Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 737
Tabusektor Leron Die Schatulle auf Kriegszug
von Arndt Ellmer
Auf Terra sc...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 737
Tabusektor Leron Die Schatulle auf Kriegszug
von Arndt Ellmer
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide unvermutet in die Galaxis Manam-Turu gelangt. Das Fahrzeug, das Atlan die Möglichkeit der Fortbewegung im All bietet, ist die STERNSCHNUPPE. Und der neue Begleiter des Arkoniden ist Chipol, der junge Daila. In den rund acht Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich auf den Freiheitskampf der Daila gegen das Neue Konzil positiv auswirken dürfte. Aber Atlan ist längst nicht zufrieden mit dem bisher Erreichten, ebensowenig wie seine Gefährten. Doch nach der »Mission Zyrph«, die ebenfalls kein befriedigendes Ergebnis gezeitigt hat, trifft man auf Traykon-6, den seltsamen Roboter. Im Anschluß daran entschlüsselt die STERNSCHNUPPE neue wichtige Daten – und diese Daten führen zum TABUSEKTOR LERON…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide auf einer neuen Fährte. Chipol und Mrothyr – Atlans Begleiter. Traykon – Ein seltsamer Roboter. Adkor, Dawok, Badowein und Gremen – Bewohner des Planeten Leron.
1. »Gefahr!« Adkor ließ ein warnendes Schnauben hören und krümmte den behaarten Körper zusammen. Seine Finger tasteten über den feuchten Boden. Das Gras war taufrisch und weich, die rot schillernden Spitzen übten eine beruhigende Wirkung auf Adkor aus. »Gefahr!« wiederholte er. Die Meute, bestehend aus einer Gruppe von zwanzig Jägern sowie sechs Spüraffen, war endgültig zum Stillstand gekommen. Reglos lauschten die Leronen und witterten nach allen Richtungen. Die Affen kauerten sich ängstlich am Boden zusammen, denn sie wußten, was das Verhalten der Jäger bedeutete. Es waren keine Tiere, die Adkor witterte. Es waren Leronen. Adkor richtete sich wieder auf. Seine dunklen Augen verloren ihren tiefen Glanz, und er schloß mehrmals die halb durchsichtigen, rosafarbenen Lider. Sie verrieten ihn in der angebrochenen Morgendämmerung, und er mußte sich beherrschen, die dumme Angewohnheit vor Aufregung nicht ständig zu wiederholen. »Gnorze!« flüsterte er kehlig. »Das Gras riecht nach Gnorze!« Die Leronen strebten auseinander. Lautlos teilten sie sich in zwei Linien aus Jägern auf, die links und rechts des Pfades mit den Stämmen der Getretenen verschmolzen. Nur die Affen saßen noch in der Mitte des Weges, und sie vergruben die Köpfe unter den Armen, um nichts zu sehen und nichts zu hören. Einer von ihnen öffnete die Schnauze, um einen Klagelaut auszustoßen. Sofort schoß der Arm des Bändigers nach vorn und ließ das intelligenzlose Wesen zusammenzucken. Dawok, der Bändiger grinste zufrieden und zog den Arm wieder ein. Irgendwo aus der Höhe erklang der schrille Schrei eines gefiederten Uwans. Er warnte vor einem noch unsichtbaren Feind. Die Richtung, in der er schrie, war der des sich nähernden Gegners entgegengesetzt. Adkor winkte kurz. Dawok holte die Affen zu sich und verschwand mit ihnen im Unterholz. Die übrigen Leronen duckten sich in das hohe Gras und nahmen langsam die Hände nach hinten. Sie zogen Pfeile aus den Köchern und legten sie auf die Bögen. Eine Sehne gab ein helles Geräusch von sich. Dann war wieder Ruhe zwischen den Getretenen, zwei Tagesmärsche westlich von Schatulla über dem Vulkan. Die Dämmerung endete, und der Himmel des neuen Tages zeigte sich in freundlichem Rot. Gulbert Leron stieg über den Horizont und sandte die ersten Strahlen zwischen die Firne und Farne des Mittellands. Die schwingenähnlichen Äste der Getreichen ließen sie nur zögernd durch, und im Gegenlicht war zu erkennen, wie die weiter entfernten Äste in einem nicht feststellbaren Wind zu zittern begannen. Es war ein leichtes, fast unsichtbares Zittern, und es kam immer näher. Es zeigte den Leronen, daß der Gegner nicht mehr fern war. Adkor und seine Begleiter drückten sich noch enger gegen den Boden. Sie spähten den Pfad entlang. Nichts war zu sehen, nur das Gras war da niedergedrückt, wo sie gegangen waren. Es richtete sich bereits wieder auf, doch es würde dem Gegner verraten, daß jemand in der Nähe war. Es war gut, daß sich die beiden Gruppen nicht in der Nacht begegneten. Die Nacht war der Vater des Todes, und was die Nacht verschlang, gab sie nicht mehr her. Die Nacht war grausam, aber sie gehörte zur Natur wie der Tag. Jetzt tauchte der erste Schatten auf. Adkor konnte nicht viel erkennen, aber er hielt die Augen weit offen, um den verräterischen Lidschlag zu unterdrücken. Der Schatten trug eine Blauhülle, soviel konnte der Lerone erkennen. Es gab keinen Zweifel. Der Geruch hatte den Gegner früh verraten.
Adkor spreizte die sechs Finger einer jeden Hand und streckte sie nach oben. Zwölf Gnorze! signalisierte er. Dann ballte er die Hände zu Fäusten. Das bedeutete, daß er zu allem entschlossen war. Die Gnorze-Leronen näherten sich hintereinander. Jeder trat in die Fußspuren seines Vordermanns, und das war ungewöhnlich. Jemand, der sich auf der Jagd befand oder eine Missetat plante, benahm sich nicht so heimlichtuerisch. Adkor hätte dies eigentlich auffallen müssen. Er registrierte den Vorgang auch, doch er dachte sich nichts dabei. Die Konzentration der nächtlichen Jagd hatte ihn erschöpft, er war nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte. Die Gnorze befanden sich noch zehn Manneslängen von dem Versteck entfernt. Adkors Körper spannte sich, seine Muskeln traten unter der behaarten Haut hervor. Jetzt! Er sprang auf. Gleichzeitig erkannte er die Sänfte und ließ den Bogen sinken. Der Pfeil schnellte ihm von der Sehne und bohrte sich zwei Armeslängen vor ihm in den Boden. Die Gnorze schossen auseinander. Sie prallten teilweise gegen die Angreifer, aber es fiel kein Schuß mehr. Adkor zog den Pfeil aus der Erde und steckte ihn in den Köcher. Er hängte sich den Bogen um und ließ sich mitten auf dem Pfad nieder. »Gulbert sei Dank«, stieß er hervor. »Er hat den Irrtum noch rechtzeitig aufgedeckt!« Einer der Gnorze kam ihm entgegen. Die dunklen Augen musterten ihn, und der Lerone machte Zeichen des Entsetzens. »Du suchst den Krieg, Adkor. Es hat sich überall im Mittelland herumgesprochen, daß die Bewohner Schatullas in alle Richtungen ausziehen, um die Nachbarn heimzusuchen. Ihr seid auf der Jagd. Wie groß ist eure Gruppe?« »Wir sind mindestens zweihundert, du Mann ohne Namen«, entgegnete der Schatulla-Lerone knurrend. »Wir überschwemmen das Mittelland. Wir kommen wie die Sturmflut. Wer sich uns widersetzt, wird niedergewalzt!« Der Gnorze mit dem blauen Rock stimmte ein wieherndes Gelächter an, und seine Begleiter begannen vor Belustigung um sich zu schlagen. Die Affen klagten eingeschüchtert, und Dawok, der mit ihnen herbeigekommen war, mußte sie ein Stück zur Seite schaffen, bis sie außer Sichtweite waren. »Der Mann ohne Namen nennt sich Badowein!« sagte der Gnorze und verschränkte die Arme. »Du bist nicht nur mir bekannt, Adkor. Jeder Gnorze kennt dein Spiegelbild!« Die Schatulla-Leronen waren aufgesprungen. Sie wichen zurück und zogen Adkor mit sich. Sie redeten in ihrer knappen Sprechweise auf ihn ein, bis er die Geduld verlor. Er sprang vorwärts und kniete vor dem Gnorze nieder. »Vergib mir«, flehte er. »Ler-Ont,’ die einzige Gottheit unseres Volkes, möge mich strafen, wenn ich sie beleidigt habe. Es war nicht meine Absicht. Ich habe dich nicht erkannt, und die Blauhüllen, die ihr tragt, sind kein Zeichen. Ich hatte nicht vor, einen der Pilger zu belästigen. Ich bitte dich, sieh mir diesen Fehler nach. Wer kennt nicht Badowein, den bekanntesten Philosophen und Gottesdiener diesseits des Ozeans. Wir schätzen uns glücklich, wenn du uns zu unserem Lager folgst!« Badowein deutete auf den kleinen Zahn, der an einem Kettchen um seinen Hals hing. Das Kettchen war aus Metall, eine Seltenheit auf Leron. Der Zahn stammte von einem Ußbussi, einem der gefährlichsten Steppenreißer der Tiefebenen. Der Zahn war eines der unbekannteren Zeichen von Pilgern. »Ler-Ont sei gepriesen, daß wir euren Überfall überlebt haben«, sang Badowein. »Wir folgen euch gern in euer Lager, doch liegt es an euch, unsere Spuren zu verwischen. Wisse, daß eine halbe
Tagesreise hinter uns eine Schar unserer Krieger folgt. Ganz Gnorzenland hat Kenntnis von eurem Vordringen erhalten. Ihr werdet irgendwann an eine Mauer lebendiger Leiber stoßen, die unüberwindlich für euch ist.« Er und die übrigen Gnorze sprangen auf. Auch die Schatulla-Leronen erhoben sich. Adkor deutete nach rechts, wo in Sichtweite ein Seitenpfad abbog. Die Farne waren dort entfernt worden, so daß die Abzweigung gut sichtbar war. »Folgt uns, ihr Pilger zum Heiligen Berg«, forderte Adkor die Gnorze auf. »Seid uns willkommen. Erlaubt uns, daß wir euch in unserem Lager bewirten und euch eine Strecke des Weges zu eurem Ziel geleiten!« »Es ist uns eine Ehre. Aber vergiß nicht, Adkor-Feind, daß hinter uns die Gnorze-Krieger folgen. Sie werden nicht danach fragen, ob ihr einem Pilger Gutes erwiesen habt oder nicht.« Badowein fuchtelte mit den Armen, wie der Schatulla-Lerone es von seinen eigenen Priestern, Heiligen und Schutzhelden sowie von ein paar Sittenstrolchen her kannte, die in den zugigen Höhlen weit hinter dem Vulkan lebten und die Frauen an der Handelsstraße zwischen Schatulla und dem abgebrochenen Sechseck belästigten. »Wir sind dumm und wissen das nicht«, gab Adkor bissig heraus. »Dawok, wir werden zur Feier des Tages einen der Affen schlachten. Was wäre nahrhafter für einen Pilger als ein frisches Affenhirn!« Dawok verschwand mit den Tieren voraus. »Affe zu Affe, Hirn zu Hirn«, murmelte er, aber von den Gnorze-Leronen hörte ihn keiner. * Sie trafen sich heimlich und regelmäßig im Kessel des Vulkans. Dicht über der tödlichen Glut hielten sie ihre Beratungen ab, und was sie sagten, wurde von dem Brodeln und Donnern in der Tiefe übertönt. Die Hängebrücke schwankte. Nacheinander trafen die Verschworenen ein. Im Licht der Abenddämmerung, das nur ungenügend in den Kessel fiel, näherten sie sich dem getarnten Eingang. Jeder von ihnen war in eine Kutte gehüllt und hatte die oberen Enden in der Art einer Kapuze über den Kopf geschlagen. Jeder von ihnen trug Felle an den Füßen, um die Schritte zu dämpfen und die Form der Füße nicht zu verraten. Im Abstand von hundert Mannslängen zueinander stiegen sie den schmalen Pfad hinab und verschwanden hinter dem Felsblock, der die Höhle begrenzte, die die Flanke des Vulkans durchbrach und eine Verbindung zwischen dem äußeren Hang und dem inneren Kessel bildete. Ein vermummter Wächter erwartete sie. Sie flüsterten ihm das Losungswort zu und zeigten ihm die kleine, unauffällige Narbe am sechsten Finger der linken Hand. Nur die Eingeweihten trugen sie, und die Kontrolle verhinderte, daß Unbefugte sich einschlichen. Die Verschworenen wurden durchgelassen und traten von der Höhle in den Kessel hinaus. Vor ihnen schaukelte die kunstvoll geknüpfte Brücke, die die Steilwand mit dem einsam in die Höhe ragenden Felsen verband, auf dem sie berieten. Mehr als einmal wäre die Brücke um ein Haar von hochschießenden Magmamassen zerfressen worden. Dann wäre ihnen der Rückweg abgeschnitten, und sie müßten warten, bis der Wächter drüben in der Höhle einen Notbehelf herbeigeschafft hatte. Der Wächter verließ seinen Platz nie, er gehörte nicht zu denen, die an den Beratungen teilnahmen. Er war ein schweigsamer Verbündeter. Als sich alle versammelt hatten, waren es über hundert Gestalten, und der Anführer erhob sich und machte in die Stille hinein ein Zeichen, daß sie vollständig waren.
»Ihr seid meinem Ruf gefolgt, Männer und Frauen von Schatulla«, begann er. »Ich habe euch rufen lassen, weil die Zeit abgelaufen ist. Die Priester unter dem Tempel haben es nicht vermocht, unsere Frage zu beantworten. Uns bleibt die Wahl. Stellen wir ihnen eine neue, oder holen wir uns die Antwort mit Gewalt?« Die Frage lautete: Wann stürzte einst Manache Leron für immer unter den Horizont? »Rotfell!« hub einer der männlichen Vermummten an. Er bezeichnete den Anführer nach der Farbe der Felle, die dieser um seine Füße gewickelt hatte. »Deine Worte klingen entschlossen. Du bist für die Gewalt. Du willst durchgreifen. Damit provozierst du die ganze Stadt und ihre Umgebung. Du wirst alle Bewohner gegen dich haben, sogar die jugendlichen Oppositionellen!« »Jeder weiß es, Blaufuchs. Wir verlieren keine Zeit mehr, wenn wir so handeln. Oder fast keine. Die Spur ist heiß, wir dürfen nicht nachgeben.« Eine Frau meldete sich zu Wort. Sie entstammte einer religiösen Familie, die Kontakte zu den Priestern unterhielt und viele Opfer brachte. Sie bezweifelte, ob die Priester die Antwort wußten. »Wir stellen uns bloß, wenn wir darauf beharren«, sagte sie. »Wir sollten uns eine andere Frage überlegen!« Das war leichter gesagt als getan. Eine Frage an die Priester mußte möglichst allgemein formuliert sein. Sie durfte die Hintergedanken des Fragers nicht erkennen lassen. Bei Fragen um die Grundsubstanz der Religion jedoch war es nicht vermeidbar, daß die Fragestellung automatisch auf die Gesinnung des Fragers schließen ließ. Ein Gläubiger stellte keine solchen Fragen. Er glaubte an das, was ihm in der Kinderzeit von den Erwachsenen erzählt worden war: »Eines Tages wurde das Auge Gulbert Lerons trüb. Manache, seine Gattin, näherte sich ihm auf seiner Tagesbahn und gestand ihm, daß sie ihm untreu geworden war. Sie sah ihren Fehler ein und bat ihn um Verzeihung. Gulbert selbst jedoch verheimlichte ihr sein Verhältnis zu einem der hellsten Sterne des Himmels, den er berührt und vielleicht geschwängert hatte. Er redete sich in Zorn und erglühte derart, daß Manache in der darauffolgenden Nacht vom Himmel stürzte und hinter den Horizont fiel. Die Leronen warteten vergeblich auf ihre Rückkehr. Sie kam nicht wieder, und seit jener Zeit ist der Nachthimmel Lerons dunkel und kalt.« Kein Bewohner des Planeten wußte, wann das geschehen war. Jeder Morgen brachte ein Aufatmen mit sich, denn Gulbert Leron, der Herr des Tages und oberster Bote Ler-Onts, war noch da. Er ließ sein Volk nicht im Stich. »Wie soll die Frage lauten?« wollte der Anführer wissen. »Und vor allem, wer überbringt sie?« »Die Frage soll die Grundfesten unserer Religion erschüttern. Sie soll sich auf den Vorgang um Manache Leron beziehen. Welche Folgen hatte er für unsere Vorfahren, welche für uns? Und was bedeutet er für die Zukunft?« Eine heftige Diskussion entbrannte. Dem Großteil der vermummten Verschwörer war dieses Thema zu heiß. Sie sahen keine Möglichkeit für den Fragesteller, lebend aus den Gewölben des Tempels herauszukommen. Auch der Anführer wußte keinen Rat, und schließlich sagte er: »Wartet hier auf mich. Ich werde den Wächter fragen!« Er eilte über den Felsboden und die schwankende Brücke davon. Unter ihm gähnte der Abgrund, und sengende Hitze stieg herauf und ließ die Fußsohlen trotz der Felle glühen. Er beschleunigte seinen Schritt, und die Brücke schwankte stärker. Er betrat die Höhle und schlug nun seine Kapuze zurück. Ein winziges Licht glomm in der Finsternis, und darauf hielt er zu. Als der Wächter ihn barhäuptig kommen sah, nahm auch er seine Kapuze zurück. Große Augen blickten den Anführer an. Der Mann berührte den Wächter an der Schulter. »Ich brauche deinen Rat, weiser Mann. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.« Er legte ihm die Lage
dar, und der Wächter klatschte zustimmend die Hände ineinander. »Mit Gewalt?« Kein Klatschen. »Also ohne. Eine Entführung vielleicht?« Zustimmendes Klatschen. »Und die Frage? Wir sollen die Frage stellen?« Wieder Klatschen. Der Wächter offenbarte seine Stimme nicht, und der Anführer zog sich nach einem kurzen Dankeswort zurück. Er ließ sein Gesicht unter der Kapuze verschwinden und kehrte über die Hängebrücke zum Beratungsort zurück. Dort verkündete er, was ihm geraten worden war. »Es gibt nur einen, der in der Lage sein könnte, die Frage zu stellen und von den Priestern am Leben gelassen zu werden. Das bin ich!« sagte er. »Ich kann es jedoch nicht versprechen. Deshalb ist es besser, wir gehen als Gruppe und wählen zunächst einen neuen Anführer!« Sie einigten sich auf die unbekannte Frau, und an der Unruhe, die unter die Versammlung gekommen war, erkannte der Lerone, daß sie sich Gedanken über seine Identität machten. Er lachte in das Dunkel seiner Kapuze hinein. »Zehn Männer folgen mir«, erklärte er. »Wir machen uns sofort auf den Weg!« Die Vermummten begriffen, daß ihr Tun in eine entscheidende Phase getreten war. Keiner von ihnen konnte jetzt noch zurück. Und keiner wollte es. * Vom Hang des Vulkanbergs bot sich der Blick auf das Hochtal dar. Fünfhundert Manneslängen lagen zwischen dem Hitze schleudernden Orarot und dem Plateau, auf dem die Stadt lag. Schatulla über dem Vulkan. Aus einer Hüttensiedlung herumziehender Jäger hervorgegangen und auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblickend, das war diese Stadt, deren Lichter über das Tal herüberleuchteten und die hereinbrechende Nacht verkündeten. Gulbert Leron war längst untergegangen, und der Himmel färbte sich dunkelrot und schwarz. Über dem Vulkankegel waren die ersten Sterne des fernen Himmels zu erkennen, seltsam glitzernde Gebilde, von denen niemand so recht wußte, ob sie an das schwarze Gewölbe geheftet waren oder durch Götterhand gehalten wurden. Während sich die Vermummten in alle Richtungen zerstreuten und jeder von ihnen seinen eigenen Geheimweg zurück in die Stadt beschritt, steuerte Rotfell mit seinen zehn Begleiterin die kleine Schlucht auf der linken Seite des Plateaus an. Dort gab es einen Aufstieg, eine Treppe, von grobem Werkzeug in den glitschigen Stein gehauen. Dieser Weg war nur ihm bekannt, und er benutzte ihn regelmäßig, wenn er zu den Versammlungen ging. Diesmal hatte er Mitwisser, aber es diente einem guten Zweck. Am Rand der Schlucht zog der Anführer eine kleine Fackel unter seiner Kutte hervor und entzündete sie. Er leuchtete seinen Begleitern den Weg. Er zeigte ihnen die Felsnische und kroch ihnen voran hinein. Langsam stieg er die ersten Stufen empor. Er hatte sie nie gezählt, aber es waren über fünfhundert hinauf zu der Stadt. Er schritt voran, und nach einer Weile vernahm er das Keuchen ungeübter Kletterer. Er hielt an und verordnete ihnen eine Schnaufpause. »Der Weg zweigt bald ab«, flüsterte er. »Es gibt einen Gang, der bis in die Nähe des Tempels am hinteren Ende der Stadt führt. Er ist nur mir bekannt.« An einem Podest in der Felswand gähnte ihnen das dunkle Loch einer Höhlung entgegen. Rotfell verschwand darin, und die Vermummten folgten ihm. Sie waren geduldig, was den Weg betraf, und ungeduldig, was die Ausführung ihres Vorhabens anging. Eine halbe Sandzeit folgten sie ihrem Anführer, bis dieser an einer eisernen Tür haltmachte, die den geheimen Gang verschloß.
»Nicht mehr reden«, sagte er. »Wir sind jetzt unter dem Tempel, unmittelbar neben den Gewölben der Priester!« Das letzte Flüstern und Atmen verstummte. Ächzend und knirschend öffnete sich die Tür, und im Schein der Fackel war zu erkennen, daß sie auf der Gegenseite aus Fels bestand, der auf irgendeine Weise an der Tür befestigt war. Es gab Geheimnisse unter der Stadt, und die Eingeweihten machten sich diese zunutze. Und mancher hatte sich schon gefragt, ob nicht’ die Priester Dinge wußten, die sie dem Volk absichtlich vorenthielten. Dies herauszufinden war einer der Hauptgründe, warum sich beherzte Männer und Frauen Schatullas zu einer Verschwörung zusammengefunden hatten. Die Vermummten schlüpften in den Gang, und Rotfell verschloß die geheime Tür. Aber er steckte ein Hölzchen in den letzten Spalt, so daß er die Tür beim Rückzug rasch öffnen konnte. Geduckt eilten die Vermummten weiter, immer der Fackel nach. Manchmal knirschten kleine Steinchen unter ihren Fußfellen oder tropfte Wasser von der Decke. Es begann nach Harz zu riechen, und nach kurzer Zeit erreichten sie eine Kammer hinter einem Standbild, dessen Form bereits von hinten verriet, daß es sich um eine Darstellung Manache Lerons handelte, in der Gestalt einer Lerone. Dieses Standbild gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit in jene Lücke auf der linken Seite der Haupthalle des Tempels, wo die Symmetrie in der Ausschmückung nicht stimmte, was die Priester dadurch zu vertuschen suchten, daß sie dort einen zusätzlichen Opfertisch eingerichtet hatten, der angeblich fest mit dem Boden verwachsen war. Rotfell zwängte sich an dem Standbild vorbei in einen breiten Gang, der von Öllichtern erhellt wurde. Aus der Ferne drang ein Schrei an die Ohren der Leronen, und sie beschleunigten ihre Schritte und hielten auf eine Treppe zu, die nach oben führte. Sie stiegen hinauf. Es wurde heller vor ihnen, die Zahl der Öllichter nahm zu. Auch Fackeln brannten an den Wänden, und aus einem Raum in der Nähe drang Gewimmer. Der Anführer winkte und eilte vorwärts. Dicht neben der offenen Tür blieb er stehen und lauschte. Ein Priester sprach, und er war allem Anschein nach allein. Rotfell begann zu frieren. Er ahnte, wozu dieser Raum diente, und er mußte an die Leronen denken, die verschwunden waren. Immer wieder verbreitete sich ein Gerücht über solche Vorfälle, doch die Priester bestritten alles. Gab es hier unten eine Spur jener, die in den Tempel gegangen und nicht mehr herausgekommen waren? Vorsichtig streckte er den Kopf mit der Kapuze nach vorn. Er blickte in eine Folterkammer, in der ein Lerone hing. Der Gefangene gab keinen Laut mehr von sich, und im Schein der flackernden Talglichter sah Rotfell, daß der Lerone tot war. Er trug die Stammesabzeichen der Gresti um seinen Hals. »Wo haben sich eure Krieger versteckt?« fragte der Priester. Rotfell winkte nach hinten und schnellte sich in die Kammer hinein. Er stieß dem Priester die brennende Fackel in das Genick, daß dieser zu Boden stürzte und sich abmühte, die glimmenden Haare zu löschen. »Es ist jetzt genug«, zischte der Anführer der Verschwörer. »Siehst du nicht, daß er tot ist?« Absichtlich bediente er sich des Umgangstons der ungebildeten Bevölkerung, um sich nicht zu verraten. Er riß den Priester zu sich empor und schleuderte ihn gegen die Wand. »Mörder! Du hast dein eigenes Urteil gesprochen!« Unter der Kutte zuckte eine Faust hervor und beförderte den Priester in das Reich der Bewußtlosigkeit. »Wir nehmen ihn mit. Beeilt euch!« Sie traten den Rückzug an. Sie nahmen den Weg, den sie gekommen waren, und niemand begegnete ihnen. Eine Sandzeit später hatten sie das Hochtal hinter sich gelassen und transportierten den Gefangenen über die Brücke auf die Plattform hinüber. Sie hatten ihm die Augen verbunden, als sie bemerkt hatten, daß er zu sich kam. Jetzt setzen sie ihn auf dem Boden ab und drehten ihn so, daß die Helligkeit aus dem Krater sein Gesicht beschien.
»Es wird Zeit, daß die Bewohner der Stadt ihren Priestern auf die Finger klopfen«, sagte Rotfell überraschend klar und deutlich. Er bemühte sich nicht, seine Stimme zu verstellen. »Es ist nicht gut, wenn Priester die geistliche und weltliche Macht gemeinsam ausüben. Willkür ist nicht Bestandteil unseres Glaubens an Ler-Ont und seinen Lebensteppich, den er über allen Toten ausbreitet.« Der Kopf des Priesters ruckte herum. Die Augen starrten den Sprecher an. Er schluckte hart. Erst jetzt schien er sich bewußt zu werden, wo er sich befand. »Über unsere erste Frage wollen wir uns nicht mehr unterhalten«, fuhr der Anführer fort. »Wir haben nicht damit gerechnet, lebend aus dem Tempel herauszukommen. Es ist uns gelungen, und wir betrachten es als Zeichen der Gunst, die uns von oben verliehen wurde. Ler-Ont leitet uns und läßt uns das Unrecht seiner Priester erkennen.« »Die Frage!« ächzte der Entführte. »Was wollt ihr fragen?« »Das Verschwinden Manache Lerons vor langer Zeit, ist es ein Segen oder ein Fluch für uns? Oder ist es die Unwahrheit? Bei deiner Ehre als Priester, gib uns Antwort!« Der Priester richtete sich auf. Er kam schwankend in die Höhe, und eine Fontäne aus dem Krater warf gespenstische Schatten aufsein Gesicht. Seine Augen leuchteten, ein Zeichen, daß er die hellen Lider geschlossen hatte. Dann aber wurden sie übergangslos dunkel. »Ich gebe nur Antwort denen, die ihr Gesicht zeigen!« Rotfell packte ihn am Arm und zog ihn hinüber zum Rand der Plattform. Er stellte sich mit dem Rücken zu den Verschwörern und nahm die Kapuze ein Stück zurück. »Du!« stieß der Priester hervor. »Ich glaubte dich an der Stimme zu erkennen. Du also. Was wird mit der Stadt geschehen?« Rotfell verhüllte sich wieder. Er zog den Entführten vom Abgrund zurück. »Das hast du in der Hand. Es wird ihr nicht ergehen wie dem abgebrochenen Sechseck. Und jetzt gib uns die Antwort auf die Frage.« »Ich weiß sie nicht. Bei Ler-Ont, ich schwöre es euch, daß ich die Antwort nicht kenne. Es ist zu lange her. Es gibt keine Überlieferungen. Manache Leron ist hinter den Horizont gestürzt. Es kann zu jener Zeit gewesen sein, als auch ein Teil des Sechsecks in die Tiefe stürzte. Eine Katastrophe, die den ganzen Planeten in Mitleidenschaft zog, ja, das muß es gewesen sein!« Rotfell versetzte dem Priester einen Stoß gegen die Brust, daß dieser zurücktaumelte. »Folterknecht!« rief er laut. Es dröhnte von den Wänden des Kessels zurück. Aus der Tiefe antwortete ein Grollen. »Du lügst. Es muß eine Antwort geben. Ler-Ont ist ein weiser und gerechter Gott. Seine Priester sprechen zu ihm. Wo bleibt seine Antwort?« »Ich weiß sie nicht!« Etwas in der Stimme des Entführten war da, das Rotfell glauben ließ, daß dieser die Wahrheit sprach. Aber er durfte es nicht zugeben. Nicht jetzt. Er hattet dem Priester seine Identität offenbart und damit etwas getan, was die Verschwörung gefährdete. Der Priester durfte die Felsenplattform nicht verlassen. »Du hast einen Leronen zu Tode gefoltert. Dafür wird Ler-Ont dich bestrafen«, entgegnete er. »Du hast die Wahl zwischen dem Freitod und der öffentlichen Hinrichtung!« Der Priester lachte. Er trat in die Nähe des Abgrunds und streckte die Hände aus. »Schatulla soll mich richten!« schrie er, um das Donnern aus der Tiefe zu übertönen. »Kein Bewohner der Stadt wird seine Hand gegen einen Priester erheben!« »Vielleicht!« sagte Rotfell und warf sich zu Boden. Die Vermummten taten es ihm nach. Die Plattform erzitterte, ein Donnerschlag hallte aus der Tiefe empor. Eine Fontäne spritzte aus dem
Krater herauf und erreichte zehn Manneslängen über der Plattform ihren höchsten Punkt. Sie traf nicht die Plattform, auch nicht deren Rand. Aber sie entwickelte einen Luftsog und riß mit, was sich in seinem Erfassungsbereich befand. Ein Schrei klang auf. Der Priester stand am Abgrund und suchte nach einem Halt. »Ler-Ont!« hörten sie ihn. »Er greift nach mir. Vergebung! Gnade!« Sein Körper wurde mitgerissen und verschwand im Abgrund. Sein Schrei verhallte. Schatulla hatte einen Mörder weniger. »Dieses Urteil ist gerecht«, rief Rotfell aus. Er erhob sich und machte sich auf den Weg zur Hängebrücke. »Seine Gotteslästerung ist bestraft worden. Und die Frage, nun wir werden an einem anderen Ort nach einer Antwort suchen.« Sie waren Zweifler, und sie folgten ihrem Anführer, der den Kraterkessel verließ und diesmal endgültig die Stadt aufsuchte, um sich zur Nachtruhe zu legen. Der Tod des Gresti-Leronen und das Verschwinden des Priesters würden nicht ohne Folgen bleiben. Über Schatulla zogen sich noch unsichtbare Wolken zusammen. * Waren sie zunächst beim Anblick der Gnorze zu allem entschlossen gewesen, so wußten sie jetzt nicht recht, was sie weiter tun sollten. Adkor hielt die Augen ständig nach vorn gerichtet, nur ab und zu wandte er den Kopf und warf einen scheuen Blick auf die Sänfte, die fünf Manneslängen hinter ihm getragen wurde. Die Gnorze hatten mit keinem Wort erwähnt, wer sich in ihr befand, und Adkor wagte es nicht, Badowein danach zu fragen. Es wäre ihm im Angesicht des Pilgers und Philosophen wie ein Sakrileg vorgekommen. Die Schatulla-Leronen trampelten eine breite Spur in das weiche Gras. So verlangte’ es ihre Jägerund Kriegerehre, und es gab nichts Schändlicheres, als dem Gegner seine Absichten vorzuenthalten. Das Leben auf Leron war hart aber gerecht, und niemand wagte es, an den Grundfesten der Existenz und Koexistenz zu rütteln mit Ausnahme von ein paar Zweiflern, denen Adkor alles zutraute. Der Tag war endgültig hereingebrochen. Seit dem Zusammentreffen der beiden Stammesgruppen war eine Stunde vergangen. Adkor roch den Rauch, der zwischen den Schwingen der Getreichen hing. Er leckte sich über die Lippen, weil er an den duftenden Braten dachte, der sie erwartete. Die anderen Jagdgruppen hatten mehr Glück gehabt als seine. Ihnen war Wild begegnet, und sie hatten es erlegt. Adkor und seine Begleiter hingegen kehrten mit leeren Händen zurück. Sie brachten lediglich ein paar Gnorze, die nichts anderes im Sinn hatten, als möglichst große Mengen zu verzehren und dem gegnerischen Stamm dadurch Schaden zuzufügen. Ler-Ont schicke sie in die Tiefen des Ozeans, dachte Adkor grimmig. Gleichzeitig erschrak er jedoch vor seinen bösartigen Gedanken. Es war nicht richtig, einem Pilger etwas Böses zu wünschen. Pilger bildeten die Hauptstütze für den Volksglauben, ihre Aufgabe war es, die Bitten und Gebete der Stämme und ihrer Angehörigen an Ler-Ont weiterzugeben. Pilger genossen deshalb Immunität. Sie durften von keinem Krieger belästigt und von keinem Späher aufgehalten werden. Pilger trugen sichtbare Zeichen mit sich, die sie vor Übergriffen schützen sollten. Badoweins Zeichen bestand aus dem Zahn eines Ußbussi, und er war nicht besonders groß und auf weite Entfernung nicht zu erkennen. Ein Unglück war gerade noch rechtzeitig verhindert worden. Adkor dachte lieber nicht daran, was geschehen wäre, wenn sie die Gnorze überfallen oder gar getötet hätten. Einen Pilger zu töten oder zu verletzen, bedeutete einen nicht wiedergutzumachenden Fehler. Der Übeltäter wurde mit allen Flüchen des Planeten beladen und am Rand des Ozeans in die Tiefen der Welt gestoßen, dort, wo das Land aufhörte und der unendlich tiefe Schlund gähnte, der vom Ozean durch ein dünnes
Küstengebirge getrennt war. Die Erde hatte sich vor langer Zeit an dieser Stelle geöffnet, und manchmal zogen Ketzer durch das Land und fragten, ob dies der Platz sei, an dem einst Manache Leron in die Tiefe stürzte. Adkor ließ ein Knurren hören. Er ärgerte sich, weil er solche Gedanken mit sich führte. Er beschleunigte seinen Schritt und trieb seine Gefährten zur Eile an. Die Getreichen wichen zur Seite, der Pfad wurde breiter. Bald erweiterte er sich zu einer Lichtung, und der Geruch der Feuer und des garenden Fleisches wurde intensiv. Sie hatten das Lager erreicht. »Hierher, tapfere Leronen der Stadt über dem Vulkan!« schrie Adkor laut. »Es sind wohlfeile Gäste eingetroffen. Bringt eure Gebete und Bitten. Der berühmte Badowein wird sie in sich aufnehmen und sie zu unserer Gottheit tragen!« Augenblicklich wurden sämtliche Tätigkeiten im Lager eingestellt. Die Frauen verließen die Kochstellen, die Männer hörten auf, Speere und Pfeile zu schnitzen, die Jungkrieger kamen von den Bäumen herab, auf denen sie ihren Weitblick geübt hatten. Alle drängten sich um Badowein, und bald verschwand der Gnorze in der Traube der Schatullas, die ihre Anliegen an den Pilger brachten. Adkor benutzte die Gelegenheit. Er winkte den Gnorze und machte ihnen Zeichen, die Sänfte zu dem Gebüsch in der Nähe des größten Feuers zu transportieren. Sie taten es, und er ließ fünf seiner eigenen Männer um sie herum Wache stehen. Die Gnorze entfernten sich, um in der Nähe des Pilgers zu sein. Adkor rief mehrere Jungkrieger zu sich und zog sich mit ihnen an den Rand des Lagers in den Schatten eines Fruchtbaums zurück. Die Zweige des Terzo hingen bis an den Boden und waren von großen Blättern bedeckt. Adkor verschwand zwischen ihnen und lehnte sich an den Stamm, und die Jungkrieger folgten ihm. »Es sind Gnorze im Anmarsch«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ein ganzes Heer. Sie folgen etwa eine halbe Tagesreise hinter den Pilgern. Die Kunde von unserem Zug ist zu ihnen gedrungen. Sie wollen verhindern, daß wir ihr Land erobern. Verteilt euch nach allen Seiten. Entfernt euch aber nicht weiter als eine Stunde vom Lager. Sobald ihr das Heer ausgemacht habt, stellt seine ungefähre Stärke fest. Wir werden inzwischen in Richtung des Heiligen Berges ziehen.« »Aber dort wollen wir gar nicht hin!« begehrte einer der Jungkrieger auf. Der Lerone gab ihm einen leichten Klaps hinter die Ohren. »Natürlich wollen wir nicht dorthin. Aber wir haben auch nicht vor, mitten in den Getreichenwäldern eine Auseinandersetzung mit den Gnorze zu provozieren. Unser Ruf eilt uns voraus. Wir werden taktisch vorgehen, wie Gremen in der Schule der Krieger es uns gelehrt hat. Vergeßt nie, was Gremen sagte. Gremen ist einer der großen Köpfe unseres Stammes. Schatulla sei Dank, daß wir einen Mann wie ihn besitzen. Er hat nicht nur Verstand, sondern verfügt auch über den Wortschatz der Gebildeten.« Er machte mit dem Kopf eine Geste der Entschiedenheit. Damit war die Angelegenheit abgetan, und die Jungkrieger entfernten sich unauffällig nach allen Richtungen. Acht waren es, und ihr Fehlen wurde im Lager nicht bemerkt. Adkor suchte das größte Feuer auf und kümmerte sich um den Braten. Immer wieder warf er einen Blick in Richtung des Pilgers, aber von Badowein war nach wie vor nichts zu sehen. Um ihn drängten sich die Bittsteller, und auch Adkor gehörte zu ihnen. Er wollte jedoch warten, bis die letzten Schatulla-Leronen ihre Bitten losgeworden waren. Der Anführer der Leronenjäger zog die Steinklinge aus dem Felletui und begann an dem duftenden Braten zu schneiden. Er war gar. Es handelte sich um eines jener Beuteltiere, die in den warmen Breiten zwischen dem Vulkan und den Wäldern in großen Massen lebten. Es waren träge Tiere, die leicht zu jagen waren. Sie lebten jedoch in den Kronen der Bäume, und so mancher Jäger war aufgrund einer Unaufmerksamkeit bei der Beuteljagd in die Tiefe gestürzt und hatte sein Leben ausgehaucht.
»Gulbert, gib uns Licht!« murmelte Adkor und meinte damit Erleuchtung und Geschick. Er ließ sich in der Nähe des Feuers nieder und begann zu essen. Nach und nach kamen seine Artgenossen herbei und verteilten sich um die übrigen Feuerstellen. Die wichtigsten Krieger versammelten sich um Adkor, den sie schweigend als ihren Lagerführer akzeptierten, weil er der älteste unter den Kriegern war. Er legte ihnen seinen Plan dar. »Es ist gefährlich«, meinte einer seiner Begleiter. »Ich habe mit Dawok darüber gesprochen. Ihm geht es um seine Affen. Affen werden in der Nähe des Heiligen Berges nicht geduldet!« »Wir werden sie zurücklassen oder verspeisen«, sagte Adkor. »Das ist kein Problem. Wichtiger erscheint mir, daß wir es jetzt nicht zu einem Kampf kommen lassen. Es hindert uns nicht, in kleinen Gruppen auszuschwärmen und den Gnorze hier und da kleine Niederlagen beizubringen. Wir wollen jedoch die Entscheidung vermeiden. Sie soll erst fallen, wenn wir uns in der Nähe Tarmenpais befinden.« Tarmenpai war die Hauptsiedlung der Gnorze-Leronen und befand sich etwa sechs Tagesreisen von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort entfernt. »Die Gnorze sind nicht dumm, Adkor. Sie werden uns folgen!« »Wir werden die Pilger zwischen uns und ihnen lassen. So werden sie Schwierigkeiten haben, an uns heranzukommen!« Den Kriegern klappte der Mund auf. Einmal mehr begannen sie die Intelligenz Adkors zu bestaunen, und der Lagerführer bekam keine einzige Widerrede mehr zu hören. Da die SchatullaLeronen einen offenen Krieg führten, wie es der Brauch war, und keine Spuren verwischten, stellte die von Adkor vorgeschlagene Taktik keinen Verstoß gegen die Kriegerehre und die Spielregeln dar, die überall auf Leron galten und enger Bestandteil des Glaubens waren, der sich mit der Gottheit Ler-Ont verband. Ler-Ont war nicht irgendein Glaube an ein unsichtbares Wesen. Ler-Ont war eine allweise, allmächtige Gottheit, die die Leronen beschützte. Ler-Ont war greifbar und faßbar. Ler-Ont besaß einen Körper im naturalistischen Sinn. Die Leronentraube um den Pilger löste sich langsam auf. Die letzten Bittsteller zogen sich zurück, und schließlich saß Badowein allein am Boden, umgeben von seinen Begleitern. Adkor erhob sich und schritt hinüber zu ihm. »Folgt mir an das große Feuer«, lud er die Gnorze ein. »Ihr seid eingeladen. Eßt, soviel ihr könnt. Es ist genug da. Es wird uns durch euren Appetit kein Schaden entstehen.« Die Begleiter Badoweins ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie eilten davon. Nur Badowein blieb an seinem Platz, und Adkor ließ sich vor ihm nieder. »Ler-Ont ist gerecht«, begann er. »Er wird mir wegen eines Versehens nicht zürnen. Dennoch bitte ich dich, daß du bei ihm ein Wort für mich einlegst. Ich werde in Zukunft aufmerksamer und umsichtiger sein.« Badowein faltete die Hände und schloß die Augen. Seine Augenlider leuchteten gelblich, eine seltene Erscheinung unter den Gnorze. Es ging die Sage, daß Leronen mit gelben Augenlidern direkte Nachkommen des geheimnisvollen Stammes der Tufzo waren, dessen Existenz nicht belegt war, der jedoch vor vielen Sonnenläufen existiert haben sollte. Adkors Ehrfurcht vor dem Pilger nahm übergangslos zu. Er legte beide Hände an die Stirn. »Warum sind die Schatulla-Leronen unterwegs?« fragte der Pilger, ohne auf Adkors Bitte einzugehen. »Das hier sind wesentlich mehr als zweihundert Krieger, die Frauen nicht mitgerechnet!« »Es sind mindestens zweihundert, habe ich gesagt«, erwiderte der Lagerführer. »Insgesamt über siebenhundert. Hast du die Feuer gezählt? Und wozu sollen wir unterwegs sein? Du hast es doch
selbst gesagt. Wir befinden uns auf einem Kriegszug. Wir werden über euch kommen wie die Flut!« »Ich glaube dir nicht, Adkor. Ich glaube, es steckt etwas anderes dahinter. Hat es mit Ler-Ont zu tun?« Der Lagerführer erhob sich und bedeutete dem Pilger, ihm zu folgen. Gemeinsam schritten sie hinüber zum größten Feuer. Adkor schnitt Badowein eine Keule des Beuteltiers ab und reicht sie ihm. »Was, in unserem Land, hat nicht mit Ler-Ont zu tun?« stellte er die Gegenfrage. »Unsere Jagdgruppe hatte kein Glück bei der Jagd. Das war ein schlechtes Zeichen. Dann trafen wir auf euch. Euer Geruch, den der Wind uns zutrug, verriet euch. Das war ein gutes Zeichen. Aber wir erkannten nicht sofort, daß ihr Pilger wart. Das wiederum war kein gutes Zeichen. Also lege bei unserem Gott eine Bitte für mich ein. Und quäle dich nicht mit Fragen, auf die es keine Antwort gibt!« Er gab Dawok einen Wink, und der Bändiger entfernte sich und brachte einen seiner Affen herbei, den er eben getötet hatte. Affenhirn galt im Land der Leronen als Köstlichkeit ohnegleichen. Es war für einen Gast eine hohe Ehre, diese Leckerei vorgesetzt zubekommen. Während die Gnorze das Affenhirn löffelten, machten sich die Frauen der Schatulla daran, den Körper auszuweiden und für das Feuer zu präparieren. Anschließend wurde er ebenfalls verspeist. Sein Fleisch wurde an jene verteilt, die bisher an den Feuern zu kurz gekommen waren. Völlerei war bei den Leronen nicht bekannt. Jeder aß nur soviel, bis er seinen Hunger gestillt hatte. Was übrigblieb, ließ man für die Raubtiere liegen, die es auch in dieser Gegend in geringer Anzahl gab. Ein paar von ihnen galten als Aasfresser, die sich nicht scheuten, von den Resten der Jägermahlzeiten zu leben. Adkor entfernte sich, um den Dankesworten Badoweins zu entgehen. Im Gedränge, das um die Feuer herrschte, fiel es nicht auf, daß er sich langsam jener Stelle näherte, an der die Sänfte stand. Er hatte sie nicht ständig beobachten können, aber seine Gefährten sagten ihm, daß niemand sie bisher verlassen hatte. Die Sänfte barg ein Geheimnis, da war sich der Lagerführer sicher. Adkor umschlich den Busch, zwängte sich in einem unbeobachteten Moment hinein zwischen die Zweige, bis er die Sänfte mit den Fingerspitzen berühren könnt. Die Tragesänfte bestand aus einem Holzgehäuse mit zwei Tragestangen. Statt der Felle hing links und rechts ein wertvoll glitzerndes Tuch bis zum Boden, das den Einblick verwehrte und gleichzeitig als Ein- und Ausstieg nach zwei Seiten diente. Adkor hielt den Atem an. Er bewegte sich noch ein wenig vorwärts, dann streckte er Arme und Kopf aus und schob den dem Gebüsch zugewandten Vorhang langsam zur Seite. Ein geheimnisvolles Rascheln und Raunen war zu hören. Adkor warf einen Blick hinein. Seine Augen gewöhnten sich rasch an das Dämmerlicht im Innern. Die Sänfte war leer. Nur der Vorhang raschelte und wisperte. Der Lagerführer hatte genug gesehen. Er zog sich hastig zurück und verließ das Gebüsch. Er suchte die fünf Wächter auf, die die Sänfte nicht aus den Augen gelassen hatten. Danach stand es für ihn fest, daß die Sänfte bereits beim Erreichen des Lagers leer gewesen war. Was hat Badowein darin transportiert? fragte sich der Schatulla-Lerone. Was will er mit der Sänfte? Es gab bei keinem Stamm ein Brauchtum, bei dem die Bitten und Gebete für Ler-Ont in einer Sänfte transportiert wurden. Solche Tragegestelle wurden nur in Zusammenhang mit Frauen benutzt, um ihnen weite Fußmärsche zu ersparen. Frauen von Stadtherren oder Priestern wohlgemerkt. Frauen von Kriegern kamen nicht in den Genuß solcher Privilegien. Er wandte sich wieder dem größten Feuer zu und ließ sich in der Nähe Badoweins nieder. Eine
Frage lag ihm auf der Zunge, aber er hielt den Mund. Er musterte das Gesicht des Pilgers und ahnte, daß er von ihm keine Antwort erhalten würde. Das Geheimnis der Sänfte war zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht lösbar. Badowein warf den abgenagten Knochen der Keule in das Feuer und wischte sich die Hände am Fell, seines Nebenmanns ab. »Wann brecht ihr auf?« fragte er Adkor. »Bald. Noch vor euch«, sagte der Lagerführer und ließ damit erkennen, daß er nicht vorhatte, länger in Begleitung des Pilgers zu bleiben. Die Schatulla-Leronen wußten Bescheid und entfernten sich langsam von den Feuern, um ihre Habseligkeiten aufzunehmen. Es war warm in dieser Gegend, zum Schlafen benötigten die Leronen weder Zelte noch Decken. Sie legten sich in das warme Gras und schliefen im Schutz der Wachen. Was sie mit sich führten, waren Kleinigkeiten wie Steinmesser und Feuersteine oder Beutelchen mit Gerbsäure, um die Felle besonders seltener erbeuteter Tiere zu präparieren. »Viel Glück«, rief Badowein. »Und vergeßt nicht, daß das Heer der Gnorze euch folgt. Kehrt lieber in die Grenzen Schatulla zurück!« »Danke«, erwiderte Adkor und entfernte sich, um die Meldungen der Jungkrieger entgegenzunehmen, die von ihrem Spähgang zurückkehrten. * Die Handelsstraße zwischen Schatulla und dem abgebrochenen Sechseck machte einen verwaisten Eindruck. Schatulla hatte den größten Teil seiner Krieger in die Ferne geschickt, und die Posten an der Straße achteten kaum auf die Karren und Schleppfuhrwerke, die in gemächlichem Tempo durch den Staub ächzten und an jeder Biegung eine Rast machten. Von der Stadt aus war die Straße bis weit nach Süden zu erkennen. Sie zog sich an den Hügeln entlang, die als kleine Ausläufer des Vulkans galten, und wand sich hinaus in die Ebene östlich des Dschungelwalds, wo die Handelsplätze an dem neutralen Gelände des Sechsecks lagen. Vor langer Zeit, berichtete die Sage, war das Sechseck nicht abgebrochen. Es existierte vollständig, und auch das sechste Volk sandte regelmäßig seine Kuriere dorthin, um mit den Vertretern der anderen Völker neue Werte für den Warenverkehr festzulegen. Es waren Tauschwerte, denn Geld kannten die Leronen nicht. Sie tauschten die Waren und hielten sich dabei an deren zuvor festgesetzten Wert. War das Getreide eines Sommers schlecht, mußte sein Tauschwert herabgesetzt werden. Die Kuriere trafen sich regelmäßig, und nicht selten wurden sie von den Strolchen belästigt, die sich als Ausgestoßene der Stämme zwischen den Hügeln verschanzten und sich einen Spaß daraus machten, die Straße durch Geröllawinen zu blockieren. In letzter Zeit hielten sie sich merklich zurück. Es hatte mit den kriegerischen Aktivitäten der Schatulla zu tun. Wie leicht konnte jemand auf die Idee kommen, ein kleines Heer zwischen die Hügel zu schicken und dort aufzuräumen. Niemand achtete auf die Gruppe Jugendlicher, die lachend und schwatzend die Straße entlangzog. Früh am Morgen waren die jungen Schatulla aufgebrochen, und sie führten kleinere Mengen an Nahrung und Wasser mit sich. Sie sangen Lieder und wanderten bis am späten Nachmittag. Der Orarot hatte sich in dieser Zeit langsam hinter den vorgelagerten Hügeln versteckt, nur ab und zu ragte zwischen den Tälern die runde Kuppe des Vulkans empor, an deren Hinterseite das Hochtal lag, begrenzt von dem Plateau mit der Stadt. Die Wächter der Straße ließen die Jugendlichen ungehindert passieren. Es kam nicht selten vor, daß Leronen aus Neugier die Straße benutzten, um nach Süden bis zu dem neutralen Gelände zu
kommen. Manchmal gab es Arbeit an den Handelsplätzen, und die Jugendlichen sammelten auf diese Weise Erfahrung im Umgang mit den Handelsbräuchen anderer Stämme. Segon wandte den Kopf und blieb stehen. Er deutete nach rückwärts. »Jetzt ist sie zu sehen. Bisher hat Gulbert Lerons Licht uns geblendet. Jetzt zeigt er uns den Schatten der Mauern und Türme!« Die Gruppe blieb stehen. Sie betrachteten Schatulla, die im Licht des Mittags hoch oben über dem Vulkan lag. Schatulla über dem Vulkan hatte ihren Namen von dem Panorama, das die Stadt von der Handelsstraße aus bot. »Weit weg, fast unerreichbar weit«, bekräftigte Gardra. Das Mädchen stand unmittelbar vor Erreichen seiner körperlichen Reife, und die Blicke, die die Jungen ihr manchmal zuwarfen, sprachen Bände. Gardra jedoch war mit dem Giftdorn bewaffnet, eine Vorsichtsmaßnahme, die alle Eltern für ihre Mädchen in diesem Alter trafen. Sie hatte nicht vor, ihn einzusetzen, aber es gab schließlich die Sittenstrolche zwischen den Hügeln, und da war der Giftdorn eine nicht zu unterschätzende Methode, sich dieses Gesindel vom Leib zu halten. Zwei der Jungen, Salchem und Tifir, trugen Pfeil und Bogen. Sie übernahmen automatisch den Schutz der Gruppe im Fall einer Gefahr. Keiner von ihnen dachte jedoch an Gefahr. Sie hatten andere Dinge im Sinn. Am frühen Nachmittag erreichten sie die Biegung, wo die Straße an den Fluß Kerbaschol stieß. Eine Brücke führte über das Wasser, sie war in dieser Jahreszeit ohne Probleme benutzbar. Die Jugendlichen überquerten sie. Damit verließen sie das Stammesgebiet der Schatulla und betraten neutralen Boden, auf dem es keine Auseinandersetzungen gab. Auf der gegenüberliegenden Flußseite lag das abgebrochene Sechseck, und die Mädchen und Jungen strebten ungeduldig darauf zu. Es handelte sich bei dem Sechseck um eine Steinfläche. Sie lag etwa zwanzig Meter über der Höhe der Straße, und sie besaß die Form eines Sechsecks, dessen eine Ecke abgebrochen und in den Fluß gestürzt war. Ein massiger Steinblock ragte aus dem Ufer heraus, und dorthin steuerten die jungen Schatulla-Leronen. Sie verschwanden zwischen blau blühenden Büschen, und nach einer Weile verklang ihr Lachen. Für den ahnungslosen Beobachter machte es den Eindruck, als hätten sich die Jugendlichen auf der Oberseite des Felsens am Ufer niedergelassen, um die Sonne zu genießen. In Wahrheit jedoch verkrochen sie sich in einer Höhle, um unbeobachtet zu sein. Segon entzündete eine mitgebrachte Fackel und räumte mit den kräftigen Händen ein paar Steine und eine Menge Sand beiseite, der sich seit ihrem letzten Treffen angesammelt hatte. Sie versteckten sich nicht regelmäßig hier, aber sie kamen gern zum Sechseck, weil hier die Gefahr einer Entdeckung geringer war als in der Umgebung Schatullas. Die Höhle war unzugänglich, Ompuf hatte sie durch Zufall entdeckt. »Es tut sich etwas in Schatulla«, begann Segon. »Einer der Priester ist spurlos verschwunden. In der Stadt wird nach ihm gesucht. Ihr wißt es alle, denn die Priester und ihre Diener waren auch in euren Häusern. Er wurde bisher nicht gefunden, und jetzt rätselt die ganze Stadt, was geschehen ist. Ich habe Priester gesehen, die den Hang des Vulkans erklommen haben, um eine Spur zu finden. Es ist ihnen nicht gelungen. Sie sind mit leeren Gedanken zurückgekehrt. Und ich weiß noch etwas. Es ist ein Bündel aus dem Tempel geschafft worden. Niemand weiß, was es enthielt. Aber es muß der Gefangene gewesen sein.« »Der Gresti?« rief Salchem zweifelnd. »Die Priester werden ihn schon längst aus der Stadt gejagt haben!« »Er hat die Stadt nicht verlassen, auch nicht den Tempel.« Segon schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube, daß sie den Gresti umgebracht haben.« »Aber warum sollten sie so etwas tun?« Lendas Stimme klang schrill. »Das ist nicht die Art der Priester!«
»Was wissen wir schon über die Erwachsenen?« Tifir klatschte mit den Handflächen auf seine nackten Schenkel. »Die Priester sind verdächtig, denn sie pflegen einen Kult, an dem etwas nicht stimmt.« »Er ist unnatürlich«, pflichtete Gardra bei. »Alles, was mit Ler-Ont zu tun hat, ist widersprüchlich und unnatürlich.« »Wir haben keine Beweise«, stellte Salchem fest. »Und wie sollen wir sie finden? Das Bündel suchen oder einen Toten ausgraben ist eine Tat, die keinem von uns nachgesehen würde, trotz unserer Jugend!« »Manchmal wünsche ich mir, nicht in Schatulla geboren zu sein, sondern bei einem der jagenden Stämme, die noch keinen festen Wohnsitz haben. Welche Segnungen besitzen wir, nur weil wir zu den sechs Stämmen gehören, die im Bann des zerbrochenen Sechsecks leben und feste Städte errichtet haben? Welche Verschlagenheit gehört dazu, sich in Städten zu verschanzen und Ler-Ont nicht das Angesicht zu zeigen?« Segon redete sich in Fahrt, und seine braune Gesichtshaut wurde fast schwarz vor Erregung. Seine hellroten Augenlider flatterten. »Es sind Fragen, worauf uns niemand eine Antwort geben will. Schon gar nicht die Priester. Es ist zum Versteinern!« Irgendwo draußen kullerten Kiesel. Die Jugendlichen verstummten und richteten ihre Aufmerksamkeit aus der Höhle hinaus. Es hörte sich an, als entferne sich jemand von der Höhle. Tifir faßte nach seinem Bogen und glitt geschmeidig zum Eingang. Er kletterte durch den Spalt hinaus und umrundete den Felsblock. Er sah nichts und niemand und gab sich schließlich mit dem Gedanken zufrieden, daß es ein Tier oder ein Vogel gewesen war. Er kehrte zum Eingang zurück und versäumte es, einen Blick nach unten zum Fluß zu werfen. Hätte er das getan, wäre er wahrscheinlich nicht so sicher zu seinen Gefährten zurückgekehrt. »Nichts«, berichtete er. »Irgendein Tier. Vielleicht sogar eine Zwergechse, die hier ihren Unterschlupf gefunden hat.« Sie berieten über eine Sandzeit lang, aber sie kamen zu keiner Lösung. In ihnen bohrten die Zweifel, und am liebsten wären sie zu den Priestern gegangen und hätten ihnen Fragen gestellt. Eine innere Scheu und das Bewußtsein der Erfolglosigkeit eines solchen Unterfangens hielten sie davon ab. Was aber sollten sie dann tun? »Bald wird sich alle Aufmerksamkeit auf unsere Jäger und Krieger richten«, sagte Segon nach einer Weile des Schweigens. »Wozu sind sie unterwegs? Ich habe da eine Idee. Wenn wir ihnen folgen, wird es nicht auffallen. Und wir werden uns dem Ort nähern, wo wir am ehesten eine Antwort bekommen werden.« »Du meinst doch nicht etwa…« dehnte Salchem und verstummte. Ein Raunen kam von den Lippen der Mädchen und Jungen. »Doch. Ich meine Ler-Ont. Wo eher ließe sich die Frage klären als bei der Gottheit selbst?« »Das… das ist Gotteslästerung!« stieß Salchem hervor. »Das dürfen wir nicht tun!« »Warum eigentlich nicht?« fiel Gardra ein. »Wir reden von Unnatürlichem, von Widersprüchen in den Überlieferungen. Die Geschichte mit Gulbert und Manache Leron geht nie und nimmer zusammen. Ist unsere Religion, unser Gott etwas Künstliches? Das Produkt von Leronen oder von etwas Fremdem, das uns damit versklavt?« »Nein!« schrie Salchem aus. »Du bist verrückt. Dein Verstand hat gelitten. Begib dich zu den Priestern, damit sie dich heilen!« Die Jugendlichen redeten jetzt wild durcheinander, bis Segon sich mit einem lauten Ruf Ruhe verschaffte. »Aufhören!« brüllte er. »Sofort aufhören! Wir alle glauben in irgendeiner Weise an Ler-Ont, aber es ist nicht sicher, ob das, was die Priester uns erzählen Ler-Ont ist. Vielleicht ist es ihre eigene
Erfindung. Vielleicht steuern sie das Leben der Leronen, zwingen sie, in Städten zu wohnen und Dinge zu tun, die nicht dem natürlichen Ablauf der Natur entsprechen. Wer es herausfinden will, der soll mir folgen. Noch diese Woche werde ich Schatulla verlassen. Am besten gleich morgen!« Er erhob sich und verließ die Höhle. Die Jugendlichen folgten ihm. Fern und jenseits des Wassers sahen sie eine Staubfahne wie von einem schnell rennenden Leronen. Segon warf die Fackel ins Wasser. »Kommt, wir klettern auf die Steinfläche hinauf. Wir wollen dort unseren Proviant verzehren und uns dann auf den Rückweg in die Stadt machen. Der Weg bergauf ist schwieriger als der bergab am Morgen. Ich werde mich ausruhen und euch morgen fragen, ob ihr mich begleiten wollt!« »Ich bin dabei, das verspreche ich dir«, sagte Gardra. »Ich auch!« Tifir schwang seinen Bogen. Die anderen gaben ihm keine Antwort. Noch nicht, wie er hoffte.
2. Alarmstimmung! Anders konnte das nicht bezeichnet werden, was im Sektor um Aklard herum vor sich ging. Die Ligriden entfalteten offensichtlich Aktivitäten, die mit den Daila in Zusammenhang standen. Atlan fuhr herum und hielt sich an der Lehne des Sessels fest, in dem Mrothyr saß. Seit ihrer Flucht von Zyrph war die STERNSCHNUPPE kreuz und quer durch die 100-Lichtjahre-Raumkugel geirrt, um die Spur zu verwischen. Sie hatte Traykon aufgelesen, den exzentrischen Roboter, der sich einst in der Gesellschaft des Pre-Los befunden hatte, inzwischen aber selbständig geworden war. Traykon-6 oder Traykon – er legte keinen Wert auf die Zahl 6 hinter seinem Namen – hatte Atlan mit dem Kodewort Varnhagher-Ghynnst gelockt, sich bisher aber nicht näher dazu geäußert, woher er es kannte. Und er hatte noch eine andere Meldung überbracht. »Da ist der Teufel los«, sagte Mrothyr. Der junge Zyrpher mit dem gewaltigen Haarschopf und dem leicht puppenhaften Gesicht beobachtete die Anzeigen des Schiffes. »Die Mutanten machen den Ligriden Schwierigkeiten. Was meint ihr, werden die Hyptons bald massiv eingreifen?« »Das ist egal«, sagte Atlan rasch und ließ den Sessel los. Die silberweißen Haare umwehten seinen Kopf, während er den Körper herumdrehte. Keine zwei Meter entfernt stand der seltsame Roboter. Er war 1,80 Meter groß und hatte zwei Arme und Beine und einen Rumpf, hatte jedoch nicht wirklich Ähnlichkeit mit einer hominiden Form. Fast die Hälfte des Körpers nahm eine große Kugel ein, aus der die oberen Extremitäten wuchsen, die in mehrgliedrigen Händen endeten. Der Ball, der an Stelle eines Kopfes auf dem Rumpf thronte, hatte an der Vorderseite das Aussehen eines riesigen Facettenauges, ein Kreis, der in sich strukturiert war. Diese Fläche diente der Wahrnehmung der Umgebung, doch welche Aufgaben das in allen Farben des Spektrums schillernde Gebilde tatsächlich erfüllte, war nicht zu erkennen. »Sage es nochmals!« rief Atlan aus. »Anima lebt?« »Du hast richtig vernommen«, entgegnete Traykon. »Sie ist dir gefolgt. So wie du dem Erleuchteten folgtest und nicht weißt, wie das geschah. Anima ist nicht allein, Ha… – Atlan. Ich nannte dir die Namen ihrer Freunde. Und Anima hat ihre frühere Gestalt. Sie sehnt sich nach Hartmann vom Silberstern, und sie ist den Hyptons hörig und wird von diesen benutzt, um den Erleuchteten zu erpressen.« Der Arkonide starrte den Roboter aus brennenden Augen an. Traykon hatte etwas sagen wollen, was mit Ha… anfing. Was? Einen Namen vielleicht. Oder etwas anderes. Er war nur mit einem Teil seines positronischen Egos bei den Tenern. Was er im einzelnen mit Anima erlebte oder von ihr weiß, hat er nicht gesagt! Anima! Der Arkonide war erregt. Er dachte an das Auftauchen und das Verschwinden des Sternentramps, der sein alter Lehrer Fartuloon war. Er hatte an die Wahrscheinlichkeit gedacht, daß auch Anima nicht tot sein könnte, und er war zu der Überzeugung gelangt, daß es zwei solche Zufälle nicht geben konnte. Und dennoch… Nicht alles, was sich damals abgespielt hatte, war eindeutig gewesen. Der Erleuchtete hatte reagiert und alle seine Kontaktstellen in Alkordoom vernichtet. Animas Tod war nicht nachweisbar gewesen. Es war also geschehen. Die Orbiterin war hier. Sie besaß nicht mehr die Gestalt des Kristallschiffs, sie war in ihre ursprüngliche Existenzform zurückgekehrt. »Erzähle mir mehr«, verlangte der Arkonide. »Es genügt nicht, daß ich weiß, daß das Pre-Lo keine Gefahr mehr darstellt. Der Erleuchtete hat nicht nur diesen Helfer. Und weißt du von den Hyptons und von Guray?« »Der besagte Teil meiner Positronik hat auch den Namen Guray schon gehört«, bestätigte Traykon.
Die STERNSCHNUPPE hatte den Roboter als vertrauenswürdig bezeichnet, nachdem sie sein Inneres durchgeprüft hatte. Das geheimnisvolle Schiff sagte nicht, wie es das getan hatte, es verheimlichte auch, was es dabei herausgefunden hatte, oder es schwieg einfach deswegen, weil es nicht nach Einzelheiten oder konkreten Dingen gefragt wurde. »Und der Erleuchtete?« Chipol kam aus einem anderen Sessel herbei. »Weiß er von Aklard und den Vorgängen dort?« »Das ist mir nicht bekannt. Die Information des Traykon-6-Speichers sind sehr lückenhaft. Aber der Erleuchtete stuft Guray als eine Gefahr ein!« »Das ist etwas, was mir nicht einleuchten will«, erklärte Atlan. »Was hat der Erleuchtete mit Guray zu tun? Wieso sucht er ihn nicht als Verbündeten zu gewinnen? Schließlich wissen wir jetzt, daß er es bei den Hyptons probiert. Gib uns mehr Informationen!« Der Roboter berichtete, aber viel kam dabei nicht heraus. Über den Erleuchteten erfuhren sie so gut wie nichts, aber Traykon fügte ein paar Details über Anima und ihre beiden Begleiter an, so daß der Arkonide im Bilde war. Er akzeptierte, was er erfuhr, aber er blieb weiter mißtrauisch. Er wußte zu genau, daß der Roboter ihm Informationen verheimlichte. »Es gibt da Dinge, die nach wie vor unklar sind«, meldete sich Mrothyr zu Wort. »Du redest von Teilpositroniken in deinem Innern, Traykon. Du weißt, daß wir die Handlungsweise der Roboter des Pre-Los kennen. Was hat deinen Gesinnungswandel verursacht? Und wie kommst du an den Namen Varnhagher-Ghynnst, mit dem du uns auf dich aufmerksam machtest. Woher konntest du wissen, daß ausgerechnet wir dich finden?« Der Roboter ragte wie eine Säule mitten in der kleinen Zentrale des Diskusschiffs auf. Er bewegte sich auch jetzt nicht, nur das facettenähnliche Gebilde bewegte sich mit wellenförmigen Linien wie ein Muster auf einem gekrümmten Bildschirm. »Das Letzte zuerst, Zyrpher«, sagte er mit einer Stimme, die wie immer gleichgültig klang, als ginge ihn alles nichts an oder als sei er nur ein minderwertiger Auskunftsspeicher. »Ich konnte es nicht wissen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihr mich finden würdet, betrug zehn zu neunzig. Ihr würdet es als Glück bezeichnen. Zu den Teilpositroniken kann ich nicht viel sagen. Ich weiß nur, daß ich den Körper des früheren Traykon-6 besitze. Die Positronik ist jedoch von einem mir unbekannten Wesen ausgetauscht worden. Ich verfüge über das Speicherwissen des TraykonSpeichers, und von dem Unbekannten weiß ich, daß ich mit dem Stichwort Varnhagher-Ghynnst Atlan anlocken kann. Mehr ist mir nicht möglich zu erklären.« »Es reicht«, sagte Mrothyr, doch Atlan schüttelte stumm den Kopf. Ihm reichte es noch lange nicht. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß er bei seiner Einschätzung der Lage in Manam-Turu ständig im Kreis ging. Anfangs hatte es anders ausgesehen. Da hatte er gewußt, daß der Erleuchtete noch nicht lange hier war und seine Macht von unten herauf festigen mußte. Er hatte vorgehabt, dies zu verhindern. Aber mit jedem Abenteuer, mit jeder besuchten Welt war ihm klar geworden, daß vieles ineinander verwoben war. Er war auf die Hyptons und die Ligriden gestoßen und schließlich auf Guray, den sagenhaften Schutzpatron der sogenannten Piraten, die Schätze zusammentrugen und sie in speziellen Verstecken horteten. Er hatte auf Phurthul entdeckt, daß Guray tatsächlich existierte. Damit war eine neue Kraft in dieser Galaxis hinzugekommen, und das Versteckspiel weitete sich noch mehr aus. Viel hatte er über Guray nicht herausgefunden, und auch das Vorgehen der Hyptons lieferte ihm keine richtigen Anhaltspunkte, um einzugreifen und mit einem Schlag dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten. Siehst du es endlich ein, meldete sich erneut der Extrasinn. Es hatte von Anfang an seinen guten Grund, daß das Kodewort nicht mehr wirkte. Du hast die Schwierigkeiten in Manam-Turu gründlich unterschätzt. Mit ein paar Abenteuern auf irgendwelchen Planeten ist es nicht getan. Du hast die wichtigsten Ziele bisher nicht erreicht. Warum nicht? Du kennst das Versteck des Erleuchteten nicht und weißt nicht, wo du Guray suchen sollst. Und du findest nicht den
Ansatzpunkt, um die Hyptons auszuschalten. Du bist überfordert und weißt doch genau, daß du nicht verschwinden kannst. Fürwahr keine beneidenswerte Lage, in der wir uns befinden. Atlan mußte dem Extrasinn recht geben, aber damit war ihm nicht geholfen. Noch immer bewegte er sich gedanklich im Kreis. Der Roboter, war er ein Ausweg? War er mit Absicht bei ihnen? Warum hatte er sich mit dem Kodewort gemeldet? Nur um zu sagen, daß Anima noch lebte? Das Schiff stuft ihn als unbedenklich ein, Arkonide. Wann nimmst du das endlich zur Kenntnis? Traykon ist kein trojanisches Pferd. Und seine Aussagen über den großen Unbekannten, nun, das ist wohl eine Schutzbehauptung. Es steckt mehr hinter Traykon, und es muß einen Grund haben, warum wir es nicht erfahren sollen, Ha…äh Atlan. Der Extrasinn schwieg, und der Arkonide richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Roboter. »Er kommuniziert gerade mit der STERNSCHNUPPE«, erkannte Chipol nach einem Blick auf einen Bildschirm. »Kommunikation beendet«, erklärte Traykon fast gleichzeitig. »Da wir uns zur Zeit in einem Gebiet befinden, das man als Brennpunkt bezeichnen kann, wäre es günstig, hier den Hebel anzusetzen. Ich bin bereit, als Spion zu fungieren. Eine bessere Gelegenheit findest du nicht, Atlan. Traykon-1 bis Traykon-5 sind vernichtet, Traykon Null oder das Pre-Lo, das sich auch Urko nannte, wurde von Goman-Largo in eine andere Zeitebene geschleudert, die eigentlich zur Falle für Anima werden sollte. Ich bin das einzige Geschöpf, das übriggeblieben ist.« »Die Idee ist gut«, erwiderte der Arkonide. »Wir werden einen günstigen Zeitpunkt abwarten.« »Nein, warten werden wir nicht!« Mrothyr war entrüstet. »Was soll diese Warterei. Wenn wir jetzt nicht handeln, ist es zu spät!« Atlans Mundwinkel begannen zu zucken. Er lächelte fast unmerklich und nickte zustimmend. Er konnte Mrothyr nur zu gut verstehen. Der Zyrpher hatte endgültig die Nase voll von seinem Heimatplaneten, für den er sich innerlich immer stark engagiert hatte. Inzwischen war er geheilt und richtete seine Aufmerksamkeit auf die globalen Zusammenhänge. Er strotzte vor Eifer. Zyrpher veränderten ihr Aussehen je nach dem Lebensalter. Junge Zyrpher wie Mrothyr besaßen einen gewaltigen, dichten Haarschopf, der im Lauf der Jahre büschelweise ausfiel und im Alter zu einer totalen Glatze führte. Parallel dazu entwickelte sich das anfangs puppenhafte Gesicht zu immer größerer Schärfe und Ausdrucksfähigkeit. Aus kaum sichtbaren Brauenbögen wurden mit der Zeit deutliche Wülste, die kleine rundliche Nase wurde zu einem scharfen Zinken, die schmalen, weichen Lippen entwickelten sich zu dicken, fast hornigen Würmern. Für’ Zyrpher waren sowohl die Jugend als auch das Alter erstrebenswerte Lebensphasen, das Zwischenstadium jedoch war ihnen ein Greuel. In den Jahren der Umwandlung lebten sie meist zurückgezogen, und Mrothyrs Eifer war nicht anders zu erklären als damit, daß er sich jung erhalten wollte, um nicht aus Ärger und innerem Verdruß frühzeitig in jene Phase zu kommen, in der es besser war, wenn er sich nicht in die Öffentlichkeit wagte. »Das habe ich mit Warten nicht gemeint«, sagte Atlan. »Traykon ist prädestiniert dafür, einen Kontakt mit dem Erleuchteten herzustellen und uns auf dessen Spur zu führen. Das kann aber nicht jederzeit und an jedem Ort geschehen. Wir müssen warten.« In der Zwischenzeit konnten sie andere Probleme aufgreifen, die ungelöst waren. Die Daila auf Aklard würden sich aus eigener Kraft der Ligriden erwehren, wenn sie genug Unterstützung von den Mutanten erhielten. Aklard war also kein Problem mehr. Die Gefangenschaft Animas und ihrer Begleiter war jedoch dazu gekommen. Die Hyptons besaßen mit ihr ein Faustpfand gegen den Erleuchteten, und das, was Traykon zu diesem Thema zu sagen wußte, gab neue Rätsel auf. Der Erleuchtete war nicht vor Atlan aus Alkordoom geflohen, wie der Arkonide die ganze Zeit geglaubt hatte. Er war vor Anima geflohen. Sie bildete für ihn den Gegner Nummer Eins. Atlan als
Gesandter der Kosmokraten rangierte erst an zweiter Stelle. Warum? fragte der Arkonide sich. Welche Bedeutung hat die ehemalige Orbiterin Hartmanns vom Silberstern für den Erleuchteten? Hier, spürte er, lag eine der Lösungen seiner Probleme verborgen, vielleicht sogar eine der Lösungen für Manam-Turu. EVOLO durften sie nicht vergessen. Es war eine Bedrohung, was immer es auch im Endzustand darstellen würde. Der Erleuchtete bastelte daran und er würde den Zeitverlust aufholen wollen, den er durch seine Flucht aus Alkordoom erlitten hatte. Die Hyptons liegen zur Zeit näher, sagte der Logiksektor. Über sie kommst du weiter. Für sie bist du gefährlicher als in Wirklichkeit, weil sie ihre Schwierigkeiten mit den Caironen auf dich zurückführen. Sie wußten von Traykon, daß die Hyptons Ärger mit dem Planeten Cairon hatten und die Eingeborenen unterschätzten, weil diese einen Weg gefunden hatten, sich gegen die Beeinflussung zu wehren. Sie glaubten, daß Atlan dahintersteckte, der sich ja auf Cairon aufgehalten hatte. Traykon bewegte sich plötzlich. Er streckte einen Arm vor, und Atlan sah, daß er etwas an einer Schnur hielt, was wie ein Amulett aussah. Es besaß die Form eines Halbmonds und schimmerte wie Platin. »Es ist möglich, daß es sich dabei um einen Schlüssel zu Guray handelt«, verkündete der Roboter. * Die STERNSCHNUPPE war ein flacher Diskus mit vierzig Metern Durchmesser und zwanzig Metern Höhe. Sie war Atlan wohl von den Kosmokraten zur Verfügung gestellt worden, jedoch von unbekannter Bauart. Sie verfügte über eine ausreichende, aber etwas einseitig strukturierte Intelligenz. Sie sprach gern über technische Dinge und die Ausstattung des Schiffes, doch waren die Angaben immer derart vage, daß es schwerfiel, etwas herauszuhören oder zu erkennen. Die Region des Ringwulsts war für die Mitglieder der Besatzung völlig unzugänglich. Sie besaß ursprünglich keinen Namen, hatte jedoch nach eigenen Aussagen schon etliche Vorbesitzer gehabt. Fast war Atlan geneigt zu sagen, daß das Schiff die Besitzer häufiger wechselte als es Energie tankte. Allerdings, wenn das in früherer Vergangenheit der Fall gewesen war, dann strafte die jüngste Vergangenheit dies Lügen. Es sah nicht so aus, als würde der Arkonide bald auf das Schiff verzichten können. Trotz der Geheimniskrämerei war auf die STERNSCHNUPPE Verlaß. Ihre Aussagen und Einschätzungen konnten genauer nicht sein, und ihr Einwurf, daß es sich bei dem Amulett um ein harmloses Gebilde handelte, das eine nicht exakt entzifferbare psionische Komponente besaß, bedeutete, daß auch sonst niemand an Bord exaktere Angaben machen konnte. Ein Mutant vielleicht, aber dazu hätte das Schiff eine der Welten anfliegen müssen, auf der dailanische Mutanten lebten. Und dazu hatte nicht nur Chipol keine Lust, dessen Aversion gegen alle psionischen Erscheinungen hinlänglich bekannt war. Traykon berichtete, wie er das Amulett auf dem Planeten Domain an sich genommen hatte. Die Piraten waren außer sich vor Zorn gewesen. Sie hatten sofort den Kampf eröffnet, aber es war ihnen nicht gelungen, gegen das Pre-Lo anzukommen. Seit jenem Zeitpunkt führte Traykon das Amulett mit sich. »Das Amulett besitzt einen Wert für die Piraten!« Chipol sprach aus, was auch Atlan und Mrothyr dachten. »Aber das hat nichts zu bedeuten. Wie es aussieht, hüten die Händler alle ihre Schätze eifersüchtig!« Es war nicht feststellbar, ob das Amulett den Piraten direkt zuzuordnen war oder ob es mit Guray in
Zusammenhang stand oder mit etwas anderem. Traykon konnte hier nicht helfen, es fehlten ihm die Informationen. Das Pre-Lo hatte sich nicht dazu geäußert. Ein Funkspruch hatte es und den einzig übrigen Roboter von Domain wegbefohlen. Ein kodierter Funkspruch war eingetroffen, der von einer Stelle gekommen war, die Brücke des Erleuchteten genannt wurde. Das Pre-Lo sollte sofort einen Ort aufsuchen, von dem nur die Koordinaten übermittelt wurden. Dies war geschehen. »Eine Deutung der kodierten Übermittlung ist mir nicht gelungen«, gab der Roboter bekannt. »Besitzt du sie wenigstens noch?« wollte Mrothyr wissen. Traykon bestätigte es. »STERNSCHNUPPE, du hörst es«, rief der Zyrpher. »Es gibt Arbeit für dich!« Der Roboter übermittelte den betreffenden Teil seines Speicherinhalts an das Schiff, das augenblicklich mit der Untersuchung begann. Es hatte schon einmal einen Kode teilweise geknackt oder einen Funkspruch, von dem ein Teil aus dem Kode herausgefallen war. Damals hatte die Spur sie nach Phurthul geführt. Die Impulse waren eine Sendung Gurays zu dem Planeten gewesen oder ein Auftrag des Sensiblen an einen seiner Gesandten, in dem die Koordinaten des Planeten unter der erlöschenden Sonne enthalten waren. Inzwischen hatte Atlan dem Schiff aufgetragen, den Zickzackkurs zu beenden. Die Ligriden hatten ihre Spur verloren, es gab keine Ortungen von Schiffen, die ihnen folgten. Offensichtlich war man sich auf dem Planeten nicht darüber im klaren, welche Bedeutung man der überraschenden Rückkehr Mrothyrs und des Fremden beimessen sollte. Und der Tod Goswins mochte auch dazu beigetragen haben, daß man sich mit ihrer Flucht zufriedengab. Die STERNSCHNUPPE flog einen Kurs, der bei Einhaltung etwa drei Lichtjahre tangential am Heimatsystem der Daila vorbeiführen würde. Atlan glaubte nicht daran, daß es dazu kam. Er lauschte gespannt darauf, daß sich das Schiff meldete und etwas sagte. Brücke zum Erleuchteten. Der Begriff hörte sich gut an. Fast war der Arkonide bereit zu glauben, daß es hier eine handfeste Spur gab. Erwarte keine Wunder. Ähnliches hast du auch geglaubt, als die Spur dich nach Phurthul führte. Und was ist dabei herausgekommen? Spare dir deinen Zynismus, dachte Atlan energisch. Er ist fehl am Platz. Sie warteten eine halbe Minute, dann meldete sich das Schiff und gab das Ergebnis der Auswertung bekannt. »Eine Teilentschlüsselung ist mir möglich. Aus den Daten geht der Hinweis auf einen Bereich hervor, der sich 88 Lichtjahre von Aklard entfernt befindet. Von unserem derzeitigen Flugort ist er 64 Lichtjahre entfernt. Der Bereich wird als Tabusektor Leron bezeichnet. Mehr ist nicht zu erkennen. Alle anderen Symbole sind unverständlich.« »Danke!« Atlan atmete merklich auf. »Kurs Leron!« Die STERNSCHNUPPE änderte den Kurs und steuerte das neue Ziel an. Von dort also hatte das Pre-Lo die Botschaft empfangen, und dort mußte es zwangsläufig Spuren zum Erleuchteten geben. Der Arkonide musterte Traykon, der noch immer wie ein Fels in der Zentrale stand. Langsam begann er dem Roboter Vertrauen zu schenken, wenn er es auch nie unterlassen würde, Traykon genau zu beobachten. Solange der Roboter nicht mit der vollständigen Wahrheit herausrückte, blieb er ein Sicherheitsrisiko für die STERNSCHNUPPE und ihre Besatzung. »Wer ist Ha…?« fragte er unvermittelt. Der Roboter heuchelte Unverständnis und erging sich in Ausflüchten über seine Situation und die Manipulationen des Unbekannten. »Wünscht du einen Vergleich?« fragte er. »Es ist so: Stelle dir vor, dein Gehirn sei in einen fremden Körper verpflanzt worden. Wie würdest du dich fühlen?«
»Es kommt darauf an«, erwiderte der Arkonide ernsthaft. »Es läge wohl an dem Körper, den ich dann besitze!« »Siehst du«, erwiderte Traykon. »Ich konnte ihn mir nicht aussuchen!« Das, fand Atlan, war geradezu menschlich gesprochen, und es rief Erinnerungen an die Vergangenheit in ihm wach, an viele Menschen. Er dachte an die Milchstraße und an andere Orte. Und er zuckte leicht zusammen, weil der Extrasinn eine Bemerkung machte, die ihn erschütterte. Es ist nicht nur so ein Eindruck, Atlan. Traykon könnte Umgang mit Menschen gehabt haben. Der Arkonide überlegte, wo das gewesen sein könnte. Er fand keine Erklärung, und schließlich verwarf er den Gedanken wieder. Traykon wollte sich anbiedern, und das wiederum nahm Atlan als Zeichen dafür, daß es sich bei ihm trotz der Beteuerungen der STERNSCHNUPPE um ein trojanisches Pferd handelte. Das Schiff vollführte zwei Linearetappen über jeweils fünfundzwanzig. Lichtjahre und dann eine letzte über vierzehn Lichtjahre. Das Zielsystem tauchte auf dem Bildschirm auf, und Atlan und seine Gefährten erkannten die rote Normalsonne, die mitten im Leerraum hing. Ein einzelner Planet war ihr Begleiter. »Keine nennenswerte Ortung«, verkündete die STERNSCHNUPPE. »Das Sonnensystem ist energetisch nicht völlig ausgeglichen. Der Planet muß früher einen Trabanten besessen haben!« Atlan blinzelte. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an Phurthul. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß dort Guray wirkte und hier der Erleuchtete. Du machst es dir zu einfach. Du wirst sehen, daß hier alles ganz anders ist. »Raumschiffe? Psitätigkeit?« »Keine Raumfahrt. Der Planet ist ebenfalls energetisch tot. Keine entwickelte Kultur. Gegen wir näher heran?« erwiderte das Schiff. »Ja!« sagte Mrothyr rasch. Er konnte es kaum erwarten. Auch Chipol war ungeduldig. Nur Traykon blieb stumm. »Besitzt dein Speicher etwas, was auf dieses System zutrifft?« wollte der Arkonide wissen. Der Roboter verneinte. Atlan wies die STERNSCHNUPPE an, sich dem Planeten vorsichtig zu nähern. Es gab keine systemumspannenden Energieschirme und nichts, was auf die Anwesenheit einer größeren Einrichtung hingewiesen hätte. Und Atlan rechnete mit einer umfassenden Anlage. Die Brücke des Erleuchteten ließ ihn an ein Kommunikationsrelais denken, mit dem der Erleuchtete seine Befehle und Botschaften ausgab. Er dachte daran, daß man dieses System anzapfen konnte. Die Ortung blieb stumm. Nichts war, was einen Hinweis ergab. Atlan ließ die Schultern sinken, während er beobachtete, wie das Schiff langsam in einen hohen Orbit des Planeten einschwenkte. »Tabusektor Leron«, murmelte er nachdenklich. »Hier scheint in der Tat alles tabu zu sein. Keine Intelligenz?« Er richtete sich auf. »STERNSCHNUPPE, du hast vorhin einen Teil meiner Frage nicht beantwortet. Wie steht es mit Psitätigkeit?« Das Schiff führte einen Psispürer mit, mit dessen Hilfe man auf ein paar Lichtmonate Entfernung eine Psiquelle orten konnte. Das Gerät war jedoch ziemlich unvollkommen. Es zeigte zwar die Richtung an, aus der die Impulse kamen, jedoch nicht die Entfernung des Objekts oder Individuums. Innerhalb einer Atmosphäre wurden die Anzeigen ungenau, vor allem, wenn es sich um einen Planeten handelte, auf dem es außer der Psi-Quelle noch andere Lebewesen gab. Der Spürer ließ sich sogar durch Pflanzen aus dem Konzept bringen. Das unvollkommene Gerät gehörte nicht zur eigentlichen Ausstattung des Schiffes, sondern war nachträglich von irgend jemand eingebaut worden.
»Keine Psitätigkeit. Aber es gibt irgendwo auf diesem Planeten etwas Ähnliches. Vielleicht ist es lediglich eine Bewußtseinskonzentration. Es werden dabei jedoch keine typisch psionischen Impulse frei. Ich würde es als mentales Hintergrundrauschen bezeichnen.« Darunter konnte sich Atlan nichts Konkretes vorstellen. Er musterte seine Gefährten. »Der Erleuchtete?« dachte Chipol laut. »Atlan, endlich. Es wird Zeit, daß wir seine Spur festhalten. Sie führt zu meiner Familie, vergiß das nicht!« Der Arkonide hatte es nicht vergessen. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es eines Tages soweit kommen würde. Der Erleuchtete hatte die Familie Sayum vom Planeten Joquor-Sa entführt und nur den psionisch unbegabten Chipol zurückgelassen. »Landen!« sagte er. Sein Hals war plötzlich ausgetrocknet. »Irgendwo, wo es Zivilisation gibt oder wenigstens Ansätze davon.«
3. Das warnende Trällern der Uwans verstummte. Friede kehrte ein in den Wald, und die lange Schlange der Schatulla-Leronen bewegte sich beinahe lautlos zwischen den hohen Bäumen. Die Farbe des Waldes wechselte. Statt der grünen Getreichen ragten in dieser Gegend blauschwarze Upunzen in die Höhe. In ihnen nisteten viele Vögel, da die Upunzen für ihr weiches und wärmespeicherndes Holz bekannt waren. Die Upunzenwälder gehörten weder zum Land der Schatulla, noch zu dem der Gnorze. Sie waren auch keinem anderen Stamm zuzurechnen. Sie bildeten einen Teil des Niemandslands, das den Heiligen Berg der Leronen umgab. Adkor stieß ein zufriedenes Knurren aus. Er rief Dawok zu sich. Der Bändiger hatte sich entschlossen, keine weiteren Affen zu opfern. Die Tiere waren zu wertvoll. Er hatte sie speziell für ihre Aufgaben abgerichtet, und wenn Adkor seinen Vorschlag wahrgemacht hätte, alle Affen zu verspeisen, dann hätte dies das ganze Unternehmen in Frage gestellt. Die Affen wurden offiziell zwar zur Jagd mitgeführt, aber sie besaßen einen Geheimauftrag, von dem nur Dawok etwas wußte. Nicht einmal Adkor war eingeweiht worden. Er war ein Jäger und Krieger, der an seinen Gott glaubte und an die Worte der Priester. Niemals hätte er einem Experiment wie diesem zugestimmt. Der Abend nahte. Unter den Bäumen wurde es langsam dunkel, und die Jungkrieger eilten voraus bis zum Silbernen See, um das Gelände für das Lager auszuspähen und zu markieren. Badowein und seine Begleiter befanden sich etwa zwei Sandzeiten hinter ihnen auf einem anderen Weg. Von dem Heer der Gnorze, das die Schatulla derzeit verfolgte, war weit und breit nichts zu erkennen. »Gulbert Leron ist uns gnädig gesinnt«, ließ Adkor verkünden. »Wir werden eine glückliche Hand haben und bald vor den Gattern Tarmenpais stehen. Zuvor jedoch werden wir uns den Segen der Heiligen holen.« Die Bäume und Büsche wichen langsam vor den Schatulla zurück und gaben den Blick auf eine Lichtung frei, die sich immer mehr verbreiterte. Eine silbern glitzernde Ebene wurde sichtbar, der See. Ruhig und von keinem Wind bewegt lag er da, und nur das Schreien der Uwans und anderer Vögel kündete von der Ankunft der Leronen. Der Lagerführer deutete zum gegenüberliegenden Ufer. »Dort hinüber! Wir wollen es auch in der Nacht so halten wie am Tag. Der Pilger und seine Begleiter sollen sich zwischen uns und den Gnorze-Kriegern befinden.« Der Zug umrundete das Ufer und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite nieder. Dort wuchsen hohe Büsche und schirmten die Leronen gegen neugierige Blicke ab. Adkor ließ die erfahrenen Krieger zu sich kommen. Sie hielten Kriegsrat. »Die Gnorze sind vorsichtig, denn mein Ruf ist bekannt. Ihr habt es von Badowein gehört«, begann er. »Deshalb müssen wir doppelt so schlau sein wie sie. Wir werden im Morgengrauen aufbrechen und uns nach Südwesten wenden. Wir werden im Eiltempo marschieren und ihr Heer umgehen. In ihrem Rücken werden wir nach Süden wandern und Tarmenpai erreichen, noch ehe sie unsere Absicht erkennen.« »Sie werde aus unseren Spuren die richtigen Schlüsse ziehen!« wandte Vertyn mit der Sichel ein. »Einen großen Vorsprung werden wir nicht herausholen!« »Das laß meine Sorge sein«, lachte der Lagerführer. »Wir werden eine breite Spur legen, aber sie wird in eine andere Richtung führen. Sie wird so verlaufen, daß die Gnorze glauben, wir wollten sie direkt in ihrem Rücken angreifen. Sie werden bis zum See hier vordringen und sich verschanzen. Bis sie dann merken, wohin unsere richtige Spur läuft, ist es zu spät. Sie können uns nicht mehr einholen.« »Bedenke jedoch, daß die Frauen nicht so schnell laufen können wie wir.«
Auch daran hatte Adkor gedacht. Sein Plan lief darauf hinaus, daß die Frauen unter einer entsprechenden Bedeckung in der Nähe des Heiligen Berges zurückblieben, bis die Luft rein war, und dann nach Schatulla zurückkehrten. »Dawok hat sich bereiterklärt, diese kleine Gruppe zu führen. Er wird auch die Affen bei sich behalten, die für unseren Vorstoß in das Land der Gnorze ohne Wert sind.« Die ersten Feuer flammten auf, und kurz darauf machten sich Jäger und Späher auf den Weg. Die einen verschwanden in der Richtung, in der der Zug gekommen war, die anderen verteilten sich auf alle anderen Richtungen, um etwas Eßbares für den Abend herbeizuschaffen. Bald lag neben dem Prasseln der helle Gesang der Frauen über dem See, und die beginnende Abenddämmerung veranlaßte etliche der im Lager gebliebenen Krieger, die Nähe des Wassers zu verlassen und unter der Führung Adkors zum ersten Mal den Weg hinauf auf die Steinkante zu beschreiten, hinter der die Sonne untergegangen war. Zunächst war der Weg nicht erkennbar. Der Pflanzenwuchs war dicht und fest, und die Steinmesser und Steinäxte hatten viel zu tun, um einen Pfad zu bahnen, der wenigstens die Breite eines Leronen besaß. Später wurde das Dickicht lichter, der Boden stieg sanft an, und kurz darauf fanden sie den hellen Einschnitt, und dem der Pflanzenwuchs abrupt aufhörte. Links und rechts des Einschnitts ragte nackter Fels senkrecht in die Höhe. Die Leronen betraten den Pfad und eilten den Einschnitt hinauf. Die Felswände begleiteten sie unaufhörlich, und sie waren feucht und verströmten eine für die Leronen ungewohnte Kühle. »Eine Zone des Todes«, flüsterte Adkor. »Sie erinnert jeden daran, daß Gulbert Leron allein ist. Wer in dunkler Nacht in diesen Einschnitt gerät, wird ihn nicht lebend verlassen.« Sie beschleunigten unwillkürlich ihre Schritte, und das Licht im Einschnitt wurde heller und größer. Es zeigte ihnen, daß hinter der Steinkante die Sonne noch nicht untergegangen war und über das Tal und den Heiligen Berg schien. Eine halbe Sandzeit stiegen sie den immer steiler werdenden Pfad empor. Dann hatten sie ihr Ziel endlich erreicht. Der Pfad hörte übergangslos auf. Er endete an einem Abgrund, und die Felswände links und rechts waren nur noch fünf Mannslängen hoch. Adkor blieb keuchend stehen und ließ sich dann auf den Boden sinken. Mit beiden Armen deutete er vorwärts. Die Schatulla-Leronen drängten sich ungeduldig. Die hintersten konnten noch nichts erkennen, und der Lagerführer mußte sie zur Ordnung rufen, weil sie schoben und drückten und die vordersten fast über die Kante in die Tiefe stürzten. »Seht ihr es?« flüsterte er ergriffen. Er war der einzige, der vor etlichen Läufen Gulbert Lerons schon einmal an dieser Stelle gewesen war. Die Leronen blinzelten in den roten Ball der untergehenden Sonne. Das purpurne Licht ergoß sich über ein blühendes Tal, in dem die Pflanzenfarben Gelb und Orange vorherrschten. Sie wurden durch das Sonnenlicht verstärkt, so daß der Eindruck entstand, als würde das Tal von sich aus leuchten. Von der Steinkante blickten die Leronen weit hinab auf dieses Tal. So etwas hatten sie noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nur die Pilger und Heiligen hatten von diesem herrlichen Anblick berichtet. Friede und Glück erfüllte die Krieger. Am liebsten wären sie jetzt alle Pilger gewesen, um das wunderbare Tal betreten zu dürfen. Es war ihnen verboten, und sie beneideten Badowein und seine Begleiter, und Adkor überlegte, ob er nicht hierbleiben solle, um von oben zu sehen, wie Badowein die leere Sänfte in das Tal brachte und was er damit anstellte. Er deutete in die Mitte des Tales. »Bedeckt eure Augen!« sagte er eindringlich. »Der Anblick ist überwältigend. Bedenkt, daß ihr eigentlich nicht würdig seid, ihn zu genießen!« Mitten in dem Tal, mitten in dem paradiesischen Licht, stand er. Die Strahlen der Sonne lebten und verliehen ihm Bewegung, so als atme er. Sie sahen es und glaubten, daß er tatsächlich atmete. Und rund um ihn saßen die Scharen der Beter, die Pilger und Heiligen, die allen Stämmen der Leronen
angehörten. Sie beteten zu ihm und für ihr Volk. Ler-Ont, der einzige und wahre Gott der Leronen und ihres Planeten. * In dieser Nacht machte Segon kein Auge zu. Durch das offene Fenster fiel ein wenig Helligkeit herein und beleuchtete genau sein Gesicht. Sie kam vom Orarot. Der Vulkan entfachte nach Mitternacht eine rege, unheilverkündende Tätigkeit. Weit drängten die Lavafontänen in den Himmel, und über der leuchtenden Spitze lag eine düstere Rauchwolke. Der Vorgang erinnerte den jungen Schatulla an ein Feuer, auf dem man etwas Feuchtes oder Schmutziges verbrannt hatte. Draußen in den Straßen erklangen immer wieder tapsende Schritte. Die Priester hatten ihre Diener ausgeschickt um in der Dunkelheit nach den Spuren des Verschwundenen zu suchen. Ein Tag war vergangen, ohne daß sie ihn gefunden hatten. Segon wälzte sich herum. Er hatte vor dem Einschlafen ein paar Kleinigkeiten zu einem Bündel geschnürt, das er sich mit einer Schnur um die Hüften binden konnte. Es enthielt zwei kleine Steinmesser, einen Feuerstein und Hornspitzen für Pfeile. Auch ein paar Fackelstümpfe wollte der Schatulla mitnehmen, wenn er sich auf den Weg in den Dschungel machte, um den Heiligen Berg zu erreichen und in unmittelbarer Nähe Ler-Onts zu forschen, was es mit den Worten der Priester auf sich hatte. Segon glaubte an etwas Unnatürliches oder Künstliches. Es waren nicht allein Gradras Worte, die ihn in diesem Glauben bestätigten. Immer wieder gab es Ungereimtheiten, Widersprüche. Gulbert Leron wurde als Lichtbote des Gottes bezeichnet, aber für Manache Leron gab es keinen Beinamen, obwohl sie die Lichtbringerin der Nacht gewesen war. Manache war von Ler-Ont bestraft worden, aber Gulbert Leron nicht. Er zog weiterhin seine Bahn. Durfte er es nur, damit die Leronen nicht in ewiger Dunkelheit leben mußten? War es eine Gnade? Aber selbst dann stellte sich die Frage, warum Ler-Ont Manache bestraft hatte und nicht Gulbert. Die Priester erzählten, daß Gulbert der eigentliche Wärmespender war, und die Überlieferung sagte, daß Manache nur kaltes Licht ausgesendet hatte. Segon schloß verbissen die Augen. Er lauschte auf das Rascheln der Sanduhr. Noch blieb es gleichmäßig, die Zeit verrann quälend langsam. Weibliche Wesen sind hitziger als männliche, das war seine Erfahrung und sein Wissen. Bei allen Leronenstämmen war dies so. Und ausgerechnet bei Gulbert und Manache sollte es umgekehrt gewesen sein? Der junge Schatulla konnte es nicht begreifen. Sein Verstand war nicht so weit entwickelt, daß er den Boten seines Gottes etwas anderes als leronische Verhaltensweisen unterstellte. Wie auch. Gulbert und Manache waren schließlich Heilige gewesen, die von Ler-Ont hinauf an das Himmelsgewölbe geholt worden waren, um ihm zu dienen. Ich werde Ler-Ont fragen oder fragen lassen, entschloß Segon sich. Er drehte ein wenig den Kopf und stellte die Ohren spitz nach oben. Das Rascheln in der Uhr wurde ein wenig, leiser, und der Sandvogel in seinem Käfig öffnete ein phosphoreszierendes Auge und beugte sich ein wenig vor. In dem Augenblick, als die letzten Sandkörner durch die Einschnürung der Sanduhr nach untern rieselten, hupfte er von seinem Gestänge nach vorn auf die Uhr. Sie bewegte sich um ihre Achse, der leere Behälter wurde vom Gewicht des Sandvogels nach unten gedrückt und pendelte sich in der senkrechten Position ein, während der Vogel hinüber auf das zweite Gestänge hupfte, sich umdrehte und das Auge wieder schloß. Erneut rieselte der Sand gleichmäßig, war eine Sandzeit vorüber. Es gehörte viel Wissen dazu, die Sanduhren exakt so zu fertigen, daß sie den Stundentakt einhielten, der sich an der Bewegung
Gulbert Lerons orientierten. Die Abweichungen durften nicht zu groß werden, und einmal im Jahr wurden sie mit Hilfe der Priester korrigiert. Die Priester waren auch nützlich für die Stadt, und Schatulla stand in dem Ruf, die exakteste Zeitmessung aller leronischen Städte zu besitzen. Es war die dritte Stunde des neuen Tages. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde es am östlichen Horizont hell, und die Helligkeit würde über die Wasserberge heraufsteigen, in denen der Kerbaschol entsprang. Dann würden sich in den Gattern außerhalb der Stadt die gezähmten Uwans regen und mit ihrem Geschrei die meisten Bewohner aufwecken. Im Gedanken daran schlief Segon endlich ein, und als er aufschrak, da geschah es durch die Unruhe, die draußen auf der Straße entstand. Langsam richtete der Jüngling sich auf und streckte den braunen Körper. Er schlich zum Fenster, einer bloßen Öffnung im steinernen Mauerwerk. Ein paar der Fenstersteine besaßen scharfe Kanten und spitze Ecken, an denen man sich verletzen konnte. Vorsichtig spähte Segon hinaus. Er sah drei Priester, die sich über eine vermummte Gestalt beugten. Aus ihrer Brust ragte ein Pfeil. Die Priester walzten sie herum. Segon verstand, daß der Vermummte tot war. Und er sah auch, wie einer der Priester einen Bogen unter seinem Umhang verschwinden ließ. Frierend zog sich der Schatulla vom Fenster zurück. Er dachte an das, was er über den Gresti gesagt hatte. Die Bewohner der Stadt waren aufmerksam. Nichts, was um den Tempel herum vor sich ging, blieb ungesehen. Teils aus Ehrfurcht, teils aus Neugier verfolgten viele Augen, was sich im heiligen Bezirk Schatullas tat. »Ich muß weg«, hauchte Segon. Die fünfte Stunde war bereits zur Hälfte vergangen, es war höchste Zeit. Segon hatte seine Familie in der Nacht noch unterrichtet, daß er wieder einen Ausflug mit Freunden plante. Er hatte nicht gesagt, wohin er gehen wollte und daß er länger als einen Tag wegbleiben würde. Sie würden es selbst merken und solange ruhig sein, wie sie keine schlechte Nachricht von ihm erhielten. Der junge Schatulla packte sein Bündel und eilte hinab in den Innenhof. Im Haus war es ruhig, seine Familie schlief noch. Er beugte sich über den Ziehbrunnen und wusch sich an dem mit Wasser gefüllten Eimer. Er trank mehrere Schlucke, dann kehrte er in das Haus zurück und schlich zur Tür. Sie bestand aus mit Lehm verdickten Pflanzenfasern und war oben mit beweglichen Riemen festgemacht. Er zog sie nach innen und spähte vorsichtig hinaus auf die Straße. Die Priester und der Vermummte waren verschwunden. Segon zögerte. Der Vorfall war sicher nicht nur von ihm bemerkt worden. Es mochte andere, aufmerksame Augen geben, die noch immer die Straße beobachteten und sein Weggehen bemerken würden. Die Zeit verrann. Endlich faßte sich Segon ein Herz. Er trat hinaus und machte sich sofort auf den Weg. Er tat unbekümmert, als habe er von dem Vorfall nichts bemerkt. Es war nicht das erste Mal, daß er um diese Zeit aus dem Haus ging, um sich mit Freunden zu treffen. Mit raschen Schritten ging er die Straße hinauf zum Platz mit den sieben Uhren. Die Vögel schliefen auf ihren Stangen, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie durch das leiser werdende Rieseln des Sandes erwachten. Segon bog nach links ab. Er verschwand in einer schmalen Gasse und änderte noch zweimal die Richtung. Schließlich hielt er zwischen zwei Mauern an. Lediglich in einer von ihnen gab es eine Öffnung. In ihr verschwand der Schatulla. Es war finster im Innern des Hauses, und er orientierte sich nach seiner Erinnerung. Er fand einen Durchschlupf auf der linken Seite und landete an einer Leiter, die hinauf in ein Obergeschoß führte. Dort angelangt, tastete er sich auf Zehenspitzen einen Korridor entlang bis an das vorderste Zimmer. Er trat ein.
Am Boden brannte ein kleines Öllämpchen und warf unruhige Schatten in das Zimmer. Gardra lag auf zwei Fellen und schlief. Bei ihrem Anblick wurde Segon von einem Gefühlssturm übermannt. Am liebsten hätte er sich zu ihr gelegt. Dann dachte er jedoch an ihr gemeinsames Vorhaben und bezwang sich. Er beugte sich über die Schlafende und zupfte leicht an ihrer Nase. Gardra schrak empor und erkannte ihn. Aufatmend legte sie sich zurück und winkelte ein Bein an. Anmutig lag sie vor ihm, und Segon verschlug es mehrere Sandkörner lang den Atem. Er blickte zur Seite und deutete auf die Sanduhr. »Keine Zeit verlieren«, flüsterte er. »Wir haben noch viel zu tun!« Gardra erhob sich und kleidete sich an. Wie alle jungen Schatulla trug sie ein Fellkleid, das sie um die Taille mit einem Riemen zusammengürtete. Das Kleid besaß keine Ärmel und bedeckte ihre Oberschenkel zur Hälfte. Sie schlüpfte aus dem Zimmer, und nach kurzer Zeit kehrte sie mit einem kleinen Bündel zurück. »Ich habe gestern abend noch mit Salchem und Lenda gesprochen. Sie kommen nicht mit«, flüsterte sie. »Sie haben Angst.« »Und ich weiß es von Ompuf, daß seine Familie ihn nicht mehr aus dem Haus läßt. Sie scheint etwas zu ahnen oder sich Sorgen zu machen.« »Gehen wir?« Sie verließen das Haus auf dem Weg, den Segon gekommen war. Sie mußten jetzt nur noch bei Tifir vorbeischauen, und Tifir wohnte am westlichen Ende Schatullas, in der Nähe des Tores, an dem die Handelsstraße zwischen der Stadt und dem abgebrochenen Sechseck begann. Die Wächter würden sich wundern, daß sie schon wieder kamen und diesmal nur zu dritt waren. Aber sie würden nichts sagen. Die Bewohner der Stadt hegten untereinander kein Mißtrauen, wenn es nicht von den Priestern geschürt wurde. Über der Stadt wurde es langsam hell. Der Himmel glühte dunkelrot, und weit im Osten zeigten sich die ersten hellroten Schlieren. Die mildernde Kühle der Nacht verflog innerhalb kürzester Zeit, es würde, ein warmer Tag werden wie die meisten Tage des Jahres. Die beiden Jugendlichen mieden die großen Straßen und wanderten im Eilschritt die engen Gassen entlang. Hin und wieder vernahmen sie frühmorgendliche Gespräche oder Gekicher. Es drang aus den Fenstern zu ihnen heraus. Die Stadt erwachte langsam, und jetzt setzte auch das Geschrei der gezähmten Uwans ein. Und Schritte klangen auf. Segon zog Gardra in eine Nische zwischen zwei Gebäuden hinein. Kaum hatten sie sich versteckt, bog um eine Ecke eine Gruppe aus fünf Tempeldienern. Sie hielten Ausschau, dann eilten sie weiter. Die beiden Jugendlichen in ihrem Versteck entdeckten sie nicht. Der Schatten der Nacht lag darüber und schützte sie. Als sie verschwunden waren, kamen die beiden vorsichtig hervor. »Sie haben Blasrohre«, flüsterte Segon. »Ich habe es genau gesehen. Was geht in dieser Stadt vor?« Er berichtete, was er vom Fenster seines Zimmers aus gesehen hatte. Gardra erschrak. »Vielleicht ist es doch besser, wenn wir unser Vorhaben verschieben«, meinte sie. Segon schob sie vorwärts. »Vielleicht«, sagte er. »Wir fragen auf alle Fälle Tifir!« Sie erreichten die Nähe des Tores und hielten nach dem Haus Ausschau, in dem der Freund wohnte. Die Gebäude Schatullas waren alle in ungefähr derselben Weise erbaut. Es handelte sich um zweibis dreigeschossige Bauten aus Lehm mit einer Holzkonstruktion. Die Fenster waren freigelassene Flächen, lediglich die Türen wurden von einem Vorhang oder einer beweglichen Lehmfläche verschlossen. Es war weißer Lehm, und er mußte aus den Wasserbergen mit Flößen herangeschafft und auf das Plateau heraufgetragen werden. Die Vorfahren der heutigen Bewohner hatten das bewerkstelligt, und Segon erschauerte vor Ehrfurcht, wenn er an diese Leistung dachte. Ohne die Hilfe Ler-Onts war das sicher nicht möglich gewesen.
Wieder hörten sie Stimmen, diesmal laut und zornig. Jemand bat um Ruhe, aber die Lärmenden kümmerten sich nicht darum. »Das ist bei Tifir!« Segon blieb an einer Ecke stehen und spähte vorsichtig herum. Er sah dunkle Gestalten und erkannte den Umhang eines Priesters. Er zuckte zurück und stieß gegen seine Gefährtin. »Sie sind dort«, hauchte er entsetzt. »Was machen sie bei Tifir?« Eine Frau rannte die Gasse entlang. Sie jammerte laut und rief nach dem Jungen. Als sie die beiden Jugendlichen erblickte, bog sie rasch ab und verstummte. »Weg mit euch«, zischte sie. »Man darf euch hier nicht sehen. Seht zu, daß ihr aus der Stadt kommt. Noch sind die Torwächter nicht informiert, aber das kann jeden Augenblick geschehen!« »Wo ist Tifir?« »Weg. Verschwunden. Niemand weiß, wohin. Die Priester wollen ihn mit sich in den Tempel nehmen, um ihn zu befragen. Ihr seid gestern belauscht worden. Ein Tempeldiener ist euch gefolgt. Ich weiß nicht, worüber ihr gesprochen habt, aber es kann nichts Gutes gewesen sein. Und jetzt haut ab!« Sie rannte weiter und rief nach Tifir, um die Priester abzulenken. »Komm!« Gardra faßte Segon an der Hand. Sie überquerten die Gasse und verschwanden geradeaus. Sie suchten den schnellsten Weg zum Tor, das ganz in der Nähe war. Sie sahen es nicht, denn die Gassen waren zu schmal und die Gebäude zu hoch. Sie hörten wieder Rufe. »Schneller!« keuchte Segon. »Sonst erwischen sie uns noch!« Und dann sahen sie sie plötzlich vor sich. Mehrere Diener mit Blasrohren und zwei Priester. Im Hintergrund war einer der Torwächter mit seinem Speer zu sehen. Eine schrille Stimme erklang. »Da sind welche. Die waren auch dabei!« Sie machten kehrt, aber hinter ihnen tauchten nun ebenfalls Tempeldiener auf. Segon fluchte, weil sie den kürzesten Weg genommen hatten. Sie hätten damit rechnen müssen, daß die Priester das Tor beobachten ließen. Er blieb stehen und legte schützend einen Arm um Gardra. »Sie sollen mich mitnehmen«, knurrte er. »Dich sollen sie in Ruhe lassen!« Das Mädchen gab ihm keine Antwort. Die Tempeldiener hatten sie umstellt. Einer der Priester trat heran. »Ist kein Zweifel möglich?« »Nein. Sie gehören dazu. Der Junge muß ihr Anführer sein!« »Wie heißt du?« schrillte der Priester. In Segon stritten sich die Geister. Einerseits gab er alles verloren und hielt es für das Beste, die Wahrheit zu sagen. Andererseits wollte er nicht, daß seine Familie mithineingezogen wurde. Er konnte sie später noch verständigen lassen, wenn es nötig wurde. »Ganud«, log er. »Und das ist Mentza!« »Führt sie ab. In den Gewölben des Tempels sind sie sicher aufgehoben. Sie werden uns sagen müssen, wo sich Tifir befindet. Und sie werden uns die Namen ihrer Gesinnungsgenossen verraten!«
»Ich sage nichts«, rief Segon laut. »Von mir werdet ihr kein Wort erfahren!« »Abwarten«, erklärte der Priester leise und gehässig. »Im Tempel hat noch keiner gewagt, die Wahrheit zu verheimlichen. Und wenn, dann hat Ler-Ont ihn dafür bestraft.« Segon wuchs über sich hinaus. »Ler-Ont?« schrie er. »Ihr habt ihn bestraft. Nicht Ler-Ont!« Er erhielt einen Stoß in den Rücken und taumelte vorwärts. Die Tempeldiener schleiften ihn davon, und Segon wich nicht von Gardras Seite. Er schalt sich einen Narren, daß er trotz der warnenden Zeichen aufgebrochen war. Und er fragte sich, wo sich Tifir versteckt halten mochte. War ihm die Flucht aus der Stadt gelungen, oder war er unterwegs, die Freunde zu warnen? Die Tempeldiener führten sie in Richtung Norden, wo am Ende der Stadt der Tempel lag. Alles war still, die Stadt hüllte sich in Schweigen bis auf das ängstliche Gekrächze eines Uwans. Es waren seltsame Schreie, die er von sich gab. Segon legte den Kopf in den Nacken und suchte seinen Standort auszumachen. Eigentlich war es mehr das heisere Fiepen eines Sandvogels, das er hörte. Die Stimme gehörte jedoch einwandfrei einem Uwan. Über einer Kante eines der Flachdächer tauchte für einen kurzen Augenblick eine Hand auf. Sie winkte herab. Nur Segon sah es. Er redete sich ein, daß die Handbewegung eine Beruhigung sein sollte, und er rätselte, was da oben vor sich ging. Es war die Hand eines Erwachsenen gewesen. »Paß auf«, hauchte er, ohne den Mund zu bewegen. An Gardras Augen erkannte er, daß sie ihn verstand. »Etwas geht vor. Wir werden beobachtet. Jemand hat uns Zeichen gegeben. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, nehmen wir Reißaus.« Das Warten auf einen Zwischenfall zehrte an seinen Nerven, Nichts ereignete sich, und als es dann zu einer überraschenden Wendung kam, da geschah alles so schnell, daß Segon keine Zeit blieb, zu reagieren. Sie überschritten eine Kreuzung zwischen engen Gassen. Wie aus dem Boden gewachsen tauchten ringsherum plötzlich vermummte Gestalten auf. Sie trugen Stöcke bei sich, mit denen sie auf die Tempeldiener einschlugen. In Bruchteilen von Sekunden lagen alle einschließlich der Priester besinnungslos am Boden. »Verschwindet!« erklärte eine rauhe Stimme. »Wir sind hier, um Rache an unserem Bruder zu nehmen!« Segon faßte nach Gardra und bekam ihr Handgelenk zu fassen. Gemeinsam rannten sie den Weg zurück. Segon sah aus den Augenwinkeln, wie einer der Vermummten einen Speer aufhob und ihn einem der Priester in den Leib rammte. Dann war der Spuk so schnell vorüber, wie er gekommen war. Die Vermummten verschwanden, und zurück blieben die Bewußtlosen. Der junge Schatulla rannte davon, so schnell es ging. Er verstand überhaupt nicht mehr, was in der Stadt vor sich ging. Gardra schwieg, und nach kurzer Zeit erreichten sie das Westtor. Die Wächter lagen herum, als schliefen sie. Sie wiesen keine Wunden auf, jemand hatte sie in das Reich der Träume geschickt. Das Tor war zu, aber nicht verschlossen. Gemeinsam zogen sie die Riegelbalken zurück und schoben den einen Holzflügel ein Stück auf, dann waren sie draußen und rannten in langen Sätzen die Handelsstraße entlang. Hinter den ersten Büschen und Bäumen machten sie halt. »Zum Sechseck. Dort dürfen sie uns nichts antun. Wir müssen uns in Sicherheit bringen!« Gardra hustete schwer. »Wenn Tifir Glück gehabt hat, dann ist er auch in Sicherheit!« Aus dem Schatten eines Baumes löste sich eine kleine Gestalt und eilte auf sie zu. Es war Tifir. »Wir sind verraten worden«, rief er. »Folgt mir!« Gardra und Segon wußten es bereits. Sie faßten sich an der Nase, ein Zeichen der Begrüßung und
der Verbundenheit. »Also los. Notfalls können wir uns in den Seitentälern bei den Sittenstrolchen verstecken!« Der Gedanke, daß sie von nun an Ausgestoßene sein könnten, erzeugte ein flaues Gefühl in Segons Magen. Eigentlich wollte er nur den Heiligen Berg aufsuchen, um dort nach dem Rechten zu sehen. »Seht, Gulbert geht auf«, sagte Gardra und deutete nach Osten, wo sich die Sonne über die Berge hob. Weit entfernt von ihr spiegelte sich das Licht an einer Stelle des Himmels, und Segon legte den Kopf in den Nacken und verfolgte die Erscheinung, die größer wurde und ihre Position änderte. »Heute ist alles anders«, sagte er mit bebender Stimme. »In der Stadt sind die Priester verrückt geworden. Hier draußen gibt es Dinge am Himmel, die bisher nicht da waren. Steht der Weltuntergang bevor? Schickt sich Ler-Ont an, auch Gulbert zu bestrafen? Wir müssen in die Stadt zurück!« »Du bist verrückt!« stellte Tifir fest. Er zerrte Gardra mit sich die Straße hinab. Er schien das Singen nicht zu hören, das in der Luft lag. Es wurde immer lauter, und schließlich blieb er stehen und folgte mit den Augen Segons ausgestrecktem Arm. »Ein Berg!« schrillte der Jugendliche. »Ein Berg stürzt auf die Stadt herab. Flieht, Leronen. Bringt euch in Sicherheit. Rettet euer Leben!« Er rannte hinter Tifir und Gardra her, und die drei verschwanden hinter einer Felsgruppe, wo steile und gefährliche Pfade abwärts in das Hochtal führten. Das Singen wurde zu einem Dröhnen, und das Gebilde am Himmel vergrößerte sich immer mehr. Jetzt nahm es das Aussehen eines Tellers an, und Tifir begann überhastet mit dem Abstieg. »Bleib!« rief Gardra ihm zu, aber er hörte nicht hin. Er handelte in Panik und hielt erst inne, als einer der Felsen unter seinem Gewicht nachgab und in die Tiefe stürzte. Bebend drückte er sich in eine Nische und wartete. Der Teller fiel aus dem Himmel. Es war eine Scheibe, und sie verlor langsam die glühende Farbe Gulbert Lerons und hüllte sich in einen rosaroten Schimmer. Und plötzlich verschwand auch dieser, und sie sahen nur das dunkle Gebilde, das langsamer wurde und sich dem Plateau näherte, auf dem die Stadt lag. »Ler-Ont, steh uns bei!« murmelte Segon und half Tifir von seinem gefährlichen Platz in der Wand zurück in das Versteck zwischen den Felsen. »Etwas Künstliches, etwas Unnatürliches, kein Fels und kein Land. Aber auch kein Wasser. Kein Speer und kein Blasrohr, kein Haus und kein Tempel. Das ist unsere Spur«, hörten die beiden Jungen das Mädchen sagen. »Das ist der Beweis. Die Priester belügen uns.« »Willst du damit sagen…« Segon fehlten die Worte bei dem ungeheuren Verdacht, der ihm kam. Auch Tifir sperrte Mund und Nasenflügel auf. »Du legst mir die Worte beinahe in den Mund«, hauchte Gardra voller Ehrfurcht. »Ich glaube, Manache Leron ist zurückgekehrt. Warum haben die Priester der Stämme dies verheimlicht?« * Gremen beobachtete von einem Balkon aus das Training der Jungkrieger. Sie übten seit dem Sonnenaufgang den Gebrauch des Speeres und wurden von den Lehrern in der Wurftechnik unterwiesen. Manche der Leronen stellten sich ungeschickt an, aber Gremen war dennoch mit dem Gesamtergebnis zufrieden. Alles war eine Sache der Übung, und die Kriegskunst mußte erlernt
werden wie jedes Handwerk auch. Der oberste Lehrer dieses Handwerks spürte den leichten Luftzug, der entstand, wenn jemand eine Tür öffnete. Leichte Schritte näherten sich. Jemand betrat den Balkon und zupfte Gremen von hinten an seinem Fell. Er wandte den Kopf. Dadamda war es, der stumme Diener. Niemand wußte, woher er einst gekommen war. Eine Familie hatte ihn in jugendlichem Alter bei sich aufgenommen. Sie hatte ihn großgezogen, und jetzt war er als Diener im Haus der Kriegskünste angestellt und widmete seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich Gremen. Der Lehrer fragte sich manchmal, ob diese einen besonderen Grund hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit von den Übenden auf Dadamda. Der Stumme ließ das Fell los und deutete mit beiden Armen in Richtung des Stadtrands. Er machte eine Bewegung, die Schwertkampf darstellte. »Eine Auseinandersetzung? Am Westtor?« Dadamda bestätigte es. Er entfernte sich, und Gremen folgte ihm. Sie verließen das Gebäude und eilten die Straße entlang. Der Stumme machte unaufhörlich Zeichen. Er formte mit den Händen ein rundes Gebilde und zeigte Gremen, daß dies von oben herab gekommen war. War etwas vom Tor herabgefallen? Von weitem schon war Lärm zu hören. Eine beachtliche Menge strömte in Richtung Tor und machte respektvoll Platz, als Gremen, inzwischen im Laufschritt, herankam. Der Lehrer erkannte Torwächter, die am Boden lagen und sich stöhnend aufzurichten versuchten. Er beachtete sie nicht und zeigte mit keiner Miene, was er davon hielt. Es war nicht gut, wenn man zu deutlich zeigte, was man dachte. Und Gremen wußte, warum die Wächter bewußtlos geschlagen worden waren, denn Gremen zählte zu den Verschwörern. Das Tor war weit geöffnet. Schatulla-Leronen drängten sich draußen auf der Straße, aber sie befanden sich bereits auf dem Rückzug. Gremen vernahm Schreckensrufe und Gebete, und er breitete die Arme aus und arbeitete sich wie ein Schwimmer gegen den Strom voran. Etwas ging da vor, und er hätte nur zu gern gewußt, was es war. Als er sich endlich Luft verschafft hatte und den Saum der Straße erspähte, da hatte er Dadamda längst aus den Augen verloren. Der Stumme war von ihm abgedrängt worden und befand sich irgendwo in der Menge. Gremen starrte zu den Felsen hinüber. Etwa zweihundert Manneslängen von der Stadt entfernt ruhte ein fremdartiges Gebilde. Es sah aus wie ein mächtiger Fels, der vom Himmel gefallen war. Das Verrückte war die gleichmäßige Form überall. Es erweckte den Eindruck, als sei es von kunstvoller Hand geschliffen worden. Gremen kannte die handwerklichen Fertigkeiten der Steinschleifer und Holzschnitzer. Auch der Gedanke, daß das Ding aus Holz sein könnte, war irgendwie abwegig. Es war über zehn Manneslängen hoch und über zwanzig breit. Es ruhte am Boden und berührte ihn doch nicht. Es schwebte. Dem obersten Lehrer der Kriegerschule Schatullas fielen fast die Augen aus dem Kopf. Seine Lider vollführten einen rasenden Wirbel der Nervosität, der ihn benommen machte. Er wischte sich über die Augen und betrachtete dann wieder dieses dunkle, glänzende Ding. Ein Blick zurück belehrte ihn, daß sich alle Leronen in die Stadt zurückgezogen hatten. Nur der Stumme lugte noch aus dem Tor hervor und verhinderte, daß es zugeschlagen und verriegelt wurde. »Krieger!« ächzte Gremen. »Hole die Krieger!« Der Stumme verschwand, und jetzt war der Lehrer wirklich mit dem unheimlichen Ding allein. Es war unnatürlich und fremd. Irgendwie fühlte er sich von dem Ding bedroht, und in diesen Augenblicken wäre er froh gewesen, wenn er den Rat eines Priesters hätte einholen können. Es war ihm nicht möglich, und so tat Gremen das, was ihm übrigblieb. Er stand da und wartete. Er wagte es nicht, näher an das Gebilde heranzutreten oder um es herumzugehen. Seine Gedanken schweiften
ab und blieben bei dem Vulkan und seiner Glut hängen. Vieles, was die Priester sagten und gesagt hatten, war in letzter Zeit in Zweifel gezogen worden. Es war die Frage gestellt worden, ob das Verschwinden Manache Lerons ein Segen oder ein Fluch für Leron sei. Die Frage stand unbeantwortet im Raum. Der dunkle, gleichmäßige Fels rührte sich nicht. Er gab keine Antwort auf die lautlose Frage des Schatulla. Und er berührte noch immer nicht den Boden. Aber an seiner Unterseite veränderte sich etwas. Es schob sich dem Boden entgegen, und es sah aus wie eine Zunge, die ein körperloses Insekt aus seinem Kopf ausfuhr. Hastig wich Gremen bis zum Tor zurück und stellte fest, daß es inzwischen von innen verriegelt worden war. »Öffnet!« ächzte er, doch er bekam keine Antwort. Die Angst lähmte die Zunge des Schatulla. Sie hatten ihn ausgesperrt. Gremen schluckte schwer. Er versuchte, den letzten Rest seiner Kriegerehre, den er in sich trug, festzuhalten und am Entweichen zu hindern. Der Vorgang an dem gleichmäßigen Gebilde lenkte ihn ab. Die Zunge war zum Stillstand gekommen, und er sah einen Schatten, der auf ihr herabrutschte, dann einen zweiten und dritten. Die Schatten lösten sich von dem Gebilde und traten in die Morgensonne hinaus. Gremen zweifelte an seinem Verstand. Das Ding hatte drei Lebewesen ausgespien, und sie bewegten sich, als sei ihnen nichts geschehen. Sie machten einen lebendigen, unverdauten Eindruck, und sie wirkten auf Gremen unsäglich fremd. Die Tatsache, daß sie nicht gleich waren, verwirrte ihn. Er wich vom Tor und der Straße ab und zog sich entlang der Stadtmauer zurück. Es sind Puppen, redete er sich ein, bewegte Puppen. Ein hölzernes Werk läßt sie laufen. Jemand will uns einen Streich spielen. Kurzzeitig dachte er an die Sittenstrolche, aber dann wurden seine Augen wieder von dem dunklen Gegenstand angezogen, und er hörte eine wohlklingende Stimme in der Sprache der Leronen sagen: »Wie heißt du? Meine Insassen möchten gern mit dir reden. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind friedliche Reisende!« Die Stimme war von dem Gebilde gekommen, nicht von einer der Gestalten. Gremens Gedanken begannen Kapriolen zu schlagen. Er bedauerte es jetzt, daß er sich auf die ketzerischen Gedanken eingelassen hatte, die in der Verschwörung gepflegt wurden. Er wünschte sich weit weg, aber der Wunsch blieb Vater des Gedankens. Seine Füße waren mit einemmal schwer wie Fels und schienen am Boden zu kleben. Das einzige, was sein Verstand noch akzeptierte, war der Ausdruck Reisende. »Gremen!« ächzte er. »Ich bin der Kriegerlehrer Gremen!« »Gut, Gremen. Setze dich. Siehst du, gleich sind die drei bei dir. Hab’ keine Angst. Es geschieht dir nichts. Sieh sie dir genau an. Sie nennen sich Atlan, Mrothyr und Chipol. Mrothyr ist noch der kämpferischste unter ihnen.« Aus aufgerissenen Augen beobachtete Gremen die Fremden. Noch immer hatte er Mühe, das sprechende Ding als das zu akzeptieren, was es war. Es mußte aus dem Himmel gefallen sein. Und aus dem Himmel konnte nur etwas kommen, was Ler-Ont geschickt hatte. Endlich sah er den Weg, der ihn vor dem Wahnsinn rettete. Ler-Ont hatte seine Boten geschickt. Als er durch das Tor kam, hatte er etwas von einem leuchtenden Ball gehört, der sich herabgesenkt hatte. Er streckte beide Hände vor und deutete auf den Fremden mit dem maskenhaften Gesicht. »Du mußt Gulbert Leron sein«, stieß er hervor. »Und du mit den schmalen Augen der Lenker des Feuerwagens!« Natürlich. Am Firmament war es hell, da mußte der Wagenlenker die Augen zusammenkneifen, um etwas zu sehen und den Wagen auf seiner Bahn zu halten. Er starrte zu dem dunklen Gebilde, das angeblich geglüht hatte. Dann wanderte sein Blick hinauf
zum Himmel, wo die Sonne hing. Sie hatte sich nicht verändert. Sie zog ihre Bahn ohne den Lichtboten Ler-Onts und ohne den Lenker des Wagens. Warum nicht. Ler-Ont lenkte mit seiner göttlichen Allmacht. Gremen sank langsam zu Boden, und die drei Fremden taten es ihm nach. Er musterte nun auch den dritten, dessen lange, weißglänzende Haare ihm besonders auffielen. »Wer bist du?« stammelte er, und im selben Augenblick glaubte er die Antwort gefunden zu haben. »Du bist Manache Leron! Du bist zurückgekehrt!« Seitlich von seiner Position aus wurde das Tor vorsichtig geöffnet. Krieger drängten heraus und blieben zögernd stehen, als sie ihn sitzen sahen. Er winkte ihnen fahrig zu, und sie kamen langsam herbei, als müßten sie sich über heißen Vulkanboden tasten. »Ich weiß zwar nicht, wer Manache Leron ist«, sagte der Silberhaarige in der Sprache der Leronen. »Aber ich erkenne deinen Willkommensgruß. Ich heiße Atlan. Du hast meinen Namen und die meiner Begleiter bereits gehört. Das Schiff hat sie dir genannt!« Schiff! Gremen starrte fassungslos hinüber zu dem Gebilde. Das sollte ein Schiff sein. Er wußte, daß die Leronen an der Küste des Ozeans Schiffe benutzten, um in Sichtweite der Küste über das Wasser zu fahren. Ein paar hatten sich auch schon den Schluchten und Schrunden an der Felsmauer zum tiefen Schlund genähert und waren von der Brandung über die Riffe und hinab in den unendlichen Abgrund gerissen worden. Schiffe, die durch die Luft fuhren, gab es nicht. Und nie hatten die Priester etwas von der Gestalt der Götterboten erzählt. Gremen wischte alle seine Kenntnisse zur Seite. Nur wenn er die Eindrücke ohne Vorbehalt verarbeitete, konnte er das Richtige finden. Und er fand es. »Es sind nicht nur eure Namen, die nicht stimmen«, erklärte er, so daß es alle hören konnten. Hinter dem Tor vernahmen sie seine friedliche Stimme und kamen neugierig heraus. Die Schatulla begriffen, daß es keine Gefahr gab. »Es sind noch andere Dinge«, fuhr Gremen fort. »Ich bekenne öffentlich, daß die Priester uns belogen haben. Sie haben uns über viele Generationen Märchen erzählt. Alles, was sie über die Götterboten berichteten, stimmt nicht. Nie erwähnten sie ein Luftschiff, nie verkündeten sie, daß Gulbert Leron einen anderen Namen besitzt und mit einem Teil seines Wagens zu uns herabsteigen kann. Und sie haben bestimmt auch gelogen, als sie uns vom Verschwinden Manache Lerons erzählten. Manache ist Atlan, oder Atlan ist Manache, es spielt keine Rolle. Höre, Volk von Leron, daß du betrogen worden bist. Du wirst dich aufmachen müssen, um mit der Kaste deiner Priester und ihrer Zynik abzurechnen. Du wirst ihre Greueltaten aufdecken und den Leichnam des Gresti finden, den sie in ihren Gewölben zu Tode gefoltert haben. Du wirst sie dafür strafen, was sie an dir und an Ler-Ont verbrochen haben. O Gottheit unseres Volkes. Wenn du siehst und durch deine Boten erfährst, wie man dich geschmäht hat, dann wirst du deinen Zorn erheben und die Tempel und ihre Insassen verbrennen, wo du sie findest. Aber verzeih deinem Volk, denn es ist belogen und getäuscht worden!« Er hatte sich in Fahrt geredet. Viele Dinge, die ihm seit Jahren auf der Zunge und im Herzen brannten, wurden mit einemmal frei. Er erhob sich und wendete den Leronen sein dunkel gewordenes Gesicht zu. »Wir wissen nicht, was du meinst, deshalb halte ein«, sagte Atlan. »Du irrst dich, wenn du uns für Boten…« »Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Gremen ehrerbietig. »Ich bin nur ein Lehrer der Krieger und
kein Philosoph. Aber ich besitze einen gesunden Leronenverstand, und dieser sagt mir, daß Ler-Ont ein allwissender Gott ist. Er läßt uns nicht im Stich, und er hat uns im rechten Augenblick seine Boten gesandt. Seid deshalb willkommen in unserer Stadt. Schatulla wird an Größe und Ruhm zunehmen.« »Daran soll es nicht fehlen«, sagte der Bote namens Atlan. »Aber bitte glaube uns, daß wir nichts mit eurem Gott und seinen Boten zu…« Seine Worte gingen im einsetzenden Gesang der Leronen unter. Gremen entfernte sich unter mehrfachen Verbeugungen von ihnen und suchte Dadamda auf. Der Stumme hielt ihm ein Pergament entgegen. »Die Priester verstecken sich. Sie haben durch ihre Diener bereits erfahren, was vor sich geht. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen«, hatte Dadamda darauf geschrieben. »Sie haben Angst!« »Das ist das Geständnis!« verkündete Gremen laut. »Damit geben sie es zu. Sie glauben selbst nicht an das, was sie uns gelehrt haben!« Die drei Boten Ler-Onts hatten sich erhoben und standen unschlüssig bei den Kriegern. Sie wollten reden, aber noch immer dröhnte der Gesang und wurde von der Stadtmauer gewaltig reflektiert. »Kommt in die Stadt. Kehrt ein in meinem Haus!« rief Gremen und eilte zu Atlan, Mrothyr und Chipol zurück. »Wir kommen. Aber nur, wenn wir auf eigenen Beinen gehen dürfen. Wir sind keine Götter!« erklärte Mrothyr. »Es gibt nur einen Gott. Ler-Ont!« bestätigte Gremen feierlich und bemerkte nicht das weinerliche Gesicht, das der Bote mit dem Weißhaar machte. * Zwei Stunden später kehrten Segon, Gardra und Tifir in die Stadt zurück. Sie taten es heimlich, und die Umstände halfen ihnen dabei. Die Torwächter standen nicht auf ihren Posten, und das war kein Wunder. Die Ankunft der Götterboten hatte den Tagesablauf der Schatulla-Leronen ganz gehörig durcheinandergebracht. Kein einziger Einwohner befand sich in den Außenbezirken, alle konzentrierten sich in jener Gegend, in der Gremens Haus lag. »Vergeßt, was ich über Manache Leron sagte«, flüsterte Gardra, als sie in einer der engeren Gassen verschwunden waren. Tifir schritt mit angelegtem Bogen voran und hielt nach Priestern und Tempeldienern Ausschau. »Ich habe mich getäuscht. Die Ankömmlinge können nichts mit Ler-Ont zu tun haben!« Aus ihrem Versteck hatten sie die Ankunft des fremdartigen Gebildes miterlebt und die Wesen aussteigen sehen. Noch nie hatten Leronen fremde Wesen zu Gesicht bekommen. Sie lebten in ihrer Religion, die ihnen sagte, daß es den Planeten Leron und die Sonne Gulbert Leron gab. Darum herum befand sich das Himmelsgewölbe mit den Sternen daran. Hätte jemand behauptet, daß es irgendwo weitere Planeten gab, auf denen Intelligenzen ähnlich den Leronen lebten oder mit unterschiedlichem Aussehen, die Priester hätten ihn als Ketzer verschrien und ihn in den Tempel geholt, um ihn mundtot zu machen. Gardras Worte waren dementsprechend ketzerisch. Tifir blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Was meinst du?« stieß er betroffen hervor. »Was sind sie dann, wenn nicht Götterboten?« »Erinnert euch, was wir in der Höhle sprachen. Denkt an die Widersprüche der Geschichte mit Gulbert und Manache. Welcher Lerone würde selbst so handeln? Die beiden Götterboten haben sich wie Ketzer benommen. Und doch lehren uns die Priester, daß es so war. Sie sagen, daß wir den
Regeln Ler-Onts folgen müssen. Warum aber taten Gulbert und Manache das nicht? Vergeßt nicht den Verdacht von der Unnatürlichkeit des Vorgangs. Daß einer von uns zum Heiligen Berg wandert und versucht, die Gottheit zu befragen, ist jetzt nicht mehr gut möglich. Unsere Aufgabe ist hier. Versteht ihr? Wir haben eine Aufgabe!« »Ich weiß, was du meinst«, nickte Segon. »Du willst uns klarmachen, daß es unsere Aufgabe ist, die Gotterboten zu entlarven. Wir sollten Atlan nach dem Beinamen von Manache Leron fragen. Wenn er Manache ist und die Priester diesen Namen nur erfunden haben, dann wird er die Antwort wissen. Es gibt keinen Götterboten ohne Beinamen.« »Und wenn Atlan ihn nicht weiß?« Tifirs Stimme klang schrill. »Dann ist er oder sie nicht Manache, sondern etwas Unnatürliches. Etwas, was sich nicht mit dem Glauben an Ler-Ont vereinbaren läßt.« Manache Leron als Spenderin kalten Lichts! Ein weibliches Wesen ohne Gefühlswärme. So etwas war nicht vorstellbar. Und waren nicht die Gesichtszüge des Wesens mit dem weißen Haar hart und unweiblich? War Atlan ein männliches oder weibliches Wesen? Gardra blieb stehen. Ihr Verstand hatte soviel zu verarbeiten, daß sie nicht wußte, wo sie anfangen sollte. Sie überlegte und überlegte, und sie fand keinen Gedanken, der sie zufriedengestellt hätte. Warum hatten sich die Priester nicht zum Empfang der vermeintlichen Gotterboten eingefunden? Da gab es einen Widerspruch, und die junge Schatulla empfand ihn besonders deutlich. Sie setzte sich wieder in Bewegung, weil Segon sie mit sich zog. »Wir glauben, daß die Priester die Unwahrheit sagen«, dachte sie laut. »Wir suchen nach etwas Unnatürlichem. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder haben die Priester uns wirklich belogen, dann haben sie ein schlechtes Gewissen und sind deshalb nicht erschienen. Oder sie berichten die Wahrheit und wissen, daß die Fremden keine Götterboten sein können. Ich glaube, wenn wir dieser Spur folgen, kommen wir der Wahrheit am nächsten.« »Du willst damit sagen, daß sie keine Götterboten sind. Woher kommen sie dann? Vergißt du das sprechende Ungetüm, das noch immer da draußen liegt? Es hat uns beobachtet. Wir sind ihm entronnen.« Gardra blickte Segon aus geweiteten Augen an. »Nehmen wir es einfach als eine Möglichkeit. Denken wir, daß sie irgendwo auf unserem Planeten leben. Sie sind keine Leronen. Hat Ler-Ont sie einst bestraft? Sind sie die Kinder Manaches und leben in der Tiefe des Schlundes? Die Ketzer behaupten, jenes Loch sei dadurch entstanden, daß Manache auf den Planeten herabstürzte.« »Wir werden die Boten danach fragen.« Tifir beschleunigte seine Schritte. »Wir brauchen Gewißheit. Aber wir dürfen es nicht öffentlich tun. Wenn die Priester wirklich im Recht sind, würden sie uns nicht ungeschoren lassen. Vergeßt nicht, daß sie uns bereits suchen.« »Wie willst du es tun? Wie willst du gegen götterähnliche Kräfte ankommen?« Segon war verunsichert. »Wenn sie keine Götterboten sind, haben sie auch keine anderen Kräfte als wir. Wir werden uns einen von ihnen schnappen!« Segon schwieg. Wenn sie sich täuschten, dann konnten sie immer noch um Verzeihung bitten. Das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, war eine Strafe durch die Boten. Und das war genau so schlimm wie eine Bestrafung durch die Priester. Sie drangen weiter in die Stadt vor bis zu ihrem Ziel. Eine unüberschaubare Menge umlagerte die Gegend, in der Gremens Haus stand. Die drei Jugendlichen drängten sich zwischen die Artgenossen und arbeiteten sich mühsam voran. Sie halfen mit den Ellenbogen nach, und ab und zu handelten sie sich böse Worte und Püffe ein. Sie ertrugen es mit Gelassenheit, denn ihre Gedanken weilten in
anderen Regionen. Sie zählten nicht die Sandkörner, die durch die Uhren rieselten. Irgendwann tauchte der mit geschnitzten Speeren und Pfeilen geschmückte Giebel in ihrem Blickfeld auf, und ein Viertel Sandzeit später standen sie vor dem Tor und blickten in das finstere Gesicht des Stummen. »Wir müssen dringend Gremen sprechen«, log Segon. Der Stumme streckte ihm die Handflächen entgegen, ein Zeichen der Ablehnung. Seine Augen musterte sie aufmerksam. »Wir sind Segon, Gardra und Tifir«, fügte das Mädchen hinzu. »Es ist wichtig für Gremen, Schatulla und ganz Leron!« Dadamda verschwand durch das Eingangstor. Sie hörten, wie die Riegel einrasteten. Er hatte das Tor verschlossen. Sie blieben stehen und warteten. Der Sandvogel in seinem Uhrenkäfig hoch auf dem Podest über dem Tor blinzelte nervös. Er war den Leronenauflauf nicht gewohnt. Er versäumte beinahe das Umdrehen der Sanduhr. In der Zwischenzeit war eine halbe Sandzeit vergangen, und noch immer warteten sie. Endlich kam Dadamda. Hatten die drei Jugendlichen erwartet, Gremen persönlich zu sehen, täuschten sie sich. Der Stumme winkte ihnen, und sie folgten ihm unter dem ärgerlichen Gebrumm der Menge in das Haus. Dadamda führte sie in einen Nebenraum, in dem über einem offenen Feuer eine Suppe in einem Kessel kochte. Der Stumme deutete auf die Schüsseln und machte die Geste des Trinkens. Dann entfernte er sich. »Das ist die Gelegenheit!« zischte Tifir. »Eine bessere kommt nicht wieder. Wartet hier. Ich sehe mich um!« Er entfernte sich lautlos, und Segon und Gardra griffen nach den Schüsseln und tranken ein wenig Suppe. Sie hatten die Schüsseln noch nicht richtig geleert, da kehrte Tifir bereits zurück. Sie folgten ihm hinaus. Gremens Haus war ein großes Gebäude. Es gab mehrere Korridore und einen Säulengang, der den Innenhof begrenzte. Im Innenhof selbst war ein Feuer entfacht worden, um das sich die Leronen drängten. »Dort drüben sitzen sie! Wir müssen warten, bis die Aufmerksamkeit der Schatulla ein wenig nachläßt.« »Du willst ihn vom Feuer wegholen?« hauchte Segon. »Das ist zu gefährlich. Gremen wird es nicht zulassen!« Sie versteckten sich in einer Nische, in der sie vom Korridor aus nicht gesehen wurden. Sie suchten nach Dadamda, aber der Stumme hielt sich nicht im Innenhof auf. Die drei Jugendlichen warteten angestrengt. Der Zufall kam ihnen zu Hilfe, und diesmal war es Gardra, die der eigentliche Auslöser war. »Da!« flüsterte sie. »Der Bote mit den Schlitzaugen. Er verläßt das Feuer. Er kommt hierher!« Sie beobachteten den Fremden, der sich langsam vom Feuer entfernte und die Kühle des Säulengangs aufsuchte. Die Schatulla verfolgten ihn mit den Augen, aber sie wagten es nicht, den Götterboten nach seinen Absichten zu fragen. Segon und Tifir verließen die Nische, Gardra folgte ihnen. Sie traten dem Fremden entgegen, der anhielt und sie musterte. »Bist du tatsächlich ein Götterbote?« fragte Tifir leise. »Ist das da drüben Manache Leron?« Der Fremde schüttelte den Kopf, eine Geste, die der Lerone nicht verstand. Er war ratlos, dann aber erinnerte er sich an ihr eigentliches Vorhaben. »Folge uns unauffällig«, sagte er. »Wir haben mit dir zu reden!« Er verschwand in einem Seitengang, und der Fremde ging mit ihm. Segon und Gardra folgten und
bildeten den Abschluß. Durch eine Seitentür verließen sie das Haus und tauchten in einer leeren Gasse unter, die ihrerseits gegen die Straße durch eine Tür getrennt war. Tifir schlug die Richtung zu Gardras Haus ein. Sie hatten Glück. Niemand bemerkte sie, und sie erreichten das Haus und führten den Götterboten die Leiter hinauf bis in Gardras Zimmer. Nicht einmal die Familie des Mädchens bemerkte, daß jemand gekommen war. Tifir ließ seine Begleiter vorbei. Er nahm den Bogen, legte einen Pfeil auf und spannte die Sehne. »Du bist jetzt unser Gefangener«, verkündete er dem Überraschten. »Wenn du fliehen willst werde ich schießen!« Etwas wie ein Grinsen huschte über das Gesicht des Fremden. Erst jetzt sah Tifir, daß er jugendlich aussah, gar nicht wie ein Erwachsener. Erst jetzt spürte er auch, daß seine eigenen Knie und die Arme zitterten. Kam jetzt die Antwort? Wo blieb die Strafe für das Sakrileg? Die drei Jugendlichen standen stumm da. Sie warteten auf ein Zeichen, auf einen Blitz oder einen Feuerstrahl, der Tifir entgegenzuckte und ihn verzehrte. Nichts geschah. Der Fremde begann in einer fremden Sprache zu reden, und etwas, das wie Schmuck aussah und an seinem rechten Ohr baumelte, sprach in der Sprache der Leronen zu ihnen. »Ich habe nicht vor zu fliehen«, verstanden sie. »Was wollt ihr von mir?« Verwirrt ließ Tifir den Bogen sinken.
4. Die STERNSCHNUPPE drang in die Atmosphäre des Planeten ein und umrundete ihn einmal. Leron bestand aus einer ausgedehnten Wasserfläche, in der wie ein Edelstein eine einzige grüne und braune Landmasse lag. Sie war ihr Ziel, und während das Schiff nach unten sank, tastete es die Oberfläche ab und teilte ihnen die Ergebnisse seiner Beobachtungen mit. Demnach gab es auf dem Kontinent mehrere Siedlungen, die aus Holz oder Lehm gebaut waren, kleine Städte, die eindeutig das Vorhandensein einer intelligenten Lebensform bestätigten. Der Erleuchtete sucht sich selbstverständlich Welten mit intelligenten Lebensformen aus, meldete sich Atlans Extrasinn. Du mußt damit rechnen, daß du auf ein Volk triffst, dessen Psipotential vom Erleuchteten bereits vereinnahmt wurde. Das, was die STERNSCHNUPPE als mentales Hintergrundrauschen bezeichnet hat, könnten die Reste davon sein. Sie flogen über dschungelähnlichen Wald dahin, der weite Teile des Kontinents bedeckte. Nur im Osten gab es mehrere gebirgige Regionen, aber auch da waren die Täler von Wäldern bedeckt. Das Gras reichte bis weit hinauf zu den Berggipfeln. Auch gab es vulkanische Tätigkeit auf dieser Welt. »Keine Anzeichen für etwas Fremdes?« fragte Mrothyr ungläubig. »Irgendwo muß der Erleuchtete doch stecken!« »Keine Anzeichen«, erwiderte das Schiff. »Es gibt wohl keinen Erleuchteten hier.« »Dann sind die Koordinaten falsch«, behauptete Chipol. Der junge Daila musterte mit brennenden Augen den Bildschirm, als könnte er aus dieser Höhe eine Spur seiner Familie entdecken. Vielleicht dachte er, daß das mentale Hintergrundrauschen, das das Schiff festgestellt hatte, mit den Sayums zusammenhing. Atlan glaubte nicht an so etwas. Wenn, dann verhielt es sich so, daß der Erleuchtete sich längst der Psipotentiale der gesamten Familie bemächtigt hatte. Wieder einmal wurde der Arkonide an seine Erlebnisse auf Boden erinnert. In der Sonnensteppe Alkordooms war er mit seinen Begleitern auf die Plasma-Psi-Torsi gestoßen, jene bedauernswerten Kreaturen, die der Erleuchtete als Abfall behandelt hatte. Seit jener Zeit hatte Atlan gewußt, daß EVOLO etwas mit Psi zu tun hatte, und er konnte sich ungefähr ausrechnen, welche Gefahr für diesen Teil des Universums sich zusammenbraute. In Manam-Turu potenzierte sich diese Gefahr noch. Zwar lag das Wirken des Erleuchteten im Gegensatz zu Alkordoom hier größtenteils im verborgenen, aber die Hyptons versuchten, sich mit diesem Wesen zu verbinden. Da bereits einiges über die Hyptons und ihre Absichten bekannt war, stellte EVOLO im weiteren Sinn also auch eine Bedrohung für die Galaxis Milchstraße dar, und hier war Atlan ganz persönlich abgesprochen. Er war der einzige Vertreter dieser Galaxis und durfte ihre Interessen nicht hintenan stellen. Und er fragte sich, ob die Kosmokraten davon gewußt hatten, als sie ihn nach Manam-Turu versetzt hatten oder jemand den Auftrag gegeben hatten, dies zu tun. »Ein seltsamer Berg, der dort mitten in dem Tal aufragt«, sagte Mrothyr. Der Zyrpher hatte sich halb vom Bildschirm abgewendet, wohl weil ihn die gelben und roten Lichtkaskaden aus jenem Tal blendeten. Der Berg besaß die Form eines Halbmonds, und er ragte wie ein Sockel über das Tal empor. Seine Wände waren steil, fast senkrecht, und auf seiner Oberseite wuchs deutlich sichtbar eine MakroSchlingpflanze mit schwarzen Blüten. Die Fläche des Beiges und ihre Form hob sich schon deshalb weit sichtbar von der Umgebung ab. Er hat dieselbe Form wie Traykons Amulett, stellte der Extrasinn fest. Atlan betrachtete das Amulett aus den Schätzen der Piraten und ließ es sich von dem Roboter geben. Es wog seltsam leicht in seiner Hand, Atlan erkannte sofort, daß es kein Platin war, aus dem
es bestand, sondern nur so aussah. Es war ein ihm unbekanntes Material. Die Form deutete auf einen Zusammenhang hin. »Umfliege das Tal, Schiff«, riet der Arkonide. »Wir kommen sonst in Teufels Küche!« »Ich war zwar noch nie in Teufels Küche, aber es würde mich interessieren, wie es dort aussieht«, gab die STERNSCHNUPPE zur Antwort. Sie beschrieb einen Bogen mit einem ungefähren Radius von fünftausend Kilometern und setzte ihren Flug in Richtung Osten fort. Der Urwald blieb zurück, und das Schiff näherte sich einer Hügelkette, die im Norden von einem Vulkan begrenzt wurde. Jenseits des Vulkans lag auf einem Hochplateau eine Stadt. »Steuere das Plateau an«, sagte der Arkonide. »Es wird Zeit, daß wir Kontakt mit den Bewohnern dieses Planeten knüpfen. Sie müssen etwas wissen, sie müssen das Hochtal kennen.« »Es war zwar optisch nicht viel auszumachen«, pflichtete Mrothyr ihm bei, »aber der Berg eignet sich gut als Versteck.« »Ich habe auch noch eine Information«, sagte das Schiff. »Das Hintergrundrauschen, das ich feststellte, besaß in der Nähe des Berges seine bisher höchste Intensität.« Das war die Spur. Atlan war sich jetzt ganz sicher, daß er hier richtig war. Die von Traykon übermittelten Daten stimmten. Hier irgendwo steckte etwas, was mit dem Erleuchteten zu tun hatte. Vielleicht sogar der Erleuchtete selbst. Oder EVOLO? War der Berg das Versteck für EVOLO? »Drei Personen am Steilhang vor der Stadt. Landen wir?« fragte das Schiff. Atlan bestätigte es, und die STERNSCHNUPPE senkte sich vorsichtig auf das Plateau hinab. Hundert Meter von der Stadt entfernt blieb sie einen Meter über dem Boden schweben. Ihren Schutzschirm hatte sie längst ausgeschaltet, und sie berichtete den vier Insassen über die Reaktion der einheimischen Intelligenzen draußen. Es handelte sich um hominide Wesen, und sie unterhielten sich in einer schnalzenden, hektischen Sprache. Der Translator des Schiffes arbeitete auf Hochtouren, aber die aufgefangenen Gesprächsfetzen waren nicht ausreichend für eine Entschlüsselung der fremden Sprache. Die Landung des Schiffes war auch in der Stadt nicht unbemerkt geblieben. Ein Tor öffnete sich, und dahinter drängten sich die Einheimischen. Atlan wies das Schiff an, sich nicht zu rühren und nichts zu unternehmen. Er versuchte, die Kultur dieser Wesen einzuschätzen, aber es gelang ihm nicht. Die Bauweise der Stadtmauer ließ nicht auf den Wissensstand der Einwohner schließen. Nach längerer Zeit tauchte ein einzelnes Wesen auf. Die STERNSCHNUPPE holte es mit der Teleoptik heran, und die drei Gefährten erblickten ein Wesen, das ungefähr einen Meter siebzig groß war und von seinem Aussehen her an terranische Pygmäen erinnerte. Sein Körper war behaart und wurde von den Hüften abwärts von einem gelben Rock bedeckt, der bis fast zu den Knien reichte. Die pelzähnliche Behaarung war auf dem Kopf besonders dicht, und Atlan dachte, daß sich hier ein Zusammentreffen der Dichtbehaarten anbahnte, und warf einen schmunzelnden Seitenblick auf Chipol und Mrothyr. Eine Ausschnittsvergrößerung des Wesens zeigte einen nahezu kugelrunden Kopf mit einer scharfrückigen Nase und weiten, kleinen Hautlappen ähnlichen Nasenflügeln, die weit geöffnet und geschlossen werden konnten. Der Mund glich einer runden Öffnung, die der Einheimische kurzzeitig so weit in die Breite zog, daß die spitzen Ohren fast bis zu den Wangenknochen wanderten. Die Außenmikrofone der Sternschnuppe übertrugen das heftige Atmen des Wesens, das ein paar Worte sprach. »Wir steigen aus!« entschied Atlan. »Traykon bleibt im Schiff. Er würde diesen Wesen nur einen unnötigen Schrecken einjagen!« Die STERNSCHNUPPE ließ die Rampe der Bodenschleuse ausfahren, und die drei Insassen machten sich auf den Weg. Sie traten hinaus, und das Schiff ergriff die Initiative und sprach zu dem
Wesen. Inzwischen war es ihm gelungen, die Sprache zu entschlüsseln, aber es benötigte noch mehr Informationen für eine sinnvolle Kommunikation. Das Wesen, mit dem sie sich konfrontiert sahen, trug den Namen Gremen. Die STERNSCHNUPPE ging sehr bestimmt, aber auch sehr vorsichtig vor. Sie beschränkte sich auf knappe Worte und auf die Namen. Und sie prüfte genau jede Reaktion des Wesens. Jede Muskelbewegung, jedes Gesichtszucken wurde von ihr auf optischem Weg in alle Einzelbewegungen zerlegt und analysiert. Sie war verpflichtet, Atlan und dessen Gefährten sofort zu warnen und einen Schirm um sie aufzubauen, wenn ihnen Gefahr drohte. Der Einheimische dachte jedoch nicht daran, sich seines Bogens zu bedienen. Er setzte sich, weil er dazu aufgefordert wurde. Zuvor aber sagte er etwas, und eines der Worte lautete »Leron«. Da war es also, das Wort. Und Atlan sah seine Gefährten an. Sie wußten jetzt endgültig, daß sie auf diesem Planeten richtig waren. »Vorsicht mit allem, was ihr sagt«, flüsterte er Mrothyr und Chipol zu. »Wir dürfen uns keine Blöße geben!« Langsam kam eine Unterhaltung in Gang. Atlan merkte sehr schnell, daß der Eingeborene namens Gremen sich auf einem beinahe steinzeitlichen Niveau befand und sie als Götterboten betrachtete. Er wollte Einspruch dagegen erheben, aber nach einer Weile begriff er, daß das keinen Sinn hatte. Das Volk von Leron, wie sie sich nannten, war auf diesem Ohr taub. Es war nicht in der Lage zu begreifen, daß es mit Wesen konfrontiert wurde, die von einem anderen Planeten stammten. Die drei wurden als Götterboten in die Stadt geholt und in das Haus Gremens geschafft. Die Männer und Frauen brachten ihnen Sympathie und Verehrung, aber auch Skepsis und Mißtrauen entgegen. Insgesamt jedoch waren sie neugierig. Es fehlte ihnen jedes bösartige Denken. Zumindest glaubte Atlan dies zunächst und sollte es viel später auch bestätigt finden. Im Zeitraum dazwischen jedoch ereigneten sich Dinge, die ihn daran zweifeln ließen. Im Innenhof wurde ein Feuer entfacht. Die drei Raumfahrer wurden fürstlich bewirtet, und sie machten von der gebotenen, Gastfreundschaft zunächst ausgiebigen Gebrauch. Schließlich ergriff Gremen das Wort. »Verzeiht meine Ungeduld, Götterboten«, erklärte er. »Wir sind froh, daß ihr gekommen seid. Es ist der richtige Zeitpunkt. Die Priester haben sich versündigt. Nicht nur an den Schatulla, sondern an allen Stämmen. Sie haben ihnen die Unwahrheit gesagt!« Atlan schluckte. Er mußte das Mißverständnis ausräumen und dabei darauf achten, daß er das Weltbild der Eingeborenen nicht völlig durcheinanderbrachte. »Vielleicht haben die Priester euch das Richtige erzählt«, begann er. Der Translator übersetzte seine Worte umgehend. »Vielleicht versteht ihr es nur nicht. Berichte uns alles, was du weißt. Erzähle, wie eure Religion und eure Lebensanschauung aussieht.« Und Gremen erzählte. Er sprach von den Sagen und Märchen, von den Gesetzen des Zusammenlebens und von Gulbert und Manache Leron. Er lieferte einen Umriß über die Existenz des Volkes von Leron mit seinen Stämmen, und er erzählte auch von seinen Zweifeln, die nicht nur die seinen waren, sondern die von vielen Leronen in den Städten und Wäldern. Er zählte die Indizien auf, die ihn zum Zweifler gemacht hatten, berichtete von dem Standbild Manache Lerons, das es angeblich nicht gab, und von den Leronen, die in den Tempel gegangen und nie mehr herausgekommen waren. Und er schilderte, was er von den Ketzern über den Schlund wußte. »Was ist die Wahrheit?« fragte er heiser. »Wie soll unser Volk sie verstehen?« »Vielleicht liegt die Wahrheit in euch selbst«, sagte Atlan. »Oder ist sie vielleicht am halbmondförmigen Berg zu finden?« Gremen horchte auf. Seine Augen weiteten sich ein wenig. Seine Gesichtsfarbe veränderte sich
von einem mittleren zu einem dunklen Braun. »Am Heiligen Berg? Am Heiligen Berg ist nur Wahrheit. Ich sehe, du willst mich prüfen, Atlan. Bitte tu es. Ich werde Manache Leron Auskunft geben, so gut es geht.« »Erzähle mehr vom Heiligen Berg«, fiel Mrothyr ein. »Wie sieht es heute dort aus?« Gremen schilderte das Leben im Tal des Berges. Er zählte die Namen der Heiligen auf, die mit den Gesandtschaften der Leronen dort beteten. Von jedem Stamm hielten sich immer mehrere hundert Leronen dort auf, um im gemeinsamen Gebet die Gnade und die Gunst Ler-Onts herabzuflehen auf den Planeten und seine Bewohner. So war es schon immer gewesen, und Gremen bekräftigte rasch, daß es auch immer so bleiben würde. Nie würden die Leronen von ihrer Religion abweichen. »Ich begreife langsam, warum ihr gekommen seid. Unser Volk braucht die Stütze«, fügte er hinzu. »Nachdem unsere Priester versagt haben, werden wir euch an ihre Stelle setzen. Die Priester sollen büßen für ihre Schandtaten.« Er war derart von seinem Haß gegen die Priester gefangen, daß er die ihm sonst innewohnende Vorsicht vergaß. Er dachte nur noch an bessere Zeiten, und beinahe wäre er aufgesprungen und hätte allen verkündet, daß er zu den Verschwörern gehörte. Eine innere Stimme warnte ihn und verschloß ihm den Mund. »Wir sind nicht gekommen, um die Priester aus ihrer Stellung zu verdrängen. Aber wir werden mit ihnen sprechen müssen. Führt uns zu ihnen, sobald die Möglichkeit dazu besteht. Wir suchen etwas anderes. Wir suchen etwas Fremdes, das sich auf diesem Planeten befindet. Etwas, was sich vielleicht nicht direkt bemerkbar macht, sondern nur an seinen Wirkungen erkannt werden kann. Wissen die Leronen etwas darüber? Kennen sie sich in allen Bereichen ihrer Welt aus?« »Etwas, das nichts mit uns zu tun hat?« Gremen hob die Stimme. Er sprang plötzlich auf. Atlan sah sich um und stellte fest, daß Chipol nicht da war. Er hatte sich entfernt. Vermutlich suchte er ein stilles Örtchen. »Etwas, das nichts mit euch zu tun hat und noch nicht lange auf Leron ist!« bekräftigte Mrothyr. »So etwas suchen wir. Es wäre uns schon gedient, wenn wir einen Anhaltspunkt auf den Ort hätten, wo es sich befindet.« »Niemand weiß etwas davon. Aber ich habe von Jugendlichen gehört, die sich gegen die Lehre der Priester gestellt haben. Sie behaupten, daß die Vorgänge um Gulbert Leron und Manache Leron sowie einige andere Dinge des Ler-Ont-Kultes unnatürlich sind, daß sie einen künstlichen Ursprung haben müssen. Ist es das, was du meinst?« »Ja. Genau das ist es. Wir vermuten es.« »Kommt!« Gremen sprang auf. »Wir bringen euch zu den Priestern im Tempel. Ich werde euch führen. Die Volksverhetzer müssen mir Rede und Antwort stehen. Ich lasse mir die Genugtuung nicht entgehen!« Alle, die seine Worte gehört hatten, erschraken. Ein paar drängten sich an das Feuer heran und erhoben Einspruch. Lediglich die Anwesenheit der Götterboten hielt sie davon ab, handgreiflich zu werden. Ihre Anschauungen waren auf das Schlimmste verletzt worden, und Gremen entschuldigte sich bei ihnen. »Ihr werdet es bald besser verstehen«, sagte der oberste Lehrer des Kriegshandwerks. »Wartet, bis wir bei den Priestern waren!« »Wir wollen auf Chipol warten«, sagte Mrothyr. Sie taten es, aber der junge Daila war auch nach einer halben Stunde nicht zurück. Gremen schickte Dadamda mit einer Botschaft aus dem Haus und ließ nach dem Lenker des Feuerwagens suchen. Auch das brachte keinen Erfolg, und schließlich setzte Atlan sich mit Hilfe seines Armbandkoms mit der STERNSCHNUPPE in Verbindung.
* Der Tempel erhob sich am nördlichen Rand der Stadt. Er lag am oberen Ende eines leicht ansteigenden Platzes. Wenn man zu ihm wollte, mußte man aufwärts gehen und mehrere Dutzend Stufen bis zu der Säulenhalle hinaufsteigen. Hinter den Säulen ragte die Vorderfront des Gebäudes auf, nur durchbrochen von drei hohen Portalen, von denen die beiden seitlichen immer geschlossen waren. In dem mittleren war im linken Flügel eine kleine Tür eingelassen, und durch sie betraten Atlan, Mrothyr, Gremen und seine Begleiter das Innere des Heiligtums, das Ler-Ont geweiht war. Der Tempel war hell erleuchtet. Riesige Fackeln brannten an den Wänden, ihr Qualm zog durch Öffnungen in der Decke ab. Ein Geruch von Weihrauch lag über allem, und Gremen bewegte sich vorsichtig über den weiß leuchtenden Steinboden. Wie alle Leronen hatte er seine Waffen draußen abgelegt. Die Priester waren nirgends zu sehen. Sie hielten sich nicht im Tempel auf und waren folglich in den Gewölben unter dem Bau zu suchen. »Sind sie geflohen?« fragte Atlan. »Sind wir ihnen so furchterregend geschildert worden, daß sie es vorziehen, uns nicht zu empfangen?« Gremen gab keine Antwort, aber einer der anderen Schatulla-Leronen meinte: »Langsam beginnen wir zu glauben, daß Gremen mit seinen ungeheuerlichen Anschuldigungen recht hat. Noch nie ist es vorgekommen, daß ein Besucher des Tempels nicht von Priestern oder wenigstens von Tempeldienern in Empfang genommen worden wäre. Wißt, daß Besucher immer Gaben für Ler-Ont bringen, die von den Priestern in Verwahrung genommen werden. Meistens sind es Nahrungsmittel, von denen die Priester leben. Die Einwohner der Stadt sorgen dafür, daß es den Dienern des Gottes gutgeht.« Der Arkonide sah sich um. Keiner seiner Begleiter trug etwas bei sich. Diesmal war es also eine Ausnahme, diesmal wurde dem Anliegen eine andere Bedeutung beigemessen. Und die Priester wußten das. Mrothyr entfernte sich von der Gruppe und durchmaß den Tempel mit langen Schritten. Dicht vor dem großen Opfertisch unter der Nordwand blieb er stehen. Er untersuchte ein paar dunkle Spuren, die sich auf der Steinplatte abzeichneten. Er wischte mit den Fingern darüber und roch daran. Er umrundete den Tisch und kehrte danach wieder zu den Gefährten zurück. »Tierblut vielleicht«, sagte er. »Aber es ist alt. Heute ist auf diesem Tisch nichts geopfert worden. Gestern vielleicht!« »Der Gresti ist tot«, sagte Gremen unvermittelt. »Ich weiß es, ich kann es bezeugen. Warum das so ist, werde ich euch eines Tages sagen. Noch darf ich meinen Mund nicht auftun. Aber ich weiß, daß die Priester morden. Und wer außerhalb eines Kriegszugs tötet, handelt gegen die Gesetze unseres Gottes.« Er deutete hinüber, wo auf einem Sockel die riesige Gestalt eines männlichen Leronen ruhte. Sie war überlebensgroß und aus demselben weißen Stein gehauen, aus dem auch der Fußboden bestand. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, und ihre Augen überblickten den Tempel und seine Besucher. Die Statue stellte Ler-Ont dar, den einzigen Gott der Leronen. Und sie machten sich eine Figur von ihm nach ihrem Ebenbild, meldete sich der Extrasinn des Arkoniden. Irgendwie gleichen sich die Entwicklungen in allen Teilen des Universums. Das ist auch kein Wunder, dachte Atlan. Richtig. Alles ist aus einer Schöpfung entstanden. Alles trägt denselben Impuls in sich. Körperliche Intelligenz ist eine zwangsläufige Erscheinungsform und alles, was sich in ihr entwickelt, folgt den
Prinzipien der Evolution. Es gibt Ausnahmen, Logiksektor! Abweichungen sind normal. Es gibt immer verschiedene Wege der Entwicklung. Man weiß im voraus nie, welche weiterführen und welche in einer Sackgasse enden. Atlan wurde abgelenkt. Gremen hatte sich in Bewegung gesetzt. Er schritt nach links hinüber, wo in einer Nische ein kleinerer Tisch stand. »Hier fehlt die Statue Manache Lerons«, klagte er. »Sie müßte jener Gulbert Lerons genau gegenüberstehen!« Er deutete nach rechts, wo sich die Figur des Sonnenboten erhob. Sie war wesentlich kleiner als das Standbild des Gottes, aber immer noch ein wenig größer als ein gewöhnlicher Lerone. »Und wo ist die Figur?« wurde er gefragt. Gremen verschwand hinter einer Säule. Sie hörten, daß er aufschrie, dann gab es einen dumpfen Ton. Fast gleichzeitig tauchte der Lehrer der Krieger wieder auf. »Folgt mir rasch. Hier stand ein bewaffneter Tempeldiener!« Sie eilten hinüber und sahen, daß sich auf der hinteren Seite der Säule eine Öffnung befand. Eine Wendeltreppe führte abwärts, und zehn Stufen unterhalb des Eingangs lag einer der Diener. Gebrochene Augen blickten ihnen entgegen. Bei der kurzen Auseinandersetzung mit Gremen war der Lerone die Treppe hinabgestürzt und von seinem eigenen Speer durchbohrt worden. »Folgt mir!« Gremen stieg über den Toten hinweg und eilte abwärts. Atlan und Mrothyr folgten ihm, hinter ihnen drängten die Begleiter des Lehrers. In zwei ganzen Windungen führte die Treppe hinab und mündete in einer geräumigen Halle unter dem Tempel. Auch hier brannten Fackeln, und in kleinen Nischen in den Wänden glommen Öllichter. Gremen ließ seine Stimme erschallen. »Hört her, ihr tauben Priester unseres gerechten Gottes. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Ihr werdet Rechenschaft ablegen für euer Tun. Kommt heraus aus euren Löchern!« Er ging bis in die Mitte der Halle vor, und die Leronen folgten ihm. Seine Worte erzielten eine Wirkung, denn sie kamen tatsächlich. Die Tempeldiener, alle in rote Röcke gekleidet, tauchten auf. Sie schwangen ihre Speere, und zwei oder drei hatten Pfeil und Bogen und begannen sofort zu schießen. Gremen ließ sich zu Boden fallen. Er rollte sich ab und hatte im nächsten Augenblick einen der Diener von den Beinen gerissen. Er zog ihn über sich und keine Sekunde zu früh. Ein Pfeil, der für ihn gedacht gewesen war, bohrte sich in den Rücken des Tempeldieners. Atlan und Mrothyr hatten sich geduckt. Mit einer solchen Überraschung hatten sie nicht gerechnet. Sie sahen einen von Gremens Begleitern zuckend am Boden liegen. Er blutete aus einer Fleischwunde. Raus hier! sagte der Logiksektor. Renne um dein Leben! Atlan drehte den Kopf. Der Weg zur Treppe war frei, aber auch ohne Deckung. Er konnte und wollte das Risiko nicht eingehen. Er nickte Mrothyr kurz zu. Sie warfen sich auf die Tempeldiener, die ob dieses Angriffs so erschrocken waren, daß sie die Waffen wegwarfen und sich nicht rührten. Innerhalb weniger Sekunden hatte Mrothyr die Hälfte von ihnen niedergeschlagen. Atlan setzte ein paar von ihnen mit Dagor-Griffen außer Gefecht, die übrigen flohen zurück in die Gänge, aus denen sie gekommen waren. Der Arkonide eilte zu Gremen, der sich unter dem Toten hervorarbeitete. Zwei der Leronen waren verletzt, der eine nur leicht. Er brauchte keine sofortige Behandlung. Der andere wurde von zwei Begleitern aufgenommen und hinauf und aus dem Tempel hinausgetragen, wo er ärztlich versorgt
werden konnte. »Ich kann ihm helfen. Wenn ihr ihn in unser Schiff bringt, wird er innerhalb weniger Tage wieder gesund sein«, sagte Atlan. Der Translator übersetzte den Begriff »Tage« nicht. »Innerhalb weniger Sandzeiten. Vielleicht zwanzig!« korrigierte er sich. »Wir danken euch, Boten Ler-Onts«, rief Gremen laut. »Dies ist der endgültige Beweis. Egal, woher ihr gekommen seid. Ler-Ont hat euch geschickt, um uns die Augen zu öffnen!« Atlan wandte sich einem der Gänge zu. Er starrte in das Dämmerlicht hinein. Er hatte sich fast schon damit abgefunden, daß man sie als Götterboten betrachtete. Und Gremen bewies erneut seine große Klugheit. Rein gefühlsmäßig ahnte er vielleicht, daß sie doch nicht soviel mit Ler-Ont zu tun hatten, wie er es zunächst geglaubt hatte. Er sprach davon, daß es egal war, woher sie gekommen waren. Anfangs hatte er geglaubt, sie seien direkt aus der Sonne herab nach Schatulla gekommen. »Hier entlang!« rief der Lehrer. »Ich erkenne diesen Korridor!« Sie eilten ihm hinterher, und er führte sie in eine kleine Kammer. Eiserne Fesseln waren in das Mauerwerk eingelassen, und in der Mitte stand ein Feuerbecken mit erkalteter Kohle. »In diesem Raum hat ein Priester den Gresti getötet«, verkündete Gremen. »Ich habe es selbst gesehen. Der Priester hat seine gerechte Strafe erhalten.« Längst kam aus den Reihen seiner Begleiter kein Widerspruch mehr. Sie glaubten ihm, und ein paar von ihnen gingen weiter und suchten die übrigen Gänge und Räume ab. Sie fanden die Priester und meldeten es. »Kommt!« Gremen winkte dem Arkoniden und Mrothyr. An der Spitze der Leronen suchten sie den Raum auf, in dem sich die Priester aufhielten. Die Tempeldiener hatten sich um sie geschart, aber sie trugen keine Waffen mehr bei sich. Schweigend und mit ausdruckslosen Augen erwarteten sie die Ankömmlinge. Atlan musterte die Priester. Sie unterschieden sich nicht von den übrigen Leronen. Sie trugen weiße Röcke und schwarze Hauben. Sie hielten ihm und Mrothyr die Handflächen entgegen zum Zeichen ihrer Friedfertigkeit. »Willkommen, Götterboten«, verkündeten sie. Einer von ihnen trat vor. Es war der Zeremonienmeister des Tempels. »Heuchelt nur«, rief Gremen entrüstet aus. »Euer Empfang war deutlich genug!« »Er galt nur den Leronen, nicht aber den Gesandten Ler-Onts«, versuchte sich der Priester zu verteidigen. »Wenn Priester mit Gott und seinen Boten sprechen, haben unwissende Stadtbewohner nichts im Tempel zu suchen.« Atlan schluckte. Er bemühte sich, nicht die ihm gewohnten typisch menschlichen Beurteilungskriterien anzulegen, aber es gelang ihm nicht vollständig. »Gremen beschuldigt euch, dem Volk die Unwahrheit erzählt zu haben. Was aber ist die Wahrheit? Wieviel wißt ihr davon?« fragte er. »Welche Anzeichen sind euch bekannt, daß am Heiligen Berg nicht alles so ist, wie die Beter es glauben? Haben jene Jugendlichen recht, die behaupten, daß die Widersprüche in eurer Religion auf die Einwirkung von etwas Unnatürlichem zurückzuführen sind? Und wenn, wo sind die Spuren zu finden?« Die Priester und Tempeldiener waren bei seinen Worten zurückgewichen. Sie tuschelten miteinander, und Gremen machte eine Geste des Unwillens. »Gebt ihr Manache Leron keine Antwort?« donnerte er. Die Priester zuckten zusammen. »Manache?« hauchte der Zeremonienmeister. »Wir wissen nichts. Es ist uns nicht bekannt, daß es am Heiligen Berg fremde Einflüsse gibt. Ein einziger Priester nur hält sich zur Zeit dort auf. Er
gehört zum Stamm der Flenda. Nur Heilige und Pilger beten bei Ler-Ont. Unsere Gottheit wird von allen verehrt und geliebt.« »Das kann nicht die ganze Wahrheit sein!« behauptete Gremen. Die Leronen brummten zustimmend. Ein gewöhnlicher Krieger sagte: »Es ist klar, daß sie lügen!« »Am besten wäre, wir würden sie einfach mitnehmen und zum Heiligen Berg bringen«, schlug Mrothyr vor. »Dort können sie im Angesicht ihrer Gottheit sagen, was sie zu sagen haben. Ler-Ont ist gerecht. Er wird die Lügner bestrafen!« Er blinzelte Atlan zu, und die beiden zogen sich ein wenig in den Hintergrund zurück. Sie waren davon überzeugt, daß sie die Lösung all der Vorgänge am Heiligen Berg zu suchen hatten. »Noch ist Chipol nicht aufgetaucht«, flüsterte der Arkonide. »Wir müssen warten. Die STERNSCHNUPPE hat uns versprochen, daß sie sich meldet, sobald sie ein Lebenszeichen von ihm erhalten hat.« »Und wenn die Priester ihn…«, Mrothyr wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Abrupt wandte er sich zu den Priestern. »Was wißt ihr über den Verbleib Chipols, des Wagenlenkers?« fragte er. Die Priester wußten nichts. Sie hatten ihn nicht gesehen. Gremen jedoch erinnerte sich plötzlich, daß Dadamda ihm irgendwann gemeldet hatte, daß da drei Jugendliche gekommen waren, die ihn dringend sprechen wollten. Er hatte sich nicht um sie gekümmert und sie vergessen. Bestand da vielleicht ein Zusammenhang? Er wischte den Gedanken beiseite und deutete zum Ausgang. »Der Tempel Schatullas wird in den nächsten Sandzeiten verwaist sein«, eröffnete er. »Ich persönlich bürge dafür, daß in dieser Zeit nichts mit ihm geschieht. Wir werden euch zum Heiligen Berg bringen. Ler-Ont persönlich soll eine Entscheidung über euch fällen. Und wehe euch, wenn es sich herausstellt, daß ihr doch etwas mit dem Verschwinden des dritten Götterboten zu tun habt. Die Strafe wird fürchterlich sein.« Er wandte sich ab und schritt hinaus, und Atlan und Mrothyr folgten ihm. Die Leronen nahmen die Priester und ihre Diener in die Mitte und brachten sie hinauf in den Tempel und von dort hinaus zum Westtor. Kurz darauf erhielt Atlan Funkkontakt mit dem Schiff. Traykon meldete sich. »Chipol ist unterwegs«, berichtete der Roboter mit Hilfe der Anlagen der STERNSCHNUPPE. »Ist es nötig, daß ich mich weiterhin versteckt halte?« »Ja«, entgegnete der Arkonide. »Es geht nicht anders. Als Köder für den Erleuchteten bist du nur dann von Wert für uns, wenn er keinen Bezug zwischen dir und uns herstellen kann. Deshalb ist es falsch, daß du dich jetzt gemeldet hast. Du hättest das dem Schiff überlassen sollen. Wenn der Erleuchtete seine Ohren über Schatulla hat, dann belauscht er den Funkspruch und weiß Bescheid. Wohin geht Chipol?« Diesmal war es das Schiff, das Antwort gab. »Er befindet sich in Begleitung von drei jungen Leronen. Sie sind auf dem Weg zum Heiligen Berg. Chipol meint, ihr sollt ihnen vorsichtig folgen. Er will mit euch zusammentreffen, sobald es möglich ist.« »Auch wir werden dorthin aufbrechen. Wir verlassen zusammen mit den Leronen die Stadt. Sobald wir die Waldgebiete erreicht haben, fliegst du los und begleitest uns. Versuche, alles in Erfahrung zu bringen, was am Heiligen Berg vor sich geht. Dort müssen sich etliche hundert Leronen aufhalten, die deiner Ortung beim Landeanflug entgangen sind. Versuche herauszufinden, warum das so war.
Am besten hüllst du dich in Unsichtbarkeit, damit du den Betern keinen Schrecken einjagst.« »Verstanden. Ich warte und werde mich nur melden, wenn Gefahr im Verzug ist.« Die Verbindung brach ab, und Atlan wandte sich zu Gremen, der von der Spitze des Zuges herankam. Er brachte Wasser und Nahrungsmittel, aber der Arkonide hatte keinen Hunger. Er trank nur ein wenig Wasser. Dafür machte sich Mrothyr über die angebotenen Speisen her. * Die Nachricht von den Ereignissen im Tempel verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Die Bewohner strömten zum Westtor. Sie sangen Schmählieder auf die Priester und brachen in wüste Beschimpfungen aus. Einige von ihnen, erfüllt vom Glauben an Ler-Ont und mit dem Zorn der Betrogenen, wollten sich an den Priestern vergreifen. Gremen mußte zusätzlich fünfzig Krieger aus seiner Schule rufen, um sie zu schützen. Er brachte sie rasch auf die Handelsstraße hinaus und schickte sie abwärts, bis sie außer Sichtweite der Stadt waren. »Hört her!« verkündete er. »Wir pilgern zum Heiligen Berg. Wir sind eine unvorbereitete Gruppe, aber die Götterboten sind bei uns. Wir sind es ihnen schuldig, daß wir sie begleiten, auch wenn wir dadurch gegen eine Form der Religion verstoßen. Vergeßt nie, daß die Formen von den Priestern gemacht wurden, die vor etlichen hundert Sonnenläufen lebten. Formen sind vergänglich. Der Glaube jedoch bleibt. Wenn der Glaube stimmt, dann ist das Leben Wert, Leben genannt zu werden!« Hochrufe auf Gremen brachen aus, und der oberste Lehrer der Kriegerschule setzte sich an die Spitze des verbliebenen Zuges. Nach einem kurzen Seitenblick auf das seltsame Himmelsgefährt vor der Stadt wandte er sich an Atlan und Mrothyr. »In Ler-Onts Namen, wir brechen auf. Habt ihr bemerkt, wie sich die Priester verhielten, als sie euren Himmelswagen sahen? Sie sind fast gestorben vor Angst!« Über den Hügeln ballten sich dichte Wolken zusammen, und eine halbe Sandzeit später verschwand Gulbert Leron hinter diesem Vorhang. Es begann wolkenbruchartig zu regnen, aber es war ein warmer Regen. Er durchnäßte Atlan und Mrothyr bis auf die Haut, aber kaum war der Regen vorüber, da waren ihre Kleider und Haare bereits wieder trocken. Sie zogen die Handelsstraße hinab zum abgebrochenen Sechseck. Auf halbem Weg zum Kerbaschol entdeckten sie eine Gruppe von Sittenstrolchen, die sich an einer Kuppe zu schaffen machten. Sie rollten Felsbrocken herbei, aber die Soldaten, die die Priester begleiteten, hatten die Unholde schon entdeckt. Sie schossen ein paar Pfeile ab. Die Strolche gingen in Deckung und belästigten die beiden marschierenden Gruppen nicht weiter. »Sieh dort!« Mrothyr deutete auf zwei Büsche, die am Wegrand standen. Ihre biegsamen Zweige waren in der Art von Scheffelknoten miteinander verbunden worden. Es waren Chipols Zeichen. Der junge Daila machte oft solche Knoten. Diesmal benutzte er sie als Hinweise, daß er diesen Weg gegangen war. Kurz vor dem Fluß bog Gremen nach rechts ab. Die vorausgehende Gruppe hatten sie inzwischen wieder aus den Augen verloren. »Dort vorn am Fluß beginnt das neutrale Gebiet, das den Handelsplatz umschließt. Seht ihr die Steinplatte dort? Das ist das abgebrochene Sechseck!« »Wir wissen es«, sagte Atlan, um seiner Rolle als Götterbote ein wenig gerecht zu werden. Er hatte sich Gedanken über ihr Verhalten gemacht. Zur Zeit war es für ihr Vorwärtskommen günstig, wenn
sie den Leronen nicht die vorhandenen Illusionen raubten. Da es sich bei ihrem Unternehmen ja um etwas Positives handelte, hatte der Arkonide auch keine Bedenken dagegen. Er fragte sich lediglich eines. Die Leronen erwarteten von ihm und seinen Begleitern, daß sie das rissig gewordene Gebäude ihrer Religion flickten und ihnen das zeigten, was die Wahrheit Ler-Onts war. In dieser Beziehung war er bisher ratlos. Eine so große Verantwortung wollte er nur ungern übernehmen. Aber er kam nicht darum herum. Die Ankunft der STERNSCHNUPPE hatte Dinge ins Rollen gebracht, an die keiner ihrer Insassen auch nur im Traum zu denken wagte. Zwischen den Ausläufern der Hügel führte der Pfad in Schlangenlinien nach Westen, und nach insgesamt drei Sandzeiten tauchte in der Ferne die Silhouette des Dschungelwaldes auf. Die Leronen beschleunigten ihre Schritte. Gremen erteilte ihnen seine Anweisungen, und er musterte mehrmals den Himmel. Die Wolken zerrissen langsam und zeigten, daß Gulbert Leron sich dem Horizont entgegenneigte und bald unter ihm versinken würde. Gremen trieb seine Begleiter zu noch größerer Eile an, und er ließ sich einen Bogen und Pfeile bringen. »Wir werden jagen und für frisches Fleisch sorgen«, sagte er. »Der Marsch zum Heiligen Berg ist lang, und wir haben es eilig. Eine Stärkung ist wichtig. Wir werden eine Weile in die Nacht hineinmarschieren und erst spät in der Dunkelheit Rast machen. Wir bitten euch um Verständnis, aber wir besitzen kaum die Ausdauer wie ein Götterbote.« »Schon gut«, sagte Mrothyr verständnisvoll. »Wir sind nicht gekommen, um euch zu quälen. Wir wollen euch schließlich helfen. Und auf ein paar Sandzeiten mehr oder weniger kommt es nicht an!« Damit war dieses Thema abgeschlossen, und sie folgten dem Pfad, der immer weicher wurde. Blaugrünes Gras und Moos lösten den felsigen Untergrund ab, und wenig später hatten sie die ersten Bäume erreicht und folgten der Spur, die die Vorausgruppe in das Dickicht geschlagen hatte. Wieder fanden sie ein paar Knoten, die Chipol gemacht hatte, und kurz darauf zweigte ein deutlich sichtbarer Pfad von der gehauenen Schneise ab. Hier hatten die Jugendlichen einen anderen Weg eingeschlagen. Chipol war plötzlich aus dem Haus verschwunden gewesen, und sie wußten nicht, wieso das geschehen war. Beim Schein weniger Fackeln, die sie auf dem Weg durch den Dschungel anbrannten, kam Gremen zu ihnen und berichtete von dem, was Dadamda ihm begreiflich gemacht hatte. »Die Jugendlichen sind manchmal klüger als die Erwachsenen«, sagte er. »Es ist eigentlich bei jeder Generation so. Sie sind Zweifler, und manchmal ist ihr Ungestüm genau das Richtige, was wir brauchen, um nicht in unseren Gewohnheiten zu versinken. Ihr habt uns durch euer Kommen endgültig wachgerüttelt. Ler-Ont sei Dank dafür.« »Ler-Ont sei Dank, wenn wir unsere Aufgabe auf Leron hinter uns haben, ohne daß größerer Schaden entstanden ist«, erwiderte Mrothyr zweideutig. »Aber wir werden uns Mühe geben!« »Ohne Zweifel!« Gremen war davon überzeugt wie von der Existenz seines Gottes. Als sie das Nachtlager erreichten, meldete sich die STERNSCHNUPPE. Sie flog in ihrem Deflektorfeld und hing in etwa hundert Metern Entfernung schräg über dem Blätterdach des dichten Waldes. Sie hatte keine Neuigkeiten zu vermelden, und Atlan und Mrothyr legten sich schlafen. Gremen kümmerte sich persönlich um ihre Sicherheit, aber er tat es mehr aus Respekt und Ehrerbietung. Innerlich war er voll davon überzeugt, daß die Götterboten keinen Schutz benötigten. Der Angriff der Tempeldiener in den Gewölben hatte es gezeigt. Als Atlan und Mrothyr eingriffen, flohen die Diener. Keiner der Boten wurde verletzt. Allein schon der Angriff auf Manache Leron war in den Augen jedes gläubigen Leronen ein todeswürdiges Verbrechen, dessen sich keiner schuldig zu machen wagte. Und bei diesen Gedanken dachte der oberste Lehrer, daß die Priester vielleicht doch nicht so schlimm waren, wie er es sich einredete.
Gremen inspizierte die Wachen, dann legte auch er sich zur Ruhe, nachdem er von Atlan und Mrothyr den Segen über diese Nacht herabgefleht hatte. »Du hast ihn«, bestätigte der Arkonide. »Ler-Ont wacht über uns und euch. Und über dem Blätterdach leuchten die Sterne eures Himmelsgewölbes.« Er wußte vom Schiff, daß es draußen wieder völlig klar war. Und Gremen machte eine Geste der Unwissenheit. »Du siehst durch das Blätterdach, Götterbote. Aber ich bin nur ein einfacher Sterblicher. Ich sehe nicht einmal die Raubtieraugen hinter den Büschen.« »Gute Nacht«, erwiderte Atlan. Raubtiere. Das fehlte noch. Paß gut auf, Extrasinn, scherzte er in Gedanken. Nicht daß ich das Opfer eines leronischen Tausendfüßlers werde. Der Extrasinn hüllte sich in Schweigen.
5. Im Morgengrauen beobachtete Dawok, wie Adkor mit einer Gruppe von Kriegern sich auf den Weg zum östlichen Taleingang machte. In den Dschungel war eine Schneise getrieben worden, und die Leronen hatten die Wurzeln des Bodens so sorgfältig entfernt, daß nichts mehr wuchs. Und was durch Samenflug in der Schneise Fuß zu fassen suchte, wurde alsbald ausgerupft. Die Schneise endete an einem Felseinschnitt, der in das Tal und zum Heiligen Berg führte. Dawok hatte sich der Gruppe nicht angeschlossen. Er wollte erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Tal eindringen. Dennoch schlich er der Gruppe nach und gelangte bis in die Nähe der Wächter, die an der Talseite des Felseinschnitts warteten. Dawok suchte sich den höchsten Baum aus, den er finden konnte. Behende kletterte er in die Krone hinauf und brach fast geräuschlos einen Ast ab, um das Tal überblicken zu können. Noch fiel kein Licht Gulbert Lerons auf die Pflanzen und das Gras, aber dennoch schimmerte es bereits gelb und rosa. Vereinzelt rauchten ein paar Fackelstümpfe, und jetzt erkannte der Schatulla auch die Baldachine mit ihren orangefarbenen Tuchbespannungen, die den Betern während des Tages Schatten und Kühle spendeten. Dawok richtete den Blick in die Ferne und fixierte seine Pupillen. Er benötigte ein paar Sandkörner lang, bis sich die Sehschärfe auf die Entfernung eingestellt hatte. Er sah den Schatten der Sänfte, und in einer Gestalt, die um sie herumging, glaubte er den Gnorze Badowein zu erkennen. Der Pilger bewegte sich langsam und behäbig. Alles am Heiligen Berg lief ruhig und gemessen ab, die Priester der einzelnen Stämme hatten ein exaktes Reglement geschaffen, an das sich die Leronen seit vielen hundert Sonnenläufen hielten. Vielleicht waren es auch viele tausend, niemand konnte es genau sagen. Die Priester führten mit Sicherheit Aufzeichnungen darüber, aber sie sprachen nicht darüber. Der Bändiger dachte an Schatulla und seine Familie. Vor dem Aufbruch der Krieger hatte er noch einmal mit seinem Sohn gesprochen. Segon hatte ein paar Freunde, die mit ihm einer Meinung waren. Dawok kannte diese Meinung, und er teilte sie in mehreren Punkten. Sie hatte den Ausschlag gegeben, daß er seinen Auftrag erhalten hatte. Dawok wußte nicht einmal genau, wer ihn auf den Weg geschickt hatte. Er mußte damit rechnen, daß es sich lediglich um eine Falle der Priester handelte. Dennoch hatte er es gewagt. Jetzt, wo er das Tal greifbar vor sich sah, hatte er keinerlei Bedenken mehr, seinen Auftrag auszuführen. Adkor und seine Begleiter tauchten in seinem Blickfeld auf. Sie erreichten den ersten Baldachin. Unter ihm war eine Art Anmeldung untergebracht. Dawok konnte nicht erkennen, ob es Tempeldiener oder Pilger waren, die die Formalitäten erfüllten. Er wartete nur und beobachtete, wie die Schatulla nach kurzer Zeit den Baldachin verließen und langsam das Tal entlangschritten. Sie verschwanden wieder aus seinem Blickfeld, das von anderen Bäumen begrenzt wurde. Dawok wußte, daß es mindestens eine Sandzeit dauerte, bis die Krieger zurückkehrten. Diese Zeit hätte er nutzen können, um an den Wächtern vorbeizuschleichen. Die Gefahr einer Entdeckung war jedoch zu groß. Adkor und seine Krieger wollten den Segen der Heiligen und die Gunst Ler-Onts auf sich und den Kriegszug herabflehen. Eine solche Bitte war noch nie abgelehnt worden, denn Kriegszüge und Gebietsstreitigkeiten gehörten zum Alltag zwischen den Stämmen des Planeten. Ohne sie wäre es vermutlich langweilig gewesen. Dawoks Aufmerksamkeit schlief nach einer Weile ein. Dann jedoch schrak er empor. Bei der inzwischen verlassen dastehenden Sänfte hatte er eine Bewegung ausgemacht. Jemand schlich dort herum, und der Art der Bewegung nach war es Adkor. Dawok wußte, daß sich der Lagerführer besonders für die Sänfte interessierte, weil es für sie keine Erklärung gab. Der Bändiger glaubte jedoch, daß Badowein sicher eine solche hatte, wenn man ihn danach fragte. Vielleicht wollte er auf
dem Rückweg ins Gnorzenland einen altersschwachen Heiligen oder Pilger mitnehmen, der den Weg nicht mehr zu Fuß machen konnte. Nach wenigen Sandkörnern war Adkor von der Sänfte verschwunden, und Dawok sah ihn in der Nähe der Baldachine auftauchen, deren Farben inzwischen kräftiger geworden waren. Der Himmel erhellte sich immer mehr und übergoß das Tal mit einer Lichtflut. Die Schatulla kehrten zu den Wächtern zurück und verließen das Tal. Dawok kletterte herab und folgte ihnen zurück zum Lager. Er umging die Schneise. Da er dabei durch das Dickicht mußte, hatte er viel Mühe. Aber er beeilte sich und kam kurz vor der Gruppe an. Es herrschte Aufbruchstimmung. Die Krieger warteten auf den Lagerführer, die Frauen auf Dawok. Er machte sich ihnen bemerkbar, dann trat er zu Adkor, der den Segen der Heiligen an alle Krieger weiterreichte. »Wir gehen vor wie besprochen«, verkündete er. »Aber redet jetzt nicht davon. Bestimmt sind Späher der Gnorze in unserer Nähe!« Dawok bestätigte das, weil er im Dickicht Spuren gefunden hatte. »Was ist mit der Sänfte?« fragte er leise. Adkor merkte, daß der Bändiger ein unsichtbarer Begleiter der Gruppe gewesen war. »Nichts«, knurrte er. »Sie ist noch immer leer. Ich habe unauffällig gefragt, aber von den Pilgern und Heiligen konnte oder wollte mir keiner Auskunft geben!« Er wandte sich ab und setzte sich an die Spitze der Krieger. Sie verließen das Lager und bewegten sich nach Südwesten, um das Heer der Gnorze in die Irre zu führen. Dawok ließ sich seine Affen bringen und machte sich mit den Frauen auf den Weg. Eine kleine Bedeckung aus Jungkriegern war zu ihrem Schutz abgestellt. Dawok wandte sich direkt nach Westen, um in die Nähe des Südeingangs zu kommen. Von dort aus wollte er in das Tal vordringen. Die Frauen hinter ihm stampften und trampelten das Gras nieder, um eine zusätzliche Spur zu machen, die die Gnorze verwirren sollte. Dawok dachte an die Späher und glaubte nicht, daß das einen Sinn hatte. Nach zwei Sandzeiten kam ein Krieger des eigenen Stammes vorbei und brachte eine Meldung. Die Gnorze ließen sich noch nicht blicken und kamen erst am Nachmittag. Offensichtlich hatten auch sie eine Delegation in das Tal geschickt, um den Segen zu holen. Gulbert Leron schickte sich an, dem Horizont entgegenzusinken. Die Frauen lagerten in einer von dichtem Gestrüpp umgebenen Senke. Kurz vor dem Beginn der Abenddämmerung hörten sie die Gnorze. Ganz in der Nähe zog ihr Heer vorbei, immer auf der Spur der Frauen. Dort, wo die Spur abbrach und in das Gestrüpp einschwenkte, wandte sich der Zug nach Süden. Dawok grinste zufrieden in sich hinein. Adkor war direkt nach Südwesten gewandert und holte so einen Vorsprung heraus. Was der Bändiger nicht feststellen konnte, war, daß es sich bei dem Zug lediglich um die Hälfte des Gnorzenheers handelte. Niemand außer den spähenden Jungkriegern konnte das wissen, aber die waren weit von hier und kümmerten sich nicht um Dawok und die Frauen. »Wir warten bis zum Morgen«, sagte der Bändiger. »Dann kehren wir nach Osten zurück! Es wird Zeit, daß wir wieder Schatulla-Gebiet zwischen die Füße bekommen!« Das Land um das Tal und den Heiligen Berg war ja Niemandsland. Ähnlich wie in dem neutralen Gebiet rund um das abgebrochene Sechseck durfte hier nicht gekämpft werden. Die Frauen begannen zu lagern, und die wenigen Krieger der Bedeckung machten sich auf die Jagd. Dawok ging zunächst mit ihnen, aber nach dem ersten erlegten Beuteltier kehrte er an die Feuer zurück. Er briet das Fleisch, nachdem er das Tier gehäutet und ausgeweidet hatte. Er widmete sich seinen Affen und fütterte sie mit Früchten, die an einem nahegelegenen Busch wuchsen. Er gab ihnen auch ein wenig Fleisch, und sie verzehrten es dankbar und bettelten um mehr. Dawok blieb hart. Er wußte, daß Affen mit vollen Mägen träge wurden, und gerade das konnte er nicht haben.
Seine Tiere mußten aufmerksam und umsichtig sein. Er gab ihnen der Reihe nach einen Klaps auf den Kopf und redete in der kurzen, abgehackten Silbensprache auf sie ein, mit der er sich mit ihnen verständigte. Sie konnten etwa zwanzig Silben verarbeiten, zu mehr reichte ihre Intelligenz nicht. Da, Aw, Wo, Ok und Do blickten ihn aus dunklen, aufmerksamen Augen an, und der Bändiger nahm die Sammelleine und führte sie ein Stück außerhalb des Lagers zu einem kleinen Tümpel. Nachdem die Tiere ihren Durst gestillt hatten, sagte der Bändiger das Stichwort, das er ihnen eingeübt hatte. Die Körper der Tiere erstarrten zur Bewegungslosigkeit, und er ließ die Leine fallen und entfernte sich. Er wußte, daß sie nicht von der Stelle weichen würden, bis er sie holte. Nicht einmal auf den Angriff eines wilden Tieres würden sie reagieren. Soweit wollte der Bändiger es nicht kommen lassen. Er blieb in der Nähe, und sie witterten ihn noch immer. Aber sie bezwangen ihren inneren Trieb, dieser Witterung zu folgen und in seiner Nähe zu sein. Dawok lehnte sich an den Stamm eines Upunzenbaums und schloß die Augen. Die hellen Augenlider verrieten ihn mehr als das Leuchten seiner Iris. Es war noch nicht völlig dunkel, und so war es ihm egal. Dawok dachte nach. Er ordnete seine Gedanken und ging Schritt für Schritt durch, wie er sich den Ablauf der Nacht vorstellte. Er wußte, daß es schwierig war, mit fünf Affen an den Wächtern vorbeizukommen. Er durfte die Wächter nicht bewußtlos schlagen, weil ihr Verschwinden bemerkt würde oder sie nach dem Erwachen Alarm schlugen. Er durfte aber auch nicht warten, bis sie zufällig einschliefen. Also mußte er an ihnen vorbei, und es war schwer genug, obwohl der Südeingang zum Tal über den breitesten Felseinschnitt verfügte. Ler-Ont steh mir bei! flehte Dawok und legte sich auf den Boden, um ein wenig zu ruhen. Er schlief sogar ein, und als er erwachte, da war es um ihn herum endgültig finster geworden. Vom Lager herüber klang ein Ruf, der ihm sagte, daß die erste Stunde der Finsternis angebrochen war. Auf einem Kriegszug wurden die Nachtstunden nie ausgerufen, aber in der Nähe des Heiligen Berges mußte nicht auf Vorsicht geachtet werden. Es bestand keine Gefahr, daß jemand das Lager überfiel. Dawok erhob sich und reckte die Glieder. Geschmeidig glitt er zwischen den Büschen hindurch bis zu den Affen. Er sah das Leuchten ihrer Augen. Sie rührten sich nicht, bis er das Seil aufgenommen hatte und daran zog. Er begann beruhigend auf sie einzureden. Längst spürten sie, daß etwas Besonderes bevorstand. Sie folgten ihm im Gleichschritt, und er blickte belustigt über die Schulter zurück. Er führte sie einmal rund um das Lager, dann suchte er die Stelle auf, wo er Fellbeutel mit den Steinmessern und dem Feuerholz abgelegt hatte. Er hoffte nicht, daß er beides benötigen würde, aber ein Krieger verließ sein Lager nie, ohne diese Dinge mitzunehmen. Dawok schlug den Pfad zum Felseinschnitt ein. Der Dschungel um ihn herum bildete eine einzige, undurchdringliche Wand, die schwarz vor ihm aufragte. Es sah aus, als wolle sie ihm den Durchgang versperren. Er veränderte die Lage des Seiles und ließ die fünf Spüraffen vorangehen. Er dirigierte sie in die ungefähre Richtung, und sie suchten sich den günstigsten Pfad. Dawok mußte kein einziges Mal eine Bresche schlagen oder eines seiner Steinmesserchen zu Hilfe nehmen. Nach einer halben Sandzeit wehte ihm die Kühle des Felsgesteins entgegen, und da wußte der Bändiger, daß er sein Ziel erreicht hatte. Er nannte das zweite Losungswort, das er mit den Affen einstudiert hatte. Jetzt begann ihre eigentliche Aufgabe. Jetzt mußte es sich zeigen, ob die Zweifel berechtigt waren, die manche Schatulla bewegten und ihnen schlaflose Nächte bereiteten. Spüraffen waren gewöhnlich dazu da, bestimmt Arten gefährlicher Raubtiere aufzuspüren, die schon Leronen getötet hatten und dies immer wieder tun würden. Man suchte sie mit den Affen und erlegte sie. Die Affen hatten einen besonderen Sinn für solche Mördertiere.
Bei Da, Aw, Wo, Ok und Do war es anders. Dawok hatte sie umerzogen. Er hatte sie so abgerichtet, daß sie nach dem zweiten Losungswort alles ignorierten, was sie kannten, und nur Fremdes witterten und anzeigten. Es war ein hartes Training gewesen, sie allem zu entwöhnen, was es auf Leron gab. Aber inzwischen wußten sie, was er von ihnen erwartete. Ler-Ont, verzeih mir, wenn es ein Irrtum ist! Der Bändiger schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel. Gib, daß die Zweifler sich nicht irren! Er hatte den Felseinschnitt betreten. Das Abenteuer um die Zukunft der leronischen Kultur trat in eine entscheidende Phase. ENDE
Auf dem Planeten der Leronen tut sich etwas! Da sind die Schatulla auf dem Kriegszug, Zweifel am bestehenden System werden laut, und die Priester Ler-Onts spielen ein falsches Spiel. Die Ereignisse auf dem Planeten eskalieren noch weiter, als die STERNSCHNUPPE landet… Mehr darüber berichtet Arndt Ellmer im nächsten Atlan-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: BRÜCKE ZUM ERLEUCHTETEN