeln am Mikrophon. Die Statikgeräusche klangen, als quietschte Kreide auf einer Tafel. Samelweiss’ Finger näherten sich bedrohlich dem Abschaltknopf. Der Anwalt nickte und rief: »Sie will wissen, was aus dem Kind werden soll.« Gwenanda hatte sich vorgebeugt und war gerade im Begriff, dem Urteil auf Einfrieren zuzustimmen. Aber mitten im Satz überlegte sie es sich anders. »Welches Kind?« fragte sie. »Mein Kind. Meins und das meines Mannes – ich meine, des Verstorbenen. Erst drei Jahre alt. Weiblich. Wollen Sie sie zur Waise machen?« Schwaches und nachdenkliches Piepen eines der Blechzwillinge. Bedächtiges Husten der Richterin Myra Haik am Ende der Reihe. Schweigen bei den übrigen Richtern, bis Gwenanda das Wort ergriff. »Offensichtlich«, sagte sie, »müssen wir diese Angelegenheit noch überdenken, Leute. Ich meine, wir sollten uns mit dem Urteil noch Zeit lassen.« Es gab zustimmendes Gemurmel von allen Richtern. »Das ist hiermit verfügt«, sagte Samelweiss zustimmend. »Und nun kommen wir zum nächsten Fall. Ist das nicht der Idiot, der uns auf zwei Milliarden Dollar verklagen will? Gut. Er soll verdammt seinen Arsch in Bewegung setzen, und das ein bißchen plötzlich.« Zufrieden las er den Spruch, der jetzt in Leuchtbuchstaben über die Kuppeldecke zog: »Warum sollte man nicht geduldig darauf vertrauen, daß einst unter den Menschen Gerechtigkeit herrschen wird? Gibt es eine bessere und für alle gültigere Hoffnung in der Welt?« – Abraham Lincoln.
Vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten von Amerika wurde kaum je etwas ohne Streit entschieden. Das galt gegenwärtig als eine seiner größten Tugenden: daß das Richterkollegium alle Gesichtspunkte prüfte und daß jedes Argument seinen Fürsprecher hatte. Im Augenblick stritten sie sich darüber, ob sie sich mit dem Verrückten beschäftigen sollten, der die Vereinigten Staaten auf zwei Milliarden Dollar verklagen wollte, oder ob es nicht Zeit sei für eine Mittagspause. Gwenanda hielt sich aus der Diskussion heraus, denn sie mußte plötzlich an etwas Wichtigeres denken. Sie schaute zu Donna Maris Delius hinüber, die ihren Anwalt mit hysterischen Vorwürfen verfolgte, als er aus der Tür flüchtete. Dabei gab sie einige Befehle in ihren Computer ein. In leuchtenden Farben erschienen der Name und die persönlichen Daten der Angeklagten auf dem Schirm: Donna Maris Delius, 28 Jahre alt, verheiratet, Dale Lemper (verstorben), 1 Kind, weiblich. Gwenanda drückte den Löschknopf und holte weitere Einzelheiten aus der Akte auf den Schirm, zuerst den Bericht des amtlichen Leichenbeschauers: vierzehn schwere Schläge mit einem stumpfen Gegenstand und acht Stichwunden. Die Frau hatte ihren Mann nicht nur mit einer Branntweinkaraffe erschlagen, sondern diese auch noch auf seinem Kopf zertrümmert, um schließlich mit den zersplitterten Resten auf ihn einzustechen. Wieder tippte Gwenanda etwas ein – flick, flick – weitere Berichte – flick – ein fünf Jahre vorher aufgenommenes Hochzeitsbild des Untiers und seines Opfers – flick. Da war es. Das Bild eines dreijährigen Mädchens mit einem Finger in der Nase und einem zerknautschten Spielzeugkaninchen in der Hand. Ein hübsches Kind. Wenigstens zur Zeit der Aufnahme. Gwenanda rief weitere Informationen ab. Das Kind hieß Maris Delius Lemper, und
die Aufnahme war vor etwas über einem Jahr gemacht worden. Mit vier Jahren müßte das Mädchen schon stubenrein sein und einigermaßen sprechen können. Wahrscheinlich würde sie bald die Vorschule besuchen, wenn sie es nicht schon tat. »Was?« sagte Gwenanda und schaute hoch, als jemand ihren Namen rief. »Sie müssen uns ein wenig mehr Aufmerksamkeit widmen, Gwenanda«, sagte Richter Samelweiss streng, »wir stimmten nämlich gerade ab. Dieser Spinner mit den zwei Milliarden Dollar ist jetzt an der Reihe, und ich hätte gern gewußt, wie dieser Witzbold aussieht, aber Mary Joan…« »Mary Joan hat heute noch nicht gefrühstückt«, schimpfte Mary Joan Whittier vom anderen Ende der Reihe, »und deshalb braucht sie eine Stunde Mittagspause. Was meint ihr, Kinder?« »Natürlich machen wir jetzt Mittagspause«, sagte Gwenanda. »Ich muß telefonieren.«
Gwenanda war die letzte, die wieder auf ihrem Richterstuhl Platz nahm, und der Vorsitzende Richter Samelweiss warf ihr einen wütenden Blick zu. Er sagte allerdings nichts, denn er war zu gespannt auf das, was jetzt kommen würde. »Gerichtsdiener«, rief er, »bring den Idioten rein.« Auch die anderen Richter waren gespannt und fast in Party Stimmung – natürlich mit Ausnahme der Blechzwillinge. Selbst Gwenanda setzte sich aufrecht hin und ordnete ihre wallende Frisur. Mit ihren Telefonaten hatte sie allerdings Pech gehabt. Sie hatte die Person nicht erreicht, mit der sie sprechen wollte, und jetzt war sie halb entschlossen, und halb wußte sie nicht, ob sie es wagen sollte. Der Sitzungssaal war wieder gerammelt voll, und die Leute kicherten und sahen sich neugierig um und flüsterten miteinander, als der Verrückte
hereingeführt wurde. Der Verrückte war ein Mann von Ende fünfzig und konservativ gekleidet. Er trug lange Hosen, Halbschuhe und ein dunkles Hemd. Mit einem strahlenden Lächeln schaute er sich im Saal um, und dann fiel sein Blick auf die Leuchtschrift unter der Kuppel. Das Motto lautete jetzt: »Es gibt kaum eine politische Frage, die nicht früher oder später zu einer Rechtsfrage wird.« – Alexis de Tocqueville. Der Verrückte las die Worte aufmerksam und wandte sich dann den Richtern zu. Sein Gesichtsausdruck gefror. Er schluckte, stolperte über das Bein seines Anwalts und setzte sich. Er starrte immer noch zu den Richtern hinauf. »Nun gut«, sagte Samelweiss ungeduldig. »Sind Sie der, wie wollen wir das nennen, der Kläger?« Besorgt flüsterte der Verrückte seinem Anwalt etwas zu, der daraufhin laut sagte: »Treten Sie einfach vor und nennen Sie Ihr Anliegen, okay?« »Ja«, sagte der Verrückte und stand auf. »Okay.« Er verbeugte sich vor dem Gericht. »Ladies and Gentlemen«, sagte er – die Richter flüsterten untereinander, und einige Zuschauer kicherten – »Hohes Gericht, meine ich, mein Name ist Horatio Margov. Richter Horatio Margov, denn in meinem früheren Leben hatte ich selbst die Ehre, diesem Gericht anzugehören. Ich bitte um die Erlaubnis, meine Sache durch meinen Anwalt vortragen zu lassen.« Alle neun Richter kicherten jetzt, und Gwenanda verdrehte den Hals, um besser sehen zu können. So etwas war in der Grundausbildung nicht durchgenommen worden, nicht einmal während des harten Trainings in der Kadettenanstalt. Sie drehte sich um, weil sie sehen wollte, wie Samelweiss mit diesem Fall fertig wurde. Der flüsterte mit seinem digitalen Kollegen. »Oh, natürlich«, sagte er dann und nickte. »Ich
verstehe. Er will, daß Wally Amaretto hier raufkommt und mit uns redet. Komm, Wally, was hat das Ganze zu bedeuten?« Amaretto war groß, schwarz und salopp und hätte fast ein beim Obersten Gerichtshof angestellter Anwalt sein können. Er seufzte, trat vor und nickte den Richtern zu. »Hallo Sam, Gwenanda, D. C. wie steht die Schachpartie? Hört zu, gibt es keine Möglichkeit, mich zu feuern und für diesen Trottel einen anderen Anwalt zu bestellen?« »Leider nein.« Samelweiss zwinkerte ihm zu. »Was sind denn seine Probleme?« »Welches meinen Sie? Nun, erstens hat er nicht erwartet, daß Sie so aussehen, wie Sie aussehen.« Samelweiss war ehrlich verblüfft. »Wie sehen wir denn aus?« fragte er und schaute sich unter seinen Kollegen um. »Wir tragen doch alle unsere Roben.« »Ich glaube, er meint hauptsächlich die Blechzwillinge. Er sagt, er sei Richter gewohnt, die wie Menschen aussehen und nicht wie ein Abfalleimer oder ein Staubsauger. Und er sagt, zu seiner Zeit seien die Gerichte oben unter Gottes Sonne gewesen und nicht tausend Fuß unter der Erde wie ein Haufen verdammter Maulwürfe.« »Was heißt ›Fuß‹?« fragte Gwenanda. »Das war früher ein Längenmaß«, erklärte Amaretto. »Aber das ist erst der Anfang. Er verlangt, daß der Prozeß um dreißig Tage verschoben wird, damit seine Zeugen sich auf ihre Aussage vorbereiten können.« Jetzt waren die Richter schockiert. »Hier gibt es keine Zeugenaussagen, Wally! Wir haben keine Zeit, uns anzuhören, was irgendwelche Idioten hier aussagen wollen!« Der Verrückte lauschte der Unterhaltung mit einer Mischung aus Wut und Unglauben. »Das war nicht bös gemeint!« rief Gwenanda ihm zu.
»Aber er besteht darauf«, fuhr Amaretto fort. »Er sagt, ein korrekter Prozeß muß nach dem Fallrecht und den für die Beweisführung gültigen Regeln durchgeführt werden, das ist alles.« »Und Sie unterstützen diesen Idioten dabei auch noch?« rief Mary Joan. Amaretto drehte sich zu ihr um, und in seinen Augen blitzte Widerspruch auf. »Auch das erwartet er, verdammt nochmal. Er sagt, wenn es bei einem Prozeß eine Gegenpartei gibt, muß ich seine Partei ergreifen, ganz gleich was geschieht. Und irgendein anderer Anwalt vertritt die Gegenpartei, und wir beide lügen so gut wir können, damit wir das Urteil bekommen, das wir haben wollen, ich meine natürlich, das er haben will.« Unter den Zuhörern entstand Unruhe. »Oh, nein«, rief Gwenanda ungläubig, und Samelweiss sagte: »Sie müssen das falsch verstanden haben, Wally. Wenn Ihre Partei nun im Unrecht ist?« »Selbst dann«, beharrte der Anwalt. Für einen Augenblick trat Stille ein, und die Richter versuchten das eben Gehörte zu verdauen. Dann ertönte vom anderen Ende ein Piepen. »Was willst du?« fragte Samelweiss und fügte grinsend hinzu: »Du Abfalleimer.« »Wenn ich es recht verstanden habe, ist D. C. der Abfalleimer«, warf Wally ein, »und Angel der Staubsauger.« »Wie dem auch sei«, sagte der Vorsitzende Richter, und Angels Stimme fragte mißtrauisch: »Warum kommt er dann nicht rauf und redet mit uns, wie Wally es tut?« »Auf keinen Fall«, erklärte Samelweiss. »Wally, geh wieder an deinen Platz, und wir fangen mit der Verhandlung an. Margov! Worum geht es bei Ihrer Klage?« Der Kläger stand auf und holte tief Luft. Er bemühte sich offenbar um Selbstbeherrschung, und offensichtlich verfügte er
über einige Erfahrung, denn er machte keine schlechte Figur. Als er anfing zu sprechen, verriet seine Stimme die Routine und die Selbstsicherheit eines Berufsschauspielers: »Hohes Gericht«, sagte er, »ich vermute, daß es hinsichtlich juristischer Verfahrensweisen seit meiner Einfrierung viele Veränderungen gegeben hat, und ich bitte Sie, mir den einen oder anderen Fehler nachzusehen. Wenn ich es richtig verstanden habe, werden Richter heute nach einer Art Auswahlverfahren bestimmt und nicht nach der konventionellen…« »Margov«, unterbrach ihn Samelweiss, und die Hand des Vorsitzenden Richters lag am Lautstärkeregler, so daß seine Stimme alles andere übertönte, »sagen Sie uns ganz einfach nur, was Sie wollen, okay? Wir haben uns mit dieser Scheiße schon eine geschlagene halbe Stunde beschäftigt.« Wieder ein tiefes Durchatmen. Dann: »Ja, Euer Ehren. Die Tatsachen sind simpel. Ich werde Zeugen präsentieren, die bestätigen können, daß…« »Sie werden einen Teufel tun«, fuhr Gwenanda ihn an. »Wenn wir etwas wissen wollen, werden wir Sie schon fragen.« »Wie Sie wünschen, Madam«, sagte Margov entgegenkommend. »Hier sind jedenfalls die Tatsachen: Aufgrund eines ernsten medizinischen Problems, dem damals nicht beizukommen war, wurde ich vor achtundfünfzig Jahren eingefroren. Vor zwei Wochen wurde ich wiederbelebt, behandelt und entlassen. Inzwischen habe ich erfahren, daß ich infolge eines Aktenfehlers nicht nur die für meinen Fall geeignete Behandlung erfuhr, sondern eine ganze Behandlungsserie, die für eine andere eingefrorene Person bestimmt war, die zur gleichen Zeit wiederbelebt wurde. Da es sich hier – ganz klar um einen ärztlichen Kunstfehler handelt, der ernsthafte körperliche und geistige Schäden zur Folge…«
»Moment mal, Kerl«, sagte Angel, und seine Stimme klang dünn und quäkend, denn er tat verschiedene Dinge gleichzeitig und schaffte nur eine Kommunikation auf geringer Bandbreite. »Wo ist diese andere Person?« »Der Mann ist verschwunden«, sagte Margov ernst. »Ach, kommen Sie. Niemand verschwindet.« Margov zuckte die Achseln. »Ich denke, wir sollten uns mit dieser Person unterhalten«, sagte Angel. »Nicht hier«, rief Samelweiss und schaute auf die Uhr auf seinem Schirm. »Nehmen wir an, er ist tatsächlich verschwunden. Nehmen wir an, man hat bei Ihnen tatsächlich einen Fehler gemacht. Was wäre daran so schlimm?« »Der Mann gehörte zu den Boat-People von Baja«, sagte Margov empört. »Der Himmel mag wissen, wie viele Krankheiten er mit sich herumgeschleppt hat! Sie haben mir eine ganze Serie von Antibiotika und Impfstoffen und Gott weiß was sonst noch gegeben. Ich hatte tagelang Schmerzen im Arm. Gar nicht zu erwähnen…« »Dann erwähnen Sie es doch nicht, was immer es sein mag«, befahl Samelweiss. »Und was ist nun zwei Milliarden Dollar wert?« »Die Krankheiten, Euer Ehren! Man vermutete offensichtlich, daß er an Herpes, Syphilis, Himbeerseuche und Tuberkulose litt…« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie das Zeug nicht erwähnen sollen!« brüllte Samelweiss. »Hören Sie zu, das ist alles Scheiße. Sie haben Schmerzen im Arm, und man hat Ihre Gefühle verletzt. Gut, Sie haben Anspruch auf eine Entschädigung. Vielleicht fünfzig Dollar. Vielleicht ein wenig mehr.« »Euer Ehren! Ich kann beweisen…«
»Sie können vor diesem Gericht überhaupt nichts beweisen«, sagte Samelweiss ruhig, »es sei denn, wir ließen es zu. Und genau das werde ich nicht tun.« »Ich will mit dieser anderen Person reden«, sagte Angel eigensinnig. Er nahm das Ganze sogar ernst, denn er hatte den Baß an seinen Stimmfiltern aufgedreht, so daß seine Worte feierlich und geradezu majestätisch klangen. »Hundedreck«, seufzte der Vorsitzende Richter und schaute sich unter seinen Kollegen um. »Hat noch jemand von euch etwas vorzubringen?« Gwenanda hob die Hand und dachte einen Augenblick nach, während die anderen zu ihr herüberschauten. Sie beschloß, es zu wagen: »Zwei Dinge«, sagte sie. »Erstens bin ich dafür, daß wir den Fall dieses Verrückten so lange vertagen, bis Angel getan hat, was er tun will. Zweitens, ich habe mir überlegt, was wir mit dieser Delius machen. Laßt uns sie zurückholen und das Urteil verkünden.« Samelweiss starrte sie an. »Bist du vielleicht selbst verrückt? Sie ist schon lange weg.« »Das ist sie nicht«, sagte Gwenanda, »denn ich habe dem Gerichtsdiener gesagt, er soll sie während der Mittagspause hierbehalten. Bring sie rein, Sam.« Und als die Frau wieder auf der Anklagebank saß und ihre Richter finster ansah, sagte Gwenanda: »Delius, was Sie getan haben, ist so entsetzlich, daß wir es nicht unter den Teppich kehren können. Das werden Sie wohl einsehen.« »Aber die Gesellschaft…« »Die Gesellschaft, mein Arsch«, sagte Gwenanda. »Wir werden Sie also einfrieren. Alle achtzehn Monate werden Sie automatisch überprüft, und früher oder später wird der Bewährungsausschuß oder die Liga zur Rettung der Gefangenen Sie wieder auftauen lassen, und Sie bekommen
wieder eine Chance. Die gegenwärtige Chance haben Sie verspielt, Baby.« Die Lippen der Frau zitterten nervös. »Aber ich habe eine sehr niedrige Schmerzschwelle«, sagte sie mit bebender Stimme. »Verdammt, das tut doch nicht weh«, sagte Gwenanda. »Ich glaube es wenigstens nicht«, korrigierte sie sich. »Wenn Sie wollen, können Sie ja den verrückten alten Richter fragen, aber ich glaube, Sie werden lediglich narkotisiert und kommen erst wieder zu sich, wenn Sie auftauen.« »Ja, aber mein Kind…« Gwenanda grinste. »Das ist ja das Schöne an der ganzen Sache. Das werde ich selbst großziehen.« »Das können Sie nicht tun!« rief die Frau und sah hilfesuchend ihren Anwalt an. Er lächelte bedauernd, um ihr zu bedeuten, daß Gwenanda das sehr wohl tun könne, und der Gesichtsausdruck, mit dem sie sein Lächeln quittierte, unterschied sich wahrscheinlich kaum von dem, mit dem sie die Brandykaraffe erhoben hatte. »Nun, ich will darüber nachdenken«, sagte sie energisch. »Das erübrigt sich«, sagte Gwenanda, »denn das ist schon alles festgelegt. Es ist das einstimmige Urteil dieses Gerichts, das ich hiermit verkünde – oder ist irgendeiner von euch Witzbolden nicht einverstanden? – daß Sie eingefroren werden und daß ich Ihr Kind adoptiere, sobald Sie im Eis liegen, und das wird irgendwann morgen der Fall sein. Du kannst sie rausschaffen, Sam. Und gib ihr ein vernünftiges Abendessen«, fügte sie freundlich hinzu, »denn damit muß sie lange auskommen.«
II
Die Wohnung, in der Gwenanda lebte, oder zumindest der Ort, an dem sie fast jede Nacht schlief, war eine Wohngemeinschaft im dreißigsten Stock eines Gebäudes, das früher als Five Points bezeichnet worden war. Der Grund, warum sie dort eigentlich nicht wohnte, lag in der Tatsache, daß sie offiziell in einer der Wohnungen residierte, die man den Richtern des Obersten Bundesgerichts zur Verfügung gestellt hatte, und die zweihundert Stockwerke über dem unterirdischen Gerichtsgebäude lagen. Der Grund, warum sie gewöhnlich dort übernachtete, war die Tatsache, daß Kriss dort wohnte. Aus den Gemeinschaftsräumen drangen angenehme Gerüche, als Gwenanda eintrat. Auf den Videomonitoren konnte man die laufenden Diskussionen der Allgemeinen Stadtversammlung verfolgen – Kuppelreparaturen, für oder gegen luminiszierende Platten in der Kuppel, damit die Nacht heller wurde – und die Leute, die heute mit dem Kochen an der Reihe waren, schauten gelegentlich hinüber, während sie das Essen zubereiteten. Sie griff sich einen von ihnen heraus und fragte: »Kriss gesehen?« »Schwimmen gegangen«, sagte der Mann, ohne sich zu ihr umzudrehen, und konzentrierte sich darauf, Gurken, Petersilie, Knoblauch und Schalotten für die Gazpacho zu schneiden. Es sah so gut aus, daß Gwenanda beschloß, zum Essen zu bleiben. Sie trug sich für den Abend in den Arbeitsplan ein – Abwaschen, Saubermachen, Lebensmittel einlagern – bevor sie in Kriss’ Zimmer die Kleider ablegte. Sie betrachtete sich prüfend im Spiegel und war zufrieden: eine ansehnliche Frau aus der zweihundertjährigen Vergangenheit, mit einer riesigen Haarpracht, die sechzig Zentimeter vom Kopf abstand, jeder
Nagel ihrer zehn Finger mit einer anderen schreienden Farbe bemalt, und die Augenbrauen so schmal, daß man damit schneiden konnte. Gwenanda zog sich gern an, um andern aufzufallen. Und das gelang ihr; aber sie brauchte keine Kleidung, um gut auszusehen. Zuversichtlich, daß sie eine gute Erscheinung bot – viel weniger zuversichtlich, was das Gelingen ihres Plans anbetraf – ging sie auf den Balkon zum Swimming-pool hinaus. Der Architekt, nach dessen Entwürfen die Räume gebaut worden waren, hatte nicht vorgesehen, daß Menschen in ihnen wohnen sollten. Sie waren als Büros und Praxisräume für Ärzte, Zahnärzte, Anwälte und Psychiater gedacht, und die Pools in dem begrünten Innenhof sollten den gequälten Patienten suggerieren, daß bald wieder bessere Zeiten kommen würden. Weil aber nicht mehr genug Leute die genannten Berufe ausübten, wurden sehr viele der dafür erstellten Räumlichkeiten nicht mehr benötigt. Die meisten dieser Suiten waren anderen Bedürfnissen angepaßt worden. Man konnte jetzt in ihnen wohnen. Und man wohnte hier nicht schlecht, wie man an Kriss sah, der mit einem Dutzend anderer, meist junger Leute Wasser-Volleyball spielte. Einen Augenblick blieb sie stehen, um ihn zu bewundern. Die schlanke braungebrannte Gestalt und die kräftigen Schultern, die sie so gern streichelte und an denen sie sich so gern festhielt. »Heh, Kriss!« schrie sie. »Ich komme!« Sie ließ sich vom Balkon ins tiefe Wasser gleiten, und ihre Stimmung war schon ein wenig optimistischer, als sie sah, wie viel Spaß Kriss mit den Kindern hatte. Ein gutes Zeichen! Sie teilte das Wasser elegant, tauchte unter und schwamm auf die Stelle zu, wo Kriss’ lange schlanke Beine Wasser traten. Sie kniff ihn zur Begrüßung und tauchte auf, um Luft zu holen. Er gab ihr einen nassen Kuß, als der Ball noch im anderen Feld war. »Stimmen sie schon ab?« fragte er.
»Heh, Kriss? Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Einen großen Gefallen. Es ist sehr wichtig für mich.« Er hatte gerade noch Zeit, sie fragend anzusehen, bevor er den Ball zurückschlug. Der Ball von der anderen Seite ging ins Blaue. Während eins der Kinder aus dem Becken kletterte, um den Ball zu holen, sah Kriss sie überrascht an, dann unsicher und zuletzt liebevoll. »Wir sind in fünf Minuten fertig«, versprach er. »Hol uns schon mal ein paar Getränke.« Gwenanda stieg aus dem Wasser, schüttelte sich, holte eine Flasche Wein und zwei Gläser und setzte sich damit an einen Tisch neben dem Pool. Eine Weile schaute sie dem Spiel zu. Einer der Spieler war ihr fremd – eine noch ziemlich junge Frau, sehr blaß und offensichtlich nicht ganz gesund. Sie verfehlte leichte Bälle und hustete vor Anstrengung. Und das Interessanteste war, daß Kriss ihr aus dem Wasser half. Wie hilfsbereit und freundlich Kriss ist, dachte Gwenanda, und auch dieser Gedanke verstärkte ihren Optimismus. Sie schaltete den Monitor neben dem Becken ein und verfolgte die Kuppeldebatte in der Allgemeinen Stadtversammlung, bis Kriss aus dem Wasser kam. Was für ein schöner Mann! Koteletten bis hinunter zum Kinn, die in Locken endeten, aus denen das Wasser spritzte, als er jetzt lachend den Kopf schüttelte. Zu Gwenandas Überraschung hatte er die Fremde mitgebracht. »Hallo«, sagte sie abweisend. Kriss fiel es nicht auf. »Das ist Dorothy«, sagte er. »Sie ist gerade angekommen. Sie ist siebenundachtzig Jahre alt.« Nun, ganz offensichtlich war sie nicht einmal halb so alt, aber sie war auch nicht so jung, wie sie von weitem aussah. Sie war auf tolpatschige Weise jung, etwa wie ein neugeborenes Kalb, das noch nicht recht weiß, wozu es seine Beine gebrauchen soll, aber ihr Gesicht wirkte nicht jung. »Worüber ich mit dir
reden will«, sagte Gwenanda und sah Dorothy dabei an wie eine Katze, die eine andere verjagen will, »ist privat. Wichtig. Persönlich.« »Ich gehe schon«, sagte die Frau sofort, aber Kriss hielt sie zurück. »Um sie brauchst du dich nicht zu kümmern«, sagte er zu Gwenanda. »Sie kommt gerade aus der Tiefkühltruhe und hat keine Ahnung. Du kannst ruhig reden, wenn sie dabei ist.« Gwenanda wollte in ihrer Gegenwart nicht reden, aber sie wußte, daß es ihr unter normalen Umständen nichts ausgemacht hätte. Das war einer der Gründe, warum sie und Kriss einander so gut verstanden. Kriss war ein sanfter, freundlicher und aufgeschlossener Mensch, und sie auch, verdammt nochmal! »Ich hole noch ein Glas«, seufzte sie, stand auf und machte einen Umweg über die Toilette. Ja, der Teststreifen sagte ihr, daß sie dringend eine Spülung machen müßte, und das erklärte auch die leichte Gereiztheit, die sie empfunden hatte. Obwohl Gwenanda ungern Pillen nahm, schluckte sie eine Tablette und die Kapsel, die regelmäßig vor der Spülung eingenommen werden mußte. Dann holte sie ein drittes Glas und ging zum Swimming-pool zurück. »Kinder«, sagte sie fröhlich, »ich habe eine Neuigkeit.« Kriss zuckte gutgelaunt die Achseln und wollte etwas sagen, aber sie unterbrach ihn. »Ich erwarte ein Kind«, sagte sie. Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Er war überrascht, aber, wie Gwenanda erleichtert registrierte, nicht wütend. »Warum hast du das denn getan?« fragte er und hob erstaunt die Brauen. »Ich meine nicht, daß ich schwanger bin«, erklärte sie. »Es geht um eine Adoption. Heute stand dieses Untier vor Gericht, das seinen Mann umgebracht hat. Sie hat ein kleines Kind. Wir müssen sie natürlich einfrieren lassen, aber wir müssen auch an das Kind denken. Ich will es adoptieren.«
»Warum tust du es dann nicht?« »Nein, du verstehst mich nicht. Ich will, daß wir es adoptieren.« »Aha«, sagte Kriss und nickte. »Jetzt verstehe ich, was du meinst.« Er schürzte die Lippen und füllte Gwenandas Glas. »Wir trinken auf das Kind«, sagte er. »Aber, Honey, was passiert, wenn ich an die Westküste gehe?« »Das steht doch noch gar nicht fest«, sagte sie. Das Flußumleitungsprogramm lag schon so lange auf Eis, daß es dort vielleicht zeit ihres Lebens liegenblieb. »Ich glaube schon, daß das Projekt durchgeführt wird«, sagte er und überlegte eine Weile. »Das Ob-Jenissej-Projekt läßt sich doch sehr gut an, nicht wahr? Warum sollte Amerika nicht das Gleiche tun?« Er nahm einen Schluck von seinem Wein, bevor er fragte: »Hübsches Kind?« »Ich habe es noch nicht gesehen«, gab Gwenanda zu. »Aber auf dem Bild sah es ganz nett aus. Es ist ein Mädchen. Vier Jahre alt.« Er sah sie amüsiert und ein wenig zweifelnd an. »Nun, gut«, sagte er, »dann bring das Kind doch einfach her.« »Daran hatte ich schon gedacht«, sagte sie, »aber es wäre schlimm für die Kleine, wenn wir es dann doch nicht tun, verstehst du? Sie hat gerade ihre Mutter verloren. Ich will nicht, daß sie denkt, sie hätte jetzt eine neue, um die dann auch noch zu verlieren.« »Ich verspreche dir«, sagte Kriss feierlich, »nicht so zu tun, als seien wir ihre Eltern, bis das alles geklärt ist.« »Aber…«, sagte Gwenanda und brachte den Satz nicht zu Ende, denn der anderen Frau glitt das Glas aus der Hand und zerklirrte auf dem Fußboden. Rotwein spritzte auf Gwenandas nackte Waden. »Oh, wie ärgerlich!« rief Dorothy entsetzt. »Das tut mir aber leid.«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Kriss tröstend und tätschelte ihr leicht die Schulter. »Ich werde es aufwischen. Übrigens wird gleich über die Kuppel abgestimmt. Wir unterhalten uns später weiter, Honey, okay?« Und ob es Gwenanda nun recht war oder nicht, es blieb dabei, denn Kriss war schon gegangen, einen Lappen zu holen, um den verschütteten Wein aufzuwischen.
Die Abstimmung dauerte eine halbe Stunde, denn die Debatte hatte auf beiden Seiten viele Emotionen freigesetzt, besonders bei Kriss – er war sehr interessiert an technischen Großprojekten, und er war enttäuscht darüber, daß die Zufallsauswahl der Sprecher ihm keine Chance gelassen hatte, sich in der Debatte zu äußern. Und dann aßen sie zu Abend, und anschließend mußte Kriss das Wasser aus dem Swimmingpool ablaufen lassen, während Gwenanda, wie versprochen, beim Abwaschen half. Auch die Frau aus der Gefrieranlage war dabei, und Gwenanda war immer wieder erstaunt, wie ungeschickt Dorothy sich anstellte, wenn sie auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Aufpassen!« rief Gwenanda, als ein Stapel Teller bedrohlich schwankte, den Dorothy gerade zum Geschirrspüler trug. Die Frau griff im letzten Augenblick noch zu. »Tut mir leid«, sagte sie. »Das ist nämlich so – ich wurde erst vor acht Monaten aufgetaut, und ich bin es noch nicht gewohnt – ich meine, ich weiß nicht wie – Das Problem ist nämlich«, sagte sie, »ich war phokomelisch.« »Was warst du?« fragte Gwenanda erstaunt. »Phokomelisch heißt das. Ich wurde so geboren. Keine Arme, keine Beine, nur kleine Flossen. Deshalb hatten sie eine Menge Arbeit, nachdem sie mich aufgetaut hatten. Sie öffneten meine Knochen und pumpten mich mit Hormonen voll – und hier bin
ich. Ich muß mit den Dingern noch üben.« Sie streckte die Arme vor sich aus und betrachtete sie. Sie sahen aus wie Stöcke. »Oh Gott«, sagte Gwenanda voll Mitgefühl. »Hat es wehgetan?« »Wehgetan?« fragte Dorothy. »Wer schert sich darum, ob es wehtut?« Sie lächelte Kriss an, der gerade zur Tür hereinkam. »Wenn nur diese alte Frau mich in Ruhe lassen würde.« »Ein wirklich widerliches Weib«, nickte Kriss, lehnte sich gegen den sterilen Lebensmittelschrank und lutschte an einer Saftbanane. »Die solltest du mal sehen, Gwennie.« »So?« sagte Gwenanda und empfand plötzlich sehr viel weniger Mitgefühl. »Kennst du Dorothy schon länger?« »Oh, ja, sie bedient am Tisch, wo ich manchmal esse«, sagte er und nickte Dorothy zu. »Und sie wollte eine Spülung machen lassen und wußte nicht wohin sie gehen muß. Da habe ich sie in die Klinik gebracht.« »Hmm«, sagte Gwenanda. Der Geschirrspüler signalisierte, daß das Geschirr jetzt sauber war. Dorothys Job war es, die Sachen herauszunehmen, und Gwenanda hatte nicht die geringste Lust, ihr dabei zu helfen. Dorothy widmete Gwenanda mehr Aufmerksamkeit als der Maschine. »Wir haben uns kennengelernt, weil ich jetzt hier wohne«, erklärte sie. Gwenanda nickte freundlich. »Nun, ich ging dahin, wo man dieses Ding bekommt – diese Spülung?« »Ja, die Spülung«, bestätigte Gwenanda. »Und da traf ich sie. Sie stand draußen und schrie und kreischte. Ihr Name ist Jocelyn Feigerman. Ich wußte gleich, wer sie ist, und ich wußte auch, daß sie es wieder mit ihren alten Tricks versuchen würde. Deshalb ging ich ihr aus dem Weg. Sie versuchte, ein paar Frauen zu überreden, keine Spülung zu machen.«
Gwenanda war jetzt mehr am Thema interessiert als an Dorothy, und sie schwankte, zwischen Erstaunen und Verärgerung. »Das ist aber sehr dumm«, sagte sie. »Wenn eine Frau nicht jeden Monat eine Spülung macht, ist das sehr unsauber, und außerdem fühlt sie sich dann nicht wohl.« »Wem sagst du das? Aber darum ging es Jocelyn nicht. Sie sagt, wenn man schwanger ist, wäre das eine Abtreibung.« »Natürlich wäre es dann eine Abtreibung.« »Und das hält sie für unmoralisch. So kenne ich sie schon von früher. Als ich noch ein Kind war, habe ich sie oft im Fernsehen erlebt. Sie verlangt eine Verfassungsänderung, nach der Abtreibungen für illegal erklärt werden sollten…« »Illegal!« schrie Gwenanda. Sie war jetzt außer sich vor Wut. Kriss grinste wie jemand, der eine Reaktion erlebt, die er erwartet hatte. »… illegal, und ich war das Beispiel, auf das sie ständig hinwies. Ich kam behindert zur Welt, aber ich hatte ein hübsches Gesicht. Deshalb ließ Jocelyn Aufnahmen von mir machen, und außerdem mußte ich mit ihr zusammen im Fernsehen auftreten. Sie fragte mich dann: ›Bist du nicht froh, daß du lebst, Honey?‹ Nun, was wußte ich? Ich sagte dann: ›Oh, ja, Mrs. Feigerman, natürlich bin ich froh darüber.‹ Und dann streichelte sie mich und übergab mich meiner Pflegerin. Ihre Gruppe zahlte der Frau das Gehalt, so hatte ich wenigstens etwas davon. Aber jetzt soll sie mich endlich in Ruhe lassen.« »Du kannst sie dazu zwingen, dich in Ruhe zu lassen«, sagte Gwenanda empört. »Das steht im Gesetz, in der einunddreißigsten geänderten Fassung!« Dorothy seufzte. »Ich will keinen Ärger«, jammerte sie, »und deshalb gehe ich ihr lieber aus dem Weg.« Dabei fiel ihr Näherliegendes ein: »Sind wir mit der Küche fertig? Dann werde ich auf mein Zimmer gehen und ein wenig schlafen.«
»Immerhin taktvoll«, war Gwenandas Kommentar, als sie ihr nachschaute. »Nun, Kriss? Hast du darüber nachgedacht?« »Du meinst das Mädchen? Ja, das habe ich, Gwennie. Aber ich möchte das Kind wirklich gern vorher sehen… und selbst dann…« Gwenanda nickte. Das Kind war die beste Karte, die sie auszuspielen hatte. »Wenn du willst, können wir das Kind noch heute besuchen«, sagte sie. »Aber lieber wäre es mir morgen.« »Einverstanden. Aber wir dürfen das Flußumleitungsprojekt nicht vergessen – und ehrlich, Gwen, ich hab dich zwar schrecklich gern, aber das ist schließlich meine Arbeit.« »Wenn das Projekt durchgeführt wird.« Gwenanda griff nach einem Strohhalm. »Wenn es durchgeführt wird«, stimmte er ihr zu und grinste. »Wie wär’s, wenn auch wir jetzt auf unser Zimmer gingen und uns ein wenig hinlegten?« Da Gwenanda fast ihr ganzes Leben unter der Thermalkuppel von Tucson, Arizona, verbracht hatte, war sie durchaus nicht gegen das Yukon-Projekt. Im Gegenteil, dies Projekt war mit der Grund dafür gewesen, daß sie und Kriss Interesse aneinander fanden. Kriss hatte ihr viel über seine Arbeit in Sibirien erzählt, wo er bei der Umleitung der Flüsse Ob und Jenissej mitgearbeitet hatte, die jetzt nach Süden in die trockene Tundra flossen, statt nach Norden, um sich dort nutzlos ins Eismeer zu ergießen. Gwenanda hatte natürlich vom Nordamerikanischen Flußumleitungsprojekt gehört, und eine ausführliche, den ganzen Kontinent einbeziehende Debatte in der Allgemeinen Stadtversammlung war schon angekündigt worden. Aber bis sie diesen Mann kennenlernte, hatte es sie nicht sonderlich interessiert. Kriss hatte ihr von den Plänen erzählt, die Wasser des Mackenzie und des Yukon aus dem hohen Norden bis ganz nach Süden in die mexikanischen
Salzebenen zu leiten. Es war ein aufregender Gedanke, daß eines Tages richtige Flüsse an Tucson und Phoenix vorbeifließen würden. Je länger sie über das Projekt nachdachte, um so besser gefiel es ihr – außer in einer gewissen Hinsicht. Von der Ausdehnung her war es ein riesiges Projekt. Das Ob-Jenissej-Projekt hatte alle Befürchtungen im Zusammenhang einer eventuellen Schädigung der arktischen Umwelt gegenstandlos gemacht, denn es hatte keine gegeben. In den nördlichen Einöden des Kontinents nützte das Wasser niemandem. In großen Teilen des Mittleren Westens war es zu trocken, als daß man Ackerbau ohne Bewässerung hätte betreiben können, und Wasser war knapp. Die Versalzung des Bodens durch zu häufig benutztes Berieselungswasser hatte viele der reichsten Täler Kaliforniens vergiftet. Ein reichlicher Zustrom von sauberem Wasser aus dem Norden würde eine höhere Lebensmittelproduktion bedeuten, mehr Wohlstand und mehr von allem für alle – besonders für die Kanadier, die ihre Flüsse so teuer wie möglich zu verkaufen versuchten. Kriss war nur deshalb in New York, weil er hier einen kleineren Job zu erledigen hatte, der einem mit Großprojekten vertrauten Mann wie ihm als eine Art Halbtagsarbeit erscheinen mußte. Er war bei den Dammbauarbeiten am Long Island Sound beschäftigt, der in den Süßwassersee zurückverwandelt werden sollte, der er in seiner geologischen Vergangenheit gewesen war. Seine Flüsse würden ihm Wasser zuführen, das Salz allmählich verschwinden, und es würde ein hundert Meilen langer See entstehen, der die Trinkwasserversorgung der Region für das nächste Jahrhundert sicherstellen würde. Das Dumme an dem Flußumleitungsprojekt war, daß Kriss im Falle seiner Durchführung New York würde verlassen müssen. Gwenanda jedoch mußte so lange in New York bleiben, wie das Oberste
Bundesgericht dort seine Sitzungen abhielt und ihre sechsjährige Amtszeit abgelaufen war. Gewiß, sie konnte zurücktreten, aber dann mußte sie nach dem Selektionsverfahren einen anderen Job annehmen, und der wäre wahrscheinlich sehr viel weniger interessant und wichtig. Und wer wollte schon behaupten, die Arbeit als Richterin am Obersten Bundesgericht sei weniger wichtig als die eines Ingenieurs? »Hör zu, Honey«, sagte sie, als sie zur Entspannung vor dem Einschlafen noch einen Joint rauchten, »warum baust du nicht einen Staudamm im Hudson, anstatt nach Seattle zu gehen, falls überhaupt etwas daraus wird?« »Weil sie das nicht zulassen werden«, sagte er grinsend. »Sie müssen abstimmen, und du weißt so gut wie ich, daß der Kontinent nach Beendigung der Arbeiten am Long Island Sound nicht gleich ein zweites Großprojekt für diese Region genehmigen wird.« »Sie ist ein so nettes Kind«, sagte sie sinnend und richtete sich auf. Sie gab eine spezielle Kodenummer ein, zu deren Benutzung ihr Amt sie berechtigte, und sofort zeigte der Monitor Maris D. Lempers ernstes kleines Gesicht. »Du kommst immer wieder auf dasselbe Thema«, seufzte Kriss. »Was willst du eigentlich von mir, Schatz? Was soll dieser plötzliche Drang zur Elternschaft?« »Diesen Drang empfinden normale Leute nun einmal!« sagte sie zornig. »Ich – halt, was ist denn los?« Zögernd aber hartnäckig klopfte jemand an die Tür. »Herein«, rief Kriss, und die Tür ging auf. Ein kleiner blasser Mann in einem flauschigen Bademantel erschien im Türrahmen. Er war unrasiert und hatte einen ungesunden Husten. »Könntest du nicht mal nachsehen, was der Lärm soll, Kriss?« sagte er mürrisch. »Ich kann nicht schlafen, und ich fühle mich wirklich nicht wohl.«
»Du siehst auch lausig aus, Harl«, bestätigte Kriss. »Ich fühle mich lausig. Sag ihnen bitte, daß sie mit dem Lärm aufhören sollen.« Gwenanda griff nach ihrem Dashiki, und Kriss wickelte sich einen Kilt um die Hüften. »Warte auf mich«, rief sie. Jetzt, bei geöffneter Tür, war der Lärm deutlich zu hören. Einige Leute brüllten durcheinander, und eine der Stimmen gehörte Dorothy. »Es ist wieder dieses alte Weib«, knurrte Kriss verärgert. »Warum läßt sie die Leute nicht in Ruhe?« Und Dorothys Stimme hallte durch den Korridor: »Lassen Sie mich bitte in Ruhe, Mrs. Feigerman! Was Sie tun, gefällt mir nicht, und ich möchte nichts damit zu schaffen haben.« »Aber Sie sind mein Beweis«, sagte eine andere Stimme, die beherrschte Stimme der älteren Sprecherin eines Frauenklubs. Die Frau schaute Gwenanda und Kriss an, als die beiden aus ihrem Zimmer kamen, aber sie wandte sich sofort wieder Dorothy zu. »Meine Liebe, Ihr Fall war so tragisch, wie es jemals in der Geschichte einen gegeben hat – von Totgeburten abgesehen –, und sehen Sie selbst, was aus Ihnen geworden ist!« »Sie will, daß Sie hier verschwinden«, sagte Kriss streng. »Würden Sie bitte gehen?« »Junger Mann«, sagte die Frau forsch, »mir gefällt Ihr Aufzug nicht, und ich führe hier ein privates Gespräch. Außerdem sind Sie unhöflich.« Gwenanda, die einen Schritt hinter Kriss stand, sah, wie er die Schultern hob und wieder sinken ließ, und sie amüsierte sich; das alte Weib wußte offenbar nicht, worauf sie sich einließ! Im übrigen wirkte sie wie eine nette und ruhige alte Dame. Ihr eisiges Gesicht verriet, daß sie es gewohnt war, sich durchzusetzen, und sie war wirklich nicht der Typ, mit dem man einen Joint teilen oder dem man seine Sorgen anvertrauen würde, aber es paßte nicht zu dieser Frau, daß sie hier öffentlich eine Szene machte.
Gwenanda streckte die Hand nach Kriss aus, um ihn zu beruhigen. »Feigerman«, sagte Gwenanda, »machen Sie, daß Sie rauskommen, oder ich zerkratze Ihnen das Gesicht.« Sie hielt ihre grellgefärbten Fingernägel hoch. »Wir wohnen hier und Sie nicht. Wir brauchen Sie hier nicht, und wir haben das Recht, Sie rauszuwerfen. Das Volk gegen Gargiano, Aktenzeichen 562, Berufungsverhandlung vor dem Bundesgericht 1993. Verschwinden Sie also!« Die Frau war schockiert und empört, aber dann wurde sie vorsichtiger. »Ich gehe«, sagte sie, »aber, Dorothy, wir werden uns wiedersehen…« »Nicht hier«, sagte Gwenanda entschieden. Die alte Frau gab sich noch nicht geschlagen. »Auch Sie werde ich wiedersehen, junge Frau, und wenn Sie Ihr Benehmen nicht ändern, könnte dieses Wiedersehen vor Gericht stattfinden!« »Das ist sehr viel wahrscheinlicher, als Sie denken, Sie alte Kuh«, sagte Gwenanda und grinste tückisch. Sie schloß die Tür hinter der Frau und lachte. »Du kannst Schlafengehen, Dorothy. Es ist alles vorbei.« Kriss kicherte. »Honey, du warst großartig. Was hast du da gesagt vom Volk gegen Gargiano?« »Keine Ahnung«, sagte Gwenanda und nahm seinen Arm. »So etwas erfinde ich gelegentlich.«
III
Eine gütige Vorsehung fügte es, daß am nächsten Tag nicht viel los war. Auf der Tagesordnung standen nur sieben Fälle, von denen keiner besonders wichtig war, und erstaunlicherweise waren die anderen acht Richter alle bereit, den ganzen Tag im Gericht zu verbringen. »Ich bekomme also zur Regelung persönlicher Angelegenheiten einen Tag frei, Vorsitzender?« säuselte Gwenanda am Telefon. Der Vorsitzende Richter zuckte die Achseln. »Was mich betrifft, gern«, sagte er. »Wenn es aber so aussieht, als würden wir uns festfahren, werde ich anrufen.« »Dann dürft ihr euch eben nicht festfahren«, sagte Gwenanda fröhlich und unterbrach die Verbindung. Wenn sie Samelweiss um einen Gefallen bitten wollte, tat sie das am liebsten telefonisch. Dann konnte er sie wenigstens nicht zum Ausgleich in den Hintern kneifen. Sie nahm die U-Bahn nach Fordham Road und war erstaunt, als sie im nicht überdachten Norden der City aus der Station ins Freie trat und feststellte, daß es schneite. »Oh«, rief sie erfreut, aber die Freude ließ rasch nach, als sie die Kälte spürte. Da sie aus Tucson, Arizona stammte, war Gwenanda ein so kaltes Wetter außerhalb der Kuppel nicht gewohnt. Die Kuppeln sollten die Hitze fernhalten. Die Außentemperatur sank nie so tief, daß der Regen zu Schnee gefror – angenommen, daß es überhaupt Regen gab – und natürlich war sie nicht warm genug angezogen. Glücklicherweise stand ein Wagen vor der U-Bahnstation, und in zwei Minuten war sie im Gefrierzentrum.
Es kostete sie Überwindung hineinzugehen, und sie war auf eine schlimme Szene gefaßt, aber die blieb ihr erspart. Sie erfuhr als erstes, daß Donna Maris Delius schon bei einer Temperatur von fünfzig Grad unter Null eingefroren war. Alle Körperfunktionen waren stillgelegt, und ihre Körpertemperatur sank ständig, bis sie die Temperatur flüssigen Wasserstoffs erreicht haben würde, und in diesem Zustand würde die Frau verbleiben, bis irgendein Optimist beschloß, ihr wieder eine Chance zu geben. »Das Kind?« fragte Gwenanda, und der Angestellte von der Aufnahme zeigte auf einen kleinen Warteraum. Das kleine Mädchen saß ganz zufrieden da und las in einem Buch. Gwenanda schaute stumm in den Raum, aber dann nahm sie sich zusammen. »Maris, Honey? Ich bin Gwenanda, deine neue Mutter.« Das kleine Mädchen schaute höflich zu ihr auf. Sie wirkte noch gescheiter und sah hübscher aus als auf dem Bild; sie war ein Jahr älter geworden und um ein Jahr zivilisierter. »Hallo«, sagte sie. Zu spät wünschte sich Gwenanda, sie hätte sich das Haar glattgekämmt, ein paar Ringe abgenommen und in ihrem Kleiderschrank einen einfachen Hosenanzug oder vielleicht sogar ein Kleid gesucht. Der Kontrast zwischen der mausgrauen Mörderin und der modisch gekleideten Richterin am Obersten Bundesgericht mußte dem Kind einen Kulturschock versetzen – der zu den übrigen Schockerlebnissen noch hinzukam! Aber das Kind zeigte keine Anzeichen eines Schocks. Sie las noch eine Seite bis zum Ende der Geschichte und klappte das Buch zu. »Okay«, sagte sie, stand auf und nahm Gwenandas Hand. »Da steht mein Koffer.«
Die Wohnung, die Gwenanda gehörte, bis ihre Amtszeit am Obersten Bundesgericht abgelaufen war oder bis das Gericht an einen anderen Ort verlegt wurde, war groß genug, ein Kind aufzunehmen. Sie hätte sogar für sechs Kinder und einen oder zwei Ehemänner gereicht, denn sie hatte acht Räume und drei Badezimmer. »Gästezimmer«, sagte Gwenanda, als sie Maris durch die Wohnung führte, »mein Arbeitszimmer, Abstellkammer, Küche, und dies ist mein Zimmer, das ist mein Bad, und das ist dein Bad, die Veranda – und hier«, sagte sie und blieb stehen. »Ich habe mir gedacht, dies könnte dein Zimmer werden, Schatz. Wir werden es hübsch einrichten. Ich habe einen Freund, der Künstler ist, und er wird dir Bunnies oder Clowns an die Wände malen oder was dir sonst gefällt.« »Das Zimmer ist sehr groß«, sagte Maris höflich. Sie schaute Gwenanda fragend an und öffnete eine der sechs großen Schubladen der kleineren Kommode. Sie war leer, denn Gwenanda war schon um sechs Uhr aufgestanden und hatte die Dashikis, die Skianzüge und die abgelegten Blusen in Schränken und Kartons verstaut. »Kann ich diese Schublade haben?« fragte Maris. »Honey, du kannst sie alle haben!« Maris betrachtete die Schubladen und warf einen Blick auf ihren Koffer, aber sie äußerte sich nicht zu dem überreichlichen Angebot an Schubladen. »Ich glaube, jetzt ist Lunch-Zeit«, sagte sie. Lunch! Lunch war eine gute Idee. Lunch war etwas, worüber Gwenanda sich keine Sorgen machte. Vielleicht war es das einzige, worüber sie sich keine Sorgen machte. Sie hatte schon Kekse aus der Tiefkühltruhe genommen und Papayas von der Veranda zum Kühlen hineingelegt. Gwenanda war überzeugt, daß es das schönste, wohlschmeckendste und nahrhafteste Lunch war, das sich ein kleines Mädchen nur wünschen konnte. Manierlich und mit ernstem Gesicht fing die Kleine an
zu essen. Sie stellte keine neugierigen Fragen und sagte auch sonst nichts, und als Gwenanda ihr eine aufgeschnittene Papaya und einen großen Löffel gab, bemühte sie sich eifrig, die Kerne aus der Frucht zu entfernen. »Sie hatte Fieber«, sagte sie, als Gwenanda die Teller in den Geschirrspüler stellte. »Was sagst du, mein Kleines?« »Meine Mutter hatte Fieber. Sie hätten sie fast nicht eingefroren, weil sie krank war.« »Wenn sie sie wieder rausnehmen«, versprach Gwenanda, »machen sie sie als erstes wieder gesund.« Und gab es eine bessere Methode, ein Fieber zu senken als eine Kühlung mit flüssigem Stickstoff? Aber sie sollte das Thema wechseln. Gewiß, das Kind mußte darüber reden, mußte es loswerden. Aber nicht jetzt! »Heute nachmittag werden wir erst einmal etwas Zeug für dich kaufen«, sagte sie schnell, »und dann sollst du einen Freund von mir kennenlernen. Er ist Ingenieur. Du kennst doch den Long Island Sound? Er gehört zum Ozean, und mein Freund baut an beiden Enden einen Damm, damit Süßwasser hineinfließen kann und er zu einem schönen See wird, aus dem wir trinken können.« »Was für Zeug werden wir kaufen«, fragte Maris. »Nun, etwas zum Anziehen.« Im Koffer war nicht viel gewesen. »Wir kaufen dir alles, was du brauchst.« »Ich habe Kleider. Sie liegen, wo ich wohne – Knickerbocker Hostel achtzehn, Wohnung achtundvierzig, aber sie sind im Lagerraum in einem großen Koffer.« »Aber jetzt wohnst du hier, Schatz«, seufzte Gwenanda, und dann korrigierte sie sich: »Natürlich nur, wenn du willst, aber du gibst mir doch eine Chance, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte Maris D. Lemper. »Ich glaube, jetzt ist es Zeit für meinen Mittagsschlaf.«
Während das kleine Mädchen schlief, hätte Gwenanda eigentlich Tests für die nächste Gruppe von Kandidaten für das Oberste Bundesgericht vorbereiten sollen. Das gehörte während der zweiten Amtsperiode zu den Pflichten der Bundesrichter. Aber sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Immer wieder lauschte sie auf Geräusche aus Maris’ Zimmer. Außerdem stellte sie hastig eine Liste der Dinge auf, die sie besorgen oder tun mußte. Auf der einen Seite stand auf ihrem Schreibtisch die Kaffeemaschine, auf der anderen der Aschenbecher, und sie rauchte drei Joints nacheinander, um ihre Nerven zu beruhigen. Ein Kindergartenplatz. Eine Spielgruppe für die Nachmittage, an denen Gwenanda das Gericht nicht verlassen konnte. Ein Ausweis für den Spielplatz – nicht für das kleine Mädchen, sondern für Gwenanda selbst, damit sie dort Zugang hatte. Rasch Unterwäsche, Pyjamas und Socken kaufen – verdammt, was brauchte ein Kind sonst noch? Ein Kind brauchte alles! Einen Kinderarzt. Einen Zahnarzt. Tanzstunden? Klavierstunden? Ein paar Freundinnen – Gwenanda lehnte sich verzweifelt zurück. Man konnte fast alles auf Bestellung bekommen, aber Freundinnen auf Bestellung? Natürlich! Sie gab ein paar Befehle in ihren Computer ein, und sofort erschien auf dem Schirm eine Liste aller Haushalte sechs Stockwerke über und sechs Stockwerke unter ihrer Wohnung, in denen kleine Kinder lebten. Sie fand sechs solcher Familien und verzichtete im letzten Augenblick darauf, die erste Familie auf der Liste anzurufen, um sich mit dem Kind zu unterhalten. Vielleicht waren die drei Joints zu viel gewesen? Aber es gab auch so noch sehr viel zu tun. Sie würde Maris gelegentlich in den Zoo mitnehmen müssen, sie brauchte neue Schuhe, Schwimmunterricht (oder konnte sie schon schwimmen?), wahrscheinlich mehr Bücher, wahrscheinlich
mehr Puppen, wahrscheinlich Haarschleifen… und, oh ja, einen Vater. Als Maris aufgewacht war und gegessen und sich gewaschen hatte, zog Gwenanda ihrem Köder das schönste Kleid an, das sie am Vormittag gekauft hatte, bürstete ihm das Haar, wischte ihm die Krumen aus dem Gesicht und brachte ihn in die Stadt, um ihn nach Kriss auszuwerfen. An diesem Plan stimmte nur eines nicht: sie konnte Kriss nicht finden. Gwenanda ließ Maris in einem der Gemeinschaftsräume, wo das Kleinkind irgendeiner Mieterin vor dem großen Weihnachtsbaum in einem Bettchen schlief. Dann machte sie sich auf die Suche nach Kriss. Am Swimming-pool fand sie Dorothy, die aber nicht badete, sondern angestrengt etwas auf dem Bildschirm studierte. »Oh, Kriss?« sagte sie und schaute vom Schirm auf. »Er hat diesen anderen Mann ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht kommt er bald zurück; er hat nichts gesagt.« »Hmm«, sagte Gwenanda. »Ich wollte ihn mit jemandem bekanntmachen.« Dorothy reckte sich und seufzte. Dann schaltete sie das Gerät aus. »Es ist alles so kompliziert«, jammerte sie. »Ich versuche, festzustellen, wie das mit der Allgemeinen Stadtversammlung und dem Cafeteria-Budget funktioniert.« »Laß dich nicht stören, Dorothy.« »Nein – nein. Du meinst doch sicher das kleine Mädchen, deren Mutter ihren Vater umgebracht hat?« Sie sah Gwenandas Blick und sagte rasch: »Kriss hat heute morgen von ihr gesprochen, bevor er zum Hospital fuhr. Sie soll ein hübsches Mädchen sein.« Gwenanda war besänftigt und ließ zweiunddreißig prachtvolle Zähne blitzen. »Komm und überzeug dich selbst«, sagte sie und ging voraus.
Maris verhielt sich der anderen Erwachsenen gegenüber sehr höflich, aber offensichtlich kam sie sehr gut allein zurecht. Sie hatte sich zum Kindermädchen des kleinen Don ernannt, der aufgewacht war und fröhlich krähte, als sie seine Sprechrassel schüttelte. »Hallo«, sagte die Rassel. »Gutes Kind. Mama.« »Ein süßes Mädchen«, sagte Dorothy und schenkte Gwenanda und sich Kaffee ein. »Das ist sie«, sagte Gwenanda und freute sich über Dorothys günstiges Urteil. »Arbeitest du heute nicht?« »Heute nur zum Lunch«, sagte Dorothy und beobachtete die Kinder. »Ich glaube, ich komme mit der Zeit durcheinander. Ist wirklich Weihnachten?« »Meinst du wegen des Baums? Nein. Wir haben Februar. Sie haben ihn nur stehen gelassen, weil er so hübsch ist.« Und er war wirklich hübsch. Er wuchs in sieben frischen grünen Zweigschichten und hatte an der Spitze hübsche weißgefärbte Nadeln. Gwenanda schaltete die Raumbeleuchtung zurück, und als sie dunkler wurde, züngelten goldene und silberne Flammen über die Zweige. »Schatz?« rief sie. »Gefällt dir der Baum?« »Er ist sehr hübsch Gwenanda«, sagte Maris und streichelte eine Katze hinter den Ohren, die anfing zu schnurren und das Mädchen aus seinen gelben Augen hungrig anstarrte. Baby Don zog sich an den Stäben seines Gitterbettchens hoch und schaute zu. Nachdenklich beobachtete Gwenanda die Szene. »Ich weiß nicht«, sagte sie laut, »ob ich nicht etwas falsch mache. Was haben sie jetzt hier? Drei Kinder?« »Ich glaube es sind drei«, sagte Dorothy. »Ich weiß, daß sie einen fünfjährigen Jungen haben, und dann ist da noch einer. Man weiß allerdings nie, wer hier wohnt und wer nur auf Besuch ist. Wo wohnst du, Gwenanda?« »Oben in der Stadt, in den Häusern der Regierung. Dort bekommt man eine Wohnung, wenn man als Richter beim
Obersten Bundesgericht tätig ist. Ich könnte natürlich umziehen, wenn ich wollte… was ist denn los?« Dorothy starrte sie an. »Sagtest du Oberstes Bundesgericht? Das oberste in den ganzen Vereinigten Staaten?« »Aber ja, Dorothy«, sagte sie mißtrauisch und bedachte Dorothy mit einem finsteren Blick. »Findest du das schlimm?« »Du meine Güte! Nein! Ich bin nur – beeindruckt. Wo ich herkomme, war das ein so wichtiges Amt, daß man gewaltigen Respekt davor hatte. Ich meine, bei den hohen Tieren muß man aufpassen.« »Kein Mensch hat behauptet, daß man bei mir nicht aufpassen muß«, sagte Gwenanda dunkel und streckte den Arm nach Dorothy aus. »Ach, ich vergesse immer wieder, daß du hier noch neu bist.« Sie umarmte die Frau, bevor sie sich wieder auf der Couch zurücklehnte. »Hör zu«, sagte sie, »bis vor ein paar Jahren war ich Wertpapieranalytikerin in Tucson, Arizona, und ich sollte schon gefeuert werden, denn dieser alberne Job kam mir einfach zu dumm vor. Und dann wurde meine Nummer aufgerufen.« »Ich ahne etwas«, sagte Dorothy. »Nennt man das nicht selektiven Dienst?« »Genauso nennt man das. ›Grüße. Sie werden hiermit zum nationalen Dienst als‹ – ›Bitte ausfüllen‹ – ›einberufen. Melden Sie sich dann und dann zur Einweisung, Ihr Gehalt beträgt so und soviel, viel Glück und versuchen Sie nicht, sich zu drücken, sondern setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung.‹ Es hätte schlimmer kommen können. Ich kam zur Justiz und qualifizierte mich für das höhere Richteramt. Das war’s. Die Bezahlung ist gut und die Arbeit leicht.« »Wirklich?« Dorothy suchte nach einer harmlosen Formulierung für ihre Frage. »Ich dachte, wenn man beim Obersten Bundesgericht arbeiten will, muß man ein juristisches Studium absolviert haben?«
»Mein Gott, Mädchen, wir bekommen eine Grundausbildung!« sagte Gwenanda verständnislos. »Dabei lernen wir hauptsächlich, die Gesetzesvorschriften aus den Datenbanken abzurufen, wenn wir uns einmal nicht ganz sicher sind. Aber auch das ist selten nötig, denn bei schwierigeren Problemen helfen uns die Gerichtsangestellten. Samelweiss, der Vorsitzende Richter, hat sechs Angestellte und versucht, noch zwei zu bekommen, damit wir eine eigene Baseballmannschaft haben. Im übrigen läuft das meiste auf gesunden Menschenverstand hinaus. Darum ging es doch überhaupt bei der Zweiten Amerikanischen Revolution, nicht wahr?« Dorothy war immer noch beeindruckt, was Gwenanda sehr schmeichelte. »Triffst du denn auch die anderen VIPs? Zum Beispiel den Präsidenten?« »Sally Kamperstein? Nein. Das heißt, ich kenne sie, aber sie ist zur Zeit in Washington.« »Gibt es in Washington noch eine Regierung?« fragte Dorothy erstaunt. »Ich dachte, es sei alles dezentralisiert.« »Das ist es auch – wir werden hier nicht ewig bleiben. Sally ist mit ihrer Familie hingefahren, um sich alles anzuschauen. Es sieht dort jetzt aus wie in einem Vergnügungspark.« Sie strich Maris über den Kopf, die zu Gwenandas Füßen saß und mit der Katze spielte. Sie bewegte ein Stück Lametta vom Baum vor der Katze hin und her, die mit der Pfote danach haschte. Maris lachte vor Vergnügen. Dann legte die Katze ihre Krallen um Maris’ Arm, und wieder lachte das Mädchen. Auch das machte Spaß, wenn man es auch ein wenig mit der Angst bekommen konnte. Diese weichen und stumpfen Krallen konnten keine Haut zerkratzen; sie sahen nur so aus, als könnten sie es. »Wir könnten dir eine kaufen«, sagte Gwenanda, und das Gesicht des kleinen Mädchens wurde plötzlich ganz starr.
»Nein, danke«, sagte Maris. »Warum denn nicht, Liebes? Katzen machen keinen Dreck.« »Weil ich früher eine Katze hatte. Und meine Mutter hat sie kaputtgemacht. Entschuldigung«, sagte sie höflich und stand wieder auf, um zuzuschauen, wie der kleine Don am anderen Ende des Raumes von seinem Vater gefüttert wurde. Gwenanda seufzte. »Achte bitte einen Augenblick auf die Kleine«, bat sie und ging zur Toilette. Es hatte keinen Zweck, etwas zu überstürzen. Wenn die Kleine bereit war, Anhänglichkeit zu zeigen, würde sie es schon von selbst tun. Und vielleicht war der Zeitpunkt gar nicht fern. Hatte sie sich nicht eben schon zu ihren Füßen hingekauert? Sie war ein nettes Kind, und wie jedes Kind würde sie die Person, die für sie sorgte, liebgewinnen, aber – aber warum war das nicht jetzt schon der Fall? Sie prüfte ihren Teststreifen, und bei dem Ergebnis verfinsterte sich ihre Miene. »Dorothy«, sagte sie, als sie zurückkam, »ich muß heute oder morgen meine Spülung machen, aber ich hatte mir für heute frei genommen und muß deshalb morgen ins Gericht.« »Ja?« fragte Dorothy höflich. »Deshalb werde ich jetzt nach unten gehen, und ich frage mich, ob du nicht besser mitkommst?« Peinlich berührt sah die Frau sie an. »Warum?« »Für den Fall, daß dein Corpsicle noch da ist.« »Ich will die Frau nicht sehen!« »Aber vielleicht will die Frau dich sehen«, meinte Gwenanda, »und dann sollte ich vielleicht besser bei dir sein.« Dorothy sah aus, als wollte sie aufbegehren. Sie schwieg eine Weile und stand dann auf. »Oh, verdammt«, sagte sie, und das faßte Gwenanda als Zustimmung auf.
Dons Vater versprach, auf Maris zu achten, und Maris war nur allzugern bereit, noch eine oder zwei Stunden in der Wohngemeinschaft zu bleiben. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben und machten sich über eine Querverbindung auf den Weg zur Klinik. Dorothy ist ganz in Ordnung, dachte Gwenanda, wenigstens, wenn man sie ein wenig besser kennt. Es machte sogar Spaß, sie herumzuführen und ihr verschiedene Dinge zu erklären. Seit Dorothy eingefroren wurde, hatte sich die City enorm verändert. Die neuen Gebäude erkannte sie leicht – nicht weil sie sich an die alten gut erinnerte, denn sie hatte von ihrem Rollstuhl aus nur wenig von der City gesehen, sondern weil die neuen Gebäude völlig andersartig waren. Sie hatten sehr dünne Wände, und einige hatten fast überhaupt keine Wände sondern nur durchbrochene Abschirmungen und dazwischen Terrassen, die bepflanzt werden konnten. »So viel Neues, an das man sich gewöhnen muß«, seufzte Dorothy und schaute sich um. »Ja, aber ist das nicht alles viel besser als früher«, fragte Gwenanda, nicht, weil sie auch nur den geringsten Zweifel hatte – verdammt, wann war die Welt je schöner gewesen? – sondern weil sie Dorothy begreiflich machen wollte, wie glücklich sie sich schätzen konnte. »Ich habe trotzdem Angst. Wenn nun wieder Nummern gezogen werden und ich zu irgend etwas einberufen werde?« »Warum nicht? Im Gericht haben wir Angel, und der ist genauso lange hier wie du.« »Diese halbe Maschine? Ja, aber er hat die ganze Zeit gelebt. So hatte er Zeit, sich an alles Neue zu gewöhnen. Aber ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn man mich plötzlich vielleicht in den Kongreß holt.« »Der Kongreß wäre gar nicht schlecht«, sagte Gwenanda nachdenklich, zündete sich einen Joint an und reichte ihn Dorothy, die aber den Kopf schüttelte. »Nicht? Nun ja, aber
der Kongreß ist okay. Wenn man dort ständig Gesetze widerruft, hat man wirklich das Gefühl, vernünftige Arbeit zu leisten.« »Gesetze widerruft?« »Natürlich. Es gibt nämlich zu viele, und das Problem ist, sie wieder loszuwerden.« »Ich wüßte nicht wie man das macht«, sagte Dorothy überzeugt. »Keine Schwierigkeit! Man kann ohnehin nur ein gewisses Pensum auf einmal erledigen, sonst kommt man durcheinander – blinder Eifer schadet nur, stimmt’s? Einmal im Jahr kriegen die Kongreßabgeordneten eine Verpißt-euch-Liste…« Dorothy hob die Brauen – »eine Liste der Gesetze«, erklärte Gwenanda, »von denen die Leute glauben, daß sie abgeschafft werden müßten. Die Angestellten müssen dann berechnen, wieviel Mühe es kosten würde, jedes einzelne Gesetz zu ändern. Sie betrachten das Problem aus jedem möglichen Blickwinkel. Anschließend bilden sechs oder acht Kongreßleute ein Komitee und diskutieren die Angelegenheit. Und jeder bekommt eine Liste mit Vorschlägen…« »Eine Liste mit Vorschlägen?« »Eine Liste von kurzen Erklärungen, nicht mehr als fünfundzwanzig Worte, der Leute, die sich zu dem jeweiligen Gesetz äußern wollen. Dann wählt der Betreffende die Leute aus, von denen er glaubt, daß sie zum Thema etwas zu sagen haben, und der gesamte Kongreß diskutiert das Ganze noch einmal. Dann wird abgestimmt.« »Mehr tun sie nicht? Und damit ist das Gesetz abgeschafft?« »Himmel, nein! Sie können doch nicht alles selbst machen. Dann wird die Angelegenheit an die Allgemeine Stadtversammlung verwiesen. Wenn dort Übereinstimmung erreicht wird, ist das Gesetz abgeschafft. Wenn nicht, geht es wieder an den Kongreß zurück. Man kann nicht immer
gewinnen. Aber wenn etwas erst einmal der Stadtversammlung vorgelegt wird, ist die Sache meistens gelaufen.« Sie schaute nach draußen und stand auf. »Hier hast du sie doch schon einmal getroffen, nicht wahr? Laß uns aussteigen.«
Und richtig, da war diese närrische Person. Sie marschierte auf der Promenade vor der Klinik auf und ab und trug ein Brustund ein Rückenplakat. Auf dem vorderen stand Ich bitte um das heben Ihres Kindes. Eine Frau vom Notdienst schaute gleichgültig zu ihr hinüber. Sie griff nur ein, wenn Jocelyn über den Gehweg schoß, um eine Patientin, die die Klinik betreten wollte, am Ellenbogen zu packen. Es war offensichtlich, daß Jocelyn Feigerman inzwischen erfahren hatte, was hier vorging. Auf der großen Schrifttafel hinter ihr leuchtete in Großbuchstaben eine weitere Botschaft: MORD ist Sünde ABTREIBUNG ist Mord Dorothy blieb stehen. »Ich schaffe es nicht«, sagte sie. »Keine Angst, Mädchen! Ich bin doch bei dir. Sie wird dir nichts tun.« »Nein, Gwenanda, bitte. Ich kann nicht. Wir – wir treffen uns später.« Kopfschüttelnd ging Gwenanda langsam an der Frau mit den Plakaten vorbei und hoffte fast, sie würde ihren Ellenbogengriff an ihr ausprobieren. Sie tat es nicht, aber sie beschwerte sich bei der Frau vom Notdienst über irgendwas. Ich erwische sie schon noch, dachte Gwenanda. Sie betrat die Klinik, schob ihre Karte in ein Lesegerät, bekam eine Kabine, zog sich so weit aus wie nötig und setzte sich. Eigentlich empfand Gwenanda ihre monatliche Spülung gar nicht als unangenehm. Sie dauerte höchstens zwanzig Minuten,
es sei denn, man war schwanger. Dann konnten es fünfundzwanzig Minuten werden. Die Flüssigkeit war warm, der Strahl von mäßiger Stärke, und außerdem enthielt die Hormonlösung ein mildes Analgetikum und ein Kräftigungsmittel. Die meisten Frauen lasen dabei oder telefonierten an Apparaten, über die sie nur hören aber nicht sprechen konnten – aufgrund irgendeiner Prüderie der Verwaltung gab es in den Kabinen keine anderen Telefone. Gwenanda machte es sich gemütlich. Sie lehnte sich zurück und ließ sich die überflüssigen Zellen auswaschen, die sich durch die vor der Spülung eingenommenen Tabletten schon gelöst hatten. Sie machte sich keine Sorgen um Maris und keine um Kriss. Am allerwenigsten machte sie sich Sorgen um die vor Gericht anstehenden Fälle oder darum, was es heute zum Abendessen geben würde. Zum Abschluß duschte sie, zog frische Unterwäsche an, die sie in ihrer Schultertasche mitgebracht hatte. Sie verließ bei bester Laune die Klinik… und sah Dorothy im Warteraum sitzen. »Ich dachte, du wärest nach Hause gegangen?« »Ich wollte lieber Jocelyn im Auge behalten«, sagte sie und warf den Kopf hoch. »Ich habe keinen Grund, vor ihr wegzulaufen. Ich habe genauso viele Rechte wie sie.« »Vielleicht mehr«, ermutigte Gwenanda sie. »Ist diese Närrin immer noch hier?« »Schau doch mal nach.« Oh, ja, die Närrin war noch da, und sie benahm sich närrischer und übler als je zuvor. Sie kreischte einen bärtigen jungen Mann an, der zurückschrie »Das ist mein gutes Recht!« Und sie zeigte auf die Schrifttafel, auf der jetzt stand: Geoffrey, ich liebe dich!
»Ich verlange«, schrie Jocelyn, während die Frau vom Notdienst über Radio Instruktionen einholte, »daß Sie diese obszöne und perverse Aufschrift entfernen!« »Obszön!« schrie der junge Mann. »Pervers! Er hat Geburtstag, verdammt nochmal! Was ist daran pervers, daß man jemanden liebt und ihm zum Geburtstag gratuliert?« »Was für ein lächerlicher Fall«, sagte Gwenanda und machte sich mit der Frau vom Notdienst bekannt. »Wollen Sie, daß ich diesen Fall übernehme?« fragte sie. Die Frau war über diese Aussicht ganz begeistert. »Okay«, sagte sie und wandte sich an Jocelyn. »Hören Sie zu. Sie sind hier neu, und deshalb kann man Sie in gewisser Hinsicht entschuldigen. Aber er hat recht, jetzt sind wir an der Reihe, und wenn Sie wieder was auf die Tafel schreiben wollen, müssen Sie eben warten.« »Niemals! Und dann noch diese Unanständigkeit. Aber darum geht es überhaupt nicht«, sagte Jocelyn und drehte sich um, damit auch das andere halbe Dutzend Passanten sie hören konnte. »Es geht darum, daß hier hilflose und unschuldige ungeborene Kinder ermordet werden.« »Nun«, sagte Gwenanda ruhig, »normalerweise nicht. Aber so wird es bei uns nun einmal gemacht.« »Aber es ist eine Sünde!« »Ach, nein«, seufzte Gwenanda. »Hören Sie zu. Erstens erspart das uns Frauen eine Menge Unannehmlichkeiten. Zweitens bedeutet es, daß wir ein Kind bekommen können, wenn wir es wollen. Was ist denn daran so schlimm?« »Wenn Gott wollte, daß Frauen selbst bestimmen, wann sie ein Kind haben wollen, hätte Er uns anders erschaffen!« Ganz gegen ihren Willen und trotz der erfrischenden Spülung von vorhin war Gwenanda jetzt gereizt. »Sehen Sie, eben haben Sie Gott sogar einen Mann genannt! Was hat ein Mann mit Frauenangelegenheiten zu tun?«
Jocelyns Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Dasselbe könnte ich Sie fragen. Was haben Sie mit meinen Angelegenheiten zu tun?« »Ich bin Richterin am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Das habe ich damit zu tun.« »Und ich habe nichts Unrechtes getan! Aber was soll’s? Ich sehe ja, daß man mit Ihnen nicht reden kann«, sagte sie, maß die Anwesenden mit ihren Blicken und holte tief Luft. Sie schlug mit der Handtasche gegen die Glasziegel an der Fassade der Klinik. Das Glas zerbrach nicht. Jocelyn knurrte böse und trat einige Male mit dem Fuß dagegen. Diesmal hatte sie mehr Erfolg; einer der Ziegel löste sich aus seiner Fassung. »Verdammt, warum haben Sie das getan?« sagte Gwenanda empört, und die Frau vom Notdienst schrie überrascht auf. »Jetzt muß ich Sie verhaften«, sagte Gwenanda. »Übermorgen vor dem Obersten Bundesgericht, zehn Uhr vormittags – sie können sich durchfragen. Oder soll die Frau vom Notdienst Ihnen die Adresse aufschreiben?« »Nein!« rief Jocelyn laut. »Ich freue mich sogar! Ich will meinen Fall vor die Öffentlichkeit bringen!« »Sehr schön«, sagte Gwenanda, »aber tun Sie es dort. Wenn Sie es hier noch länger versuchen, wird der Notdienst Sie wahrscheinlich für die Nacht einsperren müssen, denn ich nehme an, es handelt sich hier um eine Mißachtung des Gerichts. Komm Dorothy«, rief sie über die Schulter. »Der hast du’s aber gegeben«, sagte Dorothy, als sie wieder im Wagen saßen. »Hoffentlich«, murmelte Gwenanda. »Was wirst du mit ihr machen?« fragte Dorothy und sah Gwenanda neugierig an. Sie war solche Stimmungsumschwünge nicht gewohnt, und sie paßten auch nicht zu dem Bild, das sie sich von einer Richterin am Obersten Bundesgericht machte.
»Was ich mit ihr mache?« rief Gwenanda. »Ich habe jetzt einen weiteren Fall auf die Tagesordnung gesetzt, obwohl der alte Sammy sich schon über zuviel Arbeit beschwert hat. Die Frage ist: Was wird Sammy mit mir machen?«
IV
Als sie wieder zu Hause angekommen waren, hatte Gwenanda andere Sorgen. Am Fahrstuhl stand ein Wagen des Notdienstes, und ein halbes Dutzend Ärztefahrräder parkten vor dem Eingang. »Mein Gott!« rief Gwenanda. »Wo ist Maris?« Sie rannte in die Gemeinschaftsräume. Es ging aber nicht um Maris, wenigstens nicht speziell. Es ging um alle. Fünf Leute vom Notdienst, die Rotkreuzarmbinden trugen, versuchten, die zwei Dutzend Bewohner in einer Reihe aufzustellen, damit sie Speichelabstriche machen und ihnen Spritzen in den Arm geben konnten. »Maris!« schrie Gwenanda, aber dann sah sie, daß Maris ganz ruhig dasaß, zudem noch auf Kriss’ Schoß. »Mit ihr ist alles in Ordnung«, grinste Kriss ein wenig verlegen, aber auch ein wenig stolz. »Wir müssen uns nur ein bißchen spritzen lassen, weiter nichts.« »Wogegen spritzen lassen?« fragte Gwenanda und wußte nicht, ob sie ihrem frisch erworbenen mütterlichen Instinkt folgen und Kriss das Kind aus dem Arm reißen sollte, oder ob es besser war, ihn seiner Körperchemie zu überlassen. Deshalb hörte sie von seiner Erklärung nur die Hälfte. Als er Harl ins Hospital geschafft hatte, war es dort zugegangen wie in einem Tollhaus. Sie wußten nicht genau, was Harl fehlte, aber was immer es war, auch andere Leute hatten es. Sie behielten Harl gleich da. Kriss wurde in einem Wagen des Notdienstes nach Hause gefahren, und unterwegs wurde noch weiteres Personal hinzugezogen. Alle, die während der letzten vierundzwanzig Stunden mit Harl in Berührung gekommen waren, bekamen eine Breitbandantivireninjektion.
»Es tut bestimmt nicht weh, mein Kleines«, murmelte Gwenanda und beschloß, Maris auf Kriss’ Schoß zu lassen. Sie beugte sich aber vor, um sie zu streicheln. »Du wirst es kaum spüren. Dann nimmst du einen Schluck aus dieser kleinen Flasche; es ist nur destilliertes Wasser und schmeckt nach gar nichts, und du muß es auch nicht schlucken, du mußt nur…« »Meine Güte, Gwenanda«, sagte Maris, »ich weiß, wie eine Speichelprobe genommen wird. Im Kindergarten wird das dauernd gemacht.« »Aber ich weiß es nicht«, mischte Dorothy sich ein. »Würdest du es mir bitte erklären?« Am liebsten hätte Gwenanda nein gesagt, denn sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf Maris, aber dann hätte Kriss es Dorothy vielleicht erklärt und nicht mehr auf die Kleine geachtet. Also gab Gwenanda ihr genaue Anweisungen. Die kleinen gelben Flaschen enthielten destilliertes Wasser; man spülte sich damit den Mund aus und spuckte es in die Flasche zurück. In der Klinik wurde diese Probe dann analysiert, damit festgestellt werden konnte, ob man krank war, sich schon angesteckt hatte oder mit einem Kranken in Berührung gekommen war. Und obwohl nichts an Maris’ Aussehen oder Verhalten auf eine Ansteckung hinwies, verfluchte sich Gwenanda dafür, daß sie das Kind in dieses Pestloch gebracht hatte, ohne vorher jeden einzelnen Bewohner ärztlich untersuchen zu lassen. Kriss hob das Kind zu ihr auf und sagte ihr, daß er jetzt kochen müsse. »Nein, nein«, sagte Gwenanda schnell. Sie sah, daß alle schon gespuckt hatten und geimpft worden waren. »Ich übernehme das; du sitzt gerade so bequem. Dorothy, du kannst mir dabei helfen.«
Bohnenpastete mit Garnelen, ein Krill-Ragout mit Sahne und Butter, Speckbrot mit Gemüsepüree – wenn sie wollte, konnte
Gwenanda ausgezeichnet kochen. Alle Mitbewohner machten ihr Komplimente, aber Maris seufzte bei jedem Gang, als müsse sie eine schwierige Aufgabe bewältigen. »Du brauchst nichts zu essen, was du nicht magst« – ein nicht sehr überzeugtes Lächeln – »nein, wirklich nicht, Liebes. Sag mal? Gibt es etwas, das du besonders gern ißt? Vielleicht zum Nachtisch?« »Ich will es mir überlegen«, sagte die Kleine altklug und tauchte ein Stück Speckbrot in ihr Ragout. »Ach, laß das Kind doch in Ruhe, Schatz«, sagte Kriss und strich Maris beruhigend über den Kopf. »Natürlich«, strahlte Gwenanda, die froh war, daß alles so gut lief. Nun, wenigstens einiges. Sie war immer noch angewidert von dem Benehmen der alten Frau vor dem Spülpalast, und in die Unterhaltung schlich sich ein Ton unechter Heiterkeit. Niemand erwähnte Harl. Jeder dachte an ihn. Krankheit! Meine Güte, dachte Gwenanda, wann ist hier zuletzt irgendeine Krankheit ausgebrochen? Das ist ja wie im finsteren Mittelalter! Als Chefköchin des Tages hatte Gwenanda das Dinner als Büfett angerichtet, damit Maris, Kriss und sie eine ruhige Ecke für sich hatten. Sie saßen auf Kissen um einen Couchtisch herum, auf dem das Essen stand, und wenn man die Szene von weitem betrachtete, wie Gwenanda es jetzt in ihrer Phantasie mit Vergnügen tat, mußten sie den Eindruck machen, als seien sie eine Familie. Wie seltsam, dachte Gwenanda, genau das ist es, was ich mir wünsche! Warum weiß ich das nicht schon seit Jahren? »Möchtet ihr noch etwas Ragout, Kriss? Maris? Vielleicht ein wenig Salat?« Das kleine Mädchen seufzte und legte den Löffel weg. »Du drängst zu sehr«, bemerkte Kriss.
»Sie muß schließlich essen, oder nicht? Hör zu, Liebling, sag mir nur, was du möchtest, und ich hole es. Was hat deine Mutter dir denn zu essen gegeben?« Eine Weile kaute Maris verbissen und schluckte dann herunter, was sie noch im Mund hatte. »Verschiedene Sachen«, antwortete sie. »Fleisch? Ich hätte dir Fleisch geben können. Ich selbst hasse Fleisch. Viele Leute mögen es«, fügte sie nachsichtig hinzu, »und deshalb habe ich zu Hause immer etwas in der Tiefkühl… oh, nein – ich habe es immer im Haus.« »Du kannst das Wort ruhig sagen«, meinte das Mädchen. »Ich weiß, daß meine Mutter in der Tiefkühltruhe liegt.« »Ääääh…« Gwenanda dehnte diesen Verlegenheitslaut ein wenig und sah Kriss hilfesuchend an; sie wußte nicht, ob dies der richtige Augenblick für ein offenes Gespräch war. Er war es. »Es tut mir leid um sie, Kleines«, sagte sie weich. »Warum?« Das kleine Mädchen zuckte die Achseln. »Es ist doch ihre eigene Schuld, nicht wahr?« Kriss aß den letzten Löffel Ragout und lächelte das Mädchen an. »Möchtest du uns darüber erzählen?« fragte er, und Gwenanda fauchte: »Natürlich will sie das nicht. Laß sie in Ruhe!« Kriss sah sie erstaunt und Maris sah sie mit einem verzeihenden Blick an. »Miß Gwenanda«, sagte sie, »es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen, aber, ehrlich, es ist langweilig. Die Irrenärzte und die Kinderpfleger haben wochenlang mit mir darüber gesprochen. Seit es passierte.« Sie schwieg eine Weile und dachte angestrengt nach. Gwenanda wartete auf den dramatischen Durchbruch. »Ich habe es mir überlegt«, sagte Maris dann, »ich will Eiscreme zum Nachtisch.« Als die Reste verstaut waren, der Abfall sortiert und der Tisch abgeräumt, machten sie sich beide auf den Weg. Nur sie
beide. Kriss mußte arbeiten. Gwenanda hatte auch noch zu tun, aber als Gwenanda ihm vorschlug, mitzukommen und seine Arbeit in ihrer Wohnung zu erledigen, schüttelte er den Kopf. Gwenanda knirschte mit den Zähnen. Manchmal war Kriss wirklich stur wie ein alter Esel! Gwenanda und Maris fuhren also ohne ihn mit dem Fahrstuhl nach unten zur RainbowBrücke und von dort zu dem hohen Gebäude mit den hohen Mieten hinauf, in dem ihre Dienstwohnung lag. »Ins Bett, Kleines«, rief sie fröhlich, »oder nein, Moment mal. Zuerst die Zähne putzen! Vor dem Zähneputzen baden! Vor dem Baden das Bett machen!« Es machte schon eine Menge Arbeit, ein kleines Mädchen abends ins Bett zu bringen! Aber endlich war es geschafft, und Gwenanda warf einen sentimentalen Blick auf das warme stille kleine Bündel mitten auf dem großen weißen Wasserbett, und sie empfand viel Zärtlichkeit für die Kleine. Dann mußte Gwenanda noch die Tests für die Richterkandidaten schreiben, und gewissenhaft machte sie sich an die Arbeit. Kriss… Maris… die Eignungstests… die widerliche Jocelyn – Gwenanda ging einfach zu viel durch den Kopf, und vor ihr lagen die unvollständigen Listen, mit denen sie heute nachmittag angefangen hatte. Sie fluchte leise. Es war wirklich zu viel! Sie schaltete die Nachrichten ein, wollte Musik suchen, aber dann stutzte sie, als sie das Wort Katastrophenalarm hörte. »… wurde um zweiundzwanzig Uhr heute abend auf Veranlassung des Bürgermeisters und des Stadtrats Katastrophenalarm ausgelöst. Eine völlige Immunisierung ist unbedingt erforderlich. Und das bedeutet, Leute, daß Sie sich sofort in die nächste Klinik begeben, falls Sie noch keine Injektion bekommen haben. Sie alle sind gemeint, und nehmen Sie die Sache bitte sehr ernst.«
Aha, dachte Gwenanda, also doch eine ernste Sache! Sie drückte ein paar Knöpfe, bis sie den detaillierten Bericht hörte, den sie brauchte. Vor Stunden war die Leiche des sogenannten »Primär-Bakterienträgers« gefunden worden. Sie war nicht schwer zu finden gewesen, denn der Körper eines Menschen, der von einer Gartenterrasse auf einen vierundzwanzig Stockwerke tiefer gelegenen Verbindungsweg zwischen zwei Gebäuden stürzt, erregt natürlich Aufsehen. Die unmittelbare Todesursache lag klar zutage, so daß die Leiche erst obduziert wurde, als ein Biotechniker zwischen den verschiedenen Impfaktionen die Zeit dazu fand. Als er den Ergebnissen aus den ersten Kulturen nicht trauen wollte, brauchte er noch einen halben Tag. Virusgrippe. Eine tödliche Virusgrippe. Die großen Seuchen der Vergangenheit suchten ganze Städte und ganze Länder heim – ja, ganze Kontinente – und die Menschen starben wie die Fliegen. Natürlich bestand diese Gefahr heute nicht mehr. Davon war Gwenanda überzeugt. Eine wirklich gefährliche Epidemie hatte es in der Stadt schon seit zwei Jahrhunderten nicht mehr gegeben, und es würde auch jetzt keine geben, wenn die Stadt das verhindern konnte. Dennoch, die Wahrscheinlichkeit schien beängstigend hoch. Dieser »Primär-Bakterienträger« – seine Identität war offensichtlich nicht bekannt, was ihr völlig unglaublich vorkam – mußte vor fast einer Woche erkrankt sein. Es gab in der Stadt etwa zehn Millionen Menschen und einen Infektionsherd. Nachdenklich gab Gwenanda ein paar Zahlen ein. Ein Bakterienträger, der durch die Stadt ging, kam wahrscheinlich innerhalb einer Stunde etwa fünfzig Menschen so nahe, daß er sie infizieren konnte. Jeder dieser Menschen ging weiter. Wenn man die acht Stunden abzog, die jeder von ihnen täglich schlief – im günstigsten Fall allein – ergaben sich
während dieser sechs Tage 6 x 16 = 96, also 509 Kontakte. Das dürfte völlig ausreichen, die ganze Stadt zu infizieren. Oder die ganze Welt. Oder die ganze Galaxis. Natürlich konnte die Medizin mit jeder Infektionskrankheit fertigwerden, selbst mit einer aus früheren Zeiten – wenn es wenige Fälle gab. Zahlreiche Fälle wurden zum Problem, besonders, wenn es keine großen Mengen entsprechender Antibiotika gab. Die Breitbandinjektionen waren weniger wirkungsvoll; Spezial-Impfstoffe mußten aus anderen Städten eingeflogen werden. Oder man mußte sie herstellen. Mit Hilfe der Lebenserhaltungssysteme konnten Menschen, in denen auch nur noch ein Fünkchen Leben war, auf unbegrenzte Zeit konserviert werden (aber wieviele? Gewiß nicht zehn Millionen!), und als letzte Möglichkeit gab es noch die Gefrieranlagen (aber niemand hatte je versucht, in einer Woche zehn Millionen Menschen einzufrieren!). Was dann? Gwenanda seufzte, speicherte alle ihre Notizen, zog sich aus und hüpfte unter die Dusche. Was für eine Schweinerei. Das würde für den nächsten Tag einiges durcheinanderbringen – wie etwa den Kindergarten? Bestimmt den Kindergarten! Ganz gewiß würde sie Maris nicht in den Kindergarten schicken, wo die Hälfte der Kinder vielleicht schon infiziert war, ganz gleich, wie viele Breitbandinjektionen die Kleine schon gehabt hatte. Sie war entschlossen, Maris am nächsten Tag zu Hause zu lassen, und sie schlief mit dem beruhigenden Gedanken ein, daß das heute aufgetretene Problem wirklich nicht ihres war. Am Leben bleiben. Das allerdings war ihr Problem, und es war jetzt ein doppeltes Problem, denn anstatt für sich allein mußte sie jetzt für den Schutz und das Überleben von zwei Menschen sorgen. Mutter zu sein, war nicht nur ein Vergnügen.
V
»Hier«, erzählte Gwenanda dem Kind, »arbeitet deine neue Mutter. Wie gefällt es dir hier?« »Es ist schön«, sagte Maris höflich und schaute sich in dem großen halbkreisförmigen Saal um. Das Rund der Zuschauerstühle, das in einem Planetarium hätte stehen können, war fast leer, denn der heutige Tag war Beweisanträgen vorbehalten, und es fand keine öffentliche Anhörung statt. Die neun geschwungenen Richtertische warteten auf das Erscheinen der übrigen Richter. »Gwenanda?« sagte Maris, »als wir den Fahrstuhl nach hier nahmen, sind wir da nicht bis unter die Erde gefahren?« »Ganz tief nach unten, Schatz. Zweihundert Meter. Ganz gleich, in welcher Stadt wir sind, der Saal für das Gericht wird immer unter der Erde gebaut – das ist eine Art Tradition, wenn du weißt was das heißt.« »Nein«, sagte Maris und dachte schon an eine andere Frage. »Gwenanda? Ist dein Job ein guter Job?« »Das kann man wohl sagen, mein Kleines.« »Kann ich das auch werden, wenn ich groß bin?« »Wohl nicht. Es ist eigentlich kein Job, den du dir aussuchst. Eher sucht der Job dich. Weißt du, zuerst mußt du zum Regierungsdienst einberufen werden.« »Was heißt ›einberufen‹?« Das Mädchen hörte aufmerksam zu, aber ihre Blicke waren auf die Richtertür geheftet, durch die Mary Joan Whittier gerade den Saal betrat. Sie trug heute keine Richterrobe sondern eine Art Umhang. In ihrem Haar steckten Lockenwickler, und sie schaute freundlich zu dem Kind herüber. Sie winkte. Maris warf ihr eine Kußhand zu, und
Gwenanda nahm sich ernsthaft vor, auf zärtliche Gesten eines Kindes nicht mehr eifersüchtig zu sein, wenn sie anderen galten. Sie fuhr fort: »Das bedeutet, daß zufällig ein paar Leute ausgewählt werden, ich meine, als ob die Namen aus einem Hut gezogen würden, nur, daß es in Wirklichkeit ein Computer ist. Dann werden den Leuten verschiedene Jobs zugeteilt, und das richtet sich danach, wie gut sie die Tests während der Grundausbildung bestanden haben. Ich wurde Kandidatin für den Obersten Gerichtshof, den du hier siehst. Und der Computer sortiert die Dinge so, daß alle möglichen Leute gleichmäßig vertreten sind – und ich gehörte zu den Leuten, die ausgewählt wurden. Ich muß sechs Jahre lang hier arbeiten. Das vierte ist fast vorbei. Schon bald sollen die dienstältesten Richter, das sind der Vorsitzende und Myra Haik und Angel – er ist einer von den Blechzwillingen, und du wirst ihn gleich sehen – jedenfalls sollen sie zurücktreten, und wir bekommen drei neue, und für die letzten zwei Jahre gehöre ich dann zu den dienstältesten Richtern. Anschließend endet mein Job hier.« Maris nickte und studierte dabei den nicht abreißenden Kreis von Sprüchen und Losungen, mit denen das Gericht seine Überlegungen illustrierte. Eines hieß: »Die Kunst, Reiche zu gründen und zu erhalten, beruht auf bestimmten Regeln, wie Mathematik und Geometrie, und nicht auf der Praxis allein, wie das Tennisspielen.« Thomas Hobbes. »Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Motto einverstanden bin«, sagte Gwenanda zweifelnd. Sie war den Blicken des Kindes gefolgt, aber bei den schweren Wörtern hatte Maris das Lesen schon aufgegeben. »Hast du viel zu tun?« fragte sie. »Ach, nein. Wir befassen uns mit zwei verschiedenen Dingen. Einmal kommen Leute zu uns, die sich über irgend
etwas nicht einigen können. Aber das ist langweilig, denn sie sind nur hier, weil sie vorher auf niemanden gehört haben. Deshalb müssen es halsstarrige Leute sein, und mir persönlich wäre es genauso lieb, wenn sie ihre Streitigkeiten mit Fahrradketten austrügen, anstatt uns zu belästigen. Aber die kriminellen Sachen gefallen mir. Es macht mir Spaß, wenn wirklich schlimme Verbrecher kommen, die wir dann in die Tiefkühltruhe stecken können oder – oh, verdammt.« Sie verstummte und hatte jetzt ein sehr schlechtes Gewissen. »Es ist schon gut, Gwenanda«, sagte das kleine Mädchen. »Ich weiß, daß ihr meine Mutter einfrieren mußtet.« »Das wollte ich nicht sagen. Es fuhr mir nur so heraus.« »Ich weiß.« Der Gerichtssaal füllte sich jetzt, nicht mit Zuhörern, sondern mit Anwälten und Prozeßführenden, und Maris betrachtete interessiert alles, was es zu sehen gab. Sogar die Leuchtschrift, die gerade vorbeizog. »Oh, die kann ich lesen«, rief sie und schaute zu den Leuchtbuchstaben hinauf. »Was nicht recht ist, tue nicht. Was nicht wahr ist, sage nicht.« – Marcus Aurelius. Während Gwenanda sie wegführte, um sie den anderen Richtern vorzustellen, wiederholte Maris die Worte. Sie übte immer noch, als Gwenanda sie mit den Blechzwillingen bekanntmachte. Gwenanda war während dieser Zeremonie sehr nervös – verdammt, wenn das Kind nun etwas sagte? So etwas wie die beiden trifft man nicht jeden Tag. Wenn sie nun versuchte, ihnen die Hand zu geben? Wo doch keiner von ihnen Hände hatte? Aber Maris war zu höflich, irgend etwas dergleichen zu tun. Sie lächelte jedem der beiden mechanischen Richter freundlich zu und sagte in höflichem Konversationston: »Mir gefällt, was er sagt, dieser Mar-cus Aurel-us.« Natürlich konnte keiner der beiden Blechzwillinge zurücklächeln. Es war allerdings zu merken, wenn Ai-Max
freundlich gestimmt war, oder wenn ihm etwas gefiel. Wenn er sich langweilte oder nicht aufmerksam war, klang seine Stimme flach und dünn. Wenn alle seine Schaltkreise beteiligt waren, klang sie majestätisch. »Marcus Aurelius«, korrigierte er, und seine Stimme war wohltönend und voller Harmonie. »Ein großer Philosoph unter den Menschen, 121 – 180 nach Christi. Er wurde von dem römischen Kaiser Antoninus Pius adoptiert, und so wurde er selbst Kaiser, aber bekannter ist er als stoischer Philosoph. Das war eine Moralphilosophie und in vielen Teilen bewundernswert, wie wir an dem Zitat erkennen, das wir eben gelesen haben.« »Außerdem war er katholisch«, rief Angel, und seine Lichter blitzten auf, »wie meine Mama. Die sagte auch immer dasselbe: ›Tu nichts Böses, erzähl keine Lügen…‹ Oh, ich hätte auf sie hören sollen.« Gwenanda strahlte. Hoffentlich hat Maris gemerkt, dachte sie, daß auch aus Adoptivkindern im Leben etwas werden kann. Sie bemerkte kaum den Streit, der zwischen den Blechzwillingen ausbrach, als Ai-Max Angel darauf hinwies, daß er wahrscheinlich Marcus Aurelius mit Konstantin verwechselt habe. Allerdings bemerkte sie, daß Mary Joan Whittier ihr gereizt zurief: »Aber wirklich, Gwenanda, siehst du nicht, daß wir alle auf dich warten?« Gwenanda warf Mary Joan einen giftigen, wenn auch etwas besorgten Blick zu – verdammt, was war nur mit Mary los? Sie sah ja erbärmlich aus! – Dann sah sie Maris ängstlich an. »Kannst du hier eine Weile allein sitzen bleiben, Honey?« fragte sie. »Oh ja, Mama«, erwiderte das Kind. »Tu du nur deine Arbeit.« Mama. Wie auf Wolken ging Gwenanda an ihren Platz. Diesen Tag hatte das Gericht für Beweisanträge bestimmt, und vor diesem Gericht galten nur wirkliche Beweise. Etwa
zwölf Anwälte versuchten, sich bei dem einen oder anderen Richter Gehör zu verschaffen, Samelweiss trieb’ alle Anwesenden zur Eile an, um die Sitzung gegen zwei Uhr schließen und noch das nächste Wettbüro erreichen zu können, Mary Joan stotterte vor Wut, als sie sich mit Pak Il Myun darüber stritt, ob man einen Bankbetrüger einfrieren oder ihm nur für ein paar Jahre den Kredit sperren sollte, und die Blechzwillinge, die ihren Streit über Marcus Aurelius aufgegeben hatten, stritten sich jetzt über eine Querinterferenz in ihren Schaltkreisen. Die fröhlichste im ganzen Saal war Gwenanda. Die anderen Richter schauten unruhig zu ihr herüber, aber sie strahlte, denn ihr Herz hüpfte vor Freude. Mutti. »Bist du in Trance?« wollte Myra Haik wissen. »Ich habe dich schon zehnmal dasselbe gefragt!« »Um was für eine Frage handelt es sich denn, meine Liebe?« erkundigte sich Gwenanda sanft und versöhnlich. Myra konnte nichts dafür, daß sie ein solches Ekel war, denn bei ihr klappte es mit der Liebe nicht so recht. Es ging nicht um ihren Mann, den Textilchemiker, und nicht einmal um ihren Liebhaber, einen der Büroboten, einen großen kaffeebraunen Mann, der es fast im Profi-Football zu etwas gebracht hätte. Nein, das Problem war ihre Freundin. Aber selbst der digitale Kollege wußte nicht, wer diese Freundin war, außer, daß es sich um eines der Groupies handeln konnte, die dem Gericht von einer Stadt zur anderen folgten. Und wenn nicht einmal der digitale Kollege es wußte, der doch alles Mögliche mit den Telefongesprächen anderer Leute anstellen konnte, dann wußte es niemand. – »Was?« »Ich sagte, was ist mit diesem verdammten Fall, den du auf die Liste gesetzt hast?« kreischte Myra. Gwenanda schaute die andere freundlich an, während ihre Gedanken in die Gegenwart zurückkehrten. Dann erinnerte sie sich. »Oh, ja«, sagte sie. »Das ist Jocelyn. Heh, Vorsitzender«,
rief sie durch den Gerichtssaal zu Samelweiss hinüber. »Ich habe ganz vergessen, mit dir über diesen Fall zu reden. Ihr Name ist Jocelyn Feigerman. Sie glaubt, immer wenn eine Frau empfangen hat, soll sie das Kind auch austragen.« Ihre Worte übertönten das allgemeine Stimmengewirr, denn sie hatte das Mikrophon auf volle Lautstärke geschaltet, und überall im Saal war jetzt ungläubiges Gelächter zu hören. Aber der Vorsitzende Richter schüttelte den Kopf. »Sie ist schon ein widerwärtiges Weib«, gab er zu, »aber es ist ihr gutes Recht, zu denken was sie will. Denken verstößt nicht gegen das Gesetz.« »Aber das Zertrümmern von Fensterscheiben. Außerdem belästigt sie meine Freundin auf die übelste Weise. Ständig verfolgt sie sie und schreit sie an.« Sie merkte, daß Maris zu ihr herüberschaute, und gab einige Befehle für die Leuchtschrift ein. Das nächste Motto lautete jetzt: »Niemand hat das Recht, andere zu belästigen.« – Dreißigster Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten. »Verdammt, Gwenanda, ich weiß, was in der Verfassung steht«, donnerte der Vorsitzende Richter. »Aber weißt du, was ich sonst noch weiß? Ich weiß, daß unser Terminkalender für die nächsten beiden Wochen randvoll ist, und daß Mary Joan hier wie besoffen herumläuft.« – Mary Joan, das Kinn in die Hände gestützt, zitterte, aber sie schaute nicht auf. – »Und ich weiß, daß einige andere Richter mit ihren privaten Streitigkeiten beschäftigt sind – « schwaches Protestpiepen von den Blechzwillingen – »oder sich einen freien Tag nehmen, wann immer es ihnen gefällt.« Gwenanda weigerte sich, nachzugeben. »Sweety«, sagte sie fröhlich, »ich habe sie schon vorgeladen.« »Verdammt!« »Aber ich glaube, wir werden viel Spaß haben. Ein ähnlicher Fall wie dieser Verrückte, der uns verklagen wollte. Im
übrigen werde ich mir keinen freien Tag mehr nehmen«, versprach sie. »Und jetzt los, Leute. Ihr alle. Laßt uns die heutigen Fälle erledigen, damit ich hier rauskomme und dem Kind ein Eis kaufen kann!« Wie durch ein Wunder waren alle einverstanden – selbst Mary Joan, die halb schlief, und auch Angel, der einige seiner Schaltkreise dazu benutzte, für Maris, die in der ersten Reihe saß, Bilder seiner Ur-Ur-Ur-Großenkel zu projizieren. Sie erledigten ein paar Dutzend Anträge in einer halben Stunde. Die Fälle, die sie nicht an Ort und Stelle lösen konnten, teilten sie zwecks weiterer Ermittlungen fair untereinander auf – mehr oder weniger fair – Mary Joan antwortete kaum, als ihr Name aufgerufen wurde und Samelweiss ihr die Aufgabe zuteilen wollte, alle Fakten über Horatio Margov zu ermitteln, den verrückten Richter mit der Milliarden-Dollar-Klage. Samelweiss gab auf und übergab Ai-Max die Angelegenheit. Samelweiss brauchte genauso viel Zeit, Gwenanda zu beobachten, wie er brauchte, die anderen sieben Richter und die zwanzig Anwälte und Prozeßführenden herumzukommandieren. Als er am Ende Bandgerät und Sprechanlage abschaltete und »die Sitzung ist geschlossen« krähte, winkte er Gwenanda zu sich. Sie war schon halb vom Podium herabgestiegen, um zu Maris zu gehen, aber dann nickte sie dem Kind zu und schlenderte zum Tisch des Vorsitzenden. Erstaunlicherweise beschwerte er sich über nichts. Er kniff sie nicht einmal in den Hintern, sondern sagte nur: »Du entwickelst dich wirklich zu einer die Verhandlung leitenden Richterin, Gwennie. Hast du schon mal daran gedacht, Vorsitzende Richterin zu werden?« Gwenanda sah ihn mit offenem Mund an. »Ich? Du meinst mich? Nein, Sammy. Ich kann mir auf leichtere Art Feinde schaffen!«
»Irgend jemand muß es doch tun«, beharrte er. »Rechne es dir selbst aus. Meine Amtszeit läuft in ein paar Monaten aus, auch Angels und Myras. Der Vorsitzende Richter muß nicht einer der dienstältesten Richter sein, aber in der Praxis war es immer so. Wer bleibt also übrig?« Er zählte auf: »Da haben wir Pak. Nicht schlecht, aber er kommt mit den Leuten nicht klar. Dann ist da noch Mary Joan. Sie ist ein richtiger Dummkopf, von ihrer Figur ganz zu schweigen. Und die dritte bist du. Wen würdest du nun vorschlagen, Schatz?« »Pak«, sagte sie sofort, aber dann machte sie einen anderen Vorschlag. »Oder Mary Joan. Warum eigentlich nicht? Sie fühlt sich heute nur nicht besonders.« »Das tut sie bestimmt nicht«, stimmte der Vorsitzende zu und schaute Mary Joan nach, die gerade zum Umkleidezimmer stolperte. »Hoffentlich hat sie nicht diese verdammte Grippe«, sagte er. »Weißt du übrigens, daß sie den Kerl gefunden haben, der sie als erster hatte?« »Nein! Soll er deshalb vorgeladen werden?« »Das kann er nicht«, kicherte der Vorsitzende Richter. »Er wurde tot aufgefunden. Wirklich tot, weißt du, drei oder vier Tage schon, und er wimmelte von allen möglichen Krankheiten. Einer der Anwälte hat mir gesagt – aber was ist nun? Willst du Vorsitzende Richterin werden?« »Auf gar keinen Fall«, erklärte Gwenanda. »Ganz bestimmt nicht. Aber das ist ja auch nicht dein Problem.« »Das stimmt nicht ganz. Gewiß, das nächste Gericht wählt sich seinen eigenen Vorsitzenden, aber ich werde dafür sorgen, daß richtig gewählt wird. Wenn du willst, kannst du alle Stimmen bekommen. Ich habe schon mit Pak und den anderen Richtern gesprochen…« »Nein, verdammt«, rief Gwenanda, »dazu hattest du kein Recht!« Sie war jetzt wirklich wütend, und die gute Laune, die sie hatte, seit das Kind sie Mutti genannt hatte, war wie
weggeblasen. Sie wäre fast auf ihn losgegangen. Das einzige, was sie davon abhielt, war ein Ausruf des Kindes und ein Piepen von den Blechzwillingen. »Gwenanda!« rief Maris aufgeregt. »Angel sagt, daß mit dieser Richterin etwas passiert ist…« Und Angels Stimme kam mit allen Registern und bestätigte dröhnend: »Es ist Mary Joan. Sie liegt reglos im Vorraum. Ich kann deutlich erkennen, daß sie wirklich sehr krank ist!«
Natürlich gab der Vorsitzende Richter sofort einen dringenden Notruf durch. Und natürlich erschien in zehn Minuten der Notdienst, um die Patientin fortzuschaffen und alle Kontaktpersonen mit Antivirusspritzen zu immunisieren. Natürlich wartete Gwenanda nicht länger, denn sie und Maris hatten ihre Spritzen schon bekommen, und ihr einziger Gedanke war, mit Maris so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sie wollte die Kleine nach Hause bringen, und in diesem Augenblick erschien ihr die Wohngemeinschaft, in der Kriss lebte, als das geeignete »Zuhause«. Sie nahmen keinen Wagen und auch keine Schwebebahn. Sie nahmen ein Minitaxi, in dem der Fahrer vorn auf dem Elektromotor saß und Gwenanda und Maris sich hinten den Passagiersitz teilten. Auf dem Weg vom Gerichtssaal zur Erdoberfläche versuchte Gwenanda, das Kind von den anderen Passagieren, die sich im Fahrstuhl drängten, fernzuhalten, und als sie im Taxi saßen, machte sie sich Sorgen darüber, ob in der Wohngemeinschaft noch Ansteckungsgefahr bestand. Die Schutzimpfungen sollten natürlich eine Erkrankung verhindern, aber wer konnte wissen, ob sie immer wirksam waren? Um ihre Nervosität zu verbergen, versuchte sie, das Kind auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen, aber Maris hatte in ihrem kurzen
Leben schon alles gesehen, und außerdem war das Interessante nicht die City sondern das, was jetzt mit ihr geschah. Gwenanda fluchte innerlich und gab auf. Sie holte die Nachrichten auf den Schirm an der Rückseite des Fahrersitzes. Schlimm. Es hieß, in der Stadt seien bisher über achtzigtausend Grippefälle gemeldet worden. Die Hospize quollen über, und die Kliniken waren brechend voll. Der Impfstoff wurde knapp. Das gesamte Personal der Notdienste stand um die Uhr auf Abruf zur Verfügung, und die erst für das nächste Jahr vorgesehenen Leute, die, statt Steuern zu bezahlen, beim Notdienst arbeiten konnten, wurden vorzeitig einberufen. Gwenanda hörte weiter zu und hoffte auf beruhigende Nachrichten, aber es kamen keine. Das Erstaunlichste war, daß der tote Bakterienträger zwar gefunden worden war, aber offiziell nicht identifiziert werden konnte. »Das ist wirklich dumm«, klagte Gwenanda. »Wie ist es nur möglich, daß man die Leiche hat und nicht weiß, wer der Mann ist?« »Jeder ist doch irgendwer«, sagte Maris. »Da hast du verdammt recht. Das weiß man schon nach zwei Minuten. Man braucht nur Finger- oder Augenabdrücke zu machen. Oder man ermittelt das DNA-Spektrum. Was heißt hier ›unidentifiziert‹?« Gwenanda war wütend. »Was für eine Schweinerei!« Damit meinte Gwenanda die Unfähigkeit der Leute, eine Routineleiche zu identifizieren, aber was sie wirklich erboste, war die weit größere Schweinerei, die jetzt in der City passierte. Es hatte schon so lange keine Epidemie mehr in der City gegeben, nicht einmal die entfernte Möglichkeit einer Epidemie, daß keiner wußte, was zu tun war. Lachend darüber hinweggehen? Den verpesteten Ort verlassen? Aber es gab schon zu viele elende Opfer, und die ganze Stadt war sofort unter Quarantäne gestellt worden, so daß niemand mehr
verschwinden konnte. Und da die City nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte, verhielt sie sich falsch. Einige gerieten in Panik (wenige), und andere machten dumme Witze, die bald niemand mehr komisch fand, und wieder andere taten, als sei nichts geschehen (fast alle – bis jemand in der Nähe nieste oder auch nur kränklich aussah. Dann verwandelte der Bürger der dritten Gruppe sich sofort in einen der ersten; kein Leprakranker wurde je ängstlicher gemieden als ein New Yorker, der sich an diesem Tag laut räusperte). Sie fuhren vom Gerichtssaal zweihundert Meter nach oben, fuhren mit dem Taxi durch die halbe City, stiegen aus und erreichten nach einem Fußweg von hundert Metern die Wohngemeinschaft – und Kriss war nicht da. Er war auch nicht in seinem Büro, denn als Gwenanda das städtische Wasser- und Abwasseramt anrief, sagte ihr der Anrufbeantworter, daß das Büro heute geschlossen sei. Das ließ auf eine Möglichkeit schließen, die Gwenanda nicht sehr gut gefiel. »Komm, Schatz«, sagte sie, »du bekommst jetzt dein Eis.« Und auf dem ganzen Weg zum Terrassenrestaurant, in dem Dorothy arbeitete, machte sie ein finsteres Gesicht. Als sie sah, daß Kriss nicht da war, schämte sie sich ihres Verdachts. Das Restaurant mit seinen hellen freundlichen Räumen hoch über dem Park und der Rainbow-Brücke war fast leer, und Dorothy sah sie sofort und kam mit ihrem seltsamen Gang auf sie zu. Gwenanda zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, aber es verhärtete sich, als Maris Dorothy entgegenlief und sie küßte, und verschwand ganz, als Dorothy sagte: »Kriss ist eben gegangen, aber er sagt, er kommt in einer Stunde wieder zurück.« Und das erhärtete Gwenandas Verdacht. Sie konnte nur noch die Stirn runzeln und mit den Zähnen knirschen. Wollte dieses Weib ihr Kriss und das Mädchen wegnehmen? Gwenanda hatte nicht ihren besten Tag, und was über die
Lautsprecher des Restaurants kam, ging ihr auf die Nerven. Zwischen die High-Tech-Musik mischten sich immer wieder Worte, die wie Ermahnungen an die Angestellten klangen: »Da nun das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist, was können wir also tun? Wir versuchen, es für unsere Gäste zu einer angenehmen Mahlzeit zu machen.« »He«, sagte Gwenanda ungehalten. »Was ist das für ein verdammter Lärm?« Dorothys Miene verdüsterte sich, aber sie reagierte höflich. Sie beantwortete eher die Worte als den Ton, in dem sie gesprochen waren: »Das soll uns bei unserer Ausbildung helfen. Die meisten von uns sind erst vor kurzem aufgetaut worden – aber die anderen«, sagte sie betrübt, »scheinen schneller zu lernen als ich.« Maris betrachtete Gwenandas Gesicht mit einem Ausdruck von – verdammt, konnte es Angst sein? Natürlich war es Angst. Was sollte man anderes von einem Kind erwarten, dessen Mutter es verprügelte und sogar ihren Mann ermordete, wenn sie wütend war? »Ach«, sagte Gwenanda, die einsah, daß ihr Verhalten unfair war, und die jetzt versuchte, ihren Fehler wieder gutzumachen, »ich finde, du machst das schon sehr gut.« Dorothy dachte darüber nach und strich Maris zerstreut über das Haar. »Nun, ich kann bedienen, und ich komme sogar mit den Schnellgerichten zurecht. Ich werde nicht nervös, wenn Andrang ist, und ich bringe die Bestellungen nicht durcheinander. Aber ich zerbreche viel Geschirr.« »Das wird besser werden«, versicherte Gwenanda ihr. »Hoffentlich. Nun, was soll’s denn sein – ich meine, was darf ich bringen?« Sie schaute zu den Lautsprechern hoch, und als sie die Bestellung entgegengenommen hatte – einen MangoSplit für Maris und eine Flasche Bier für Gwenanda – ging sie
steifbeinig davon und ließ unbeholfen die Arme pendeln. Aber sie lächelte. Gwenanda lehnte sich zurück, ignorierte die Lautsprecher und zwang sich zur Ruhe. » – sobald der Gast sich an einen unserer Tische gesetzt hat, warten Sie nicht, sondern gehen Sie sofort zu ihm und fragen Sie: ›Darf ich Ihnen etwas Kaffee einschenken?‹ und bringen Sie die Kanne gleich mit, um – « »Es ist hübsch hier«, sagte Gwenanda fröhlich, als Maris sich umschaute. »Schau mal, da drüben hinter dem Park. Das ist unser Haus. Siehst du es? Das mit der grünen Glasfassade? Wo die Terrasse mit den Palmen ist wohnen wir, zwanzig Stockwerke höher als dieses Lokal.« »Ich sehe es«, sagte Maris höflich, entschuldigte sich und ging auf die Toilette. Es dauerte eine Weile, bis sie zurückkam, und sie aß ihren Mango-Split nur langsam. Als Kriss auftauchte, war sie immer noch nicht fertig. »Ich bin früher zurückgekommen«, sagte er gutgelaunt, »weil ich dachte, daß ihr vielleicht hier seid.« Er küßte Gwenanda und fuhr mit dem Gesicht über Maris’ Haar. Er setzte sich, winkte Dorothy heran, um seine Bestellung aufzugeben, und sagte: »Es wird unangenehm draußen. Ich habe mir um euch ein wenig Sorgen gemacht.« »Nicht halb so sehr wie ich«, sagte Gwenanda kurz und merkte, wie Kriss Dorothy zublinzelte, als er sie um ein Glas Wein bat. Aber sie hatte sich gegen die Eifersucht entschieden. Eifersucht war ihrer nicht würdig, und außerdem würde sich Kriss so etwas nicht lange gefallen lassen. Aber heute nahm er an ihrem Ton keinen Anstoß. Wahrscheinlich hatte er Verständnis dafür, daß sie wegen der Epidemie in der City nervös war und dazu noch rasch ihre Mutterrolle lernen mußte, wobei sie gar keine gute Figur machte.
»Ich hatte gedacht, wir könnten heute nachmittag alle zusammen zur Rennbahn gehen«, sagte er und legte Maris den Arm um die Schultern, während das Kind in seinem Eis stocherte. »Aber das geht leider nicht. Die Rennen fallen aus, weil zu viele Jockeys krank sind.« »Das wird dem Vorsitzenden Richter gar nicht gefallen«, sagte Gwenanda. Sie bestellte noch ein Bier und fühlte sich wieder ein wenig besser. Sie schmiegte sich an Kriss und rieb ihr Ohr an den Locken seines Backenbarts; verdammt, wie gut tat ihr seine bloße Anwesenheit. »Ich wünschte, du würdest nicht nach Seattle gehen«, sagte sie bedrückt, während es wieder aus den Lautsprechern plärrte: » – falls der Weinkellner gerade anderweitig beschäftigt ist, reichen Sie dem Gast bitte die Weinkarte, aber nehmen Sie während des Essens keine Bestellungen entgegen – « Er grinste sie an. »Wer weiß? Vielleicht bleibt das Projekt in der Allgemeinen Stadtversammlung hängen. Und da wir gerade davon reden, hast du deine Erklärung ausreichend vorbereitet, für den Fall, daß du aufgerufen wirst?« »Natürlich habe ich das.« Und das habe ich wirklich, dachte Gwenanda. Allerdings hatte das Kind einen guten Teil ihrer Zeit beansprucht. Natürlich war sie nicht mit dem Herzen dabeigewesen. Warum sollte sie auch für ein Projekt plädieren, das ihr Kriss entführen würde? Aber vielleicht würde das Projekt ohnehin abgelehnt, ganz gleich, was sie tat. Andererseits könnte es auch genehmigt werden. Sie schaute nachdenklich zu, wie Kriss sich über das kleine Mädchen beugte. »Nun, Liebes«, sagte er, »dir schmeckt das Eis wohl nicht. Möchtest du lieber etwas Festes essen?« Er drehte an den Knöpfen des Tischgeräts, und auf dem Bildschirm erschienen Braten und Ragouts und Salate, die Spezialitäten des Tages. Maris sah ihn entsetzt an.
»Oh, nein«, sagte sie leise. Kriss war ein wenig besorgt. Er stellte die Nachrichten ein. Die Pealla verschwand, und an ihrer Stelle erschien eine Statistik auf dem Schirm. »Mein Gott!« rief er. »Hundertzwanzigtausend Kranke!« Das war allerdings ein Schock – denn vor knapp einer Stunde waren es nur ungefähr achtzigtausend gewesen. Die Stadt rennt tatsächlich in ihren Untergang, dachte Gwenanda – » – das Messer links, Gabel und Löffel rechts, Eßstäbchen oben am Tellerrand – « – und reichlich spät merkte sie, daß Maris sehr elend aussah und ganz aufgehört hatte, von ihrem Eis zu essen. Gwenanda leckte sich die Lippen. »Ich bin wirklich froh, daß du dafür gesorgt hast, daß Maris ihre Injektion bekam«, sagte sie und Kriss stotterte erschrocken: »A-aber ich dachte, das hättest du getan…« Und so begann der Alptraum.
Noch lange nachher überlief Gwenanda ein Schauer, wenn sie einen Tisch deckte, und immer wenn sie das Kind auf den Knien hielt, mußte sie an die Aufregung in der Wohngemeinschaft denken, die Maris ihre Injektion gekostet hatte; jedes Mal, wenn sie einen Mango-Split sah, drehte sich ihr der Magen um, wie er es getan hatte, als Maris sich ohne jede Vorwarnung über den Tisch erbrach. Als Gwenanda sie aufnahm, hatte das kleine Mädchen eine glühendheiße Stirn. Später wußte Gwenanda nicht mehr, daß sie selbst überhaupt etwas unternommen hatte. Sie erinnerte sich nur daran, daß sie wie gelähmt zugeschaut hatte. Das konnte natürlich nicht der Fall gewesen sein, aber tatsächlich war es Kriss, der das Kind aufnahm und mit ihm zur Tür eilte; Dorothy, die den nächsten Tisch abräumte – zersplitterndes Porzellan und klirrende Bestecke auf dem Fußboden – um Maris in ein Tischtuch
einzuwickeln und sie unterwegs mit einer Serviette zu säubern. Als sie den Notdienst verständigten (hatte Gwenanda selbst angerufen?), nannte man ihnen eine Wartezeit von zwei Stunden. »Nach unten!« schrie Kriss und rannte zum Fahrstuhl. Als sie unten angekommen waren und Kriss nach einer hastigen Suche in verschiedenen Einfahrten endlich ein dreirädriges Taxi gefunden hatte, drängten sich alle vier auf den für zwei Personen bestimmten Sitz. Als sie nach einer Ewigkeit die nächste Klinik des Notdienstes erreichten, schienen sämtliche Fahrzeuge New Yorks vor ihnen angekommen zu sein. Die letzten zweihundert Meter lief Kriss zu Fuß, das Kind im Arm – Stunden später fragte sich Gwenanda, ob sie dem Fahrer überhaupt Geld gegeben hatten. Der Warteraum war brechend voll, vom Behandlungszimmer ganz zu schweigen; es war unmöglich, sich einen Weg durch die niesende, stöhnende, schwitzende Menge zu bahnen. »Bleibt hier!« rief Kriss. »Ich hole jemanden!« »Ich komme mit!« rief Dorothy, und die beiden schoben sich durch die Menge und ließen Gwenanda mit dem kranken fiebernden Bündel Kind auf dem Schoß allein. Die Nachrichten hatten mit der Wirklichkeit nicht Schritt gehalten. Die Krankheit potenzierte sich in einer Bevölkerung, die niemals eine Resistenz gegen diesen Virus benötigt hatte. In den Nachrichten wurde nicht mehr von hundertzwanzigtausend Kranken gesprochen, jetzt zählte man schon eine Viertelmillion – und die Zahl erhöhte sich jede Minute. Zehntausende von neuen Fällen wurden in die Kliniken gefahren oder schleppten sich selbst hin. Eine Handvoll Ärzte des Notdienstes wühlten sich, eine Injektionspistole in jeder Hand durch die Menge; sie gaben Injektionen, befühlten die eine oder andere Stirn, maßen hin und wieder die Temperatur, tasteten nach Wucherungen am Hals oder schauten in irgendeinen Rachen. Aber – Betten?
»Verdammt nochmal!« stöhnte die Frau vom Notdienst, die Kriss endlich herbeigelotst hatte, »wir haben den ganzen Tag kein Bett gehabt!« Sie setzte die Pistole an Maris’ Arm, zog ein Lid herab und hielt die Hand an eine Wange. »Sie muß jetzt ins Bett«, sagte sie. »Bringen Sie sie nach Hause! Holen Sie sich die nötigen Instruktionen aus dem Computer. Warmhalten, ruhighalten, viel Flüssigkeit verabfolgen.« Und während sie sich dem nächsten Fall zuwandte, fügte sie noch hinzu: »Oh, Sie sollten Ihre Einsatznummern prüfen, denn wenn Sie diensttauglich sind, ist Ihre Nummer bestimmt schon aufgerufen!« Noch eine verdammte Schwierigkeit! Und richtig, als Kriss sich bis zu dem großen Bildschirm vorgearbeitet hatte, sah er den Aufruf für den Katastropheneinsatz: »Wenn Sie einer Dienstverpflichtung gegen Steuererlaß unterliegen und Ihre Einsatznummer hier erscheint, melden Sie sich bitte sofort zum Dienst im Rahmen des Katastropheneinsatzes.« Kriss sah seine Nummer. »Du Scheiße«, stöhnte er und ging davon, um den zuständigen Mann zu suchen. Gwenanda saß neben einem Stapel zusammengefalteter Notbetten – auf dem Stapel lag ein zehnjähriger Junge, der beim Atmen furchterregend röchelte – und wiegte Maris auf dem Schoß. Sie spürte die heiße Stirn des Kindes durch den dünnen Stoff ihres Dashiki. »Komm, Baby, schlaf«, säuselte sie, und nie im Leben hatte sie größere Angst gehabt. Was tat man mit einem kranken Kind? Man holte Hilfe. Aber auf Niesentfernung drängten sich fünfzig Leute, die genauso dringend Hilfe brauchten wie Maris, und Hilfe gab es nicht mehr. »Mutti ist doch hier«, flüsterte sie. »Schlaf, mein Liebes, schlaf…« Dorothy kam als erste zurück. Sie brachte keinen Arzt mit, sondern etwas viel Wertvolleres, nämlich einen Pappbecher mit verdünntem Saft, den sie in ihrer ungeübten Hand
hochhielt. Irgendwie war es ihr auf ihrem Weg durch die Menge gelungen, nichts davon zu verschütten. »Halt ihr den Kopf hoch«, befahl sie. »Vielleicht trinkt sie ja ein wenig.« Während sie dem Kind, das sich nicht dagegen sträubte, den Saft bis auf den letzten Tropfen einflößten, erschien Kriss. Er folgte einer erschöpft wirkenden Frau, und die beiden unterhielten sich lebhaft. »Gwenanda!« rief er. »Sie sagt, ich muß mich zur Krankenpflege melden. Ich sagte, daß wir selbst eine Kranke haben, die ich nach Hause bringen und pflegen will. Sie sagt, das geht nicht. Sie können wegen einer Patientin nicht auf einen kräftiger^ Mann verzichten, und außerdem brauchen sie Betten. Sie beschlagnahmen schon welche in unterbelegten Wohnungen, und…« »Meine Wohnung!« rief Gwenanda. »Natürlich, Leute! Wir bringen das Mädchen hin, und du kannst auch andere schicken! Die Wohnung ist groß und leicht Platz für zwanzig oder drei… für wenigstens ein Dutzend Leute«, korrigierte sie sich rasch. In ihrer Freude über die erste gute Nachricht seit langem hatte sie zu optimistische Zahlen genannt. Gemeinsam mit Kriss Maris pflegen! Was machte es dann schon aus, wenn auch noch andere dort lagen? Und noch während der Einsatzleiter sich nach der Beschaffenheit ihrer Wohnung erkundigte und mit Kriss den Transport von Betten, Wolldecken, Medikamenten und Bettschüsseln arrangierte, suchte Gwenanda sich ihre Gäste aus. »Dieser da«, sagte sie und zeigte auf einen kleinen Jungen, »und dieser hier, und – nein, nicht der, aber der neben ihm – « Und dann ging sie den anderen voran zum Wagen. Sie hatte zwar immer noch Angst, aber sie hatte wieder Hoffnung, und sie war sogar fast ein wenig glücklich.
New York hatte in dem halben Jahrtausend seit Gründung der Stadt durch die Holländer viele Seuchen durchgestanden, aber das war nicht allen seinen Bürgern gelungen. Bei Gelbfieber starb manchmal einer von zehn, bei Typhus war es einer von fünf; bei der letzten großen Grippe-Epidemie gleich nach dem Ersten Weltkrieg starben viele Tausende, und viele andere litten Jahrzehnte später an den Zuckungen und Sprachstörungen der Parkinsonschen Krankheit als Folgen der Grippe. Aber das war schon lange her. Die Medizin hatte in den hundert Jahren seit der letzten verheerenden Epidemie gewaltige Fortschritte gemacht und ihre Möglichkeiten vervielfacht. Für fast jede ansteckende Krankheit gab es Therapien und Medikamente, und sie waren sehr wirksam. Sie standen allerdings nicht unbegrenzt zur Verfügung. Wer hätte wissen können, daß sie so dringend benötigt werden würden? – wo doch fast jeder dieser Krankheitserreger genauso ausgestorben war wie der Blauwal? Die Mittel waren über hundert medizinische Forschungszentren auf dem ganzen Kontinent verstreut – man hätte sie tatsächlich lieber Museen für antike Krankheiten nennen sollen. Die Medikamente zur Bekämpfung der Epidemie in der City gab es – also, aber nicht hier und jetzt. Inzwischen schwitzten und niesten eine halbe Million New Yorker und wälzten sich unter Schmerzen in ihren Betten und versuchten vergeblich, einzuschlafen. Gwenanda hatte nicht etwa ein Dutzend Patienten in ihrer Wohnung und auch nicht zwanzig oder dreißig. Sie mußte einundfünfzig Patienten pflegen. Und Kriss konnte ihr dabei nicht helfen, denn er war den ganzen Tag und die halbe lange Nacht damit beschäftigt, Betten aufzustellen, die Patienten hineinzulegen und Vorräte herbeizuschaffen. Fast die ganze Zeit war Dorothy Gwenandas einzige Helferin. Sie war zwar ungeschickt – so verschüttete sie aus einem Topf sechs Liter kochende Brühe und brauchte
eine ganze Stunde, um alles wieder aufzuwischen. Sie ließ Gegenstände fallen und hantierte unbeholfen herum. Aber sie war stark, viel stärker als Gwenanda, wenn es etwa galt, einen fetten alten Mann von einer Trage zu heben. Und sie sorgte sich genauso liebevoll um Maris wie Gwenanda selbst. Sie mußten quengelnde Kinder dazu veranlassen, ein wenig Saft zu trinken, und halb Bewußtlosen Brühe einflößen. Hier und da mußten sie den Schweiß von einer fiebernden Stirn wischen, und zwischendurch kümmerten sie sich abwechselnd um die winzige Patientin, die die wichtigste von allen war, um Maris, die in Gwenandas riesigem Bett lag. Sie legten keine anderen zu ihr, obwohl die gesamte Wohnfläche belegt war – die Betten, die Couches, die Sessel, die so groß waren, daß man sie zusammenstellen konnte; Kriss brachte Klappbetten für zwanzig weitere Patienten und Matratzen, die für die übrigen auf den Fußboden gelegt wurden. Während der ersten Stunden rannten Gwenanda und Dorothy alle paar Minuten an den Bildschirm, um über den Notkanal Pflegeanleitungen abzurufen. Aber so kompliziert war der Job nicht. Alle Patienten hatten schon eine Breitbandinjektion von Antibiotika und Antivirusmitteln bekommen. Es ging darum, die Medikamente wirken zu lassen und die Patienten warmzuhalten und mit reichlich Flüssigkeit zu versorgen. Sie mußten bei einigen die Temperatur messen, aufpassen, daß niemand erstickte, auf Krampfanfälle achten und Leute mit gefährlich hohem Fieber gelegentlich kühlen – den ganzen Tag und die ganze Nacht blieben diese Aufgaben allein Gwenanda und Dorothy überlassen. Eines aber konnten sie nicht: schlafen. Sie nickten vielleicht einmal ein, wenn sie an dem streng für Maris reservierten Bett saßen – mehr Ruhe konnte sich keine von ihnen gönnen. Und schon nach wenigen Minuten mußten
sie wieder hoch und an die Arbeit. Es schien kein Ende nehmen zu wollen. Aber als der Morgen dämmerte, erschien eine rasch einberufene Katastrophenhelferin, um ihnen einen Teil der Arbeit abzunehmen, und die Frau war ausgebildete Krankenschwester! Die Arbeit wurde dadurch noch nicht gleich leichter, denn jetzt wurden andere Probleme akut. Bettschüsseln mußten gereinigt und durchgeschwitzte Bettwäsche gewechselt werden. Sie mußten Flecken und Schmutz beseitigen. Es war die schwerste und unangenehmste Arbeit, die Gwenanda je getan hatte, und sie schien auch länger zu dauern als alles, was sie bisher erlebt hatte. Erst später merkte sie, daß die Arbeit zwar andauerte, aber wenigstens nicht schlimmer wurde. Es kamen zwar noch ein paar Patienten hinzu, aber einige der zuerst eingelieferten, die nicht ganz so krank gewesen waren, saßen schon aufrecht im Bett und konnten für sich selbst sorgen, und einige erklärten sogar, daß sie jetzt imstande seien, aufzustehen und nach Hause zu gehen, wenn auch auf wackeligen Beinen. Gegen elf Uhr morgens jagte die Schwester Dorothy und Gwenanda eine nach der anderen unter die Dusche – nicht, daß sie anschließend schlafen durften, sie sollten sich nur ein wenig erfrischen. Danach blieb Gwenanda eine Minute sitzen und kaute kalten trockenen Toast – vor einer Stunde zubereitet, aber dann hatte die Frau mit dem starken Husten angefangen, an ihrem eigenen Schleim zu ersticken. Jetzt besann Gwenanda sich auf ihren eigentlichen Job. Verdammt! Sie mußte sofort das Gericht anrufen! Als sie es tat, mußte sie feststellen, daß das Gericht geschlossen war. Zwei Richter waren krank, außerdem jede Menge Boten, Angestellte, Anwälte, Kläger und Beklagte – alle Verfahren waren für den Montagvormittag neu angesetzt worden.
Gwenanda legte den Hörer auf. Sie ließ den kalten Toast stehen und ging automatisch zu Maris’ Bett. Das Kind schlief jetzt ruhiger, aber es hatte immer noch Fieber. Gwenanda wischte ihm die Stirn ab und überlegte mürrisch, wer neben Mary Joan der zweite kranke Richter sein könnte. Natürlich keiner von den Blechzwillingen. Pak? Myro? Ihre Hand mit dem feuchten Tuch näherte sich Maris’ Gesicht. »Oh, bitte, nein!« schluchzte das Kind und warf sich entsetzt zur Seite, um der Hand auszuweichen. »Bitte, Mami, schlag mich nicht wieder!« An der Tür hätte Dorothy fast die Bettschüssel fallen lassen, die sie gerade hinaustragen wollte. »Was ist denn los?« rief sie und eilte herbei. »Ich weiß es nicht«, stöhnte Gwenanda. Sie verspürte ein verzweifeltes Verlangen, das Kind zu berühren. Sie wagte es nicht, denn Maris wich immer noch vor ihr zurück. »Nicht schon wieder!« bat sie; und dann löste sich die Spannung aus ihren krampfartig angespannten Gliedern, und in völlig verändertem Ton sagte sie: »Ach, du bist es, Gwenanda.« Und sie wandte ihr das Gesicht zu und ließ sich küssen, und dann schlief sie friedlich wieder ein; und eine Stunde später war ihre Temperatur wieder normal. Müde wie noch nie streckte sich Gwenanda neben dem Kind auf dem Bett aus. Sie schlief fest und tief, aber sie lächelte und hatte angenehme Träume.
Dennoch schlief Gwenanda nicht sehr lange. Als sie wieder aufwachte, war überall in der City das Fieber gesunken. Ärzte und Medikamente waren aus Philadelphia und Boston und Baltimore herbeigeholt worden. Inzwischen gab es eine hundertprozentige Prophylaxe – sobald das Virus identifiziert war, wurden gefriergelagerte Spezialiseren eingeflogen, in den
geeigneten Aggregatzustand versetzt und angewendet. Es hatte einer gewaltigen Anstrengung bedurft, aber jetzt konnte niemand mehr krank werden, den die Grippe nicht schon gepackt hatte, und es gab keine neuen Fälle mehr. Die Krankenschwester – eine kleine dunkle Palästinenserin aus Omaha – hatte die Situation unter Kontrolle und berichtete, daß sie erst in etwa einer Stunde würde schlafen müssen. Gwenanda schaute also noch einmal nach Maris, und dann wurde ihr bewußt, daß sie furchtbaren Hunger hatte. Dorothy war vor ihr in der Küche und bereitete Rührei, was bei ihr wie Schwerstarbeit wirkte. Aber sie lehnte Gwenandas Hilfe ab. »Ich muß lernen, diese verdammten Dinger zu gebrauchen«, sagte sie und betrachtete wütend die Eierschale, die sie in die Schüssel hatte fallen lassen. »Je eher desto besser. Ich schlage dir noch ein paar Eier hinein, Honey.« »Oh, ja! Bitte«, sagte Gwenanda, setzte sich und genoß das Vergnügen, andere arbeiten zu sehen. »Es war eine schlimme Nacht«, seufzte sie. Dorothy lächelte. »Es waren zwei«, sagte sie, »und zwei Tage. Wir haben nur nicht auf die Zeit geachtet.« »Tatsächlich? Dann muß heute Samstag sein.« Gwenanda versuchte, sich zu erinnern, warum der Samstag ein wichtiger Tag war, aber es fiel ihr nicht ein. Sie gab ihre Bemühungen auf, als Dorothy sagte: »Maris war fast eine Stunde auf, während du schliefst. Sie scheint sich schon sehr viel besser zu fühlen, aber ich habe ihr gesagt, daß sie wieder schlafen soll, und das tat sie auch, sobald sie sich wieder hingelegt hatte.« »Oh«, sagte Gwenanda. Sie freute sich über diesen Bericht, es tat ihr nur leid, daß sie das Ereignis verschlafen hatte. Aber die Freude überwog die Enttäuschung. »Ich denke, das Schlimmste ist überstanden«, meinte sie.
»Es sieht so aus«, sagte Dorothy und schüttete die geschlagenen Eier vorsichtig in eine Pfanne. »Und, Gwenanda, irgendwie war es wunderbar. Man sollte es kaum glauben.« »Was glauben?« fragte Gwenanda mißtrauisch. »Ich meine, daß alle Leute zusammengehalten haben – die ganze Stadt hat geholfen – das ganze Land!« »Verdammt, Dorothy! Warum sollten sie es denn nicht tun? Wir sind zivilisierte Menschen und nicht solche verdammten Tiere wie ihr!« Und dann reuevoll: »Ach, ich reiße schon wieder den Mund zu weit auf. Es war nicht bös gemeint, Mädchen…« »Natürlich nicht«, sagte Dorothy gelassen, tat die Eier auf zwei Teller und trug sie vorsichtig zum Tisch. »Ich kenne dich inzwischen ziemlich gut, Gwenanda. Du schreist, wenn du wütend bist, aber dann kannst du auch wieder sehr nett sein – du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Gwenanda. Ich mag dich so wie du bist. Und nun iß deine Eier.« »Oh«, sagte Gwenanda verlegen mit vollem Mund. Die Eier schmeckten ausgezeichnet, und was machte es da schon aus, wenn ab und zu ein winziges Stück Schale zwischen den Zähnen knirschte? »Sie sind sehr gut, Dorothy.« »Und noch etwas«, sagte Dorothy plötzlich. »Ich mag auch Kriss, aber auf eine andere Art als du. Ich meine, er ist viel zu jung für mich, findest du das nicht auch? Selbst wenn er in dieser Hinsicht an mir interessiert wäre, und das ist er nicht.« »Oh«, sagte Gwenanda wieder, und wieder war es ihr ein wenig peinlich, daß Dorothy sie so gut durchschaute. Sie suchte nach Worten, um die Freundlichkeit der anderen mit Freundlichkeit zu erwidern, aber ihr fiel nur ein: »Du warst wirklich eine große Hilfe Mädchen, weißt du das?« »Hmm«, sagte Dorothy und sah selbstzufrieden aus. »Ich wette, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein schönes Gefühl das ist. Weißt du, was für ein Leben ich führen mußte?
Ich mußte gefüttert und angezogen werden. Man mußte mich sogar auf die verdammte Toilette setzen – jeden Tag – und das sechsundvierzig Jahre lang! Du ahnst nicht, wie schön es ist, auch einmal für andere sorgen zu dürfen!« Und sie lachte und fiel über ihre Eier her, die schon langsam kalt wurden, und es machte ihr überhaupt nichts aus, daß die Gabel in ihrer Hand zitterte und gelegentlich etwas Ei auf den Teller zurückfiel. »Ich wasche ab«, sagte Gwenanda zärtlich, »denn jetzt bist du mit dem Schlafen an der Reihe.« Bis Samstagabend hatte die Hälfte der Patienten Gwenandas Wohnung verlassen und war nach Hause gegangen. Bei ihnen handelte es sich natürlich um die leichteren Fälle. Viele der wirklich schwer betroffenen Grippeopfer lagen noch auf den Intensivstationen der Kliniken, und über zweitausend Menschen waren tatsächlich gestorben – einige endgültig, wenn auch die meisten, bei denen die Ärzte noch einen Funken Leben festgestellt hatten, ohne ihnen eine günstige Prognose stellen zu können, eingefroren worden waren. Die Krise war vorbei. Die einberufenen Katastrophenhelfer wurden einer nach dem anderen entlassen. Kriss feierte seine Entlassung, indem er sich in Maris’ Zimmer auf das Bett warf, das ein Touristenehepaar von der Insel Maui gerade geräumt hatte. Zusammen mit der Schwester aus Omaha stapelte Gwenanda die Klappbetten, damit sie abgeholt werden konnten, und brachte die Wohnung wieder in Ordnung. Dann streckte sie sich neben Maris aus und gönnte sich wieder ein wenig Schlaf. Als sie aufwachte, stand Maris neben dem Bett. Sie hatte geduscht, sich angezogen und sich die Haare gebürstet, und jetzt reichte sie Gwenanda ein Glas Saft. »Trinken, Mami«, befahl sie, »denn du brauchst viel Flüssigkeit.« »Oh, danke, meine Süße«, säuselte Gwenanda, richtete sich auf und setzte sich auf den Bettrand. Mit der einen Hand griff sie nach dem Glas, mit der anderen fuhr sie sich durchs Haar.
»Kleines! Warum bist du denn nicht im Bett? Fühlst du dich schon wieder so gut?« Maris achtete darauf, daß Gwenanda den Saft austrank, bevor sie antwortete. »Die Schwester meinte, daß ich aufstehen kann, weil ich mich besser fühlte. Sie sagt, ich soll nicht viel essen und mich nicht anstrengen und viel Flüssigkeit trinken und früh wieder ins Bett gehen«, rezitierte sie. »Gwenanda?« fragte sie dann. »Darf ich dir etwas sagen?« »Natürlich darfst du das!« Gwenanda sah sich in dem Spiegel hinter dem kleinen Mädchen und erschrak. »Es tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe.« »Ach, du hast doch nicht richtig geschrien.« Gwenanda zupfte verzweifelt an ihrer aus der Form geratenen Lockenpracht. Verdammt! Ich sehe aus, als hätte jemand auf meinem Kopf gesessen! »Ich habe geschrien«, sagte Maris, »aber das war, weil ich geträumt habe. Ich dachte, du bist sie. Meine andere Mami, meine ich. Ich dachte, sie wollte mich wieder schlagen.« »Ach, Mädchen!« »Sie wollte mich gar nicht immer schlagen. Daddy sagte, das tut sie nur, weil sie krank ist. Er sagte, ich sollte es keinem erzählen, weil sie sonst abgeholt wird…« »Oh.« »Aber dann… dann nahm sie die Flasche und…« Maris schluckte. »Und dann ist er gestorben, und es war kein Geheimnis mehr. Aber ich habe es keinem Menschen erzählt, Gwenanda, ehrlich.« Sie schwieg einen Augenblick, während Gwenanda sie wortlos in die Arme nahm. »Wenn – wenn du mal krank wirst, Gwenanda«, fügte sie hinzu, »und so etwas tun müßtest – dann würde ich dich auch nicht verraten.« Mit heiserer Stimme murmelte Gwenanda etwas. Es waren keine Worte. Es war nicht einmal ein »Oh!« Aber Maris war anscheinend mit dieser Antwort zufrieden. Das Kind hielt noch
einen Moment still und löste sich dann von Gwenanda. »Du willst dich bestimmt waschen, Mami«, sagte sie, »und ich hab der Schwester versprochen, ihr zu helfen.« Sie küßte Gwenanda ernst auf die Wange und ging, um sich ihren Pflichten zu widmen. Gwenanda rieb sich die Augen und blieb noch einen Augenblick sitzen. Dann stand sie seufzend auf, um sich ein wenig zurechtzumachen. Es war ein trauriger und sehnsüchtiger kleiner Seufzer, aber anschließend empfand sie nicht mehr diese Traurigkeit. Sie fühlte sich sogar ganz gut. Zwei beängstigende und strapaziöse Tage lagen hinter ihr, während derer sie nur wenige Stunden ohne Unterbrechung geschlafen hatte; aber unter der Dusche fing sie an zu singen, seifte sich kräftig ein und ließ das heiße Wasser über ihren schönen gesunden Körper laufen. Plötzlich wurde der Vorhang zur Seite gerissen, und Kriss schaute sie aus trüben Augen an. »Die Allgemeine Stadtversammlung, Gwennie!« schrie er. »Sie läuft schon!« »Oh, verdammt!« rief Gwenanda und hatte ein schlechtes Gewissen – wie hatte sie das nur vergessen können? »Komm also unter der verdammten Dusche heraus! Sie haben schon mit der Zufallsauswahl der Erklärungen angefangen, und du mußt deine bereithalten, wenn sie dich auffordern!«
VI
Die Allgemeine Stadtversammlung hätte aufgeschoben werden müssen! New York City war auf dieses Ereignis nicht vorbereitet. Diese zehn Millionen Menschen unter der Kuppel und in den übervölkerten unterirdischen Wohnbezirken jenseits des Flusses und draußen in den Vororten hatten während der letzten Tage andere Sorgen gehabt als die Frage, was man mit irgendwelchen Flüssen in Alaska anfangen sollte! Gwenanda versuchte, sich abzutrocknen und fauchte verärgert, als Kriss sie immer wieder zur Eile antrieb. Aber hier handelte es sich natürlich nicht um irgendein örtliches Problem im Zusammenhang mit der Kuppel oder mit Verkehrsfragen. Hier ging es um ein Projekt, das den ganzen Kontinent betraf, das vom Nordpol, bis zu den Tropen reichte! Die gesamten Vereinigten Staaten, ganz Kanada und ein großer Teil von Nordwestmexiko waren betroffen, und die zweihundertfünfzig Millionen Menschen, die dort lebten, hatten ein Recht darauf, gehört zu werden. Die Tatsache, daß jeder das gleiche Recht hatte, bedeutete nicht, daß man eine sehr gute Chance hatte. Wenn praktisch die Bevölkerung eines ganzen Kontinents an dieser Allgemeinen Stadtversammlung teilnahm, war das ausgeschlossen. Die Chancen waren lächerlich gering. Jede von den Computern ausgewählte Person hatte eine Redezeit von nur dreißig Sekunden. Die für die Anhörung der Stimmen aus dem Volke vorgesehene Zeit betrug nur sechs Stunden – in zwölf Abschnitten von je einer halben Stunde, über die vierundzwanzig Stunden verteilt, die als Frist für die Entscheidung über das Nordamerikanische
Flußumleitungsprojekt festgesetzt worden waren. Das bedeutete, daß genau siebenhundertzwanzig Personen gehört werden konnten. Zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung waren zu jung, um an der Auslosung teilzunehmen. Noch einmal etwa sechzig Prozent hatten zu der Angelegenheit nichts zu sagen oder hatten sich jedenfalls nicht namentlich gemeldet. Es blieben also fünfzig Millionen Leute übrig, die gehört werden wollten. 50000000:720 bedeutete eine Chance von etwa eins zu 70000, daß ein einzelner Name ausgelost wurde, so daß dessen Träger eine überzeugende oder bedeutsame oder wortreiche oder gar schwachsinnige Erklärung abgeben konnte. Und jetzt standen die Chancen sogar noch schlechter, denn sie hatten fast die ganze Allgemeine Stadtversammlung verschlafen. Jetzt war die Hauptsendezeit – achtzehn Uhr in New York, fünfzehn Uhr in Kalifornien –, die letzte halbe Stunde der Anhörung der Volkesstimme näherte sich, und die letzte Auslosung würde innerhalb der nächsten zwei Stunden stattfinden. Die meisten Einwohner des Kontinents waren der Debatte seit Stunden gefolgt. Kriss zerrte Gwenanda unter der Dusche hervor und warf ihr einen Bademantel um. Sie hatte keine Zeit mehr, ihr Haar zu richten, kaum Zeit, sich ein Handtuch turbanartig um den Kopf zu wickeln. Ihr lief noch das Wasser von der Stirn und über die Nase, als sie sich neben Dorothy und Maris auf die Couch setzte, die beide schon fasziniert auf den Schirm starrten. »Dieser stammt aus Miami Beach«, verkündete Dorothy, »und ich glaube nicht, daß er dafür ist.« »Das wären dann zwei nacheinander«, ächzte Kriss. Der Mann aus Miami war Stahlbauarbeiter, der sich seinen Schutzhelm tief in das verbissene Gesicht gezogen hatte. Aggressiv schob er das Kinn vor, und seine Stimme klang
heiser vor Wut, als er sagte »… jemand anders an die Krippe! Die Energiegewinnung aus dem Golfstrom beruht auf bewährter Technologie. Dollar für Dollar wäre sie eine bessere Investition als das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt, und ich behaupte, daß Kalifornien…« Aber seine dreißig Sekunden waren vorbei. Er verschwand vom Schirm, und was immer er dem Kontinent über Kalifornien erzählen wollte, blieb unbehört von allen, die nicht gerade in seiner Nähe standen. »So ein Mist«, diagnostizierte Kriss unfreundlich. »Bist du vorbereitet, falls du aufgerufen wirst?« »Verdammt«, rief Gwenanda, »wie kann ich vorbereitet sein, wenn ich noch nicht einmal Kaffee getrunken und mir die Haare gebürstet habe.« »Ich hole dir Kaffee«, sagte Dorothy, und Maris schmiegte sich an Gwenanda. »Du siehst hübsch aus mit dem Hut«, sagte Maris, und Gwenanda nahm das Kind gerührt in die Arme. Kriss beugte sich vor. Er achtete gleichzeitig auf den kleineren Schirm an der Seite, von dem er notfalls den Text seiner Erklärung ablesen konnte. Auf dem Hauptschirm nahm inzwischen ein Schullehrer aus Pennsylvania seine Rechte wahr. »Mein Gott«, rief Kriss entsetzt. »Hört euch diesen Idioten an!« Der Lehrer erzählte dem ganzen Kontinent, daß auch Pennsylvania nicht immer genug Regen bekomme, daß aber die guten Leute von Allentown nicht daran dächten, anderen Leuten die Flüsse zu stehlen. »Verdammt!« knurrte Kriss, »das ist schon der dritte, der gegen das Projekt ist. Spielt denn der Computer verrückt?« Keine Chance! Gwenanda nahm dankbar den Kaffee von Dorothy entgegen und rief Kriss ein paar beruhigende Worte zu. Die Computer für die Allgemeine Stadtversammlung benutzten Rechenverfahren, die mit denen für den selektiven
Dienst fast identisch waren. Jeder Bewerber wurde nach Alter, Geschlecht, Beruf, sexuellen Gepflogenheiten, Bildung, Intelligenz- und Leistungsquotienten erfaßt – kurz, nach all den Eigenschaften, die einen Teil der Bevölkerung vom anderen unterscheiden. Wenn elf Prozent der Bevölkerung Linkshänder waren, dann gab es auch unter den 720 Ausgewählten elf Prozent, das heißt etwa achtzig Linkshänder; wenn drei Prozent den Doktorgrad besaßen, hatten ihn auch zwanzig oder einundzwanzig von den Leuten, deren Gesichter auf dem Bildschirm erschienen. In dieser Hinsicht gab es für den Computer keine Prioritäten. Er sollte einen repräsentativen Durchschnitt auswählen, und das tat er auch. Immer. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sich jetzt drei Leute nacheinander energisch gegen das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt ausgesprochen hatten. Zum ersten Mal keimte in Gwenanda eine Art boshafter Hoffnung auf. Verdammt, wenn das Projekt tatsächlich abgelehnt würde? Wenn es ganz einfach ausfiele? Dann hätte Kriss keinen Grund, für zwölf Jahre nach Seattle zu gehen; er könnte in New York bleiben, und hier würden sie alle glücklich sein. Wenn die Auswahl zwar stimmte, aber die Bewohner des Kontinents in ihrer Weisheit dieses unausgegorene Projekt verwarfen? In Wirklichkeit ist das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt natürlich eine gute Sache, flüsterte die gute Gwenanda der wirklichen Gwenanda zu und übertönte damit die Stimme der Versucherin Gwenanda. Die Durchführung dieses gewaltigen Projekts würde auf lange Sicht für alle von Vorteil sein… »Was ist denn jetzt los?« fragte sie. »Sie haben die Debatte unterbrochen, um abzustimmen«, fauchte Kriss. »Schuld daran ist dieser Kerl aus Miami Beach!«
Das stimmte. Die Computer der Stadtversammlung hatten seine Bemerkungen über das Golfstromprojekt registriert – riesige langsamlaufende Turbinen, die aus dem größten Fluß der Welt Energie für das Land gewinnen sollten – und die zustimmenden Anrufe danach gewichtet, woher und von welchen Leuten sie kamen. Das Golfstromprojekt war so populär, daß es debattiert werden mußte. Also gab es eine Abstimmung. Die Vorsitzende der Kongreßkommission wirkte schläfrig, aber ihre Stimme klang lebhaft, als sie die Abstimmung über das Projekt ankündigte: »Ja oder nein, Leute. Falls das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt genehmigt wird, werden vorbereitende technische Studien zur Durchführung des Golfstromprojekts veranlaßt. Das ist allerdings von Ihrer Zustimmung abhängig. Sagen Sie uns, ob Sie das Ganze für eine gute Idee halten.« Dann erklärte sie, wie gewählt werden mußte, wenn man seine Stimme für oder gegen das Golfstromprojekt abgeben wollte. Gwenanda hielt es für eine gute Idee – jedes Projekt war besser als eines, daß Kriss von ihr trennen würde. Sie stimmte der zusätzlichen Empfehlung zu und wählte entsprechend. Kriss schloß sich ihr an, und dann gingen sie beide in die Küche, um ihre Kaffeetassen wieder zu füllen. Dorothy war begeistert, an einer so gewichtigen Entscheidung teilhaben zu dürfen, und gab sorgfältig ihre Kennummer in ihre Ja-Stimme ein. Die Auszählung erfolgte zwar rasch, aber dennoch mußten sie noch einige Minuten auf das Ergebnis warten. »Sie schien nicht gerade für das Projekt zu sein«, ärgerte sich Kriss. »Wie viele wohl ähnlich denken? Selbst wenn sie für das Golf Stromprojekt sind?« »Es geht schon alles in Ordnung«, tröstete ihn Gwenanda und fragte sich, ob sie damit recht hatte. Fragte sich, was »in Ordnung« überhaupt bedeutete. Fragte sich, ob es nicht eine
gescheite Methode gab, drei Dinge gleichzeitig zu erreichen: Kriss glücklich zu machen, selbst glücklich zu sein und Maris ein Zuhause zu geben. »Natürlich geht alles in Ordnung«, sagte Maris hinter ihr. »Darf ich ein Glas Milch haben?« Gwenanda war ganz erschrocken. »Gern«, sagte Gwenanda, aber Kriss war bereits aufgestanden, um der Kleinen das Getränk zu holen. Gwenanda baute schon Luftschlösser. Wie schön würde es sein, wenn Kriss und sie zusammen mit Maris für immer eine glückliche Familie sein könnten… nun, ja, wenigstens bis das Kind erwachsen war… »Gwenanda?« rief Dorothy aus dem Nebenzimmer. »Was bedeutet es, wenn dein Name unten auf dem Schirm erscheint? In roten Buchstaben?« Gwenanda staunte mit offenem Mund. »Verdammt!« schrie Kriss und knallte den Becher mit der Milch vor Maris auf den Tisch. Er sprang zur Tür. Dann rief er: »Für dich, Gwennie! Sie haben dich aufgerufen! In zwei Minuten bist du an der Reihe!«
»Aufgerufen! Zwei Minuten! Verdammter Mist!« stöhnte Gwenanda und schüttelte den Kopf. Und sie spürte, wie sich das Turbanhandtuch hinten von ihrem Kopf löste. Sie hielt es rasch fest. »Das ist nicht fair!« brüllte sie und meinte damit, daß sie so wie sie aussah auf dem Schirm erscheinen mußte, daß sie überhaupt etwas tun mußte, wo sie doch so erschöpft war. »Was ist denn los, Gwennie?« fragte Maris. »Ach, Kleines, was soll ich nur tun? Kriss wünscht es sich so sehr – aber dann muß er nach Seattle – aber – ach, verdammt nochmal!«
»Es ist genau wie er sagt«, antwortete Maris, stellte den Becher auf den Tisch und nahm Gwenandas Hand. »Dieser Mar-cus Au-relus.« »Dieser wer?« »Er sagt dir, was du zu tun hast. Wenn es wahr ist, mußt du es sagen, wenn es nicht wahr ist, darfst du es nicht sagen. Stimmt das nicht?« »Du Liebes«, sagte Gwenanda und küßte Maris auf das Haar. Wie liebte sie dieses kleine Mädchen! Hand in Hand gingen sie in das große Zimmer zurück, von dem aus man jenseits des Parks die entfernte Kuppel erkennen konnte. Kriss war nur noch ein Nervenbündel. »Paß auf, daß du deine Zeit nicht überschreitest«, rief er aufgeregt. »Wenn du nicht weißt was du sagen sollst, kannst du meine Erklärung verlesen. Mein Gott, Gwennie, wann bist du denn endlich fertig?« »Ich bin fertig«, sagte sie ruhig, während das pulsierende rote Licht die letzten Sekunden vor ihrem Auftritt anzeigte. Im letzten Augenblick nahm sie Maris auf den Schoß, und die beiden saßen vor dem Schirm, als das rote Licht signalisierte, daß sie auf Sendung geschaltet war. »Ich denke«, sagte sie gelassen, »daß wir zum Nordamerikanischen Flußumleitungsprojekt ja sagen sollten. Wenn das Wasser nach Norden fließt, ist niemandem geholfen, wird es aber nach Süden umgeleitet, wird sehr vielen Menschen entscheidend geholfen. Es ist ein großes und kostspieliges Projekt, aber wir können es uns leisten, und es wird auch in einigen hundert Jahren noch von großem Nutzen sein. Im übrigen bin ich der Meinung, daß man dieses Projekt nicht dadurch belasten sollte, daß man alle möglichen anderen Projekte an anderen Orten verspricht, denn dann könnten wir uns eines Tages in einer Schlinge wiederfinden, aus der wir uns vielleicht nur mit Mühe werden befreien können. Und
abschließend möchte ich noch sagen« – mit einem Auge hatte sie die Zeitangabe im Blick – »daß wir froh sein sollten über die Chance, so leicht so viel Gutes zu bewirken.« Und mit einem schwachen Lächeln schloß sie gerade in dem Augenblick die Lippen, als das Licht das Ende ihrer Redezeit anzeigte – Sekunden bevor sie sich vom Schirm abwandte und ihr das nasse Handtuch über die Augen rutschte. »Du warst großartig!« rief Kriss begeistert. »Natürlich war ich das«, sagte Gwenanda und versuchte, das Handtuch loszuwerden, aber sie war nicht ganz glücklich, denn sie wußte nicht genau, was sie bewirkt hatte. Was sie bewirkt hatte, war wahrscheinlich so bedeutend nicht. Gwenandas Beitrag war nur einer von siebenhundertzwanzig gewesen – dreißig Sekunden innerhalb stundenlanger Debatten und Überlegungen. Gewiß hatte die hübsche dunkle Richterin des Obersten Bundesgerichts mit dem genauso hübschen blonden Kind auf dem Schoß ihren Eindruck auf die Zuschauer nicht verfehlt. Aber konnte ein Einzelner wirklich die Entscheidungen von vielen Millionen Menschen beeinflussen? Vielleicht nicht. Aber ein Mensch konnte wenigstens einen Beitrag leisten. Gegen Ende der Versammlung gab es noch sechs weitere telefonische Abstimmungen über Veränderungen. Jedesmal wurde die Frage ein wenig anders gestellt, und nach jeder Abstimmung spielten die Wahlleiter auf ihren Computern Variationen durch, um eine bessere Formel zu finden. Aber nach der zweiten telefonischen Abstimmung war der Ausgang nicht mehr zweifelhaft. Wenn man die Kanadier hinsichtlich der Zahlungen für ihre Flüsse zufriedenstellen konnte – Wenn man den Leuten in Alaska, in den Nordwestlichen Territorien und am Yukon versichern konnte, daß sie genügend Wasser für sich selbst behalten würden –
Wenn man den Mexikanern einen ausreichend geringen Salzgehalt des Restwassers für die Berieselung ihrer Felder garantierte – Wenn der Mittlere Westen seinen Anteil an der Hydroenergie erhielt und der Osten bevorzugt am Golf Stromprojekt beteiligt wurde – Wenn alle diese verschiedenen Interessen in Einklang gebracht werden konnten, dann würde es die notwendigen sechzig Prozent Ja-Stimmen geben… Und das war der Fall. Als die Allgemeine Stadtversammlung zur Schlußabstimmung schritt, saßen Gwenanda und Kriss gemeinsam vor dem Bildschirm, und zwischen ihnen saß Maris, die schon halb schlief. Dorothy hatte sich im Schneidersitz auf den Fußboden gesetzt. In der Wohnung war es ruhig. Auch der letzte Grippepatient war längst verschwunden. In den Debattenpausen hatten sie die Faltbetten aufgestapelt, die Bettwäsche in die dafür bereitgestellten Körbe gelegt und die Möbel wieder an ihren Platz gerückt. Als der gesamte Kontinent seinen Willen bekundet hatte und das endgültige Ergebnis verkündet wurde, sah die Wohnung wieder so aus wie immer. Imposant und elegant und viel zu groß für eine Richterin am Obersten Bundesgericht, deren Geliebter weit weg war. Das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt wurde mit einer Mehrheit von über fünfzehn Millionen Stimmen angenommen. Maris fiel Kriss um den Hals. »Hurrah!« rief sie, und im Überschwang seiner Freude warf Kriss die Kleine bis fast an die hohe Zimmerdecke und fing sie wieder auf. Und in das Glas Milch, das sie vor dem Schlafengehen trank, schüttete er ein paar Tropfen Wein aus der Flasche, die er zur Feier des Tages geöffnet hatte. Als Maris und Dorothy ins Bett gegangen waren und auch Gwenanda und Kriss müde waren, tranken sie den Rest Wein aus. Sie standen noch eine Weile nebeneinander auf der
Veranda hoch über der Rainbow-Brücke, und beide schwiegen sie, bis Kriss plötzlich fragte: »Wie lange mußt du noch beim Gericht bleiben?« »In vier Monaten ist die laufende Sitzungsperiode zu Ende«, sagte Gwenanda traurig, »und dann habe ich noch zwei Jahre.« Kriss dachte darüber nach. »Ich werde wahrscheinlich erst in drei oder vier Monaten in Seattle gebraucht«, sagte er. »Hmm.« »Aber dann sind es ja noch zwei Jahre.« »Hmm«, sagte Gwenanda, die diese Rechnung schon lange angestellt hatte. Wieder schwiegen sie und schauten auf die City hinab, in der die Leute allmählich wieder gesund wurden. »Was soll’s«, sagte Kriss endlich. »Laß uns ins Bett gehen.« Sie waren so erschöpft, daß sie tief und traumlos schliefen. Bei Tagesanbruch war Gwenanda sofort wieder wach. Kriss’ Arm lag auf ihrer Brust, und sie spürte seinen Bart an ihrer Schulter. Sanft löste sie sich von ihm, zog einen Morgenmantel an und ging in die Küche, wo sie Maris schon antraf. Das Mädchen hatte ein paar reife Papayas gepflückt und die Früchte aufgeschnitten und in den Kühlschrank gelegt. Auf dem Teller vor ihr lag eine leere Schale. Jetzt stand sie schnell auf und holte die andere Hälfte für Gwenanda aus dem Kühlschrank. »Verdammt«, rief Gwenanda, als sie die Frucht sah. Maris erschrak. »Habe ich die Kerne nicht rausgemacht?« »Oh, ja, es ist nur…« Das Ding hatte im ersten Augenblick fast so ausgesehen wie diese verdammte Mangofrucht. Aber sie konnte nicht gut ablehnen, was das Kind für sie bereitgestellt hatte… Sie quetschte eine halbe Zitrone über der Frucht aus und führte gerade den ersten Löffel von dem saftigen Fruchtfleisch zum Mund, als sie innehielt.
Ohne etwas zu sehen, schaute sie vor sich hin, und ihre Augen wurden immer größer. Ganz plötzlich war die Sonne heller geworden, das tropische Aroma der Frucht süßer und die ganze Welt freundlicher. »Wenn es die Kerne nicht sind, was ist es dann«, sorgte sich Maris. Voll Freude über die wunderbare Idee, die ihr eben gekommen war, ließ Gwenanda ihre zweiunddreißig gesunden kräftigen Zähne blitzen. »Ach, Liebling, es ist nichts«, rief sie. »Aber jetzt ist einfach alles in Ordnung!«
VII
In dem zweihundert Meter weiter unten in silbrigen Manhattan-Schiefer eingelassenen Gerichtssaal war es kühl und ruhig, aber die Leute im Saal saßen in gespannter Erwartung da. Auf ihrem Weg zum Umkleideraum blieb Gwenanda einen Augenblick stehen und öffnete die Richtertür einen spaltbreit. Wie alle Schauspieler taxierte sie ihr Publikum. Wahrscheinlich ein gutes Publikum. Heute saßen hier keine Kadetten, sondern Prozeßführende, Anwälte und eine ganze Anzahl von gewöhnlichen Bürgern, die sehen wollten, wie hier Recht gesprochen wurde – und alle schienen von jener fröhlichen Sorglosigkeit befallen, die sich einstellt, wenn eine Epidemie ihre Schrecken verliert. Gwenanda sang, während sie sich umkleidete, und bewunderte sich dabei im Spiegel. Schade, daß die Robe ihren auffälligen schwarzroten Dashiki verdeckte! Aber der Blütenkranz in ihrem sorgfältig gepflegten Haar machte sich gut. Gwenanda betrachtete die gutaussehende hochmütige Frau im Spiegel. Sie lachte und warf sich eine Kußhand zu. Dann wandte sie sich vom Spiegel ab und ging nach draußen, um ihren Platz neben den anderen Richtern einzunehmen. In seinem Dünkel bestand Samelweiss darauf, daß die Richter des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten ihren Justiztempel streng nach Zeremoniell betraten. Alle mit Robe. Im Gänsemarsch. Würdevoll. Der Vorsitzende Richter natürlich als erster. Hinter Samelweiss gingen die beiden dienstältesten Kollegen, dann kam Gwenanda mit ihrer Kohorte, und den Schluß bildeten die Neulinge. Wie gewöhnlich stritten sich die Blechzwillinge in hohen, rasch
aufeinanderfolgenden Pieptönen. Sie waren sehr viel weniger beweglich als ihre organischen Kollegen, aber sie taten, was man von ihnen erwartete. Jeder trug eine Robe – oder jedenfalls etwas, das einer Robe einigermaßen ähnelte: kleine schwarze, an ihrer oberen Fläche angebrachte Servietten. Auch das entsprang einer Laune des Vorsitzenden Richters Samelweiss. Wie das Publikum fühlten sich auch die Richter als Überlebende, und während sie ihre Plätze aufsuchten, lachten sie und stießen sich gegenseitig in die Rippen. Als Gwenanda herantänzelte, versuchte Samelweiss gutgelaunt, ihr an den Hintern zu greifen – er verfehlte ihn, weil sie schneller war – und sagte aufgeräumt: »Mädchen, bei der Allgemeinen Stadtversammlung gestern abend warst du einfach großartig!« »Oh, hast du mich gesehen?« fragte Gwenanda erfreut über diesen Anflug von Ruhm. Eingebildet nahm sie die Glückwünsche der übrigen Richter entgegen, aber dann wurde sie ernst. »Ich habe etwas mit dir zu besprechen, Vorsitzender«, sagte sie. »Dazu bin ich ja hier«, strahlte er. »Wir könnten ein Geschäft machen. Gesetzt den Fall, ich würde für das nächste Geschäftsjahr den Job der Vorsitzenden Richterin übernehmen. Heißt das, daß ich dann auch den Tagungsort bestimmen kann?« »Wird es für dich in New York zu heiß, Liebling?« Er blinzelte ihr zu, aber dann erkannte er, daß sie es ernst meinte. »Nun, das hängt natürlich nicht von mir ab, aber normalerweise kann der Vorsitzende Richter den Tagungsort tatsächlich bestimmen. Vorausgesetzt, du wirst gewählt.« »Meine Stimme hast du«, rief Pak, der hinter ihr saß. »Ich hoffe allerdings, daß du dir nicht ausgerechnet Houston aussuchst – da habe ich einunddreißig Jahre gelebt, und das genügt.«
Jetzt mischte sich einer der digitalen Kollegen ein: »Ich werde dir mit Vergnügen meine Stimme geben, Gwenanda. Ich glaube, daß auch die Junioren nichts dagegen haben… nur, muß ich immer noch diese lächerlichen Fetzen tragen, wenn du Vorsitzende Richterin bist?« Eingekeilt zwischen ihm und Samelweiss, konnte Gwenanda ihm nur augenzwinkernd zulächeln. »Darüber werden wir uns noch unterhalten«, sagte sie nur. »Dann gibt es also keine Probleme«, sagte Samelweiss, aber es klang ein wenig niedergeschlagen, denn er dachte daran, daß bald nicht mehr er, sondern eine andere Person die Robe tragen würde, die einst John Marshall und Charles Evans Hugh gehört hatte. »Wohin willst du das Gericht denn verlegen?« fragte er. »Nun«, sagte Gwenanda, »nach Seattle natürlich! Wohin denn sonst?«
Eine halbe Million Menschen in der City hatten den kalten Hauch des Todes im Nacken gespürt, aber die beiden wichtigsten Angeklagten des Tages waren davon nicht berührt. Natürlich nicht, dachte Gwenanda. Diese beiden waren wahrscheinlich so voll von Krankheitskeimen, daß sie wie Ratten waren, zu widerwärtig, als daß ihnen Fallen, Ungeziefer oder Gift noch etwas anhaben konnten! Selbst ihre Anwälte hielten zu ihnen Distanz, während sie mit ihren Nachbarn plauderten oder die Richter begrüßten. »Wie geht’s, digitaler Kollege?« rief Wally Amaretto, der Anwalt des ZweiMilliarden-Dollar-Spinners Horatio Margov. »Sag mal, wußtest du, daß Tim Kapetzki hier diese andere Kuh verteidigt?« »Ja«, sagte der digitale Kollege. »Es steht in den Akten. Wie geht es dir, Tim?« Da der digitale Kollege mit einem
Gerichtsboten im Umkleideraum Fernschach spielte und gleichzeitig für den Vorsitzenden Richter Wetten für das Nachmittagsrennen zusammenstellte, waren seine Schaltkreise stark beansprucht. Seine Stimme hatte nur eine geringe Frequenzbreite und klang dünn und blechern. »Danke, gut«, sagte Kapetzki und ignorierte die erstaunten Ausrufe und die verwunderten Blicke der beiden Mandanten. »Wie steht das Spiel?« »Matt in zweiundzwanzig Zügen«, piepste der digitale Kollege. »Verdammt gut. Hör zu, kann über diese Fälle nicht sofort verhandelt werden, damit wir wieder verschwinden können?« »Nun mal langsam«, sagte der Vorsitzende Richter freundlich. »Ihr werdet schon warten müssen, bis ihr an der Reihe seid. Wegen der Allgemeinen Stadtversammlung ist unser Terminkalender mal wieder randvoll. Aber laßt uns anfangen.« Er schaute von einem seiner Kollegen zum anderen. »Die Sitzung ist eröffnet!« Sie warteten, bis sie an der Reihe waren, aber sie taten es mit wenig Anstand. Während die Gerichtsmaschinerie die Fälle im Eiltempo bearbeitete, beobachteten Margov und Jocelyn Feigerman die Prozedur mit Feindseligkeit und Verachtung, zuletzt mit nacktem Entsetzen. Es wurde über sehr viele Fälle verhandelt. Über einen Fall rücksichtslosen Drachenfliegens und über einen genialen Kreditbetrug. Über ein paar Missetäter, die sich der etwas groben Rechtsprechung der nächsten Notdienstpatrouille nicht hatten unterwerfen wollen. Es gab nicht weniger als achtundzwanzig Einsprüche gegen die Entscheidung der Allgemeinen Stadtversammlung über das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt. Ein Mörder und ein Kinderschänder waren abzuurteilen, und dann gab es noch den besonders ekelhaften Fall eines Gerichtsangestellten, der Leuten, die ihre Strafe abarbeiten mußten, gegen Geld Stunden
gutgeschrieben hatte, die sie überhaupt nicht abgeleistet hatten. Im Fall des Kinderschänders erklärte Gwenanda sich widerwillig für befangen, denn in diesem Zusammenhang stellte sie sich immer wieder Maris als Opfer vor, verängstigt, verletzt und unfähig, so etwas zu begreifen. (Aber sie war begeistert, als die anderen acht Richter einstimmig darauf erkannten, den Kerl einfrieren zu lassen, und sie nutzte die Zeit, die Wohnungsangebote in Seattle zu studieren.) Die Gerichtsangestellten hatten schon alle Einsprüche gegen das Nordamerikanische Flußumleitungsprojekt durch den Computer gejagt, und die Blechzwillinge berichteten, daß keiner dieser Einsprüche berechtigt sei. Es handle sich lediglich um die Versuche einiger Unentwegter, das Projekt in letzter Minute noch zu verhindern. Der Vorsitzende Richter brauchte nur fünf Minuten zur Erledigung dieser Fälle. Dennoch dauerte es ungefähr zwei Stunden, bis das Gericht diese weniger attraktiven Fälle bewältigt hatte, und Gwenanda, die zerstreut die unter der Kuppel des Saales aufleuchtenden Sprüche las – »Um den Übeln unserer Zeit zu steuern, braucht man nur Gerechtigkeit walten zu lassen und Freiheit zu gewähren.« – Henry George. – mußte erleben, daß Hunger ihre Gedanken an eine goldene Zukunft in Seattle beeinträchtigte. Dann merkte sie, daß der Idiot mit der Zwei-Milliarden-Dollar-Klage sich schon wieder unbeliebt machte. »Herr Vorsitzender! Sir! Ich glaube, wir waren schon früher hier als einige dieser guten Leute!« »Gewiß waren Sie das«, sagte Samelweiss freundlich. »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Sie beide als nächste an die Reihe kommen – sobald wir vom Lunch wieder zurück sind.«
»Lunch!« grölte der Ex-Eingefrorene, als bezeichnete das Wort irgendeinen abartigen Wahn, den diese neuen Verrückten erfunden hatten. »Lunch«, wiederholte Samelweiss und grinste. »Und Sie beide habe ich mir zum Nachtisch aufgehoben.«
Gwenanda erkannte, daß Samelweiss sich einiges vorgenommen hatte. Er behandelte Horatio Margov mit ausgesuchter Höflichkeit, lächelte ihn an und bat ihn, sich bei seinen Aussagen Zeit zu lassen. Und die ganze Zeit grinste er wie eine Katze, die an der Sahne geleckt hatte. Gwenanda hatte tatsächlich Sahne geleckt, die schönste Kiwifruchttorte ihres Lebens mit einer mindestens drei Zentimeter dicken Schicht Schlagsahne. Selten hatte sie so gut gegessen, und sie war so angenehm gesättigt, daß es ihr nicht schwerfiel, Toleranz aufzubringen. Sie amüsierte sich sogar wie alle anderen Richter, wenn auch einige von ihnen das zu verbergen suchten. »Ich war, ehrenwerte Richter«, deklamierte der Verrückte, »früher selbst an Ihrer Stelle, wie Sie ja wissen…« Und so ging es weiter, und Samelweiss verzichtete darauf, ihn zu bitten, endlich zur Sache zu kommen. Das Essen war ganz hervorragend gewesen. Sie waren in das Restaurant gegangen, in dem Dorothy arbeitete. In dem Lokal herrschte lebhafter Betrieb wie jetzt überall in der City. Und Gwenanda war mit denselben Leuten zusammen, mit Kriss und Maris und Dorothy, die bediente und sich, wenn sie Zeit fand, für ein paar Minuten zu ihnen an den Tisch setzte. Aber jetzt war es ein völlig anderes Gefühl! Gwenanda fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Dorothy zu bitten, mit ihnen nach Seattle zu gehen, vielleicht bei ihnen zu wohnen und sich während der ersten Zeit ein wenig um Maris zu kümmern – verdammt, wenn Kriss sie nun doch nicht für zu alt hielt? Aber
das würde nicht geschehen. Sie hob den Kopf und lächelte Kriss und Maris an, die hinten unter den Zuschauern saßen, die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben, und über ihnen war in Leuchtschrift ein neues Motto zu lesen: »Gerechtigkeit ist Wahrhaftigkeit im Handeln.« – Benjamin Disraeli. Sie lächelten zurück, und am liebsten wäre Gwenanda zu ihnen hinuntergerannt, um sie zu umarmen. Statt dessen konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Verrückten. Der Mann zitierte jetzt lange Absätze aus seiner Biographie. Das war seltsam. Normalerweise duldete der alte Samelweiss eine solche Zeitverschwendung nicht – und wenn er es doch tat, ging er zur Toilette, bis es vorbei war, aber diesmal lächelte und nickte er während des ganzen Vortrags. »… ein Mann von einigem Status. Ich war acht Jahre lang Senator, und dann gehörte ich dem Kabinett des Gouverneurs an. Mein Name wurde sogar unter den Kandidaten für diesen Posten genannt, aber ich entschied mich für den Beruf, den ich für den ehrenwertesten hielt und noch halte, den des Richters. Als Jurist hatte ich einen gewissen Ruf für meine Strenge gegenüber Schwerverbrechern und Wiederholungstätern – die Presse belegte mich mit dem Beinamen ›Der Blutrichter von Harlem‹.« Er strahlte die neun Richter an. »Nach einer allgemein als glänzend bezeichneten Karriere wurde bei mir eine ernsthafte Krankheit festgestellt, und ich beschloß, mich einfrieren zu lassen, denn mein Arzt konnte seinerzeit den Erfolg einer Behandlung nicht garantieren.« »Sie sind aber recht gesund wieder herausgekommen«, kommentierte der Vorsitzende Richter. »Erst nach längerer Therapie«, sagte der Blutrichter schnell. »Und daraus ergibt sich meine Beschwerde, Euer Ehren. Zu viel Therapie! Ich wurde wiederholt mit lebensgefährlichen Dosen von Impfstoffen und Immunisierungsmitteln aller Art
behandelt. Ich bin bereit«, sagte er, »gewisse Unterlagen vorzulegen, die beweisen…« »Oh«, unterbrach ihn der Vorsitzende Richter, »die haben wir schon.« »Wie bitte?« sagte Margov verblüfft. »Wir haben die Unterlagen«, erklärte der Vorsitzende Richter. »Keine ›gewissen‹ Unterlagen. Wir haben sie alle. Und Sie können einen Augenblick den Mund halten, denn da war noch etwas. Wally? Würdest du bitte heraufkommen und laut sagen, was du mir in der Bar erzählt hast, als wir auf unser Lunch warteten?« Wally Amaretto stand auf und trat an den Richtertisch. Er sah seinen Mandanten an und leckte sich die Lippen. »Der Mann ist erledigt, Vorsitzender«, sagte er düster. »Sag die Wahrheit und blamier den Teufel«, sagte der Vorsitzende Richter heiter. »Oder, in diesem Fall, blamier deinen Mandanten.« »Nun… als wir über seinen Fall sprachen, sagte er, daß er für das Fälschen der Unterlagen in der Registratur der Gefrieranlage viel Geld bezahlt hat.« Unter den Zuschauern gab es Gemurmel, und der Blutrichter stotterte vor Wut. Der Vorsitzende machte ein zufriedenes Gesicht. »Halten Sie den Mund, Margov, bis wir die Sache geklärt haben. Hat er gesagt, warum er das getan hat?« »Er sagt, er hat es getan, damit man ihn nicht so schnell findet. Ich glaube, er hatte damals Schwierigkeiten mit der Justiz.« »Aha. Sag mal, Wally, hast du das irgendwem gemeldet?« »Aber gewiß. Ich habe es ihm gesagt.« Er zeigte auf den digitalen Kollegen. »Ihr anderen seid alle zum Essen gegangen, aber er ißt ja nicht. Deshalb blieb er sitzen und spielte Simultanschach auf dreißig Brettern, wie er es immer
tut. Ich habe es ihm gesagt und bin dann rausgegangen, um etwas zu trinken. Dort habe ich dich getroffen.« »Ich protestiere!« schrie Margov. »Sie schweigen«, sagte der Vorsitzende. »Stimmt das?« fragte er den digitalen Kollegen. »Es stimmt«, dröhnte der digitale Kollege. Im Augenblick spielte er nicht Schach. »Deshalb habe ich die Gefrieranlage angerufen und die Unterlagen suchen lassen. Es dauerte eine Weile – sie hatten in den letzten Tagen sehr viel zu tun! –, aber sie haben sie gefunden. Wally hat recht. Der Angeklagte hat die Unterlagen gefälscht.« »Jetzt reicht es mir!« brüllte Margov. Er war auch ohne Mikrophon zu verstehen. »Ich protestiere gegen das unethische Verhalten dieses Anwalts und verlange, daß er aus dem Anwaltsstand ausgeschlossen wird! Und ich protestiere gegen die herabsetzenden Äußerungen dieses Richters. Ich bin kein Angeklagter, ich bin Kläger!« »Nein«, dröhnte der digitale Kollege mit voller Lautstärke, »Sie waren Kläger, aber die Klage wird abgewiesen werden. Die Unterlagen der Gefrieranlage beweisen, daß Sie Ihre Identität der Fallgeschichte eines gewissen Chretien Entier unterschoben haben. Als sie aufgetaut wurden, waren die Unterlagen natürlich immer noch falsch. Deshalb haben Sie die vielen Injektionen bekommen und er gar keine.« »Richtig«, rief Samelweiss in fröhlicher Empörung. »Es war Ihre eigene Schuld, Margov. Die Klage wird abgewiesen. Jetzt müssen wir uns noch überlegen, wie wir die Fälschung der Unterlagen ahnden.« »Einspruch!« rief Margov. »Vorbehalt! Ich gedenke gegen diese Verfügung Berufung einzulegen!« Samelweiss sah ihn erstaunt an. »Berufung einlegen! Wo denn? Dies ist das Oberste Bundesgericht, Sie Trottel.«
»Diese Versammlung von Narren?« höhnte Margov. »Das Oberste Bundesgericht?« »Wir sind das Oberste, das es gibt«, erklärte der Vorsitzende. »Und Sie fallen mir allmählich auf die Nerven! Einige von euch Verbrechern haben ein Benehmen, das fast so schlecht ist wie das der Anwälte!« »Ich bestehe nur auf meinem Recht, vor einem kompetenten Gericht gehört zu werden!« »Das war bereits der Fall. Hören Sie zu, unsere Zeit ist bemessen. Wir haben – was ist denn jetzt schon wieder?« Der digitale Kollege ließ alle seine Lichter aufblitzen, um die Aufmerksamkeit der anderen Richter auf sich zu ziehen. »Ich wollte nur vorschlagen, daß wir ihn ausreden lassen«, sagte er. »Dies ist immerhin ein ziemlich wichtiger Fall.« Samelweiss zuckte die Achseln, und der Blutrichter schien erfreut und gleichzeitig ein wenig besorgt zu sein. »Ich danke für das Entgegenkommen, Euer Ehren«, sagte er und sah den digitalen Kollegen an. »Allerdings bin ich erstaunt darüber, daß Sie die Sache mit dem Fehler in den Akten einen ›wichtigen Fall‹ nennen. Allenfalls eine Geldbuße von fünfzig Dollar. Vielleicht nur ein Verweis.« Samelweiss bedachte Margov mit einem wütenden Blick. »Ich werde Ihre Zeit nicht sehr viel länger beanspruchen«, fuhr Margov fort. »Ich möchte nur noch sagen, daß ich hier fremd bin. Ich bin mit den heutigen Gepflogenheiten nicht vertraut. Zu meiner Zeit saß jedem Gericht ein Richter vor. Ein Richter mit einer juristischen Ausbildung und einigen Jahren Erfahrung als Richter oder als Anwalt. Und nun treffe ich auf Sie! Keiner von Ihnen ist Jurist, und ganz sicherlich sind Sie keine Richter. Sie sind durchschnittliche Bürger – wenn ich auch ehrlich zugeben muß, daß einige von Ihnen dem ›Durchschnitt‹ nicht einmal nahekommen. Nichts für ungut. Sie sind für diesen Job bestimmt worden, als ob, mein Gott, ich weiß es wirklich
nicht. Vielleicht kann man es Einberufung nennen. Wie ich es sehe, zieht irgendein Computer – die beiden Gentlemen mögen bitte verzeihen – Ihre Namen aus dem Hut, und schon sind Sie das Oberste Bundesgericht! Mein Gott! Wie kann man von Ihnen erwarten, daß Sie etwas vom Rechtswesen verstehen?« Er schwieg einen Augenblick und ließ seine Blicke über die neun Richter gleiten. Sein hartes, photogenes Politikergesicht hatte einen weniger distinguierten, aber menschlicheren Ausdruck von Besorgtheit angenommen. Fast tat der Trottel Gwenanda leid. »Ich denke, das wäre alles«, sagte er bescheiden. »Was die andere Angelegenheit betrifft, so glaube ich, mich nicht richtig verhalten zu haben, und ich bin gern bereit, meine Geldbuße zu zahlen oder was auch immer – angesichts der Tatsache, daß ich nicht vorbestraft bin, möchte ich allerdings meinen, daß Sie höchstens auf eine Strafe erkennen werden, die zur Bewährung ausgesetzt werden kann.« »Es wird langsam Zeit«, brummte Samelweiss. – »Was ist es denn diesmal?« fragte er den digitalen Kollegen. »Ich möchte gern die Einlassungen des Angeklagten beantworten«, sagte Ai-Max. »Warum?« »Aus Höflichkeit«, dröhnte der digitale Kollege. »Und dann gibt es da noch andere Dinge. Erstens, wir sind das Oberste Gericht, denn wir sind ungefähr das einzige Gericht, das es gibt. Das einzige, das gebraucht wird, denn es gibt nicht mehr sehr viele Gesetze, und die meisten Fälle werden an Ort und Stelle erledigt. Zweitens, wir kennen die Gesetze sogar sehr gut. Unsere Computer kennen sie, und die Gerichtsangestellten teilen uns alles mit, was wir wissen müssen. Drittens, der einzige Grund, warum wir uns so lächerliche Fälle wie Ihren überhaupt anhören, ist der, daß wir weiter nicht viel zu tun haben – weil es eben nicht mehr so viele Gesetze gibt und die
Leute sich gewöhnlich untereinander verständigen. Und viertens…« Der digitale Kollege machte eine Pause, bevor er weitersprach: »Viertens gibt es da noch etwas, über das wir überhaupt noch nicht gesprochen haben. Dieser Chretien, der überhaupt keine Injektionen bekam, wurde aufgetaut und mit all seinem dreckigen alten organischen Ungeziefer auf die Menschheit losgelassen. Er war die Leiche, die gefunden wurde. Der primäre Bakterienträger. Durch ihn wurde fast die ganze City krank, und er hat den ganzen Ärger und die Mühe und die Kosten verursacht. Wenn man an alle die anderen Krankheiten denkt, von denen er befallen war, können wir von Glück sagen, daß nur die Grippe ausbrach. Margov muß sich um ganz andere Dinge Sorgen machen als um die Sache mit den alten Unterlagen, denn er ist es, der alles verschuldet hat.«
Unter den Zuhörern machte sich Entsetzen breit. Keiner sagte etwas, und ganz gewiß lachte niemand. Was vorher wie eine lächerliche Farce gewirkt hatte, gewann jetzt ganz neue Aspekte. Unter der Kuppel erschien jetzt ein neues Motto – »Das Volk hat die Verfassung gemacht, und das Volk kann sie auch wieder abschaffen.« – John Marshall. – und Gwenanda überlegte zerstreut, ob der Vorsitzende Richter dieses Motto Margovs wegen abgerufen hatte. Im übrigen war sie genauso schockiert wie alle anderen im Saal. Der Vorsitzende Richter handelte als erster. Seine Augen hatten sich verengt, seine Brauen zusammengezogen, die Lippen waren dünne Striche. Er schlug auf die Taste und schnitt damit alle Anwälte und Prozeßführenden von der Sprechanlage ab, so daß nur die anderen Richter seine Worte verstehen konnten: »Dies ist kein Spaß mehr«, sagte er. »Einfrieren reicht hier nicht. Was geben wir ihm?«
»Wir beschlagnahmen sein Vermögen«, schlug Ai-Max vor. »Er stammt aus einer Zeit, in der Vermögen wichtig war, und das wird ihn am härtesten treffen.« »Zwanzig Jahre Arbeitseinsatz ohne Steuerermäßigung«, verlangte Pak. »Ins Exil nach Los Angeles«, schlug Myra Haik vor, und Angel zischte: »Das genügt nicht. Alles zusammen. Und wenn er seine Zeit abgedient hat, schicken wir ihn in die Tiefkühltruhe zurück!« Verdammt, dachte Gwenanda und schaute den Blechzwilling an, das ist aber erstaunlich. Sie ignorierte das Getuschel der Richter und dachte darüber nach – natürlich! Angel war der zweite, der krankgeworden war! Irgendwie steckte noch so viel Mensch in diesem Blechkasten voller Prothesen und Lebenserhaltungssysteme, daß er krank werden konnte, und deshalb hatte Angel ganz persönliche Gründe, ein besonders hartes Urteil über den Blutrichter zu verhängen. Und doch, dachte sie verzweifelt, es ist nicht recht, den Kerl zu kreuzigen. Aber wenn sie an das Entsetzen dachte, das sie erleben mußte, als sie ihr krankes Kind im Arm hielt, dann fiel ihr keine Strafe ein, die für dieses Verbrechen ausreichte. Haßerfüllt schaute sie zu Margov hinüber, der, ohne Reue zu zeigen, mit seinem Anwalt stritt. Er machte nur eine Pause, um Sympathiekundgebungen der anderen Angeklagten entgegenzunehmen, Jocelyn Feigerman. Mit ihr teilte er auch seinen Haß auf das Gericht. Der Saal belebte sich. Die Nachricht war nach außen gedrungen, und Fernseh-Teams waren erschienen. Die gedruckten Medien hatten ihre Vertreter geschickt, und außer den Auslandskorrespondenten waren auch die Wahrer der Bürgerinteressen gekommen. Sie alle werden heute abend auf dem Bildschirm erscheinen, dachte Gwenanda, die sich heimlich selbst auf dem Monitor betrachtete und rasch versuchte, ihre Frisur zu richten… aber
irgend etwas stimmte immer noch nicht. »Heh, Vorsitzender«, rief sie und überschrie die anderen Richter. »Wie wäre es, wenn wir uns erst ein wenig beruhigten?« »Hör zu, Gwenanda«, sagte Samelweiss und drehte seine Schokoladenseite den Kameras zu, »warum schließen wir den Fall nicht ab und erledigen den Kerl ein für allemal?« Jetzt mischte sich der digitale Kollege ein: »Vorsitzender, hier muß ich Gwenanda bedingungslos unterstützen. Gewiß, er ist ein abgefeimter Schurke, aber wir betreiben hier keine Lynchjustiz. Wir sind das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten von Amerika!« »Was können wir also tun?« sagte Gwenanda schnell. »Ich denke, wir sollten uns jetzt meinen Fall vornehmen. Es wird nicht lange dauern, denn ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß sie schuldig ist.« »Nun…« Der Vorsitzende Richter schaute sich um und zuckte die Achseln. »Es ist beschlossen«, sagte er und gab die Mikrophone frei. »Dann beschäftigt euch mit dieser anderen Idiotin, Leute. Tim? Hast du irgend etwas für deine Verbrecherin auszusagen?« Tim Kapetzki stand langsam auf. Er schaute seine Mandantin an und seufzte. Als er an den Richtertisch trat, zog er einen Joint aus der Tasche und zündete ihn an. »Wir sollten uns wirklich alle ein wenig beruhigen«, schlug er vor und reichte den Joint herum. Und überraschenderweise lächelte der Vorsitzende nur, dem Rauchen im Gerichtssaal sonst verhaßt war, weil er dann niesen mußte. Er lächelte direkt in die Kameras. »Okay«, sagte der Anwalt der Angeklagten, »machen wir es kurz. Sie hat getan, was man ihr vorwirft.« »Du meinst, sie bekennt sich schuldig? Dann können wir ja gleich zum Urteil kommen.« »Nun ja, Vorsitzender«, seufzte Kapetzki, »das Wort ›schuldig‹ kann eine ganze Menge Scheiße bedeuten. Es gibt
ein ›schuldig‹ wenn jemand eine Waffe nimmt und einen anderen erschießt. Und es gibt auch ein ›schuldig‹, wenn jemand etwas durcheinanderbringt und etwas aus Versehen tut. Ich gebe zu, daß sie einem etwas veralteten Lebensstil anhängt, und das kann andere Leute natürlich verärgern…« »Das ist das Einunddreißigste Änderungsgesetz, stimmt’s?« sagte der Vorsitzende Richter. Er spielte an den Knöpfen, und sofort erschien in Leuchtbuchstaben ein neues Motto: »Niemand hat das Recht, andere zu belästigen. Das hat Vorrang vor allem anderen.« – Das Einunddreißigste Änderungsgesetz zur Verfassung der Vereinigten Staaten. Kapetzki schaute nicht einmal hin. »Aber sie hat nicht gewußt, daß sie andere belästigt«, sagte er und schien selbst nicht recht überzeugt. »Ich mache euch einen Vorschlag. Lassen wir doch das alte Mädchen selbst reden.« »Warum nicht?« sagte der Vorsitzende freundlich und grinste in die Kameras, aber Gwenanda war erbost. »Mädchen?« schrie sie. »Was soll denn dieser Mist?« »Entschuldigung, Gwenanda«, sagte Kapetzki, »du hast zwar recht, aber sie nennt sich nun mal ›Mädchen‹. So wie jemand sagt ›wir Mädchen taten immer dies und das‹ oder ›wir Mädchen untereinander‹ und so weiter. Du solltest mal mit ihr reden, Gwennie. Sie ist wirklich interessant – ich weiß nur nicht, warum ich immer solche Fälle kriege.« »Nun, nun«, sagte der Vorsitzende nachsichtig. »Wir haben beschlossen, daß das äh, Mädchen selbst reden soll, und dann soll sie es auch tun. Kommen Sie, Feigerman. Hier ist Ihre Chance. Die dürfen Sie sich nicht verderben.« Jocelyn Balmer Tisdale Feigerman stand auf und nannte ihren Namen. In Gwenandas Gegenwart ließ sie sich ihre Bosheit natürlich nicht anmerken. Sollte etwa das ganze Gericht erfahren, was für ein Scheusal sie in Wirklichkeit war? Sie war nicht größer als eine Zwölfjährige und pummelig wie
ein Baby. Dazu hatte sie blaßbraune traurige Augen. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, sagte sie, »denn ich habe ganz gewiß kein Verbrechen begangen. Ich mag gegen irgendeine läppische Verordnung verstoßen haben, aber das habe ich nur getan, um Gottes Gebote durchzusetzen.« »Die Änderung einunddreißig ist keine läppische Verordnung«, fauchte Gwenanda, aber sie schwieg, als sie merkte, daß der Vorsitzende sie strafend ansah. »Möglicherweise«, sagte Jocelyn mutig, »hat meine geringe Vertrautheit mit den geltenden Sitten mich zu einem schlimmeren Verstoß veranlaßt, als ich ahnen konnte. Wie Richter Margov kann auch ich mich nur entschuldigen, und, wie er bitte ich Sie, mir Gelegenheit zu geben, über mich selbst zu berichten, damit Sie meine Motive verstehen und bei Ihren Überlegungen auch meine Vergangenheit berücksichtigen können. Ich wurde als gottesfürchtige Presbyterianerin aufgezogen«, fuhr sie fort und schien eine Rede halten zu wollen. »Sehr jung heiratete ich einen Mann, der im Dienst an seinem Land starb. Ein paar Jahre später ging ich meine zweite Ehe ein, und zwar mit einem bedeutenden Ingenieur und Philanthropen, und ich blieb fast fünfunddreißig Jahre lang seine Frau. Ich war noch mit ihm verheiratet, als ich eingefroren wurde. Während dieser ganzen Zeit habe ich mich aktiv am öffentlichen Leben beteiligt, und insbesondere habe ich die Sünde des Mordes an Ungeborenen bekämpft. Obwohl mir selbst nur ein einziges Kind vergönnt war, habe ich den Jungen mit der ganzen Liebe einer Mutter großgezogen und…« »Moment mal«, unterbrach Gwenanda sie. »Eines möchte ich klarstellen. Sie haben also dreißig oder vierzig Jahre lang mit zwei verschiedenen Männern zusammengelebt und nie eine Spülung gemacht und dennoch nur ein einziges Kind bekommen?«
Der Vorsitzende drehte an seinem Mikrophon den Verstärker auf. »Schluß jetzt, Gwenanda«, sagte er streng. »Das, äh, Mädchen ist an der Reihe. Du kannst sie später in die Mangel nehmen.« Und über die private Leitung flüsterte ihr einer der Blechzwillinge ins Ohr – sie wußte nicht welcher: »Gwenanda? Willst du dich disqualifizieren? Schließlich hast du selbst ihre Vorladung veranlaßt.« »Oh, verdammt«, sagte Gwenanda und verfiel in mürrisches Schweigen, während Jocelyn Feigerman fortfuhr. »Ich war eine gute Ehefrau«, sagte sie mit fester Stimme, »aber ich habe auch Gottes Gesetze beachtet. Der Reverend Arbneth sagte immer, die beste Empfangsverhütung sei ein Silberdollar. Wenn man sich den zwischen die Knie klemmt und nicht fallenläßt, hat man niemals Probleme. Der Mann hatte recht. Die Mädchen von heute – ich meine, die Mädchen aus der Zeit vor meiner Einfrierung hätten diesen Rat beherzigen sollen. Dann wäre der legalisierte Mord überflüssig, und ich bin sicher, daß das auch heute gilt, was sich auch sonst verändert haben mag. Mord ist Sünde, und außerdem ist Mord ein Verbrechen. Sie sollten ihn also verhindern! Steckt die Leute ins Gefängnis, wenn sie kein anständiges Leben führen können! In was für einer Welt würden wir leben, wenn man die Leute tun läßt, was sie wollen?« Sie schwieg und senkte den Blick. Als der Vorsitzende Richter merkte, daß sie ihren Vortrag beendet hatte, räusperte er sich und schaute in die Runde. »Noch Fragen, Leute?« Es gab keine Fragen, und Samelweiss lächelte. »Nun, ich werde euch sagen, was wir jetzt tun. Wir werden uns in unsere Räume zurückziehen, vielleicht gemeinsam einen Joint rauchen und uns in aller Ruhe überlegen, wie wir diese beiden ungewöhnlichen Fälle behandeln sollen.« Immer noch lächelnd rauschte er vor den
anderen aus dem Saal. Samelweiss hatte ein gutes Gespür dafür, wie man dramatische Akzente setzt, besonders wenn bei einem interessanten Fall die Leute von den Medien zugegen sind. Und zweifellos war es auch Samelweiss’ Werk, daß beim Abgang der in ihre Roben gehüllten Richter über ihren Köpfen ein neues Motto flimmerte: »Niemand herrscht, ohne schuldig zu werden.« – Louis de Saint-Just. Die Angeklagten und ihre Anwälte hatten also viel Zeit, wütend miteinander zu flüstern, und Jocelyn und der Blutrichter merkten allmählich, wie schlecht es um ihre Sache stand. In ihrem Stolz auf Gwenanda fielen Kriss und Maris sich gegenseitig um den Hals, und die Leute von den Medien hatten Zeit genug, die Reaktionen der Zuschauer aufzunehmen. Dann betraten die Richter wieder den Saal. Sie grinsten. Als er sicher war, daß die Kameras auf ihn gerichtet waren, sagte Samelweiss: »Myra, das Gericht ist bereit.« Myra Haik legte nachdenklich beide Zeigefinger an die Lippen. Wenn man Myra Haik oberflächlich betrachtete, kam sie einem wie eine gute Mutter vor, aber diese mütterliche Sechsundvierzigjährige war in Wirklichkeit eine gefährliche Frau. Das merkten die beiden Angeklagten schon an ihrem Blick. »Jocelyn«, sagte sie, »Ihren Fall erledigen wir zuerst. Eigentlich hätte Gwennie das Urteil verkünden sollen, aber sie hat verzichtet, weil sie selbst den Prozeß veranlaßt hat, und deshalb habe ich mich zur Verfügung gestellt. Ich will Ihnen mal etwas sagen. Ich habe mir überlegt, daß mein Leben ziemlich ähnlich dem Ihren hätte verlaufen können, wenn ich früher geboren wäre, und ich danke Gott an jedem neuen Tag, daß das nicht der Fall war. Nun, wie dem auch sei. Hören Sie nun unser Urteil. Wir werden Ihnen einen Mann geben, und Sie werden das sein, was man seine ›Ehefrau‹ nennt. Wenn er
schlechte Laune hat, werden Sie es ertragen müssen. Wenn er schnarcht, werden Sie keinen Schlaf finden. Wenn er auf einer Party zu viel trinkt, werden Sie nüchtern bleiben, damit Sie ihn nach Hause bringen können. Und wenn er sie lieben will und es nicht schafft, weil er zu betrunken ist, dann müssen Sie sich auch das gefallen lassen. Sie brauchen sich wahrscheinlich über Ihren verdammten Silberdollar keine Sorgen zu machen«, sagte sie nachsichtig, »denn, wenn man in der Gefrieranlage die meisten Ihrer Funktionen auch wiederhergestellt hat, daß Sie unbedingt noch ovulieren müssen, hat wahrscheinlich niemand angenommen. Sie könnten das natürlich noch machen lassen, wenn Sie wollen. Ihr Mann wird nicht gut aussehen und auch nicht sehr gescheit sein. Er ist auch nicht mehr jung, und wenn er noch älter wird, werden Sie viel über seine Prostata und über seine Hämorrhoiden hören und über andere unappetitliche Dinge. Nun, Jocelyn, Sie haben hoffentlich alles verstanden. Und das ist erst der leichte Teil. Die schwierige Seite der Angelegenheit ist dies: Sie werden ihn streng behandeln. Sie werden ihm Sex gestatten, wenn Sie glauben, daß er es verdient. Wenn Sie wütend sind über etwas, was er getan hat, um Sie zu ärgern, wenn er zum Beispiel seine Kleidung nicht weggehängt oder auf einer Party zu lange mit einer anderen Frau gesprochen hat, werden Sie schweigen und ihn im unklaren lassen. Sie werden ihm sagen, daß andere Männer sich besser pflegen und mehr im Beruf leisten, und sollte er je glauben, einmal etwas Besonderes geleistet zu haben, werden Sie ihm erklären, warum es eigentlich doch nichts Besonderes war. Und das werden Sie täglich tun, solange Sie beide leben, und wir werden Ihnen nicht gestatten, sich scheiden zu lassen, und das ist das Urteil dieses Gerichts.« Der Hammer fuhr auf den Tisch nieder. »Das Urteil ist verkündet«, rief der Vorsitzende fröhlich. »Und nun beschäftige dich mit dem andern, Gwenanda.«
Gwenanda zwinkerte Kriss und Maris stolz zu, bevor sie wieder die Angeklagten ansah. Sie waren lange nicht mehr so dreist wie vorher. Jocelyn lächelte schwach, als fände sie, sie sei noch glimpflich davongekommen, aber auch, als wüßte sie nicht, ob sie eine solche Strafe aushalten würde. Der Blutrichter wirkte ängstlicher. »Horatio«, sagte Gwenanda, »für uns wäre es das leichteste gewesen, Sie beide einfach wieder einfrieren zu lassen und Ihr Schicksal der Zukunft zu überlassen. Aber nach dem Auftauen wären Sie wahrscheinlich genauso kriminell wie vorher. Deshalb haben wir uns für Sie etwas Besonderes ausgedacht. Sie, Horatio, werden der Mann sein, mit dem sie verheiratet wird.« Sie lächelte schmelzend in die Kameras; und mit einem Ruck riß sie sich die Robe von den Schultern, daß ihr schwarzroter Dashiki aufleuchtete. Dann ging sie in den überfüllten Saal hinunter, wo Kriss und Maris auf sie warteten. Sie küßten sich. Den anderen voran gingen sie Arm in Arm zu den öffentlichen Fahrstühlen. Und während der ganzen langen Fahrt nach oben hielten sie einander umschlungen; während der Fahrt aus dem Urgestein heraus, an den ersten Prokaryoten und Eukaryoten vorbei; vorbei an den Kriechtieren, die nur lebten, um einander zu fressen, sich fortzupflanzen und zu sterben, vorbei an den Felsen, in denen die bösartigen Reptilien eingeschlossen waren, vorbei an den Anfängen der Säugetiere, an der wilden Vergangenheit der Menschheit, an der ganzen Historie vorbei, immer weiter nach oben und hinaus in die saubere angenehme Luft der Zivilisation.