1
TERESA DE LA PARRA Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt
Roman Aus dem Spanischen übersetzt Von Petra Stri...
62 downloads
1202 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
TERESA DE LA PARRA Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt
Roman Aus dem Spanischen übersetzt Von Petra Strien-Bourmer Nachwort von Maike Albath MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR
2
Inhaltsverzeichnis COVER MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR ERSTER TEIL ZWEITER TEIL KAPITEL I KAPITEL II KAPITEL III KAPITEL IV KAPITEL V KAPITEL VI KAPITEL VII DRITTER TEIL - Zum Hafen von Aulis KAPITEL I KAPITEL II VIERTER TEIL - Iphigenie KAPITEL I KAPITEL II KAPITEL III KAPITEL IV KAPITEL V KAPITEL VI KAPITEL VII KAPITEL VIII KAPITEL IX ANMERKUNGEN NACHWORT Copyright 3
MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR
4
ERSTER TEIL Ein sehr langer Brief, in dem die Dinge gleichsam wie in einem Roman erzählt werden. Von María Eugenia Alonso an Cristina de Iturbe Endlich schreibe ich Dir, liebe Cristina! Was magst Du wohl von mir gedacht haben? Ich kann mich noch entsinnen, wie ich Dich auf dem Biarritzer Bahnhof traurig und mit Unmengen von Paketen und Päckchen beladen ein letztes Mal in die Arme schloß und unter Seufzern zu Dir sagte:«Bis bald, bis sehr bald!» Dabei hatte ich im Sinn, Dir von Paris aus einen langen Brief zu schreiben, den ich in Gedanken bereits zu formulieren begann. Doch seit jenem denkwürdigen Tag sind inzwischen gut vier Monate vergangen, und ich habe dir noch immer keine einzige Zeile geschrieben, nur ein paar Ansichtskarten. Ich kann Dir schwer erklären, warum ich Dir weder aus Paris geschrieben habe noch später, als ich, sprühend vor Optimismus und ganz die elegante Pariserin, auf dem Dampfer in Richtung Venezuela unterwegs war. Hingegen weiß ich sehr genau, warum ich mich von meiner Heimatstadt Caracas aus noch nicht gemeldet habe, obwohl mir die Zeit hier unerträglich lang wird: Daran sind allein mein Stolz und mein Eigensinn schuld. Während mir nämlich eine kleine Schwindelei leicht über die Lippen kommt, fällt es mir schwer, sie zu Papier zu bringen. Ich wollte aber auch nicht, daß Du die Wahrheit erfährst, denn die fand ich allzu demütigend, und so habe ich es vorgezogen, ganz zu schweigen. Mittlerweile finde ich besagte Wahrheit jedoch nicht mehr peinlich, vielmehr mutet sie mich eher pittoresk, reichlich kurios und auch ein wenig mittelalterlich an. Und so habe ich beschlossen, Dir heute alles zu gestehen, laut und vernehmlich, mir alles von 5
der Seele zu schreiben, falls Du denn den Ruf meiner Zeilen hören kannst: Ach, Cristina, Cristina, ich habe so schreckliche Langeweile...! Glaub mir, Du machst Dir keine Vorstellung, wie sehr ich mich schon seit einem Monat hier in Großmamas Haus langweile, wo ständig ein penetranter Geruch nach Jasmin, feuchter Erde, Kerzenwachs und Elliman’s Embrocation-Salbe in der Luft hängt. Nach Wachs riecht es wegen der beiden Kerzen, die Tante Clara Tag und Nacht vor einer Christusfigur brennen läßt. In ein dunkelviolettes Gewand gehüllt und knapp eine halbe Elle hoch, steckt diese in einer Glasphiole, wo sie schon mindestens seit Urgroßmutters Zeiten ihr Kreuz mit sich herumschleppt. Elliman’s Embrocation wiederum ist ein Mittel, mit dem Großmama, die an Rheumatismus leidet, sich allabendlich vor dem Schlafengehen einreibt. Der Duft nach Jasmin und feuchter Erde, bei weitem noch der angenehmste, zieht von dem großen, quadratischen Eingangspatio herein, der überquillt von Rosen, Palmen, Farngewächsen und Geranien; doch beherrscht wird das Ganze von einem üppigen Jasminbusch, der sich, dicht und grün, in einer Gitterlaube aufplustert, von Blüten übersät wie ein Himmel voller Sterne. Aber, herrje, diese ganzen Gerüche, ob jeder für sich oder alle zusammen, ekeln mich an, während ich nichts weiter tue, als Großmama und Tante Clara bei der Näharbeit zuzusehen oder ihrem Geplauder zu lauschen. Nur aus Höflichkeit und Rücksichtnahme lasse ich mir meine Langeweile vor ihnen nicht anmerken, beteilige mich an den Gesprächen, lache oder widme mich unserem wolligen Schoßhündchen Chispita, dem ich kleine Kunststückchen beibringe. Inzwischen hört Chispita bereits auf«Sitz!»und legt dabei grazil die Vorderbeinchen übereinander, ja, ich bilde mir sogar ein, daß sie sich hier, wo man uns beide gleichermaßen gefangenhält, mindestens ebenso langweilt wie ich und wie ich ständig von einem Leben in Freiheit träumt. Wenn es darum geht, Stopf- oder Spitzenklöppelgarn auseinanderzuhalten, sind Großmama und Tante Clara unschlagbar, aber die Fähigkeit, hinter die Dinge zu schauen, zu erkennen, was 6
sich hinter dem äußeren Schein verbirgt, geht ihnen völlig ab, weshalb sie auch nicht die leiseste Ahnung haben, wie sehr mir diese endlose, quälende Langeweile hier zu schaffen macht. Obendrein ist Großmama noch dieser völlig irrigen und längst überholten Vorstellung verhaftet, die da lautet:«Langeweile ist ein Zeichen mangelnder Intelligenz.» Und da ich nicht hinter dem Berg halte mit Beweisen meines wachen Verstandes und dieser nun einmal nicht zu leugnen ist, zieht Großmama selbstverständlich den Schluß, daß ich mich amüsiere, und zwar entsprechend meinen Fähigkeiten, das heißt: aufs prächtigste und pausenlos. Ich lasse sie in dem Glauben. Ach, Cristina, wie oft habe ich mir schon mitten in einem Anfall unerträglicher Langeweile gedacht:«Es wäre schön, wenn ich Cristina von meinem Kummer schreiben könnte; es würde mich unheimlich erleichtern!»Doch einen ganzen Monat lang hat mich mein Stolz ebenso gefangengehalten wie die vier alten Wände dieses Hauses. Ich wollte, daß Du Dir die herrlichsten Vorstellungen von meinem jetzigen Leben machtest, und so verharrte ich in meinem doppelten Gefängnis und schwieg. Heute aber werde ich meinen falschen Stolz ablegen und Dir endlich schreiben; ich will nicht länger schweigen, zumal ich, wie gesagt, letzthin zu der Überzeugung gelangt bin, daß dieses Leben hinter Gittern für ein hübsches Ding wie mich gar nicht so schmachvoll ist; ja, es hat sogar einen Hauch von Romantik, wie die Märchen von gefangenen Prinzessinnen. Und, weißt Du, während ich hier vor dem leeren Blatt Papier sitze, bin ich auf einmal ganz begeistert, mir endlich einen Ruck gegeben zu haben, denn da ist so viel, so unendlich viel, wovon ich Dir zu erzählen habe, daß ich mir wünschen würde,«das Meer wäre aus Tinte und der Strand aus Papier», wie es in dem Lied heißt.1 Du weißt ja, Cristina, daß ich schon immer für Romane geschwärmt habe. So wie Du. Und inzwischen bezweifele ich nicht mehr, daß es unsere gemeinsame Liebe zum Theater und zur Literatur war, die uns während der Sommerferien so innig verbun7
den hat, ähnlich wie unser Lerneifer uns während des Schuljahrs zusammengeschweißt hat. Ich denke, wir waren nicht nur blitzgescheit, sondern auch reichlich romantisch und leider auch entsetzlich schüchtern. Ich habe viele Male darüber nachgedacht, woher unsere Schüchternheit rührte, und bin zu dem Schluß gekommen, daß sie nur konsequent war, so, wie wir aussahen, die Stirn breit und völlig nackt, nur umrahmt vom schwarzen Ansatz der ansonsten straff nach hinten gekämmten Haare, noch dazu, wo wir unser Spiegelbild ständig im Glas der Fenster oder Türen vor Augen hatten. Nach Meinung der Nonnen war das ja, wie Du Dich entsinnen wirst, unverzichtbar für den guten Ruf der Mädchen, besonders wenn sie nicht nur brav und fleißig waren, sondern auch noch klug, so wie wir beide. Ich war irgendwann doch tatsächlich fest davon überzeugt, streng zurückgekämmtes Haar sei ein Zeichen vorbildlicher Tugendhaftigkeit, wenngleich ich insgeheim mit tiefer Bewunderung auf die Mädchen schaute, deren Köpfe zwar innen«hohl»waren, wie die Nonnen sagten, äußerlich dafür aber, von weichen Locken und Wellen umspielt, ganz hinreißend aussahen, auch wenn es gegen die Vorschriften verstieß. Ich erinnere mich, daß ich mich unserer moralischen Überlegenheit zum Trotz im Grunde meines Herzens den hübschen Mädchen mit den Lockenköpfen immer weit unterlegen fühlte. Die Romanheldinnen gehörten in meinen Augen jedenfalls zu der Kategorie Mädchen, die das Haar lockig trugen und somit eindeutig dem zuzuordnen waren, was die Nonnen abschätzig«die Welt»nannten. Auf der anderen Seite standen wir, die Nonnen, der Schulkaplan, die zwölf Töchter Mariens2 und die Heiligen des Kirchenkalenders samt Weihrauch, Meßgewändern und Betschemeln. Mit wahrer Begeisterung war ich allerdings nicht bei der Sache. Jene verruchte, von den Schwestern so verabscheute und verachtete«Welt»erstrahlte, ihrer Schlechtigkeit zum Trotz, in meinen Augen in verlockendem Glanz. Unsere vorbildliche Moral galt mir im Vergleich dazu eher als lästige Bürde, und ich kann mich entsinnen, daß ich sie nur widerwillig und mit trauri8
ger Ergebenheit trug, da sie mir nach meiner Überzeugung nie mehr als unbedeutende Nebenrollen im Leben bescheren würde. In diesem Punkt allerdings, liebe Cristina, das sollst Du wissen, hat sich meine Einstellung in den letzten vier Monaten grundlegend geändert. Ich denke, ich bin mit fliegenden Fahnen auf die«weltliche»Seite übergelaufen und habe, so würde ich sagen, schon die höheren Weihen empfangen. Als Zweitbesetzung sehe ich mich jedenfalls nicht mehr; ich bin vollauf zufrieden mit mir und sperre mich inzwischen gegen jegliche Art von Schüchternheit oder Bescheidenheit, ja, ich maße mir sogar an zu behaupten, daß ich millionenfach mehr wert bin als alle Romanheldinnen unserer einstigen Ferienlektüre, wobei ich, nebenbei gesagt, heute denke, daß die Romane, die wir damals lasen, ziemlich schlecht geschrieben waren. In den erwähnten vier Monaten, Cristina, habe ich zwar viele traurige Momente durchlebt, Schreckliches mit ansehen und manche Enttäuschung verwinden müssen; doch trotz allem bin ich unbeschreiblich glücklich, denn in dieser Zeit habe ich auch eine ganz neue Persönlichkeit entfalten können, was ich nie für möglich gehalten hätte, und sehe mich jetzt in einer Rolle, in der ich mich uneingeschränkt wohl fühle. Du, ich, wir alle, die wir uns durchs Leben schlagen und unser Päckchen zu tragen haben, sind Helden und Heldinnen im Roman unseres eigenen Lebens, und der ist viel schöner und tausendmal besser als alle erdichteten Romane. So lautet meine These, die ich im folgenden vor Deinen Augen entwickeln will, indem ich Dir ausführlich wie im echten Roman von allem berichte, was mir in den vier Monaten seit unserem Abschied widerfahren ist. Ich bezweifele nicht, daß mein Bericht Dich interessieren wird. Zumal ich, wie ich inzwischen weiß, eine ausgezeichnete Beobachterin bin und es mir leichtfällt, mich mitzuteilen. Leider nützt mir diese Gabe überhaupt nichts. Ich habe schon des öfteren versucht, Tante Clara und Großmama damit zu beeindrucken, aber die wußten es kein bißchen zu schätzen. Tante 9
Clara hat sich nicht einmal bemüßigt gefühlt, es zu beachten. Doch Großmama, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters ziemlich überholten Vorstellungen verhaftet ist, muß es sehr wohl bemerkt haben, denn sie hat mir schon zweimal vorgeworfen, ich hätte zu viele Grillen im Kopf. Wie Du verstehen wirst, ist das einer der Gründe, warum es für mich hier in diesem großen, tristen Haus, wo mich keiner bewundert und mich kein Mensch versteht, so schrecklich langweilig ist; dieser Wunsch nach Verständnis war letztlich auch der Ansporn, Dir endlich zu schreiben. Ich weiß, Du wirst mich verstehen. Was mich betrifft, bin ich bereit, Dir ohne Vorbehalte oder Scham meine intimsten Gedanken anzuvertrauen. Denn Du hast in meinen Augen den reizvollen Vorzug all dessen, was unwiederbringlich passé ist. Dir meine Geheimnisse anzuvertrauen, wird für mich und mein zukünftiges Leben ganz sicher keine unangenehmen Folgen haben. Schon das allein macht mich zuversichtlich, daß ich es niemals bereuen werde, wenn ich Dir hier mein Innerstes preisgebe. Du wirst in Zukunft so verschwiegen sein wie die Toten, die ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen. Und was die tiefe Zuneigung betrifft, die ich in diese Zeilen lege, so erinnert sie in manchem an jene späte Zärtlichkeit, die in uns aufkeimt, wenn wir all derer gedenken, die uns«für immer»verlassen haben. Ich habe mich zum Schreiben in mein Zimmer zurückgezogen und alle Türen verschlossen. Der Raum ist sehr hell und recht groß, mit einer himmelblauen Tapete und einem vergitterten Fenster, das den Blick auf den zweiten Patio unseres Hauses freigibt. Unmittelbar vor dem Fenster steht ein Orangenbaum; insgesamt gibt es hier vier davon: in jeder Ecke einen. Den Schreibtisch samt Sessel habe ich dicht ans Fenster geschoben, so daß mein Blick, wenn ich den Kopf beim Nachdenken hinten anlehne oder die Ellenbogen auf die weiße Tischplatte aufstütze, direkt auf meinen Orangenhof fällt. Und nachdem ich schon so unendlich viel nachgegrübelt und hinausgeschaut habe, kenne ich in10
zwischen jedes winzigste Detail des grünen Filigrans vor dem Azur des Himmels... Im Moment halte ich die Augen jedoch für ein Weilchen geschlossen, um mich auf meinen Brief einzustimmen; ich sehe also weder Orangenbäume noch den Himmel oder sonst irgend etwas. Die gefalteten Hände vor den Augen, habe ich einige Sekunden lang ganz deutlich Dein Bild vor mir, so, wie ich Dich bei unserem Abschied auf dem Bahnhof von Biarritz sah, als der Zug gerade anfuhr: Zuerst liefst Du gemächlich neben dem Zugfenster her, wurdest dann immer schneller, und bald sah ich Dich nur noch winken, erst mit der Hand, schließlich mit dem Taschentuch:«Leb wohl...! Leb wohl!» Ich erinnere mich deutlich, wie ich, als Du aus meinem Blickfeld verschwunden warst, einen Schritt vom Fenster zurücktrat und eine ganze Weile dort stehenblieb, die immer rascher vorbeihuschenden Häuser und Kilometersteine vor Augen. Irgendwann habe ich mich dann abgewandt und Platz genommen, und da erblickte ich im Spiegel gegenüber mein elendes Gesichtchen, das ganz blaß und traurig unter dem schwarzen Flor hervorblickte, und zum ersten Mal beschlich mich ein schreckliches Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit. Mir kamen die armen Mädchen aus dem Heim in den Sinn, und plötzlich fühlte ich mich wie das leibhaftige Abbild der Verwaisung. Eine unbeschreibliche Beklemmung stieg in mir auf, eine Art Panik, meine Augen füllten sich mit Tränen, und um ein Haar hätte ich bitterlich zu weinen angefangen. Doch gottlob warf ich gerade noch rechtzeitig einen Blick zu Madame Jourdan hinüber … Kannst Du Dich noch an Madame Jourdan erinnern, diese feine Dame mit dem silbergrauen Haar, die im Hotel am Nebentisch saß und später damit betraut wurde, mich nach Paris zu begleiten...? Also, ich schielte vorsichtig zu Madame Jourdan hinüber, die am anderen Ende des Waggons saß, und sah, wie sie mich halb neugierig, halb mitleidig beobachtete. Kaum hatte ich das bemerkt, lichteten sich auch schon die Gewitterwolken, die sich 11
auf mein Gemüt gelegt hatten. Weißt Du, es war schon immer meine Art, niemals zu weinen - das kennst Du ja von mir -, und so ist es bis heute geblieben. Ich weine nie, obwohl ich wahrlich Grund genug hätte, ein ganzes Meer von Tränen zu vergießen. Das mag daran liegen, daß die Traurigkeit von frühester Kindheit an meine Gefährtin war und ich habe lernen müssen, sie vor anderen zu verbergen, rein intuitiv, wie arme Kinder ihre löchrigen Schuhe vor wohlhabenden, gutgekleideten Leuten verbergen. Glücklicherweise gelang es Madame Jourdan rasch, meine Traurigkeit zu zerstreuen, indem sie mich in ein Gespräch verwickelte. Überhaupt erwies sie sich als ausgesprochen reizende Person. Als erstes erkundigte sie sich nach Dir. Anfangs hatte sie uns für Schwestern gehalten, weil wir so unzertrennlich waren und uns immer nur auf spanisch unterhielten. Als sie dann von Papas unerwartetem Tod erfahren hatte und man mit der-Frage an sie herangetreten war, ob sie bereit sei, mich nach Paris zu begleiten, hatte sie angefangen, sich mehr für mich zu interessieren. Ihre eigene Tochter ist mit fünf Jahren gestorben und befände sich heute etwa in unserem Alter. Als sie erfuhr, daß ich soeben erst achtzehn geworden war, sagte sie seufzend und mit vielen Unterbrechungen:«Die Welt ist ein unenträtselbares Puzzle...! Lauter lose Einzelteile, und niemand versteht es, sie zusammenzusetzen...! Ich sehe jetzt, da meine Tochter nicht mehr da ist, ganz allein der Ödnis meines Alters entgegen, während Sie sich ohne den Schutz, ohne den Schatten Ihrer Mutter den schweren Kämpfen des Erwachsenwerdens stellen müssen...!» Das mit der«Ödnis des Alters»und den«schweren Kämpfen des Erwachsenwerdens»hatte sie so hübsch und in einem solch sanften, melodiösen Tonfall gesagt, daß ich in tiefster Bewunderung zu ihr aufblickte. Mir kamen die Theaterschauspielerinnen in den Sinn, die uns mit ihrer sonoren Stimme und der grazilen Körpersprache immer so in ihren Bann gezogen hatten. An sie erinnerte mich Madame Jourdan, auch hinsichtlich ihrer Klugheit; ja, sie konnte durchaus eine Künstlerin sein oder eine Romanschriftstel12
lerin, eine von denen, die unter Pseudonym schreiben; jedenfalls war ich so voll der Bewunderung und Ehrfurcht, daß ich mich spontan von meinem Platz erhob und zu ihr hinging, um mich neben ihr niederzulassen. Zunächst fühlte ich mich von ihrer Persönlichkeit noch ein wenig eingeschüchtert und war gehemmt, doch schon bald löste sich meine Zunge, und ich erzählte ihr von meiner bevorstehenden Reise nach Amerika, wo meine Großmutter mütterlicherseits und mehrere Onkel und Vettern lebten, die mich sehr liebhätten. Dann kamen wir ganz allgemein aufs Reisen zu sprechen, die klimatischen Gegensätze, die Schönheit der tropischen Natur und das amüsante und abwechslungsreiche Leben auf einem Ozeandampfer, und nach zwei Stunden war meine Schüchternheit wie weggeblasen, und wir waren die dicksten Freundinnen. Mir kam es fast so vor, als hätte ich meinen Platz im Puzzle gefunden. Glaub mir, Cristina, in dem Moment hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als mein Leben lang bei der reizenden Madame Jourdan zu bleiben - aber das darf Großmama natürlich niemals erfahren! Doch leider nimmt alles einmal ein Ende, und so auch jene Bahnfahrt. Als wir Paris erreichten, mußte mich Madame bei meinen neuen chaperons 3abliefern. Señor und Señora Ramírez sind Venezolaner und enge Freunde meiner Familie. Ihnen wurde ich zu treuen Händen übergeben, damit sie mich heil und gesund nach La Guaira4 brachten. Zum Glück waren mir beide gleich vom ersten Augenblick an ausgesprochen sympathisch: Nicht nur, daß sie immer bester Laune, ganz reizend und hilfsbereit waren; sie besaßen auch die angenehme Eigenschaft, mir nie mit wohlgemeinten Ratschlägen zu kommen, was, wie Du sicher aus eigener Erfahrung weißt, ein wahrer Glücksfall ist, denn für gewöhnlich lassen Menschen, die uns an Jahren, Würde oder Einfluß überlegen sind, nur allzugern ihre Übellaunigkeit an uns aus, indem sie uns mit ihren vermeintlich klugen Ratschlägen harte und höchst unangenehme Wahrheiten sagen. 13
Die Familie Ramírez wohnte in einem überaus feinen Hotel. Als ich mit Madame Jourdan dort eintraf, kamen sie uns schon entgegen und nahmen uns sehr freundlich und herzlich in Empfang. Nach dem obligatorischen Vorstellungsritual fingen sie erst einmal an, mich ausgiebig zu bemitleiden und sprachen mir ihr Beileid aus, woran ich mich in Zukunft würde gewöhnen müssen. Später erzählten sie mir viel von Caracas, von meiner Familie, von unserer anstehenden Reise und überreichten mir schließlich an die fünfzigtausend Francs, die mein Onkel und Vormund bereitgestellt habe, wahrscheinlich als eine Art Taschengeld, auch für kleinere Ausgaben in Fragen der Toilette, wie sie vermuteten, denn die Reisekosten seien bereits beglichen. Du magst mich ja für geldgierig halten, Cristina, aber ich kann nicht verhehlen, daß sich angesichts dieses unverhofften Geldsegens meine dunklen Gedanken von der Zugfahrt einer nach dem anderen verflüchtigten, ja, sie flogen auf und davon wie ein Schwarm Schwalben, und mit einem Schlag fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch auf Erden und gegen alle Widrigkeiten gewappnet. Hinzu kam, daß mir Ramírez, der lange Jahre in New York gelebt hatte, erklärte, er habe nichts dagegen einzuwenden, wenn ich während unseres Parisaufenthaltes meiner eigenen Wege ginge, immer vorausgesetzt natürlich, daß sich meine Pläne nicht mit denen seiner Gemahlin deckten. Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß ich umgehend beschloß, niemals die gleichen Pläne zu haben wie Señora Ramírez, und so nahm die Geschichte meiner neuen Erfahrungen, Eindrücke und Abenteuer ihren Anfang, wie Du sogleich erfahren wirst. Cristina, Du ahnst ja nicht, wie unglaublich interessant Reisen sein kann! Ich meine nicht die kurzen Zugfahrten, wie wir sie von den Sommerferien her kennen, nein, ich spreche von langen Reisen, von Streifzügen durch die Städte, in meinem Fall Paris, von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, von Seereisen, auf denen man zahllose Hafenstädte kennenlernt. Das Fatale 14
ist nur, daß auch solche Reisen einmal enden, weil man, wie immer, wenn man unterwegs ist, früher oder später ankommt, und dann, Cristina, ist es, als bleibe der Wagen nach einer wundervollen Spazierfahrt abrupt stehen, als verstumme die Musik, die uns bis dahin so herrlich eingelullt hat. Es ist immer unendlich traurig, anzukommen, einerlei wann und wo! Ich meine, vielleicht ist das ja der Grund, weshalb wir uns so sehr vor dem Tod fürchten, denkst Du nicht? Aber zurück zu meinem ersten Gespräch mit der Familie Ramírez: Ehrlich gestanden, Cristina, war ich seit Papas Tod noch nie auf die Idee gekommen, ich könnte auch nur annähernd das sein, was man einen unabhängigen Menschen nennt; jemand, der selbständig und völlig ungezwungen über seine Person und sein Handeln bestimmen darf. Bis zu jenem Tag hatte ich mich eher wie ein Gegenstand gefühlt, den man weiterreicht, einander ausleiht oder verkauft..., eben das, was hier inzwischen aus mir geworden ist und was wir jungen Damen«aus gutem Hause»wohl gemeinhin zu sein pflegen. Mit den fünfzigtausend Francs und seiner Erlaubnis, mich frei und ungebunden in Paris zu bewegen, schenkte mir Señor Ramírez unverhofft dieses wunderbare Gefühl von Freiheit. Noch am selben Abend hockte ich schon mutterseelenallein in der Hotelhalle. In einiger Entfernung unterhielt sich ein Grüppchen junger Leute in ziemlicher Lautstärke; und, strotzend vor Optimismus und Zuversicht in Hinblick auf meine Zukunft, fing ich an, meine neuerworbene Freiheit in vollen Zügen zu genießen. Wie ich so dasaß, ganz ohne Begleitung und etwas abseits von dem fröhlichen Treiben, tat ich, was ich fast immer tue: Ich betrachtete mich eine geraume Weile ausgiebig im Spiegel. Und dabei stellte ich fest, daß ich die Figur einer schrecklich verschüchterten Señorita abgab und ohne Dich, ohne Deine hilfreiche Unterstützung, in meiner schulmädchenhaften Schlichtheit auffallend unbeholfen, ja geradezu lächerlich wirkte. Da kam ich auf die glorreiche Idee, mit fünfzigtausend Francs und ein wenig Phantasie müsse 15
sich doch einiges bewirken lassen. Und sogleich nahm ich mir vor, meine Familie in Caracas mit neuester Pariser Eleganz zu überraschen. Als erstes würde ich nicht umhin können, mein Kleid enger machen und mir eine Frisur à la garçonne5 schneiden zu lassen. Ja, ich wollte das Haar genau so tragen wie die betörend anmutige junge Dame aus dem fröhlichen Grüppchen, das ich mir gegenüber beobachtete. Und sofort stand mein Entschluß fest. Tags darauf brach ich schon in den frühen Morgenstunden auf, kaufte Blumen und machte mich auf den Weg zu meiner lieben Freundin aus dem Zug, Madame Jourdan. Sie begrüßte mich überschwenglich, wie eine uralte Freundin nach langer Trennung. Ihr Haus war wunderhübsch, äußerst geschmackvoll und stilsicher eingerichtet, was das stete Crescendo meiner staunenden Bewunderung noch verstärkte. Ich teilte ihr kurzerhand meinen Entschluß mit, mir die Haare kurz schneiden zu lassen, um modisch und schick als waschechte Pariserin in mein Land heimzukehren. Sie bot mir an, mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen, und begann umgehend, mich in Fragen des Geschmacks und der Toilette zu beraten. Sie empfahl mir auch Schneiderinnen, Putzmacherinnen, Coiffeure, manicures6 und eine Menge Dinge mehr. Obendrein versprach sie, mir auch weiterhin behilflich zu sein, und unter ihrer behutsamen Anleitung machte ich mich noch am selben Nachmittag ans Werk. Das hättest Du sehen müssen! Welch unbeschreibliche Plackerei! Welch eine Hetzerei! Und das Tag für Tag! Und am Ende dann die totale Verwandlung! Keine Spur mehr von diesem unscheinbaren Schulmädchen, von dieser grauen Maus, diesem chien foutté 7, kannst Du Dir das vorstellen? Der Kurzhaarschnitt stand mir blendend. Die Schneiderinnen bestaunten meine hübsche, geschmeidige Figur und gerieten während der Anproben ununterbrochen ins Schwärmen:«Comme Mademoiselle est bien faite!»8 Was ich unverzüglich vor dem aufgeklappten dreiflügeligen Spiegel bewies, indem ich mich kokett in alle Richtungen 16
drehte und wendete. Das war unendlich erhebender als die Wochenkreuze, Schärpen, die Einser im Aufsatz und der Ruhm, den wir beide als die Klassenbesten genossen. Eines Tages verliebte ich mich unsterblich in ein hinreißendes Hütchen mit Schleier, nach Auskunft der Schneiderin ein Witwenschleier, was ich furchtbar aufregend fand. Wenige Tage später trug ich nichts anderes mehr als mein Hütchen mit dem langherabhängenden Witwenschleier. In den Läden sprach man mich mit«Madame»an, und als ich einmal mit dem jüngsten der Ramírezkinder unterwegs war, einem hübschen Knaben von drei Jahren, sagte man mir im Schuhgeschäft, ich müsse wohl sehr früh geheiratet haben bei einem so reizenden Kind, das sei mir ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich widersprach nicht und rechnete mir sogleich aus, daß wir zu dem Zeitpunkt, als Luisito auf die Welt kam, noch in die dritte Klasse gingen. Stell dir vor, was für ein ungeheurer Schock für die Nonnen! Und welchen Spaß wir mit dem kleinen Kerlchen gehabt hätten! Bestimmt hätten wir ihn irgendwann unter dem Pult verstecken müssen, wie die Pralinenschachteln. Jedenfalls entdeckte ich mit meinem falschen Witwenschleier völlig neue, ungeahnte Seiten an Paris. Es war nicht mehr die dunstige, kalte Stadt von früher, als wir während der Weihnachtsferien, in dicke Mäntel gehüllt, gefolgt vom englischen Kindermädchen, Hand in Hand zu den Matineen in die Oper oder ins Théâtre-Français gestapft waren. Damals hatten mich all die eleganten Damen schrecklich eingeschüchtert, ich war mir winzig vorgekommen, wie Aschenputtel inmitten von lauter Prunk und Luxus. Doch jetzt war das anders; wie durch Zauberhand bewegte ich mich auf einmal ungeniert, selbstsicher und mit natürlicher Grazie durch die Straßen von Paris, immer dieses«Comme Mademoiselle est bien faite!»im Kopf, das mir auch jetzt aus allen Blicken entgegenschlug. Inzwischen war es mir schon so zur Gewohnheit geworden, daß ich wie in einem seligen Rausch dahinschwebte. Alle Welt vergötterte mich. Die Freunde der Fami17
lie Ramírez und ihre Kinder himmelten mich an, desgleichen ein Grüppchen reizender Spanier, die im Speisesaal am Tisch gegenüber saßen; der Hoteldirektor verehrte mich, der Kellner, der uns bediente, der Liftboy, der Angetraute meiner manicure, die gesamte Belegschaft beim Coiffeur; und dann war da noch ein vornehmer Passant, der, als ich ihm eines Vormittags auf der Straße begegnete, seinem Begleiter zuraunte:«Regarde donc, quelle jolie fille!»9 In jenen glorreichen Tagen empfing mich Paris plötzlich mit offenen Armen und nahm mich als seine Tochter an, einfach so, quasi über Nacht, aus einer Laune heraus. Kein Zweifel! Ich gehörte jetzt zu jener Heerschar von Frauen, an die Papa sich manchmal erinnerte, wenn er völlig verzückt und mit merkwürdig verdrehten Augen ausrief, als ginge es um köstliche Leckereien:«Was für Frauen!» Dergleichen hatte ich noch nie zuvor erlebt, Cristina. Und ich genoß es in vollen Zügen. In mir blühte etwas auf wie im April und Mai die Bäume unseres Schulparks. Ich fühlte mich, als hätte sich eine Goldmine in mir aufgetan, eine sprudelnde Quelle der Zuversicht, und ich lebte nur, um mich an ihr zu laben und mich in ihr zu spiegeln. Inzwischen glaube ich, es lag an dieser egoistischen Selbstzufriedenheit, daß ich Dir nicht mehr als knappe Ansichtskarten schickte, für die Du Dich mit traurigen, nichtssagenden Briefen bedanktest. Wenn ich sie heute erneut durchlese, spüre ich Deine bittere Enttäuschung, und es tut mir von Herzen leid. Doch inzwischen kannst Du meine Nachlässigkeit sicher verstehen und ebenso, daß ich im siebten Himmel schwebte. Bestimmt hast Du mir längst großmütig verziehen. In manchen Augenblicken ahnte ich indes, daß mein Optimismus und mein Glücksgefühl sich so kurz nach dem Tod meines Vaters vielleicht nicht ziemten. In solchen Momenten machte mir mein Gewissen arg zu schaffen, und um es zum Schweigen zu bringen, verteilte ich rasch ein paar Münzen an arme Bettlerjun-
18
gen oder suchte eine Kirche auf, wo ich einige Francs in den Opferstock warf, für Papa und sein Seelenheil. Ach, Papa, mein armer Papa...! Jetzt, während ich an meine Freundin Cristina schreibe, erscheint mir dein gütiges Gesicht mit einem flüchtigen, nachsichtigen Lächeln. Es ist mir so unendlich vertraut! Nie konntest du mir böse sein! Die wenigen Tage, an denen ich ganz flüchtig deinen sanften, liebenswerten Geist vor mir zu sehen glaubte, waren dein einziges Vermächtnis! Wir blieben drei Monate in Paris, länger als geplant, aufgrund finanzieller Verzögerungen und weil die Ramírez ihre Reisepläne geändert hatten. Jeder für sich gesehen, schienen die Tage nur so dahinzufliegen, doch in der Gesamtschau kamen sie mir unendlich lang und zahlreich vor. Dabei hatte ich doch ständig das Gefühl, als entglitten sie mir und ich müßte ihnen hinterherhetzen, um noch einen Zipfel von ihnen zu erhaschen. Der bloße Gedanke an meine Abreise bedrückte mich sehr, und ich dachte schweren Herzens daran, daß ich mich irgendwann von Paris, das mich so bedingungslos und herzlich aufgenommen hatte, würde verabschieden müssen, so wie von Dir, von Madame Jourdan, wie von allem, was mir im Leben je ans Herz gewachsen war. Welch eine Katastrophe! Welch grausames Schicksal! Nur diese Aussicht vergällte mir ein wenig mein Glück und die neugewonnene Lebensfreude, nachdem mir gerade erst Flügel gewachsen waren. Doch wie alles auf dieser Welt nahm auch Paris ein Ende, und irgendwann kam der traurige Tag, an dem wir, die Familie Ramírez und ich, endgültig unsere Reisekoffer packen mußten. Ich weihte mein neues Kleid ein, nach besonderen Kriterien der Eleganz und des Schnitts für die Reise ausgewählt, und nachdem ich mit meinem Necessaire in der Hand eine ganze Weile vor dem riesigen Hotelspiegel auf- und abstolziert war, um zu überprüfen, ob ich in meinem Reisekostüm auch wirklich eine gute Figur machte, bestieg ich zusammen mit den Ramírez den Zug
19
nach Barcelona, wo uns der Überseedampfer«Manuel Arnús», der uns nach La Guaira befördern sollte, bereits erwartete. Ich weiß noch, daß ich Dir, kurz bevor ich an Bord ging, rasch einen knappen Abschiedsgruß auf eine Ansichtskarte kritzelte. Mehr konnte ich nicht schreiben, denn ich erstickte beinah an meiner Traurigkeit, und außerdem mußte ich mir unbedingt noch ein Fläschchen flüssige Schminke von Guerlainbesorgen, die man mir empfohlen hatte, da die scharfe Meeresbrise einem jede Art von Puder sofort aus dem Gesicht fegt. Und dann gingen wir an Bord. Ach, ich habe noch die Schiffssirene des auslaufenden Dampfers im Ohr, und der Gedanke daran macht mich so traurig, daß ich lieber nicht weiter davon reden möchte. Glücklicherweise verschaffte mir das fröhliche Leben an Bord bald Ablenkung. Dieses Gefühl auf hoher See, allseits nur von Himmel umgeben, ist schier unbeschreiblich. Da kommen einem unweigerlich Christoph Kolumbus, die Bücher von Jules Verne, die verlassenen Inseln und Unterwasserberge in den Sinn, so daß man am liebsten hinabtauchen und sich mitten ins Abenteuer stürzen würde. Doch diesen geographischen Aspekt hat man alsbald wieder vergessen, wenn man sich dem aufregenden Gesellschaftsleben an Bord widmet. Du weißt ja, daß ich gewiß nicht zu übertriebenem Selbstlob neige, schon weil es sich nicht ziemt, doch ich kann nicht leugnen, daß ich, kaum hatte ich den Fuß an Deck gesetzt, bemerkte, wie sehr ich unter meinen Mitreisenden für Aufruhr sorgte. Während fast alle Damen seekrank darniederlagen, auf ihren Liegestühlen oder in ihren Kabinen, blieb ich von solchen Leiden verschont. So konnte ich den ganzen Tag lang meine gesamte Modekollektion vorführen: alle Arten von Mänteln, Kleidern und insbesondere meine weichkrempigen Hüte angeblich zum Schutz gegen die Sonne -, die ich mit vollendeter Eleganz zu tragen lernte. Die wechselnden Hüte waren mein ganzer Stolz. Morgens mit einem schwarzweißen, mittags mit einem violetten, abends mit 20
einem grauen, flanierte ich, ein Buch oder ein Fläschchen Riechsalz in der Hand, leger und würdevoll zugleich an Deck auf und ab. Die Herren der Schöpfung saßen, die Wollmützen bis tief über die Augenbrauen gezogen, manche mit einer Havanna oder einer Zigarette zwischen den Lippen, in ihren Deckstühlen, in ihre Bücher oder Journale vertieft, doch sobald ich nahte, spürte ich, wie sich ihre interessierten Blicke auf mich richteten und mir noch lange folgten. Die Frauen ihrerseits musterten mich neugierig von Kopf bis Fuß, und ich wage zu behaupten, nicht ohne Neid, so als wollten sie meinen Stil kopieren. Ich bestreite nicht, daß ich mich äußerst geschmeichelt fühlte; immerhin war ihre Reaktion ein untrüglicher Beweis für meinen unglaublichen succès10. Es war wie im Märchen, etwas, das ich immer für so unerreichbar gehalten hatte wie das Licht der Sonne. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen, mich im Besitz eines solch kostbaren Schatzes zu wissen, und ich gestehe es Dir ohne jede Scham oder falsche Bescheidenheit, denn ich weiß, daß Dir ähnliches widerfahren wird, solltest Du Dich je von Deinen langen Haaren trennen, Louis-quinze-Absätze tragen und die Vorzüge von Lippenstift und Wangenrot zu schätzen lernen. Daher verdammst Du mich gewiß nicht, anders als all die Ahnungslosen wie Großmama, die Ordensschwestern und ganz besonders der heilige Hieronymus, der ja die schlimmsten Dinge über die schicken Frauen seiner Zeit geäußert haben soll.11 Schon bald nachdem wir an Bord gegangen waren, schloß ich neue Bekanntschaften. Am interessantesten war schließlich ein kolumbianischer Poet und ehemaliger Diplomat, nicht mehr ganz jung und verwitwet. Er wurde mein ständiger Begleiter, der mir diskret und überaus galant den Hof machte. Sobald abends im Salon eine Musikkapelle aufspielte oder gesungen wurde, zog ich mich zurück, wie es sich gehört, wenn man in Trauer ist, um mir an Deck ein ruhiges Fleckchen zu suchen, wo ich, angenehm von der Musik berieselt und die Ellenbogen auf die Reling gestützt, den herrlichen Blick aufs Meer mit dem sich spiegelnden Mond 21
und der weißen Kielspur unseres Schiffs im schwarzblauen Wasser genoß. Für gewöhnlich ließ mein Freund nicht lange auf sich warten, der immer so feinfühlig war, meine Abwesenheit im Saal sehr bald zu bemerken. Dann begann er, neben mir an die Reling gelehnt, ganz sanft und mit eintönig zischelndem«s»seine Verse vorzutragen. Ich war wie verzaubert. Nicht etwa von der Schönheit seiner Poesie, denn, um ehrlich zu sein, hörte ich nicht einmal hin, nein, sondern weil ich, frei von der Verpflichtung, Konversation zu betreiben, ungestört meinen Gedanken nachhängen konnte. Insgeheim dachte ich:«Kein Zweifel, er ist in mich verliebt.»Und da mir das zum erstenmal widerfuhr und die nächtliche Stimmung den passenden Rahmen bot, fühlte ich mich wie eine der Romanheldinnen aus«La Mode Illustrée», die wir so gerne in den Sommerferien gelesen hatten, und fand, ich stünde ihnen in nichts nach, was mich derart in Wallung brachte, daß ich, kaum hatte mein Freund die letzte Strophe beendet, ihn in den höchsten Tönen pries. Wäre es doch immer dabei geblieben! Ich hätte sein Andenken mein Leben lang in Ehren gehalten und ihn vage und nebulös in meiner Erinnerung bewahrt, fern und verschwommen, dort auf hoher See im Mondschein, wie in einem süßen, romantischen und leicht melancholischen Traum. Aber, Cristina, leider besitzen Männer nicht die geringste Spur von Feingefühl. Sie mögen ja weiser sein als Salomon und älter als Methusalem, doch eine simple und grundlegende Eigenschaft, nämlich das, was man gemeinhin«Feingefühl»nennt, ist ihnen vollkommen fremd. Das mußte ich bei meinem Poetenfreund und Exdiplomaten vom Dampfer auf schmerzliche Weise erfahren. Obwohl er in jeder Hinsicht gebildet, intelligent und feinsinnig zu sein schien, ließ er jegliche Art von Taktgefühl vermissen. Aber laß Dir den Vorfall schildern, dem ich diese Einsicht verdanke, und mach Dir selbst Deinen Reim darauf. Stell Dir vor: eine Nacht auf dem Schiff; anläßlich irgendeines Nationalfeiertages hatten alle Passagiere reichlich Champagner 22
getrunken. Nur ich ließ mich von der allgemeinen Heiterkeit nicht anstecken, hatte ich mir doch beim Versuch, mir eine Nadel anzuheften, einen langen, häßlichen, gräßlich entstellenden Kratzer auf dem linken Handrücken zugezogen. Ich hatte also mehr als einen Grund, die ausgelassene Feier zu meiden und mich in meine Ecke an Deck zu flüchten, wo sich schon bald mein Verehrer zu mir gesellte. Innerlich kochend vor Wut, blickte ich entsprechend mißmutig auf das im Mondschein glitzernde Meer, während ich insgeheim nachrechnete, wie viele Tage dieser Kratzer mir noch erhalten bleiben mochte. Mein Freund war wenigstens so rücksichtsvoll, auf seine lyrischen Ergüsse zu verzichten und vorsichtig nachzufragen:«Was ist heute abend nur mit Ihnen los, María Eugenia, warum wirken Sie so traurig?» «Ach, ich habe mich an der linken Hand verletzt, und jetzt tut die Wunde furchtbar weh.»Und da ich schon immer dafür plädiert habe, körperliche Defekte, sofern sie unübersehbar und somit nicht mehr zu verbergen sind, ganz offen zu zeigen, hielt ich ihm gleich meine linke Hand mit einer langen, roten, quer darüber verlaufenden Linie vor die Nase. Er nahm meine Hand in seine, und, nachdem er sie aus der Nähe begutachtet und befunden hatte, es sei nur ein harmloser, kaum sichtbarer Kratzer, fuhr er in pathetischem Ton fort:«Oh...! Wie göttlich diese Hand, einer italienischen Madonna würdig! Das Werk eines großen Meisters der Renaissance, aus Marmor gemeißelt in dem glühenden Wunsch, die Herzen der Ungläubigen für den Glauben zu gewinnen. Wäre mir letztes Jahr, als ich das Kartäuserkloster in Florenz besuchte, eine Jungfrau mit solch göttlichen Händen begegnet, ich hätte mich zum Glauben bekannt!» Wie Du weißt, Cristina, sind meine Hände in der Tat nicht übel; Du weißt auch, daß ich mich ihrer schon immer sehr gerühmt habe. Mit dem Klimawechsel hatten sie obendrein eine unerklärliche Blässe erlangt, so daß sie in jenem Augenblick, strahlend im Mondlicht, so zierlich und gepflegt, trotz des Krat23
zers an der linken, dieses Kompliment mehr als verdienten. Ja, ich fand es nicht nur angemessen, sondern auch äußerst galant, feinsinnig und von erlesenem Geschmack. Schon war mein Ärger beinahe verflogen, und ich faltete die Hände, um sie noch besser zur Geltung zu bringen, legte sanft das Kinn auf die verschränkten Finger und blickte unverwandt weiter aufs Meer hinaus. «Jetzt gleichen sie zwei weißen Lilien, die eine Rose stützen», fuhr mein Freund fort zu deklamieren.«Sagen Sie, María Eugenia, sind Ihre Wangen denn niemals neidisch auf Ihre Hände?» «Nein», erwiderte ich.«Hier leben alle in vollkommener Harmonie.»Und da es mir gerade geboten erschien, diesen knappen Satz mit einer entsprechenden Geste zu untermalen, ohne jedoch die Linie meiner Pose wesentlich zu verändern, senkte ich leicht die Lider und schenkte meinem Freund einen langen, schmachtenden Blick, begleitet von einem Lächeln. Doch, was glaubst Du, Cristina, fiel meinem Poetenfreund ein, als wir an diesem Punkt unseres zarten Zwiegesprächs angelangt waren? Dieser Kretin bildete sich doch allen Ernstes ein, er könne mir mit seinem gräßlichen, unerträglich nach Tabak und Champagner stinkenden, graubebarteten Mund einen Kuß aufdrücken, mitten auf meine taufrischen, strahlend lächelnden Lippen, die ich mir zu allem Überfluß gerade erst mit Karminrot von Guerlainnachgezogen hatte. Aber ach, zum Glück bin ich ja flink und obendrein furchtbar schreckhaft, so daß er sein abscheuliches Vorhaben nicht zu Ende bringen konnte; denn als ich mich plötzlich von seinen Armen bedrängt sah, fing ich vor lauter Entsetzen an, heftig den Kopf zu schütteln, ihn in alle Richtungen abzuwenden, bis es mir schließlich gelang, mich seitwärts seinen Armen zu entwinden und fluchtartig das Weite zu suchen. Erst als ich mich in sicherer Entfernung wähnte, blickte ich noch einmal zurück, neugierig, zu erfahren, was für einen Ausgang diese merkwürdige Szene genommen hatte. Da sah ich meinen Freund, der kurzsichtig war, am Boden hocken, wohl auf der Suche nach seiner Brille, die ihm infolge meiner heftigen Gegenwehr von der 24
Nase gerutscht sein mußte; somit gesellte sich in diesem kritischen Augenblick zu seinem Schmerz über die Niederlage und erlittene Kränkung nun noch die dunkle Pein der Blindheit. Ach, Cristina, solange ich lebe, werde ich den Anblick dieser kleinen, lächerlichen Gestalt nicht vergessen, die dort, blind am Boden kauernd, vergeblich nach der heruntergefallenen Brille tastete, welche ich trotz der Entfernung direkt vor seinen Füßen aufblitzen sah! Seit jenem Abend sprach ich kein Wort mehr mit meinem großen Bewunderer und Freund, dem kolumbianischen Poeten, nicht einmal zum Gruß. Nicht, daß ich ihm ernstlich böse gewesen wäre; ich hielt es nur für geboten, nach einem derartigen unverzeihlichen Fauxpas meine Würde zu wahren, indem ich schwieg und mich unnahbar gab. Doch ich muß zugeben, daß ich in diesem Korsett meiner ostentativen Empörung und Distinguiertheit das Leben an Bord weit weniger unterhaltsam fand. Da war niemand mehr, der mir schmeichelte und mit sanfter Stimme seine Bewunderung aussprach; niemand, der meine Schlagfertigkeit pries; niemand, der mir im Mondschein Verse vortrug. Wenn ich mir mein weiches Hütchen aufsetzte und an Deck ging, suchte ich jetzt die Einsamkeit, saß viele Stunden auf einem Brückennock hoch über dem Meer, und während ich wehmütig verfolgte, wie der Dampfer in gleichmäßiger Fahrt durchs Wasser glitt, dachte ich von Zeit zu Zeit daran, daß meinem Freund diese unbeschreibliche gaffe12 nur deshalb hatte unterlaufen können, weil er sich hinsichtlich seiner äußeren Reize eine völlig falsche Vorstellung machte. Ich sagte mir, ihm müsse wohl entgangen sein, wie abstoßend ich ihn fand mit seiner Hakennase und seinem unproportionierten Körper, daß er mir ohnehin viel zu alt und geziert war und mich seine Verse lediglich als einlullende Hintergrundmusik für meine eigenen Gedanken interessiert hatten. Seither bin ich zu der Überzeugung gelangt, Cristina, daß es nicht von Belang ist, wieviel Männer wissen, da sie sich generell so verhalten, als wären sie ahnungslose Trottel, was an ihrem na25
turgegebenen Unvermögen liegt, ihr eigenes Bild im Spiegel eines anderen Geistes zu erkennen, weshalb sie auch keine Vorstellung von sich selbst haben und man glatt den Eindruck bekommt, sie hätten noch nie in einen Spiegel geblickt. Deshalb kann ich Großmama nicht beipflichten, wenn sie bei Tisch ihrem Ärger über die heutigen Männer Luft macht und mich vor diesen schrecklichen Aufschneidern und Verleumdern warnt, wie sie es nennt; dann brauche ich mir nur die Szene auf dem Dampfer ins Gedächtnis zu rufen, als mein Dichterfreund am Boden hockend nach seiner Brille suchte, und muß jedesmal schmunzeln. Ja, Cristina, Großmama mag sagen, was sie will, ich indes glaube, wenn die Männer uns herablassend behandeln, tun sie das in allerbester Absicht; und Angeber sind sie nur, weil sie sich selbst nicht erkennen und glücklich mit dem frommen Nimbus der Täuschung durchs Leben gehen, während sie in Wirklichkeit nur lächerlich sind, eine Eigenschaft, die ihnen treu an den Fersen klebt wie ein unsichtbarer Hund. Nach achtzehn Tagen auf See fuhren wir an einem heiteren Abend im Zwielicht eines unwirklichen Sonnenuntergangs schließlich in venezolanische Küstengewässer ein. Kaum hatte ich die Neuigkeit vernommen, zog ich mich tief bewegt und mit klopfendem Herzen auf meinen erhöhten Sitzplatz auf dem einsamen Brückennock zurück, um von dort oben unbeobachtet das überwältigende Schauspiel zu genießen, das sich einem bietet, wenn das Schiff aufs Festland zusteuert. Jener Abend wird mir auf ewig unvergeßlich bleiben. Es gibt Momente im Leben, Cristina, in denen unser Geist sich zu läutern scheint und uns in einen erhabenen Zustand der Erregung versetzt, in dem wir spüren, wie er sich zu nie geahnten Höhen aufschwingt, um uns wie ein Seher von unbekannten Dingen zu künden. In solchen Augenblicken fügen wir uns mit frommer Ergebenheit in zukünftige Qualen, und in unseren Herzen keimt die Wehmut vergangener Freuden auf, die uns weit trauriger machen 26
als alle Kümmernisse, denn in unserer Erinnerung sind sie wie Leichname, die wir niemals loswerden, da wir uns nicht entschließen können, sie zu begraben... Sicherlich hast Du schon manches Mal ähnliches erfahren, nicht wahr...? Etwa beim Musikhören oder beim Anblick einer Landschaft in der unendlichen Zerbrechlichkeit eines Sonnenuntergangs... An jedem Abend jedenfalls, als ich dort auf dem Brückennock saß und mein Blick sich in den am Horizont auftürmenden Wolkenmassen verlor, hatte ich das Gefühl, von einer hohen Warte aus sehe jemand auf mein gesamtes vergangenes und zukünftiges Leben herab, und auf einmal beschlich mich, ich weiß nicht, warum, eine Vorahnung großer Traurigkeit. Der Dampfer hielt langsam auf mehrere Lichter zu, die unter der dichten Wolkenwand in der Ferne kaum von dem blassen Schimmer der Sterne am Himmel zu unterscheiden waren. Nach und nach wuchsen und vermehrten sich die Signallampen, als habe Venus sich an jenem Abend auf dem Meer allzu verschwenderisch in Szene setzen wollen. Dann begannen sich allmählich, vage und verschwommen in der nebelverhangenen Dämmerung, die dunklen Blöcke der einzelnen Berge abzuzeichnen. Die fröhlich funkelnden Lichter flackerten oben am tiefen Himmel und unten an den Hängen der Berge, die den Dampfer von Mal zu Mal vertraulicher, einladender und mit immer offeneren Armen zu empfangen schienen, bis linker Hand wie in einem herrlichen Lichterspiel das ganze Meer am Fuße der Berge entflammte. In die Passagiere, die unterhalb meines Aussichtspunkts an der Reling lehnten, kam Bewegung. Sie riefen lauthals und lachten, erfüllt von der Freude, die jeden Seereisenden in Erwartung der einladenden Behaglichkeit einer vor ihm liegenden Hafenstadt ergreift. Es waren die Lichter von Macuto, die dort vor uns erstrahlten; Macuto, Cristina, ist unser vornehmster Badeort, unser modernstes und angesehenstes Seebad, quasi das Deauville oder San Sebastián von Venezuela. Nicht minder glanzvoll erleuchtet, glitt der Dämpfer seitwärts, gespreizt wie ein stolzer Galan, ganz all27
mählich auf die Lichter zu. Strahlend vor lauter Festtagsfreude schienen diese wie mit tausend Freundesstimmen vom Festland aus nach uns zu rufen. Die Venezolaner begannen begeistert zu mutmaßen:«Von dort können sie uns bestimmt auch sehen!» Ich blieb abseits, in einem dunklen Winkel meines erhöhten Beobachtungspostens verborgen, den zwei aneinanderstoßende Rettungsboote bildeten. Während ich das Schauspiel betrachtete, stieg vage die Erinnerung an jenen Morgen in mir auf, da ich als ganz kleines Mädchen mit langen, wallenden Locken und in Kniestrümpfen zusammen mit Papa den Dampfer bestiegen hatte, der uns nach Europa bringen sollte. Beim Anblick des Meeres hatte mich plötzlich die Angst vor dem Ungewissen erfaßt, und als wir an Bord gingen, hatte ich mich bang an die Hand meiner Amme geklammert, jener trägen, verträumten Mulattin, die mich von klein auf, seit meiner Geburt, wie eine Mutter umsorgt und sich - weißt Du noch? - später ab und zu auch um Dich gekümmert hatte, bevor sie in Paris starb, weil sie dem rauhen Klima des Winters dort nicht gewachsen war... Den Blick unverwandt auf die immer heller werdenden Lichter von Macuto gerichtet, hatte ich jetzt Mühe, mir die feine, hochgewachsene Gestalt von Onkel Pancho, Papas älterem Bruder, zu vergegenwärtigen, der uns zum Abschied bis ans Schiff begleitet und mir erzählt hatte, unartige Kinder, die an der Reling hochkletterten, würden von den dämonischen Maschinisten in den höllischen Maschinenraum geworfen... Ich dachte daran, wie er mich anschließend hochgehoben und mit Küssen überhäuft hatte, ehe er mich wortlos wieder abgesetzt hatte. Dann hatte er mir noch eine Tüte Bonbons und einen Karton in die Hand gedrückt, in der eine blonde Puppe im blauen Kleid schlummerte... Das Ganze war vor zwölf Jahren gewesen..., herrje...! Zwölf lange Jahre...! Von den dreien, die an jenem Morgen auf Reisen gingen, war ich die einzige, die jetzt zurückkehrte... Würde Onkel Pancho am nächsten Tag dort sein, um mich in Empfang zu nehmen? Vielleicht nicht. Allerdings hatte man meine Ankunft telegraphisch 28
angekündigt, und irgend jemand würde mich sicherlich dort erwarten..., nur wer...? Wer würde es sein? So rasch, wie es aufgetaucht war, verschwand Macuto wieder hinter einer schroffen Küstenbiegung, und bald darauf machte der Dampfer vor der Bucht, die den Hafen von La Guaira umschließt, ganz langsam halt. Bevor er vor Anker ging, bäumte er sich noch einmal minutenlang auf und kam endlich im Schutz der gigantischen, mit Lichtern gesprenkelten Berge mühsam zum Stillstand, als wolle er sich in der lauen Luft von den Anstrengungen einer unermüdlichen Fahrt erholen. Wie gesagt, Cristina, jede Ankunft ist mit einer unerklärlichen Wehmut verbunden. Wenn ein Schiff am Ende einer so langen Reise anhält, ist es, als stünden auf einmal auch alle unsere Träume still, als verstummten unsere Sehnsüchte. Das sanfte Gleiten von etwas, das uns trägt, ist höchst belebend für den Geist. Warum wohl...? Vielleicht, weil die Seele, wenn sie spürt, daß sie sich ohne ihr eigenes Zutun fortbewegt, träumt, sie schwebe, frei von allem körperlichen Ballast, hoch oben über der Erde...? Ich weiß jedenfalls noch, daß ich an jenem Abend, als der Dampfer vor der Bucht von La Guaira ankerte, mit dem traurigen Gefühl einschlief, eingesperrt zu sein, als hätte man meinem Geist die Flügel gestutzt. Am nächsten Tag wachte ich auf, als der Dampfer sich in Bewegung setzte, um an der Mole anzulegen. Die morgendliche Ausgelassenheit schien sich mit einem einzigen Sonnenstrahl, der sich in der Fensterscheibe brach, in den Raum zu ergießen und überflutete mein Bett mit glitzernden Lichtreflexen. Kaum hatte ich die Augen aufgeschlagen, betrachtete ich sie für eine Weile, und als sei mit dem Licht, das mich in den Pupillen blendete, die Melancholie vom Vorabend aus meiner Seele gewichen, sprang ich voller morgendlicher Fröhlichkeit und Neugier auf die unbekannten Gegenden aus dem Bett und lief zum Bullauge, um hinauszuspähen. Bei der gemächlichen Fahrt des Dampfers zog die Landschaft langsam vorbei. Ich hatte schon häufig von der Häß29
lichkeit des Hafenstädtchens La Guaira reden hören. Daher war ich an jenem Morgen angenehm überrascht von dem Anblick, der sich mir bot, wie man von einem unerwarteten Lächeln in einem vermeintlich fremden Gesicht überrascht ist, das sich dann als das eines Freundes aus Kindertagen herausstellt. Vor meinen Augen, Cristina, unmittelbar an der Küste, türmte sich ein massiges, schroffes Gebirge auf. Die kargen gelben Hänge waren übersät mit bunten kleinen Häuschen, die mit der Waghalsigkeit einer Ziegenherde die felsigen Klippen und steilen Abhänge zu erklimmen schienen. Ganz willkürlich zeigte sich ab und zu in den unbebauten Zwischenräumen eine spärliche Vegetation. Wie die Häuschen dort so todesmutig über den Schluchten balancierten, wirkten sie ähnlich arglos und unwirklich wie die kleinen Papphäuschen, mit denen die Schwestern im Internat zu Weihnachten die Krippen auszustatten pflegten. Ihr Anblick rief in meinem Herzen die naive Fröhlichkeit der Weihnachtslieder wach, die jedes Jahr den freudigen Auftakt der Weihnachtsferien verkündet hatten. Ich war froh bei dem Gedanken, daß ich die Eintönigkeit an Bord jetzt hinter mir lassen und bald wieder den kühlen Schatten unter den Bäumen sowie die Freiheit genießen würde, nach Lust und Laune über festen Boden zu laufen. Mit einemmal überkam mich der ungeheure, beglückende Tatendrang derer, die sich auf große Überraschungen gefaßt machen, und während draußen scheppernd die Hebekräne und Flaschenzüge anrückten, um mit lautem Getöse die Vorkehrungen fürs Ausschiffen zu treffen, konnte ich es kaum mehr abwarten, an Deck zu gehen, und begann sogleich fieberhaft, alles zurechtzulegen und mich anzukleiden. Ich weiß noch, daß ich soeben meine Sachen geordnet hatte und nach meinem Hut griff, als ich Señora Ramírez in ihrem trägen kreolischen Singsang rufen hörte:«Hier entlang, hier entlang! Sie ist bestimmt schon fertig angezogen! María Eugenia! María Eugenia! Dein Onkel!»
30
Kaum hatte ich diese magischen Worte vernommen, stürzte ich auch schon aus meiner Kabine, wo ich in dem engen Flur, der nach oben führte, die hohe, leicht gebeugte Gestalt eines in weißen Drillich gekleideten Herrn im Gegenlicht auf mich zukommen sah. Bei seinem Anblick erfaßte mich die gleiche Wehmut wie am Vorabend: Ich dachte an Papa, spürte plötzlich, wie meine gesamte frühe Kindheit wieder vor mir auflebte, und lief, tief bewegt und den Tränen nahe, mit ausgebreiteten Armen los, ihm entgegen, während ich euphorisch ausrief:«Ach! Onkel Pancho! Onkel Panchito13!» Er drückte mich zärtlich an seine weiße Hemdbrust, während er mit schleppender, näselnder Stimme erwiderte:«Ich bin nicht Pancho. Ich bin Eduardo, dein Onkel Eduardo, erinnerst du dich nicht mehr an mich?» Dann nahm er sanft meinen Arm und führte mich durch den Flur nach draußen in die Helligkeit an Deck. Meine anfängliche Begeisterung war mit einem Schlag verflogen, als ich dieses unangenehme Quidproquo erkannte. Der Eindruck, den die Erscheinung meines Onkels bei Licht besehen auf mich machte, mißfiel mir ganz und gar. Offen gestanden, Cristina, war er sogar so katastrophal, daß er schlimmer nicht hätte sein können. Zunächst einmal mußt Du wissen, daß mein Onkel und Vormund Eduardo Aguirre mir vom Aussehen her völlig unbekannt war. In den Tagen meiner frühen Kindheit lebte jener Bruder meiner Mutter mit seiner Familie weit entfernt von Caracas, und falls ich ihn einmal gesehen haben sollte, hat er keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, denn seine Züge befanden sich nicht in meiner Sammlung von Gesichtern, die ich, wenngleich verblichen und unscharf, wie zu lange dem Sonnenlicht ausgesetzte Photographien, in meinem Gedächtnis gespeichert hatte. Ohne Onkel Eduardo vom Sehen zu kennen, hatte ich doch schon einiges über ihn gehört. Papa hatte ihn sehr häufig erwähnt. Allmonatlich hatten uns Briefe von Eduardo erreicht. Ich sehe 31
Papa noch wie heute vor mir, wenn er sie in Empfang nahm. Bevor er das Kuvert öffnete, drehte und wendete er es mit der gewohnten Eleganz seiner langen, spitzen Finger, jedoch voller Widerwillen in den Händen. Besagte Briefe müssen ihm immer schwer auf der Seele gelastet haben, denn nachdem er sie gelesen hatte, wirkte er jedesmal nachdenklich und niedergeschlagen und gab geraume Zeit keinen Ton von sich. Manchmal sah er mich an, wenn er sich endlich dazu durchrang, den Umschlag aufzureißen, und brummte leise, als wollte er sich mit diesem halben Bekenntnis ein wenig erleichtern:«Von Eduardo, dem Schwachkopf. »Andere Male warf er den Brief ungeöffnet auf den Tisch, wie eine Spielkarte nach einer verlorenen Runde, woraufhin er sich, mit leicht abgewandelter Wortwahl, die Frage stellte:«Was wird mir dieser Idiot Eduardo heute wieder mitteilen?» Die Bedrücktheit, mit der Papa auf diese Briefe reagierte, hatte ich immer auf finanzielle Unstimmigkeiten zurückgeführt, womit ich mir auch sein abschätziges Urteil über Onkel Eduardo erklärte, der sein Vermögen verwaltete. Doch an jenem Morgen meiner Ankunft erkannte ich, sobald ich meinen Onkel an Deck bei hellem Tageslicht kritisch in Augenschein nehmen konnte, daß Papa wohl völlig recht gehabt hatte mit seiner ebenso knappen wie unmißverständlichen Einschätzung. Da ich es für den Fortgang der Geschichte hilfreich finde, Dir Onkel Eduardo genauer zu beschreiben, und zwar diesen ersten Eindruck, den er damals auf mich machte, will ich ihn Dir kurz so schildern, wie ich ihn an jenem Morgen an Deck der«Arnús»sah. Stell Dir vor, er stand direkt vor mir, wie bei der Enge an Bord nicht anders möglich, wenn man sich unterhält, neben einem schmalen Streifen Sonne und einem aufgerollten Tau; wie er da so hager, stumpfsinnig, unheimlich bleich und mit schlaffem Schnurrbart an der Reling lehnte, gab er das Bild eines ganz und gar kranken, traurigen Menschen ab. Später habe ich erfahren, daß ihn in seiner Jugend das Sumpffieber geschwächt hatte und ihm heute ich weiß nicht was für ein Leberleiden zu schaffen 32
macht. Der weiße Drillichanzug schlotterte lose um seinen ausgemergelten Leib, als sei er nicht für ihn gemacht, wodurch er einen ausgesprochen armseligen und ungepflegten Eindruck erweckte. Er redete mit ausladenden, schrecklich linkischen, nach innen gerichteten Gesten, die in keinerlei Bezug zu dem standen, was seine Stimme sagte, eine Stimme im übrigen, Cristina, die nicht nur furchtbar näselnd klang, sondern auch in einem unglaublich monotonen, verdrießlichen Singsang dahinplätscherte. Ich starrte ihn verwundert an, während ich im Geiste ausrief:«Mein Gott, wie häßlich!» Ich bemühte mich, diesen so wenig schmeichelhaften, flüchtigen Eindruck, dieses vernichtende Urteil hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. Und in der Absicht, mich noch besser zu verstellen, begann ich, mich eifrig nach der gesamten Familie zu erkundigen. Ich fragte ihn nach dem Befinden von Großmama, Tante Clara, seiner Frau, seinen Kindern. Doch vergeblich. Meine freundliche Nachfrage klang auffällig gekünstelt. Die Gedanken hinkten immer hinter dem her, was meine Augen unersättlich von oben bis unten an meinem Gegenüber erforschten, während mir jetzt, da ich den lebenden Beweis vor mir hatte - ständig Papas Worte im Ohr nachhallten:«Eduardo, dieser Schwachkopf», «dieser Idiot Eduardo». Rücklings ans Geländer gelehnt, die aufgerollten Taue vor den Füßen, erzählte er mir in seiner umständlichen, ausdruckslosen Art, die gesamte Familie brenne nur so darauf, mich zu sehen; er sei extra schon gestern morgen in Caracas aufgebrochen, da die Ankunft des Dampfers für den gestrigen Abend angekündigt worden sei; folglich habe er die Nacht in Macuto verbringen müssen; von dort aus habe er den Dampfer gegen sieben Uhr vorbeifahren sehen; seine Frau und seine vier Kinder müßten jeden Moment an der Mole eintreffen, da sie bereits vor gut einer Stunde mit dem Wagen in Caracas aufgebrochen seien; höchstwahrscheinlich werde auch Onkel Pancho Alonso noch erscheinen, er meine zumindest, etwas Derartiges aufgeschnappt 33
zu haben; da er dringend einige Dinge in La Guaira zu erledigen habe, halte er es für das beste, wenn wir alle zusammen in Macuto essen gingen; ich würde schon sehen, daß Macuto angenehm erfrischend, fröhlich und sehr hübsch sei; und nach dem Mittagessen würden wir dann nach Caracas hinauffahren, wo Großmama und Tante Clara es kaum noch erwarten könnten, mich endlich in die Arme zu schließen. Während er diese Ansprache hielt, sah ich ihn die ganze Zeit freundlich lächelnd an und dachte nur, wie häßlich, tölpelhaft und schlecht gekleidet er sei. Etwas davon muß sich trotz meines breiten falschen Lächelns in meiner Mimik widergespiegelt haben, denn auf einmal sagte er:«Ich bin in diesem Aufzug hergekommen…, weißt du…, weil man hier nur helle Kleidung tragen kann, bei dieser unerträglichen Hitze! Und ich warne dich jetzt schon: La Guaira wird dir überhaupt nicht gefallen. Es ist unerträglich: enge Gäßchen, schlecht gepflastert, viel Sonne, viel Hitze, und...»- er senkte geheimnisvoll die Stimme -«viele Schwarze! Ach, es ist nicht zum Aushalten!» Ich erwiderte mit meinem auf den Lippen festgefrorenen Lächeln:«Was macht das schon, Onkel. Da wir dort ja nur kurz haltmachen werden, ist es doch einerlei.» Aber ich schwöre Dir, Cristina, hätten wir uns im Palast der Wahrheit befunden, wo man bekanntermaßen seine geheimsten Gedanken äußern kann, ohne übertriebene Rücksicht auf die Selbstachtung anderer nehmen zu müssen, hätte ich ihm glatt geantwortet:«Es ist gut möglich, daß La Guaira so häßlich ist, wie du sagst, Onkel Eduardo; allerdings bin ich mir sicher, daß es dir in dieser Hinsicht bei weitem nicht das Wasser reichen kann. Ja, La Guaira wird wohl die ehrwürdige und unauffällige Häßlichkeit haben, die unbelebten Dingen eigen ist; aber ich würde wetten, daß es weder linkisch mit den Armen herumfuchtelt, noch schlotternde Kleidung oder einen traurig herabhängenden Schnurrbart trägt, und vor allem nicht näselt. Ganz im Gegensatz zu dir, Onkel Eduardo, der du dich leider bewegst, redest und dich kleidest, 34
was zur Folge hat, daß deine aktive Häßlichkeit sich bis in jede einzelne deiner Gesten hinein auswirkt und multipliziert.» Anstelle dieser Tirade von Ungehörigkeiten sagte ich natürlich, ich sei geradezu entzückt von seinem Plan, in Macuto essen zu gehen; ich könne es kaum noch erwarten, bis man uns endlich vom Schiff gehen lasse; wir hätten eine herrliche Reise hinter uns, die Mondnächte auf hoher See seien paradiesisch; der Winter in Europa verspreche sehr kalt zu werden, und in Paris würden die Röcke von Tag zu Tag kürzer. In der Absicht, mir meinen Wunsch, von Bord zu gehen, zu erfüllen, entfernte Eduardo sich, um die Vorbereitungen für das Ausschiffen voranzutreiben, während ich mir die Wartezeit damit verkürzte, von meinem einsamen Winkel an Deck wie am Vorabend das wuchtige Gebirge, das Meer, die Schaluppen, die Segel in der Ferne und längs des Dampfers direkt vor meinen Augen das geschäftige Treiben der Menschen im Hafen zu beobachten. In einem Moment tiefster Versunkenheit hörte ich plötzlich mehrere fröhliche Stimmen laut nach mir rufen. Als ich mich umblickte, sah ich, daß diese Stimmen zu einer Ansammlung frischer, hübscher Gestalten gehörten, die in Onkel Eduardos Gefolge lächelnd auf mich zueilten. Dankbar für diesen fröhlichen Empfang, lief ich dem Grüppchen entgegen, um dieses Gewirr von Stimmen mit einem Gewirr von Umarmungen zu erwidern. Doch Onkel Eduardo, der es wohl für ratsam hielt, dem Treffen einen gewissen zeremoniellen Anstrich zu verleihen, bremste meine spontane Reaktion mit einer gebieterischen Geste seiner linken Hand und den Worten:«Warte, ich will euch erst einander vorstellen.»Und dann zeigte er, der Reihenfolge ihres Alters nach, auf:«María Antonia. Genaro Eduardo. Manuel Ramón. Cecilia Margarita. Pedro José. Und... María Eugenia...», fügte er, auf mich weisend, hinzu. Ich umarmte sie alle, einen nach dem anderen, wobei ich mich fragte, ob diese fixe Idee, diese manische Vorliebe für Doppelnamen nur in meiner Familie vorherrsche, für ganz Venezuela 35
gelte oder über alle Grenzen hinweg den gesamten amerikanischen Kontinent erobert habe; dank dieser Überlegung vergegenwärtigte ich mir zwischen Begrüßungsküßchen und Umarmungen sekundenlang nur zur Erinnerung noch einmal die Karte Südamerikas in der Form eines langgezogenen Schinkens. Da Papa Onkel Eduardos Familie niemals erwähnt und ich auch keine Bilder von ihnen zu Gesicht bekommen hatte, spürte ich, wie mir nach dieser geordneten Begrüßungszeremonie lauter unzusammenhängende Gesichter und Namen durch den Kopf schwirrten, die sich zu einem wirren Potpourri vermengten, ohne daß es mir gelungen wäre, sie ihren jeweiligen Besitzern zuzuordnen. Doch der Ehrlichkeit halber muß ich zugeben, Cristina, daß mir dieses frische, bunte Potpourri, das Onkel Eduardo da anschleppte, keineswegs mißfiel. Dem Alter nach zählen meine drei Vettern und meine Kusine achtzehn, sechzehn, vierzehn und dreizehn Jahre. In diesem Moment plapperten sie alle aufgeregt und wild durcheinander auf mich ein, und da sie so fröhlich lächelten, mit blitzend weißen Zähnen und schwarz funkelnden Augen, färbte ihre gute Laune auf mich ab, so daß ich ebenfalls mein strahlendes Lächeln nebst meiner gesamten Kollektion an Liebenswürdigkeiten hervorkramte. Doch ich warne Dich gleich: Täusch Dich nicht, denn das mit dem erfrischend bunten Potpourri betrifft lediglich meine Vettern und meine Kusine, die letzten vier Doppelnamen also aus der Reihe derer, die ich Dir bislang vorgestellt habe. Denn angeführt wird selbige Reihe von«María Antonia», meiner angeheirateten Tante, der«ehrenwerten Familienherrin», wie es die Zeitungen später anläßlich ihres Todestages formulieren werden; Onkel Eduardos Gattin, die Mutter und Verantwortliche für dieses erfrischende Potpourri, hat es wie ihr Gatte verdient, skizziert zu werden, was ich im folgenden so gut und knapp wie möglich tun möchte: Meine Tante María Antonia Fernández ist eher klein von Statur, eine ganz und gar durchschnittliche, unauffällige Erscheinung, wenn man einmal von ihren Augen absieht. Denn, Cristina, 36
María Antonia hat riesengroße, kullerrunde, pechschwarz funkelnde Augen, umrandet von nicht minder riesigen, runden, pechschwarzen, aber matten Augenschatten. Dieses Zusammenspiel der imposanten Augen mit den imposanten Schatten drum herum ist, wie ich bereits sagte, alles andere als durchschnittlich, ganz im Gegenteil: Wenn Dich dieses ungeheuer leuchtende Schwarz mitten aus dem ungeheuer matten Schwarz drum herum anblickt, kommt das einer schrecklichen Tragödie gleich, wie in diesen Filmen, die sich zwischen Ganoven mit Dolchen in einem finsteren Raum abspielen. Und natürlich bleibt diese ergreifende Tragödie der Augen nicht ohne unmittelbare Auswirkungen auf María Antonias gesamte Physiognomie sowie ihr Gemüt. Was schon an ihrem Gesicht abzulesen ist, denn ihr zusammengepreßter Mund verzieht sich ständig ohne erkennbaren Grund, und wenn ihr Gegenüber den Blick erschrocken von diesem verkniffenen und verzerrten Mund abwendet, um die Stelle der Augen zu suchen, erklärt er sich das Phänomen sogleich als logische Folge einer«schrecklichen Tragödie». Das gleiche sagt er sich mit Blick auf die dunklen Schatten, die wie Tinte auf mysteriöse Weise aus den Pupillen auszulaufen und unter die oberste Hautschicht einzusickern scheinen; derselbe Verdacht beschleicht ihn, wenn er anschließend ihr pechschwarzes Haar betrachtet, wenn er ihre Stimme, ihre Worte und deren Sinn vernimmt, und nicht zuletzt auch beim Anblick der unvermittelt schrillen Farben, in die sie sich zu kleiden beliebt. Moralisch gesehen ist María Antonia untadelig. Das weiß ich so genau, weil Großmama es alle naslang gebetsmühlenartig wiederholt, wobei sie unmerklich die Silben in ähnlicher Weise trennt wie die fünf Fäden bei der Lochstickerei:«Un-ta-de-lig.»Und ich glaube ganz ehrlich, in diesem Punkt hat Großmama recht. Der greifbare Beweis dafür ist die glühende Leidenschaft, mit der María Antonia sich immer und überall für die Tugend stark macht. Nicht ihre eigene, was ja schrecklich selbstsüchtig wäre, sondern die Moral im allgemeinen, und insbesondere das heikle und prekäre Thema der Tugendhaftigkeit at37
traktiver junger Frauen, die ständig und überall Gefahr laufen, diese durch ihr unbedachtes Verhalten aufs Spiel zu setzen. Um diesbezügliche Auffälligkeiten sofort zu bemerken und über die moralische Integrität speziell auf diesem Gebiet zu wachen, legt sich María Antonia mit einem ungeheuren Tatendrang und Eifer ins Zeug, wobei sie einen wahrhaft bewundernswerten Scharfblick und eine ebensolche missionarische Inbrunst entwickelt. Das ist also, in einem kurzen Abriß, der erste Eindruck, den María Antonia, ihr Charakter und ihre Augen an jenem Morgen auf mich gemacht haben und den ich auch später immer wieder bestätigt sah. Nun ja, was ihre Augen betrifft, so pflegt Onkel Pancho Alonso, der allerdings reichlich Unsinn redet, gerne zu sagen:«María Antonias Augen sind nicht schlecht. Sie erinnern stark an ungetragene Lackstiefel, die aussehen, als bestünden sie aus brennbarem Material, glühend und bedrohlich, einer Mischung aus Dynamit und dem, was man im Volksmund ‹schwarzer Neid› nennt. Auf jeden Fall aber sind sie sehr schwarz, sehr sauber und blitzeblank: gründlich gewienert eben …!» Selbstverständlich, Cristina, kann ich diesen Vergleich keinesfalls billigen, und ich möchte auch Dich darum bitten, nichts darauf zu geben. Das sind nur die üblichen Ungehobeltheiten von Onkel Pancho, der eine böse Zunge hat und alles in einen Topf wirft und durcheinanderbringt. Als wir, meine Vettern, meine Kusine und ich, meinten, uns ausreichend begrüßt und mit Komplimenten bedacht zu haben, beschlossen wir, den Dampfer zu besichtigen. Wir durchstreiften ihn mehrmals in allen Richtungen, und nachdem wir uns müde gelaufen hatten, gingen wir völlig erhitzt und als beste Freunde an Land. Während wir noch vor der Zollschranke worauf auch immer warten mußten, brauste, in eine dicke Staubwolke gehüllt, in halsbrecherischem Tempo ein Wagen vorbei, und bei seinem Anblick riefen meine Vettern und meine Kusine alle wie aus einem Munde:«Da ist Don Pancho Alonso! Don Pancho! Don Pancho!»und winkten aufgeregt, bis der Wagen abrupt angehalten 38
und der Rückwärtsgang eingelegt wurde. Endlich war Onkel Pancho da! Während sie weiterhin winkten und laut riefen, lief ich los, dem rückwärts auf uns zufahrenden Wagen entgegen. Als ich ihn erreichte, riß ich die Fahrertür auf, und da stand er schon vor mir, neben dem verstaubten, klapprigen Gefährt, schlank, grauhaarig, väterlich, lächelnd, frisch rasiert, einen Geruch nach Brandy verströmend, in einem nagelneuen Anzug, ganz anders, als ich ihn in Erinnerung hatte, schloß mich herzlich in die Arme und drückte mich lange und innig an sich: mein Onkel Pancho Alonso. Nachdem wir uns lange genug geherzt hatten und er sich in einer herrlich blumenreichen Sprache freudig überrascht darüber geäußert hatte, wie hübsch ich doch geworden sei, ging er los, um die anderen zu begrüßen. Und diese Szene lief auf eine reichlich kuriose Weise ab, was nicht ohne Auswirkung auf den Rest des Tages bleiben sollte: Du mußt nämlich wissen, Cristina, daß meine drei Vettern und meine Kusine nicht nur allesamt Doppelnamen tragen, wodurch sie schon schwer auseinanderzuhalten sind, sondern sich auch in anderer Hinsicht kaum unterscheiden. Ja, sie ähneln sich in ganz verblüffender Weise. Nicht nur äußerlich, sondern auch in ihren Ansichten, ihrer Wortwahl, der Art, wie sie sich ausdrücken. Folglich stimmen sie in ihren Äußerungen immer überein, sowohl inhaltlich als auch in den Formulierungen, und zwar so, daß diese, wenn sie nicht gleichzeitig erfolgen, sondern auch noch hintereinander, in eine absolut nervtötende Litanei ausarten. Als nämlich Onkel Pancho und ich uns nach der herzlichen Umarmung auf den kurzen Weg vom Wagen zur Zollabsperrung machten, kamen uns meine Vettern und meine Kusine einer nach dem anderen entgegengelaufen, wobei jeder vor oder nach einem Wort der Begrüßung mit leichten Abwandlungen ungefähr die gleiche Bemerkung hören ließ:«Mein Gott! Onkel Pancho hat sich ja extra feingemacht, um seine Nichte in Empfang zu nehmen; wie elegant dieser neue Anzug aus Tussor14...!» 39
Das sagte der erste ebenso wie der zweite und dritte, doch beim vierten fuhr Onkel Pancho, der sich tatsächlich aus diesem besonderen Anlaß, wie ich erst später erkannte, mir zu Ehren ungewöhnlich in Schale geworfen hatte, angesichts derartiger Beharrlichkeit aus der Haut. Mit einer brüsken Geste stemmte er die Hände in die mit Tussor bekleideten Hüften und fragte mich in ernstem Ton und in voller Lautstärke, als wären die anderen, allen voran Eduardo und María Antonia, gänzlich taub:«Sag mal, hast du schon jemals eine Koppel gesehen, auf der alle Esel gleichzeitig losbrüllen? » Ich starrte abwechselnd auf Onkel Panchos schicken neuen Anzug, seine Miene, die in die Seiten gestemmten Hände, und dann in die Gesichter meines Onkels, meiner Tante, meiner Vettern und meiner Kusine, und auf einmal fand ich alles so komisch, daß ich, ohne ein Wort zu sagen, in schallendes Gelächter ausbrach. Als mich einer der Esel lachen hörte, protestierte er beleidigt:«Wie respektlos, Don Pancho!» María Antonia ihrerseits sagte zu Onkel Eduardo mit einem Ausdruck in den Augen, daß einem angst und bange wurde:«Siehst du...? Immer diese Gemeinheiten, das ist ja nicht auszuhalten...!» Und schon war der Zwist da. Doch meine Vettern und meine Kusine, die wenig nachtragend sind, hatten die Kränkung bald wieder vergessen. Onkel Pancho lud uns zu einer Besichtigungstour durch Macuto und Umgebung ein, spendierte uns während der Fahrt mehrere Cocktails mit Oliven und Süßigkeiten, wußte zu allem, was wir zu sehen bekamen, eine lustige Geschichte zu erzählen, und bis zur Mittagessenszeit hatten meine Vettern und meine Kusine sich längst wieder mit ihm ausgesöhnt. Was man von María Antonia nicht behaupten konnte. Denn als wir am Mittagstisch Platz nahmen, ergriff sie feierlich das Wort und rügte mit gutturaler Stimme und in strengem Ton - was vor der versammelten Zuhörerschaft aus Gläsern, Tellern, Bechern, Flaschen, Messern und Gabeln in dem ansonsten nahezu leeren 40
Hotel um so eindrucksvoller wirkte - ihre Kinder wegen der unerlaubten Cocktails. Sie malte uns in den gräßlichsten Farben die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums im allgemeinen und im speziellen bei Brandy und Whisky aus, beides, wie ich später feststellen sollte, leider Onkel Panchos liebste Gefährten. Diese eindrucksvolle Tirade gegen den Alkoholkonsum hätte mich wohl auch ein für allemal von der Schädlichkeit der Cocktails überzeugt, wären da nicht die skeptischen und ganz und gar respektlosen Bemerkungen gewesen, die Onkel Pancho pausenlos einstreute, während er sich ein riesiges Glas eisgekühltes Bier genehmigte. Ja, Cristina, Onkel Pancho ist vollkommen unempfänglich für die mitreißende Kraft der Eloquenz. Das konnte ich an jenem Tag feststellen, und seither halte ich ihn für absolut unbelehrbar. Ja, zweifellos; ich bin fest davon überzeugt, daß Onkel Pancho sich niemals den Massen angeschlossen hätte, die zum Ruhm der Menschheit über Jahrhunderte hinweg mit glühender Begeisterung den großen Rednern wie Demosthenes, Petrus dem Eremiten, dem heiligen Franziskus, Luther, Mirabeau oder Gabriele d’Annunzio gefolgt sind...15 Nachdem María Antonia sich gründlich über den Alkohol und insbesondere die Cocktails echauffiert hatte, kam die Rede auf Paris, woraufhin meine Tante bemerkte:«Auf mich wirkt es wie ein riesiges Haus voller Laster. Eine ehrbare Dame, die etwas auf sich hält, kann sich um keinen Preis allein auf die Pariser Straßen hinauswagen, denn dort bekommt sie Abscheuliches zu sehen, gar Abscheuliches...!»Und zum Zeichen der Abscheu hielt sie sich die rechte Hand vor die Augen. Verwundert und voller Neugier versuchte ich eine ganze Weile, den Blick unverwandt auf ein Stück Brot gesenkt, mir nacheinander die Pariser Boulevards ins Gedächtnis zu rufen, um mir rückblickend jene Schrecknisse zu vergegenwärtigen, da ich sie ja nicht mehr mit eigenen Augen sehen konnte. Doch sosehr ich mich auch bemühte, mir wollte einfach keines einfallen, bis Onkel Pancho mich schließlich jäh aus meinen Gedanken riß, als er 41
zu der folgenden originellen und reichlich absurden Ansprache anhob:«Ich verfluche alle Ozeandampfer, die uns mit Europa verbinden! Ja, ich glaube, daß alle Konquistadoren dem Beispiel von Hernán Cortés hätten folgen und vorsorglich ihre Schiffe in Brand hätten setzen sollen, sobald sie von Bord gegangen waren, um jede Versuchung einer Rückkehr im Keim zu ersticken.16 Auf diese Weise würden wir hier glücklich und zufrieden unser Dasein fristen, wie die Frösche im Teich, die niemals schlecht gelaunt sind, weil ihnen Begriffe wie ‹schlechter› und vor allem ‹besser›, die am Anfang fast allen menschlichen Übels stehen, gänzlich fremd sind. Nachdem wir uns hier unter der tropischen Sonne eingelebt, den Indios alles weggenommen und sie patriarchalisch ausgerottet haben, sollten wir tunlichst den unheilvollen Einfluß der Europäer meiden. So könnten wir es uns in einer der angenehmsten Klimazonen der Welt wohl ergehen lassen, ungezwungen dieses köstlich duftende, saftige Obst hier genießen, uns mit den herrlichen Federn unserer bunten Vogelwelt schmücken und behaglich in Hängematten schlummern - unbestritten eine der erquickendsten und weichsten Schlafgelegenheiten auf Erden. Infolge solch weiser Politik wären die Unabhängigkeitskriege niemals ausgebrochen, Bolívar hätte keine Gelegenheit gehabt, sich als Befreiungskämpfer hervorzutun,17 und folglich würde uns in der heutigen Zeit die Presse nicht tagtäglich mit diesen maßlos übersteigerten, geschwätzigen und von geschmacklosen Adjektiven überfrachteten Lobeshymnen auf unser heldenhaftes Vaterland malträtieren; ja, vielleicht gäbe es diese Zeitungen überhaupt nicht, was die absolute Krönung des Wohlbefindens wäre. Was mich betrifft, so wäre es mir vor gut dreißig Jahren erspart geblieben, in Paris zu leben, dort mein Vermögen bis auf den letzten Céntimo für Geschenke wie Perlenketten, Hüte für zweitausend Francs das Stück und preisgekrönte Rassehunde auf den Kopf zu hauen, alles Dinge übrigens, die mir heute vollkommen entbehrlich erscheinen. Man mag dazu sagen, was man will, mein Haß gilt auch den alten Segelschiffen, wenngleich weniger 42
als den Ozeandampfern. Denn in meinen Augen sind die der Hauptgrund allen Übels. Nun gut, mit den Segelschiffen könnte ich mich noch arrangieren; ohnehin wäre ich lieber in den glücklichen Zeiten von Christoph Kolumbus geboren, als unsere Urahnen und Ururahnen noch in der Sänfte durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Caracas getragen wurden, und zwar von getreuen, pechschwarzen und sehr robusten Sklaven, die sich damals noch nicht haben anstecken lassen von den Lastern und Ambitionen der Weißen.» «Wahrhaftig», rief der älteste meiner Vettern aus,«ich stelle es mir herrlich vor, in einer Sänfte spazierengetragen zu werden. Es muß ein Gefühl sein, als liefe man durch die Luft, ohne den Boden zu berühren! Der Nachteil ist nur, daß man so langsam vorankommt. Ach, wieviel besser geht es uns doch heute mit dem Automobil!» «Täusch dich bloß nicht, mein Junge», sagte Onkel Pancho.«Das System mit den Sänften war weitaus besser. Zum einen sparte es Kautschuk und Benzin, und zum anderen gab es weniger Unfälle, und was den Zeitaufwand für die Bewältigung der Strecke angeht, so war das völlig ohne Belang. Unsere Urahnen interessierte es herzlich wenig, ob sie früher oder später ankamen, oder auch nie. Diese Manie, pünktlich zu sein, ist eine relativ moderne Errungenschaft und die schlimmste Geißel, mit der uns die Zivilisation heutzutage straft.» María Antonia, die sich durch die reichlich zynische Erwähnung der Perlenketten, Hüte und preisgekrönten Rassehunde in ihrem Schamgefühl verletzt fühlte, erhob erneut ihre Stimme, um dem Vergleich mit den Fröschen entschieden zu widersprechen:«Ich verstehe nicht, warum wir nicht nach Europa reisen sollten. Gottlob fühle ich mich weder als Frosch noch halte ich Venezuela für einen Teich. Zugegeben, wir mögen unsere Fehler haben, wie die Europäer ihre, doch ehrbare und gute Menschen, mit denen man Umgang pflegen kann, gibt es überall auf der Welt, selbst in Paris. Nur, wer aus Venezuela nach Paris reist, 43
umgibt sich gerne mit dem Pöbel und bildet sich noch ein, das sei schick und müsse so sein. Als ich damals frisch vermählt in Europa weilte, habe ich mich prächtig amüsiert, natürlich so, wie es sich für anständige Menschen gehört, das schon! Eduardo hat sich rührend um mich gekümmert. Er hat mich nie in diese Theater geführt, die bei den jungen Südamerikanerinnen heute so beliebt sind. Eduardo hat mich überhaupt nie allein ausgehen lassen; er hat mir auch nicht erlaubt, zu tanzen oder Kontakt mit Fremden zu haben, mich zu schminken oder gar diese schamlosen Kleider zu tragen, und wenn sie noch so sehr in Mode waren! Er ließ mich auch nicht...» Während ihre Aufzählung sich immer weiter in die Länge zog, neigte ich den Kopf leicht zur Seite, da mir die von kunstvoll aufgetürmten Früchten und Blumen überquellende Obstschale in der Mitte des Tischs die Sicht auf den Platz mir gegenüber versperrte, wo Eduardo saß. Dabei hätte ich doch so gerne einen Blick auf jenen heldenhaften Othello geworfen. Doch leider war Othello gerade nicht in Stimmung, was der Aufzählung einiges an Kolorit nahm. Denn in jenem psychologisch entscheidenden Moment saß er seelenruhig da, die Gabel in der Rechten, ein Stück Brot in der Linken, den Blick unverwandt auf seinen Teller gerichtet, während er vollauf damit beschäftigt war, die Gräten aus einem Stück Fisch zu entfernen. Sobald er diese heikle Aufgabe bewältigt hatte, balancierte er auf der Spitze seiner Gabel einen besonders zarten, weißen Bissen Fischfleisch zum Mund, kaute eine Weile genüßlich darauf herum, bevor er es hinunterschluckte, und wartete dann geduldig ab, bis María Antonia ihren Vortrag beendet hatte, um schließlich, mit einem feinen Mayonnaisefaden in den feinen Schnurrbarthaaren, zu bemerken:«Also, ich finde diesen Fisch einfach köstlich frisch! Er schmeckt vorzüglich und ist perfekt zubereitet; ich kann also nicht verstehen, warum wir ihn in Caracas nicht genauso essen können. María Antonia, glaub mir, die Köchin betrügt uns. Um sich zu bereichern, kauft sie immer den schlechtesten Fisch, den, den keiner will! 44
Also, wenn wir jetzt in La Guaira vorbeifahren, werde ich mit dem Chef des Großhandels reden, und falls sie mir den Fisch zum gleichen Preis wie in Caracas überlassen, werde ich ihn fest für drei Tage in der Woche bestellen. Wenn du nichts dagegen hast, kann die Köchin ihn selbst auf dem Rückweg vom Markt abholen. Sie braucht nur die gleiche Bahnlinie bis zu uns nach Hause zu nehmen wie immer.» María Antonia, die in Gedanken ganz woanders war als ausgerechnet beim Fisch, bei der Köchin oder der Bahn, erwiderte erbost:«Julia betrügt uns keineswegs! Sie ist mehr als anständig! Und im übrigen finde ich diesen Fisch hier gänzlich ungenießbar! Die Mayonnaise ist aus ranzigem Öl gemacht und kein Vergleich zu dem, was wir von zu Hause gewohnt sind.» «Also ich finde, Papa hat recht, der Fisch ist vorzüglich», sagte meine Kusine ein wenig mürrisch,«und wenn ich nichts davon esse, liegt das nur daran, weil ich, als ich die Gabel kurz gegen das Licht gehalten habe, feststellen mußte, daß sie in puncto Sauberkeit einiges zu wünschen übrigläßt..., und eine neue zu verlangen nützt auch nichts..., Hotelbesteck ist nun einmal grundsätzlich unhygienisch...! Das kommt daher, daß sie es nicht richtig abwaschen, sondern nur mit einem Tuch drüberwischen, wie ich gerade im Vorübergehen beobachten konnte...!» «Befolge meinen Rat, meine Liebe!»sagte Onkel Pancho mitleidig.«Hör auf, die Dinge - ob Besteck oder was auch immer genauer unter die Lupe zu nehmen. Beim Essen wie bei allem übrigen beschert uns unser Forschungsdrang nichts als unangenehme Überraschungen. Am glücklichsten sind grundsätzlich die Menschen, die möglichst wenig in ihrem Leben herausgefunden haben. Nimm mich zum Beispiel: Seit ich so weit an Sehkraft eingebüßt habe, daß ich keine Fliege mehr von einem Pfefferkorn unterscheiden kann, hat sich nicht nur meine Laune entschieden gebessert, sondern auch meine Verdauung.»
45
«Oh! Eine Fliege für ein Pfefferkorn zu halten! Eine Fliege zu verspeisen! Igitt! Igittigitt!»entfuhr es meinen Vettern und meiner Kusine fast wie aus einem Munde. Indes führte uns Onkel Pancho in einem neuen, wohldokumentierten und doch etwas absurden Vortrag sehr anschaulich vor Augen, welch immense Nachteile die Erfindung des Mikroskops, die Hygiene, die Impfungen, die Chirurgie und die anderen Errungenschaften der modernen Medizin der Menschheit beschert hätten, alles Dinge, die seiner Meinung nach die wirklich robusten Menschen umbrächten, während sie die Kränkelnden, die Armen, die Lebensmüden und die Benachteiligten am Leben erhielten, die schwächsten und unglücklichsten Kreaturen also, indem sie sich nach Lust und Laune an ihnen vergingen und ihnen etwas so Natürliches und Harmloses wie den Tod verwehrten. María Antonia, die Tag für Tag das Wasser filtert und abkocht und nachts unterm Moskitonetz schläft, regte sich natürlich furchtbar auf, als sie sich diesen unglaublichen Unsinn anhören mußte. Darüber entspann sich eine leidenschaftliche Diskussion, und anschließend wurde geplaudert, Kaffee getrunken und wieder diskutiert, bis der Mittagstisch aufgehoben war. Anschließend gingen wir eine Weile am Strand spazieren, ließen uns im Schatten unter Bäumen porträtieren, und als die Sonne allmählich zu sinken begann, traten wir, auf zwei Wagen verteilt, die Heimfahrt nach Caracas an. Bevor wir ins Auto stiegen, verkündete ich:«Ich würde gern vorne neben dem Fahrer sitzen, damit ich besser hinausschauen kann.» Und während der Wagen auf dem weißen Band der Landstraße über Berg und Tal dahinflog, zog ich mich in den inneren Tempel meiner Gefühle zurück, gab mich der Zwiesprache mit der Natur hin und dem wohlig-bangen Gedanken an die Heimkehr … Die Fahrt von Macuto nach Caracas, Cristina, gleicht einer waghalsigen, fast zweistündigen Bergtour. Die Strecke führt ins Gebirge hinauf, wobei die Straße und die Schienen einander den 46
Rang streitig machen. Klein und schmal, kriecht die Bahn auf besonders engen Gleisen wie eine sich windende Schlange den Hang aufwärts und scheint ab und zu die Kühnheit eines Adlers zu entfalten. Manchmal taucht sie ins dunkelste Grün des Gebirges ab, und während man noch denkt, sie sei hinter Dickicht und Felsen am Fuße des Abhangs verborgen, erscheint sie plötzlich triumphierend mit dampfender Mähne hoch oben am Gipfel. Bevor sie jedoch zu ihrem Höhenflug ansetzt, rattert sie ganz dicht am Meer entlang, passiert dann die Gegend von La Guaira und des Nachbarorts Maiquetía, um schließlich die Berge zu erobern. Die Landstraße, die etwas breiter und weniger halsbrecherisch ist, verläuft neben den Schienen ebenfalls eine Weile parallel zur Küste, führt anschließend an denselben Ortschaften vorbei, bevor sie sich von den Schienen trennt und, sich in weißen Serpentinen windend, den Hang in ein Staubband hüllt. Als der Anstieg begann, erklärte Onkel Pancho mir, die Berge, die wir durchqueren müßten, seien ein Ausläufer der Anden; und in dem Moment gewann die Landschaft in meinen Augen immens an Prestige. Und tatsächlich boten die Berge einen so grandiosen Anblick, daß sie ihrer großen Schwester alle Ehre machten: stolz, geheimnisvoll und von schwindelerregender Höhe. Die Gipfel beherrschen Caracas und trennen es vom Meer. Von der Stadt aus gesehen, verändern ihre Hänge mehrmals am Tag die Färbung, je nach Laune der umliegenden Atmosphäre. Diese willkürlichen Wandlungen verleihen ihnen einen eigenwilligen Charakter, den schon viele Maler liebevoll in ihren Bildern abzubilden versucht und sämtliche Dichter mit noch mehr Liebe besungen haben; und zu Ehren des Eroberers, der die Indios an ich weiß nicht welchem Tag aus den Bergen vertrieb, tragen sie seinen Namen:«El Ávila»18. Seit wir Macuto hinter uns gelassen hatten und die frische Bergbrise mir ins Gesicht peitschte, erfüllte mich eine bange Sehnsucht, die Seele der amerikanischen Landschaft ganz nah zu
47
spüren, und ich fing an, während der Fahrt in jedem Detail, das sich meinen Blicken darbot, zärtlich nach ihr zu suchen. Nachdem wir die Küstenstrecke hinter uns gebracht und La Guaira sowie die Außenbezirke von Maiquetía passiert hatten, kamen wir an ausgedehnten Kokoswäldern vorbei, die in der Nähe an den Stränden wachsen, und von dem Moment an galt mein einziges Interesse den Kokospalmen. Kein Zweifel, Cristina: Für mich drückt sich der ganze Zauber, die wohlige Trägheit der tropischen Seele im Wogen der Kokospalmen aus. Wenn viele zusammenstehen und man an ihnen entlangfährt, erinnern sie stark an das Schaukeln der Hängematten, das Sichrekeln während der Siesta und das Säuseln der Fächer. Im Hintergrund schimmert ab und zu das Meer auf, und durch all die sich vermeintlich vor Schmerzen windenden und krümmenden Stämme hindurch wirkt dieses Panorama, bevölkert und zugleich menschenleer wie eine verlassene Kirche, ungeheuer friedlich, untermalt vom Blau des Meeres, sanft und unwirklich wie ein Traum. Wenn man dann an Höhe gewinnt und von oben auf die Kokospalmenhaine herabblickt, sehen sie mit ihren zerzausten Köpfen auf den grazilen, aufrechten Stämmen dort unten am Meeresstrand aus wie Stecknadeln in einem Nadelkissen. Eine einzelne Kokospalme, wenn sie ganz allein und verlassen vor dem weiten Meer aufragt, hat aus der Entfernung gesehen etwas von der Melancholie eines meditierenden Einzelgängers, gepaart mit der Unruhe eines Wachpostens, der den Horizont erkundet. Die Palmwedel recken sich empor wie Blumen in einer hohen, schlanken Vase. Wenn die Entfernung groß genug ist, daß der ätherische Stamm verblaßt, scheinen die in der Luft schwebenden Zweige geheimnisvoll aufzusteigen wie Weihrauchschwaden, gleich dem mystischen Symbol eines inbrünstigen Gebets, das sich wie ein Kelch gen Himmel öffnet. Je höher wir gelangten, desto tiefer versank ich in derlei Betrachtungen, ohne noch an La Guaira zu denken, das schon weit hinter uns lag, als es unverhofft nach einer scharfen Biegung er48
neut vor uns auftauchte, dort unten im Abgrund zu unseren Füßen, so winzig klein, daß es mit seinen Häuschen, Dampfern, Kähnen und Frachtern an eine Puppenstube erinnerte. In jener Miniaturwelt lag auch unser Dampfer vor Anker, der am frühen Abend wieder in See stechen sollte. Aus der Höhe betrachtet, wirkte er elegant und zierlich wie eine Möwe, die sich anschickt, sich in die Lüfte aufzuschwingen, und für eine Weile beneidete ich ihn grenzenlos um sein abenteuerliches Leben... Ach! Der Dampfer würde jetzt wieder von Hafen zu Hafen ziehen, immer frohgemut und voller Tatendrang, und niemals so wie ich diese Langeweile des Stillstands erleben, endgültig und unabänderlich...! Das waren meine letzten Gedanken an das Meer, denn hinter der nächsten scharfen Wegbiegung verschwand La Guaira so rasch wieder, wie es aufgetaucht war. Nachdem wir noch eine Weile gefahren waren, entzog sich uns schließlich auch der schmale blaue Streifen, der noch vom Meer übriggeblieben war, und zwischen schroffen Felswänden und Schluchten drangen wir immer weiter ins Herz des Gebirges vor. So fuhren wir lange Zeit bergauf, bergab, bis die Abgründe entlang der Straße ganz allmählich weniger tief wurden und die Strecke sich ebnete. Schließlich tat sich das Tal vor uns auf, und wir erreichten die Vororte von Caracas. Ich hatte mich frisch gepudert, geschminkt und mein von der Reise leicht derangiertes Gesicht in Ordnung gebracht, den Hut zurechtgerückt und war gerade dabei, mir die Handschuhe überzustreifen, immer den Blick nach draußen gerichtet, um zu sehen, was sich auf den Straßen tat, während ich mich ungeduldig fragte, wann wir endlich in die Stadt gelangen würden... Just in dem Moment sagte Onkel Pancho hinter mir, als hätte er meine Gedanken gelesen:«Wir befinden uns schon mitten im Zentrum von Caracas, María Eugenia.» Im Zentrum von Caracas...? Im Zentrum von Caracas...! Ja, aber... wo waren die breiten, endlosen, eleganten, wie mit dem 49
Lineal gezogenen Straßen meiner Kindheit? Ach, Cristina, in meiner Erinnerung waren sie vollkommen, diese Häuserfassaden mit den vergitterten Erkerfenstern, die sich nun jedoch zu beiden Seiten einer verlassenen, engen und sehr langen Straße ausdehnten. Die hohen Berge, die niedrigen Dachtraufen, die tief gespannten Telephonleitungen, die mit ihren unzähligen Kabeln das leuchtende Blau des Himmels gleichmäßig schraffierten, schienen die Stadt zu erdrücken. Sie strichelten selbst das undefinierbare Grau der Berge, das im Hintergrund über einigen Dächern und an jeder Straßenmündung hervorschaute. Als wäre es damit nicht genug, reihte sich, so weit der Blick reichte, ein Telephonmast an den anderen, mit gebieterisch ausgebreiteten Armen wie Kreuze auf einem endlosen Leidensweg... Oje...! Das sollte Caracas sein, die Stadt mit dem herrlichen Klima, die Stadt der zärtlichen Erinnerungen, so heimisch, so vertraut und fern? Dieses gottverlassene Nest wirkte eher wie eine Stadt in Andalusien, aber einem tristen Andalusien, ohne Manilatuch19 und ohne Kastagnetten, ohne Gitarren und ohne Flamenco, ohne Blumentöpfe und ohne Blumengirlanden an den Fenstergittern..., ein verschlafenes Andalusien, das in der tropischen Schwüle vor sich hin dämmerte. Während wir die Straße entlangbrausten, erblickte ich inmitten dieses deprimierenden Stadtbildes ein weit geöffnetes Fenster, und durch das Fenster, hinter dem breiten Gitterwerk, erhaschte ich einen Blick auf menschliche Gestalten, Augen, Spiegel, Lüster, Palmgewächse, Blumen; die ganze Fröhlichkeit eines Hausinneren bot sich großzügig der Tristesse der Straße dar. Ach, diese Brüderlichkeit, diese einladende Herzlichkeit, diese traute Umarmung weit geöffneter Fenster...! Aber welches war es...? Welches…? Welches war denn nun Großmamas Haus? Vor einem breiten, grün gestrichenen Haus mit drei großen, geschlossenen Fenstern hielten die Wagen plötzlich an. Meine Vettern und meine Kusine sprangen hinaus, stürmten in den Hausflur und stießen die Tür am anderen Ende auf, die nur ange50
lehnt war. Und da breitete sich, grün und mit vielen bunten Blumen, der helle Innenhof von Großmamas Haus vor meinen Augen aus. Zum erstenmal seit meiner Ankunft in Venezuela war ich wirklich überwältigt. Denn der Innenhof dieses Hauses, Cristina, dieser Patio, empfängt den Besucher mit einer sanften, klösterlichen Feierlichkeit, einer freundlichen Gemütlichkeit, mit den offenen Armen seiner bequemen Korbsessel. Für Tante Clara ist dieser Patio nämlich Sohn, Geliebter und Bruder, alles in einem, und sie hegt und pflegt ihn hingebungsvoll. Auf dem kühlen Boden in der Mitte wachsen das ganze Jahr über Rosen, Palmen, Geranien, Heliotrope und der Jasmin, der große Jasminbusch, der auf seinem erhöhten Podest über allem thront und den Besucher stets mit seinem schweren, betörenden Duft begrüßt. Links neben der Eingangstür gedeihen üppig auf Tischchen und Säulen der grüne Flor der Farne und die aufrechten, halb geöffneten Spitzen der Palmtriebe. Als ich an jenem Abend eintrat und den Patio betrachtete, suchten meine Augen den grünen Blätterwald ab, bis ich endlich ganz am Ende des Gangs, eingerahmt von der hohen, breiten Rückenlehne ihres Korbsessels, Großmamas weißen Schopf entdeckte. Sobald sie meine Vettern und meine Kusine hereinstürmen sah, erhob sie sich, und als sie mich von ferne in diesem Grüppchen erkannte, rief sie mit zitternden, ausgebreiteten Armen aus:«Meine Tochter, meine Tochter, mein Töchterchen!» Ich will nicht in extenso ausführen, wie sehr und wie oft Großmama mich unter Tränen küßte und an sich drückte, desgleichen Tante Clara, denn eine Schilderung en détail würde allzulang und monoton ausfallen. Du sollst nur wissen, daß Tränen flossen und meine Gesichtszüge, meine äußere Erscheinung, meine Bewegungen ausführlich kommentiert wurden; daß ich immer wieder geherzt und mit Küssen überhäuft wurde und erneut Tränen flossen, wobei ständig Mamas lieber Name fiel und mich umfing wie ein Schleier, bis ich angesichts all der Zärtlich51
keiten, mit denen Großmama und Tante Clara mich bedachten, mich wie Mama selbst fühlte. Ich war nicht minder durcheinander und von Herzen gerührt, und um die Szene abzukürzen, machte ich mich, mühsam gegen die Tränen ankämpfend, schließlich daran, mit feuchten Augen das Haus von oben bis unten zu inspizieren, entdeckte dabei nach und nach die alten, vertrauten Dinge wieder und erkundigte mich lachend nach meinen Lieblingssachen aus Kindertagen:«Und die Kanarienvögel, Großmama...? Und die schwarze Katze..., die mit der bunten Schleife...? Und die Fischchen im Becken...? Sieh nur...! Das Becken ist ja nicht mehr da, und Orangenbäume gibt es auch nicht mehr im Patio: Das hatte ich gar nicht bemerkt!» Tante Clara erklärte:«Alles hat sich verändert. Das Haus wurde vor sieben Jahren, kurz vor Enriques Tod, renoviert. Schau, das Becken wurde entfernt und durch dieses Mosaik ersetzt, alles wurde mit Ölfarbe angestrichen, neu dekoriert und die Trennwand am anderen Ende erneuert; aber die Orangenbäume», sagte sie schmunzelnd,«die haben nie hier gestanden, sondern im anderen Patio, und dort stehen sie auch jetzt noch.» Ich schaute mich nach der neuen Trennwand um, und da entdeckte ich im Türrahmen die mehr oder weniger schwarzen Köpfe der vier Dienstmägde, die Großmama im Haus beschäftigte und die mich jetzt mit großen Augen neugierig anstarrten. Ich streifte sie alle mit einem raschen Blick. Dabei hatte ich das Gefühl, bei dieser flüchtigen Bewegung den Sog eines Augenpaares gespürt zu haben, und schaute, um mich zu vergewissern, noch einmal genauer hin. Und schon loderte ein ferner Erinnerungsfunken auf, und noch bevor er gezündet hatte, breitete ich schon freudestrahlend die Arme aus, wie Großmama kurz zuvor, lief auf die Trennwand zu und rief überglücklich aus:«Ach...! Gregoria! Gregoria...! Bist du es wirklich, altes Mädchen...!» Mit einer langen, innigen Umarmung zweier Seelen, die sich einander nahe fühlen, besiegelten Gregoria und ich aufs neue unsere unterbrochene Freundschaft. 52
Du mußt nämlich wissen, Cristina, daß Gregoria, die alte schwarze Waschfrau in diesem Haus, sehr zum Leidwesen von Großmama und Tante Clara augenblicklich meine einzige Freundin, Vertraute und Mentorin ist, denn wenngleich sie weder lesen noch schreiben kann, ist sie in meinen Augen eine der intelligentesten und weisesten Personen, die ich im Leben je kennengelernt habe. Früher war sie einmal Mamas Amme und ist seither im Haus geblieben, wo sie in zweierlei Hinsicht für die Familie unentbehrlich ist: zum einen als Wäscherin und zum anderen als Chronistin. Sie verfügt nämlich über ein erstaunliches Gedächtnis, und ihr Geschick, Spitzenborten zu bügeln oder Tischtücher zu bleichen, ist unvergleichlich. Immer wenn ich als kleines Mädchen bei Großmama weilte, war es Gregoria, die mich hinter dem Rücken der anderen fütterte, mir Märchen erzählte, mir erlaubte, barfuß zu laufen und im Wasser zu planschen, und damit für mein leibliches wie auch geistiges Wohl sorgte. Dank ihrer zarten Poetenseele, die menschliche Vorurteile mit der stolzen Geringschätzung der Kyniker20 verachtet, behandelt sie nach dem Vorbild des heiligen Franziskus von Assisi alle Kreaturen mit derselben sanften, brüderlichen Barmherzigkeit. Dieser lockeren Allianz verdankt sie ein offenes, duldsames und zugleich unsittliches Herz. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Form von Konventionen hat sie grundsätzlich unempfänglich für alle Lehren gemacht, die nicht die Natur selbst erteilt. Aus diesem Grunde ist sie nicht nur nicht des Lesens und Schreibens mächtig, sondern kennt auch ihr Alter nicht, das mir, ihr und allen, die mit ihr zu tun haben, ein ewiges Rätsel bleiben wird. Während sie Tischtücher bleicht und Hemden bügelt, sieht sie ungerührt die Zeit dahinfließen wie einen sprudelnden Fluß, denn in ihren Augen sind die Stunden wie Wassertropfen, die sich zu einem einzigen, frischen und klaren Strudel verbinden, in dem Bruder Tod uns entgegentreibt. Wie gesagt, als ich klein war, hegte und pflegte sie mich mit geradezu poetischer Innigkeit, so, wie man es mit Blumen oder Tieren tut. Daher war mein Gefühl der Freude und 53
Dankbarkeit, mit dem ich sie an jenem Abend dort im Türrahmen erkannte, in etwa dem eines Hundes vergleichbar, wenn er glücklich mit dem Schwanz wedelt. Als ich Gregoria endlich in den Armen lag, sagte sie, die ihren Gefühlen gerne mit ihrem ureigenen, sonoren und zugleich samtweichen Lachen Luft macht, erstaunt und glücklich, immer wieder von lautem Glucksen unterbrochen:«Gott behüte Sie...! Gott behüte Sie...! Daß Sie Ihre alte Amme nicht vergessen haben... Ihre häßliche Amme...! Ihre alte Amme...!» Da wir gar nicht aufhören konnten, uns zu drükken, und Gregoria immer nur lachte, wodurch sich die Szene endlos hinzog, hielt es Großmama schließlich für nötig, einzuschreiten:«Genug jetzt, Gregoria, es reicht. Wie lange soll das noch gehen! Wenn du einmal anfängst zu lachen, bist du nicht mehr zu halten!»Und dann, zu mir gewandt, in liebevollem Ton:«Komm jetzt, mein Kind, nimm den Hut ab, und mach dich ein wenig frisch. Und dann laß uns mal dein Zimmer anschauen.» Sie stützte sich auf meinen Arm, und wir durchquerten, von allen gefolgt, einen Teil des Patios und das gesamte Eßzimmer, bis wir in den hinteren Patio gelangten, den mit den Orangenbäumen, der vor meinem ruhigen und jetzt verriegelten Zimmer liegt, von wo aus ich Dir gerade schreibe. Auf der Türschwelle hielten wir inne, um uns den Raum anzusehen. Auf den ersten Blick wirkte das Zimmer freundlich mit seinen hellen Möbeln und dem weißen Bett. Zu jener grauen Dämmerungsstunde haftete ihm, stärker als sonst, ein melancholischer Zauber an, den diese grünen Zweige, manchmal aufgelockert vom Gelb der Orangen, wohl immer verbreiten; und außerdem hing noch dieser typische Geruch nach Kleister und frischer Farbe in der Luft, der frisch tapezierten Räumen eigen ist. Immer noch im Türrahmen, reglos auf meinen Arm gestützt, begann Großmama, mir nun zu erklären:«Dieses Zimmer hat einmal Clara gehört. Ich habe es vor vielen Jahren so für sie eingerichtet, wie du es hier siehst, als María, deine Mutter, heiratete. Vorher 54
hatten die beiden gemeinsam in einem größeren Zimmer in meiner Nähe geschlafen. Clara möchte es jetzt dir überlassen. Da die Möbel weiß und freundlich sind, passen sie besser zu dir...» «Hör mal», fiel ihr meine Kusine ins Wort,«es ist ein wahres Wunder, daß Tante Clara eingewilligt hat, dir ihr Zimmer mit ihren Möbeln abzutreten. Früher, wenn wir herkamen, war sie überempfindlich! Sie erlaubte uns nicht einmal, einen Fuß hineinzusetzen, weil wir, wie sie sagte, die Möbel ramponierten und durch unser ständiges Kommen und Gehen lauter Fliegen ins Zimmer brachten.» Tante Clara schwieg, während Großmama fortfuhr:«Ja, Tante Clara tritt dir ihr Zimmer ab und bezieht jetzt eines in meiner Nähe, das früher ihrem Vater, deinem Großvater, gehört hat. Dort stehen noch immer seine Möbel, sehr bequeme Mahagonimöbel, die etwas seriöser sind als diese hier... Natürlich ist vor deiner Ankunft alles frisch gestrichen und neu tapeziert worden. Sieh mal, rechts und links vom Bett haben wir dir Bilder von deinem Vater und deiner Mutter aufgehängt, damit sie immer bei dir sind. Der Frisiertisch hat ebenfalls Tante Clara gehört; sie selbst hat ihn extra für dich neu bezogen. Du weißt ja nicht, wieviel Mühe sie sich gemacht hat, um den Spitzenbezug noch rechtzeitig vor deinem Eintreffen fertigzubekommen! Gestern um Mitternacht war sie immer noch mit dem Nähen beschäftigt...!» Der Frisiertisch, die Bilder, die frische Tapete an den Wänden, die weißen Möbel von Tante Clara, die Bemerkung meiner Kusine, alles hatte mich bewegt. Die ganze Einrichtung des Zimmers mit den wohlüberlegten Details zeugte davon, daß man bestrebt gewesen war, das Ganze fröhlich, elegant und modern zu gestalten. Diese gutgemeinten Mühen in einem solch unmodernen und rückständigen Umfeld berührten mich; doch noch mehr berührte es mich, wie wenig es ihnen gelungen war, die erwünschte Wirkung bei mir zu erzielen. Die hohen, symmetrisch aufgehängten Bilder, der Frisiertisch mit dem bunten, grellrot schimmernden Spitzenbezug, der Bettüberwurf, die Aufstellung der Möbel: 55
Nichts davon entsprach meinem Geschmack oder meinem Empfinden. Am liebsten hätte ich das ganze Machwerk gleich wieder zerstört und alles nach meinem Geschmack neu eingerichtet, und bei dem Gedanken, wie sehr diese Art von Vandalismus meine arme Tante Clara gekränkt hätte, erfüllte mich auf einmal tiefes Mitleid, aber auch ein zärtliches Gefühl der Dankbarkeit. Während Großmamas Erläuterungen hatte Tante Clara kein Sterbenswort gesagt. Schweigend stand sie neben der Tür, mit dem Ausdruck stiller, duldsamer Resignation all derer, die zu einem eintönigen Leben ohne Zukunft und ohne Sinn verdammt sind. Doch obwohl hager und verblüht mit ihrem ergrauten Haar und ihrer fahlen Haut, war Tante Clara eigentlich hübsch und wirkte in ihrem neuen, ziemlich altmodischen schwarzen Samtkleid irgendwie würdevoll, wenn auch ein wenig lächerlich, denn so, wie sie dastand, erinnerte sie an eines dieser alten Porträtfotos, die man aus Familienalben kennt. Während ich voller Dankbarkeit und Zuneigung zu ihr hinüberblickte, flackerte in mir die Erinnerung daran auf, wie Tante Clara an den Tagen, die ich als Kind bei Großmama verbrachte, manchmal abends auf dem Wohnzimmersofa gesessen und sich stundenlang mit einem Herrn unterhalten hatte, der mir Bonbons geschenkt und kleine Papierpüppchen und Gockel gebastelt hatte. Ich hatte am Boden auf dem Teppich gehockt und mit den Gockeln gespielt, während die beiden in ihr Gespräch vertieft waren, eine für mich endlos monotone und völlig unverständliche Situation. Jetzt, als ich Tante Clara dort neben der Tür stehen sah, fiel mir diese längst vergessene Szene wieder ein, wobei ich dachte:«Wenn dieser Mann damals Tante Claras Verlobter war, woran kaum ein Zweifel besteht, was ist dann aus ihm geworden...? Warum haben die beiden nie geheiratet...?» Um ihr zu zeigen, wie sehr ich Anteil nahm und wie getreu ich ihr Bild über die Jahre hinweg bewahrt habe, hätte ich ihr um ein Haar die Szene geschildert, so, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte, und sie dann nach dem Verbleib dieses Herrn gefragt. Gott 56
sei Dank biß ich mir noch rechtzeitig auf die Zunge, bevor mir die Worte entschlüpften. Ich begriff, daß ich vielleicht an einen wunden Punkt rühren könnte, einen Schmerz, der mit dem zerstörten Traum noch in diesem ergrauten Haupt nistete, und sie mit einer solch indiskreten Frage womöglich verletzte. Um ihr meine Zuneigung auf andere Weise zu zeigen, wechselte ich abrupt das Thema und sagte lächelnd, alles, aber auch alles in diesem Zimmer sei traumhaft, und ich nähme die Dinge, die sie so lange Zeit begleitet hätten, beglückt und in Liebe an. Aber so war es nicht, Cristina: nein...! Während ich sprach, ließ ich den Blick von dem ergrauten Haupt an der Tür zu dem weißen Spitzenüberwurf des Betts schweifen, und dabei krampfte sich mir vor lauter Beklemmung, Kälte und Angst mit aller Macht das Herz zusammen. Auf einmal spürte ich deutlich den Geist jenes Erbes von Tante Clara, der den Möbeln entstieg... Ach, Cristina...! Tante Claras Erbe...! Das hieß: unzählige schwarze Nächte, endlos und immer gleich, die eine nach der anderen unter dem Nebel dieses weißen Spitzenüberwurfs hervorkrochen...! In diesem Moment der Erleuchtung sah ich, während ich immer noch den sanften Druck von Großmamas Arm auf dem meinen spürte, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit die offene Pranke dieses Ungeheuers vor mir, das sich hier einen Spaß daraus zu machen scheint, mir sämtliche Türen meiner Zukunft vor der Nase zuzuschlagen, das einen nach dem anderen alle meine Träume zerstört hat; dieses häßliche Monster, das sich nachts auf mein Bett hockt und mit seinen eiskalten Pranken meinen Kopf packt, mir tagsüber ständig auf den Fersen ist, das sich ausbreitet wie zäher Rauch, wenn ich aus dem Fenster blicke und oben nach dem fröhlichen Grün der Orangenbäume im Patio Ausschau halte, und das mich genötigt hat, die Feder zu ergreifen und mir alles von der Seele zu schreiben, Dinge, die mir bisher selbst nicht bewußt waren, aus ihr herauszupressen und in diese Worte zu kleiden, die ich Dir schicke; das Ungeheuer, das sich auf Dauer hier 57
breitgemacht hat, als wäre es Großmamas Tochter und Tante Claras ältere Schwester, ist die sträfliche Langeweile, Cristina...! Die grausame, hartnäckige, boshafte, tödliche Langeweile...! Doch diese quälende Eintönigkeit, die mir schon am Tag meiner Ankunft zum erstenmal entgegenschlug, diese Langeweile, die mich zur ausführlichen Analytikerin und Schriftstellerin hat werden lassen, hat tiefergehende Wurzeln, worüber die folgende Szene Aufschluß gibt, die sich an einem Morgen zwei oder drei Tage nach meiner Rückkehr nach Caracas ereignete: Es mag so gegen halb zwölf Uhr vormittags gewesen sein. Großmama, Onkel Pancho, Tante Clara und ich hatten uns im hinteren Eingangsbereich versammelt, in dem grünen Wäldchen, von dem ich Dir erzählt habe, wo ein Tisch mit mehreren Korbsesseln steht. Hierher zieht Großmama sich jeden Tag mitsamt Schere und Nähkorb zurück, um sich ihrer Stickarbeit zu widmen, und hier saß sie auch, als ich am Tag meiner Rückkehr aus Europa ihr weißes Haupt erblickte. Zum erstenmal war ein halbwegs normaler Alltag eingekehrt, nachdem Großmama mich zwei Tage lang reihum allen ihren vornehmen Bekannten vorgeführt hatte, einem Kreis von Personen beiderlei Geschlechts, die, wenn auch von der Zahl her überschaubar, doch hinsichtlich ihres Alters, ihrer Anschauungen und ihres Kleidungsstils kaum zu unterscheiden waren. Sie alle hatten sich zu nicht enden wollenden Besuchen eingefunden, um mich kennenzulernen und Großmama zu meiner glücklichen Heimkehr zu gratulieren, und hatten, abgesehen von leichten Abwandlungen in der Wortwahl, immer die gleichen Fragen gestellt und die gleichen Komplimente geäußert. An jenem Vormittag also waren die quälenden Empfänge endlich vorbei, und ich konnte tun und lassen, wonach mir der Sinn stand, konnte mich meinen eigenen Dingen widmen. Den Vormittag hatte ich weidlich genutzt, um mir mein Zimmer ein wenig gemütlicher einzurichten. Als die Uhr elf schlug, war ich zwar erschöpft, aber glücklich, denn in dem Willen, mich auf friedliche Art durchzusetzen, war es mir gelungen, meinen modernen, etwas 58
gewagten Geschmack dem konventionellen, ordentlichen und allzu braven Stil meiner Tante aufzuzwingen. Ohne an Empfindlichkeiten zu rühren, hatte ich so das ursprüngliche Machwerk entscheidend aufgefrischt und, beherrscht von den fröhlichen Farben zweier blonder Pariser Puppen, deren Reifröcke als Lampenschirme dienten und von denen die eine, ganz in Rosa, auf meinem Nachttisch, und die andere, in Grün, auf meinem Schreibtisch thronte, wirkte das Zimmer jetzt halbwegs zeitgemäß und gar nicht mal so häßlich. Kurz nach elf Uhr wurde mir Onkel Panchos Besuch gemeldet, der wie jeden Tag um diese Zeit auf dem Heimweg vom Außenministerium, wo er angestellt war, kurz bei uns vorbeischaute, um uns zu begrüßen. Als ich hörte, er sei da, unterbrach ich sofort die stolze Begutachtung meines Werks und gesellte mich zu Großmama, Tante Clara und Onkel Pancho, die sich am Ende des Eingangsflurs bei den Farnen und Palmen versammelt hatten. Da Samstag und somit Nähtag war, saß Tante Clara vor einem Korb mit Strümpfen und Wäsche und flickte eine alte, zerschlissene Leinenserviette; Großmama bestickte ihrerseits, tief über ihren Schoß gebeugt, eines der Seidentaschentücher, die sie anschließend, fein säuberlich gefaltet und mit einer Schleife versehen, in einem Geschenkkarton verstaute, um sie an ihren Namenstagen an die Enkel zu verteilen. Onkel Pancho saß rauchend im Schaukelstuhl und erzählte eine Geschichte, von der Großmama und Tante Clara augenscheinlich so gefesselt waren, daß sie ihre Arbeit unterbrachen. Da mich die mir völlig fremden Personen, von denen er redete, keinen Deut interessierten, ließ ich den Blick über die Grünpflanzen schweifen und genoß die Erholung von der doppelten - seelischen und körperlichen - Anstrengung, die mich die Verschönerung meines Zimmers gekostet hatte, während ich gleichzeitig überlegte, wie ich die langweilige Unterhaltung am wirkungsvollsten in andere Bahnen lenken könnte. Schließlich unterbrach ich die packende Erzählung kurzerhand:«Hör mal, Onkel Pancho, ich möchte dir einen Vorschlag 59
machen. Könnten wir beide nicht einen Ausflug nach Los Mecedores unternehmen, gleich morgen oder übermorgen, oder wann du willst? Ich bin gerade so romantisch gestimmt und wünsche mir sehnlich, wieder einmal einen Sonnenuntergang zu erleben: im Gras liegen und zu den Baumkronen aufschauen, und darüber der Himmel. Und wie gerne möchte ich Los Mecedores wiedersehen! Ich weiß noch, wie ich als kleines Mädchen zur Leibesertüchtigung dorthin gebracht wurde, und wie viel Vergnügen mir das machte. Wir fuhren mit der Straßenbahn bis in die Nähe dieser Kirche und stiegen dort aus..., wie hieß sie noch mal...?» «La Pastora.» «Genau. Also können wir nicht an einem der nächsten Tage nach Los Mecedores fahren, nur wir zwei...? Apropos, Großmama, wann fahren wir einmal auf Papas Landgut, nach San Nicolás...? Onkel Eduardo ist doch noch immer der Verwalter, nicht wahr...?» Die letzte Frage, die ich ganz unbefangen und in aller Naivität gestellt hatte, schwebte eine Weile im Raum, indes alle verstummten. Es herrschte ein bleiernes, unheilvolles Schweigen, Cristina, während Großmama und Tante Clara eisern den Kopf gesenkt hielten und sich nur über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg Blicke zuwarfen. Als sie sich endlich wieder ihrer Näharbeit zugewendet hatten, brach Großmama plötzlich das Schweigen und sagte sanft, während sie weiterstickte, ohne mich anzusehen:«San Nicolás gehört Eduardo, mein Kind.» Sie sprach in dem gleichen mitfühlenden Ton, in dem man mit armen Kindern redet, die im Laden um ein teures Spielzeug betteln. Nach dieser knappen Erklärung herrschte erneutes Schweigen, länger, bleierner und unheilvoller als das erste. Es war die grausame Stille der Wahrheit. In Großmamas Stimme verpackt, hatte die Wahrheit sich mir so klar und unwiderruflich gezeigt, daß ich gar nicht erst auf die Idee kam, um eine Erklärung zu bitten oder überhaupt noch etwas zu sagen. Ich hatte sofort verstanden, daß wohl nichts mehr daran zu ändern war, und beschloß, 60
Haltung zu bewahren und mich tapfer mit allem abzufinden. Die zahllosen, unabsehbaren Konsequenzen dieser Neuigkeit, Cristina, waren zu schwerwiegend, um sie mir gleich klarzumachen, und wenn, hätte das meine Seele allzusehr aufgewühlt. San Nicolás gehörte also Onkel Eduardo! Ich wußte nicht wie, noch warum, aber es gehörte ihm! Das bedeutete, daß ich, die ich mich reich geglaubt hatte, ich, die ich gewohnt war, so selbstverständlich Geld auszugeben, wie man atmet oder läuft, nichts, absolut nichts mehr besaß, nur Großmama, die ihre strenge, schützende Hand über mich hielt und in jenem Augenblick, tief vorgebeugt, die Nadel durch das Seidentaschentuch stach, sowie Onkel Panchos herzliche Zuneigung, der in seinen Schaukelstuhl zurückgelehnt saß und, die stark aromatische Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, geheimnisvoll schwieg... Mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte ich die beiden nur an und malte mir insgeheim aus, was diese Neuigkeit für meine Zukunft bedeutete, eine niederschmetternde Aussicht, die sich allmählich vor meinem geistigen Auge auftat, als blickte ich durchs Fenster in die finstere Nacht: Armut...! Ist Dir klar, was das bedeutete, Cristina...? Das hieß: vollkommene Abhängigkeit mit allen damit verbundenen Qualen und Demütigungen. Es bedeutete auch: endgültig Abschied nehmen vom Traum zu reisen, von Wohlstand, Erfolg, Luxus, Eleganz, von allen Freuden eines Lebens, an dem ich während meines Aufenthalts in Paris gerade einmal hatte schnuppern dürfen, von den Dingen also, die ich mir mehr als alles andere wünschte. Es bedeutete auch Abschied nehmen von Dir und von so vielen wunderbaren Menschen und Möglichkeiten, denen ich nie begegnet war und die, das spürte ich, die Welt noch für mich bereithielt... Die Welt... Weißt Du...? Der ganze Reichtum an Glück und Freude, der außerhalb der vier vergitterten Wände von Großmamas Haus winkt...! Ach, die Freiheit, der Erfolg, nichts davon würde jemals mir gehören...! Beim bloßen Gedanken daran spürte ich einen Kloß im Hals, der mir die Kehle zu-
61
schnürte, und den qualvollen Drang der unaufhaltsam aufsteigenden Tränen … Um die Tränen zurückzuhalten oder zumindest zu verbergen, senkte ich den Blick und starrte unverwandt zu Boden. Ich sah nur Großmamas, Tante Claras und Onkel Panchos Schuhe auf dem Mosaikboden. Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl hatte, die Schuhe hätten Augen, mit denen sie zurückstarrten. Es ist merkwürdig festzustellen, Cristina, wie die Dinge um uns herum in schweren Momenten scheinbar zum Leben erwachen. Bisweilen könnte man sie fast für Leidensgenossen halten; andere Male aber blicken sie uns auch mit solch trauriger Anteilnahme an, als wollten sie uns trösten. Doch in diesem Moment wirkten die sechs Schuhe eher wie unnahbare Zuschauer, und ich wußte nicht, ob ich ihre jeweilige Mimik eher als Ausdruck von Schadenfreude oder von Mitleid verstehen sollte. Beides mißfiel mir gleichermaßen; um den Aufruhr meiner Gefühle zu besänftigen, wollte ich jedoch lieber glauben, sie verspotteten mich. Ich fand meine Lage ja selbst ziemlich lächerlich. Ich mußte wieder daran denken, wie Großmama und Tante Clara über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg einvernehmliche Blicke ausgetauscht hatten. Ich dachte, wenn ich jetzt in Tränen ausbräche, würden sie es ganz sicher Onkel Eduardo weitersagen, und malte mir aus, wie Onkel Eduardo wiederum seiner Frau und seinen Kindern davon erzählen würde. Allein diese Vorstellung rührte so sehr an meinen Stolz, daß es mir schließlich gelang, meiner heftigen inneren Erregung Herr zu werden. Und sofort straffte ich mich, hob den Kopf und blickte die Anwesenden an; dann atmete ich einmal tief durch und rief aus:«Herrje, was für eine Hitze!» Anschließend erhob ich mich von meinem Platz und sprang mit einem geschickten Satz auf ein Beistelltischchen, auf dem man einen der großen Palmentöpfe zum Lüften und Sonnen in den Patio hinausgestellt hatte. Als ich oben war, stemmte ich die linkte Hand in die Hüfte und schaukelte mit einer exakt kalkulierten Pendelbewegung so heftig mit dem rechten Fuß, daß er dem 62
Korbtisch, an dem Großmama, Tante Clara und Onkel Pancho saßen, gefährlich nahe kam und ihn schließlich leicht mit der Schuhspitze berührte. Ich bildete mir ein, einen Anblick völliger Unbekümmertheit zu bieten, während ich stoisch und voller Hingabe den Fuß weiter baumeln ließ. Das, was durch meine detaillierte Schilderung so anmutet, als hätte es eine Ewigkeit gedauert, ereignete sich in Wirklichkeit innerhalb einer Minute. Während ich meinen Fuß in gleichmäßigem Takt pendeln ließ, herrschte eine ganze Weile Schweigen, ohne daß sich jemand rührte. Nur Großmama sah plötzlich auf und musterte mich kurz, doch da meine Haltung sie zu überzeugen schien, wandte sie sich sehr bald wieder ihrem Seidentaschentuch zu. Sie war wohl so arglos zu glauben, ihre Nachricht, die sie wie eine Bombe hatte platzen lassen, habe mich kaltgelassen. Genau das hatte ich beabsichtigt und empfand die entsprechende Genugtuung. Aber ich schwöre Dir, Cristina, seither hat mein Respekt vor Großmama reichlich Schaden genommen. Ich habe erkannt, wie wenig sie die Dinge durchschaut oder sich in andere einfühlen kann. Aber im Grunde genommen ist mir das ganz recht. Immerhin ist das Zusammenleben mit Menschen, denen nichts verborgen bleibt, ziemlich mühselig. Wenn man ihnen nichts vormachen kann, da ihnen ja nichts entgeht, bleibt einem überhaupt kein Freiraum mehr. In ihrem Freundeskreis hält man Großmama zwar für unheimlich klug, aber wenn man mir jetzt mit dem«Scharfblick deiner Großmama»kommt, würde ich am liebsten ausrufen:«Nein, ihr irrt, das stimmt ja gar nicht!» Nachdem Großmama mich wortlos gemustert hatte, setzte sie, wie gesagt, ihre Näharbeit fort, fädelte den Faden, der ihr aus dem Nadelöhr gerutscht war, wieder ein, blickte nach ein paar Nadelstichen erneut auf und musterte mich eine Weile aufmerksam, bevor sie schließlich sagte:«María Eugenia, mein Kind, hör mal gut zu. Du bist wohlerzogen, einigermaßen gebildet und weißt, wie man sich zu benehmen hat, doch manchmal verhältst du dich wie ein Straßenjunge. Schau: Anstatt dich richtig auf ei63
nen Stuhl zu setzen wie jeder normale Mensch, turnst du da oben auf dem Blumenständer herum, der jeden Augenblick unter deinem Gewicht zusammenzubrechen droht. Deine Beine sind bis zum Knie zu sehen, die Hand stemmst du in die Hüfte wie eine Dienstmagd, und die Art, wie du mit dem Fuß in der Luft herumfuchtelst, ist mehr als vulgär... Und wenn du den Tisch noch lange so mit den Schuhspitzen traktierst, schadest du nicht nur dem Tisch, sondern auch deinen neuen Schuhen...» Als sie mit ihrer Predigt fertig war, hielt ich den Fuß ruhig und nahm die Hand von der Hüfte, doch da ich das dringende Bedürfnis verspürte, irgend etwas zu zerstören, und um keinen Preis auch noch heruntersteigen wollte, denn das wäre mir dann doch zu unterwürfig erschienen, machte ich mich daran, das Blatt der Palme, die zu ihrem Pech in meiner Reichweite stand, mit dem Nagel einzuritzen. Großmama hatte sich längst wieder stumm über ihre Näharbeit gebeugt. Sicherlich drehten sich ihre Gedanken um Geldangelegenheiten, denn nach einer Weile sagte sie plötzlich:«Ich wollte dich schon lange fragen, María Eugenia: Hast du eigentlich noch die zehntausend Bolívar, die Onkel Eduardo dir durch Antonio Ramírez in Paris hat zukommen lassen...? Nach dem Wechselkurs müßten es, wenn ich mich nicht irre, so um die fünfzigtausend Francs gewesen sein...» «Ja, exakt fünfzigtausend Francs. Die letzte Münze habe ich noch kürzlich in Havanna eingetauscht. Oje, wenn Onkel Eduardo mich nicht von Bord geholt hätte, ich sage dir, hätte ich von meinem eigenen Geld nicht einmal mehr den Kofferträger bezahlen können.»Ich fing erneut an, mit dem Fuß zu wippen, und zwar mit solcher Wucht, daß ich um ein Haar mitsamt der Blumensäule nach hinten umgekippt wäre, während ich unbeirrt weiterredete:«Ich besitze keinen Céntimo mehr, nicht einmal einen halben oder einen viertel Céntimo, nichts, absolut nichts!» Großmama ließ das Taschentuch, den Fingerhut und die Nadel, alles gleichzeitig, fallen und nahm vor lauter Entsetzen die Brille ab:«Du hast die gesamten zehntausend Bolívar ausgegeben...? Du 64
hast sie zum Fenster hinausgeworfen...? Heilige Maria! Der helle Wahnsinn...! Wo ich noch zu Eduardo gesagt habe: ‹Schick dieses Geld nicht los, ehe du den Ramírez nicht Bescheid gesagt hast.› Aber er wollte es ja unbedingt telegraphisch überweisen, und jetzt sehen wir, wozu das geführt hat...! Du willst also sagen, du hast die gesamten zehntausend Bolívar vergeudet...! Aber zehntausend zu neun Prozent angelegt, hätten dir fünfundsiebzig im Monat eingebracht, mein Kind. Vielleicht hätte man sie sogar für zehn anlegen können, oder bis zu zwölf, was dir monatlich achtzig bis hundert Bolívar beschert hätte..., sieh mal..., dann hättest du wenigstens etwas gehabt, zwar wenig genug, einen lächerlichen Betrag, aber wenigstens etwas, zumindest ein kleines Taschengeld...! Dieses Geld hat man dir nur zur Sicherheit geschickt, für Notfälle, einen Unfall etwa oder eine Krankheit. Das Konsulat hatte schon einen Monat zuvor einen Brief erhalten, um deine Reise zu regeln und alle außerordentlichen Kosten zu decken, die mit dem Tod deines Vaters anfielen, sowie für deine Trauergarderobe. Das war mehr als genug!» Herrje, diese zähe Verbissenheit, mit der Großmama sich wegen dieser zehntausend Bolívar ereiferte, des letzten Restes meines Vermögens, jetzt, da die Zigtausend, die San Nicolás wert war, sich gerade vor meinen Augen in Luft aufgelöst hatten! Das brachte mich aus der Fassung. Während sie sich so in Rage redete und ich, plötzlich erstarrt, wie eine Säulenheilige auf meinem Blumenständer thronte, kam mir auf einmal der starke Verdacht, Onkel Eduardo habe mit meinem Erbe die Rechnungen des Gran Capitán21 beglichen, und das schürte erheblich meinen Zorn. Der Siedepunkt war erreicht, als Großmama sagte:«Damit hättest du immer noch sehr wenig besessen, ein lächerliches Sümmchen, aber immerhin etwas, ein bißchen...»Da ich mir sogleich Onkel Eduardos unsympathisches Gesicht vorstellte, beschloß ich rasch, ihn aus tiefster Seele zu beschimpfen, indem ich ihm in Gedanken folgende Schmähungen an den Kopf warf, die mir mit Leichtigkeit in den Sinn kamen:«Alter Geizhals, Dieb, gezierter, 65
näselnder Lump, Besenstiel im Männerkleid!»Ungerechterweise fand ich, Großmama sei mitschuldig an meinem Unglück, deshalb rief ich nur um sie zu ärgern, als sie ausgeredet hatte, gute Laune heuchelnd, fröhlich aus:«Ach, Großmama, Großmama, wie sehr man merkt, daß du noch nie in Paris warst! Ich habe mir meine Trauerkleidung in Biarritz schneidern lassen, aber wie das nun mal so ist …: Du läßt dir ein neues Kleid machen, kommst nach Paris, und im Nu sieht es schon wieder alt aus... Weißt du, Großmama, in Paris habe ich die Kleider aus Biarritz keinmal getragen, ich habe sie gar nicht erst eingeweiht oder mir auch nur die Mühe gemacht, sie zu behalten; allein sie im Kleiderschrank hängen zu sehen, war mir unerträglich: Ihnen haftete der Geruch nach Internat, nach Unschuld, Kleinbürgerlichkeit an, welch ein Graus! Nein, Großmama, erst in Paris habe ich gelernt, mich richtig zu kleiden, erst dort hat sich mir offenbart, was wirklich chic ist...! Die Kleider aus Biarritz, so ungefähr zehn bis zwölf, die habe ich alle an das Zimmermädchen im Hotel verschenkt..., und da sie schwarz waren, standen sie dem Mädchen gar nicht schlecht, mit ihrem Batisthäubchen und dem kleinen Schürzchen...» Aufgebracht fiel Großmama, die Brille in der zitternden Rechten schwingend, mir ins Wort und rief entsetzt aus, so als sei eine schreckliche Katastrophe geschehen:«Was für ein Wahnsinn, mein Gott, was für eine Dummheit, fünfzigtausend Francs für Kleider, und das, wo für die Reiseausstattung längst gesorgt war!» «Aber du hast doch gestern meine Kleider, meine Hüte, meine Strümpfe und meine Seidenunterröcke gesehen; glaubst du vielleicht, Großmama, solche Sachen bekommt man in Paris geschenkt? Und ich habe sie noch billig erstanden! Eigentlich sind sie mindestens..., mindestens achtzigtausend Francs wert...! Mal ehrlich, Onkel Pancho, du hast doch, wie du sagst, eine Menge Hüte in Paris bezahlt. Waren meine etwa teuer! Waren sie teuer...?» 66
Bei der letzten Frage hatte ich mich dermaßen ereifert, daß ich fast wieder von meinem Tischchen gefallen wäre, nur diesmal kopfüber, direkt vor Onkel Panchos Füße. Er musterte mich einen Moment lang, bevor er eine ausweichende, in Tabakqualm gehüllte Antwort gab:«Bedenke, daß du mir deine Hüte bisher noch nicht gezeigt hast, María Eugenia.» «Na schön, schau mal: Was Eleganteres, Hübscheres hast du im Leben nicht gesehen, le dernier cri22! Stell dir vor, selbst in Paris haben sie Aufsehen erregt...! Sie verleihen einem Persönlichkeit und allure23, so daß mich jeder nur noch mit ‹Madame› anredete..., ja: ‹Madame Alonso›.» «Ach, María Eugenia», sagte Großmama, zu Tode erschrocken, während ihre Hand mit der Brille in den Schoß sank,«wer weiß, mein Kind, wer weiß, wofür sie dich gehalten haben! Für diese traurige Rolle hast du also dein gesamtes Geld verschleudert!» «Wie, für diese traurige Rolle? Also hör mal, Großmama, wenn du Geld hast und es in Paris verschleuderst, wie du es nennst, giltst du mehr als der König, ja sogar als der Kaiser. Plötzlich fühlst du dich, als gehöre dir die ganze Welt. Die Place de la Concorde zum Beispiel… na ja…, die kommt dir auf einmal vor wie der Patio deines Hauses, die Champs-Elysées wie der Eingangsflur, der Bois de Bologne wie der Garten, und am Ende bist du überzeugt, daß du auf einem riesigen Landgut lebst, wo jeder, der vorbeikommt, nur auf deine Befehle wartet. Als Beweis laß mich dir von einem Vorfall erzählen, der sich an einem dieser sonnigen Vormittage zugetragen hat, an denen man besonders gut gelaunt ist: Ich war gerade auf dem Weg zur Place d’Étoile, als mein Taxi mitten auf den Champs-Elysées hielt, weil sich wegen Reparaturarbeiten am Fahrdamm der Verkehr staute. Plötzlich herrschte große Aufregung: Der Präsident der Republik passierte, gefolgt von seinen Ministern, mit einer Menge Kränze und Reden, die anläßlich einer der zahlreichen Zeremonien am Grab des Unbekannten Soldaten gehalten werden sollten. Meinst du, die 67
hätten mich beeindruckt oder ich hätte mich auch nur für eine Sekunde von ihnen regiert gefühlt? Ganz im Gegenteil! Wo die von der Regierung generell dermaßen jämmerlich und obendrein schlecht gekleidet auftreten! Weißt du, was ich ihnen in Gedanken aus meinem wartenden Taxi zurief? Also, ich streckte den Kopf hinaus und sagte ihnen ganz freundlich: ‹Hallo, Herr Gutsverwalter, hallo, ihr Tagelöhner! Herrje, wann werden Sie denn endlich fertig mit den Renovierungsarbeiten in dieser Wohnung, es ist eine Schande, wie lange das schon dauert; Tag für Tag werde ich hier aufgehalten, wie Sie sehen, und komme immer zu spät zu meinen Anproben, und dabei habe ich es meistens sehr eilig! Und vielleicht lernen Sie dann auch einmal, sich etwas eleganter zu kleiden, und daß Sie einen derart langen Schnurrbart tragen, das ist doch längst passé, und überhaupt, Sie sollten ein wenig abspecken oder noch etwas wachsen. Ade! Und grüßen Sie mir den Unbekannten...!›»> «María Eugenia», fiel mir Großmama ins Wort,«meine Mutter hat immer gesagt, Gott vergißt nicht die kleinste Dummheit und keines unserer überflüssigen Worte. Die Liste der Dinge, für die du dich vor Gott verantworten müßtest, mein Kind, wäre demnach endlos.» Ungerührt führte ich meine Rede fort und zählte weiter meine Ausgaben auf:«Also gut, das Hütchen und dann die Schuhe, alle nach Maß; und natürlich die déshabillés24 und die liseuses25, ganz aus Spitze, dazu noch der schwarze Kimono..., ach ja, nicht zu vergessen: die Geschenke! Die Geschenke, die mich ein Vermögen gekostet haben... Sieh, Großmama, sieh dir die Etiketten auf den Schachteln an, das Allerfeinste aus der Rue de la Paix... Nein, ich verschenke doch keinen Ramsch!» «Nein, du verschenkst keinen Ramsch», äffte Großmama mich nach, so außer sich, daß sie wieder mit der Brille in der Luft herumfuchtelte.«Es kommt mir vor, als hörte ich deinen Vater! Hast du dir etwa eingebildet, mein Kind, mit dieser Handtasche wür-
68
dest du mir eine Freude machen, vor allem, seit ich jetzt weiß, woher sie stammt und was sie dich gekostet hat?» «Aber es hat mir einfach Vergnügen bereitet, sie dir zu schenken, und das reicht mir...! Ach, wenn du wüßtest, wie gut ich das Geld angelegt habe! Und wieviel Freude es mir macht, Kleider anzuprobieren und immer noch mehr Kleider... Sieh mal, ich war beim Modehaus Lelong, das, nebenbei gesagt, als das schickste gilt und dabei noch ziemlich moderate Preise hat, denn ich kann durchaus sparen, auch wenn du das nicht glaubst. Also ich ging zu Lelong, und dort wurde erst einmal anprobiert: Das Kleid hier steht mir einfach großartig und das, ach ja, und das da auch; aber am allerbesten sehe ich in diesem hier aus. Die Verkäuferin war so überwältigt, daß sie voller Bewunderung ausrief: ‹Darin sehen Sie ja aus wie eine Königin...! Aber, ich sage Ihnen gleich, es ist das allerteuerste...› Und ich mit einer wegwerfenden Handbewegung, wie eine vornehme Millionärin: ‹Ach, der Preis ist das Geringste!› > Und dann immer mehr Modelle, mehr Läden, die Boulevards hinauf und hinunter, ich allein, ganz allein, auf eigene Faust... Glaubst du im Ernst, Großmama, ich würde diese Tage in Freiheit für jämmerliche einhundert Bolívar im Monat tauschen...? Nein, nein und nochmals nein...!» «Ja, ich wußte schon von Eduardo, der es in La Guaira erfahren hat, daß du dich allein auf den Straßen von Paris herumgetrieben hast, und war sehr verärgert. Ich kann nicht verstehen, daß ein sonst so vernünftiger Mann wie Ramírez diesen Wahnsinn zulassen konnte. Ein achtzehnjähriges Mädchen, ganz allein und auf eigene Faust in einer Großstadt wie dieser! Der helle Wahnsinn! Viel zu gefährlich...! Wenn ich nur daran denke...! Und bilde dir ja nicht ein, hier in Caracas könntest du so weitermachen...» «Ach! Das also war es, was Onkel Eduardo noch in La Guaira zu ‹erledigen› hatte? Herausfinden, was ich in Paris getrieben habe, um gleich zu dir zu laufen und dir alles zu brühwarm weiter-
69
zuerzählen. Mit anderen Worten, er tratscht nicht nur, sondern schnüffelt auch noch herum. Dieser hinterhältige Heuchler!» «Das ist kein Tratschen! Es war seine Pflicht, mich zu informieren, so wie es meine Pflicht ist, dir solch einen Leichtsinn für die Zukunft auszutreiben. » Onkel Pancho und Tante Clara müssen wohl mit dem feinen Spürsinn gutmütiger Seelen bemerkt haben, welch einen Aufruhr diese unsinnige Diskussion mit Großmama in meinem Innern entfachte. Beide respektierten meine Qualen und schwiegen; Tante Clara tief über die Nadel gebeugt, mit der sie die Fäden beim Stopfen verwebte; er zurückgelehnt in seinen Schaukelstuhl, während er gedankenverloren den zarten, länglichen Formationen nachblickte, die der Tabakqualm in der Luft bildete. Plötzlich sprang er auf, warf den Zigarrenstummel ins Gestrüpp im Patio, dachte eine Weile nach, bevor er sich breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, das Jackett lässig nach hinten gerafft, vor mir aufpflanzte und so, halb ironisch, halb feierlich, endlich einschritt:«Hast du dich amüsiert mit deinen fünfzigtausend Francs...? Ja...? Ordentlich...? Gut, dann sind sie vortrefflich investiert...! Ach, mein Kind, du weißt ja nicht, wie viele Schecks über fünfzigtausend Francs ich in Paris gelassen habe, und genau wie du bedaure ich nichts! Besser, man gibt Geld zum Vergnügen aus als für schlechte Geschäfte, zum Nutzen Dritter. Wenn man sich dafür amüsiert, läuft man wenigstens nicht Gefahr, hinterher der Dumme zu sein...» Aber Großmama und Tante Clara fielen Onkel Pancho entrüstet ins Wort, mit zwei völlig verschiedenen Einwänden. Tante Clara sagte:«Wie kannst du nur annehmen, Pancho, María Eugenia hätte sich in Paris amüsiert, wo der Leichnam ihres Vaters noch kaum erkaltet war, wie es heißt...! Für so herzlos halte ich sie nicht!» Unterdessen ereiferte sich Großmama, wobei sie Tante Clara übertönte:«Also wirklich, das fehlte noch, Pancho, daß du dem Kind deine liederliche Moral predigst. Warum rätst du ihr nicht 70
gleich, zu trinken oder Morphium und Kokain zu nehmen, jetzt, wo sie sich nichts mehr leisten kann?» Ohne etwas an seiner saloppen Haltung zu ändern, wandte sich Onkel Pancho halb zu Großmama um und sagte ganz ruhig:«Nur mal angenommen, Eugenia, mal angenommen, dieses Kind wäre sparsam und vernünftig gewesen und mit seinem uneingelösten Scheck über fünfzigtausend Francs brav nach Caracas zurückgekehrt... Was wäre geschehen? Sie hätten sich in Ihrem gerechten Eifer, das Geld zu vermehren, für das eine oder andere Geschäft begeistern lassen, das Eduardo in San Nicolás ausheckt. Baumwolle, Tabak oder Kartoffeln, ein sicheres Geschäft, bombensicher... Großzügigerweise überläßt Eduardo María Eugenia eine Parzelle auf der Hazienda; es wird ausgesät, und dann kommen der Winter, die Raupen oder die Heuschrecken; die Plage kapriziert sich ausgerechnet auf María Eugenias Anbaufläche: De profundis clamavi ad te Domine...26 Was ihr bleibt, ist weniger als Staub und Asche...! Ist es dann nicht tausendmal besser, wenn sie sich für ihr Geld wenigstens ordentlich amüsiert hat...? Mein Gott, in der Landwirtschaft, dem einzigen, was wir in der Familie bisher betrieben haben, ist es doch grundsätzlich so, daß sich die Katastrophen und die sinkenden Preise gegen die nicht Anwesenden verschwören, die Frau oder den Minderjährigen. Sie sind unweigerlich die Verlierer... Es läuft - natürlich! - so wie in der Geschichte von dem Mann und der Frau beim Mittagessen: Die Portion dessen, der nicht da ist, frißt immer die Katze!» Damit war klar ausgesprochen, was ich hatte wissen wollen, und da ich meine Befürchtungen mehr als bestätigt sah, grinste ich zufrieden, während ich innerlich ausrief:«Habe ich es nicht gesagt! » Bestimmt wäre ich auf der Stelle von meinem Sockel gestiegen, um Onkel Pancho zu umarmen, hätte Großmama sich nicht in dem Moment, vielleicht herausgefordert durch mein Grinsen, das sie zutiefst in ihrer Mutterliebe verletzte, majestätisch in ihrem Korbsessel aufgerichtet, um sich mit dem Stolz einer Löwin 71
zu ereifern:«Ich dulde es nicht, Pancho, daß du in meinem Haus und in meiner Anwesenheit derart über Eduardo herziehst, und noch weniger, daß du ihn vor dem Kind bloßstellst, für das er, wie du genau weißt, liebevoll und großzügig gesorgt hat wie ein wahrer Vater...! Um Dinge loszuwerden, die du vielleicht für witzig hältst, schreckst du vor nichts zurück, dann ist dir nichts mehr heilig! Ich glaube, Eduardo hat oft genug in seinem Leben bewiesen, was für ein integrer, rechtschaffener Mensch er ist...! Er hat eine ehrbare Familie gegründet, sein Lebtag hart gearbeitet, sich nie in politische Machenschaften verwickeln lassen und anders als so manch anderer seiner Familie nie durch Alkoholexzesse oder Glücksspiel Schande gemacht...!» Wenn sich Großmama derart echauffierte, war sie imposant, ja einfach grandios. Denn tatsächlich, Cristina, genießt Großmama, die nie ausgeht und sich nur in den vier Wänden ihres ehrwürdigen Heims aufhält, hartnäckig ihrem Ehrenkodex verhaftet und vom Nimbus ihrer Jahre und ihrer strikten Moral umgeben, das Ansehen der großen alten Damen, welchen alle in ihrem Umkreis mit tiefem Respekt begegnen. Durch das Zusammenleben mit meinem Großvater, ihrem Gatten, einem Dichter, Historiker, Minister und Gelehrten, hat sie sich eine gepflegte Ausdrucksweise und eine kultivierte, geschliffene Sprache angeeignet, was ihr ohne Zweifel den Ruf eines klugen Kopfes eingebracht hat. In jenem Augenblick, als sie ihren Sohn gegen das mögliche Mißtrauen verteidigte, das Onkel Panchos Anschuldigungen in mir hätten entfachen können, reagierte sie, wie gesagt, mit erhabenem Stolz. Das Feuer des heiligen Zorns, das jetzt in ihren sonst eher stumpfen Augen aufloderte, überschattet von der in finsterer Strenge gerunzelten Stirn und majestätisch gekrönt durch ihr weißes Haupt, konnte einen durchaus das Fürchten lehren. Ich will nicht leugnen, daß ich vor lauter Bewunderung für Großmama vorübergehend mein eigenes Ungemach vergaß. In meine Bewunderung mischte sich Erstaunen, Ehrfurcht und Ho-
72
chachtung dafür, mit welch würdevoller Eleganz sie sich zu erzürnen wußte. Onkel Pancho, der für Eloquenz nichts übrig hat, egal, ob es nun um den Ausdruck von Zorn, Begeisterung oder Mißbilligung geht, blieb jedoch völlig ungerührt. Selbst als Großmama ihre brillante Rede zur Verteidigung Onkel Eduardos mit dem verletzenden Hinweis krönte:«Er hat seiner Familie nie durch Alkoholexzesse oder Glücksspiel Schande gemacht», blieb Onkel Pancho unerschütterlich wie ein Fels in der tosenden Brandung, reglos und ohne ein Wort zu sagen, vor Großmama stehen, beide Hände in den Hosentaschen, den Blick verloren in der endlosen Weite über dem Patio. Ich bin sicher, daß er insgeheim dachte:«Wozu antworten...? Was nützen noch Worte...? Das sind doch alles nur Ausreden, Lügen, Falschmünzen...!» Doch er sagte nichts dergleichen; während der endlosen Pause, die auf Großmamas Standpauke folgte wie die Stille auf den Sturm, blieben seine Lippen hartnäckig verschlossen. Scheinbar gelassen machte er schließlich ein paar Schritte durch den Flur, bevor er abrupt stehenblieb, seine Uhr aus der Westentasche zog und nach einem Blick darauf ausrief:«Herrje, es ist ja schon fast zwölf!» Als wäre nichts geschehen, griff er anschließend seelenruhig nach seinem Stock, nahm den Hut von der Garderobe, setzte ihn auf, warf noch kurz einen Blick in den schmalen Garderobenspiegel und sagte zum Abschied mit einem Lächeln:«Na dann, bis morgen!» Man hörte, wie die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel und seine Schritte auf dem Vorplatz und anschließend dem Bürgersteig nach und nach verhallten. Tatsächlich: Kurz nachdem Onkel Pancho fort war, schlug mitten in die angespannte Stille hinein die Uhr, die vom Turm der Kathedrale herab im monotonen Singsang eines Kantors, bis in alle Stadtteile vernehmbar, tagsüber regelmäßig - alle viertel, halbe 73
und volle Stunde - die Uhrzeit verkündet und des Nachts an das brüderlich gleichheitliche Motto der Kartäuser,«Sterben müssen wir», gemahnt. Wie gesagt, kaum war Onkel Pancho fort, schmetterten die Glocken laut und voller Inbrunst ihr:«Bim, bam; bim, bam...»; eine Melodie nach folgenden Noten: Es, C, Des, Ges (zur Viertelstunde)..., Ges, Des, Es, C (zur halben Stunde)..., C, H, As, Es (zur vollen Stunde)...! Gleichzeitig sagte Tante Clara:«Es ist zwölf Uhr!»Dabei sprang sie auf, bekreuzigte sich und stimmte mit fester Stimme das Angelusgebet an. Wegen meiner schlechten Laune weigerte ich mich, im Chor mit Großmama zu antworten und die AveMarias zu sprechen.27 Tante Clara warf mir einen mißbilligenden Blick zu, während sie sagte:«Und das Wort ward Fleisch...» Ich schwieg indes eisern, und nachdem sie fertig war und sich erneut bekreuzigt hatte, packte sie wortlos ihre Wäschestücke und Socken zusammen, faltete sie sorgfältig und legte sie in den Korb. Dann stand sie auf und entfernte sich energischen Schrittes. Als das gleichmäßige Klappern ihrer Absätze hinter dem Eßzimmer und dem zweiten Patio verhallt war, klaffte zwischen Großmama und mir abgrundtiefes Schweigen. Mit einem Satz sprang ich rasch von meinem Tischchen, in der Absicht, mich ebenfalls zu entfernen, doch Großmama winkte mich zu sich und bedeutete mir, auf Tante Claras niedrigem Stuhl Platz zu nehmen. Sie schob die Näharbeit beiseite, legte mir eine Hand auf die Schulter und begann in sanftem, liebevollem Ton auf mich einzureden:«Mein Kind, du bist kein unerfahrenes Mädchen mehr und alt genug, um zu begreifen. Du besitzt einen klaren Verstand und ein aufrichtiges Herz, und mit beidem solltest du die Dinge so betrachten, wie sie sind, ohne Haß oder Groll gegen andere. Wir Frauen, mein Kind, sind geboren, um zu vergeben. Der Schatz unserer Leidensfähigkeit sollte sich niemals erschöpfen, nicht einmal in grausamen, dornenreichen Zeiten der schlimmsten Aufopferung. Um so mehr, wenn es gilt, geliebte Menschen, etwa unsere Eltern, mit diesem unseren Schatz zu überhäufen...! Panchos unbedachte 74
Äußerungen zwingen mich, dir Dinge zu erklären, die ich dir in mancher Hinsicht lieber für immer erspart hätte; doch unter den gegebenen Umständen ist es meine Pflicht, Eduardo gegen derlei ungerechtfertigte Beschuldigungen zu verteidigen... Hör mal gut zu, mein Kind, denn ich liebe dich mehr als alles andere und habe das Recht, offen mit dir zu reden: Daß dir San Nicolás heute nicht mehr gehört und von deinem väterlichen Erbe nichts übriggeblieben ist, hat allein dein Vater zu verantworten, der als Privatier immer sorglos in den Tag hinein gelebt hat, ohne auch nur einen Gedanken an morgen oder gar an den Tod zu verschwenden... Ach ja, diese verhängnisvolle Unart war wie bei Pancho die Folge seiner schlechten Erziehung; die Gründe reichen weit in die Vergangenheit zurück, daher mache ich ihnen gar keinen Vorwurf...» Für ein paar Sekunden verstummte sie, als wolle sie ihre Gedanken ordnen, bevor sie fortfuhr:«Schuld an alledem ist allein dein Großvater. Ja, dein Großvater, Martín Alonso, übrigens ein sehr liebenswerter Mann, äußerst galant, ein echter Kavalier und Charmeur... Ach, und glaub mir, wenn einer ihn kannte, dann ich, denn, wie du weißt, war er mein Vetter...» Um mir besser begreiflich zu machen, wie es zu meinem Ruin hatte kommen können, griff sie weit in die verschiedenen Verzweigungen meines Stammbaums zurück. Zunächst schilderte sie mir in allen Einzelheiten die Person meines Großvaters Martín Alonso und sein Elternhaus zu der Zeit, als mein Großvater noch jung war und längst nicht an Heirat dachte. Kein anderes Haus in Caracas reichte an den Glanz seines Elternhauses heran, wo prunkvolle Bälle voller Eleganz und in großem Stil für die feine Gesellschaft gegeben wurden... (ach, Cristina, daß ich nicht lache, Eleganz und Luxus in jener Zeit, als es noch kein elektrisches Licht gab, die Frauen ungeschminkt waren und die Paare mit eineinhalb Metern Abstand Walzer im Takt von«Sobre las olas»28tanzten...! Aber vergiß nicht, Großmama führt hier das Wort). Meine Urgroßeltern Alonso hatten also ein luxuriöses 75
Haus und waren steinreich, so etwas wie die ersten Kapitalisten Venezuelas. Sie besaßen ein Vermögen an Schmuck, Gobelins, Bildern, Teppichen, Geschirr... und blablabla...! Wortgewandt, wie Großmama ist, machte sie mir mit solcher Begeisterung jenes Haus schmackhaft, die prächtigen Feste, wo sie dann auch meinen Großvater Don Manuel Aguirre kennenlernte, der ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof machte, daß ich kurzfristig meine schlechte Laune vergaß und die angebetete Eugenia leibhaftig vor mir sah, mit ihrer üppigen Krinoline im Pompadourstil, den schwarzen, in den Nacken fallenden Korkenzieherlocken, dem Perlmuttfächer in der Hand, leicht vorgeneigt lächelnd, unschuldig dahinschmelzend, hofiert von Don Manuel, dem zukünftigen Akademiker..., ein Anblick halbwegs zwischen Kaiserin Eugénie29 und den Pariser Puppen, die ich vor einer Stunde in meinem Zimmer zurückgelassen hatte. Nachdem Großmama ihr Loblied auf die Vorfahren der Alonsos, ihr Haus und ihre Bälle beendet hatte, richtete sie ihr Augenmerk auf Großvater Martín, den Haupterben all dieses Glanzes. Dieser brillante Charmeur hatte, wie sie sagte, eine gute Partie gemacht und hätte wie seine Eltern ein ruhiges und zufriedenes Leben geführt, wäre er zu seinem Leidwesen nicht nach wenigen Ehejahren verwitwet.«... Haargenau, wie es später deinem Vater ergehen sollte...!»seufzte Großmama, als sie an diesem Punkt angelangt war. Nach einer kurzen Pause setzte sie ihre Schilderung fort. Aus dieser glücklichen, allzu kurzen Ehe gingen zwei Kinder hervor: Onkel Pancho und Papa. Sie waren noch klein, als Großvater aus gesundheitlichen Gründen mit ihnen nach Europa reiste. Vorgesehen war ein Aufenthalt von wenigen Monaten, doch einmal dort, scheint er den Verstand verloren zu haben. Europa stieg ihm wohl zu Kopf; in einem Anfall von Größenwahn ließ er sich in Paris nieder und gab sich nur noch dem Amüsement hin. Da aber Luxus und Ausschweifung unweigerlich in den Abgrund führen, verlor Großvater bald den Boden unter den Füßen. Er verfiel dem 76
Pariser Leben so rettungslos, daß er schließlich nicht mehr nach Venezuela zurückkehrte. Beide Söhne wuchsen also dort auf, und an eine Welt des Müßiggangs und der Verschwendung gewöhnt, ohne jeglichen Hang zur Arbeit, folgten beide, sobald sie halbwegs erwachsen waren, dem Beispiel ihres Vaters... Wie drei Gleichaltrige führten sie ein Lotterleben in Saus und Braus und frönten, exzessiv und verantwortungslos, dem Müßiggang... Ach, die Früchte schlechter Erziehung...! Die Gefahren der Maßlosigkeit …! So oder ähnlich klagte Großmama aus tiefstem Herzen ihren liederlichen Lebensstil an, während ich mir, wie zuvor Großmama mit üppiger Krinoline, jetzt meinen Großvater mit seinen beiden Söhnen vorstellte, alle drei im Frack, mit weißer Krawatte, Blume im Knopfloch und leicht schief sitzendem Zylinder, wie drei feuchtfröhliche Kumpane aus einer Wiener Operette, die in Begleitung von frou-frous und Mimis30 beschwingt ein Varieté betreten, sich, ein Champagnerglas in der Hand, in einer Reihe aufstellen und, alle im gleichen Takt den Fuß schwingend rechts, links - im Chor singen:«Ein Prosit, ein Prosit auf die Gemütlichkeit...!»oder so ähnlich... Ach, Cristina, wie sehr muß sich diese heilige Dreieinigkeit amüsiert haben, und wie herrlich muß es sein, ein Mann zu sein und Geld zu haben...! Einige Jahre später starb mein Großvater, viel zu jung, doch auch nach seinem Tod gaben Papa und Onkel Pancho weiter fröhlich ihr Geld aus. Zu dieser Verschwendung gesellten sich Mißwirtschaft, Revolutionen und Krisen, Preisverfall und so weiter, und ihr ungeheures Vermögen schrumpfte im Nu, bis fast nichts mehr übrig war. Als Papa schließlich nach Venezuela heimkehrte, war er dreißig Jahre alt und nahezu bankrott. Onkel Pancho hingegen beschloß, ganz im Sinne seiner Theorie, Geld sei zum Ausgeben da, in Paris zu bleiben, solange die berühmten Schecks über fünfzigtausend Francs noch eintrafen. In letzter Not - laut Großmama der beste Lehrer - begann Papa glücklicherweise hier in Venezuela, seine Vermögensangelegen77
heiten neu zu ordnen. Noch war Zeit, die völlige Mittellosigkeit abzuwenden! Durch die heilende Wirkung der Arbeit wurde er ein neuer Mensch. Welch ein Eifer, welch eine Intelligenz und welch eine Geschäftstüchtigkeit …! Bereits wenige Jahre nach seiner Rückkehr nach Caracas war er verheiratet, und diese Ehe bedeutete die Krönung seiner Arbeit und seines neugeregelten Lebens. Denn er hatte den gesamten Rest seines jämmerlichen Vermögens flüssig gemacht, um San Nicolás abzulösen, ein prächtiges Landgut, eine wahre Goldmine, die, seit langem in Familienbesitz, inzwischen unrentabel, heruntergekommen und mit einer hohen Hypothek belastet war; durch die Heirat konnte er die kleine Summe, die Mama besaß, mit seinem Geld zusammenlegen, und stürzte sich anschließend mit Haut und Haaren in sein Projekt: San Nicolás wieder aufzubauen. Er entwickelte eine solche Begeisterung für die Landwirtschaft und seinen Plan, die Hazienda wieder flottzumachen, daß er mitsamt seiner Familie nach San Nicolás zog und sich ans Werk machte. Ich wurde dort geboren, und dort verbrachte Papa seine glücklichsten Ehejahre, bis Mama aus unerklärlichen Gründen so schwer an Typhus erkrankte, daß sie nach wenigen Tagen starb... Krank, traurig und nervlich am Ende, beschloß mein Vater kurz nach dieser Tragödie, wie mein Großvater dreißig Jahre zuvor, sich in Europa zu erholen. Und so kam es, daß Papa Großmamas Warnungen in den Wind schlug, trotzig ihr Angebot, sich während seiner Abwesenheit um mich zu kümmern, ablehnte und ihr das Herz brach, als er mich an jenem fernen Morgen, an den ich mich noch gut erinnern kann, ihr entriß und in La Guaira mit mir und meiner Amme an Bord ging, um nie mehr heimzukehren … Bis zu diesem Punkt, Cristina, habe ich nichts gegen Großmamas Schilderung einzuwenden; hier scheint die Wahrheit durch, hell und klar wie die Kieselsteine am Grund eines sehr reinen Wasserlaufs. Doch wie du gleich sehen wirst, wird von jetzt an das Wasser immer trüber dank der Seife, mit der Onkel Eduardos Hände reingewaschen werden sollen, so daß die Wahrheit hinter 78
den immer noch ehrlich gemeinten Worten nicht mehr so klar und deutlich hervortritt. Anscheinend hatte Papa sich vor dem Unglück für eine Textilfabrik begeistert und auf San Nicolás im großen Stil mit dem Baumwollanbau begonnen, als die Hazienda bereits schuldenfrei florierte. Nach Mamas Tod wurde er krank, entschloß sich zu der Reise, tat sich mit Onkel Eduardo zusammen, beteiligte ihn am Baumwollanbau und an der Textilfabrik, ernannte ihn zu seinem Generalbevollmächtigten und überließ ihm die Verwaltung der Hazienda. Anschließend reiste er ab. «Was kam dann?»fuhr Großmama im Brustton der Überzeugung mit bebender Stimme fort.«Es kam, was ich befürchtet und wovor ich ihn so oft gewarnt hatte! Erst einmal in Paris, blieb er für unbestimmte Zeit und verfiel wieder in sein ausschweifendes Junggesellenleben, frönte dem Müßiggang und gab sein Geld mit vollen Händen aus. So verschleuderte er nach und nach sein gesamtes Vermögen und mit ihm alles, was dir gehörte: das bescheidene Erbe, das deine Mutter dir hinterlassen hatte...! Eduardo hingegen arbeitete rund um die Uhr und verließ nie die Hazienda, kaum daß er mal nach Caracas kam. Seine Kinder sind quasi dort groß geworden. Natürlich häufte er auch Ersparnisse an, und während dein Vater das Geld sinnlos vergeudete, brachte er mehr und mehr zusammen... Ich weiß von Eduardo, daß er mit deinem Vater noch kurz vor seinem unerwarteten Tod telephonisch einen gemeinsamen Kassensturz vereinbart hatte... Der konnte dann erst nach dem Unglück durchgeführt werden... Das traurige Ergebnis war, daß Antonio nichts als Schulden hinterließ! Doch die - da staunst du! -, die hat Eduardo nicht nur beglichen, sondern auch noch alle außerplanmäßigen Kosten für die Klinik und die Beerdigung übernommen. Auch für deine Reise und deinen dreimonatigen Aufenthalt in Europa ist er aufgekommen, und schließlich hat er noch die zehntausend Bolívar hergegeben, die du so leichtfertig in Paris vergeudet hast... Verstehst du jetzt, warum mich Panchos un79
gerechte Anschuldigungen erzürnen...? Eduardo hat sich dir gegenüber mehr als großzügig erwiesen. Das solltest du wissen und ihm dafür dankbar sein...! Er war unglaublich großzügig..., unglaublich großzügig..., fast so wie mir gegenüber...» Großmamas letzte Worte waren auf mich eingeprasselt wie ein Regen aus flüssigem Blei. Mir war..., ach, ich weiß gar nicht, wie mir war...! Der beschwörende Ton, diese Überzeugungskraft hatten mein Gemüt so weit gezähmt, daß ich in meiner Seele heftig hin- und hergerissen war zwischen dem Zorn des geprellten Opfers und einem aufkeimenden peinlichen Zweifel. Nicht nur, daß ich nicht nichts mehr besaß, nichts auf der Welt; ich war Onkel Eduardo obendrein mein Leben lang für seine Wohltätigkeit zu Dank verpflichtet! Mir fiel ein, wie sehr mich María Antonia am Tag meiner Ankunft von oben herab behandelt hatte, und am liebsten hätte ich alles, was ich für die zehntausend Bolívar erstanden hatte, auf der Stelle verbrannt. Ach...! Welch eine Schmach...! Welch eine Wut...! Plötzlich war der erste Verdacht wieder übermächtig. Nein! Nein...! Großmama glaubte, was sie sagte; vielleicht hatte Onkel Eduardo sie nur getäuscht... Ja, ganz sicher: Onkel Pancho hatte es ganz klar ausgesprochen...! Und dieses Gesicht...! Kein Wunder, daß ich Onkel Eduardo bei unserer ersten Begegnung an Bord so furchtbar häßlich, so abstoßend gefunden hatte...! Als Großmama ihre endlosen Lobeshymnen auf Onkel Eduardo und seine ach so große Mildtätigkeit endlich beendet hatte, ließ ich mir noch einmal zähneknirschend all das oben Gesagte durch den Kopf gehen. Immer noch aufgewühlt und durcheinander, von Ratlosigkeit und Zweifeln gepeinigt, sagte ich schließlich, nach außen hin gleichgültig, in ebenso festem Ton wie vorher Großmama:«Aber Großmama, ich habe Papa nie so verschwendungssüchtig erlebt, wie du sagst, und er hat immer von San Nicolás gesprochen, als sei er der alleinige Besitzer: Wie kann es sein, daß er nichts von seinem Bankrott gemerkt haben soll?» 80
«Mein Kind, dein Vater», fuhr Großmama beschwörend fort,«dein Vater hat sich in Europa nie mehr um den Stand seiner Geschäfte gekümmert. Er scheint an einem Buch mit historischen Abhandlungen geschrieben zu haben, das ihn voll und ganz in Anspruch nahm, einmal abgesehen … von seinen sonstigen Amüsements...!» Sie verstummte kurz, bevor sie etwas energischer, von mehreren geheimnisvollen Pausen unterbrochen, wieder begann:«Ach...! Die Männer…! Die Männer, mein Kind…, manchmal geben sie viel aus..., sehr viel... Dieses Paris! Ach, dieses Paris...! In Paris liegt unser gesamtes Vermögen begraben, und in vielen Fällen auch unser Glück und unser Seelenfrieden...» In diesem geheimnisvollen Ton bemühte sie sich weiter, mich zu überzeugen. Ich starrte wortlos, von inneren Zweifeln geplagt, auf die Grünpflanzen im Patio und murmelte nur:«Wer weiß...! Wer weiß!» Das einzige, was ich wußte, war, daß sich mir in dieser schwarzen Stunde am Vormittag gerade erst eine unabänderliche Tatsache, eine grausame Gewißheit offenbart hatte: Ich war bitterarm, mit der einzigen Hoffnung auf Hilfe durch jene, die mich wahrscheinlich um alles gebracht hatten! Wohl durch mein widerspruchsloses Schweigen beunruhigt, sprach Großmama, in der Absicht, mich zu trösten, in besänftigendem Ton weiter und quälte mich nur noch mehr:«Ich kann ja verstehen, mein Kind, daß diese Neuigkeiten dich verdrießen, aber vergiß nicht, daß du nicht allein bist auf der Welt...! Wie viele sind noch weit übler dran als du, müssen im Elend leben und obendrein noch arbeiten, um etwas zum Essen zu haben! Ihnen droht Gefahr von allen Seiten. Dir hingegen wird es an nichts fehlen, solange ich lebe... Leider bin ich nicht reich, ich besitze gerade das Allernötigste, aber ich weiß, Onkel Eduardo wird immer für mich sorgen, und ich werde darauf achten, daß auch du alles bekommst, was du brauchst... Andererseits bist du hübsch, gebildet, hast eine gute Erziehung genossen, gehörst in Caracas zur 81
ersten Wahl... und wirst sicherlich reich heiraten...! Du darfst deine Situation nicht nach europäischen Maßstäben beurteilen. Armut heißt dort für eine junge Frau für gewöhnlich, daß sie im Leben nichts erreichen kann. Hier ist das anders... Dort gilt für die Frau: ‹Zeig mir, was du hast, und ich sag’ dir, wer du bist.› Hier hingegen zählen vor allem das Aussehen und die Tugend! In unserer Gesellschaft, die in mancherlei Hinsicht dekadent ist, besitzen die Männer wenigstens noch Manieren. Unsere Männer verehren die sittsame Frau und achten bei ihrer Wahl weniger auf Reichtum als auf einen untadeligen Ruf... Daher, mein Kind, will ich nie mehr auch nur den leisesten Hauch von Leichtsinn an dir sehen! Ich will, daß du streng gegen dich selbst bist, María Eugenia. Merk dir: Hier ist die allseits geschätzte makellose Unbescholtenheit einer Frau unendlich viel mehr wert als ihr Geld... Schau, als dein Großvater sich in mich verliebte, war ich arm..., ach, und ich war glücklich..., und wie glücklich...! Julia Alonso, deine Großmutter väterlicherseits, heiratete den Millionär Martín, als sie und ihre Familie in bitterer Armut lebten: Sie mußten arbeiten, um zu essen...! Rosita Aristeigueta, verwandt mit dem Marquís del Toro und keinem Geringeren als Bolívar..., die Urdanetas..., die Soublettes..., die Mendozas..., María Isabel Tovar, meine Kusine...» Großmama blickte um weitere siebzig Jahre zurück, um mir mit ihrer sanften, einschmeichelnden Stimme immer mehr Geschichten von Liebesverbindungen zu erzählen, aus denen glückliche Ehen hervorgegangen waren, ohne daß Geld eine Rolle gespielt hätte: die reine patriarchalische Idylle … Wie gelähmt, nahezu erschlagen von meinem Schicksal, saß ich neben ihr, starrte auf die Grünpflanzen im Patio und ließ wortlos die alten Geschichten von Großmamas alten Freundinnen, von deren Töchtern und Enkelinnen über mich ergehen, resigniert und voller Wehmut. In meinen Ohren riefen diese Namen süße Erinnerungen wach, denn ich hatte sie viele Male aus Papas Mund gehört, wenn er mir von der Aristokratie in Caracas erzählt 82
hatte, wobei es ihm, anders als Großmama, um die Leidensgeschichte der Kreolen gegangen war, der sogenannten mantuanos31, Nachfahren der Konquistadoren und Gründerväter der Städte zu Zeiten der Kolonie. Sie, die ihre Wappen in die Portale ihrer alten Villen geschnitzt und die Unabhängigkeit halb Amerikas mit ihrem Blut erkämpft hatten, waren später entmachtet, vom Haß verfolgt und von allen Parteien angefeindet worden. Ihre Enkelinnen und Urenkelinnen, heute entweder verwelkt oder arm wie ich jetzt, jedoch weit davon entfernt, sich ihrer Armut zu schämen, harren ergeben der Stunde ihrer Eheschließung oder ihres Todes, während sie Süßigkeiten für Bälle zubereiten oder Kränze für Beerdigungen binden. Da Großmamas Tonfall, die genannten Namen und die gesamte Schilderung meinem Gemütszustand entsprachen, ließ ich mich, während ich ihrer Stimme lauschte, von der beruhigenden Gleichförmigkeit ihrer Worte davontragen. Meine Sinne wurden immer betäubter, bis die wirren Gedanken einer nach dem anderen erloschen. Der einlullende, mütterliche Tonfall schlich sich wie ein Wiegenlied in mein Gemüt, und am Ende klangen mir die monotonen Silben ohne Sinn im Ohr... Mit Blick auf die grünen Knospen der Rosenbüsche im Patio verlor ich mich in Gedanken an das immer neue Ergrünen der Pflanzen im Sonnenlicht... Ja... Das Leben barg eine geheimnisvolle Kraft in sich, die über alles triumphierte … Vielleicht würde ich noch einmal neu geboren und glücklich werden..., denn wie Großmama richtig sagte, würde ich irgendwann heiraten, auf mich wartete noch die Liebe, wie sie sie in ihrer fernen Jugend erlebt hatte... Womöglich konnten noch all die unerfüllten Wünsche, die mir das Leben jetzt zur Hölle machten, wahr werden...! Noch war mein Herz nie erblüht, wie jene winzigen Rosenknospen im Patio...! Während die süße, wohltuende Resignation sich ermattend auf meine fiebernde Seele legte, fragte ich mich, immer noch auf das Grün im Patio starrend und die einlullende Stimme im Ohr, zum erstenmal sehnsüchtig und voller Neugier, wie die Liebe wohl 83
sein mochte, diese Liebe, die Großmama mir als einzigen Ausweg im Leben vor Augen führte, diese Liebe, die mir immer vertraut in den Ohren geklungen hatte und jetzt einen seltsamen, unbekannten Sinn erhielt, diese Liebe, die mir als letzter Rettungsanker im Leben blieb... Ach...! Die Liebe! Welches wundersame Geheimnis mochte sich im Inneren ihrer Wesenheit verbergen...? Aber vor allem, was verstand Großmama unter«Glück»...? Auf einmal kam mir das, was Großmama«Glück»nannte, sehr traurig und wenig amüsant vor, mit einem ähnlichen Geruch behaftet wie dieses Haus: nach Jasmin, Wachskerzen oder Elliman’s Embrocation..., und diese Erkenntnis grämte mich dermaßen, Cristina, daß ich am liebsten geweint hätte. Aber ich beherrschte mich. Nur ein paar Tränen verdrückte ich und zerbrach mir mit feuchten Augen weiter den Kopf über dieses Thema, darüber, was«Liebe»und«Glück»in Wahrheit bedeuteten, denn inzwischen kam es mir fast so vor, als hätte ich diese Begriffe zum erstenmal gehört. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kam mir plötzlich mein Freund, der kolumbianische Poet, in den Sinn, den ich an Bord kennengelernt hatte. Eine Weile sah ich ihn ganz deutlich vor mir, und merkwürdigerweise entdeckte ich trotz der zeitlichen und räumlichen Distanz, die uns trennte, immer mehr Anziehendes an ihm, was mir damals in meiner Begriffsstutzigkeit aus der Nähe nie aufgefallen war. Etwa das erlesene Parfüm, nach dem sein Taschentuch duftete, oder der elegante Schnitt seiner Kleidung, seine Gepflegtheit, sein kultivierter Umgangston, seine edle bourbonische Nase, überhaupt seine guten Manieren, sein unbestreitbares Talent als Versemacher und vor allem sein Familienname, der in der feinen Gesellschaft von Bogotá allseits bekannt war … Als Großmamas Stimme sich kurz eine Pause gönnte, nutzte ich, bevor sie mit ihrer Chronik vergangener Liebesgeschichten fortfahren konnte, rasch die Gelegenheit, sie zu fragen:«Sag mal, Großmama, kommen nicht manchmal Leute aus Bogotá nach Ca84
racas...? Stimmt es, daß die Reise unerträglich lang ist und mehrere Tage dauert...?» Anstatt auf ihrem Thema zu beharren, ging sie bereitwillig auf meine Frage ein und fing an, mir umständlich zu erklären:«Soweit ich weiß, wird die Reise äußerst beschwerlich, wenn der Magdalena-Fluß ausgetrocknet ist..., und dauert fast so lang wie eine Reise von hier nach Europa. Das ist schon merkwürdig, nicht wahr? Trotz der relativ geringen Entfernung! Aber wenn erst einmal der Flugdienst eingerichtet ist, von dem die Zeitungen berichten...» Am Nachmittag, nach dem Mittagessen, so gegen drei Uhr, hatte mich der fromme Wille, brav zu sein und mich zu fügen, längst wieder verlassen. Ich hatte mich in meinem Zimmer vergraben, wo ich auf dem Bett lag, barfuß, nur im Kimono, die Hände im Nacken gefaltet, und abwechselnd die Decke, die neue Tapete, die Schreibtischlampe, die angelehnten Fensterläden anstarrte, während mich der Gedanke an meine schreckliche Zukunft quälte. Mein Programm, das Großmama morgens entworfen hatte, lautete:«Sich möglichst keinen Fehler leisten», mit anderen Worten: zur vollkommenen Null werden, nur um irgendeinen Mann durch meine Nichtigkeit zu betören, damit er sich herabließ, mich, die Null, durch seine reine Gegenwart, indem er sich wie eine Zahl an meine Seite stellte, zu einer runden, ansehnlichen Summe aufzuwerten und mir so überhaupt erst eine Position in der Gesellschaft und der Welt zu verschaffen. Doch bis dahin: Gefangenschaft, Selbstzucht, Langeweile und natürlich Dankbarkeit gegenüber Onkel Eduardo … O weh, was für Aussichten...! Ein Alptraum! Lieber wäre ich ein Hund! Ja...! Ein Vogel, ein Baum, ein Stein, gleichgültig was, bloß nicht ich selbst! Während mir all das durch den Kopf ging, warf ich mich auf dem Bett hin und her wie ein gerade aus dem Wasser gezogener Fisch. 85
Du mußt zugeben, Cristina, meine Situation sah nicht eben rosig aus. Zum Glück fiel in einem ruhigen Moment mein Blick ganz zufällig auf meine kleine musikalische Bibliothek, ein Stapel von Büchern und Notenheften, der ungeordnet auf einem Stuhl lag, weil ich noch keinen geeigneten Platz im Schrank gefunden hatte. Eine aufgeschlagene Seite, auf der ganze Reihen von Achtel- und Zweiunddreißigstelnoten zu sehen waren, lenkte meine Gedanken in Richtung Musik, und allmählich kam mir die Idee mit dem Klavier, was mich schließlich auf das Studium brachte. Hatte der Musiklehrer in der Schule nicht immer mein feines Gehör gelobt und meine festen Hände mit den langen, schmalen Fingern als typische Hände einer Pianistin bezeichnet? Sogleich fiel mir eine Pianistin ein, Teresa Carreño, Venezolanerin wie ich und, wie Du sicher weißt, auf der ganzen Welt bewundert und gefeiert. Apropos Teresa Carreño: Papa hatte über sie gesagt, große Künstlerinnen wie sie verdankten ihren Ruhm allein dem Fleiß und der Ausdauer, mit der sie von frühester Kindheit an üben. Dann dachte ich wieder an die Aussage meines Musiklehrers hinsichtlich meiner musikalischen Begabung und plötzlich: Hurra! Da blitzte ein winziger Hoffnungsschimmer in meiner finsteren Zukunft auf, wie das schwache Flackern eines Zündholzes in tiefster Finsternis:«Ich werde mich der Kunst widmen!»rief ich aus.«Ja, ich werde jeden Tag acht, neun, zehn Stunden üben. Mit meiner natürlichen Begabung kann ich, wenn ich fleißig und ausdauernd übe, in wenigen Jahren gut genug sein, um Pianistin zu werden; ich werde mich am Konservatorium anmelden und vielleicht sogar einen Preis gewinnen; danach werde ich Konzerte geben; mit den Konzerten werde ich mir einen Namen machen und weltbekannt werden; und dann..., warum nicht...? Wie Teresa Carreño werde ich Triumphe feiern, man wird mir zujubeln, und ich werde den Ruhm genießen...! Das ist es...! Gleich am Montag werde ich ans Werk gehen... nein! Morgen! Nein...! Jetzt sofort!»
86
Ohne noch länger zu zögern, sprang ich mit einem Satz vom Bett, schlüpfte in meine Schuhe, zog den Kimono enger und schnürte den Gürtel um die Taille. Dann schnappte ich mir die Hefte, die auf dem Stuhl lagen, klemmte sie mir unter den Arm und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Als ich im Flur um die Ecke bog, sah ich Tante Clara und Großmama wieder dort sitzen, beide mit der Brille auf der Nase und dem Flickzeug auf dem Schoß, ganz in ihre Arbeit vertieft. Ich hielt inne und näherte mich ihnen, nur um kurz Bescheid zu sagen: «Ich werde ein bißchen Klavier spielen, wenn ihr nichts dagegen habt.» Dann setzte ich ruhig meinen Weg ins Wohnzimmer fort. Erst als ich Sekunden später Tante Claras entsetzte Stimme hörte, erkannte ich, daß ich schon wieder ins Fettnäpfchen getreten war. «Aber María Eugenia, um Himmels willen, Kind, komm sofort zurück», rief sie mit bebender Stimme, halb betroffen, halb vorwurfsvoll,«wie kannst du Klavier spielen, wo dein Vater erst knapp fünf Monate unter der Erde liegt?» «Na und wenn schon!»sagte ich. Ich war umgehend zurückgekehrt und stand nun frech vor ihr, während sie mich über den Brillenrand hinweg sprachlos anstarrte.«Ich werde nur Etüden, Melodien, Nocturnes spielen..., ganz neutrale oder traurige Stücke.» «Aber seit der Nachricht vom Tod deines Vaters halten wir alle Fenster geschlossen, und keiner hat das Klavier mehr angerührt. Und jetzt willst ausgerechnet du, seine Tochter, es wieder aufklappen? Überleg doch mal...Was sollen bloß die Nachbarn denken...?» «Die Nachbarn...? Ich pfeife auf die Nachbarn, über die kann ich nur lachen, Tante Clara, die sind mir gleichgültig, von mir aus sollen sie zum Teufel gehen!» «Was soll das, María Eugenia, auf die Nachbarn pfeifen, über sie lachen, sie zum Teufel jagen...? Es sind lauter anständige Leu87
te, die angesehensten Familien von ganz Caracas! Merk dir: Diese Straße gehört zur vornehmsten Gegend! Stimmt’s nicht, Mama?» «Oh! Du meinst, nur weil sie vornehm sind, muß ich mich von den Nachbarn gängeln lassen?» «Also, María Eugenia, mein Kind, komm, denk doch mal nach», fiel Großmama ein, im gleichen beschwörenden Ton wie schon am Vormittag.«Clara hat völlig recht...! Hör auf das, was sie dir sagt: Es gibt nichts Heiligeres als den Vater, und sein Tod ist ein einmaliges trauriges Ereignis. Du solltest mehr Feingefühl haben..., du brauchst noch viel Herzensbildung... Was kann man von einer Frau schon erwarten, wenn sie nicht einmal in der Lage ist, ein winziges Opfer zu bringen..., das Minimum, um mit Anstand um den Vater zu trauern …!» «Was hat das Klavier mit meinem Herzen zu tun, zum Teufel noch mal! Und was...» «Führ nicht ständig diese Flüche im Mund, María Eugenia, mein Kind, das sage ich dir jetzt schon zum drittenmal...! Es ziemt sich ganz und gar nicht für ein Mädchen...! Ach, übrigens..., da wir gerade beim Thema sind, muß ich dir noch etwas sagen: Sieh mal, wie du dastehst, in diesem japanischen Morgenrock, das ist geradezu unzüchtig, und noch dazu im Gegenlicht; du bist darunter ja völlig nackt...! Warum mußt du unbedingt ohne Unterkleid herumlaufen, María Eugenia...?» «Also gut, zunächst was die Trauer betrifft...», erklärte ich wütend, immer noch mit meinen Heften unterm Arm.«Mir ist absolut schleierhaft, was Papa mit dem Klavier hier im Haus zu tun haben soll... Und dann die Gefühle. Komm mir nicht mit Gefühlen! Worum geht es denn in der Musik, wenn nicht um Gefühle? Sag bloß, ich hätte nicht recht, Großmama. Was ist denn eine Elegie oder ein Trauermarsch anderes als eine geniale Form der Beileidsbezeugung auf raffiniertem künstlerischen Niveau?» Doch Großmama machte mit der Brille in der Hand eine ausholende Geste in der Luft, die jedes Argument wegwischte, und 88
sagte mit einem energischen Kopfschütteln, von rechts nach links und links nach rechts, in entschiedenem Tonfall, so als wisse sie es nun einmal besser und sei nicht mehr bereit, sich weiter auf derart alberne Diskussionen einzulassen:«Nein, nein, nein, mein Kind, mich wirst du nicht überzeugen! Ich finde, wenn dir dein Herz schon nicht rät, die Trauerzeit einzuhalten, die dem Tod deines Vaters angemessen ist, solltest du wenigstens so tun, als ob. Sonst machst du einen sehr schlechten Eindruck auf mich und alle halbwegs vernünftigen Menschen, das versichere ich dir!» «Schon gut..., das heißt also unwiderruflich: kein Klavierspiel...! Gut, gut, gut, kein Wort mehr darüber: Ich werde nicht spielen...!» Darauf drehte ich mich auf dem Absatz um und kehrte schnurstracks, auf dem gleichen Weg, auf dem ich gekommen war, mit meinen Notenheften unterm Arm in mein Zimmer zurück. Dort schleuderte ich die Hefte voller Wut auf den Stuhl, zuoberst auf die Bücher, die dalagen wie ein Stapel Tortillas. Dann stemmte ich die Hände in die Hüften und schrie lauthals meinen Zorn hinaus, mit einem Satz, der gemessen an den Umständen im Raum geradezu erhaben klang:«Morgens nimmt man mir mein Geld, und nachmittags verwehrt man mir auch noch den Ruhm!» Ein paar Sekunden blieb ich so stehen, die Hände in die Hüften gestemmt und den Blick am Boden. Doch zum Glück, Cristina, läuft meine in ruhigen Zeiten eher träge Phantasie, wie Du sicherlich noch weißt, richtig zu Hochform auf, wenn ich einmal in Rage gerate. Dank dieser Gabe stand nach zehn Sekunden angespannten Zubodenstarrens mein erster Plan bereits fest, mit dem ich Druck ausüben, die Lage klären und mich gleichzeitig ablenken wollte. Er sah einen Ausflug mit Onkel Pancho vor, so bald wie möglich, gleichgültig wohin. «Ach!»sagte ich mir.«Ich werde ihn unter vier Augen sprechen und herausfinden, was ich von Onkel Eduardos Barmherzigkeit tatsächlich zu halten habe.»
89
Ich rief Onkel Pancho sofort an. Wir verabredeten uns gleich für halb fünf. Dann wollte er vorbeikommen, um mich abzuholen. Also blieb mir noch eine Stunde, um mich anzukleiden. Voller Euphorie fing ich an, mich zurechtzumachen, gemächlich, in aller Seelenruhe und mit viel Liebe zum Detail, so wie ich es mag... Nachdem ich fertig angezogen war, passend für einen Ausflug in schlichter Eleganz, und schließlich Parfüm aufgelegt und den Hut aufgesetzt hatte, spazierte ich noch mindestens zehn Minuten lang lächelnd und gestikulierend vor dem Schrankspiegel auf und ab; denn ehrlich gesagt, Cristina, der funkelnde Zorn in meinen Augen in Kombination mit dem spitzen Ausschnitt, dem Hütchen, dem langen Schleier aus Crêpe Georgette und dem Lippenstift vonGuerlain stand mir vortrefflich... Ich sah einfach bezaubernd aus...! Und wäre es nach mir gegangen, so hätte ich noch eine ganze Weile so vor dem Spiegel posieren können. Doch schon meldete sich die Kirchturmuhr mit ihrer Baritonstimme:«Es, C, Des, Ges...! Ges, Des, Es, C...!» Das heißt, es war halb fünf. Um Onkel Pancho nicht warten zu lassen, machte ich mich hastig auf den Weg zum Hausflur, wo ich mich triumphierend mit erhobenem Haupt und hochgeschlagenem Schleier präsentierte und mir rasch noch die Handschuhe zuknöpfte. Wie nicht anders zu erwarten, reagierten Großmama und Tante Clara, als sie mich plötzlich in Hut und Handschuhen kommen sahen, gleich wieder mit Entsetzen:«Was hast du denn vor um diese Zeit und mit wem?»fragte Großmama entrüstet und setzte die Brille ab, ein untrügliches Zeichen dafür, daß sich etwas zusammenbraut, wie Du inzwischen gemerkt haben wirst. Da ich nicht nur von mir selbst berauscht, sondern auch auf Widerstand vorbereitet war, erwiderte ich lächelnd und mit aufgesetzter Freundlichkeit, während ich die linke Hand auf Brusthöhe in die Knopfleiste meines Kleides schob, eine Pose, die mir, wie ich meinte, eine gewisse napoleonische Arroganz verlieh:«Na, ich mache einen Ausflug mit Onkel Pancho nach Los 90
Mecedores! Ich glaube, der Ort ist einsam genug und meiner strikten Trauer mehr als angemessen...!» Nach diesen Worten öffnete ich ostentativ meine Handtasche, nahm den Spiegel heraus und begann, mich im hellen Licht des Patios zu betrachten, um zu überprüfen, ob meine widerspenstige Nasenspitze auch genügend gepudert war. Weil sie mir noch ein wenig zu sehr glänzte, kramte ich die Puderquaste hervor, schüttelte sie und fing an, mir mit breitgezogenem Mund konzentriert die Nase zu pudern. Da sagte Großmama, immer noch die Brille in der Hand schwingend, vorwurfsvoll:«Du gehst einfach mit Pancho aus, ohne mich zu fragen, ohne mir auch nur Bescheid zu geben … Aha! Ich verstehe, du bist ja selbständig...!» Sie seufzte einmal tief und schwieg einen Moment, bevor sie, nun eher klagend, fortfuhr:«Wie kannst du jetzt ausgehen, María Eugenia, wo wir heute nachmittag Besuch erwarten und diese Leute nur deinetwegen vorbeikommen, um dich willkommen zu heißen und dich kennenzulernen...? Wie kannst du sie derart brüskieren! Das ist ein ungeheurer Affront...! Du solltest wenigstens den Anstand haben, zu warten, bis sie eintreffen …» «Ach, der Besuch, Großmama! Wie lange denn noch...!»rief ich in gequältem Ton aus, den Puder in der einen, die Quaste in der anderen Hand.«Sie stellen ja doch nur ewig dieselben Fragen: ob ich Paris vermisse und wie mir Caracas gefällt! Ich habe diese Litanei satt! Und alle sehen sie gleich aus, ausnahmslos alle...! Willst du wissen, wie ich über sie denke, Großmama? Also, ehrlich gesagt: Ich kann sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten! Ich weiß nie, ob die, die kommen, schon gestern da waren oder vorgestern, oder ob die wiederum erst übermorgen kommen! Für mich sind sie wie diese Folianten, die man in manchen Bibliotheken findet: Sie stehen nebeneinander im Regal und sehen einer aus wie der andere, alle in Pergament gebunden, und wenn man sie wahllos herausnimmt und aufschlägt, steht drinnen alles in Latein geschrieben oder Altspanisch…, so jedenfalls, daß man kein Wort versteht...!» 91
«Du irrst dich, María Eugenia, die gekommen sind, um dich zu sehen, sind sehr kultivierte und ehrbare Leute, Verwandte oder Freunde von mir, aus den vornehmsten Familien von Caracas, und dafür solltest du dankbar sein...» «Ach, Großmama, um Himmels willen, laß mich gehen! Schau, wenn ich nicht hinauskomme, ersticke ich, ich sterbe, und dann werden deine Gäste nur noch meinen aufgebahrten Leichnam, von vier Kerzen eingerahmt, vorfinden...! Sag ihnen, ich hätte Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, was auch immer, ich sei beim Zahnarzt, und sie sollten bitte auf mich warten... Ich komme auch bestimmt nicht spät zurück, du wirst schon sehen, ganz bestimmt nicht!» «Tu, was du nicht lassen kannst, María Eugenia! Ich will nicht den lieben langen Tag mit dir darüber diskutieren, und ich möchte auch nicht, daß du hier bei mir unglücklich bist. Geh schon, geh mit Onkel Pancho, wenn dir soviel daran liegt.» Großmama setzte die Brille wieder auf, stieß einen tiefen Seufzer aus, der Ausdruck ihres Mißfallens und ihrer Resignation zugleich war, und wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu. Just in dem Moment flog die Flurtür auf, und Onkel Panchos Kopf schaute herein, freundlich lächelnd und bester Laune. Großmama und Tante Clara wurden herzlich begrüßt, als sei morgens nichts geschehen, bevor Onkel Pancho mich im Patio erspähte, immer noch mit Spiegel, Quaste und Puder in der Hand. Er kam auf mich zu und rief, während er mich von allen Seiten betrachtete, voller Erstaunen aus:«Wie hübsch du aussiehst, mein Kind; in diesem Kleid und mit dem bezaubernden Hütchen bringst du endlich einmal frischen, jugendlichen Wind ins Haus! Die Zeit in Paris hat dir wirklich gutgetan! Nicht wahr...? Auf den alten Fotos, die du uns geschickt hast, sahst du noch ganz anders aus als jetzt, nein, nein, nein...! Sieh mal an, gerade jetzt, das ist Paris, Paris pur, vom duftigen Hauch deines schwarzen Schleiers bis zu den lackledernen Schuhspitzen … Wie kann man nur behaupten, auch anderswo seien die Frauen gut gekleidet...! Also 92
wirklich..., welch ein Irrtum! Das hier ist Paris, das ist chic...! Ja, und obendrein bist du so hübsch...! Geh mal ein paar Schritte und laß dich anschauen…! Bezaubernd...! Vollkommen...! Wenn man uns gleich in der Droschke vorbeifahren sieht, wird man uns mit offenem Mund hinterherstarren, und im Club werden mich alle nach der schönen Unbekannten, ‹der eleganten Dame in Trauer›, fragen; sie könnten dich glatt für eine eben eingetroffene Künstlerin halten, die ich erobert habe, neidisch, wie sie sind …» «Oh! Wie ulkig!»rief ich lachend aus.«Denk nur, wenn ich eine echte Künstlerin wäre, Onkel Pancho...! Aber eine wirklich gute..., eine Berühmtheit. Und stell dir vor, ich wäre nicht deine Nichte, sondern deine Freundin...!» Der Lärm der hinter uns zufallenden Haustür verhinderte, daß ich Großmamas und Tante Claras energische Proteste gegen den Unsinn mitanhörte, den Onkel Pancho gesagt hatte und den sie sicherlich nicht nur für völlig absurd, sondern auch für einen Angriff auf meine Ehre und meinen guten Ruf hielten. Ich hingegen war entzückt von Onkel Panchos charmanten, blumenreichen Komplimenten und schilderte ihm, sobald wir im Wagen saßen, detailliert, wo und wie ich meinen Hut erworben hatte, ein sehr elegantes Modell, wie er sehe... O ja! Sehr, sehr, sehr elegant...! Doch kaum waren wir losgefahren, wurde ich wieder ernst, vergaß mich und meine Kleidung und achtete nur noch auf die Straße. Ich fing an, Onkel Pancho Fragen zu stellen, und ließ ihn an meinen Beobachtungen teilhaben. Zum erstenmal seit meiner Ankunft bekam ich die Stadt wieder zu Gesicht. Inzwischen an das Milieu in Caracas gewöhnt und mit dem verborgenen Charakter dieser Stadt besser vertraut, betrachtete ich alles mit anderen Augen. Ich sah Häuser vorbeiziehen, die im Licht der tiefstehenden Sonne zu bluten schienen, dachte an Großmamas Erzählungen, ihre Freundinnen, ihre romantischen Geschichten, und bildete mir ein, dieses geheime Band, das die Dinge mit ihren Besitzern eint, die sterblichen Seelen und die seelenlose Ewigkeit, die Spuren der Vergangenheit 93
und ihrer Toten, sozusagen die Seele der Dinge, die sie adelt, im mütterlichen Schatten der Dachtraufen zu erkennen. Onkel Pancho wies auf die breiten Gitterfenster, die rechts und links von der Straße die Bürgersteige säumten:«Siehst du die Fenster? Daß sie fast alle geschlossen sind? Vor nicht einmal zehn Jahren begannen sie sich um diese Uhrzeit allmählich zu öffnen, und von fünf bis sieben füllte sich die Straße wie ein bunter Garten mit Leben. Das war ein alter Brauch und sehr malerisch. Aber der Kinematograph hat die Fenster verdrängt..., ja, die gelangweilten Señoritas, die sich früher den Nachmittag am Fenster vertrieben, dort klopfenden Herzens mit ihrem Verlobten plauderten oder sich zeigten, damit ihre verliebt ums Haus streichenden Kavaliere einen fernen Blick auf sie werfen konnten, füllen heute alle die Nachmittagsvorstellungen der Lichtspielhäuser, während die Straße verwaist ist...! Schau, wie selten man noch ein offenes Fenster erspäht.» In der Tat waren nahezu alle Fenster geschlossen, und während ich Onkel Panchos Ausführungen lauschte, sah ich sie wehmütig vorüberziehen: O ihr Fenster, blumengeschmückte Gitterfenster aus Großmamas Zeiten! Uralte Altäre der Liebe, auf denen sich heute nur noch die eisernen Fensterkreuze zum ewigen Kuß vereinen...! Hier in dieser Ruhe lauerte die altbekannte Langeweile hinter den Gittern und spann ihre Träume, die sich wie ein Spinnennetz über die tödliche Stille der Straße legten...! Unterdessen, Cristina, quälte die Droschke sich auf zwei holprigen Backsteinspuren zur Oberstadt hinauf. Nach einer Weile gelangten wir in eines der oberen Viertel von Caracas, La Pastora. Von dort ging es noch weiter bergauf, bis wir die Vororte erreichten. Während der gesamten Fahrt beantwortete Onkel Pancho bereitwillig meine Fragen und half meiner Erinnerung auf die Sprünge. Diese höchstgelegenen Vororte von La Pastora sind die ältesten Bezirke der Stadt und ganz charakteristisch mit ihren Schotterstraßen und groben Steinplatten auf den Bürgersteigen, dazwi94
schen breite Erdspalten, aus denen grünes Grasgestrüpp hervorwuchert. Hier leben hauptsächlich pardos 32 und Arme, und dazwischen der eine oder andere Kranke auf der Suche nach frischer Höhenluft. Gespannt auf das malerische Elend dieses Viertels, vergaß ich unseren Landausflug:«Zeig mir die alten Gäßchen, Onkel Pancho, wo es am schmutzigsten, tristesten, armseligsten ist, das schlimmste Elend, die schrecklichste Verwahrlosung, ich will alles sehen!» Unter Onkel Panchos Führung begannen wir, uns durch enge Gassen zu kämpfen; Gassen, Cristina, die halsbrecherisch steil und abschüssig waren. Manchmal endete das Pflaster abrupt, und es ging weiter auf Lehmwegen ohne Bürgersteig. Einmal war auch dieser Weg zu Ende; wir mußten halten, und vor uns klaffte der Abgrund, eine tiefe Schlucht mit einer üppigen Vegetation, eine grüne Flut, die sich auf das Gewirr der Dächer stürzte. In diesen malerischen, steilen Gäßchen stellten die Häuser hemmungslos und ohne Scham ihr Innenleben in seiner ganzen schockierenden Armseligkeit zur Schau. Überall auf den Bürgersteigen krochen nackte Kinder wie Äffchen umher, die kaum laufen konnten und den Zugang zu den halb offenstehenden Haustüren versperrten, kleine, verkrüppelte Neger- oder Mulattenkinder, die dunkle Haut voll heller Staubflecken vom Suhlen im Dreck. Darüber streckten grellgekleidete, schwangere Mulattinnen ungeniert ihre wuscheligen Köpfe hinter halb geöffneten Fensterläden hervor oder hockten an weit aufstehenden Gitterfenstern und beäugten unsere Droschke mit neugierig funkelnden Blicken. Onkel Pancho bemerkte:«Liegt nicht etwas Gequältes im Ausdruck dieser Menschen? Man möchte meinen, ihre Züge und ihr Geist erzählten noch vom alten Haß der Rassen, die kurz zusammenfanden, um sie zu zeugen. Und schau, dieser schmerzliche Kampf führt zu nichts als Mißverständnissen und Schwermut...! Findest du nicht, daß sie alle etwas arg Zerrissenes an sich haben, weit schlimmer als jede Häßlichkeit? Ähnlich steht es um ihren
95
Geist, sie haben keine ausgereifte Persönlichkeit und leben in völliger Ahnungslosigkeit. » Nach der abrupten Wende, die mein Leben seit dem Morgen genommen hatte, und angesichts meiner neuen Lage sah ich diese tiefen Blicke, die uns im Vorüberfahren verschlangen, mit anderen Augen; auf einmal betrachtete ich sie voller Wärme und fühlte, wie sich unsere Blicke brüderlich vereinten. Um die harte Wahrheit, die Onkel Pancho ausgesprochen hatte, etwas abzumildern, sagte ich:«Es mag ja etwas Zerrissenes oder Abstoßendes im Zusammenspiel ihrer Gesichtszüge liegen, und auch in dieser Suche nach Abwechslung, daher auch ihr Hang, sich eine grüne Schleife oder ein rotes Band um den Kopf zu binden; doch achte mal darauf, wie interessant ihre Augen sind, sieh nur, wie sie funkeln. Wenn sie so aus den Fenstern schauen, hat man den Eindruck, sie verlangten Unmögliches, etwas, das für sie unerreichbar ist!» «Ja», ereiferte sich Onkel Pancho plötzlich,«es ist die Stimme einer Sehnsucht, gefangen in einem Körper, der sie tyrannisiert und in Ketten legt, während er lauthals die demütigende Unterlegenheit seiner Herkunft anprangert. Und dieses Mißverhältnis zwischen dem Körper und dem hochsensiblen Geist des Mulatten ist, wie du sehr richtig sagst, ein hochinteressanter Widerspruch..., es ist die gleiche Tragödie, die Cyranos unförmige Nase barg,33 nur hier viel grausamer und auch viel schöner, da weitaus demütigender und somit noch unausweichlicher... Ja, der Mulatte ist der geduldige Schmelztiegel, in dem sich schmerzvoll all die widersprüchlichen Elemente zweier solch abenteuerlicher Rassen vermischen...! Er birgt in sich den Grund für all unseren Kummer, all unsere Fehler, unsere absurde Demokratie, unsere Ziellosigkeit und Labilität... Und vielleicht reift in ihm auch ein vortrefflicher und komplexer Gesellschaftstyp heran, von dem wir noch nichts ahnen...!» Nach derlei philosophischen Überlegungen enthielten wir uns schließlich jeglichen Kommentars, um für eine Weile schweigend 96
das Mysterium jenes bescheidenen Lebens zu beiden Seiten unseres Gefährts zu betrachten, dieser schlichten Existenz, die sich durch die offenen Türen, Verschläge und Fenster freimütig der Straße darbot, bis wir uns am Ende an diesem Teil der Stadt satt gesehen hatten und aufs Land hinausfuhren … Als mir die frische, duftende Landluft ins Gesicht schlug, ließ ich, ohne Onkel Pancho zu fragen, auf der Stelle die Pferde anhalten und schlug vor, den Weg zu Fuß fortzusetzen. Onkel Pancho stieg bereitwillig aus; ich folgte ihm und rannte, den Schleier um den Arm geschlungen, begeistert auf eine kleine Böschung am Wegesrand zu; ich stieg hinauf, atmete, als ich oben angelangt war, tief durch, füllte gierig meine Lungen mit der frischen Landluft und hieß anschließend von meinem Podest aus sekundenlang die Landschaft willkommen … Der Nachmittag war ruhig und friedlich, ganz so, wie ich es mir ersehnt hatte. Die Sonne suchte sich in der Ferne den Gipfel eines Hügels. Unten erstreckte sich das herrliche Tal rund um die Stadt; inmitten üppig blühender Vegetation nistete die Stadt mit ihren weißen Häusern und roten Dächern, und in meinem Rücken erhob sich der majestätische Gipfel des Ávila, umsichtig wie eine sorgende Mutter. Nachdem ich das Panorama ausgiebig genossen hatte, kehrte ich von oberhalb der Böschung auf den Weg zurück; Onkel Pancho und ich folgten dem Pfad gemächlichen Schrittes und machten ab und zu halt, während wir uns unterhielten, bis wir den Wald meiner Kinderspaziergänge erreichten: Los Mecedores, mit den friedlich zwischen den schattigen Bäumen schaukelnden Schlinggewächsen. Darauf erpicht, endlich zu erfahren, was Onkel Pancho wirklich von Onkel Eduardo und seinem Verhalten mir gegenüber hielt, gab ich ihm auf unserem Spaziergang wortwörtlich wieder, was Großmama mir am Morgen über Papa, San Nicolás und Onkel Eduardo erzählt hatte. Dabei ereiferte ich mich so sehr, daß ich ständig stehenblieb, um Onkel Pancho nach seiner Meinung 97
zu fragen oder mit Vehemenz die Gründe für meinen Argwohn und mein Erstaunen zu erklären. Doch, Cristina, als wolle er von dem Thema nichts wissen, versuchte er, wie schon während der Fahrt, ständig vom Thema abzulenken, indem er mich auf dieses oder jenes Detail am Wegesrand hinwies. Sein hartnäckiges Ausweichen empörte mich derart, daß ich, als wir schließlich im Schatten eines Baumes saßen, wo die Stille meinen Worten Dringlichkeit verlieh, verlangte, er solle mir nun endlich sagen, was an der Sache dran sei, denn es sei mein gutes Recht, das zu erfahren. So direkt gefragt, dachte Onkel Pancho kurz nach, als zögere er noch, bevor er sich ein Herz faßte und ganz ruhig zu sprechen begann:«Also gut, wenn du unbedingt wissen willst, was ich denke, werde ich es dir sagen: Aber es soll dir nicht das Leben vergällen! Unglück, egal, welcher Art, María Eugenia, muß man tapfer ertragen - und natürlich Abhilfe schaffen, soweit möglich, aber was man nicht ändern kann, sollte man aus dem Gedächtnis tilgen, um seine Energien nicht sinnlos auf Haß und Rachegelüste zu verschwenden. Ach, es ist eine sehr nützliche Gabe, vergessen zu können...!» Nach dieser Vorbemerkung zündete er sich erst einmal gemächlich eine Zigarette an, während ich ihn ungeduldig mit meinen Blicken verschlang. Dann fuhr er fort:«Ich glaube..., nein, ich weiß sicher, daß Antonio, dein Vater, nicht nur seine Zinserträge aufgebraucht hat, sondern vermutlich auch ein Viertel des Kapitals, das in San Nicolás steckt; um den Rest, das heißt drei Viertel des Geldes..., hat Onkel Eduardo dich betrogen...! Aber - da sei mal sicher! - fein säuberlich, das schon; peinlich korrekt, mit ordentlich vorgelegten Rechnungen und großzügigen Ausschüttungen natürlich, wie du ja weißt...» Ich ließ ihn nicht ausreden. Wie am Morgen auf dem Blumentisch sah ich Onkel Eduardo wieder vor mir, dessen Anblick mir so widerwärtig war, daß ich mit zusammengebissenen Zähnen meinem Zorn Luft machen mußte, indem ich ihn beschimpfte:«Oh! Du Herodes! Nero! Kaiphas!34 Heuchler …!» 98
«Was hab’ ich gesagt?»unterbrach mich Onkel Pancho.«Du regst dich zu sehr auf, und irgendwann wirst du unvorsichtig...» Das Wort«vorsichtig»in dieser Situation, Cristina, das brachte mich noch mehr auf als der Gedanke an Onkel Eduardo. Voller Entrüstung fiel ich Onkel Pancho ins Wort:«Oh! Wenn du glaubst, nach dem, was ich gerade von dir erfahren habe, dächte ich noch an Vorsicht, dann hältst du mich entweder für taub, blöd oder stumm! Ich schwöre dir, Onkel Pancho, sobald wir zurück sind, werde ich Großmama alles, aber auch alles sagen, was ich über Onkel Eduardo denke. Ja! Ich werde ihr sagen, man solle ihn auf der Stelle wegen Raubes verhaften und in gestreifte Sträflingskleidung stecken; ich werde ihr sagen, daß ich ihn abgrundtief hasse und seinen dürren Körper am liebsten am Galgen baumeln sähe, wie Judas mit einem Münzsack an den Füßen und heraushängender Zunge.» «Bravo!»Onkel Pancho brach in schallendes Gelächter aus.«Hervorragende Idee! Sieh, María Eugenia, mit diesen historisch-anschaulichen Beschimpfungen wirst du kaum mehr bewirken als ein Atheist, der in einer vollen Kirche lauthals Gott lästert. Wozu das führt, wenn du so vehement gegen Eduardo wetterst oder ihn auch nur vorsichtig kritisierst, hast du doch heute morgen bei mir gesehen...! Eugenia wird dich für ein gottloses, frevelhaftes Ungeheuer halten; mich wird sie als üblen Verleumder beschimpfen und wahrscheinlich so verärgert sein, daß sie mich endgültig aus dem Haus wirft, womit allein du gestraft wärst …! Sieh dich also vor! Übe dich in Geduld, María Eugenia...! Glaub mir...» Onkel Pancho bemühte sich redlich, mich auf sanfte, liebevolle Art zu beruhigen. Wie er mir erzählte, hatte ihn meine Lage nach dem Tod meines Vaters nicht kaltgelassen. Daher hatte er sich für mich eingesetzt, Nachforschungen angestellt, Briefe und Unterlagen nach Informationen durchsucht, mit Anwälten gesprochen und so weiter. Doch leider blieben alle seine Unternehmungen zwecklos, denn als Papa sich vor zwölf Jahren mit Onkel Eduar99
do zusammenschloß, hatte er ihm die uneingeschränkte Vollmacht erteilt, sein Vermögen zu verwalten und soundso viel Prozent der Zinsen und des Gewinns einzustreichen. Dann starb er unerwartet, ohne ein Testament gemacht oder seine Geschäfte geordnet zu haben. Nicht nur habgierig und geizig, sondern auch methodisch und berechnend, wie er ist, hatte Onkel Eduardo als alleiniger Geschäftsführer in den zwölf Jahren alles ganz lupenrein zu seinen Gunsten geregelt. Als Papa nicht mehr da war, konnte Eduardo Rechnungen vorlegen, die, ob echt oder nicht, jedenfalls die einzigen waren, die es gab. Zur Nachlässigkeit des einen gesellte sich die Raffgier des anderen, und so waren die Erklärungen von Eduardo, dem uneingeschränkten Herrscher, unanfechtbar. Die Sache sei von Anfang an klar entschieden gewesen, unwiderruflich, sagte Onkel Pancho. So oder so sei nichts mehr zu machen, damals wie heute. Und da es nun einmal nicht zu ändern sei, warum es nicht gleich hinnehmen und sich widerspruchslos fügen? All das sagte Onkel Pancho in liebevollem, sanftem Ton, während ich, ein wenig ruhiger, auf meine lackledernen Schuhspitzen starrte und ihm zuhörte. Ohne seine Aufforderung, alles einfach so, völlig widerspruchslos, hinzunehmen, hätte ich ihm wohl noch länger gelauscht, ohne mich allzusehr aufzuregen. Doch leider, Cristina, halte ich es für eine schlechte Methode und wenig hilfreich, Resignation, oder welche Tugend auch immer, zu predigen, indem man sie so unverblümt beim Namen nennt. Denn das erweckt Widerspruch und stachelt einen an, auf der Stelle das Gegenteil zu tun. Ich sage das deshalb, weil ich, die ich die ganze Zeit über Ruhe bewahrt hatte, als Onkel Pancho mir mit dem Rat kam:«Warum es nicht gleich hinnehmen und sich widerspruchslos fügen», plötzlich dermaßen aus der Haut fuhr, daß sich mein rechter Ringfinger im Schleier verfing und dabei der Nagel abbrach, womit mein Finger, quasi geköpft, für mehrere Tage entstellt war. Empört protestierte ich:«Ach ja! Resignation! Jetzt redest du schon wie Großmama, Onkel Pancho...! Bitte, tu mir den 100
Gefallen und benutze nie mehr die Worte ‹Resignation›, ‹Selbstzucht›, ‹Strenge›, ‹Geduld›, denn sie sind mir zutiefst zuwider. Heute morgen hat Großmama sie mir mindestens zwanzigmal eingetrichtert. ‹Du mußt streng gegen dich selbst sein, María Eugenia...›», äffte ich Großmama nach, während ich mit der Hand der mit dem abgebrochenen Fingernagel - in der Luft herumfuchtelte, als hielte ich darin die Brille.«Ach! ‹Streng gegen dich selbst›! Als ob man sich von Strenge und Resignation Kleider kaufen könnte! Ach», fügte ich in weinerlichem Ton hinzu,«wir werden ja sehen, was ich anziehen werde, wenn die Kleider aus Paris verschlissen sind, nun, da ich arm bin wie eine Kirchenmaus!» Onkel Pancho, der mich unbedingt trösten wollte, reagierte diesmal bemerkenswert feinfühlig und traf genau den richtigen Ton:«Eine Frau, die so hübsch ist wie du, ist niemals arm, María Eugenia!» Als er mir anschließend meine persönlichen Vorzüge aufzählte und sie im überzeugenden Ton des erfahrenen und durchaus kritischen Kenners aufs lebhafteste pries, faßte ich mich allmählich wieder, und nachdem ich, seinen nicht enden wollenden Huldigungen lauschend, meinen verunglückten Fingernagel, so gut es ging, wieder in Form gebracht hatte, öffnete ich schließlich einigermaßen beschwichtigt meine Handtasche, um in meinem ovalen Taschenspiegelchen nachzuprüfen, inwieweit seine Schmeicheleien der Wahrheit entsprachen. Leider war der Spiegel so klein, daß ich mein Gesicht in zwei Etappen betrachten mußte: erst Kinn, Mund und Nase; dann Nase, Augen und das Hütchen; mein Spiegelbild nebst Onkel Panchos Worten genügte jedoch, die Tränenfeuchte aus meiner Stimme zu vertreiben, und ich sagte mit einer unmerklich aufblitzenden Verschmitztheit in den Augenwinkeln:«Aber ich wollte, Onkel Pancho..., weißt du was? Ich wünschte, ich hätte blaue Augen und wäre etwas größer!» «Herrje! Was für ein Unsinn! Dann wärst du doch viel zu groß. Und blaue Augen würden gar nicht zu deinem Typ passen. Deine 101
Augen sind doch dein Kapital, María Eugenia. Solche Augen findet man selten, das weißt du sehr genau!» Diese Antwort hatte ich mir erhofft und quittierte sie mit einem erleichterten Lächeln, während ich gleichzeitig energisch protestierend den Kopf schüttelte:«Nichts, gar nichts ist an mir wohlgeraten, Onkel Pancho...! Das bildest du dir nur ein, du findest mich hübsch, weil du mich liebhast!» Einen Moment lang versanken wir in Schweigen... Doch irgendwann mußte ich die Handtasche wieder schließen; in ihr verschwand das Spiegelchen und mit ihm mein Spiegelbild, das, selbst so zerstückelt, mir als einziger Ratgeber dient; das mir, ohne auch nur piep zu sagen, Fügsamkeit, Lebenslust, Güte und Heiterkeit predigt... Kaum war mein Bild in den Tiefen der Handtasche begraben, wurde es abermals still, und sofort kam mir Onkel Eduardo mit seinen ärgerlichen Ansichten wieder in den Sinn. Als ich seine hagere Gestalt vor meinem inneren Auge sah, kam ich auf das Thema zurück:«Aber hör mal, Onkel Pancho, wen ich nicht verstehe, ist Großmama, ich meine, ihre Überzeugung, dieser Stümper Onkel Eduardo sei über alles erhaben, ja, der edelmütigste und großzügigste Mensch auf der Welt...!» «Unergründliches Mysterium des Glaubens, mein Kind!»rief Onkel Pancho aus, seufzte und verdrehte mit einer ulkigen Gebärde die Augen, als ob er betete, was mich erzürnte, denn ich fand es überhaupt nicht komisch, quasi über Nacht ohne einen Céntimo dazusitzen. Mißmutig wollte ich wissen:«‹Unergründliches Mysterium des Glaubens›? Was meinst du damit?» «Sieh mal: Den meisten Frauen, die sich ‹häuslich› nennen, so wie Eugenia und Clara, reicht eine Religion nicht, weshalb sie sich eine zweite zulegen. Eine praktizieren sie in der Kirche oder vor einer Art Altar, wie jener mit der Christusfigur in Eugenias Zimmer. Die andere üben sie immer und überall aus und nennen sie ‹Herz und Gefühl haben›. Als Gott dieser Ersatzreligion gilt stets ein männliches Familienmitglied: der Vater, Bruder, Sohn, Ehegatte oder Verlobte! Wichtig ist nur die männliche Autorität, 102
der man sich blind unterwirft. Was dieser Gott auch tut, ist wohlgetan, alles, was er sagt, ist Gebot, alles wird in seine Hände gelegt, und sein Zorn, egal, ob gerecht, willkürlich oder absolut lächerlich, ob er der Frau gilt, die gegen die Regeln der Keuschheit gesündigt hat, oder nur dem Fleisch auf dem Teller, das zäh ist, oder ob der häusliche Gott in Unterhosen dasteht und wegen einer ungebügelten Hemdbrust wettert, immer ist sein Zorn heilig und seine Stimme majestätisch wie die Jehovas auf dem Berg Sinai... Der Gott in deiner Familie ist Eduardo, der, nebenbei gesagt, gar kein so schlechter Mensch ist. Zumindest brüllt er nie herum!» «Wie denn auch mit seiner näselnden Stimme! Ein zürnender Onkel Eduardo in Unterhosen wäre ein wahrhaft göttlicher Anblick! Er würde aussehen wie eine der Judasfiguren, die zu Ostern verbrannt werden35... Na, das paßt ja …» Doch Onkel Pancho sinnierte weiter:«Ich weiß nicht, ob dieser tiefverwurzelte Brauch, den Mann zu vergöttern, eher auf einen von unseren andalusischen Ahnen überlieferten Atavismus36 zurückzuführen oder einfach nur ein ökonomisches Problem ist. Eine Frau ohne Mitgift, ohne eigenes Vermögen, was in unserer Gesellschaft fast für alle gilt, ist darauf angewiesen, daß der Mann für sie sorgt; und mal ehrlich: Was kommt Gott dem Allmächtigen im Himmel näher als jemand, der unser Leben auf Erden sichert...?» «Kommt darauf an...», sagte ich, während ich ernsthaft über diese Frage nachdachte,«wenn er dafür sorgt, daß dieses Leben elegant und vornehm ist, mit einer komfortablen Limousine und einem schicken Haus, etwa mit mehreren Bädern, Warmwasser und einem kleinen orientalischen Salon mit Wandteppichen und einem großen Diwan voller Kissen: Ja, dann würde ich dir recht geben. Doch ansonsten... Glaubst du etwa, Onkel Pancho, ich wäre dankbar für ein Kleid aus Atlasstoff, wie Tante Clara vorgestern eins getragen hat, graugrün und die Taille sonstwo? Müßte ich so etwas tragen, würde ich den, dem ich es zu verdanken hätte, aus tiefster Seele verfluchen... Denn, weißt du, mit Atlasstoff 103
gebe ich mich gar nicht erst ab, es sei denn, es wäre Charmeuse37, den Meter ab dreißig Bolívar. Das gleiche gilt für die Strümpfe...! Hier, sieh dir mal die an, die ich trage! Sind die nicht hübsch...? Nun ja, die haben mich in Paris auch hundertzwanzig Francs gekostet!» «Schön!»sagte Onkel Pancho laut lachend.«An diesem schwindelerregenden Preis sehe ich, María Eugenia, daß du dir deiner Wirkung ziemlich sicher bist! Ja, du weißt sehr genau, was du wert bist - eine wesentliche Voraussetzung, um geachtet zu werden. Ja, ja, das ist gut. Wer von anderen geschätzt werden will, muß zunächst einmal sich selbst zu schätzen wissen. Vergiß das nie, denn schau, das ist der wichtigste Grundsatz einer Frau, deren Wert allein von der Wertschätzung des Mannes abhängt!» «Noch etwas, Onkel Pancho», beharrte ich auf dem Thema, das mich am meisten umtrieb.«Großmama predigt mir ständig Moral, pocht vehement und mit Nachdruck darauf, daß nämlich ‹die Ehre einer Frau›, daß nämlich ‹die Tugend einer Frau›... Sag, warum verfährt sie nicht ebenso mit Onkel Eduardo, diesem dürren Hering? Ihn hat sie sicher noch nie zu sich gerufen wie mich heute morgen und gesagt: ‹Die Ehre eines Mannes!›»> Onkel Pancho setzte wieder diese verklärte Miene auf und sagte:«Weil man über die Ehre von Ehrenmännern wie Eduardo gar nicht erst redet. Denn allein die Erwähnung wäre schon ein Ausdruck mangelnden Respekts oder eines gewissen Zweifels; eine Sünde, die Eugenia niemals begehen würde. Schau, die Männerehre, mein Kind, ist immer - wie soll ich sagen? - etwas Vages, Dehnbares, wie ein heiliges Gesetz..., und in unseren Kreisen ist der Begriff inzwischen derart dehnbar, daß er wie alles Heilige unsichtbar geworden ist, so wie die Seele, die Engel oder Geister. Die Ehre des Mannes hat sich quasi verselbständigt und besteht unabhängig von der Person fort, die sich ihrer rühmt, unabhängig von ihrem Handeln, Verhalten oder Benehmen. Die Frau allein ist für die Wahrung dieser Ehre verantwortlich, nur sie kann sie hegen und pflegen oder durch das geringste Fehlverhalten befle104
cken. Das ist auch der Grund, warum der Mann in unserer Gesellschaft, der auf seine Ehre bedacht, klug und selbstlos ist, sich wenig um sein eigenes Benehmen kümmert. Nein, statt dessen wacht er penibel über das Wohlverhalten seiner Frau, denn sie ist sozusagen der lebende Schrein, in dem dieses Heiligtum, die männliche Ehre, aufbewahrt wird... Das große Verdienst der Frau besteht zunächst einmal darin, sich diesem rational nicht faßbaren Glaubensdogma in demütiger Frömmigkeit zu unterwerfen und anschließend das kostbare Gut der männlichen Ehre Tag und Nacht aufs strengste zu hüten...» «Ach, da habe ich noch eine Frage, Onkel Pancho: Wie kommt es eigentlich, daß auch Tante Clara keinen Céntimo mehr besitzt? Gerade gestern hat sie gesagt, sie habe, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, lediglich eine kleine Rente, die Onkel Eduardo ihr allmonatlich überweist. Hat sie nicht auch einen Teil des Vermögens von Großpapa Aguirre geerbt...?» Als Antwort auf meine Frage, Cristina, verlor sich Onkel Pancho nun in endlosen, hie und da durch einen Scherz oder eine kleine Bemerkung aufgelockerten Erklärungen, die ich hier lieber nicht in allen Einzelheiten wiedergeben möchte. Du weißt ja, Cristina, wie sehr mich Gespräche über Geldangelegenheiten langweilen. Da geht es mir ähnlich wie bei Diskussionen über Politik, das heißt, wenn sie mich nicht rasend machen, schlafe ich vor Langeweile ein. In wenigen Worten zusammengefaßt, so viel kann ich Dir sagen, ergab sich aus Onkel Panchos Ausführungen, daß Tante Clara nicht mehr besitzt als Großmama, die nach dem Tod meines Großvaters, ihres Mannes, immerhin eine anständige Rente geerbt hatte; Tante Clara ist heute fast so mittellos wie sie. Die Art, wie Tante Clara ihr Erbe beziehungsweise ihr Vermögen verloren hat, entbehrt nicht der Komik, es hat sogar etwas Pittoreskes: Es zerrann langsam, aber sicher in den Händen ihres verschwenderischen jüngeren Bruders, ihres Lieblings Onkel Enrique. Onkel Enrique, der seit einigen Jahren tot ist, war laut Onkel Pancho das genaue Gegenteil von Onkel Eduardo: ein fröhli105
cher Nachtschwärmer, ein unbekümmerter Don Juan, ewig auf Reisen und ein großzügiger Mensch, der seine Lieben gerne mit Geschenken überhäufte. Außerdem war er dem Glücksspiel verfallen, und in guten Phasen, wenn Fortuna ihm gewogen war, gab er seinen Gewinn mit vollen Händen wieder aus; doch wenn sich das Blatt wendete, war Tante Clara sein Tränentuch. Heimlich, hinter Großmamas Rücken, half sie ihm immer wieder mit Geld aus, um seine dringlichsten Schulden zu begleichen oder ihm ein anderes seiner zahlreichen Gelüste zu finanzieren. Später dankte Onkel Enrique ihr für ihre spontane Opferbereitschaft dann mit einer Fülle von Geschenken und Zärtlichkeiten. So kam es, daß sie beide in trautem Einvernehmen Tante Claras gesamtes Vermögen bis auf den letzten Céntimo durchbrachten. Das Vermögen von Großmama, die niemals bereit gewesen wäre, für die Schulden eines Lebemannes wie Onkel Enrique aufzukommen, erlitt ein noch schlimmeres Schicksal als Tante Claras, denn wenn es auch weitaus größer war, ging es genauso verloren, nur ohne daß sich jemand damit amüsiert hätte. Onkel Eduardo, auf den Großmama wegen seiner ruhigen Ernsthaftigkeit schon als Junge große Stücke hielt und dem sie von Anfang an ihr Vertrauen schenkte, war jahrelang im Minengeschäft tätig, und da es sehr lukrativ zu sein schien, lieh Großmama ihm ihr gesamtes Kapital. Trotz aller guten Prognosen und Sicherheiten war die Firma nach wenigen Jahren bankrott. Von Großmamas Kapital konnte nur noch ein Bruchteil gerettet werden. Dieser, in Bankaktien angelegt, und eine kleine Witwenrente sind das einzige, was ihr geblieben ist. Es reicht gerade, um ein genügsames und bescheidenes Leben zu führen und dieses Haus hier zu unterhalten. Nach dem Bankrott arbeitete Onkel Eduardo, der als echter Geizhals hartnäckig und zäh ist, zunächst noch weiter in der Firma, bevor er dann Papas Teilhaber wurde. Durch konsequente Sparsamkeit und mit viel List gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen, und inzwischen ist er reich, doch von Großmamas Geld, das er im Minengeschäft verlor, ist nie mehr die Rede. Al106
lerdings hilft Onkel Eduardo Großmama und Tante Clara, um die Kosten dieses Hauses zu decken, zusätzlich zu ihrer Witwenrente und dem, was die Aktien abwerfen, noch mit einen kleinen Betrag aus. Dafür preist Großmama ihn als ihren Wohltäter und hält ihn überhaupt für den besten, edelsten und großherzigsten ihrer Söhne. «Das ist eben Eduardos Masche, verstehst du?»schloß Onkel Pancho an diesem Punkt.«Er nimmt tausend und gibt zwei; und für diese zwei muß man ihn ewig in den Himmel heben: Er ist der Beschützer!» Auch wenn ich hinsichtlich meiner eigenen Lage nichts Neues erfahren hatte, verglich ich, als Onkel Pancho seine weitschweifigen, mit vielen Kommentaren gespickten Erklärungen beendet hatte, seine Version im Geiste rasch mit dem, was Großmama mir am Morgen erzählt hatte, und ich kann mich noch entsinnen, wie ich eine ganze Weile starr vor Entsetzen dasaß, den Blick unverwandt auf meine Hände geheftet, die schlaff und wie zufällig auf dem schwarzen Kleid lagen wie ein leibhaftiges Bild meiner Unterwerfung und Entsagung. Ach, würde Großmama irgendwann nicht mehr für mich sorgen können, was schließlich jeden Moment passieren konnte, was sollte dann aus mir werden, mein Gott, was sollte dann nur aus mir werden...? Welch grauenhafte Aussicht, völlig auf die Hilfe des Feindes, Onkel Eduardos, angewiesen zu sein...! In der erhabenen Stille dieses Sonnenuntergangs, im dichten Schatten der Bäume, neben Onkel Pancho, der stumm mit der Spitze seines Spazierstocks im Gras stocherte, spürte ich zum ersten Mal, wie sich meine Seele verzweifelt an Großmamas Leben klammerte, wie ein Kind sich bei seinen ersten Gehversuchen an den Rocksaum seiner Mutter klammert... Ja, sie, nur ihr mütterlicher Schutz konnte die Schmach meiner Armut und meiner Erniedrigung lindern... In Gedanken noch mit Großmama beschäftigt, merkte ich auf einmal, daß die Nacht über uns hereinbrach. Ich sprang hastig auf und sagte, während ich mir die Grashalme 107
vom Rock klopfte:«Vergiß nicht, Onkel Pancho, daß Großmama mich erwartet. Ich habe ihr versprochen, zeitig heimzukehren, und jetzt sitzt sie bestimmt schon in ihrem Taftkleid mit der goldenen Halskette auf dem Sofa im Salon freundlich lächelnd vor ihren Gästen und blickt immer wieder ungeduldig zur Tür.» «Ja», sagte Onkel Pancho und erhob sich schwerfällig.«Eugenia ist sehr stolz auf dich. Für ihre Eitelkeit magst du heute ähnlich wichtig sein wie in ihrer Jugend vielleicht ein neuer Hut aus Europa. Sie will mit dir angeben und wie früher ihren Kopf mit dem Hut heute ihr Heim mit dir schmücken.» «Arme Großmama! Alles in allem hängt sie doch sehr an mir!» «An dir mehr als an allen anderen. Clara ebenfalls. Trotz der langen Jahre ohne dich, da siehst du mal! Das ist auch typisch für diese weibliche Vorstellung von ‹Herz und Gefühl haben›: Sie ziehen grundsätzlich die Enkel beziehungsweise Neffen und Nichten vor, die der weiblichen Linie der Familie entstammen, selbst wenn sie fernab in Peking leben und man sie noch nie im Leben zu Gesicht bekommen hat.» Bei seinen Worten empfand ich ganz stark die mütterliche Wärme, mit der Großmama mich umfing, die mich mit ihren barmherzigen Händen grausam verstümmeln wollte, indem sie mir sorgsam und mit viel Liebe die ungeduldigen Flügel meiner Freiheit stutzte. Das ging mir durch den Kopf, während sich in der Ferne das Panorama der Stadt, in der allmählich die Lichter aufflakkerten, vor meinen Augen ausbreitete. Eine ganze Weile schritten Onkel Pancho und ich im Licht der mit tropischer Hast untergehenden Sonne wortlos nebeneinanderher... Als erahnte ich zwischen den blinkenden Lichtern die Stadt dort unten und in ihr das grüne klösterliche Haus mit den drei großen Fenstern, die meiner harrten, befiel mich erneut das Entsetzen vor der Langeweile eines Lebens in Gefangenschaft.«Ach, Onkel Pancho, Onkel Pancho», sinnierte ich voller Bitterkeit und blieb stehen.«Wozu werden wir überhaupt geboren? Das Leben! Das Leben..., welchen Sinn hat es eigentlich? » 108
Anstatt mich zu trösten, fiel Onkel Pancho, der alles verspottet und schlechtmacht, nichts anderes ein, als auf meine Frage hin liebevoll das Leben zu kritisieren:«Welchen Sinn es hat...? Keinen...! Es ist eine Farce, die sich ständig wiederholt, wie ein Rosenkranz, der ohne Sinn und Verstand seit Jahrhunderten in der Kirche heruntergebetet wird; es ist ein elendes Monstrum, plump, blind und ohne jeden Selbsterhaltungstrieb, das sich unter grausamen Qualen selbst verschlingt...» In meiner Verzweiflung war mir so jämmerlich zumute, daß ich keinen Sinn für allgemeine philosophische Spitzfindigkeiten hatte, weshalb ich auf meinem konkreten Fall beharrte:«Wäre ich doch als Mann geboren! Glaub mir, Onkel Pancho, wie ich mich amüsieren und für Großmama und Tante Clara einstehen würde! Aber ich bin eine Frau - ach! -, und als Frau ist man nicht besser dran als ein Sittich oder ein Kanarienvogel. Man sperrt dich in einen Käfig, bewacht dich, füttert dich und läßt dich nie heraus, während alle anderen frei und fröhlich herumfliegen! Welch ein Alptraum, eine Frau zu sein! Welch ein Alptraum!» «Du irrst dich, María Eugenia», sagte Onkel Pancho in ernstem Ton und blieb ebenfalls stehen.«Schau, sollte ich noch einmal geboren werden, wäre ich jetzt, nachdem ich schon einmal reich und als Mann zur Welt kam, lieber eine hübsche Frau, das kannst du mir glauben. Ich spreche aus Erfahrung: Die wichtigste und bewährteste Form menschlicher Herrschaft oder Tyrannei ist die einer hübschen Frau. Grenzenlos ist ihre Macht! Weise ihre Führung! Genial ihre Diktatur, in deren Schatten seit Jahrhunderten die Künste erblühen; und dann ihre bescheidene, so bezaubernde Gabe, in den Augen der Männer den uns angeborenen Gehorsam zu entdecken, den Gehorsam eines Hundes, der stets bereit ist, die strafende Hand seines Herrn zu lecken - die einzige wertvolle und empfindsame Seite unserer durch den Mißbrauch und Hochmut des Geistes verderbten Natur!» Doch diese Sichtweise, Cristina, fand ich absurd und wenig geeignet, mich zu beruhigen, im Gegenteil, sie brachte mich in 109
Rage:«Das alles sind nichts als Märchen, Ungereimtheiten, Lügen! Wir Frauen sind einfach arme, rechtlose Opfer, Sklaven, Enterbte...! Wie ungerecht! Am liebsten würde ich mich den Suffragetten38 anschließen, mit der Pankhurst 39 auf Männerkongressen Feuer legen und kostbare Gemälde in Museen mit dem Messer zerfetzen! Dann wollen wir mal sehen, ob endlich Schluß ist mit all dem Unrecht!» Wir folgten weiter dem schmalen Fußweg. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, beklagte ich mich weiter:«Stell dir vor, immer unter Kuratel! Den ganzen Tag hinter Mauern, und nicht einmal Klavier spielen! Wie recht haben die Frauenrechtlerinnen. Ach...! Mir war das nur nicht klar! In Paris, wo ich einmal auf einer dieser feministischen Versammlungen war, habe ich dem keine Beachtung geschenkt, was sie erzählten! Inzwischen würde ich mir sicher keine Silbe mehr entgehen lassen... Mmm, andererseits: diese Füße und vor allem die Schuhe! Stell dir vor, Onkel Pancho, die Matrone, die den Vortrag hielt, hatte die Füße unter dem Tisch gekreuzt, und du kannst dir nicht vorstellen, wie die aussahen! So was von unförmig! Schuhe mit Nieten und ganz dicke Strümpfe, Onkel Pancho, aus Baumwolle! Vor lauter Entsetzen habe ich den ganzen Vortrag über das Fernglas nicht von ihnen abwenden können. Nein, nein, mich kann so eine Frau nicht überzeugen, selbst dann nicht, wenn sie ebensogut mit Worten für die Freiheit streiten kann wie Castelar für die Demokratie.40» «Du verlangst wohl, daß man die Frauenrechte mit den Füßen predigt; und recht hast du. Ich halte das auch für viel wirkungsvoller als Worte. Nichts überzeugt mehr als das eloquente Schweigen der Dinge, und ein Paar Strümpfe für hundertzwanzig Francs beherrscht souverän die Gesetze von Dialektik und Rhetorik.» Da mir der frivole Ton und die Art, wie Onkel Pancho meine Worte verdrehte, nicht behagte, erwiderte ich gereizt:«Nein, nein, darum geht es nicht, Onkel Pancho, halte mich nicht für so ober110
flächlich. Eigentlich sind mir das hundertste Paar Strümpfe oder die Louis-quinze-Absätze nicht wichtig. Das einzige, was ich mir wünsche, ist frei zu sein wie ein Mann, ohne daß jemand über mich bestimmt. Und deshalb lautet mein Motto ab jetzt: ‹Es lebe die Befreiung der Frau!›»> «Red keinen Blödsinn, María Eugenia, ‹frei wie ein Mann›! Der zivilisierte Mann ist doch nicht besser dran als ein Packesel, das heißt: Tag für Tag schuften und immer nur gehorchen, immer...! Nicht den Frauenrechtlerinnen natürlich, nein, den Damen mit den feinen Schuhen, Damen wie dir …» Während Onkel Pancho mir auf dem engen Fußweg folgte, spann er beharrlich seine absurde These von der Vorherrschaft der modernen Frau weiter. Dazu holte er weit aus. Mißmutig, wie ich war, bekam ich nur einen Bruchteil seiner peripatetischen 41 Rede mit:«Die Gleichheit der Geschlechter, mein Kind», sagte er, während die tausend blinkenden Lichter von Caracas zu unseren Füßen wie kleine Funken im Dunkeln flimmerten,«die Gleichheit der Geschlechter ist absurd, wie jede Gleichmacherei widerspricht sie den Gesetzen der Natur, und der sind Dinge wie Demokratie und Gerechtigkeit verhaßt. Sieh dich nur mal um: überall Hierarchien und Aristokratien, die stärksten Lebewesen leben auf Kosten der schwächeren. Die Harmonie, die in der Natur herrscht, basiert auf Unterdrückung, Verbrechen und Raub. Die bedingungslose Unterwerfung der Opfer ist das Fundament, auf dem die gesamte Konstruktion von Eintracht und Frieden ruht. Die demokratische Idee, das heißt die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit, ist ein kindischer Traum, eine Theorie, die nur in der menschlichen Vorstellung besteht. Die Natur ist in Hierarchien unterteilt, die Stärkeren fressen die Schwächeren, sie leben auf deren Kosten und herrschen über sie. An der Spitze aller Hierarchien steht der Mensch, er repräsentiert sozusagen den Hochadel in der Natur. Also gut, je nach Grad der Zivilisation streiten die beiden Geschlechter über die Vorherrschaft in ihrer jeweiligen Gesellschaft: Mann gegen Frau. Wer von beiden ist nach den 111
Gesetzen der Hierarchie berechtigt, über den anderen zu herrschen und damit über die gesamte Natur? Genau darum geht es. Den höchsten Beweis von Intelligenz erbringt die Frau, indem sie dem Mann zum Schein die Herrschaft überläßt, um seine Eitelkeit zu befriedigen; für die Gesellschaft, in der sie lebt, gilt es überdies als Zeichen hoher Kultur und Bildung. Die Gesellschaften, in denen der Mann tatsächlich herrscht, sind hingegen grundsätzlich primitive, wilde und ungebildete Kulturen. Du wirst dich fragen, warum. Aus dem einfachen Grund, daß der Mann eigentlich nicht zum Befehlen geboren ist, auch wenn er sich seit jeher mit pompösen Kronen, Zeptern und sonstigen Insignien der Macht schmückt. Seine wahre Bestimmung ist es vielmehr, zu gehorchen. Daher auch sein unmögliches Benehmen, dieser unbedingte Wille, sich durchzusetzen, sein Brüllen, sein groteskes und ordinäres Gebaren, das typische Verhalten derer, die sich mit aller Macht behaupten wollen, ohne von der Natur mit der wunderbaren Fähigkeit zu herrschen ausgestattet zu sein. Das ist es, was dort unten normalerweise geschieht», sagte er und zeigte auf Caracas, das jetzt hellentflammt wie ein gefallener Himmel zu unseren Füßen lag.«Diese armen Frauen wissen gar nicht um ihre Macht. Geblendet vom Ideal des Mystizismus und der Tugend, sind sie immer bereit, sich aufzuopfern, und aufgrund ihres Edelmuts schätzen sie sich selbst gering. Als wahre Märtyrerinnen spüren sie, wie ihre Liebe mit ihrer Geißelung ins Unermeßliche wächst, und noch in Ketten und unter Qualen lobpreisen sie ihren Herrn. Wie die Asketen oder Idealisten üben sie sich in der raffinierten Kunst der Entsagung, ohne Zweifel der höchste Grad menschlicher Erhabenheit, doch da sie diese Erhabenheit in ihren Herzen begraben, sind sie immer die Opfer. Sie kennen nicht die überwältigende Kraft ihrer äußeren Reize, sie vergessen sich selbst; sie verspielen ihre Macht, indem sie ihre Schönheit vernachlässigen. Auf den müden, willfährigen Schultern der unansehnlichen Frauen laden die Männer die ganze Bürde ihrer Ty-
112
rannei und ihrer Launen, die sie ‹Ehre› nennen, wie auf dem Rücken eines Packesels ab...» An diesem Punkt seines Vortrags erreichten wir die Stelle, wo wir die Droschke hatten stehenlassen. Ich stieg rasch ein, nahm in der rechten Ecke Platz, schlug die Beine übereinander und rief, als die Pferde lostrabten, mit dramatisch zum Himmel erhobenen Armen aus:«Ach, mich wieder in Großmamas Haus verkriechen zu müssen, wo es dort so überaus langweilig ist. Wer weiß, wann sie mich das nächste Mal fortläßt!» Doch Onkel Pancho, wohl vom Anblick meiner dramatischen Gebärde gerührt, sagte schließlich etwas Hochinteressantes:«Schon bald, du wirst sehen. Denn ich habe einen wunderbaren Plan für dich. Du wirst sehr glücklich sein! Warte ab... Warte ab!» «Ich bezweifle stark, daß ich noch einmal glücklich sein werde», rief ich noch dramatischer aus als zuvor.«Mein Leben ist auf ewig zerstört...! Was ist das für ein Plan?» «Das kann ich dir frühestens in einer Woche verraten, denn es gibt... es gibt da noch ein paar Schwierigkeiten.» «O nein, sag es mir jetzt gleich, Onkel Pancho! Wenn du mittendrin abbrichst, hättest du lieber gar nicht erst davon anfangen sollen. Aber so hast du keine Wahl, du mußt es mir verraten.» «Nein, denn wenn ich das tue, klappt es vielleicht nicht.» «Natürlich klappt es, und nur, wenn du es mir verrätst! Bitte, lieber Onkel Pancho, sag schon, sag!» «Nein, María Eugenia, du bist zu unvorsichtig; wenn ich es dir sage, läßt du noch eine Bemerkung fallen und verdirbst alles.» «Nein, nein, ich sage kein Sterbenswörtchen. Nicht einmal der Wand werde ich etwas ausplaudern, ich schwöre, los, laß dich nicht länger bitten, Onkel Pancho, sag schon, ehe wir ankommen; gleich bleibt keine Zeit mehr...! Na schön, ich warne dich, ich steige nicht eher aus, bevor ich nicht alles weiß!» Und da, Cristina, erklärte Onkel Pancho, wobei er die altbekannten Kniffe anwendete, nämlich in gedehnten Worten und mit 113
vielen Pausen sprach:«Also gut..., hör zu..., es ist so: Ich habe einen passenden Bräutigam für dich gefunden - ein wahrer Glücksfall!»Und um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, sog er pfeifend die Luft durch die geschlossenen Zähne.«Rundum perfekt! Schau, selbst Diogenes mit seiner Laterne 42 hätte in ganz Caracas keinen besseren finden können; was sage ich, in ganz Südamerika, in Europa, nirgendwo...!» Ich konterte mit einer Antwort, die mir gleichzeitig elegant und angemessen schien:«Phh...! Das ist alles? Na hör mal, deine Mühe, deine Suche mit der Laterne und das alles - das ist Zeitverschwendung! Denn was Männer betrifft, bin ich ausgesprochen wählerisch, Onkel Pancho; eine Lappalie genügt, und schon gefällt er mir nicht mehr, eine Nichtigkeit, und es ist aus; ich will nichts mehr von ihm wissen!» «Schau, María Eugenia, deine Verachtung finde ich im Moment reichlich übertrieben und unangebracht. » Onkel Pancho schwieg eine Weile; indessen war nur das Trappeln der Pferde zu hören. Schließlich fuhr er fort:«Schön, ich wollte ihn dir beschreiben, aber wenn du so empfindlich reagierst, sollte ich lieber nichts mehr verraten; laß dich überraschen...» «Nein, nein, beschreib ihn mir genau, mal ihn mir in allen Farben aus; damit ist ja noch nichts verloren. Sehen wir uns deinen Glücksfall an!» Am Ende ließ Onkel Pancho sich erweichen und beschrieb mir seinen kostbaren Fund, sein männliches Schmuckstück. Laut Onkel Pancho besitzt dieses hochkarätige Juwel, dieser einmalige Schatz, dessen Name mir noch unbekannt ist, den Vorzug einer überaus schmeichelhaften Erscheinung: schlanker, stattlicher Wuchs, elegant und vornehm. Auch auf geistigem Niveau kann er bestehen. Er ist nicht nur intelligent und hat ein Studium erfolgreich abgeschlossen, sondern ist auch kultiviert, ein Mann von Welt also, der es versteht, eine Krawatte zu tragen und seine Nägel zu pflegen. Nach seinem Studium an der Universität von Ca114
racas, das er als Doktor der Rechte und der Medizin abschloß, ging er für zehn Jahre nach Europa, wo er nicht nur obendrein in Philosophie und Politikwissenschaften promovierte, sondern auch durch Spanien und Frankreich reiste, um dort an zahlreichen Universitäten Vorträge zu halten und seine Kenntnisse zu erweitern. Erst kürzlich hat er, wieder zurück in Venezuela, ein laut Onkel Pancho ganz vorzügliches Buch über amerikanische Soziologie und Geschichte verfaßt... (Ach, Cristina, welch ein Pedant muß dieser Mann sein! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen dasitzt und über seine Bücher und seine Vorträge schwadroniert... Wenigstens versteht er sich zu kleiden und hat gepflegte Fingernägel!) Momentan besitzt er kein Vermögen (ein schwerwiegendes Manko), scheint aber ausgezeichnete Geschäfte in Aussicht zu haben, die ihn reich machen sollen. Überdies plant er, in die Politik zu gehen, um später einmal als Minister in irgendeiner Mission nach Europa oder Amerika gesandt zu werden. Er hat, wie Onkel Pancho meint, eine feine, charmante Art und ein fröhliches Naturell, sprüht vor Ideen und ist reizend im Umgang mit anderen. Kurzum, Cristina, abgesehen von dem gravierenden Makel, kein Vermögen zu besitzen, scheint er ein wahres Genie und überhaupt Gold wert zu sein. Wenn Onkel Pancho nur recht hätte! Doch ehrlich gestanden gebe ich wenig auf diese Beschreibung und die Lobeshymnen, denn längst habe ich bemerkt, daß den Männern jeder kritische Blick fehlt, wenn sie einander einschätzen sollen. Wie rasch preisen sie als Wunder, was in Wahrheit nichtig ist, gänzlich uninteressant und nicht der Rede wert. Daher bin ich skeptisch und warte erst einmal ab. Ich halte es lieber mit dem heiligen Thomas, der rät:«Man sollte erst glauben, was man mit eigenen Augen gesehen hat!»43 Der Plan, den Onkel Pancho hinsichtlich eines möglichen Bräutigams für mich ausgeheckt hat, ist damit aber noch nicht zu Ende. Hinzu kommt ein zweiter Teil, den er mir ebenfalls an jenem Abend in der Droschke erläuterte und von dem ich Dir noch 115
berichten muß. Er betrifft den Rahmen, das heißt die Gesellschaft, die Umgebung, in der ich diesem Traumprinzen begegnen soll, den Onkel Pancho für mich auserkoren hat. Wie du gleich erfahren wirst, ist dieser zweite Teil, zumindest in meinen Augen, bei weitem interessanter als der erste und wird sich, wie ich glaube, in der Praxis unmittelbar positiv auswirken. Er lautet folgendermaßen: Da gibt es in Caracas eine schöne, elegante und sehr vornehme Señora, verheiratet, zwischen dreißig und fünfunddreißig, eine entfernte Verwandte und alte Freundin von Onkel Pancho und Papa. Sie heißt Mercedes Galindo und kann es seit meiner Ankunft kaum erwarten, meine Bekanntschaft zu machen. Diese Señora, gut bekannt mit dem besagten potentiellen Bräutigam, liebt es, Ehen zu stiften, und ist mit Onkel Pancho übereingekommen, in ihrem Haus eine für mich zu arrangieren. Um dem Ganzen einen möglichst günstigen Rahmen und ein angemessenes Ambiente zu geben, will sie mich regelmäßig zum Essen einladen. (Ach, Cristina, welch herrliche Gelegenheit, endlich einmal meine Kleider auszuführen, bevor sie unmodern werden!) Doch die Sache hat einen Haken; dem Plan steht ein Hindernis im Weg, das zunächst beseitigt werden muß. Großmama und Mercedes Galindo verkehren nämlich nicht miteinander, seit es früher einmal, in illo tempore, 44 schwere Meinungsverschiedenheiten zwischen Señor Galindo, dem Vater von Mercedes, und meinem Großvater Aguirre gab. Onkel Pancho sagt, zuerst müsse man auf diplomatischem Weg für eine Aussöhnung zwischen Großmama und Mercedes sorgen. Mercedes sei dazu nur allzu bereit. Also muß nur noch Großmama überzeugt werden; daher auch Onkel Panchos Aufforderung, mit äußerstem Geschick und großer Vorsicht vorzugehen, als er mir gegenüber seinen Plan zum erstenmal erwähnte. Ich kann nur hoffen, daß sich die Vorsehung meiner erbarmt und es zur Aussöhnung zwischen Großmama und Mercedes Galindo kommt, die laut Onkel Pancho (und Papa) eine bezaubernde, großzügige, ungeheuer sympathische Frau sein soll, nicht zu 116
vergleichen mit den altehrwürdigen Bekanntschaften, die ich bisher im Salon hier im Haus machen durfte, wo Großmama, feierlich herausgeputzt mit Taftkleid und Goldkette, vom Sofa aus die Oberaufsicht zu führen pflegt. Als unsere Droschke vor dem Haus ankam, hatte Onkel Pancho mir, wie gesagt, noch immer nicht endgültig alle Bedingungen und Ziele seines unglaublichen Plans auseinandergesetzt. So blieben wir noch eine ganze Weile in der haltenden Droschke sitzen und tuschelten dort im verborgenen aufgeregt miteinander. Am Ende faßte Onkel Pancho die wichtigsten Informationen und dringendsten Ermahnungen noch einmal zusammen:«Mercedes hat dich sehr gern, nicht wegen der alten Zeiten oder der Familienbande - glaub das ja nicht! -, nein, weil ich ihr erzählt habe, wie hübsch du bist, und schon allein deshalb mag sie dich. Sie kann es kaum erwarten und brennt förmlich darauf, endlich deine Bekanntschaft zu machen. Das Essen zum Kennenlernen hat sie längst bis in alle Einzelheiten geplant, mit Menü und allem, und für dich liegen schon Geschenke bereit... Aber Vorsicht! Hier im Haus kein Wort davon! María Antonia, die Frau von Eduardo, kann Mercedes nicht ausstehen, und wenn sie Wind davon bekommt, wird sie sofort intrigieren und uns alles verderben. Wir müssen geschickt taktieren und die Sache rasch vorantreiben. Ich werde mich darum kümmern!» «Ach, Onkel Pancho», klagte ich zum Abschied,«hättest du mir das nicht schon vor eineinhalb Stunden während der Fahrt nach Los Mecedores erzählen können, anstatt mich mit deinen philosophischen Exkursen zu ermüden?» Doch Onkel Pancho, der, wenn er nicht weiß, was er sagen soll, gerne fatalistisch wird, antwortete:«Es stand so geschrieben!» Und damit, Cristina, endete unsere denkwürdige Unterredung in der wartenden Droschke an dem Tag, als ich erfuhr, daß ich arm bin wie eine Kirchenmaus. Onkel Panchos Überraschungsplan voller Spannung, Stolpersteine und Hoffnungen, der Plan für 117
meine Flucht aus dem Gefängnis, entfachte in mir ein Feuer unbändiger Vorfreude. So groß war mein Überschwang, daß ich, kaum hatte ich mich von Onkel Pancho verabschiedet, fröhlich Großmamas Salon betrat, die altehrwürdigen Besucher lächelnd und mit größter Herzlichkeit begrüßte, während der Unterhaltung Caracas über den grünen Klee lobte und zum Abschied alle freundlich und vergnügt zur Haustür begleitete. Auf dem Weg ins Eßzimmer reichte ich Großmama beim Durchqueren des Patios eilfertig meinen Arm; als ich dann am Tisch vor meinem Teller Suppe saß, wiederholte ich laut und vernehmlich das leise von Tante Claras gesprochene Gebet«Gelobet sei der Herr...»Ich unterhielt mich die ganze Zeit höflich und angeregt, aß mit unbändigem Appetit, und als ich eine Stunde später mit einem strahlenden Lächeln, brav zugedeckt, in meinem Bett lag, da, das weiß ich noch, schlief ich mit der Vorstellung ein, ich befände mich als Botschaftergattin an einem europäischen Hof, wo ich gerade, mit einem herrlichen Perlenkollier um den Hals, einen tiefen Knicks machte, den Zwölfer - kannst du dich noch erinnern? -, den wir immer ausgezählt haben: eins, zwei, drei, vier, fünf und sechs beim Beugen der Knie; und sieben, acht, neun, zehn, elf und zwölf beim Aufrichten. Ich muß noch erwähnen, daß ich, bevor ich mich mit meinem Perlenkollier und diesem tiefen Hofknicks in den Schlaf verabschiedete, wie es sich für einen wohlerzogenen Menschen gehört, rasch noch meinem aufrechten Dank und meiner ganzen Freude in Form eines Gebets Ausdruck verliehen hatte, das ungefähr folgendermaßen lautete:«Ach, Onkel Pancho, lieber Onkel Pancho, tüchtiger Onkel Pancho, Gott segne dich und beschütze auf ewig den fruchtbaren Boden deines Hirns, der, Tag für Tag mit Whisky, Brandy, Bier und Portwein gedüngt, wie ich sehe, die herrlichsten Früchte eines Plans heranreifen ließ, zart, saftig und zuckersüß, mit einem wahrhaft betörenden Duft der Freude.» Seit jener erlösenden Nacht, Cristina, mit der ich meine detaillierte Schilderung nunmehr beenden will, sind inzwischen jedoch 118
schon fast zwei Monate vergangen; eine Zeit, in der mein Leben unverändert finster und eintönig verlaufen ist und in der das einzige Licht von unserem Plan ausging, der noch immer nicht in die Tat umgesetzt worden ist. Warum, wirst du dich fragen. Nun ja, der Grund ist, daß sich tausenderlei kleine Zufälle verschworen zu haben scheinen, uns Steine in den Weg zu werfen. Als erstes erkrankte Mercedes Galindo, meine bezaubernde zukünftige Freundin, an einer Grippe mit hohem Fieber, die sie eine Woche lang ans Bett fesselte und sie anschließend zwang, sich eine Weile auf dem Land zu erholen, was sich dann mehr als zwanzig Tage hinzog. Anschließend erkrankte Großmama, und wieder mußten wir so lange warten, bis ihre Krankheit ausgestanden und sie ganz genesen war. Inzwischen geht alles wieder seinen normalen Gang, und Onkel Pancho wartet nur noch auf den passenden Augenblick, um im Namen von Mercedes mit dem Vorschlag an Großmama heranzutreten, endlich Frieden zu schließen und alle alten Ressentiments zu begraben. Wie Du verstehen wirst, muß ich als Vorwand für diese Aussöhnung dienen, bei der Onkel Pancho den Vermittler spielen wird, und Mercedes soll diese später mit ihrer Sensibilität, ihrem Charme und ihrem außerordentlichen Gespür für Menschen zu einem krönenden Abschluß bringen, indem sie sich Großmamas uneingeschränkte Sympathien erwirbt. Der Versuch soll noch in dieser Woche gewagt werden, und natürlich wird Mercedes, sobald ihr die Erlaubnis gewährt wird, unverzüglich Großmama ihre Aufwartung machen. Der Anwärter, um den es geht und dessen Namen ich lange nicht kannte, heißt übrigens Gabriel Olmedo und ist über Dreißig. Ich denke, ich habe Dir bereits erklärt, was ich auch Onkel Pancho gesagt habe, nämlich daß ich den Charme, die Tugenden und Vorzüge dieses Herrn mit Argwohn betrachte. Ich bezweifle stark, daß er mir gefallen könnte. Ich denke eher, daß er egoistisch, pedantisch und eitel ist, doch was soll’s, Cristina: Man sollte auch einmal etwas riskieren und sich nicht alle Verlockungen
119
im Leben verwehren! Nichts ist schlimmer als ewige Gefangenschaft, Erstarrung und Untätigkeit! Und jetzt, glaube ich, ist es endlich an der Zeit, diesen Brief, diesen vertraulichen Dialog, in dem ich Dir die persönlichsten Dinge meines derzeitigen Lebens anvertraue, zu beenden... Dieser Brief, der mich gelehrt hat, wie ernst und kompliziert die einfachsten Dinge sein können, indem ich sie beim Schreiben noch einmal durchlebt habe, ist meiner tiefen Zuneigung, die mich mit Dir verbindet, zu schulden; andererseits ist er auch der Ausdruck einer unbegreiflichen Lebensangst, die mich quält. In diesem Sinne sollst Du ihn empfangen, Cristina; lies ihn mit Wohlwollen und lach nicht über ihn, wenn Du meine Worte albern oder unsinnig findest. Vergiß nie, er ist von meiner Liebe zu Dir diktiert, verfaßt in einer Zeit voller Leid und Verletzlichkeit. Ach, könntest Du sehen, welche Sorgen sich Tante Clara macht, weil ich mich, um Dir zu schreiben, seit Tagen hier in meinem Zimmer vergrabe. Während ich mir die Wartezeit, bis Onkel Panchos Plan wahr wird, abwechselnd über meinen Büchern und meinem Brief vertreibe, vergeht langsam und beinahe unmerklich die Zeit. Denn nicht nur, um ungestört zu schreiben, sondern auch zum Lesen schließe ich mich in mein Zimmer ein. Wie ein asketischer Mönch in seiner Zelle habe ich hier in meiner Einsamkeit die Vorzüge eines reichen Innenlebens und reger geistiger Tätigkeit inzwischen zu schätzen gelernt. Seit ich entdeckt habe, daß es in Caracas eine Bibliothek auf Rädern gibt, wo man sich für eine kleine Sicherheitsgebühr alle möglichen Bücher ausleihen kann, habe ich die Gelegenheit ergriffen, frei und ungehindert meinen maßlosen Lesehunger zu stillen. Gregoria, die alte Wäscherin hier im Haus, von der ich Dir schon erzählt habe, ist damit betraut, in einer großangelegten intellektuellen Schmuggelaktion die Bücher hinter Tante Claras und Großmamas Rücken unter ihrem großen schwarzen Umschlagtuch zwischen meinem Zimmer und der Bibliothek hin- und herzubefördern. Dank dieser ihrer ebenso bereitwilligen wie diskreten Hilfe lese ich, soviel ich 120
will und was mir in den Sinn kommt, völlig ohne Verbote, Indizes oder Zensur … Ach, wenn Tante Clara wüßte, daß ich gerade Voltaires«Dictionnaire philosophique»45 verschlinge! Es wäre ein Skandal und ein schwerer Schock für sie. Doch da meine Lektüre in diesem Fall nicht nur verboten, sondern auch höchst vergnüglich ist, hat sie einen doppelten Reiz und sorgt für einen kleinen Nervenkitzel, denn wenn ich den«Dictionnaire philosophique»nicht in Händen halte, verstecke ich ihn wie einen Schatz in meinem Spiegelkleiderschrank, der über einen doppelten Boden verfügt. Aber Du kennst ja mein augenblickliches Lebensmotto: warten...! Warten wie Penelope, indem ich meine Gedanken verwebe und wieder auftrenne, die nämlich, von denen ich Dir hier erzähle, und auch andere, die ich wie Fäden aus den in meinen Büchern verborgenen Knäueln ziehe. Jetzt, da ich Dir alles freimütig offenbart habe, bleibt mir nur noch eins: Dich zu bitten, mir ebenfalls in aller Offenheit zu schreiben, mir zu erzählen, was sich in den letzten Monaten in Deinem Leben zugetragen hat, damit ich es mit meinen Erfahrungen vergleichen kann. Schreib mir von Deinen Plänen, von den Veränderungen in Deinem Leben, erzähl mir von Deinen Reisen, und laß uns gemeinsam, wie in früheren Zeiten, alte Erinnerungen auffrischen. Manchmal schreckt mich der Gedanke, daß ich Dich, nachdem wir uns lange Zeit so nahe und zugetan waren, womöglich niemals wiedersehen werde... Wer weiß! Zum Glück hat man das Schreiben erfunden, und darin bleibt etwas von dem erhalten, was uns an dem geliebten Menschen so wichtig ist, das, was man Seele oder Geist nennt, und das, wie es heißt, niemals stirbt, folglich also nie ganz verschwindet, einfach weil die Liebe bleibt. Empfange also diese Portion meiner Gefühle und vergiß nicht, daß hier in der Einsamkeit, in ihrem«verschlossenen Garten»zum Schweigen verdammt, Dich sehnsuchtsvoll erwartet 121
Deine María Eugenia
122
ZWEITER TEIL Julias Balkon
KAPITEL I Nachdem sie den ellenlangen Brief an ihre Freundin Cristina abgeschickt hat, beschließt María Eugenia, Tagebuch zu führen. Wie man sehen wird, taucht in diesem ersten Kapitel endlich die reizende Person Mercedes Galindo auf. Eigentlich halte ich es für Unsinn, für sentimentalen Kitsch, und finde es obendrein antiquiert und überhaupt ganz und gar unmodern, wenn jemand zur Feder greift, um Tagebuch zu führen. Nichtsdestotrotz habe ich genau das vor. Ja, ich, María Eugenia Alonso, werde ein Tagebuch führen, einen Wochenbericht, eine Chronik meines eigenen Lebens oder wie immer ich es bezeichnen soll; das jedenfalls, was man in Romanen«Tagebuch»nennt... Ach, es ist doch erstaunlich, wie wenig unsere Ansichten unser Verhalten beeinflussen! Ich glaube, unsere Überzeugungen sind im allgemeinen eher dafür da, sie auf das Verhalten anderer anzuwenden, denn erst dort kommen sie in ihrer ganzen Brillanz und Wahrhaftigkeit richtig zur Geltung, stichhaltig, altbewährt und unangreifbar. Bei uns selbst hingegen werden sie wie im vorliegenden Fall nachgiebig wie Wachs und so formbar, daß sie sich auf wundersame Weise unserem von den jeweiligen Launen des Augenblicks geleiteten Verhalten anpassen. Da die Menschen in der Mehrzahl Konflikte zu vermeiden suchen, entwickeln sie ein erstaunliches Geschick, Gründe oder Ausreden für ihre merkwürdigen Inkonsequenzen zu finden, und tragen mit Elo123
quenz und Logik dafür Sorge, beides, ihre Überzeugung und ihr Benehmen, miteinander in Einklang zu bringen. Leider Gottes fehlt mir durchaus die Phantasie, um mir derlei Ausflüchte zurechtzulegen, und es passiert mir sehr häufig, daß ich mir selbst, wie heute, diametral zuwiderhandle. Ja, während meiner Kindheit und in der Schule hat mir mein mangelndes Geschick, Ausreden zu erfinden, erheblich geschadet, und das bleibt mir unvergessen. Doch so ist nun einmal meine Natur, und ich kann es nicht ändern. Daher werde ich mich von jetzt an nicht mehr damit abplagen, mich in einer Kunst zu versuchen, die mir so überhaupt nicht liegt. Ich habe beschlossen, zukünftig mir selbst und anderen eventuelle Unvereinbarkeiten zwischen meinen Ansichten und meinem eigenen Verhalten offen einzugestehen. Ich werde immer sagen: Dieses und jenes ist verwerflich und albern, aber ich tue es trotzdem; anders wäre es zwar durchaus bewundernswert und vorbildlich, aber ich habe keine Lust dazu. Ich glaube, diese Art von Offenheit oder Eingeständnis nennt man gemeinhin Zynismus. Da dieser Begriff aber zu Mißverständnissen führen könnte, möchte ich mich bei dem Punkt nicht weiter aufhalten und zu einem anderen Thema übergehen. Vor wenigen Tagen habe ich meinen Brief an Cristina de Iturbe beendet. Doch der Brief war so lang und hat so viel Zeit in Anspruch genommen, daß das Schreiben mir inzwischen zur Gewohnheit geworden ist. Als ich ihn noch einmal überflog, war es sozusagen ein langes Protokoll, was ich da voller Wehmut in einen Umschlag steckte, mit Briefmarken beklebte und von Gregoria, nachdem ich sie um absolutes Stillschweigen gebeten hatte, in den Briefkasten werfen ließ. Angesichts meiner Anweisungen loderte in Gregorias Augen ein verschwörerisches Feuer auf, und mein Brief gelangte auf die gleiche Weise aus dem Haus wie die Bücher der fahrenden Bibliothek: in den Falten von Gregorias Umschlagtuch verborgen. Bei diesem Leben in Gefangenschaft, das ich hier führe, besteht meine einzige Abwechslung, meine einzige Unterhaltung, 124
mein einziger Sport nun einmal darin, ausnahmslos alles heimlich hinter Großmamas und Tante Claras Rücken zu tun. Gregoria assistiert mir dabei auf wunderbare Weise, und dieses System ständiger Verschworenheit beschert mir eine gewisse moralische Unabhängigkeit und vor allem eine Vielzahl kleiner Glücksmomente, ähnlich wie man sie beim Spiel, auf der Jagd oder beim Angeln empfinden muß, was man nicht geringschätzen sollte angesichts des langweiligen, faden Umfelds, in dem ich hier lebe. Doch zurück zu meinem Brief an Cristina: Als Gregoria mir bei der Rückkehr von draußen geheimnisvoll sagte:«Ich habe ihn eingeworfen!», befiel mich auf einmal eine tiefe Traurigkeit. Irgend etwas fehlte mir, etwas Großartiges und Unverzichtbares. Da ich nicht bis in alle Ewigkeit weiter an Cristina schreiben konnte, habe ich mir heute schlagartig gesagt:«Schön, von jetzt an werde ich ein Tagebuch führen!» Und das tue ich. Ich hege nur die Befürchtung, daß ich an manchen Tagen eine Pause werde einlegen müssen, weil mir die Themen ausgehen: Mein Leben ist dermaßen eintönig! Seit dem Morgen, als ich den Brief abschickte, bis gestern nachmittag ist nichts Erwähnenswertes vorgefallen. Meine Tage gleiten monoton dahin wie die Perlmuttperlen des Rosenkranzes zwischen Tante Claras frommen, knotigen Fingern. Immer das gleiche, von Anfang bis Ende! Doch glücklicherweise trug sich gestern etwas Außergewöhnliches zu. Um bei dem Bild mit dem Rosenkranz zu bleiben, könnte ich sagen, daß es eine kleine Abwechslung von den ewigen Ave-Marias und Vaterunsern gab, und zwar in der Person von Mercedes Galindo, die uns endlich ihre Aufwartung machte. Ach, ich fand sie hinreißend, bildhübsch und ungeheuer sympathisch; ja, Onkel Pancho hatte völlig recht! Es war so gegen halb sechs, als sie sich zu Besuch meldete, und sie blieb etwa eine Stunde. Während dieser Stunde hüllte Großmama sich in würdevolle Distinguiertheit und gab sich höflich reserviert, aber ich erkannte sofort, daß die alten Zwistigkeiten noch nicht vergessen 125
waren. Weder ist Großmama Mercedes sonderlich zugetan, noch fühlt Mercedes sich bei Großmama wohl. Nach so vielen Jahren der Feindschaft fällt ihnen die Umstellung schwer, und ich fürchte, sie werden nie echte Freundinnen werden. Was mich betrifft, so sehe ich ein, daß ich mich die ganze Zeit wie eine Idiotin benommen habe. Das passiert mir immer. Die ehrlichste Art, meine Bewunderung für einen Menschen zum Ausdruck zu bringen, besteht darin, daß ich mich hinter der harten Schale meiner Schüchternheit verkrieche, die mich wie die frostigste Kälte betäubt und mir die Gliedmaßen absterben läßt. Gegen dieses Gefühl der Schüchternheit ist kein Kraut gewachsen, und da ich ja doch nichts dagegen tun kann, lasse ich mich widerstandslos von ihm beherrschen. Sich gegen die Schüchternheit aufzulehnen, ist einfach absurd. Das wurde mir gestern klar, und deshalb habe ich sehr wenig geredet, ja, ihre Nettigkeiten und die Beweise ihrer Zuneigung schürten meine unglückselige, stumme Verlegenheit vor lauter Glücksgefühlen noch weiter, und so fielen meine Antworten recht knapp und einsilbig aus. Da ich jedoch, wie Onkel Pancho sehr richtig sagt, alles in allem ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein meiner äußeren Vorzüge besitze, halte ich mein Verstummen weniger für entstellend als vielmehr für ein ästhetisches Accessoire, das der harmonischen Linienführung einen gewissen scheuen Reiz im klassischen Sinne verleiht. Ein dummer Satz, der von einem hübschen Kopf kommt, macht ihn häßlich und wirft einen unheilvollen Schatten auf den Charakter. Ähnliches gilt für die Bewegungen. Daher habe ich immer geglaubt, die besondere Wertschätzung der griechischen Schönheit sei vornehmlich der äußersten Verschwiegenheit und Unbeweglichkeit der Statuen zu verdanken, in der so viel Intelligenz zu liegen scheint, wenn wir ihre Schönheit heutzutage mit unseren einfältigen Augen bestaunen. Es gab also eine ganze Reihe von Gründen, warum ich während des gestrigen Besuchs beschloß, mir die Diskretion und das Geschick der griechischen
126
Statuen zum Vorbild zu nehmen, und ich bin mir sicher, daß ich einen sehr guten Eindruck auf Mercedes Galindo gemacht habe. Doch zurück zu ihrem Besuch: Als Mercedes’ Wagen vor der Haustür hielt, erwartete Großmama sie schon, wie üblich auf ihrem Sofa sitzend, und ich, die ich genau wußte und weiß, welche Bedeutung dieser Besuch für mein zukünftiges Leben haben wird, war furchtbar aufgeregt und hatte noch mehr Sorgfalt auf meine Kleidung und mehr Schmuck verwendet als sonst. Als ich hörte, wie der Wagen hielt und es kurz darauf an der Haustür klingelte, verließ ich, anstatt wie Großmama zu warten, bis Mercedes eintrat, fluchtartig den Raum, um mich im Halbdunkel des kleinen Nebenzimmers zu verbergen, von wo aus ich, ohne selbst gesehen zu werden, den ganzen Salon überblicken konnte. Einmal dort, beschloß ich, meinen Auftritt noch ein paar Minuten hinauszuzögern, um seine Wirkung zu steigern, und ließ mir, während ich im Dunkeln wartete, nicht das geringste Detail jener hochinteressanten Begegnung entgehen. In der Tat erhob Großmama sich majestätisch, kaum daß sie Mercedes durch die Tür eintreten sah, und ging ihr bis zur Mitte des Salons entgegen, wo sie ihren Gast unter dem Kronleuchter lächelnd erwartete, als sei nie etwas zwischen ihnen vorgefallen; mit einer Handbewegung löschte sie die Vergangenheit aus, als sie ihren Gast umarmte und mit einem galanten, eines Dichters würdigen Kompliment begrüßte:«Hübsch wie immer, Mercedes!» Großmama sprach die reine Wahrheit. Beim Anblick dieser anmutigen, strahlenden Erscheinung erstarrte ich regelrecht vor Bewunderung. Mercedes sah aus wie eine Königin. Ach, wie elegant sie wirkte! Sie trug ein schwarzes Samtkleid, sicher in einem guten Modehaus in Paris geschneidert, und als einzigen Schmuck ein Perlenkollier, das ihr fast den Hals einschnürte. An ihren sehr gepflegten schneeweißen Händen, die mir so schön vorkamen wie meine, bemerkte ich die frisch lackierten Nägel und einen einzigen Solitär. Ihre langen, schmalen Füße steckten in ganz bezaubernden Schuhen, ihren Kopf schmückte ein entzückendes, 127
leicht schräg sitzendes schwarzes Hütchen, das ihre klassischen Züge in ein raffiniertes Spiel von Licht und Schatten tauchte, und aus dem Halbdunkel unter diesem Hütchen hervor erklang im Gespräch mit Großmama eine der schönsten Stimmen mit argentinischem Einschlag, die mir je im Leben zu Ohren gekommen ist. Wie recht hatte Onkel Pancho doch, ja, wirklich, wie recht! Als ich schließlich aus dem dunklen Raum hervortrat, um Mercedes zu begrüßen, hatte ich mir einen wirkungsvollen Satz zurechtgelegt, mit dem ich ihr meine überschwengliche Bewunderung zum Ausdruck bringen wollte. Doch sobald sie mich mit ihren leuchtenden Augen voller verhaltener Neugier begutachtete und ich ihr edles Parfum roch, das einen zarten Blütenduft verströmte, befiel mich dieses lähmende Gefühl der Verlegenheit. Folglich brachte ich, nachdem sie mich mit ihrer gewinnenden Unbefangenheit zur Begrüßung umarmt hatte, nur mit Mühe ein paar knappe Höflichkeitsfloskeln hervor. Im Verlauf ihres Besuchs schien Mercedes sich kaum mit mir zu beschäftigen, sondern bewies bewundernswertes Geschick im Umgang mit Menschen, indem sie das Wort fast immer nur an Großmama richtete. So konnte ich sie still und in aller Ruhe beobachten, und dabei wurde mir sofort klar, daß ihre Schönheit von ihrem Charme noch übertroffen wurde, das heißt, sie beherrschte die Kunst, sich selbst zu inszenieren, bis zur Perfektion. Denn während sie sprach, untermalte alles - ihr Mund, ihre Augen, ihr Kopf, ihre Stimme, ihr Lächeln - den Sinn ihrer Worte, bereicherte ihn um tausend feine Nuancen. Mir fiel auch auf, daß sie von Zeit zu Zeit in ein sonores Lachen verfiel, das einem mindestens so angenehm in den Ohren klang, wie es anzusehen war. Außerdem streute sie regelmäßig französische Ausdrücke ein, was, wenngleich es ganz natürlich und akzentlos klang, völlig unnötig war, da alle diese Begriffe eine Entsprechung in unserer Sprache haben. Zum Beispiel redete sie ohne Not von«la nature»,«ma fourrure»,«clair de lune»und«la beauté physique»,46 doch da ihre 128
leuchtenden Augen und ihr bezauberndes Lächeln alles, was aus ihrem Mund kam, überstrahlten, empfand ich ihre Worte ausnahmslos als Ausdruck einer tieferen Weisheit. Erst nachdem Mercedes sich erhoben und bereits von Großmama verabschiedet hatte, wandte sie sich mir zu. Sie nahm mein Kinn in ihre wohlriechende Hand, zog mein Gesicht zu sich heran und küßte mich zweimal mit liebevoller Zärtlichkeit, als wäre ich ein kleines Mädchen. Dann sagte sie mit einem breiten Lächeln, ohne mein Kinn loszulassen:«Adieu, meine Hübsche! Ehrlich gesagt hatte ich, obwohl Pancho mir schon soviel von dir erzählt hat, nicht erwartet, daß du so hübsch bist. Ich dachte, er habe ein wenig zu dick aufgetragen, doch jetzt sehe ich, daß du seine Worte noch übertriffst.» (Oh! Wie wunderbar, wie herrlich, dergleichen aus dem Munde einer Person zu hören, die ganz unbestritten einen erlesenen Geschmack hat!) Statt einer Antwort lächelte ich nur beglückt, womit ich Mercedes zu verstehen geben wollte, daß ihr Besuch in meinen Augen mehr als ein Erfolg gewesen war. Sie verstand mich sogleich und erwiderte mein Lächeln ihrerseits mit einem zufriedenen Lachen, das nach Glocken und Kristall klang. Auf dem Weg hinaus hakte sie mich unter, und als wir allein waren, erzählte sie mir von ihrer alten Freundschaft mit allen Alonsos, von den schönen Momenten, die sie in Europa wie in Caracas gemeinsam verbracht hätten, küßte mich erneut zum Abschied und sagte mir, immer noch lächelnd, in verschwörerischem Ton:«Du weißt ja, mein Haus steht dir offen. Du kannst jederzeit kommen, ohne Voranmeldung, ganz formlos, wann immer du willst und in vollem Vertrauen. Ich habe eine Überraschung für dich: eine hübsche Miniatur von deinem Papa, als er zehn Jahre alt war.»Nach einem erneuten Lachen flüsterte sie mir leise ins Ohr:«Ich habe auch noch etwas anderes für dich!» Anstatt zu antworten, lief ich puterrot an und hauchte nur: «Danke... Vielen Dank...» 129
Nachdem sie mir vom Wagen aus noch einmal zugelächelt und gewinkt hatte und ihr schwarzes Hütchen schließlich in der Ferne entschwunden war, fielen mir tausenderlei passende und schlagfertige Antworten ein, doch leider war es da zu spät! Tante Clara hatte sich nicht dazu herabgelassen, Mercedes zu begrüßen. Angeblich mußte sie noch die Wäsche durchzählen, die Butter vom Frühstück mit Milch aufschlagen, ein Drittel des Rosenkranzes beten, Chispita füttern; wichtige Erledigungen also, die keinen Aufschub duldeten. Dann hatte sie noch angemerkt:«Und schon gar nicht, um eine so oberflächliche Person zu empfangen wie Mercedes Galindo, mit der man nichts anfangen kann, da sie bestimmt über nichts anderes reden wird als Kleider und sonstige Albernheiten. » Nachdem ich Mercedes nun selbst begegnet bin, ist mir klargeworden, daß Tante Clara die gleichen Vorstellungen hat wie die Nonnen vom Internat. Was die Nonnen«die Welt»nannten, bezeichnet Tante Clara als«oberflächliche Personen». Im Grunde genommen steckt dahinter das gleiche Credo, nur in unterschiedliche Worte gekleidet. Tante Clara verschanzt sich hinter ihrer Linie wie die Nonnen hinter der ihren und meidet den Kontakt mit dem Feind. Das ist ihr gutes Recht. Ich bin anders als sie und würde gern die Seiten wechseln, doch wie schon zu Schulzeiten wird es mir nicht erlaubt. Ich komme mir vor wie Treibgut, das auf den Wellen eines sanften Meeres mal nach rechts, mal nach links driftet. Doch um auf den gestrigen Vorfall zurückzukommen: Kaum war das Automobil mit Mercedes meinen Blicken entschwunden, kehrte ich zu Großmama in den Salon zurück, wo sich Tante Clara nach getaner Arbeit zu uns gesellte, um den heutigen Besuch zu erörtern. Es wurde lange geredet. Man konstatierte Mercedes’ unbestreitbare Schönheit, ihre Anmut und ihre guten Umgangsformen, und auch über ihr schweres Los wurde gesprochen. Es hieß, sie sei unglücklich verheiratet, ihr Gatte sei ein Lebemann und Spieler, der sie nun, nachdem er ihr gesamtes Vermögen 130
durchgebracht habe, sehr schlecht behandle. Am Ende rief Großmama aus:«Erst ihr Vater, dieser Schuft, und jetzt ihr Ehemann! Sie ist zu gut, und das bei der geringen Erziehung, die sie im Leben genossen hat!» Woraus ich folgerte, daß Großmama, wenn sie von Mercedes behauptete, sie sei«zu gut», diese in Wirklichkeit für alles andere als gut hielt. Ach, ich hingegen finde sie unvergleichlich, und in Ermangelung eines besseren Beweises meiner Zuneigung bete ich insgeheim für sie:«Gott segne und beschütze sie.» Im Laufe unserer Unterhaltung sagte Großmama jedesmal, wenn sie von ihr sprach,«dieses Mädchen», so als redete sie von mir, was ich absurd fand, denn immerhin ist Mercedes verheiratet und schon über Dreißig. Mir fiel auch auf, daß Großmama, wenn sie Mercedes’ Vater erwähnte, grundsätzlich und mit voller Absicht«dieser Schuft Galindo»sagte. Das tut sie sicherlich, um getreu das Andenken meines verstorbenen Großvaters Aguirre zu wahren. So verstand ich es jedenfalls, weshalb es in meinen Ohren immer feierlich und erhaben klang, so wie wohl in den Ohren aller stolzen Familienangehörigen. Doch trotz meiner guten Absichten ereignete sich schließlich ein kleiner Zwischenfall. Als ich nämlich merkte, daß die Unterhaltung, die sich ständig um«diesen Schuft Galindo»drehte, allmählich nicht nur langweilig, sondern auch immer hitziger wurde, beschloß ich, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Nach dem Ergebnis zu urteilen, muß ich allerdings zugeben, daß es ein Fehlschlag war. Generell werfe ich gern einmal eine schlagfertige Bemerkung ein, doch da ich noch nicht genug Erfahrung besitze, um mir selbst etwas Witziges einfallen zu lassen, beschränke ich mich darauf, geistreiche Sprüche zu wiederholen, die Papa gerne benutzte, zumindest die, die ich besonders originell fand, weshalb sie sich mir eingeprägt haben. Dank dieser Neigung ergriff ich, als Großmama zum zwanzigstenmal«dieser Schuft Galindo» sagte, in dem Glauben, ich könnte ihren Groll etwas dämpfen, die 131
Gelegenheit, in einem witzigen Einwurf das Negative mit dem Positiven zu verbinden, nämlich die Kränkung meines Großvaters durch seinen Feind mit meiner Bewunderung für Mercedes und ihren Charme. Und so rief ich spontan aus:«Zugegeben, es war nicht recht von diesem Señor Galindo, Großpapa derart zu schaden, aber dafür ist ihm Mercedes sehr gut gelungen!» Diese Äußerung, die das Witzige so trefflich mit dem Geist der Harmonie vereinte, hielt ich für sehr geistreich, doch mitnichten: Zu meinem großen Erstaunen lachte Großmama keineswegs, als sie meine Worte vernahm, sondern wandte sich brüsk zu mir um und wies mich so scharf zurecht wie nie zuvor:«Eine solche Ausdrucksweise gehört sich nicht für eine Señorita, María Eugenia, das ist vulgär!» «Was? Zu sagen: ‹Mercedes ist ihm sehr gut gelungen› ist vulgär? Also das finde ich nicht, ganz im Gegenteil...» «Doch, ausgesprochen vulgär, wie ich bereits sagte, und ich werde es nicht noch einmal wiederholen. » «Aber genau das hat Papa einmal in Paris über den Vater einer bildhübschen Schauspielerin gesagt, die an der ComédieFrançaise arbeitet, und da fand es niemand vulgär! Im Gegenteil, alle haben herzhaft gelacht.» «Oh! Wenn du dir jetzt noch angewöhnst, alles zu wiederholen, was Antonio sagte oder was Pancho so von sich gibt, ohne zu verstehen, was es bedeutet, wirst du einen hübschen Eindruck auf die Leute machen!» In meinem Stolz verletzt, erwiderte ich mit trotziger Arroganz:«Im allgemeinen kenne ich die Bedeutung der Worte, die ich benutze, sehr genau, denn glücklicherweise bin ich weder ein Papagei noch ein Phonograph!» Dennoch gab es mir ein wenig zu denken. Auf einmal kamen mir Zweifel, als sei besagter Satz mit zahlreichen rätselhaften Bedeutungen befrachtet, und ich betrachtete eine Weile schweigend Großmamas schlohweißes Haupt, das wie die Bundeslade den Schlüssel zu vielen Geheimnissen in sich barg, bis ich 132
schließlich diese Gedanken abschüttelte und mir sagte:«Bah, es ist wohl so, daß Großmama einfach nicht zugeben will, was offensichtlich ist, daß nämlich diesem ‹Schuft Galindo› einmal im Leben etwas Gutes gelungen ist; das ist alles!»
KAPITEL II In dem María Eugenia Alonso von beschaulichen Momenten erzählt, die sie im Hühnerhof ihres Hauses zubringt, und in dem endlich auch Gabriel Olmedo erscheint. Unsere Vorfahren, die Gründerväter der Stadt Caracas, haben entgegen dem ersten Anschein ein großes Talent bewiesen. Sie fanden eine Form, in der städtischen Gemeinschaft zu leben, ohne dafür auf den urwüchsigen bukolischen Zauber des Landlebens verzichten zu müssen. Zugegeben, sie bauten viel zu enge Straßen und belegten sie mit viel zu spitzen Schottersteinen; sie erdrückten die Häuser mit überhängenden Dächern und überfrachteten sie mit Gittern, doch als Ausgleich besaßen sie die Klugheit und den Weitblick, ein beachtliches Stück Land hinter jedem Haus zu belassen. Ach! Gewissenhaft waren sie und vorausschauend, die Gründer unser Stadt Caracas! Sicher ist es ihrer Empfindsamkeit und ihrer klugen Planung zu verdanken, daß ich als eine ihrer zahlreichen Nachfahren zum Träumen neige, mich gerne treiben lasse und mich der süßen Beschaulichkeit hingebe … Das ging mir gestern durch den Kopf, als ich die verschiedenen Grüntöne des Gebüschs im Hühnerhof betrachtete, träge auf einem riesigen, mit alten Etiketten in allen Formen und Farben beklebten Reisekoffer ausgestreckt, der meinem verstorbenen Onkel Enrique gehört hatte und der jetzt unter dem großen Bretterdach 133
gegenüber den dösenden Hühnern zwischen dem Bügelbrett und dem Korb mit sauberer Wäsche stand. Dort dämmert das arme alte Stück mitsamt all den abgerissenen Etiketten traurig vor sich hin, verzehrt sich in Nostalgie, derweil es wie ich der vergangenen abenteuerlichen Reisen durch ferne Länder gedenkt. Tatsächlich ist dieses durch vier Lehmmauern abgegrenzte Stückchen Land, das man gemeinhin als Hühnerhof bezeichnet, für mich die reine Wonne und auch der Ort, an dem ich träumen und meinen Gedanken nachhängen kann. Tante Clara sieht das anders und sagt fast täglich:«Der Hühnerhof ist nicht der passende Ort für eine Señorita, und die Hausangestellten sind kein angemessener Umgang.» Sie mag ja recht haben, doch mich kümmern Tante Claras diesbezügliche Predigten nicht. Ich liebe die Hühner; ich liebe es, wenn die Baumwipfel vom Nachbarhof neugierig über die Mauer lugen; ich liebe die saftig grünen, gekräuselten Blätter des Akazienbuschs; ich liebe die grellroten Cayennesträucher; ich liebe die großen, weiß befleckten Steine, auf denen die eingeseifte Wäsche in der Sonne ausgebreitet ist; ich liebe das Stückchen vom Ávila, das man in der Ferne über dem Laub und den Dächern sehen kann; ich liebe Onkel Eduardos nostalgischen Schrankkoffer; und ich liebe vor allem Gregoria, wenn sie mit mir schwatzt und dabei, ganz in ihrem Element, mit ihren schwarzen Fäusten die Wäscheinseln schrubbt, die hier und da aus dem immensen Trog wie aus einem Meer aus weißem Seifenschaum auftauchen. Gregoria kennt meine Neigung zur Besinnlichkeit, und weit entfernt davon, sie mir übelzunehmen wie Tante Clara, fördert Gregoria sie noch. Sobald ich den Hühnerhof betrete und mich auf dem Schrankkoffer ausstrecke, der manchmal als Chaiselongue herhalten muß, deckt sie meine Füße zu, damit ich nicht von den Mükken gestochen werde; sie schließt die Tür, damit ich keinen Zug bekomme; sie hängt ein großes weißes Laken auf die Leine, um meine Augen vor dem direkten Sonnenlicht zu schützen, und
134
meistens leiht sie mir einen weichen Stapel frischer, ungebügelter Wäsche als Kopfkissenersatz aus. Tante Clara haßt all diese Vertraulichkeiten mit Gregoria, und noch mehr haßt sie die Vertraulichkeit meines Kopfes mit der sauberen Wäsche. Doch Tante Claras antidemokratischen Gefühle lassen wiederum mich völlig kalt. Denn der Hühnerhof ist mit seiner unverkrampften Atmosphäre der einzige Ort, an dem ich Momente sanfter Beschaulichkeit und angenehmer Unterhaltung verbringen kann. Manchmal verharren wir auch in Schweigen, und dann betrachte ich, während Gregoria wäscht, die grotesken Muster, die die miteinander verwobenen Äste bilden; ich beobachte die aberwitzigen Formationen der vorbeiziehenden Wolken; ich betrachte in der Ferne über den Sträuchern und Dächern das unbegreifliche Mysterium des Ávila, bis ich mich nach und nach im süßen Labyrinth der Träume verliere... Ja, auf Onkel Enriques hartem Reisekoffer habe ich gelernt zu träumen wie Jakob auf seinem harten Stein!47 Manchmal plaudern wir auch. Ach, könnte ich dichten, hätte ich ganz sicher längst ein Lob auf die Seife geschrieben, die sich, geschickt von Gregorias emsigen Fingerknöcheln bearbeitet, in immer mehr Schaum und glitzernde Seifenblasen verwandelt. In meinen Augen gibt es nämlich kein schöneres Gedicht als das des Waschtrogs, welches diese alten, schon etwas steifen und zittrigen Hände so trefflich rezitieren. Ja, wie die geflügelten schwarzen Hände auf dem makellosen Weiß glänzen! Ab und zu erinnern sie an verliebte Schwalben, die schäkern und auf einem blauen Wolkenzipfel einander nachstellen...! Doch noch weit sprühender und glitzernder als der Seifenschaum sind die Worte, die unterdessen aus ihrem Mund sprudeln, in philosophischer Hinsicht auch fruchtbarer als der schneeweiße Schaum, der durch das ständige Klopfen und Schrubben wächst und wächst und wächst. Tante Clara wird das niemals verstehen, doch mir ist es schon seit langer Zeit klar: Gregoria ist die reine, einfache Weisheit. 135
Unter dem dicken Filz ihres wolligen Haares verbirgt sich wie durch ein Wunder der helle Funke eines überaus scharfen Verstandes. Obendrein besitzt Gregoria die Fähigkeit, diesen zum Ausdruck zu bringen, denn sie beherrscht meisterhaft die seltene Kunst der Konversation. Dabei ist sie so sparsam mit überflüssigen Worten wie reich an Ideen und sprechender Mimik. Gregorias Mimik kennt ungeahnte Feinheiten und Nuancen, die mit Worten nicht auszudrücken sind. Manchmal sind es Blicke, lang und rätselhaft wie die tiefsten Geheimnisse der Natur; andere Male ist es ein flüchtiges Aufblitzen in den Pupillen, wie der Hauch des Erstaunens vor großen Überraschungen; dann wieder ist es ein Augenzwinkern, ein plötzliches Senken der Lider, wie eine knappe Parenthese; ein abruptes Schweigen, wirkungsvoller als ein eloquenter Epilog; oder ein schallendes Gelächter, in dem, wie in Wagners Musik, alle Gefühle und Leidenschaften mitschwingen, die eine menschliche Seele erschüttern können. Aus Gründen der Zurückhaltung oder Diskretion bei gewissen heiklen Themen kann ein Satz, der verbal begann, in bloßer Mimik enden. Dann scheint Schweigen die Szene zu beherrschen; in dem verwaisten Trog knistert unmerklich der Seifenschaum, während die ausdrucksvollen Hände flink oder langsam vor dem Gesicht hin- und herfliegen und alle drei gemeinsam ein Wunderwerk des Ausdrucks vollbringen. Hat man die gesamte Farbpalette von Gregorias Redekunst erst einmal genießen dürfen, empfindet man wohlerzogene Personen wie Großmama und Tante Clara, wenn man sie dann reden hört, natürlich als fade und ausgesprochen glanzlos. Denn Gregoria beherrscht mit sicherem Geschmack alle Bewegungen und Gesten, die die gute Erziehung mangels intelligenter Interpreten so klug war zu verbieten und zu unterbinden. Auf diese Weise habe ich in meinen langen Gesprächen mit Gregoria zweierlei erfahren: einerseits, daß die menschliche Seele viele verborgene Seiten hat, zum andern alle Intima meiner Familie, die Großmama und Tante Clara sorgfältig vor mir verbergen, 136
weshalb sie mich um so brennender interessieren. Ja, von Gregoria habe ich viel erfahren. Zum Beispiel, daß Onkel Eduardo schon immer ein Egoist und dazu ein kleinlicher Ordnungsfanatiker war; daß er als Kind regelmäßig sein Spielzeug versteckte und mit dem von Onkel Enrique spielte, das heißt, als Kind machte er mit Onkel Enriques Spielsachen das gleiche wie jetzt im reifen Alter mit den drei Vierteln von San Nicolás, die mir gehören und die er sich ganz allein unter den Nagel gerissen hat. Von Gregoria weiß ich auch, daß Onkel Enrique sich nichts aus seinen Spielsachen machte, weshalb er sie Onkel Eduardo gerne überließ, denn er kletterte viel lieber auf Bäume, um fremde Leute auszuspionieren und Steine und unreife Früchte in die Nachbarhöfe zu werfen. Gregoria hat mir auch erzählt, daß mein Großvater Aguirre, eigentlich ein friedlicher Mensch, sich im Alter mit einer französischen Tänzerin vergnügte, was zur Folge hatte, daß Großmama sein Bett aus ihrem Schlafzimmer entfernen, durch das Eßzimmer hindurch bis zum hinteren Patio transportieren und hier aufstellen ließ, wo sich jetzt mein Zimmer befindet, und daß sie, solange dieser Ausnahmezustand galt, sich nie zu einer Antwort herabließ, wenn er sie rief oder eine Frage an sie richtete. Von Gregoria weiß ich, daß Onkel Enrique als Erwachsener nach seiner Heimkehr aus Europa sich in alle halbwegs adretten Dienstmädchen, die im Haus arbeiteten, verliebte, was dazu führte, daß Großmama fortan nur noch Frauen in Dienst nahm, deren Gesichter die Natur mit einer größtmöglichen Ansammlung von Fehlern und Unregelmäßigkeiten ausgestattet hatte. Von Gregoria weiß ich, daß María Antonia, Onkel Eduardos unsympathische Frau, von höchst obskurer, um nicht zu sagen schwarzer Herkunft ist und daß Onkel Pancho Alonso einmal, als er sich gerade für Ahnenforschung interessierte, in Null Komma nichts María Antonias Abstammung ergründet hatte, die sich als dermaßen verworren und undurchsichtig erwies, daß María Antonia Onkel Pancho seither als übelsten Verräter und Verleumder haßt. Von Gregoria weiß ich, daß Mama von sanftem, fröhlichem 137
Naturell war, wohingegen Tante Clara trotz des friedlichen Anscheins in Wirklichkeit sehr leidenschaftlich war, der Grund auch, warum ihr Leben schließlich so leidvoll und traurig verlaufen ist. Und nicht zuletzt weiß ich von Gregoria, daß Tante Clara sich als sehr junges Mädchen rettungslos in jenen jungen Mann verliebte, an den ich mich noch verschwommen erinnere, der mir Süßigkeiten schenkte und Gokkel, die er aus Papierschnitzeln bastelte, und daß plötzlich, nach langen Verlobungsjahren, herauskam, daß er einer anderen, viel Jüngeren und Hübscheren den Hof machte, bis nach einiger Zeit seine täglichen Besuche ausblieben und er eines Tages, nachdem Tante Clara unendlich viele bittere Tränen vergossen hatte, die andere ehelichte... «Seither», sage Gregoria, zog ihre schwarzen Hände aus dem weißen Schaum und wählte die sentimentalste aus dem Repertoire ihrer ausdrucksvollen Gesten,«seither war es aus mit der jungen Clara! Sie ging nie mehr aus, wandte sich der Kirche zu, wurde dünn und bleich; und bleich, wie sie jetzt ist, hat die Ärmste nichts mehr mit der früheren Clara gemein, sondern gleicht eher diesen Wachskerzen, die man auf den Gründonnerstagsprozessionen vor sich herträgt...!» Mit dieser Bemerkung schloß Gregoria einen ihrer langen Vorträge über Tante Clara gestern vormittag so gegen halb zwölf. Nun gut, ich habe viel für Metaphern und Symbole übrig und außerdem die Begabung, ein Thema wortreich und mit einer Eleganz auszuführen, die sich jeder dieser bewundernswerten Dichter, die man Symbolisten nennt, wünschen würde. Als Gregoria den Vergleich mit dem Wachs vorbrachte, wollte ich mir die Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen, mein Talent unter Beweis zu stellen; und so ging ich, während sie schweigend ihre Arbeit wiederaufnahm, ausführlich auf die Frage der psychologischen Affinitäten ein. Noch immer auf dem Koffer ausgestreckt, den Blick auf den fernen Berg gerichtet, widmete ich mich dem Thema, indem ich in sanftem, melancholischem Ton vor mich hin sagte:«Ja, arme Tante Clara, ja... Du bist wie eine Votivkerze, 138
deren idealistische Flamme allmählich dein Leben verzehrt; und dein Leben ist das beständige mystische Licht, das, von allen vergessen, im Schatten und in der stillen Einsamkeit der Altäre brennt. Nie hat dein Licht jemandem geleuchtet, und an dem Tag, an dem es erlischt, wirst du weder Dunkelheit noch fröstelnde Traurigkeit in deiner Umgebung hinterlassen, denn du warst nur ein lyrisches Feuer der Aufopferung und niemals wärmende, häusliche Glut, noch wirst du jemals Licht sein, um den Weg zu leuchten...» So oder ähnlich lauteten meine poetischen Betrachtungen, und ich hätte noch lange so fortfahren können, wäre nicht plötzlich brüsk die Tür zum Hühnerhof aufgestoßen worden und im Türrahmen, wie durch irgendeinen Zauber heraufbeschworen, Tante Claras Kopf erschienen, und zwar nicht etwa durchscheinend blaß wie Wachs, nein, vielmehr mit funkelnden Augen und äußerst erregt:«Hör mal, María Eugenia, wenn du dich, anstatt im Hühnerhof hinter verschlossener Tür mit deinem Kopf die Wäsche zu beschmutzen, die wir noch tragen wollen, dort aufhieltest, ‹wo du hingehörst›, bräuchte man nicht überall im Haus herumzuirren und laut nach dir zu rufen wie nach Chispita, wenn es ihr gerade einfällt, sich unter irgendeinem Möbelstück zu verkriechen. Seit mehr als einer halben Stunde suche ich das ganze Haus wie verrückt nach dir ab, ohne an deine unselige Vorliebe für den Hühnerhof zu denken. Du wirst am Telephon verlangt!» «Heureka!»rief ich aus, da dies der einzige, wenn auch etwas angeberische Ausruf ist, den Großmama mir noch gestattet.«Heureka, endlich. Wer mag es sein, was will man wohl von mir?» Mit einem Satz sprang ich auf, durchquerte in Windeseile Patios und Türen, bis ich endlich zum Telephon gelangte und die magischen Worte sprach:«Wer ist da?» Es war die tausendmal gelobte Mercedes Galindo, die anrief, um mich zum Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Onkel Pancho würde mein Begleiter oder chaperon sein, mich abholen 139
und wieder heimbringen, das war bereits abgemacht. Mercedes fügte noch hinzu:«... und ich möchte, daß du am Abend besonders hübsch aussiehst, das heißt, genauso hübsch wie neulich, denn hübscher kann man gar nicht sein.» Dieser Satz, der mir in seiner Wahrheit so zu strahlen schien wie die helle Mittagssonne, versetzte mich in unglaubliche Hochstimmung. Und da ich glücklicherweise durchs Telephon weder das betörende Parfum, das Mercedes benutzt, noch die prachtvolle Blässe ihrer Perlen, den zarten Schimmer ihres Samtkleides oder dieses bezaubernde Lächeln ihrer umwerfenden roten Lippen und weißen Zähne wahrnehmen konnte; da ich, wie gesagt, durchs Telephon nichts von all diesen Dingen sah, die mir, mehr noch als ihre Person, am Tag ihres Besuchs dieses unselige Gefühl der Verlegenheit eingeflößt hatten, gelang es mir, frei von jeglichen Hemmungen, galant auf ihre Freundlichkeit zu reagieren, indem ich sagte: Wenn sie dieser Ansicht sei, sähe ich mich dazu veranlaßt, mir ihr Haus so streng und karg vorzustellen wie ein Kloster, wo die Mönche, da sie nie in den Spiegel blicken, am Ende ihrer selbst vergessen. Das sagte ich zu Mercedes, womit ich in knappen Worten zum Ausdruck brachte, ihre Schönheit übertreffe meine um einiges, was man als Liebenswürdigkeit verstehen konnte, wenngleich es eine offenkundige Lüge war. Mercedes ist zwar durchaus hübsch, ja, Mercedes ist hinreißend, doch ich bin bei weitem hübscher als sie. Da besteht gar kein Zweifel: Ich bin größer, hellhäutiger, habe seidigeres Haar, einen hübscheren Mund und viel besser geformte Nägel. Was Mercedes mir bei weitem voraushat, ist diese Raffinesse, ja, dieser unvergleichliche Schick... Kein Wunder! Wo sie alles aus Paris bezieht... Ach, wenn ich nur Geld hätte...! Ach, hätte mich Onkel Eduardo bloß nicht um meinen Anteil an San Nicolás betrogen! Doch zurück zu unserem Telephonat: Nachdem wir uns gegenseitig mit allerlei liebenswürdigen Komplimenten geschmeichelt und uns schließlich aufs herzlichste verabschiedet hatten, war un140
ser Gespräch beendet. Ich eilte sogleich hierher, in mein Zimmer, drehte den Schlüssel zweimal herum, damit Tante Clara nicht überraschend hereinplatzen und mich erneut aus meinen Gedanken reißen konnte, und begann, als alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, in Ruhe nachzudenken. Als erstes öffnete ich den Spiegelschrank auf der rechten Seite, wo alle meine Kleider fein säuberlich aufgereiht hängen. Dann stand ich davor, die Hände in die Hüften gestemmt, eine Haltung, die, was Großmama auch sagen mag, in Augenblicken äußerster Unschlüssigkeit ungemein hilfreich ist, und ging sie der Reihe nach durch. Und während meine Augen von einem Kleid zum anderen glitten, murmelten meine Lippen gebetsmühlenartig:«Welches soll ich tragen? Welches soll ich tragen? Welches soll ich tragen?» Am Ende entschied ich mich für das Taftkleid. Nachdem dieses Problem erst einmal gelöst war, zog ich meinen Sessel ans Fenster, machte es mir möglichst bequem darauf und begann folgende Erwägungen anzustellen:«Bestimmt wird heute abend auch der über alles gepriesene Gabriel Olmedo zum Essen erscheinen. Ja, kein Zweifel, er wird kommen. Heute werden sie ihn mir vorstellen. Na schön. Man sollte Großmamas und Tante Claras drakonische Regeln hinsichtlich der Trauerkleidung nicht außer acht lassen: Ein fremder Gast kann einem Essen einen gewissen festlichen Anstrich verleihen, und wenn sie etwas davon merken: Himmel hilf! Zumindest würden sie mich herzlos nennen, was äußerst mißlich wäre, oder sie ließen mich gar nicht zu dem Essen gehen, was noch mißlicher wäre. Was also tun?» Und da in meinem Hinterkopf nie ein Mangel an Ideen herrscht, wie Konflikte gelöst werden können, beschloß ich, mir folgende Lüge zurechtzulegen: Ich würde sagen, Mercedes sei allein, mutterseelenallein, ihr Mann sei außer Haus, weshalb sie mich gebeten habe, ihr Gesellschaft zu leisten. Als ich dieses zweite, gravierende Problem, nämlich die anderen Gäste aus der Welt zu schaffen, bewältigt hatte, fühlte ich
141
mich so glücklich, wie ein General sich fühlen muß, nachdem er seinen Schlachtplan entworfen hat. An diesem Punkt will ich doch einmal kundtun, daß es wahrhaft an ein Wunder grenzt, wie schnell und tief diese Gewohnheit zu lügen in mir Wurzeln geschlagen hat. Seit ich bei Großmama lebe, lüge ich auf Schritt und Tritt; durch die ständige Übung hat sich meine Phantasie unglaublich entwickelt und es zu einer erstaunlichen Wendigkeit gebracht. Vor einiger Zeit habe ich noch nicht gelogen. Die Lüge war mir sogar verhaßt, wie einem alles verhaßt ist, dessen Nützlichkeit man nicht kennt. Inzwischen würde ich zwar nicht gerade behaupten, daß ich sie verehrte oder gar zu meiner Göttin erkoren hätte, die ich mir wie Glaube, Wissenschaft oder Vernunft als Marmorfigur mit einer in langen Falten herabfallenden Tunika und einem allegorischen Gegenstand in der Hand vorstelle. Nein, so schlimm ist es noch nicht, doch ich schätze die Lüge, weil ich finde, daß sie im Leben eine fügsame und versöhnliche Rolle spielt und es allemal wert ist, zumindest in Betracht gezogen zu werden. Die Wahrheit indessen, diese siegreiche und strahlende Gegenspielerin der Lüge, neigt trotz ihrer großen Strahlkraft und Schönheit wie ein allzu kräftiges Licht manchmal ein wenig zur Indiskretion und fällt häufig auf den, der sie äußert, wie eine Bombe aus Dynamit zurück. Es besteht zudem kein Zweifel, daß sie etwas Spielverderberisches hat, und manchmal kommt sie mir vor wie die Mutter der Schwarzmalerei und der Untätigkeit. Hingegen vermag die vielgeschmähte Lüge, ungeachtet des üblen Rufs, den sie weltweit genießt, den Geist durchaus zu beflügeln und als eine Art rechte Hand des Idealismus die Seele über die spröde Realität zu erheben, ähnlich wie ein Ballon, der unseren Leib über die Dürre der Wüste erhebt. Und wer in Knechtschaft lebt, dem schenkt sie ein süßes Lächeln und lockt ihn mit einem glitzernden Funken Unabhängigkeit. Ja, die Lüge nimmt sich der Rechtlosen an und versöhnt ganz unauffällig die Tyrannei mit der Freiheit. Wäre ich ein Künstler, hätte ich sie 142
längst als die Schwester des Friedens dargestellt, in der Gestalt einer schneeweißen Taube, die als Zeichen der Freiheit die Flügel ausbreitet und einen Olivenzweig im Schnabel trägt. Ich weiß sehr wohl, daß ich solche Gedanken nicht aussprechen, sondern allenfalls aufschreiben darf. Fiele mir etwa ein, sie vor Großmama zu äußern, würde sie sich sofort beide Ohren zuhalten und mir rigoros ins Wort fallen:«Mein Gott! Welch ein Unsinn! Was für ungehörige Einfälle!» Denn Großmama hat, wie die meisten Menschen, die arme Moral in Ketten gelegt und zu einer erschreckenden Rückständigkeit verurteilt. Ich nicht. Ich finde nämlich, daß die Moral sich durchaus ab und zu verändern darf, ähnlich wie die Form der Ärmel, die Hüte oder die Länge der Kleider. Ständig nur das gleiche? O nein, nein, das wäre ja entsetzlich monoton und ein schlagender Beweis für das, was ich schon immer gesagt habe:«Der Menschheit mangelt es an Phantasie!» Ich muß allerdings zugeben, daß mein alltägliches Verständnis von Moral sich meinen theoretischen Ansichten hinsichtlich der Lüge in der Praxis noch nicht vollständig angepaßt hat. Das habe ich zum Beispiel gestern an den quälenden Gewissensbissen gemerkt - das Gewissen ist, wie ich glaube, der aufmerksame Torhüter, der über unsere Moralvorstellungen wacht und uns jeweils ihre Siege oder Niederlagen verkündet. Bevor ich mich gestern zu dem Abendessen aufmachte, präsentierte ich mich Großmama in meinem Taftkleid. Sie lächelte, als sie mich sah, mit ihrem so vertrauten geheimnisvollen MonaLisa-Lächeln... Dahinter verbirgt sich ihr mütterlicher Stolz, und das schmeichelt mir und macht mich glücklich, denn ihr Schweigen ist mindestens so beredt wie ein Blick in den Spiegel... Als Großmama mich also kommen sah, hielt sie sich ihre Schildpattlorgnette vor die Augen und sagte mit einem noch breiteren Lächeln:«So fein herausgeputzt für ein Abendessen nur mit Mercedes! Mein Gott, wie prahlerisch!»
143
Bei ihren Worten dachte ich:«Großmama findet mich hinreißend und will es nur nicht zugeben, damit ich mir nicht zuviel einbilde.»Doch gleichzeitig plagten mich angesichts ihrer Gutgläubigkeit schreckliche Gewissensbisse. So heftig waren sie, daß ich nah daran war, zerknirscht auszurufen:«Glaub ja nicht, was ich dir gesagt habe, liebe Großmama! Auch wenn du mich dann herzlos nennst, weißt du doch, daß ich in Gesellschaft einer ganzen Schar von Leuten speisen werde, wenn Mercedes beschlossen hat, diese einzuladen. » Doch da die Lüge weder Fahnenflüchtige noch Feiglinge in ihren Reihen duldet, blieb mir nichts andres übrig, als mich innerlich wie ein heldenhafter Soldat anzufeuern:«Vorwärts, nur vorwärts!»Und dann sagte ich:«Ich gebe viel auf Mercedes’ Meinung, Großmama. Für mich ist eine einzige Person mit gutem Geschmack mehr wert als eine ganze Horde von Leuten, die sich nicht zu kleiden wissen.» In Wirklichkeit gab es gestern beim Abendessen weder Heerscharen noch Horden. Es fand mir zu Ehren statt, und wie geplant nahm aus Rücksicht auf meine Trauer neben Onkel Pancho, Mercedes und ihrem Ehemann nur noch der vielgepriesene Gabriel Olmedo teil. Offen gesagt finde ich, daß Onkel Panchos Beschreibung reichlich übertrieben war, denn als Gabriel gestern abend den Salon betrat, war ich ehrlich enttäuscht, falls man im Zusammenhang mit Menschen, die einem herzlich gleichgültig sind, überhaupt von«Enttäuschung»reden kann. Zunächst einmal hat er kohlrabenschwarzes Haar und ebensolche Augen, was mich zutiefst abstößt; dann sind seine Beine im Verhältnis zum Oberkörper zu lang, seine Schuhe zu kurz und, was ich fast vergessen hätte, seine Fußfesseln nicht gerade schlank. Wenn man es recht bedenkt, trotz allem gar nicht so übel für jemanden, der Schwarzhaarige mag. Was mich betrifft, sehe ich pechschwarzes Haar lieber auf Katzenrücken; bei Männern ist es mir zuwider. Alles in allem hat Gabriel Olmedo mit seinem parfümierten rabenschwarzen Haar also gestern einen eher schlechten Eindruck 144
auf mich gemacht. Charakterlich gesehen fand ich ihn reichlich aufgeblasen. Mercedes muß ihm bereits von ihren Plänen erzählt haben, denn wenn er sich auch ausgesprochen höflich und korrekt gab, spielte er sich manchmal auf, als wäre er ein an seinem Junggesellenleben hängender Monarch, dem seine Regierung eine Braut sucht. Zum Glück und zu meiner Freude weiß ich, daß ich eine hundertmal bessere Figur gemacht habe als er. Lag es an Mercedes’ Nettigkeiten und ihrem ausgesprochenen Feingefühl? An dem wohlriechenden Cocktail und den anschließenden Gläsern Champagner...? An den zahllosen Spiegeln, die mir ständig meine angenehme Erscheinung vor Augen führten…? Ich weiß es nicht, jedenfalls hatte ich gestern abend das herrliche Gefühl, wichtig zu sein, so daß ich mich ohne jeden Anflug von Schüchternheit mit mir und den anderen im reinen fühlte. Wenn ich heute daran denke, merke ich, daß dieses Gefühl, wichtig zu sein, seit gestern schon erheblich verblaßt ist. Das bestärkt mich in meiner Annahme, daß es an dem Cocktail und dem Champagner gelegen haben muß. Der Alkohol ist mir wohl zu Kopf gestiegen und hat das Thermometer meiner Eitelkeit um mehrere Grade in die Höhe getrieben. Überhaupt scheint dieses Thermometer, wie ich beobachtet habe, hochempfindlich zu sein, denn in letzter Zeit neigt es sehr zu Schwankungen. Gott sei Dank half es mir jedenfalls gestern, Gabriel Olmedo und seinen pechschwarzen Augen die kalte Schulter und den ganzen Vorrat an Geringschätzung, den meine Seele für diese Sorte von Aufschneidern bereithält, zu zeigen. Das Haus von Mercedes ist ausgesprochen elegant und der Tisch bei ihr immer fürstlich gedeckt. Überall stehen Gegenstände aus feinstem Silber, aus Meißner oder Sèvresporzellan48 herum; die Wände sind mit Spiegeln, Teppichen und sehr geschmackvollen Bildern geschmückt, und die im ganzen Haus verteilten Pflanzen in echten chinesischen Vasen lassen alles sehr hell und freundlich wirken. Und dann besitzt Mercedes noch ein 145
zauberhaftes orientalisches Boudoir... Ein wahrer Traum ist der niedrige Diwan mit einer großen viereckigen Liegefläche voller dunkler Kissen in allen Formen und Farben, samtweich und warm wie ein Kuß! Was würde ich darum geben, etwas Vergleichbares mein eigen zu nennen, um darin zu versinken, mich für ganze Tage dort zu verkriechen und bergeweise Bücher zu verschlingen, umgeben von einer türkischen Wasserpfeife, einem Leopardenfell und einer in Japan geschnitzten Elfenbeintruhe! «Das ist alles, was uns nach dem Schiffbruch geblieben ist!»sagte Mercedes, als sie mich durch ihr Haus führte, wobei sie bei dem Wort«Schiffbruch»ein strahlendes Lächeln zeigte, wohl in Gedanken an die Zeiten, als sie noch reich gewesen waren, in den besten Kreisen verkehrt und fürstlich in ihrem eigenen Pariser Hotel residiert hatten. Doch die Verschwendungssucht und einige Fehlkalkulationen ihres Gatten hatten sie fast um ihr gesamtes Vermögen gebracht, was Mercedes nun als ihren«Schiffbruch»bezeichnete. Ihr Mann, Alberto Palacios, wirkt wie Mercedes sehr sympathisch, weltgewandt und umgänglich. Mir ist allerdings nicht entgangen, daß er, obwohl er sich im allgemeinen galant und liebenswürdig gab, manchmal doch in sehr barschem Ton mit ihr sprach, so daß ich insgeheim dachte:«Großmama und Tante Clara liegen wohl gar nicht so falsch, wenn sie behaupten, er behandle sie schlecht. Aber wie kann man mit einem so bezaubernden und überaus entzückenden Geschöpf nur derart unwirsch umgehen?» Im großen und ganzen habe ich einen reizenden Abend verbracht. Leider weiß ich nur nicht, ob und wann ich dergleichen noch einmal erleben werde. Wenn es nach mir ginge, jeden Tag. Ja... Und wie vergnüglich es im Haus von Alberto und Mercedes zugeht! So als hätten sie nicht nur all die Bilder, Teppiche und das kostbare Porzellan mitgebracht, um ihr Haus damit zu schmücken, sondern auch diese wundervolle Lebensart herübergerettet, wie ich sie nur allzu kurz während meiner Pariser Zeit genießen durfte. 146
Ach, ein interessantes Detail habe ich vergessen: Als wir schon im Aufbruch begriffen waren - Mercedes war kurz verschwunden, um mir das versprochene Porträt zu holen -, hatte Onkel Pancho sich Gabriel Olmedo genähert, der in einiger Entfernung von mir an der Wohnungstür stand, und ihm leise zugeraunt:«Na, Gabriel, was hältst du von meiner Nichte?» «Deine Nichte, Pancho», hatte dieser ebenso leise erwidert,«ist wie die paradiesische Versuchung in der göttlichen Gestalt eines vollendeten griechischen Körpers. Ich hoffe bloß, daß ich dieser Versuchung nicht erliege und die Sünde begehe, mich in sie zu verlieben. Meine Freiheit, Pancho, will ich nicht einmal deiner allerliebsten kleinen Nichte zu ihren bezaubernden Füßen legen. Am besten, du schaffst sie fort, so rasch wie möglich, tu mir den Gefallen, verbirg sie vor meinen Augen, denn wer ist schon so klug und weise, solchen Verlockungen zu widerstehen.» Mir entging keines ihrer Worte, obwohl ich so tat, als wäre ich ganz in die Betrachtung eines Ölgemäldes versunken, einer Greuze-Kopie49, die ein Mädchen mit einem kleinen Hund im Arm zeigt. Diese zufällig aufgeschnappten Worte sind mit daran schuld, daß mir an Gabriel Olmedo nicht nur das dunkle Haar und der zu kurze Oberkörper mißfällt, sondern ich ihn auch für einen arroganten und selbstherrlichen Menschen halte, der seine«Freiheit»so wichtig nimmt, als ginge es um ein Volk oder eine Nation. Seine Tugenden scheinen sich auf seinen nicht allzu schlechten Geschmack und ein einigermaßen gutes Urteilsvermögen zu beschränken. Nachdem Onkel Pancho mich heimbegleitet und ich mich von ihm verabschiedet hatte, stand ich hier in der dunklen Stille des Hauses, in dem alle schon schliefen, und zog den nur eben für den Heimweg übergestreiften Mantel aus. Als ich unter dem Fresko im Eingangsflur, zwischen Palmen und Rosenstöcken auf eines der Blumentischchen gestützt, einen Blick in den Spiegel warf, fühlte ich mich von der unendlichen Friedlichkeit des 147
Himmels erfüllt. Ich schaute zum Mond und zu den Sternen hinauf und spürte auf einmal den unbändigen Drang, mich in himmlische Höhen aufzuschwingen und wie eine Brieftaube weit fortzufliegen, egal, wohin. Immer noch mit erhobenem Blick dachte ich daran, welch ein Glück es bedeuten muß, Flügel zu haben und fliegen zu können, daran, was Gabriel Olmedo über die Freiheit gesagt hatte, und während ich über Flügel und herrliche Freiheit nachsann, murmelte ich, ohne mir richtig bewußt zu werden, was ich tat, halb verwirrt, halb sehnsüchtig:«Seine Freiheit...! Seine Freiheit...! Ach, wenn er glaubt, daß ich auf meine nichts halte... Doch, sie ist mir wichtig. Sogar sehr wichtig..., so sehr, daß ich Onkel Pancho, wenn ich ihn das nächste Mal treffe, sagen werde: ‹Onkel Pancho, einem Mann mit dicken Fesseln würde ich meine Freiheit niemals zu Füßen legen! Denn du mußt wissen, ich hasse dicke Fesseln, und pechschwarzes Haar finde ich abstoßend, so abstoßend, wie mir meine Freiheit lieb ist.›» Nachdem ich mir das zwischen den Rosenstökken im Patio unter dem endlosen Himmel fest vorgenommen hatte, beschloß ich, endlich schlafen zu gehen, zumal es gestern nacht recht frisch und mein Kleid aus persischem Taft mit dem weiten Halsausschnitt zu dünn war, um sich darin lange im Freien aufzuhalten. Heute morgen habe ich mir noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen... Inzwischen denke ich: Wenn ich Onkel Pancho bei seinem nächsten Besuch diesen Vortrag über meine Freiheit hielte, würde er sich totlachen und mir unter lautem Gelächter sagen:«Arme María Eugenia! Deine Freiheit existiert nicht! Weder jetzt noch früher, und auch in der Zukunft nicht! Deine Freiheit ist eine Illusion, eine der zahlreichen Wunschvorstellungen, der Hirngespinste, die sich in deinem Kopf tummeln. Daher würde ich dir raten, dich lieber nicht weiter damit zu brüsten.» Selbstverständlich würde ich eine solche Dreistigkeit nicht hinnehmen und aufgebracht kontern:«Du irrst dich, Onkel Pancho, du irrst dich gewaltig! Die Freiheit ist mir für die Zukunft so sicher, wie heute die Sonne scheint! Sag mir, wer soll mir, sobald 148
ich einundzwanzig werde, denn verbieten, dieses Haus zu verlassen, wann immer mir danach ist, und etwa nach Paris, Madrid oder New York zu gehen, um dort als Tänzerin, Chansonnette oder Filmschauspielerin aufzutreten …?» Sollte Großmama anwesend sein, würde sie auf der Stelle ihr Nähzeug, oder was sie sonst in Händen hielte, fallen lassen, die Brille abnehmen und entsetzt ausrufen:«Um Himmels willen, María Eugenia, red nicht so! Das solltest du nicht einmal im Spaß sagen!» Und Tante Clara würde ihrerseits einwenden:«Auf solche Ideen kommst du nur durch die vielen Gespräche mit Gregoria und diese ungehörigen Bücher, die du offenbar verschlingst, wenn du dich in dein Zimmer einschließt!» Sicherlich würden Tante Clara und Großmama mißtrauisch werden und an einem Vormittag, während ich auf Onkel Enriques Koffer vor mich hin träume, in meinem Zimmer herumschnüffeln, die«ungehörigen»Romane in meinem Spiegelschrank mit dem doppelten Boden entdecken, und es würde einen fürchterlichen Krach geben. Aus diesem Grund halte ich es für klüger, meine Freiheit vor Onkel Pancho nicht zu erwähnen. Aus dem gleichen Grund habe ich mich heute auch schon von früh an in mein Zimmer eingeschlossen und schreibe..., schreibe..., schreibe...! Ach, Tante Clara, darauf würdest du nie kommen! Ich lese nicht, wenn ich mich in meinem Zimmer vergrabe, nein; ich schreibe alles nieder, was mir gerade in den Sinn kommt, denn das weiße, leuchtende Papier behält alles brav für sich, was ich ihm anvertraue; es ereifert sich nicht, macht mir keine Vorhaltungen und hält sich auch nicht mit beiden Händen die Ohren zu...! Ja, heute schreibe ich, und beim Schreiben kann ich durch die Fensterläden sehen, wie es draußen regnet. Denn seit dem frühen Morgen gießt es unentwegt. Etwa um diese Zeit muß Tante Clara mich gestern ans Telephon gerufen haben. Wie rasch die Stunden verrinnen! Ich sitze hier am Schreibtisch, blicke auf die Uhr, sehe 149
den Regen auf die glänzenden Blätter des Orangenbaums tropfen und denke dabei, wie rasch die Zeit vergeht. Und irgendwie, ich weiß nicht warum, kommt mir Großmamas Haus größer, stiller und langweiliger vor denn je …
KAPITEL III In dem erzählt wird, wie ein zerstreuter Blick einen schrecklichen Sturm entfesseln kann, der wiederum große Ereignisse nach sich zieht. «Schieb den Stuhl näher heran, María Eugenia, komm, denn deine Augen mögen noch so gut sein, aus dieser Entfernung kannst du die Fäden ja gar nicht unterscheiden …!» Das sagte Großmama gestern ungeduldig und ließ die schwere Tischdecke mit Lochstickerei in den Schoß sinken, an der sie zur Zeit arbeitet. Dann, während sie sich erneut der Arbeit zuwandte, fing sie wieder an, mir zu erklären:«Schau: Man nimmt zwei Fäden auf, läßt die nächsten zwei liegen und nimmt die nächsten beiden wieder auf. Anschließend steckt man die Nadel nach rechts durch, nimmt die zwei zurückgelassenen Fäden auf, wobei man achtgeben muß, daß sich das Garn nicht verknotet. Dann beginnt man wieder von vorne … Siehst du, es ist kinderleicht …!» Doch da von all den Dingen, die der Mensch zuwege bringt, für mich die Handarbeit zu denen zählt, die mich am wenigsten interessieren, hatte ich das Prinzip von Großmamas Hohlsaum immer noch nicht verstanden, wenngleich ich ihr bereits seit einer Viertelstunde dabei zusah, wie sie besagte Regeln von der Theorie in die Praxis umsetzte. Großmama besteht darauf, daß eine«ehrbare Hausfrau»unter anderem die Kunst des Stickens in ihren verschiedenen Phasen und Varianten beherrschen sollte. Auf meine Ignoranz in Fragen 150
der Handarbeit schiebt Großmama«diese Unart, sich immer auf Tische zu setzen, und diese für eine echte Señorita völlig ungehörige Angewohnheit, den Lippenstift viel zu dick aufzutragen», meine Trägheit, meine endlosen Unterhaltungen mit Gregoria, meine Manie,«alle Bücher, die ihr in die Hände fallen», zu lesen; alles Verhaltensweisen, die sie für überaus tadelnswert hält. Großmama belehrt mich ständig:«Handarbeit ist hochinteressant und vergnüglich, ja, sie kann geradezu süchtig machen. Sie ist ein angenehmer Zeitvertreib, und obendrein tut man noch etwas Nützliches. Das Wichtigste ist, daß man arbeitet! Denn Müßiggang ist die Mutter aller Übel. Und wenn Untätigkeit beim Mann nur abstoßend ist, so ist sie für die Frau geradezu gefährlich.» Anscheinend habe ich wenig Erfahrung (was angesichts meiner Intelligenz bedeutungslos ist). Trotzdem ist mir aufgefallen, daß die wirksamste Methode, andere in ihren Überzeugungen zu bestärken, darin besteht, diese anzuzweifeln, zu widerlegen oder zu verurteilen. In der Absicht, den apostolischen Eifer, mit dem Großmama mich zu ihrem Glauben an den Wert der Handarbeit zu bekehren versucht, ein wenig zu dämpfen, beschloß ich gestern, mich dieser Kunst voll und ganz zu widmen. Ich war der festen Überzeugung, daß ich mich so für alle Zukunft von ihr befreien würde. Similia similibus curantur 50lautet, wie man hört, der Grundsatz der Homöopathie, und in meinen Augen war jetzt für mich der Moment gekommen, diesen Spruch zu beherzigen. Nur deshalb schob ich gestern also einen Stuhl heran und nahm neben Großmama Platz, und während ich ein Ende des uns weiß umwogenden Stoffes der werdenden Tischdecke auf meine Knie zog, ließ ich mich in diese Kunst einweisen, die laut Großmama das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet und den, der sie beherrscht, mit einer Fülle von Tugenden belohnt. Doch während sie sagte:«Man nimmt zwei Fäden auf, überspringt zwei, nimmt die nächsten beiden wieder auf und führt die Nadel dann zu den beiden Fäden zurück, die man übergangen hat, immer darauf be151
dacht, daß das Garn sich nicht verknotet...», sah ich nur mechanisch zu, wie sich die Fäden unter der geschickten Nadelführung kreuzten und verknüpften, und dachte an etwas anderes. Zugegeben, es war nicht recht von mir. Aber wer ist schon immer Herr über seine Gedankenwelt? In einem unglückseligen Augenblick scheint die Konzentration auf die sich ständig kreuzenden und verschränkenden Fäden meinen Gedankenfluß zu sehr gestört zu haben, weshalb ich den Blick unwillkürlich abschweifen und auf dem ruhigen Pol einer Mosaikverzierung verweilen ließ. Eine unterbewußte Nachlässigkeit von mir, oder mein nachlässiges Unterbewußtsein …! Jedenfalls traf mich just in dem Moment Großmamas forschender Blick, und schon stand Troja in Flammen! «Du bist ja gar nicht bei der Sache, María Eugenia! Du paßt überhaupt nicht auf. Was für eine Respektlosigkeit! Ich habe es satt, dir lang und breit zu erklären, was man unter normalen Umständen von einmaligem Zusehen lernt! Du hältst es wohl für eine Gnade, nichts vom Nähen zu verstehen, und für unter deiner Würde, wenn du mal anstatt eines Buches eine Nadel in der Hand halten sollst. Jedenfalls werde ich nicht länger versuchen, es dir beizubringen; mach, daß du fortkommst, geh deine Romane lesen, und genieße das Nichtstun, auf diese Weise wirst du es sehr weit bringen!» Diese plötzliche Schelte, die mich jäh aus meinen fernen Gedanken riß, wirkte auf mich wie ein Wecker, der mitten in der Nacht losschrillt. Sie traf mich völlig unvorbereitet. Angesichts des Offensichtlichen gab es auch keine Entschuldigung. So sah ich es jedenfalls, weshalb ich mich darauf beschränkte, ihrem letzten Vorwurf rasch entgegenzuhalten:«Großmama, Lesen dient nicht dem Müßiggang. Lesen bildet und ist äußerst lehrreich, und ich halte es für gewinnbringender und sehr viel unterhaltsamer als Nähen und Sticken, wo man immer nur das gleiche wiederholt, als kreise man um ein Mühlrad.»
152
Herrje, du lieber Himmel! Welch ungehöriger und völlig mißlungener Einwand! Man hätte es für«den Tropfen»halten können,«der das Faß zum Überlaufen bringt», wäre das alte Sprichwort in diesem Fall nicht noch zu harmlos. Passender wäre es, von der sorglosen Hand zu sprechen, die unbedacht den Korken aus der Champagnerflasche zieht, nachdem man diese vorher noch ordentlich durchgeschüttelt hat. Denn offensichtlich hatte sich bei Großmama seit gut eineinhalb Monaten eine maßlose Unzufriedenheit über mein ungehöriges Verhalten angestaut wie die Kohlensäure in der Flasche. Ich hatte nichts davon bemerkt, bekam die Folgen jedoch nach meiner doppelten Unachtsamkeit zu spüren. Erstens hatte ich mich nicht auf die Tischdecke konzentriert und den Blick auf das Mosaik gerichtet, und zweitens hatte ich mich erdreistet, die Handarbeit unverhohlen zu verunglimpfen und in aller Unverfrorenheit das demütigende Bild mit dem Mühlrad zu bemühen, bei dem man doch nicht viel Phantasie braucht, um sogleich den Esel zu assoziieren. Jetzt platzte Großmama der Kragen, und ihr seit langem angestauter Ärger entlud sich wie ein explodierender Champagnerkorken mit einem lauten Knall. Kaum hatte ich das kühne Bild mit dem Mühlrad angeführt, ließ Großmama, an einer ihrer empfindlichsten Stellen getroffen, die Nadel sinken, nahm die Brille ab und wetterte, rot angelaufen, mit funkelnden Augen und gerunzelter Stirn, in ungeahnter Heftigkeit:«Ich kenne dich kaum wieder, María Eugenia! Du bist nicht mehr das Mädchen, das vor vier Monaten hier angekommen ist. Früher hattest du Respekt, warst folgsam, hast immer auf meinen Rat gehört und mich geachtet; doch inzwischen hältst dich wohl für etwas Besseres und meine Ansichten, auch wenn du es nicht zugibst, für altmodisch und albern! Du hast keine Lust, dich länger als nötig hier aufzuhalten, und kannst es kaum erwarten, bis es endlich fünf wird und du zu Mercedes Galindo flüchten darfst, wenn du nicht schon um vier auf und davon bist! Dort haben sie dich offensichtlich völlig umgekrempelt...! Du bist 153
nicht mehr die alte, nein; diese Bücher und der schlechte Umgang verderben dich und rauben dir all deine Tugenden! Deine Familie, die Familie deiner Mutter, existiert für dich gar nicht mehr. Du bist nur noch an diesen fremden Leuten interessiert! Ich habe auch immer noch nicht bewirken können, daß du dich mit deiner Kusine anfreundest, mit Eduardos Tochter; ich weiß, du machst dich über sie lustig. Clara sagt, du habest dir sogar einen Spottnamen für sie ausgedacht. Wie anders warst du vor vier Monaten, als du frisch aus Europa hierherkamst. Ich habe dich immer als Vorbild hingestellt, denn du warst bescheiden und liebenswürdig und trotz deiner Bildung unverdorben. Aber all das ist dir abhanden gekommen! Ja, die ganze Atmosphäre, die bei Mercedes herrscht, hat dich völlig verändert; jeden Tag beklage ich aufs neue, daß ich mich wieder mit ihr eingelassen habe! Wir Aguirres sind dort verhaßt, und diese Abneigung hat auf dich abgefärbt! Nichts, aber auch gar nichts Gutes wird dir diese Freundschaft einbringen, die ich aus tiefstem Herzen mißbillige...! Und was diesen Gabriel Olmedo betrifft, diesen Hanswurst, diesen Aufschneider, diesen Niemand, mit dem sie dich zusammenbringen wollen und den du schon für wer weiß was hältst, der ist das größte Übel: Übel sind seine Gesinnung, seine Großspurigkeit und seine Absichten. Er wird dich niemals zur Frau nehmen, ganz sicher nicht; der ist keiner, der heiratet, egal, wen, am allerwenigsten eine, die so bettelarm ist wie du... Bestenfalls wird er sich eine Weile mit dir vergnügen und dich anschließend zum Gespött machen. Du wirst schon sehen!» Wenn meine Bemerkung über das Mühlrad schon ungehörig gewesen war, so trafen Großmamas letzte Äußerungen mich geradezu wie ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Warum mich die Worte«am allerwenigsten eine Frau, die so bettelarm ist wie du»so dermaßen aufbrachten, weiß der Himmel. Ich weiß nur, daß meine Lippen zitterten, als Großmama mit ihrer Standpauke fertig war, und meine Hände sich eiskalt anfühlten. Die unzähligen Worte und Bilder, die mir durch den Kopf jagten, brannten 154
mir alle gleichzeitig auf der Zunge, so daß ich wie erstarrt war, unschlüssig, mit welchem ich anfangen sollte. Schließlich stieß ich mit zitternder Stimme, stockend und in wirren Worten folgende Aufrechnung hervor, eine Ungezogenheit im übrigen, mit der ich nur bewies, daß ich die vorausgegangene Zurechtweisung mehr als verdient hatte:«Ja, Großmama, ich bin in der Tat sehr arm, bitterarm, aber wenigstens bin ich kein Pirat, Wegelagerer oder Halsabschneider und schon gar kein Dieb wie so manch anderer; nein, im Gegenteil: Ich bin es, die ausgeraubt wurde! Das ist der Grund, warum ich nichts mehr besitze! Und wenn es ein ‹Verbrechen› ist, daß ich abends zu Mercedes gehe, dann nur, weil ich mich dort amüsiere, während ich mich hier zu Tode langweile! Und das ist sowenig ihre Schuld wie meine...! Mercedes erwähnt die Aguirres nie, weder im Guten noch im Bösen; und meiner schwachsinnigen Kusine habe ich nie einen Namen gegeben, einfach weil ich finde, daß die acht Namen für die vier Geschwister genügen, um sie ein Leben lang der Lächerlichkeit preiszugeben, ohne daß man noch einen hinzufügen müßte. Ja, ganz recht, Großmama. Aber wenn du unbedingt die Wahrheit hören willst: Ich glaube, daß alle vier samt der gräßlichen María Antonia und ihrem Anführer, Onkel Eduardo, in völliger Bedeutungslosigkeit vor sich hin dümpeln wie Enten im Teich! Obendrein sind sie vom Neid zerfressen, ja, und deswegen bin ich ihnen verhaßt, aus purem Neid! Sie hetzen dich gegen mich auf, damit du mir die Besuche bei Mercedes verbietest. Mein Gott, denkst du etwa, ich hätte neulich abend nicht gehört, wie Onkel Eduardo zu dir sagte...»- an dieser Stelle zog ich in Anspielung auf Onkel Eduardo eine scheußliche Grimasse und imitierte mit näselnder Stimme -:«‹Diese Freundschaft tut ihr nicht gut.›... Glaubst du etwa, das hätte ich nicht gehört? Ich habe es sehr wohl mitbekommen! Neidhammel! Trottel! Schwachköpfe! Idioten! Jedenfalls verachte ich sie, Großmama, hörst du? Ich verachte sie allesamt, in meinen Augen sind sie winzig klein, wie Ameisen, ver-
155
schwinden in tiefster Bedeutungslosigkeit. Ja, ja, für mich sind sie nahezu unsichtbar, kaum existent! Wahre Hohlköpfe!» Während ich mit bebenden Lippen in meiner blinden, unbezähmbaren Wut immer eloquenter wurde, schien Großmama, jetzt fast von der Tischdecke erdrückt, die ich in meiner Wut von meinen Knien geschleudert hatte, ihren vorherigen Ausbruch völlig vergessen zu haben und war vor lauter Bestürzung verstummt, denn bisher hatte sie mich nur von meiner sanften Seite erlebt. Ich weiß nicht, ob aus Reue, mich gekränkt zu haben, oder aus Furcht vor den Folgen meines Zorns, jedenfalls blickte sie, anstatt sich von meinen Unverschämtheiten aus der Fassung bringen zu lassen, immer milder drein. Als ich schließlich mit meinen Schmähreden gegen Onkel Eduardo fertig war, schien sie ernsthaft beunruhigt und sagte, wohl aus Bedauern über ihren unkontrollierten Ausbruch, mit dem sie den Teufel der Zwietracht geweckt zu haben fürchtete, und nicht zuletzt, weil sie sich doch so sehr wünschte, daß ich mich mit meinen Vettern und meiner Kusine vertrüge, in sanftem und versöhnlichem Ton:«Aber das stimmt doch gar nicht, María Eugenia. Das haben sie nie zu mir gesagt! Rede nicht so schlecht von deinen Vettern! Sprich nicht in dieser Form über Onkel Eduardo! Siehst du, wie recht ich habe, daß du deine Familie nicht magst? Wenn ich dir all das sage, mein Kind, dann nur, weil ich es gut mit dir meine; du weißt doch, wie sehr ich dich liebhabe, wie sehr Clara dich liebhat, wie sehr wir alle dich liebhaben! Ich würde alles geben, wenn ich auch nichts besitze, ja, mein Leben würde ich geben, um dich glücklich und zufrieden zu sehen. Merkst du denn nicht, daß ich dich in zweifacher Hinsicht liebe? Einmal um deiner selbst und zum anderen um deiner Mutter willen. Deshalb mache ich mir ja solche Sorgen, denn ich denke, alles kann dir schaden oder dich irgendwann leiden lassen!» Ach! Aber anders als bei Großmama kann meinen Zorn nichts so leicht ins Wanken bringen! Die wenigen Male, die ich wirklich in Wut gerate, brennt die Flamme eine ganze Weile und ist 156
schwer wieder zu löschen; und beim geringsten Anzeichen von Schwäche steigt sie um so kräftiger wie der Phönix aus der eigenen Asche wieder empor. So kam es, daß ich trotz der wohlwollenden, sanften Worte, mit denen Großmama mir gut zuredete, wie besessen weiter gegen Eduardo und seine Familie wetterte und mit ungeheurem Einfallsreichtum die erstaunlichsten Beschimpfungen für sie ersann. Ich berauschte mich an meinen eigenen Worten mit der wollüstigen Verbissenheit der Raubtiere:«Doch, Großmama, sie beneiden und verabscheuen mich, auch wenn du es nicht zugeben willst! Dafür werfe ich den Mantel meiner Verachtung über sie, nehme sie gar nicht wahr. Sieh mal, Onkel Eduardos Söhne sind aufgeblasene Hohlköpfe; wie sie reden, ist nicht im mindesten geistreich; sie sind so beschränkt, daß sie einem schon leid tun; sie sind arm an Gedanken und arm an Worten, und ständig sprechen sie ohne Not in Superlativen, was unerträglich monoton ist … Alles, was angenehm ist, finden sie ‹schön› oder ‹himmlisch›; das Gegenteil ist für sie ‹eine Katastrophe›, ‹entsetzlich› oder ‹lästig›, so begrenzt ist ihr Wortschatz. Sie kennen kein Maß, haben kein Gefühl für Nuancen oder Abstufungen. Vom Gemüt her gleichen sie sich alle wie ein Ei dem anderen, was an der primitiven Uniformität ihres Stumpfsinns liegt. Und María Antonia, dieses lächerliche Weib, ist eine Dahergelaufene, oder, um es deutlich zu sagen, eine Mulattin und obendrein ein Bastard, mit der ganzen Gemeinheit und dem Haß ihrer Rasse befrachtet. Onkel Eduardo dient ihr eigentlich nur als Werkzeug, wenn er auch geizig, beschränkt und tratschsüchtig ist, abgesehen von allem anderen … Das ist meine ehrliche Meinung. Es tut mir leid, wenn ich dich damit kränke, aber die Wahrheit kann nun einmal grausam und unerbittlich sein!» Was da aus meinem Mund heraussprudelte wie Lava aus dem Krater eines Vulkans, waren die Auskünfte, die ich während meiner Gespräche mit Onkel Pancho und Gregoria erhalten hatte. Glücklicherweise stellte Großmama diese Verbindung nicht her, weshalb sie in unverändert sanftem Ton versöhnlich fortfuhr: 157
«Beruhige dich doch, María Eugenia, beruhige dich, was haben sie dir nur getan, daß du sie so sehr haßt?» «Ach, ich hasse sie doch gar nicht, Großmama! Ich beurteile sie völlig unvoreingenommen und gerecht! Wenn nicht, sag ehrlich: Was ist falsch an meinen Behauptungen …?» Doch Großmama zog es vor, zu schweigen, so daß eine lange Pause eintrat. Sie setzte sich die Brille wieder auf, suchte nach der Nadel, die zwischen die Falten der Tischdecke gerutscht war, breitete, als sie sie gefunden hatte, den Rand des Stoffes, an dem sie gerade arbeitete, auf ihrem Schoß aus, legte den Rest über einen Stuhl, senkte den Kopf und wandte sich der Handarbeit, die der harmlose Auslöser dieses heftigen Streits gewesen war, wieder zu. Jeder andere hätte ihre Reaktion als Wink verstanden, daß die Feindseligkeiten beendet waren, doch wie ich bereits sagte, pflegt mein Zorn leicht wieder aufzuflammen, eine Eigenschaft, für die ich mich nicht unbedingt verantwortlich fühle. Abgesehen davon schwang in Großmamas Verhalten, das wohl versöhnlich wirken sollte, auch etwas von tiefer Verächtlichkeit mit, was meine Reizbarkeit nur noch steigerte. Wäre Großmama weiter für Onkel Eduardo eingetreten, hätte ich mich allmählich beruhigt, ganz sicher. Mit ihrer ostentativen Ruhe aber schürte sie nur meine Aggressivität. Denn Großmama mag, wie gesagt, ein Gespür für die Feinheiten von Hohlsäumen an Tischdecken haben, doch das psychologische Garn der Seele weiß sie so wenig zu handhaben, daß es sich unter ihren Händen immer verknotet. Beim Anblick ihres in stiller Verachtung gesenkten Kopfes spürte ich unaufhaltsam einen neuen Schwall von Worten in mir aufsteigen. Da ich das Thema Onkel Eduardo und seine Familie für erschöpft hielt, kam ich in ruhigem, rechthaberischem Ton auf einen anderen Aspekt zu sprechen, um Großmama aus der Reserve zu locken:«Als du von meinen Unarten geredet hast, Großmama, sprachst du, wenn ich mich recht erinnere, auch davon, daß ich meine Unschuld verloren hätte. Tatsächlich habe ich mich 158
in letzter Zeit bemüht, meine Gedanken zu ordnen und mir über einiges klarzuwerden. Ich mag keine Rätsel in meinem Kopf, und deshalb habe ich versucht, mir so genau wie möglich, das heißt auf strikt wissenschaftlicher Basis, den geheimnisvollen Ursprung des Lebens zu erklären. Selbstverständlich gebe ich das auch zu erkennen und spreche darüber, so wie ich über lateinische Deklinationen oder ein Problem der Algebra sprechen würde; das ist Wissen! Wenn in deinen Augen diese theoretische Behandlung geistiger Fragen zum Verlust der Unschuld führt, dann bekenne ich: Ja, ich habe sie verloren! Ich habe nichts dagegen, das zu verkünden, und bin froh darüber. Es wäre auch dumm, das zu bedauern, so wie es dumm wäre, den Verlust seiner Schulden zu beklagen. Denn die Unschuld, die ich - Gott sei Dank! - nie vollkommen besessen habe, ist die schlechteste, gefährlichste und dümmste aller Eigenschaften.» Zu meinem großen Erstaunen blieb meine herausfordernde und ziemlich streitsüchtige Erklärung trotz der schlagenden Argumente erneut ohne Reaktion. Nachdem Großmama mich angehört hatte, griff sie seelenruhig nach der Schere, schnitt den Faden ab, nahm einen neuen und fädelte ihn, wenn auch mit leicht zitternden Händen, ins Nadelöhr ein. Und all das in eisernem Schweigen. War das nicht weitaus verletzender als die schlimmste Beleidigung? Es war also nicht verwunderlich, daß ich, sobald Großmama das Garn eingefädelt hatte und ich mir ihrer Aufmerksamkeit wieder sicher sein konnte, meine Überlegungen weiter ausführte:«Ja, die Unschuld der heiratsfähigen Señoritas oder der tyrannische Eifer, mit dem uns alles, was die anderen Menschen wissen oder praktisch erfahren haben, in der Theorie vorenthalten wird, ist in meinen Augen eines der schlimmsten Vergehen, mit denen die Starken sich je an den Schwachen versündigt haben. Ja, denn die Unschuld überzieht das Leben mit Mysterien, was so ist, als schlüge man überall tiefe Löcher in einen Weg; das führt in die Irre; man betrachtet die Dinge aus einer falschen Perspektive; sie schafft Überraschungen, die oft genug 159
unangenehm sind; und überhaupt sehe ich die Unschuld als eine Art Fallstrick oder Fessel, eine Finte, derer sich die anderen bedienen, um in unser Leben einzugreifen, wie und wann es ihnen gerade paßt. Die Unschuld ist blind, taub und lahm, und nur die menschliche Dummheit bekränzt sie mit Rosen. Sie ist das erniedrigende Symbol der Unterdrückung und Versklavung, in der laut Onkel Pancho nahezu alle tugendhaften Ehefrauen leben.» Bei dieser letzten Äußerung schnellte Großmamas Kopf nervös hoch. Doch schon bereute sie es und wandte sich, in hartnäckiges Schweigen gehüllt, wieder ihrer Arbeit zu. Ich setzte meinen Monolog fort, hielt selbstzufrieden und ruhig meinen Vortrag, überzeugt, daß Großmama insgeheim dachte:«Wie furchtbar selbstgerecht und ungezogen.» «Unschuld halte ich daher für eine Plage, eine Geißel, für Mißbrauch, reine Willkür. Sag, Großmama, wenn wir uns auf das tägliche Leben beschränken und nicht alle großen Tragödien aufzählen, die die Unschuld auf der Welt zu verantworten hat: Meinst du vielleicht, es sei angenehm für einen halbwegs vernünftigen Menschen, sich ständig Sätze anhören zu müssen wie: ‹Du darfst nicht allein ausgehen, denn du weißt ja nicht, wie gefährlich das ist› oder ‹Über so etwas Anstößiges solltest du nicht reden, auch wenn es die anderen tun› oder, was noch schlimmer ist: ‹Dieses Buch ist vortrefflich geschrieben, jene Komödie ist großartig und sehr lustig, aber untersteh dich, sie auch nur in die Hand zu nehmen›? Eine dicke Mauer des Geheimnisvollen und Verbotenen! Mein Gott, denkst du nicht, das raubt einem jede Selbstachtung? Siehst du nicht, wie qualvoll und erniedrigend das ist? Denkst du, man kann ewig so existieren, als Paria, vom Leben ausgeschlossen? Mein Gott, nein und abermals nein …! Zum Glück habe ich diese Mauer eingerissen. Damit du es weißt! Ich bin ins Licht hinausgetreten und fühle mich als Zuschauer, der von einem hohen Aussichtsturm endlich seine bisher nur vage gekannte Stadt samt Umgebung überblickt.»
160
Großmama schwieg eisern, während sie weiterstickte, aber aus irgendeinem Grunde mutete mich das, was ihre Finger jetzt mit weißem Garn verwebten, wie eine Elegie auf meine Unschuld an. Plötzlich öffnete sich am anderen Ende des Patios die Schiebetür zum Eßzimmer, und heraus trat ganz friedlich Tante Clara, den Korb voller Flickwäsche seitlich auf die Hüfte gestemmt. Das Erscheinen einer neuen Gegenspielerin spornte mich noch mehr an. Daher wartete ich, bis Tante Clara näher trat, damit sie meine Worte nicht verpaßte, und fuhr dann besonders laut und vernehmlich mit meiner schonungslosen Aufrechnung fort:«Willst du wissen, was ich inzwischen denke, Großmama? Soll ich ganz offen sein? Na schön: Die Moral halte ich für eine Farce, sie ist voller Ungereimtheiten und Widersprüche. Kein Wunder also, daß ich trotz meines ausreichenden Verstandes lange Zeit nur wirre Vorstellungen vom wahren Ursprung des Lebens hegte. Denn ich war zwar gut in Naturkunde und Botanik und hatte auch keine Probleme im Fach Logik, und doch wäre mir nie eingefallen, die Gesetze der Pflanzenwelt auf die menschliche Spezies zu übertragen... Drei Jahre lang wurde ich in Philosophie unterrichtet, und glaub mir, für meine Hausaufgaben und Aufsätze habe ich von den Lehrern immer lobende Randbemerkungen und die besten Noten erhalten. Ich habe also gelernt, vernünftig und logisch zu denken, und kann daher mit den so falschen und widersprüchlichen Geboten von Sittsamkeit, Tugendhaftigkeit oder Anstand wenig anfangen. Nie hätte ich geglaubt, daß die Moral dermaßen gravierende Unstimmigkeiten aufweist, doch inzwischen weiß ich es aus eigener Erfahrung...! Daß die Nonnen im Internat solchen Wert auf Unschuld und Züchtigkeit legten, kann ich ja noch verstehen, immerhin waren sie Jungfrauen! Aber von Züchtigkeit zu reden, wenn man seine Unschuld längst verloren und eine Menge Kinder in die Welt gesetzt hat … Nein, wirklich, das ist doch absurd …! Die züchtige Ehefrau und Mutter ist eine einzige Farce, ein Mythos. Die existiert nicht …! Höchstens hinter Klostermauern …!» 161
Erwartungsgemäß war Tante Clara noch nicht einmal dazu gekommen, sich hinzusetzen. Mit offenem Mund stand sie vor mir und starrte mich, immer noch mit den Korb unterm Arm, benommen an. Dann holte sie einmal tief Luft, bevor die Abscheu aus ihr hervorbrach:«Iiihhh...! Was für ein Haufen Unsinn, María Eugenia …! Diese Ungeheuerlichkeiten hast du bestimmt aus einem dieser Romane, die du in letzter Zeit liest!» «Die Romane! Ja, ja! Hör mir bloß auf mit den Romanen...! Noch eine dieser Ungereimtheiten, dieser Ungerechtigkeiten! Romane sind durch und durch züchtig, Tante Clara; der unanständigste, den ich je gelesen habe, beendet das Kapitel an prekären Stellen oder setzt Auslassungspünktchen, wohingegen so manche ehrbare Respektspersonen genau das praktiziert haben, was in den Büchern ausgelassen wird; sozusagen, um zu illustrieren, was hier ungesagt bleibt. Und das finde ich eben ungerecht, abgesehen davon, daß es vollkommen inkonsequent ist.» Tante Clara, die sich immer noch nicht von ihrem Schock erholt hatte, schnappte erneut nach Luft und rief mit entsetzt aufgerissenen Augen aus:«Iiihhh! Jesus hilf! Was für Hirngespinste! Was für überspannte Ansichten! Schweig, María Eugenia, schweig um Gottes willen, jetzt treibst du es aber zu weit!» «Ach ja, das schockiert dich, Tante Clara? Mich hingegen kann nichts mehr aus der Fassung bringen, denn im Herzen fühle ich mich zutiefst der Natur verbunden und mit ihr der einfachen Wahrheit der Dinge. Diesen Haufen absurder Ideen, den man ‹Moral› nennt, werde ich hingegen nie verstehen. Ich denke, er dient als eine Art Mantel, mit dem man die Wahrheiten der Natur zudekken will, wenn auch erfolglos. Denn die Natur siegt immer, und der Mantel bekommt etwas von Heuchelei. Du regst dich nur deshalb so auf, weil du stark davon geprägt bist, anders als ich, die ich meine eigenen Vorstellungen habe. Zum Beispiel bin ich fest davon überzeugt, daß es ohne Züchtigkeit keine Unzüchtigkeit gäbe, denn Züchtigkeit erzeugt Unzüchtigkeit, das eine macht das andere erst in aller Augen so schlecht und verab162
scheuenswürdig. Sag mir, Tante Clara, verhüllen sich vielleicht die Lilien? Na, tun sie das? Oder verhüllen sich die Tauben? Siehst du: Wenngleich nackt, gelten sie als Symbol für Reinheit und Keuschheit. Ja, wir wären sogar entsetzt, wenn die Tauben sich verhüllten, denn dann würden sie beim Fliegen durch den Flügelschlag vielleicht ihr Kleid aufwirbeln, wodurch sie vom Boden aus einen äußerst unanständigen Anblick böten. Doch unbekleidet sind sie unverändert anständig, das heißt, ihnen ist es gelungen, das Unanständige anständig zu machen, und das war nur möglich, weil sie noch nie etwas von Moral gehört haben. Würden wir uns ein Beispiel an den Lilien oder den Tauben nehmen, wären wir so unschuldig wie sie. Der Sinn der Kleidung liegt doch in ihrem praktischen Nutzen, nämlich darin, uns vor Kälte zu schützen oder körperliche Mängel zu kaschieren, die leider Gottes fast jeder Körper aufweist. Ja: Die Griechen liebten den nackten Körper ob seiner Schönheit... Diese Gedanken über die Griechen und ihre Einstellung zur Nacktheit stammen nicht von mir, Tante Clara, sondern aus einem Buch, und ich versichere dir, ich werde sie mir für immer einprägen, als wären sie in Bronze eingraviert, denn sie sind von Wahrheit erleuchtet und strotzen vor Logik.» «Ach ja?»sagte Tante Clara, die sich gar nicht mehr beruhigen konnte.«Demnach fändest du nichts dabei, wenn wir drei, Mama, du und ich, hier splitterfasernackt beim Nähen säßen und später Pancho, ebenfalls nackt, von draußen hereinkäme, um in trauter Runde zwanglos mit uns zu plaudern...? Das würdest du gutheißen? Es wäre ganz natürlich …? Es würde dir gefallen …? Ja?» Bei der Vorstellung von einer solchen Situation mußte ich kurz schmunzeln, rief mich aber sofort wieder zur Ordnung und dozierte in ernstem Ton weiter:«Aber sicher! Und ob ich das gutheißen würde - angesichts der Temperaturen, die in Caracas herrschen!»Ich warf einen Blick auf die Uhr.«Um halb elf vormittags steht die Sonne fast im Zenit, und es ist drückend heiß. Daß wir trotzdem Kleidung tragen, ist pure Gewohnheit. Glaub 163
mir, Tante Clara, es ist nichts als Liebedienerei, ein Tribut, den wir den Ländern in den kälteren Regionen zollen. Hätten wir einen festen eigenen Willen oder würden uns nach den klimatischen Verhältnissen richten, müßten wir um diese Tageszeit nackt sein, ausnahmslos alle …! Draußen auf der Straße könnten wir zur Not einen breitkrempigen Hut oder einen Sonnenschirm benutzen, um uns vor der Sonne zu schützen, aber weiter nichts!» «Aber Mama», wandte Tante Clara sich nun an Großmama,«es wundert mich, daß du so ruhig zuhörst, wie María Eugenia all diese Abscheulichkeiten von sich gibt! Das ist eine unerhörte Respektlosigkeit! Was für unsinnige Vorstellungen, du lieber Himmel, was für Wahnideen!» Tante Clara, die inzwischen auf ihrem niedrigen Stuhl Platz genommen und den Wäschekorb auf dem Boden abgestellt hatte, fuhr sich nun mit einer theatralischen Geste an den Kopf, endlich eine würdige, dem Gewicht meiner Worte angemessene Reaktion, wie ich befriedigt feststellte. «Laß sie, Clara, laß sie, reize sie nicht weiter», meldete Großmama sich mit stoischer Ruhe zu Wort, ohne von der Arbeit aufzublicken oder gar die Brille abzunehmen.«Seit mehr als einer Viertelstunde steht sie schon da und gibt nichts als Ungereimtheiten von sich! Ich frage mich bloß, woher sie diese Eloquenz hat. Ja, sie redet und redet wie ein Wasserfall, lauter wirres Zeug. Woher nimmt sie nur diese Ausdrücke? Wie können einem bloß so viele Dinge gleichzeitig einfallen...? Genau wie ihr Vater!» «Ja, Gott sei Dank besitze ich einen reichen Wortschatz! Ich weiß mich gewandt auszudrükken, eine lockere Unterhaltung in drei Sprachen zu bestreiten und dabei mit Geschmack anschauliche Bilder einzusetzen, die jedem professionellen Redner zur Ehre gereichen würden. Das kann man nicht von jedem behaupten; ich kenne manch einen, dessen Wortschatz so jämmerlich beschränkt ist wie der eines wilden Urwaldstammes.» «Wie überheblich, María Eugenia, welch ein Greuel!»entfuhr es Tante Clara erneut.«Du spreizt dich ja wie ein Pfau! Wenn du 164
dich weiter so aufplusterst, wirst du noch platzen. Vergiß nicht, Hochmut ist eine Sünde vor Gott.» «Ich bin mir meiner Tugenden bewußt und leugne sie nicht. Bescheidenheit ist noch so eine Heuchelei!» «Ja, für dich ist offensichtlich alles Heuchelei, was sich gehört.» Sie nahm ein Taschentuch aus dem Korb, um es zu stopfen, und dabei kam ihr noch ein anderer Gedanke:«Na schön …, wenn dir alles Wahre und Natürliche dermaßen wichtig ist, warum malst du dir dann den Mund so grell an wie rote Bete, so daß du auf jeder Serviette, die du bei Tisch benutzt, dicke Flecken hinterläßt, ganz zu schweigen von den Taschentüchern, die man dir ins Zimmer legt …? Das sagt sogar Gregoria!» «Schau, Tante Clara, aufs Schminken werde ich niemals verzichten, ganz einfach weil der Verstand unter anderem dazu da ist, die Natur zu korrigieren. Deshalb ist Schminken noch lange keine Heuchelei. Ich will ja niemanden täuschen, im Gegenteil. Das wird schon daraus ersichtlich, daß sogar die Servietten davon künden, wie du eben ganz richtig bemerkt hast! Ich liebe Schminke! Ja, ja, ich bekenne mich freimütig dazu! So sehr, daß ich mich auf der Stelle schminken werde, und auch in Zukunft immer weiter. Bis ins hohe Alter, selbst zum Sterben; und nach dem Tod, am Tag des Jüngsten Gerichts, nach der Auferstehung, werde ich mir während der Urteilsverkündung die Lippen nachziehen!» Nach dieser letzten Äußerung fragte Tante Clara zutiefst schockiert und ärgerlich:«Warum, María Eugenia, mußt nur du ständig alles, was heilig ist oder mit Gott zu tun hat, mit deinen Albernheiten entweihen? Es ist schon das zweite Mal, daß du diesen Unsinn vom Tag des Jüngsten Gerichts von dir gibst, an dem du dir die Lippen anmalen willst!» «Womit ich lediglich einen Akt des Glaubens in Einklang mit den Bedürfnissen des modernen Lebens gebracht habe, was allerdings nicht ganz aufrichtig war, denn ich glaube weder an die 165
Auferstehung des Fleisches noch an die Hölle, die der Gipfel der Grausamkeit ist. Was das Mysterium der Fleischwerdung betrifft …» «Genug...!»erzürnte sich Tante Clara. Dabei glitt ihr die Schere aus der Hand und prallte so laut scheppernd auf den Boden, daß ich aufschreckte und völlig vergaß, was ich über die Fleischwerdung hatte sagen wollen. Und so war sie es, die nun das Wort ergriff:«Schön, sehr schön, daß du schon anfängst zu reden wie die Materialisten oder Atheisten, und dabei kommst du dir wer weiß wie großartig vor, María Eugenia! Du hältst dich wohl für ein Genie!»Und dann wiederholte sie unheilvoll:«Denk an die Strafe Gottes, Hochmut kommt vor dem Fall …! Und zwar noch hier auf Erden...!» «Ach ja? Also ich kann nirgendwo erkennen, daß Gott sich bemüht, Strafen hier auf Erden zu verhängen, denn sonst, Tante Clara, gäbe es da so manche - die übrigens auch hier aus- und eingehen! Du weißt schon...? -, auf die längst ein Flammenregen vom Himmel hätte niedergehen müssen wie auf Sodom und Gomorra.» «Jesus Maria!»rief Tante Clara in gespannter Erwartung aus.«Und wer sollen diese Ungeheuer sein, na?» «Um Gottes willen! Clara, hör endlich auf zu streiten, laß sie, sei so gut, laß sie in Frieden...! Sie glaubt ja selbst nicht an das, was sie da von sich gibt; das tut sie nur, um mich zu quälen, ich weiß es!» Großmama holte einmal tief Luft und seufzte schwer, bevor sie den Blick zum Himmel erhob und mit Leidensstimme sagte:«Das ist also der Dank für all die Liebe, die ich ihr geschenkt habe!» Es klang so enttäuscht und bitter, daß meine Wut plötzlich wie weggeblasen war und einer unangenehmen Regung Platz machte. Angesichts ihrer schmerzlichen Reaktion bereute ich es auf einmal, Großmama so tief verletzt zu haben. So groß war mein Ärger über mich selbst, daß ich beschloß, fortan den Mund zu halten. 166
Es trat eine endlose Pause ein, denn auch Tante Clara schwieg nachdenklich und bekümmert. Sicher argwöhnte sie, hinter meiner Unverfrorenheit, hinter Großmamas letzten Worten und vor allem hinter dem ungewöhnlichen Schweigen verberge sich ein Geheimnis. Um es zu ergründen, musterte sie mich von Zeit zu Zeit mit forschendem Blick. Sicher hätte sie es nur allzugern erfahren, und Großmama hätte es ihr bestimmt am liebsten gleich mitgeteilt, um sich ausführlich mit ihr zu beraten. Aber gerade deshalb zog ich mich nicht zurück. Ich blieb unbeweglich auf meinem Stuhl sitzen und sah den beiden zu, wie sie sich mit gesenkten Köpfen ganz aufs Nähen konzentrierten. In dieser friedlichen Stille gelangte ich ganz allmählich zu der Erkenntnis, daß alles, aber auch alles, was ich gerade im Zorn hervorgebracht hatte, nicht nur unüberlegt und maßlos übertrieben gewesen war, sondern auch noch unangenehme Folgen haben konnte. Diese Einsicht und andere eher noch diffuse Überlegungen beunruhigten mich auf einmal dermaßen, daß ich beschloß, mich Großmamas und Tante Claras Urteil zu fügen. Um ihnen Gelegenheit zu geben, sich ungestört zu beratschlagen, erhob ich mich und begab mich wortlos hier in mein Zimmer. Als ich endlich allein war, schloß ich die Tür hinter mir ab und ließ mich in die Arme meines lieben, vertrauten Sessels sinken, den ich an den Schreibtisch herangezogen hatte. Während ich abwechselnd die Puppenlampe und die Orangenbäume betrachtete, fing ich an, über alles nachzudenken. Ich war immer noch sehr erregt, fühlte mein Gesicht glühen und meine Hände zittern. Was hatte mich nur dermaßen aus der Fassung gebracht …? Das war mir zum erstenmal mit Großmama passiert, und in meinem grenzenlosen Zorn hatte ich sie in ihrer mütterlichen Liebe gekränkt … Ich hatte ihr weh getan und sie beleidigt. Doch woher nur diese Wut...? Warum …? Weil Großmama gesagt hatte:«Und dieser Gabriel Olmedo, dieser Hanswurst, dieser Aufschneider, dieser Niemand, der ist das größte
167
Übel; der ist keiner, der heiratet, egal, wen, am allerwenigsten eine, die so bettelarm ist wie du...» All das wußte sie natürlich von Onkel Eduardo … Angestachelt von María Antonia, vielleicht auch von meinen Vettern, hatte Onkel Eduardo ihr alles zugetragen … Ja, genau, sie hatten sich gegen mich verschworen, damit Großmama mir das Leben zur Hölle machte... O diese Neider, diese Verleumder, diese Schwachköpfe... Schade, daß sie nicht alle hatten mitanhören können, was ich eben gegen sie vorgebracht hatte...! Ach, das war ja noch gar nichts! In ihrem Beisein hätte ich noch viel mehr gesagt, noch viel, viel mehr...! Dabei war mir doch vollkommen gleichgültig, was diese Schwachköpfe über Gabriel Olmedo erzählten! Was bedeutete mir schon Gabriel Olmedo...? Ja, Gabriel Olmedo... Gabriel... Gabriel … Großmamas morgendliche Vorhaltungen mißachtend -«Du kannst es kaum erwarten, bis es endlich fünf wird und du zu Mercedes Galindo flüchten darfst, wenn du nicht schon um vier auf und davon bist!»-, betrat ich pünktlich um vier den eleganten Korridor von Mercedes’ Haus; während ich inmitten von Palmen und Orchideen den Hut abnahm und mein Haar vor einem Spiegel in Ordnung brachte, fing ich in längst gewohnter und gern gesehener Manier an zu rufen:«Mercedes! Mercedes! Wo bist du …?» «Hier! Hier!»erklang wie immer, durch Türen und Fenster gedämpft, ihre argentinische Stimme aus der sanften Dämmerung ihres orientalischen Boudoirs. In der Absicht, ihre kreolische Trägheit zu orientalisieren, frönt Mercedes dieser nicht in einer schaukelnden Hängematte, die wie in einer Habanera 51zwischen leise rauschenden Palmen in einer sanften Brise schaukelt, sondern auf ihrem gigantischen, niedrigen türkischen Diwan, wo sie ausgestreckt, ihren weißen Körper von einer Unmenge weicher, bauschiger Kissen umgeben, im mit Gardinen abgedunkelten Raum liest, träumt, grübelt, schläft, Tee 168
trinkt, sich langweilt und manchmal auch Tränen vergießt. Mercedes besitzt einen Charme, der mich sehr exotisch und aufreizend anmutet. Wenn ich sie ansehe, denke ich immer, so müssen die berühmten orientalischen Königinnen ausgesehen haben. Und da ihr ganzes Haus wie ein einziger großer Garten wirkt und ich es nicht für sehr geschmackvoll halte, sie Kleopatra zu nennen, rede ich sie in Anspielung auf die Schöpferin der Hängenden Gärten lieber mit Semiramis an. Als ich gestern nachmittag das Boudoir betrat, lag Mercedes von vielen Büchern umgeben da und las. Sobald sie mich erblickte, setzte sie sich auf und streckte mir erfreut die Arme entgegen, küßte mich, hieß mich, neben ihr am Rand des Diwans Platz zu nehmen, kennzeichnete mit einem Papiermesser das Buch, das sie gerade las, und sagte dann freundlich lächelnd, wobei sie meine Hände ergriff:«Wie früh du heute dran bist! Welch ein Wunder …! Gerade eben habe ich an dich gedacht; ich wollte dich schon anrufen. Aber … warum trägst du nicht dein Kleid aus Crêpe Georgette, das mit dem ourlet à jour52, das ich so sehr mag?», und mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu:«Heute abend kommt nämlich Gabriel zum Essen!» «Aber jeden Tag immer nur das Crêpe Georgette, das finde ich übertrieben, auch wenn du es noch so sehr magst …» «Nein, nein, in diesem Punkt irrst du dich, María Eugenia, mein Kind; wenn eine Toilette so perfekt wirkt, schmückt man sich mit ihr, sooft man kann. Um so mehr, wenn es sich um ein schlichtes schwarzes Kleid handelt, das so seyant 53 ist … Aber da ist es doch zu unbequem, Liebes, komm hinauf aufs Sofa, lehn dich zurück, mets-toi à ton aise 54. Hier, nimm!» Mercedes begann, auf einer Seite des Diwans Kissen aufzuhäufen. Ich stieg sogleich hinauf und schuf mir zwischen den Kissen und der Wand eine Art Nest, streckte mich aus, den Ellenbogen auf ein kleines Kissen gestützt, bettete die linke Schläfe auf die geschlossene linke Hand, und dann begann ich, weich und bequem ausgestreckt, Mercedes von meinen schweren Sorgen zu 169
erzählen:«Ach …! Du weißt ja nicht, was für einen schrecklichen Ärger ich heute morgen mit Großmama hatte. Ich bin dermaßen in Wut geraten, daß ich die abscheulichsten Dinge über Onkel Eduardo, María Antonia und meine Vettern gesagt habe, ich habe sie furchtbar beschimpft. Denk nur, ich habe die ungeheuerlichsten Dinge gesagt, die mir gerade in den Sinn kamen. Scheußlichkeiten, Semiramis, schlimm...!» «Welch maladresse 55!»rief Semiramis schockiert aus, die, wenn sie auf dem türkischen Sofa ruht, unter dem unmittelbaren Einfluß ihrer Bücher mehr denn je zu Gallizismen neigt,«wie ist dir nur diese gaffe passiert, María Eugenia?» «Ach! Ich kann mich eben nicht immer bezähmen...! Na ja, nachdem ich Onkel Eduardo und seine Familie beleidigt hatte, habe ich auch noch gegen die Moral gewettert, was fast so ist, als hätte ich einen weiteren Sohn von Großmama beleidigt. » «Oh là là...! Das ist ja schlimm! Und wie hat Eugenia reagiert?» «Kein Wort, nichts, gar nichts hat sie gesagt...! Weder in dem Moment noch später. Das ist ja das Tragische, Semiramis, das, was mich so sehr beunruhigt. Daß Großmama derart verstummt, ist geradezu beängstigend. Schweigen kann sehr viel aussagen. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, daß Großmama etwas Schreckliches gegen mich im Schilde führt.» «Was ist nur geschehen, erzähl, worum ging es denn bei dieser brouille56?» «Ach, um eine Lappalie! Stell dir vor, Großmama besteht darauf, daß ich lerne, Hohlsäume anzufertigen, weil sie sagt, ich sei untätig, und Nichtstun sei die Mutter aller Laster. Immer die alten Sprüche! Na schön, ihr zu Gefallen habe ich angefangen, es mir von ihr zeigen zu lassen, anhand einer Tischdecke mit Lochstickerei, an der sie zur Zeit arbeitet. Doch ehrlich gestanden, Semiramis, mir wird immer ganz schwindelig von den vielen Fäden und dem ganzen Durcheinander, und da ich überhaupt nichts verstand, habe ich mich ablenken lassen... Darüber hat sich Groß170
mama dann fürchterlich aufgeregt und mir bei der Gelegenheit gleich eine schreckliche Standpauke gehalten, über eine Menge Dinge, die rein gar nichts mit der Decke und dem Sticken zu tun haben. Sie hat gesagt, ich sei längst nicht mehr so folgsam und respektvoll wie früher; ich würde mich dagegen auflehnen, bei ihr zu leben und mich mit meiner Kusine anzufreunden; ich hätte meiner Kusine einen Spitznamen gegeben; ich verhöhnte sie; ich wolle nur immer hier bei dir sein; du habest mir diese Aversion gegen die gesamte Familie Aguirre eingeredet; ihr mißfalle unsere Freundschaft; und Gabriel Olmedo, mit dem du mich ‹zusammenbringen› wolltest, sei der allerschlimmste..., er werde mich zum Gespött der Leute machen und mich niemals heiraten …, mich, eine völlig mittellose Frau …» Letzteres brachte ich nur zögernd und mühevoll, ja widerwillig heraus. Ich hätte es auslassen sollen, aber als mir der Gedanke kam, war es schon zu spät, denn da hatte ich den Satz bereits angefangen. Mercedes war mein Zögern nicht entgangen. Während ich stammelte und stockte, begann sie zu lächeln, und als ich noch um die letzten Worte rang, brach sie schon in ihr sonores, schillerndes Lachen aus, verdrehte die Augen und sagte, immer noch lachend, mit einem Augenzwinkern:«Ach! María Eugenia, María Eugenia, das war also der Grund, wegen Gabriel hast du dich so aufgeregt!» «Nein, Mercedes, bestimmt nicht, glaub mir! Wieso sollte mich interessieren, was sie über Gabriel sagen? Worüber ich mich wirklich geärgert habe, war diese Ungerechtigkeit dir gegenüber, denn dahinter habe ich deutlich Onkel Eduardos Handschrift und die seiner Familie erkannt. Sie ertragen es nicht, daß wir uns so gut verstehen, und wirken auf Großmama ein, damit sie es unterbindet. Großmama hat im Grunde genommen nichts gegen dich, weißt du? Aber da sie nie das Haus verläßt, kennt sie die Welt draußen nur so, wie Onkel Eduardo, dieser Schwachkopf, sie ihr schildert. Nur das hört sie, und nur das glaubt sie 171
auch. Und in Wirklichkeit ist es María Antonia, die die Fäden zieht, verstehst du...? Diese Hexe, dieses Klatschweib wirkt auf Onkel Eduardo ein, damit der bei Großmama Alarm schlägt.» Mercedes antwortete nicht. Sie schwieg eine geraume Weile, so als dächte sie nach. Schließlich sagte sie:«Ja wirklich, wie ungerecht …! Und vor allem was für ein parti pris 57! Wann hätte ich jemals schlecht über Eugenia, Eduardo oder überhaupt jemanden von ihnen geredet?» «Genau das habe ich Großmama auch gesagt, und dann habe ich mit meinen Beschimpfungen gegen Eduardo und seine Familie angefangen. Ich habe sie als Idioten und Schwachköpfe bezeichnet, bis es mir reichte. Ach, ich war einfach aufgebracht! Schau, mir zittern schon wieder die Lippen und die Hände, noch nie war ich so außer mir...!» «Oh, das würde man dir nie zutrauen, María Eugenia, Liebes, wo du immer so sanft bist, so besonnen und zart... Du und wütend...? Das wirkt doch so entstellend... und macht auf Dauer Falten. Sieh sie dir doch an, die schlechtgelaunten Menschen mit dreißig: ça y est58! Lauter Falten, graue Haare, mauvais teint59, alle Übel auf einmal, das weiß man doch!» Unter der einlullenden Wirkung der weichen Kissen und eines sanften Pessimismus sagte ich nachdenklich und ernst:«Aber weißt du, Mercedes, weißt du, Großmama hat vielleicht gar nicht unrecht... Es stimmt zwar, daß du nie etwas gegen meine Familie gesagt hast, aber indem du mich die herrliche Atmosphäre hier genießen läßt, die ich so sehr liebe, denn sie streichelt die Seele und läßt einem das Herz aufgehen, hast du verhindert, daß ich mich dort eingewöhne... Die Unzufriedenheit kommt mit der Möglichkeit zu vergleichen …! Diese ständigen abrupten Wechsel verhindern es schlichtweg, daß sich die Gewohnheit einstellt …! Weißt du, die Gewohnheit ist wie eine Mutter und ein Trost für alle Unglücklichen … Schau, ich weiß noch, wie ich, als ich vor ein paar Monaten nach Caracas kam, ganz deprimiert war, weil mir die engen Straßen mit ihren niedrigen Häusern so 172
furchtbar häßlich vorkamen... Und weißt du, was ich jetzt denke, wenn ich dort entlanglaufe …? Ich denke, die Pariser Straßen sind trist, denn um die Häuser so hoch zu bauen, hat man sie unter- und übereinanderschichten müssen, so wie Stapel leerer Kisten auf Dachböden, die innen ganz schwarz sind. Die Straßen von Caracas besitzen für mich dagegen den sympathischen Liebreiz des Vertrauten …» Nach diesen Geständnissen schwiegen wir eine ganze Weile. Nur das Echo meiner Worte schien noch im schummrigen Raum über dem Diwan zu schweben, und unser Schweigen hatte wohl auch damit zu tun, daß wir ihnen noch nachspürten … Bis Mercedes nach einem Seufzer schließlich leise und etwas zaudernd, weil sie bedrückt war, sagte:«Vielleicht trifft das mit der Gewohnheit ja zu, und möglicherweise habe ich dir, in der Absicht, dir gefällig zu sein, einen großen tort60 angetan …!» Wir verfielen erneut in Schweigen. Jetzt hatte ich den Eindruck, daß unsere Gedanken sich vereinten und um den gleichen Gegenstand kreisten, wie zwei Falter, die um eine Lichtquelle flattern. So stark war dieses Gefühl, daß man in der gedämpften Stille um uns herum das gemeinsame Kreisen unserer Gedanken fast zu hören meinte. Ich spürte, wie die bedrückende Stimmung mir allmählich das Herz zusammenschnürte, und wäre um ein Haar in Tränen ausgebrochen. Doch wieder zerriß Mercedes unvermittelt die schattenhaften Fäden des Abstrakten, die uns umgaben, als sie uns im energischen Ton brüsk auf den Boden der Tatsachen zurückholte:«Nein, María Eugenia, ich habe nichts Unrechtes getan, da bin ich mir sicher!» Blaß und nervös richtete sie sich auf dem dunklen Diwan auf, setzte eine überlegene Miene auf und erklärte entschieden, mit einem durchdringenden Blick aus ihren hübschen Augen:«Schau: Du magst Gabriel. Und Gabriel ist verrückt nach dir; das weißt du so gut wie er; und auch wenn ihr es noch nicht ausgesprochen habt, der Flirt hat längst begonnen, das habe ich selbst gesehen. Also, ich wette mit dir, daß kein Monat mehr - was sage ich! -, 173
keine Woche mehr vergehen wird, bis Gabriel soweit ist, daß er dir einen Antrag macht.» Ich spürte, wie ein ungeheurer Glanz in Mercedes’ Augen mir das Herz erleuchtete, und da ich ihrem funkelnden Blick nicht standhalten konnte, schlug ich meine Augen nieder und schwieg. Unterdessen fuhr sie fort:«Ja, Gabriel ist verrückt nach dir, sosehr er sich auch bemüht, es zu verbergen, er kann an nichts anderes mehr denken! Und er wird wohl schwerlich noch einmal im Leben auf eine Frau treffen, die ihm so sehr gefällt, ihn so sehr verzaubert, so sehr fasziniert wie du. Glaub mir, wenn Gabriel nicht dreißig, sondern zwanzig Jahre alt wäre, würde er jeden Tag hier erscheinen, ja, hier bei uns, um jede Sekunde mit dir zu verbringen, und er hätte nur noch Augen und Ohren für dich, für nichts anderes würde er mehr leben. Doch Gabriel hat schon viel Erfahrung, und deshalb, und weil er immer äußerst erfolgreich war, hat ihn plötzlich ein fiebriger geschäftlicher Ehrgeiz gepackt, er will immer mehr und noch mehr, nichts ist ihm genug. Ja, er ist furchtbar ehrgeizig, ist ständig in irgendwelche Geschäfte verwickelt und träumt von Millionengewinnen. Obendrein hegt er noch erhebliche politische Ambitionen, und nur wegen dieser Ansprüche schreckt er so sehr vor der Ehe zurück! Allein die Vorstellung, so eine entrave61 könnte ihn am beruflichen Aufstieg hindern, jagt ihm schreckliche Angst ein … Aber laß ihn nur; die Liebe ist mächtiger als alles andere, und die Leidenschaft ist um die Dreißig besonders stark und beharrlich, denn das ist ein Alter, in dem man sich noch das ganze Feuer der Jugend bewahrt hat und gleichzeitig schon zu bangen beginnt, daß diese herrliche Zeit bald vorbei sein könnte...! Außerdem kann Gabriel sich deiner ja sicher sein, denn er weiß, daß Eugenia dich in ihrem Haus unter Verschluß hält, wo du keiner Menschenseele begegnest. Würden dich noch andere umschwärmen, wäre er sicher eifersüchtig und bekäme Angst, la frousse62, dich zu verlieren. Oh, dann würdest du rasch sehen, wie weit es mit seinen Ambitionen und affaires63 her ist! Aber ich werde ihm kein Wort sagen. In 174
diesen Dingen gibt es keinen besseren Fürsprecher als die Zeit und die häufige Begegnung. Vor allem, daß man sich trifft, das ist es, was das Feuer auf Dauer schürt!» Bis gestern hatte Mercedes noch nie so klar und offen mit mir über Gabriel geredet. Sie führte ihn zwar ständig im Munde, doch immer nur mit einem vielsagenden Lächeln und diesem pikanten Unterton in ihrer samtweichen Stimme, wenn sie scherzhaft über die Liebe sprach. Jetzt war ich ob ihrer Offenheit verblüfft und auch ein wenig beunruhigt, weshalb ich für eine ganze Weile verstummte und mit gesenktem Blick verlegen aufs Sofa starrte. Ich spürte, wie sich tausenderlei rätselhafte Gefühle in mir regten, die mir vor lauter Wonne und Staunen die Sprache verschlugen. Da ich nicht wußte, was ich tun oder sagen sollte, schüttelte ich schließlich ein paar Kissen auf, schichtete sie um und ordnete mir das Haar, wobei ich ganz beiläufig fragte:«Warum hat Großmama heute morgen eigentlich gesagt, Gabriel habe eine üble Gesinnung?» «Ach, weil Gabriel ein libre-penseur64 ist - er glaubt an nichts, er hat nicht den geringsten Sinn für Religion, ja wirklich, c’est dommage65! Außerdem regt Eugenia sich wohl darüber auf, daß ihm ein gewisser Ruf als Lebemann vorauseilt. Aber das liegt nur daran, daß er großzügig, galant und ein beau garçon66ist und hier wie in Paris immer einen succès fou67 bei Frauen ebenso wie bei allen anderen gehabt hat. Und natürlich, aus Neid übertreiben sie maßlos und zerreißen sich das Maul über ihn! Für dich wäre Gabriel ganz sicher ein vorbildlicher Ehemann - siehst du nicht, daß eine solche Verbindung bei seinem Ehrgeiz und seinen Idealen die krönende Erfüllung für ihn wäre...? Ja! Schau, ‹dein Gabriel› ist ungeheuer strebsam und intelligent, aber vor allem hat er einsavoirfaire 68 …, einfach anbetungswürdig!»An diesem Punkt senkte sie die Stimme und fügte mit einem geheimnisvollen Lächeln hinzu:«Verrate ihm bloß nie, daß du das von mir weißt, ja? Aber man hat ihm bereits einen Gesandtenposten in Europa angeboten, und du wirst staunen: Il s’en moque 69! Er hat den Pos175
ten abgelehnt! Er hat sich nämlich im Ölgeschäft engagiert, wovon er sich Millionengewinne verspricht … In der Regierung protegiert ihn dieser Monasterios, der zur Zeit das Sagen hat... Also... es heißt, dieser Monasterios will ihn mit seiner Tochter verheiraten, einer üppigen Brünetten, schrecklichfagotée70, völlig nichtssagend, einfach vulgär. Gabriel läßt die Leute reden und kann darüber natürlich nur lachen! Denn stell dir mal vor, er, der so raffiné71, so feinsinnig, ein solcher Gourmet ist, würde eine von der Sorte zur Frau nehmen!» Dann brach Mercedes in ihr fröhliches argentinisches Gelächter aus, das in meinen Ohren wie Siegesgeläut klang. Die Informationen über Gabriel schreckten mich nicht etwa; im Gegenteil, ich war entzückt. Ich hatte das Gefühl, seine Ambitionen und Pläne seien auch meine, ich teilte sie voller Begeisterung und sah ihn in unermeßliche Höhen aufsteigen, als stünde Gabriel auf einem Podest, auf dem er wuchs und wuchs, bis er gigantisch war. Ach, wenn dieses Podest ihn von mir entfernte: um so besser! Genauso wollte ich ihn, schwierig und strahlend wie der Triumph selbst... Während das fröhliche und ein wenig spöttische Gelächter von Mercedes anhielt, erhob sich vor meinen Augen die Herrlichkeit der Liebe, gepaart mit der Herrlichkeit meiner endlich erfüllten Sehnsüchte... Just in diesem Augenblick ging in dem Halbdunkel um uns herum das gedämpfte rötliche Licht an, das nachts das Boudoir erleuchtet, ohne daß eine von uns den Lichtschalter berührt hätte. Als hätte ein Hauch von Mysterium den Raum durchquert, erschauderte ich, und Mercedes, die ein wenig abergläubig ist und okkultistische Neigungen hegt, setzte sich erneut auf und fragte erschrocken:«Hast du das Licht angemacht? Wie kann es denn ganz von allein angehen...?» Ich setzte mich ebenfalls auf und rief fröhlich lächelnd aus:«Launen deiner Lampe, Semiramis. Schau nur, schau, wie sie brennt …! Wie hübsch rot sie heute strahlt …! Sie ist das Herz des Boudoirs, weißt du...? Und wie deins und meins oder das ei176
nes jeden bekommt es auch manchmal seine Launen oder Freudenausbrüche.» Ach, diese Laune der Lampe fand ich allerliebst, so passend, und verstand sie obendrein als gutes Omen, wie auch Mercedes’ Lachen, wenn sie Monasterios’ Tochter verhöhnte! «Psss! Gestern abend muß das Licht wohl weitergebrannt haben, und jetzt funktioniert der Strom wieder.» «Aber ich habe es doch selbst gelöscht, bevor ich mich hinlegte, da bin ich mir ganz sicher!» Schließlich streckte Mercedes den Arm, der nackt aus den zarten Falten ihres hellen déshabillé hervorragte, aus und löschte das Licht wieder, so daß es reichlich dunkel wurde, denn der Nachmittag war bewölkt, und die Fensterläden des Boudoirs standen hinter den zugezogenen Vorhängen nur einen Spaltbreit offen. Mercedes legte die Hand auf den Klingelknopf neben dem Lichtschalter, und während man das ferne Klingeln hörte, ließ sie mich in leisem argentinischen Singsang wissen:«Es ist Zeit für den Tee, ich werde ihn ordern!» «Ja, ja», rief ich freudig aus und sprang in einem Satz vom Sofa.«Das ist eine großartige Idee: Ich habe einen Bärenhunger …! Und weißt du, was ich jetzt machen werde, während wir auf den Tee warten? Ich werde eine Zigarette rauchen, mit deiner langen Elfenbeinspitze.» «Aber María Eugenia, du hast mir doch schon unzählige Male gesagt, wie sehr du Zigarettenqualm verabscheust, und daß du, wenn euer Hausmädchen die Zimmer hergerichtet hat, überall mit einem Tuch herumwedelst, um den Tabakgestank zu verjagen, den sie hinterläßt, wo immer sie sich aufhält.» «Ach! Doch nur, weil die Zigaretten, die das Hausmädchen raucht, keine ägyptischen sind!» Nach dieser Verkündung zündete ich mir eine Zigarette an und dachte voller Genugtuung:«Wenn du mich jetzt sehen könntest, Großmama! »Dabei machte ich es mir auf dem großen Tisch des Boudoirs bequem, setzte mich seitlich zum Spiegel, ließ die ver177
schränkten Füße in der Luft baumeln und rief glücklich aus:«Schau mal, Semiramis...! Sieh, sieh nur, dieses Profil! Steht mir das nicht blendend …? Auf meinem erhöhten Platz, den Kopf aufrecht, die Schultern gesenkt, mit der langen Zigarettenspitze und dem spiralförmig aufsteigenden Qualm … Ach, welch ein Spaß, mit deiner Elfenbeinspitze zu rauchen!» «Na schön, ich werde dir demnächst eine schenken, schon bald, sehr bald! Damit werden wir den Sieg der Liebe feiern …! Besser gesagt: den ersten Kuß! Denn du wirst es mir doch verraten, oder? Ich meine, si ce n’est pas indiscret 72!» «Wie bitte...? Den ersten was …?» Und da ich ausgerechnet in dem Moment versuchte, den Rauch zu inhalieren, verschluckte ich mich, und er geriet mir zwischen Rachen und Nase, was mir die Tränen in die Augen trieb, bis ich entsetzlich husten mußte. Hastig drückte ich die Zigarette im Aschenbecher aus. Das Mundstück ließ ich auf dem Tisch liegen, sprang mit einem Satz herunter, setzte mich auf ein Kissen am Boden, ganz nah vor Mercedes’ Gesicht, und unterbreitete ihr einen Vorschlag:«Hör mal, mir geht nicht aus dem Kopf, was du mir bei meiner Ankunft über das Kleid gesagt hast, und jetzt fühle ich mich ganz häßlich in diesem Fetzen aus persischem Seidentaft. Ich finde das Kleid abscheulich! Ich gehe rasch heim und wechsle es gegen das ourlet de jour, das dir so gefällt, ja?» «Nein...! Auf gar keinen Fall, du willst mich um diese Zeit doch nicht allein bis acht Uhr warten lassen, en train de te disputer73 mit Eugenia und Clara.Außerdem habe ich dich gerade eben, als du auf dem Tisch gesessen hast, beobachtet und ganz bezaubernd gefunden. Du hast leuchtende Augen, einen reinen, rosigen Teint, ich glaube sogar, du bist heute besonders en beauté74! Nur an deiner Frisur würde ich gerne etwas ändern. Seit Tagen schon hätte ich Lust, dich einmal so zu kämmen, wie ich es in der ‹Vogue› entdeckt habe, mit Mittelscheitel, alle Haare straff nach hinten, und die Stirn frei. Komm, sollen wir es mal ausprobieren? »
178
Und während der Tee kam, setzte ich mich geschwind vor den Spiegel, Mercedes stellte sich hinter mich und machte mir in einer Minute die Frisur aus der«Vogue», puderte mir die Wangen, malte mir die Lippen rot und leichte Schatten unter die Augen und trat dann ein paar Schritte zurück, um mich aus einiger Entfernung im Spiegel zu betrachten. Am Ende rief sie lächelnd und voller Bewunderung aus, wobei sie mit übertriebener Geste die Hände wie zum Gebet faltete:«Ooooh...! Ma chère! Welch ein Unterschied! Wie du aussiehst - einfach é-pa-tan-te75! Du solltest dich nie mehr anders frisieren. Ja, du wirst sehen, was für einen succès du heute abend haben wirst!» Und so, épatante, geschminkt und wahnsinnig vor Glück, kehrte ich mit ihr auf den Diwan zurück, wo wir unseren Tee tranken. Ich kippte ihn in einem Zug hinunter, ohne von dem Gebäck oder anderem zu probieren, denn mir steckte ein Kloß im Hals; Mercedes’ Worte versetzten mich in eine wundervolle Trance, die mich die Zigarette, das Gebäck, den Tee und sonstige Herrlichkeiten, die man mir hätte anbieten können, verschmähen ließ. Als Mercedes anschließend über Belangloses redete, während ich gern noch mehr Dinge gehört hätte wie die, die sie vorher im Zusammenhang mit der Zigarettenspitze gesagt hatte, rief ich aus:«Sieh mal, Semiramis, eigentlich kann ich ja verstehen, daß manche Männer nicht heiraten wollen. Wäre ich ein Mann, würde ich auch nicht heiraten! Ach! Denk nur, wie herrlich, ja, wie wundervoll muß es sein, sich frei in der Welt zu bewegen, Abenteuer zu erleben und Tausende, Abertausende, ja Millionen auszugeben!» Doch Mercedes stellte ihre leere Tasse auf einem Schemel aus Ebenholz ab, seufzte und sagte, wobei sie vollends in den traurigen, ernsten Ton der weisen Ratgeberin verfiel:«Strebe nicht zu sehr nach Reichtum, María Eugenia, denn schau, Reichtum prahlt zwar gerne, aber er gibt einem in Wirklichkeit wenig. Er ist fast, ja fast von innen hohl, dieser Parvenü!»Dann fügte sie bekümmert hinzu:«Ich, die ich einmal reich war, habe ihn ganz aus der 179
Nähe erlebt, doch das, was ich mir wirklich wünschte, konnte er mir nie bieten!» «Arme, hübsche Semiramis!»sagte ich gerührt.«Dann hast du wohl etwas ganz Unmögliches von ihm erwartet! Aber du willst doch nicht leugnen, daß du großen succès gehabt und dich blendend amüsiert hast und daß es immer der Reichtum war, der dir diesen succès und das Vergnügen ermöglicht hat. Ich würde mich auch gerne amüsieren.» «Der succès …! Das Vergnügen...! Auch die sind innen hohl! Schau, María Eugenia, Fröhlichkeit und Glück findet man in keinem der Dinge, die uns so blenden. Weißt du, wo man sie findet? Weißt du, worin sie bestehen? Nun, man findet sie nur bei jemandem, mit dem man sich versteht, einer âme sœur 76, die ist wie das Wasser, das du trinkst, wenn du starken Durst hast, oder das Bett, in das du dich legst, wenn du todmüde heimkommst; dieser ‹jemand›, weißt du, der uns irgendwo erwartet, den wir normalerweise aber nie finden, weil wir immer wieder an ihm vorbeigehen, ohne ihn wahrzunehmen, als spielten wir Blindekuh. Ich glaube daran, daß wir Menschen, wie Augen oder Arme, dazu geschaffen sind, zu zweit zu sein. Nur daß die Augen bereits paarweise in einem Gesicht und die Arme paarweise an einem Rumpf geboren werden. Allein wir Menschen kommen getrennt zur Welt und finden fast nie unseren Partner auf Erden. Meistens wählen wir den, der es nicht ist, und wenn das geschieht, sind wir nicht besser dran als arme Versehrte, die ein Glasauge tragen oder ein Holzbein, da können wir noch soviel Geld besitzen. Mit Geld kann man zwar täuschend echte Prothesen machen, aber in Wirklichkeit nützen sie dem, der sie trägt, wenig, weil er damit weder sehen noch gehen kann... Ach! Das Glück der anderen ist allzu häufig nur eine Prothese aus Holz oder Glas …! Schau, ich muß immer daran denken, wie oft ich vor vielen Jahren, kurz nach meiner Hochzeit, begeistert vor einer Gruppenskulptur von Paul et Virginie 77 gestanden habe; eine völlig wertlose und schlecht gemachte Plastik, die in dem alten Haus einer Freundin 180
auf einem Sockel im Patio aufgestellt war. Wie gesagt, die Skulptur an sich war nichts Außergewöhnliches, die beiden Kinder hatten nupieds 78 vor dem Regen Schutz unter einem Baum gesucht und hockten eng aneinandergeschmiegt unter dem Blätterdach einer Platane, aber man hatte sie so eng zusammengesetzt, und sie haben trotz des Regens so fröhlich auf mich gewirkt und lachten, daß ich mich an ihnen nicht satt sehen konnte und mir vorgestellt habe, sie seien aus Fleisch und Blut. In Ermangelung eigener Freude habe ich mich mit ihnen gefreut... Denn, María Eugenia, vergiß niemals: Il pleut toujours79 im Leben! Es geht weniger um das Dach, unter dem man wartet, bis es wieder aufklart, als darum, mit jemandem, der fröhlich ist und uns erträgt, dort auszuharren, solange der Regen andauert. Du siehst also, Paul et Virginie sind naß geworden, obwohl sie sich unter dem Blätterdach befanden.» «Na ja, ich würde gerne ebenso vergnügt wie Paul und Virginie warten, daß es aufklart, aber unter einem festen Dach. Ich halte nichts von Platanenblättern oder Umarmungen im Regen.» «Solltest du Gabriel heiraten, was ich hoffe und dir von ganzem Herzen gönnen würde, wird dieser Wunsch sicher in Erfüllung gehen, aber wenn nicht, dann: gare80! Schau, es ist sehr schwer, die perfekte Verbindung zu finden, und Irrtümer, die, wie in meinem Fall, ein ganzes Leben dauern, sind grauenvoll.» In der Dunkelheit, die uns inzwischen umgab, verriet ihre zitternde Stimme, daß Mercedes weinte. Ich verharrte einen Moment lang ratlos, bevor ich sie liebevoll mit leiser Stimme fragte:«Aber..., wenn du so unglücklich bist, Mercedes, warum läßt du dich dann nicht einfach scheiden und befreist dich ein für allemal von dem ganzen Kummer und Verdruß?» «Warum? Warum? Woher soll ich das wissen? Frage jemanden, dessen Arm von Wundbrand befallen ist, warum er ihn nicht einfach amputiert. Er wird dir sagen, daß er lieber den Schmerz erträgt, bis es nicht mehr geht, als ein Krüppel zu sein. Manchmal bilde ich mir ein, ich könne es nicht länger ertragen, und würde 181
mich gerne zu dem Schritt entschließen, doch da ist etwas, das ist so tief verinnerlicht, steckt einem so im Blut, daß man es unmöglich ausreißen kann! Und denk ja nicht, es sei Liebe, nein, denn es ist eine absurde Vorstellung, neben Verachtung und selbst Haß gebe es im Herzen noch Platz für die Liebe. Nein, es ist etwas anderes, wovon ich nicht weiß, wie ich es nennen soll..., ob es die Macht der Gewohnheit ist, wie du vorhin gesagt hast, ob Angst, Schwäche, gar sklavische Unterwerfung oder vielleicht Mitleid... Ich glaube, es ist wohl Mitleid, aber ich weiß nicht recht. Es gibt etwas, María Eugenia, das weit mehr bindet als die Liebe, nämlich zu wissen, daß man für das Leben des anderen unentbehrlich ist wie die Mutter für das ungeborene Kind. Das Wissen um unsere Unentbehrlichkeit läßt uns heldenhaft unsere ganze Existenz aufopfern, bis nichts mehr für uns selbst übrigbleibt...! Es ist ein dévouement81, den einem niemand dankt, und kaum einer versteht ihn, nicht einmal der, der dieses Opfer bringt, wie ich, oder der, dem es gebracht wird, wie Alberto …! Es gibt Männer, die uns Frauen zu unserem großen Kummer mit der durch nichts zu sprengenden Fessel des Mitleids an sich ketten, ähnlich der sklavischen Bindung von Müttern an ihre Kinder...!» «Das ist Liebe, Mercedes! Der klassische, ewige Tyrann: Liebe, mach es doch nicht komplizierter, als es ist!» «Von wegen Liebe! Genau das Gegenteil! Schau, wenn wir jemanden lieben, María Eugenia, hören wir seine Schritte und sind glücklich, wenn er hereinkommt, und wenn er uns bei etwas stört, begrüßen wir ihn freudig und unterbrechen gerne unsere momentane Beschäftigung; wir sind beglückt von seiner Stimme, von allem, was er sagt, denkt und uns vorschlägt; wenn er fortgeht, und sei es nur für ein paar Stunden, sind wir immer ein wenig traurig, und entdecken wir dann auf irgendeinem Möbelstück eines seiner Bücher, ein zerknülltes Taschentuch von ihm oder seinen Hut, streichen wir zärtlich darüber oder betrachten es voller Wehmut und regret 82 …! Doch was ich empfinde, ist das Gegenteil! Es ist eine ständige Unstimmigkeit in allem, wie ein ewi182
ger Mißklang in einem Akkord, den du immer, in jedem Augenblick, hörst, ohne daß du ihn auch nur für eine Sekunde abstellen könntest. Diesen Mißklang mußt du obendrein vor aller Augen kaschieren, was noch quälender ist; du mußt das, was dich quält, auch noch vor den anderen verteidigen, denn er gehört zu dir, weil er dir einen Namen, ein Heim und eine zweite Persönlichkeit gegeben hat, die jetzt deine ist, auch wenn du sie haßt und sie dich quält!» Die Vorstellung ihres Sklaventums empörte mich, und mit der Inbrunst eines Predigers der Revolution rief ich aus:«Also, wenn es so ist, verstehe ich nicht, was du sagst; wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich Alberto sofort zum Teufel jagen …! Auch wenn du es bestreitest, glaube ich, daß all diese Ketten nichts als romantische Illusionen sind, ähnlich wie bei Großmama und Tante Clara. In Wirklichkeit könntest du sie ganz einfach sprengen. Besitzt du nicht dein eigenes Geld zum Leben? Lassen sich die Frauen anderswo nicht auch scheiden? Du hast ja nicht einmal Kinder, Mercedes!» «Du verstehst nichts von diesen Dingen, und hoffentlich bleibt dir diese Erfahrung auch erspart. Befände ich mich nicht selbst in dieser Lage oder wäre egoistisch wie andere Frauen, fände ich meine Opferbereitschaft auch dumm, wenn nicht gar beschämend. Aber ich habe noch keinem je etwas abschlagen können, wenn ich ihm seinen Wunsch erfüllen kann und er mich so inständig bittet, weil er meine Hilfe wirklich braucht. Alberto quält mich ja nicht nur, er braucht mich auch, in moralischer, materieller und selbst physischer Hinsicht. Und obschon ich sehr wohl weiß, daß er, wenn er mich überhaupt liebt, es nur aus Egoismus tut, weil er nämlich auf mich angewiesen ist, kann ich ihn nicht einfach auf die Straße setzen, da mag er mich noch so sehr stören, und das hat er schon immer getan...! Natürlich könnte ich ein unabhängiges, glückliches Leben führen, wenn ich mich von Alberto scheiden ließe, aber ich weiß auch, daß er allein in die schlimmste débauche 83 verfallen würde! Wie oft hat er mir schon 183
gestanden, daß er sich ohne mich vollends dem Laster hingeben würde; nur ich könne ihm Halt geben und ihn vor einem Leben in Elend und Ausschweifung bewahren. Das ist nur allzu wahr, und da ich mir dessen bewußt bin, habe ich dauernd das Gefühl, er riefe verzweifelt nach mir, damit ich ihn bloß nicht verlasse, und: Me voilà! Hier bin ich und werde bleiben, damit die Bürde seiner Schmach nicht immer schwerer wird und ihn eines Tages erdrückt … Ach, Gutmütigkeit, Mitgefühl, Barmherzigkeit, sie beschränken unser eigenes Leben und rauben es uns Stück für Stück, weil wir es freigiebig an alle verschenken, die uns über den Weg laufen! Ein erfülltes eigenes Leben kennen nur hartherzige Egoisten …!» An dieser Stelle versagte Mercedes die Stimme, von den Tränen erstickt, die bei diesem Geständnis reichlich zu fließen begannen, ohne daß sie noch versucht hätte, sie zurückzuhalten. Daraus schloß ich, daß sich eine schreckliche Szene zwischen ihr und Alberto abgespielt haben mußte, was wohl öfter vorkam. Ich erhob mich vom Diwan, und während ich bei mir dachte:«Wie es scheint, hat es heute überall Donnerwetter gegeben …», ließ ich mich wieder auf dem Kissen nieder, das am Kopfende des Diwans auf dem Boden lag, streichelte ihr übers Haar und tröstete sie, so gut ich konnte:«Nein, Semiramis, dein Verhalten ist tausendmal gütiger und schöner als das hartherziger Egoisten. Im Moment finde ich dich so hübsch wie selten, denn ich habe das Gefühl, dich seit deiner Geburt zu kennen: Du warst immer nur großzügig und gut, hast dein Leben entblättert, damit die anderen es mit Füßen treten, wie Blüten, die man auf den Boden streut, wenn eine Prozession kommt... Weißt du, du verhältst dich Alberto gegenüber so wie das Sandelholz in dem indischen Sprichwort: ‹Mag der Holzfäller kommen, ich werde die Axt parfümieren, die mich fällt.› Siehst du? Wie du … Du bist wie das Sandelholz und die Blüten bei Prozessionen...!» «Ach! Musset, Chénier, Bécquer, du Poetin!»84 rief Mercedes aus und streichelte mir, lächelnd trotz ihrer Tränen, über die 184
Wange. Nach einer Weile schüttete sie mir, da sie nun schon dabei war, weiter ihr Herz aus:«Denkst du, ich litte nicht, María Eugenia? Meinst du denn, es sei nicht erniedrigend und demütigend, die Frau eines Mannes zu sein, der sich hemmungslos allen Lastern hingibt? Ach! Natürlich ist es erniedrigend und schrecklich dégôutant85. Dieses Zusammenleben ist unerträglich und abscheulich. Du kannst das nicht verstehen, ebensowenig wie Alberto, und wenn ich es ihm noch so oft erkläre, er versteht es nicht, denn sonst wäre er entsetzt. Besonders schwache, selbstlose Frauen…, ich weiß nicht …, Frauen wie ich, denen in diesem Leben der Liebe die Liebe verwehrt bleibt, kennen die Qualen und den Ekel der Frauen, die sich dem erstbesten auf der Straße hingeben … Ach! Aber das weiß niemand, denn darüber schweigt man und kaschiert es mit Hilfe von Konventionen und Regeln …! Das schlimmste ist, María Eugenia, und nur deshalb rede ich überhaupt mit dir darüber: Ich bin keine Skeptikerin, nein, ich glaube nämlich an das Glück und daß es leicht zu finden wäre, hätten wir immer jemanden, der uns großzügig bei der Suche hilft... Das ist der Grund, warum ich seit meiner Heirat bemüht bin, andere glücklich zu machen, Menschen zusammenzuführen, die gemeinsam ihr Glück finden können, um mich wenigstens mit den anderen zu freuen, wie damals im Patio meiner Freundin beim Anblick der lachenden, eng aneindergeschmiegten Figuren von Paul et Virginie im Regen …! Deshalb würde ich dich auch gerne eines Tages mit Gabriel verheiratet sehen, weißt du? Ich bin mir sicher, absolut sicher, daß ihr eine sehr glückliche ménage86 bilden würdet …!» Da es inzwischen schon so dunkel geworden war, daß man kaum noch die weiß schimmernden Umrisse unserer Gesichter erkennen konnte, fragte ich unbefangen und ohne Scham in leisem, eindringlichem Ton, in dem sowohl meine Bewunderung für sie als auch meine heftige innere Erregung mitschwangen:«Ja…? Wirklich…? Denkst du das wirklich, Semiramis?»
185
Da erklang endlich wieder Semiramis’ Stimme aus dem Garten der Wonnen, um mir mein zukünftiges Glück in bunten Farben auszumalen; der eigene Schmerz, die klaffende Wunde, die sie mir soeben offenbart hatte, schien vergessen, als sie im Brustton der Überzeugung und bebend vor Begeisterung sagte:«Das will ich wohl meinen …! Und obendrein noch ein hübsches Paar...! Ja... So gut, wie ihr beide ausseht...! Ach, ich würde euch gern einmal alsbergers87 verkleiden und zusammen porträtieren, daß es aussieht wie eine Schäferidylle von Watteau88...» Als ich das hörte, seufzte ich vor Behagen, vergrub den Kopf tief in der sanften Weichheit eines Kissens und sah mich in der Dunkelheit hinter meinen geschlossenen Lidern mit Gabriel mitten in einer Schäferidylle, wie man sie von Fächern kennt … Da ergriff ich Mercedes’ Hand, und unter dem Vorwand, sie zu trösten, herzte und küßte ich sie inbrünstig aus Dank für ihre Worte … Anschließend wartete ich ein paar Sekunden, bevor ich aufschaute und zitternd vor Ungeduld und Seligkeit verkündete:«Hör mal, Semiramis, es ist schon spät, und wenn du dich weiter so gehenläßt, wird es gleich acht sein, und wir trödeln immer noch hier im Boudoir herum!» «Du hast recht! Mach Licht!»sagte sie. Als das rote Licht im Boudoir wieder aufleuchtete, lag Mercedes dort auf dem Diwan und drückte sich mit der weißen, mit einem üppigen Solitär beringten Hand das Taschentuch auf die Augen; ich weiß nicht, ob sie sich geblendet fühlte oder sich jetzt im rötlichen Lichtschein für die Worte, die ihr über die Lippen gekommen waren, sowie für ihre Tränen schämte … Dann mit einemmal war Mercedes wie ausgewechselt: keine Spur mehr von der schmachtenden Trägheit auf dem schwarzen Diwan. Behende sprang sie auf und wusch sich lange die Augen mit lauwarmem Wasser und Eisenkraut aus. Anschließend nahm sie vor dem Toilettentisch mit den drei Spiegeln Platz und begann sich zu frisieren, wobei ihre erhobenen Arme sich im Spiegel 186
schneeweiß und wohlgeformt in einer unendlichen Reihe bis in alle Ewigkeit wiederholten. Während sie sich weiter mit mir unterhielt, die ich bereits fertig und frisch zurechtgemacht hinter ihr auf dem ebenhölzernen Schemel saß und sie in den diversen Spiegeln bewunderte, kämmte, schminkte und manikürte sich Mercedes sorgfältig, und als sie noch in ihrem déshabillé aus weißer Spitze mit flatternden Ärmeln den polissoir 89 schwang, ertönte von ferne die Türklingel. Mit der nervösen Listigkeit einer Katze auf der Jagd spitzte Mercedes die Ohren und sagte lachend, wobei die tadellose Frisur und die in frischem Rot entflammten Lippen ihren Worten Glanz verliehen:«Das ist Gabriel! Los, geh du ihm öffnen. Ich werde noch eine ganze Weile brauchen, um mich anzukleiden, und mich dann langsam in die Küche begeben, um zu veranlassen, daß der Cocktail bereitet wird, und anschließend werde ich noch ein paar Blumen in Auftrag geben; erst danach werde ich hastig in den Salon eilen, denn wie ich sehe, ist dieser Flirt in vollem Gange, so daß es vielleicht nicht ratsam wäre, euch lange allein zu lassen …!» Während sie mich auf diese Weise neckte, verfiel Mercedes erneut in ihr ureigenes argentinisches Gelächter, das so vieles bedeuten konnte … Unterdessen versuchte ich, meine heftige Erregung hinter einem Lächeln zu verbergen, und sagte, nahezu ohne zu wissen, was ich redete:«Ach! Wie perfide, Semiramis! Du machst dich bei jeder sich bietenden Gelegenheit lustig über mich..., und außerdem verbringst du deine ganze Zeit nur mit Zukunftsvisionen …!» Doch mit ihrer Ankündigung und ihren Visionen hatte mich Semiramis dermaßen verunsichert, daß ich mit rasendem Herzklopfen und eiskalten Händen das Boudoir verließ. Just in dem Moment, als ich den Patio durchquert hatte und den Eingangsflur betrat, schob der Hausdiener den Riegel beiseite, machte auf, und in der tiefen grauen Türöffnung erschien Gabriel.
187
Als er sah, wer ihn in Empfang nahm, trat er beiseite und hielt einen Moment unter einem Palmwedel inne, um festzustellen, ob ich es wirklich war, setzte dann ein strahlendes, überaus charmantes Lächeln auf und erwartete mich, den Hut noch in der Hand, von weitem, ohne sich von der Stelle zu rühren, wobei er entzückt ausrief:«Oh …! Heute abend haben wir ja eine ganz bezaubernde neue Frisur …!» «Ein Schabernack von Mercedes, die mich heute einmal anders frisiert hat!»erwiderte ich, während ich mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging, um ihn zu begrüßen. «Dann will ich heute abend aus noch tieferer Überzeugung als sonst bekennen, was ich schon immer gesagt habe: Es lebe der Schabernack!» Während er gerade noch den Schabernack pries, nahm er meine Hand in seine und rief erstaunt und voller Mitgefühl aus:«Wie eiskalt diese Hand ist! Mein Gott! Wer hat Sie mir bloß so verschreckt!» Ich wollte gerade irgend etwas sagen und er etwas antworten, als genau in diesem Augenblick erneut Schritte im Hausflur zu hören waren, jemand an der Tür klingelte und ein Schlüssel im Schloß knirschte. Die Tür ging auf, und herein trat Alberto, nervös, besorgt und furchtbar aufgeregt, wie immer nach einer Szene mit Mercedes. «Sicher wird er sich schnurstracks in sein Zimmer begeben, um sich fürs Abendessen umzuziehen», dachte ich voller Optimismus. Doch Alberto ging nicht. Er blieb im Korridor stehen, um sich mit uns zu unterhalten, und als er schon im Aufbruch begriffen zu sein schien, hallten erneut Schritte jenseits der Tür, wieder klingelte es, der Diener öffnete, und Onkel Pancho Alonso trat ein. Meine Augen blickten ihn an, meine Hände begrüßten ihn, doch tief in meinem Inneren dachte ich:«Ach, Semiramis! Semiramis! Barmherzige, gute Semiramis …! Du wärst nicht so durch
188
den Flur gepoltert, hättest nicht auf die Klingel gedrückt, du wärst nie gekommen...!» Und während ich sie bei Onkel Panchos Begrüßung innerlich herbeisehnte, erschien sie, die, wie immer wachsam, am leisen«Ring, Ring, Ring»jeden erkennt, der im Haus ein- und ausgeht, nun, da ihre Zurückhaltung überflüssig geworden war und sie den Cocktail sowie die Blumen bereits in Auftrag gegeben hatte, stolz lächelnd und wunderhübsch in ihrem feinen schwarzen Kleid, das sich wie ein Seidenhandschuh an ihren gertenschlanken Körper schmiegte, unter den Palmen im Patio. Sie trat in den Flur und begrüßte Onkel Pancho überaus herzlich; Alberto ließ sie links liegen, als wäre er Luft; und während sie zur Begrüßung auf Gabriel zuging, der ein wenig abseits stand, ergriff sie sanft meinen Arm und zog mich mit sich. Als wir dann unmittelbar vor Gabriel standen, nahm sie mein Gesicht in ihre duftenden Hände, führte es ganz nahe an ihn heran, als böte sie ihm ein Geschenk dar, und sagte zur Begrüßung mit einschmeichelnder Stimme, so sanft wie Musik:«Findest du nicht auch, daß sie heute noch viel hübscher aussieht als sonst...?» Gabriel schenkte mir nun aus der Nähe ein ebenso charmantes Lächeln wie anfangs von ferne und rief mit der gleichen Theatralik wie Mercedes, so als flehte er mit letzter Kraft um Gnade:«Mein Gott, Mercedes, verschone mich! Hör auf, sie immer noch hübscher zu machen...! Wirklich, es ist genug...!» Da platzte Onkel Pancho mit zwei goldverzierten Gläsern dazwischen, eines in jeder Hand, und verdarb in der Absicht, heitere Stimmung zu verbreiten, den Moment, als er galant verkündete:«Der Cocktail!» Alberto, der geistesabwesend auf einem Stuhl saß, schreckte beim Anblick der goldverzierten Gläser hoch, sprang auf und hastete aufgeregt davon, wobei er ausrief:«Ach! Ich ziehe mich noch rasch um, es ist ja allerhöchste Zeit!» «Ja...! Das fällt dir aber reichlich früh ein!»
189
Beim Abendessen führte Mercedes das Wort, wie gewohnt auf dem Platz zwischen Onkel Pancho und Gabriel, die jeweils an den Kopfenden untergebracht waren. Alberto saß ihr gegenüber und ich, ebenfalls Mercedes gegenüber, zwischen Alberto und Gabriel. Ohne Zweifel aufgrund der rätselhaften, aber offensichtlichen Mißstimmung, die Mercedes zum Weinen gebracht hatte, redeten Mercedes und Alberto nicht miteinander. Nichtsdestotrotz verlief die Unterhaltung dank der Cocktails und des Médoc angeregt und lebhaft. Onkel Pancho fühlte sich ganz in seinem Element, und wir drei, Mercedes, Gabriel und ich, glücklich verbunden durch unser Geheimnis, feierten mit fröhlichem Gelächter alles, was Onkel Pancho von sich gab. Alberto hingegen kochte vor Wut, und auch das brachte uns zum Lachen. Abgesehen von dem Streit mit Mercedes hatte man ihm am Nachmittag gerade einen Regierungsposten verweigert, auf den er schon seit Monaten spekuliert hatte. Aus Rache für seine Niederlage zog er aufs übelste über die Regierung, die Zeitungsreporter, das diplomatische Corps, die Polizei, die Geschäftsleute, die Dichter und das gesamte Land her.«Herrje! Welch eine Schande! Was für ein Land! Schrecklich! Es bleibt einem keine andere Wahl, als möglichst schnell auszuwandern, wohin auch immer, und wenn man einen alten Kahn nimmt oder selbst schwimmt: Hauptsache weg!» Onkel Pancho äußerte daraufhin eine Menge abstruses Zeug über das Schwimmen als Fortbewegungsart, und Gabriel lachte, doch dann ließ er sich immer mehr in die Diskussion verwickeln, bis er sie schließlich mit einem langen Vortrag beendete, dem Alberto geduldig, Onkel Pancho grinsend und Mercedes und ich andächtig lauschten:«Nein, du irrst dich, Alberto, du hast vollkommen unrecht mit dem, was du da sagst! Wir haben es doch gut hier in Venezuela. Bei uns herrschen Ordnung, Fortschritt und Frieden, was willst du mehr? Dein großer Irrtum ist, daß du uns mit den mächtigen europäischen Nationen vergleichst, Ländern, die seit Jahrhunderten perfekt funktionieren, und zwar auf 190
den eingefahrenen Bahnen ihrer Vergangenheit und ihrer Traditionen und als festgefügte Volksgemeinschaften. Wir hingegen stecken gerade in einer Phase, in der sich die Gesellschaft erst entwickeln muß, mitten in einem Prozeß der Verschmelzung verschiedener Rassen, die obendrein seit jeher zur Anarchie neigen. Während eines solchen gesellschaftlichen Prozesses braucht Venezuela am ehesten eine Regierung, der es gelingt, den Frieden zu erhalten, und zwar um jeden Preis. Und genau das tut unsere jetzige Regierung; sie ist vor allem um den Erhalt des Friedens bemüht, so lautet ihr Programm, und deshalb unterstütze ich sie und werde es auch weiterhin tun. Wir sind auf einem guten Weg …! Ach, und glaub ja nicht, es sei Unfug, Venezuela vom Geist der Caudillos90 zu befreien, der eine Folge nicht nur des schwierigen Prozesses der Rassenverschmelzung ist, sondern auch vergangener Siege und Machtstrukturen. Ja, unser Glaube an den Caudillo ist aus den glorreichen Tagen der Unabhängigkeitskriege erwachsen und zehrt bis heute davon. Doch er erdrückt uns, vernichtet uns, macht uns das Leben schwer; er ist wie Unkraut, das ausgemerzt werden muß … Hier in Venezuela genießen wir zwar den Ruhm, als Befreier des halben Kontinents zu gelten,91 aber es war auch ein Luxus, der uns teuer zu stehen gekommen ist, und dafür bezahlen wir noch heute!» Doch Alberto beschloß auf einmal, die Diskussion nicht weiterzuverfolgen. Als Gabriel geendet hatte, musterte er ihn eine Weile wortlos und sagte schließlich:«Ich sehe, dir liegt viel an der Regierung …! Und das, Gabriel, riecht mir verdammt nach Öl! Ach! Die Geschäfte mit Monasterios scheinen blendend zu laufen!» Gabriel legte sich eine Hand auf die Brust und sagte voller Überzeugung:«Mein Wort darauf! Ich bin völlig unparteiisch; was ich sage, ist meine ehrliche Meinung! Ich würde das gleiche sagen, wenn ich kein Freund, sondern ein Feind der Regierung wäre und es sich nicht um Venezuela, sondern um ein anderes Land in einer vergleichbaren Situation handelte!» 191
Alberto verlor nun das Interesse an der Regierung und möglichen Intrigen und beschimpfte statt dessen die Zeitungsreporter, Historiker und Dichter, die er«eine Horde von Idioten und Schwachköpfen»nannte. Onkel Pancho, der sich soeben sein zweites Glas Médoc genehmigt hatte, erwiderte darauf seelenruhig:«Ich weiß nicht, warum du dich so über die Schreiberlinge erregst, Alberto. Ich finde unsere literarische Schule im allgemeinen sehr pittoresk, altruistisch und absolut akzeptabel. Sie ist ein einziger heiterer Pressekarneval. Welches Thema auch behandelt wird, ob Unabhängigkeitskämpfer, berühmte Künstler oder historische Fakten: Meistens wird es mit einer bunten Lawine von Lobhudeleien überschüttet, hier und da streut man zufällig zusammengewürfelte Adjektive darüber wie Konfetti, das einem beim fröhlichen Karnevalsfest im Haar hängenbleibt. Ist das nicht schön...? Ist das nicht lustig...? Der sichtbare Beweis unserer heiteren, großzügigen Wesensart...?» «Ach, ja, das ist wohl wahr!»rief Mercedes mit angewiderter Miene aus.«Deshalb lese ich diese Zeitungsartikel auch nie. Schon seit vielen Jahren bin ich einfach dégoûtée92 vom Karneval! Das ist kein Vergnügen für ehrbare Leute!» Gabriel warf ein:«In der Tat glaube ich auch, daß unsere Liebe zum Karneval und unser Hang zum Adjektiv den gleichen Ursprung haben: die Großspurigkeit! Ja, die Großspurigkeit liegt in der kreolischen Natur. Von Kalifornien bis Feuerland ist sie verbreitet, mit einer leichten Steigerung in den tropischen Regionen. Das ist eine Frage des Temperaments. Alle Unabhängigkeitskämpfer zeigten sich großspurig in ihren Aufrufen, wir sind nicht anders, und unsere Enkel werden sich kaum darüber erheben können, da sie mindestens ebenso, wenn nicht noch schlimmer davon betroffen sein werden. Was willst du, Pancho? Das Streben nach Größe liegt uns im Blut; das ist ein Vermächtnis der Konquistadoren, ebenso wie diese unstillbare Gier nach dem Prunk von El Dorado93. Wir lieben die Ausschweifung, wir sind ver192
schwenderisch, großzügig, eitel und auf jeden Fall ziemlich lächerlich. Deshalb haben uns die Franzosen auch den Beinamen rastaquouère94 gegeben, wovon rasta übriggeblieben ist, eine lustige Verkürzung wie ein Cocktail, eine Mischung aus allen unseren psychologischen Eigenarten mit einem Hauch von bitterem Beigeschmack… Dafür zeichnen die Franzosen sich durch das gegenteilige Laster aus, nämlich Knauserigkeit und Geiz, was noch weitaus schlimmer ist, und da sie diesem Laster nur innerhalb der eigenen vier Wände frönen und es jeder Komik entbehrt, haben sie es nicht verdient, nach ihrem Volkscharakter benannt zu werden … Aller Kritik zum Trotz schäme ich mich nicht unserer Verschwendungssucht, denn ich glaube, daß sie eine unmittelbare Folge der reichen, üppigen und unbändigen Natur ist, der ungeheuren Vitalität des neuen Kontinents, der Sonne, der Tropen!» «Nein. Es sind die Neger!»behauptete Onkel Pancho im Brustton der Überzeugung. «Mein Gott, Pancho!»sagte Mercedes ungehalten.«Fang nicht schon wieder damit an, die ganze Welt ‹schwarzzumalen›. Ich sage dir gleich, daß ich alles, was mit Finanzen zu tun hat, verabscheue und mit Freuden mein Geld verschwende, genau wie Gabriel sagt, und trotzdem fühle ich mich durch und durch weiß. Ça j’en suis sûre! Ah! Ma généalogie, mon cher, c’est quelque chose de très chic...! »95 «Ta généalogie! Mais la généalogie, ma pauvre Mercedès, c’est tout ce qu’il y a de plus factice et de plus conventionnel! »96 erwiderte Onkel Pancho und erklärte gleich, was er damit meinte:«Schau, Mercedes, um dir klarzumachen, wie wenig du auf die Reinheit deines Blutes vertrauen kannst, brauchst du dir nur eine Kleinigkeit zu vergegenwärtigen: Während des Unabhängigkeitskrieges hat Bolívar die Mulatten in seinen Proklamationen97 aus Gründen der Staatsräson aufgewertet und sie in Mode gebracht, und mehr brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Du weißt ja selbst, wie die Frauen sind, wenn es um Mode geht …!» 193
Doch plötzlich bemerkte Mercedes die Anwesenheit des schwarzen Dieners, der am Tisch servierte, und aus Rücksicht auf ihn und aus Furcht davor, was Onkel Pancho noch vorbringen würde, fiel sie ihm mit einem verstohlenen Blick in Richtung des Bediensteten ins Wort:«Mais parle en français, Pancho!»98 Onkel Pancho überhörte die Warnung und sprach ungerührt weiter:«... In jenem Durcheinander, als die Patrioten zurückwichen und die Realisten vordrangen, zwischen dem Erdbeben von 1812 und dem Rückzug im Jahr 1814,99 gingen die Frauen ihren Weg, die Ehemänner einen anderen, und es gab Aristokratinnen wie die Aristeiguetas 100, die sich köstlich amüsierten. Ich will sie gar nicht kritisieren, sondern glaube, daß sie recht daran taten die Ärmsten! -, warum sollten sie nach drei Jahrhunderten in Unfreiheit und Langeweile nicht das Recht haben, sich ein wenig frei zu fühlen, zumindest, solange die Unabhängigkeit andauerte…? Einmal abgesehen davon, daß sie sich auf ein klassisches Recht berufen konnten, sanktioniert durch die Geschichte und die Tradition seit dem Trojanischen Krieg. Ja, das ist nichts Neues, denn so war und ist es und wird es immer sein, über Jahrhunderte hinweg: Während die Männer Heldentaten begehen und sich mit Ruhm und Ehre, Litzen, Helmbüschen und Orden schmücken, genießen die Frauen, die im Grunde weniger prunksüchtig und weitaus bescheidener sind, klammheimlich und im verborgenen die Herrlichkeit der Liebe und der Küsse. Dann kehrt allmählich wieder Frieden ein, der Patriotismus gedeiht, und, von allen begeistert gefeiert, blüht die Erinnerung an den Glanz in den Heldensagen, den Standbildern, den Söhnen, und alles läuft bestens! Daher glaub mir, Mercedes: Während der Unabhängigkeitskämpfe ist es wie in jedem wichtigen Krieg zwangsläufig zu einer zeitweiligen Liberalisierung gekommen. Ein Beweis dafür sind die Klöster: In der Kolonialzeit florierten sie, wurden dann immer seltener, und die Unabhängigkeit überstand kaum eine unverheiratete Frau ohne ein Kind, das auf mysteriöse Weise in ihre Ob-
194
hut geraten war...! Wenn ich mich nicht irre, kann ich dir zwei oder drei deiner oder meiner Verwandten nennen...» Mercedes schnitt Onkel Pancho barsch das Wort ab, indem sie ihn anfuhr:«Nichts, aber auch gar nichts davon ist wahr! Vor allem das mit den Aristeiguetas, Pancho, ist eine reine Verleumdung. Das kannst du mir glauben. Ich selbst stamme mütterlicherseits von einer der Damen ab und habe immer sagen hören, die Legende von der Liebschaft mit dem Prinzen von Bragança sei unwahr, ebenso wie die mit Carlos Piar, dem Grafen Ségur oder allen anderen!101 Die ‹neun Musen› waren ehrbare Damen. Nur weil sie bildhübsch waren und ein wenig die Nase rümpften über die Bourgeois und die Tartuffes102 aus der Kolonialzeit, geschah, was immer geschieht: Man beneidete sie und zog sie daher in den Dreck!» «Gut! Darauf kann ich nur sagen, Mercedes, daß Bolívar, der sich durch Scharfblick und hellseherische Fähigkeiten auszeichnete, sie alle in der Hölle schmoren sah. Wohl kaum ohne Grund!» «Aus Angeberei, um sich aufzuspielen, denn alle Männer, ausnahmslos alle, so manierlich sie sich auch geben mögen, sind Prahlhänse!» «Ich bitte dich, Mercedes, Bolívar war doch viel jünger als seine Kusinen, die Aristeiguetas. Ihm wäre es niemals in den Sinn gekommen, sich für sie zu interessieren!» «Der Befreier», sagte Gabriel dogmatisch,«verbannte die Aristeiguetas, um die Hölle von ihrer unheilvollen theologischen Bedeutung zu befreien. Zweifellos dachte er wie ich, daß die Anwesenheit einer schönen Frau genügt, um die schrecklichsten Qualen in einen Schwall von Freude und Glückseligkeit zu verwandeln … Doch unglücklicherweise sind wirklich schöne Frauen überall rar gesät, äußerst rar! Waren die Aristeiguetas tatsächlich so außergewöhnlich? Ist es nicht viel eher ein Gerücht und ihr Ruhm unverdient, wie es heutzutage so häufig in Caracas vorkommt? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja! Damals, gegen Ende 195
des achtzehnten Jahrhunderts, müssen die Leute einen sehr schlechten Geschmack gehabt haben!» Ich folgte nun nicht mehr der allgemeinen Unterhaltung, denn als Gabriel sagte, die wahrhaft schönen Frauen seien rar gesät und ihre Gegenwart verwandle große Qualen in einen Schwall von Freude und Glückseligkeit, hatte er seine Hand unauffällig meiner genähert, die auf dem weißen Tischtuch lag, und angefangen, sie mit dem kleinen Finger sanft zu streicheln, wie um mir zu verstehen zu geben, daß seine Worte eigentlich mir galten. Bei dieser zarten, kaum wahrnehmbaren Berührung lief mir ein nie gekannter, rätselhafter Schauder über die Haut, der mich durchzuckte wie ein Stromschlag... Da blickte ich, ohne mir dessen recht bewußt zu sein, zu Gabriel auf, der nur darauf gewartet zu haben schien, und als sich unsere Blicke trafen, schauten wir uns eine Weile an und lächelten, denn anscheinend hatten wir uns, ohne ein Wort zu sprechen, nur mit den Augen und der sanften Berührung unserer Finger sehr viel gesagt … Doch ich schlug sogleich die Augen nieder, ich weiß nicht, ob aus Schüchternheit oder Zurückhaltung, denn ich mußte daran denken, wie Mercedes gesagt hatte:«Dieser Flirt ist bereits in vollem Gange, so daß es vielleicht nicht ratsam wäre, euch allein zu lassen...» Immer noch lächelnd, den Blick starr auf eine weiße Rose vor mir geheftet, die in der Meißener Vase ihren Kopf hängen ließ, dachte ich an Mercedes’ Worte, als sie mir eine lange Zigarettenspitze aus Elfenbein versprach … Während Gabriel weiterredete und ich immer noch auf die Rose starrte, kam mir auf einmal der Gedanke:«Warum war Alberto, der sonst immer so spät heimkehrt, heute nur schon so früh zurück...? Warum war Alberto, der sonst, sobald er nach Hause kommt, schnurstracks in sein Zimmer geht, um sich umzukleiden, ausgerechnet heute bei uns im Flur stehengeblieben...? Ach! Welch ein Pech...! Na gut, Alberto war im Flur geblieben, weil wir dort standen; hätten wir uns im Salon aufgehalten, wäre er einfach vorbeigerauscht...! Es ist un196
sinnig, im Flur zu bleiben, wo es im Salon doch viel angenehmer ist. Wie dumm! Gabriel hatte mir gerade etwas Interessantes sagen wollen, als Albertos Schritte im Hausflur zu hören waren... Noch hätten wir Zeit gehabt, uns in den Salon zu begeben...! Natürlich...! Und im Salon hätte er es mir dann gesagt! Aber …, ach, wenn mir Gabriel dort auf einmal, anstatt etwas zu sagen - zack! einen Kuß gegeben hätte, wie Mercedes befürchtete, ähnlich wie mein Freund, der kolumbianische Dichter, damals abends auf dem Dampfer... Wie hätte ich reagiert …? Ich weiß nicht … Aber ganz sicher hätte ich es Mercedes nicht erzählt, um nichts auf der Welt... Nein, nein, nein …! Mehr noch, hätte sie, der nichts entgeht, Verdacht geschöpft, hätte ich selbst auf die Gefahr hin, auf meine Zigarettenspitze verzichten zu müssen, es rundweg abgestritten … Aber welch eklatanter Unterschied zwischen Gabriel und meinem Freund vom Schiff …! Wenn der lächelte, verzog er irgendwie das Gesicht, wobei er mit der Nase wackelte wie ein Karnickel, wohingegen Gabriel … gar kein Vergleich mit Gabriel…!» Um mich des Unterschieds noch einmal zu vergewissern, sah ich erneut auf, und wieder traf mein Blick den Gabriels, der unverwandt auf meine freie Stirn gerichtet war und wohl alle meine Gedanken hatte lesen können, während ich verträumt die Rose angestarrt hatte … Als Gabriel merkte, daß ich ihn anschaute, lächelte er. Und ich sah mich gleich bestätigt:«Gar kein Vergleich!» Da sagte er mit leiser Stimme und diesem Gesichtsausdruck, den er bereits unter der Palme bei der Wohnungstür gezeigt hatte:«Ich kann nicht umhin, María Eugenia, zu wiederholen, was ich bereits vorhin zu Mercedes sagte: Es ist einfach unerhört, sich so hübsch herzurichten! Die reine Niedertracht!» «Aber nein, im Gegenteil... Dieses Kleid steht mir doch gar nicht», sagte ich, wobei ich seinem Blick auswich und mühsam das Lachen unterdrückte.
197
Unwillkürlich suchte ich hinter der Meißener Vase nach dem zarten Gesicht von Mercedes, die gedankenverloren, ohne auf jemanden zu achten, mit der Spitze des silbernen Rührlöffelchens die Linien ihres geschliffenen Glases nachzog, und obwohl sie ganz in die Betrachtung des Glases versunken schien, so geheimnisvoll lächelte, daß ich ruhig abwartete, bis sie aufschaute, um ihr ebenfalls lächelnd mit den Augen zu verstehen zu geben:«Du weißt längst alles, Semiramis, das mit dem kleinen Finger, der Niedertracht und überhaupt alles …! Bleibt deinem Blick denn nichts auf Erden verborgen, bist du wie Gott, der alles sieht...? Ach, mit deinem Röntgenblick würdest du eine fabelhafte Detektivin abgeben!» Unterdessen hörte Alberto nicht auf, wie ein Jeremias103 über sein Pech zu jammern und über die Benachteiligung dessen, der nicht genug Geld besitzt. Doch Onkel Pancho beschloß, sich für die heilige Sache der Armut einzusetzen, und verband den Geist des Diogenes104 mit der Lehre des Evangeliums, als er sagte:«Den Reichen gibt es nicht! Nahezu alle Reichen sind arm, bettelarm, und diese Armut der Reichen ist um so herzzerreißender, als kein Kraut dagegen gewachsen ist. Physisch gesehen, essen und trinken sie nicht, weil sie zu Verdauungsstörungen neigen und sich sehr schonen müssen, um jemanden zu haben, der auf ihr Geld aufpaßt; und moralisch gesehen, trinken und essen sie ebensowenig, denn in der Regel leiden sie auch an Störungen der Intelligenz. Schau, Alberto, die Reichen haben wundervolle Bildergalerien, doch in Wirklichkeit empfinden sie nichts für Malerei; sie sammeln Bücher, lesen aber nicht; sie besuchen Konzerte und Opern mit weltberühmten Sängern und langweilen sich in ihren Logen, denn sie machen sich nichts aus Musik. Und gibt es etwas Schrecklicheres, etwas Qualvolleres als diese immerwährende Nüchternheit inmitten des Überflusses? Das moralische Fasten der Reichen wäre tragisch wie die Qualen des Tantalus105, wäre es nicht gleichzeitig so grotesk. Ja, Tantalus war sich seines Fastens bewußt und empfand den erhabenen Schmerz des Hun198
gers. Die Reichen hingegen dürfen kauen und schlukken, nur schmecken sie nichts, da ihnen der Gaumen dafür fehlt. Doch das wissen sie nicht und ahnen nicht im mindesten, daß sie immer nur fasten. Es ist wahrhaft absurd, denn trotz ihrer Übersättigung ist es, als hätten sie noch nicht den ersten Bissen probiert.» Gabriel bemerkte:«Ich werde mir diese These merken, Pancho: ‹der hungrige Reiche›... Eine neue sozialistische Parole, die ich wesentlich interessanter finde als die vom ‹reichen Geizhals›, die schon viel zu abgedroschen ist.» «Ja, und abgesehen davon, daß sie nicht essen», fuhr Onkel Pancho lebhaft fort,«arbeiten die Reichen zuviel. Sie sind immerzu müde, geschwächt und ermattet von ihrer Sorge um Schlösser und Riegel, hinter denen sie ihr Geld in Sicherheit bringen, und der Furchtsamkeit, mit der sie es bewachen, denn ihre Gemütsverfassung gleicht der einer Bulldogge, die ständig bellt, anstatt zu schlafen, weil sie sich einbildet, Einbrecher ums Grundstück schleichen zu hören. Sie glauben, sie verdienten die höchsten Auszeichnungen, und da ihre Eitelkeit sie erbarmungslos dazu treibt, Ehre und Anerkennung nachzujagen, haben sie viel mit Rennpferden gemein, die mit letzter Kraft hinter den Siegern herkeuchen, um sie noch einzuholen. » «Das heißt also, Pancho, daß du den Reichtum in die Hände oder, besser gesagt, in die Pfoten der Tiere legst», sagte Alberto staunend.«Nun ja, immerhin auch eine Möglichkeit, sich über die Armut hinwegzutrösten!» «Nein. Es ist meine ehrliche und aufrichtige Überzeugung. Ich glaube felsenfest, und habe es immer geglaubt, daß Gott weniger durch den Mund von Jesus Christus die Armut gepriesen und das Geld verdammt hat, sondern daß vielmehr die wahre Verurteilung, der wahre Bannfluch, den Gott tagtäglich gegen den Reichtum schleudert, klar ersichtlich wird, wenn man das Personal betrachtet, das Gott höchstselbst zu dem Zweck erwählte, besagtes Privileg vorzuführen und zugleich in Mißkredit zu bringen.»
199
Nun sagte Mercedes:«Hör mal, Pancho, seit geraumer Zeit schon redest du wie ein Sansculotte 106, und deine Ideen behagen mir ganz und gar nicht, sie riechen mir zu sehr nach Sozialismus. Mir liegt nicht viel am Geld, doch die Demokratie, die Boheme und die sainte pauvreté107 sind mir ein Greuel: Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber ich glaube, daß alle drei eine Menge Wasser und Seife nötig hätten! Vergiß im übrigen nicht, daß wir selbst mal reich waren. Wenn du also die Reichen beschimpfst, beschimpfst du deine und meine Vergangenheit.» «Weil wir es eben nicht verdienten, reich zu sein; weil es ein Fehler war und obendrein paradox, hat Gott beschlossen, uns für immer von der Liste zu streichen.» «Also ich gebe Mercedes recht», sagte Gabriel,«und bin dafür, daß man mich in die Liste aufnimmt, selbst wenn mir danach Pferdeohren und ein Hundeschwanz wachsen.» «Ach, das glaube ich dir gerne!»sagte Alberto wichtigtuerisch.«Ich biete mich als erster für die Liste an, nicht mit Pferdeohren, die man ja bis zu einem gewissen Grad unter einer Mütze oder lokkigem Haar verbergen könnte, sondern ohne Umschweife gleich mit dem Kopf eines Esels.» «Nehmt mich auch auf», sagte Mercedes laut lachend.«Ich verbürge mich dafür, daß ich meinen eigenen Kopf behalte und mir weder Ohren noch Schwänze wachsen werden!» Ich meldete mich ebenfalls eilfertig zu Wort:«Mich auch, nehmt mich dazu, und danach mag kommen, was Gott will!» Und Gabriel sagte ganz ungezwungen und vergnügt:«Anders als du, Pancho, ziehe ich tausendmal die groteske Langeweile der Reichen dem erhabenen Schmerz des Hungers vor, wie du es nennst. Stell dir nur mal einen Moment lang das schreckliche Martyrium vor, einen feinen Gaumen zu haben, wenn wir wissen, daß dieser Gaumen dazu verdammt ist, nie etwas zu kosten, oder fast nie. Das schlimmste ist nicht der Mangel, wie bei deinen Reichen, sondern daß man sich dieses Mangels schmerzlich bewußt ist, so wie in unserem Fall. Wer leidet, ohne zu verstehen, 200
muß nichts ertragen, er ist wie der Patient, den man unter Betäubung operiert und der seine Schmerzen nicht spürt, da er zu dem Zeitpunkt das Bewußtsein verloren hat. Um den ganzen wunderbaren Rausch des Lebens zu erfahren, Pancho, ist, abgesehen von vielen subjektiven Voraussetzungen, Geld als Eintrittkarte zu den Banketten unverzichtbar. Dort versetzt uns das Leben in einen Rausch, das weißt du doch selbst am besten! Aus meiner Sicht gibt es eine über alles erhabene Dreifaltigkeit, ohne die unsere Freude immer verstümmelt und unvollkommen bliebe. Sie besteht erstens und vor allem aus der göttlichen Liebe, dem Ursprung jeglicher Freude und Glückseligkeit, aus der absoluten, vollkommenen Liebe, der göttlichen Liebe einer Frau, die körperlich so hübsch ist wie erhaben an Geist. An zweiter Stelle steht die Intelligenz, dieses subtile Wissen um die Dinge, der ‹moralische Gaumen›, wie du sagen würdest, der eine Unzahl feinster Nuancen und erlesener Empfindungen nach sich zieht; und erst an dritter Stelle schließlich, als aufmerksamer Diener, Priester der ersten beiden Gottheiten und Lieferant, der den ‹moralischen Gaumen› versorgt, kommt das Geld als unverzichtbarer Teil des Ganzen, sozusagen als das dritte Standbein, hinzu, ohne das das gesamte Gebäude einstürzen würde … Ach, sollen alle, die es nicht nach der göttlichen, absoluten Liebe verlangt und die nicht ihren pulsierenden Verstand spüren, ruhig das Geld verachten! Ich hingegen finde es erstrebenswert, denn für meine Dreieinigkeit ist es unabdingbar, als der spendable Freund, der treue, gefällige Diener. Das Geld wird nur zum Tyrannen derer, die nicht mit ihm umzugehen verstehen, wie diese dummen Reichen, von denen du sprichst; aber über uns, die wir imstande sein werden, es konsequent auf seinen Platz zu verweisen; über uns, die wir es uns immer zu Füßen halten werden wie einen beflissenen Sklaven, der uns jeden Wunsch erfüllt, die wir es beherrschen, anstatt es uns; über uns möge es kommen mit seinem ganzen Heer von Münzen und uns ständig begleiten und dabei helfen, das Leben zu erobern! » 201
«Bravo, Gabriel!»rief Alberto begeistert aus.«Du bist von bewundernswerter Eloquenz! Es lebe das Geld, nieder mit der geheiligten Armut! Stoßen wir auf den Rausch des Lebens an und die Heilige Dreifaltigkeit Marke ‹Gabriel Olmedo›». Auch diesmal, während er redete, hatte Gabriel mir zu verstehen gegeben, daß seine Worte eigentlich mir galten. Als er die«göttliche Liebe»erwähnte, hatte er mich nicht nur rasch mit einem vielsagenden, funkelnden Blick bedacht, sondern war auch wie schon zuvor mit seiner Hand näher gerückt, aber auf eine ganz besondere, bedeutungsvollere und impulsivere Weise. Später, als Alberto sagte:«Stoßen wir auf die Heilige Dreifaltigkeit Marke ‹Gabriel Olmedo› an», hatte er rasch mein Glas nachgefüllt und mir, ganz nah zu mir herübergeneigt, mit einer herrlich geheimnisvollen Stimme ins Ohr geraunt:«Ja, stoßen wir an, denn wir beide haben es schon fast erreicht …!» Doch als ich nach meinem Glas griff, erhob Mercedes die Hand, gebot uns Einhalt, bevor jemand einen Schluck nehmen konnte, und sagte:«Darauf stößt man nicht mit Wein an, sondern nur mit Champagner …!», und dann ordnete sie, zum Diener gewandt, an:«Öffnen Sie bitte eine Flasche Champagner, aber rasch, ganz rasch!» Als alle Gläser bis zum Rand mit goldenem Schaum gefüllt waren, war sie es, die als erste ihr Glas erhob und einen Toast aussprach:«Auf die Liebe, auf den Reichtum und auf das Glück der hier Anwesenden!» Dabei lächelte sie Gabriel zu, der sofort begriff, wer mit den Anwesenden gemeint war. Onkel Pancho sagte seinerseits mit geheuchelter Bescheidenheit, während er sein Glas betrachtete:«Du hast mich geschlagen, Gabriel! Aber angesichts der Tatsache, daß meine Niederlage eine ruhmreiche ist, denn sie gipfelt in einem Glas Champagner, will auch ich anstoßen, doch! Ein Prosit auf diese wundersame Dreifaltigkeit, wenn ich auch leider Gottes weder an sie glaube, noch auf sie hoffe, sie möge ewig herrschen!» 202
Dann tranken wir alle mit vergnügtem Gelächter... Nach dem Essen wechselten wir in den Salon, wo wir den Kaffee zu uns nahmen, und als ich die Liköre servierte und alle immer noch voller Leidenschaft über Liebe, Glück und Geld redeten, musterte Mercedes mich, an ihrem smaragdgrünen Minzeglas nippend, wenige Sekunden lang und schlug mir dann vor:«Warum spielst du nicht etwas, María Eugenia …? Komm, laß uns diesen Tango hören... Wie heißt der noch?» «‹Cielito lindo›108 …?» «Ja, genau, ‹Cielito lindo›.» «Das ist kein Tango, hör mal, das ist ein danzón 109.» «Ja, stimmt, ‹Cielito lindo› ist ein danzón mit der Seele und den Gefühlen eines Tangos», unterbrach Gabriel kurz sein Gespräch mit den anderen.«Du mußt ihn unbedingt heute abend spielen, María Eugenia!»Und da seine Gesprächspartner seine Aufmerksamkeit beanspruchten, wandte er sich wieder von uns ab und seiner Unterhaltung zu. Brav und folgsam begab ich mich sogleich zum Klavier, das quer in einer Ecke des Salons steht und mit der Wand einen dreieckigen, intimen Schutzraum bildet, was für den Spielenden sehr angenehm ist. Als ich dort saß, konnte ich mich ungestört sammeln, bevor ich meine Finger behutsam auf die Tasten legte und das sanfte Wiegen begann, und schon bald wirbelte der süße Trott der Noten in meiner Seele einen feinen Staub von unerklärlichen Gefühlen auf... In diesem weichen Nebel der Gefühle ließen meine auf- und abhuschenden Finger, meine sich wiegenden Arme und meine verträumte Seele sich in wollüstiger Verzückung von dem sinnlichen Zauber der Musik mitreißen, bis neben mir am ebenhölzernen Klavier plötzlich Gabriel auftauchte... Ruhig folgten meine Finger weiter den Elfenbeinpfaden, und Gabriel fing, an das Klavier gelehnt, mit halblauter Stimme an, die Melodie zu singen, die meine Finger spielten.«Ah-a-a-ah! Ciel-li-to-lindo!» Doch kurz darauf beschloß er, nicht weiterzusingen, denn seine Augen schienen ihm nicht mehr auszureichen für all die vielen 203
Dinge, die er mir sagen wollte, so daß er dafür den klaren Quell der Worte benötigte... Das Glück, jene galanten Worte wie Regentropfen von Gabriels Lippen gleiten zu hören und zu spüren, wie sie sich mit der Melodie vermengten, versetzte mich in eine selige Trance, so daß ich zeitweilig das sichere Gefühl hatte, diese Musik sei allein zu dem Zweck geschrieben, daß meine Hände sie spielten und Gabriel sie neben mir sanft mit solch himmlischen Worten begleitete … Als nach dem letzten Akkord die Musik verklungen war, erhob ich mich, zitternd vor tiefer musikalischer Ergriffenheit, vom Klavier und wollte mich schon entfernen, als Gabriel sich mir in den Weg stellte, gebieterisch meine beiden Hände in seine nahm und mit vor Leidenschaft bebender Stimme sagte:«Nein, nein, María Eugenia, gehen Sie nicht! Spielen Sie weiter, mein Gott, das, genau das, oder etwas anderes, oder nichts! Nein, nein, spiel nichts, aber... geh nicht! Nein, nein, bleib hier, María Eugenia, hier allein, allein mit mir..., wir beide ganz allein …, merkst du nicht, daß ich nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr kennen will, außer dir …? Hast du es denn nicht bemerkt...? Verstehst du es denn nicht …?» Bei den Worten«Verstehst du es denn nicht»preßte Gabriel so fest meine Hand und kam mir mit seinem Mund so nah, so dermaßen nah, daß mich plötzlich ein wahnsinniger Schrecken befiel, eine unüberwindliche, allmächtige Angst von der Art, die einem die Kraft verleiht, alles umzureißen, die einem Flügel wachsen läßt, um vor allem zu fliehen … So entwand ich mich, außer mir vor Glück und Furcht, geschwind seinen Händen, die mich gefangenhielten, und floh, genau wie in jener Mondnacht an Bord des Ozeandampfers, zu Tode erschrocken vor Gabriels Mund, am Klavier vorbei, ließ ihn, der immer weitersprach, stehen, lief zitternd und völlig verängstigt bis ans andere Ende des Salons, wo ich hastig neben Mercedes und gegenüber von Alberto und Onkel Pancho Platz nahm, die die ganze Zeit in aller Seelenruhe ihre Unterhaltung weiterführten. Mercedes, die sich mit 204
dem Rücken zum Klavier zu ihnen gesetzt hatte, schien ihnen, ohne ein Wort zu sagen, so aufmerksam zu lauschen, daß sie mich nicht hatte kommen sehen … Immer noch völlig benommen von dem, was ich soeben gehört hatte, blieb ich eine ganze Weile stumm und blind vor Glück neben ihr sitzen, bis Gabriel schließlich, merkwürdig schweigsam, ebenfalls das Klavier verließ und sich zu den anderen gesellte. Auch er sagte lange Zeit kein Wort, und meine armen Augen wagten nicht, ihn auch nur anzuschauen... Doch während in meinem Herzen ungestüm und verstörend die Sehnsucht wuchs, ans Klavier zurückzukehren, ließ er sich unglückseligerweise immer tiefer in die Diskussion zwischen Onkel Pancho und Alberto verstricken, zunächst nur als aufmerksamer Zuhörer, dann mit vereinzelten Kommentaren, bis er ganz in ihr versank wie ein Wanderer in einem finsteren, todbringenden Morast. Ach, diese gräßliche Diskussion schien auch noch hochinteressant zu sein. Es ging um Kaffeepreisschwankungen und ihren Einfluß auf die wirtschaftliche Situation des Landes, um mögliche Entwicklungen in Verbindung mit den Ernten in Brasilien, und diese Art gregorianischer Gesang, dieser Sand, dieser Leim, der Gabriel gefangenhielt wie einen Vogel, dieses Wortgeflecht, das wie eine alte Decke nach Lagerhalle, rohem Kaffee, nach Mäusen, nach verrauchten Kneipen roch, dieses Unheil, dieses Elend, dieser Alptraum fand den ganzen Abend kein Ende mehr. Ach, welch ein Unglück, welch ein Verhängnis, welch eine Katastrophe! Nur Mercedes war aufmerksam und lieb wie immer, und als sie mich so mit hängendem Kopf dasitzen sah, tat sie mir den Gefallen, die Empfindungen der vorangegangenen Szene ein wenig aufzufrischen, indem sie mich auf einmal mit einem strahlenden Blick in Gabriels Richtung, der ihr strahlendes Lächeln unterstrich, fragte:«Eh bien …?» Ich reagierte mit einer vagen, unbestimmten Geste und ließ mich eine Zeitlang in einem Strudel von Ratlosigkeit forttragen 205
… Etwas später, als mein Blick zufällig auf mein Bild in einem der Wandspiegel im Salon fiel und ich mich einen Moment betrachtete, wie ich in einiger Entfernung dort auf meinem Stuhl saß, faßte ich meine gesamte Ratlosigkeit in einem einzigen Wort zusammen:«Närrin!» Anschließend fing ich an, vor mich hin zu trällern:«A-a-a-ah! Canta y no llores …110!» Aber vergeblich! So groß war mein Kummer darüber, daß Mercedes nicht noch einmal sagte:«Warum spielst du uns nicht etwas vor, María Eugenia...?»Und unterdessen tröpfelte der schwarze Kaffee, beharrlich und unheilvoll, tröpfelte immerfort und erstickte meine Stimme, verdunkelte meinen schönen Himmel … Eine Weile später verabschiedete ich mich hier vor unserer Haustür von Onkel Pancho, schloß selbst die Tür hinter mir ab und schob den Riegel vor, wobei das Quietschen des Schlosses und anschließend das Hallen meiner Schritte im Flur und im dunklen Patio mir wie eine großartige Hymne klang, mit der ich mir in dem verlassenen Haus mit Hilfe meiner Hände und Füße meine Freude von der Seele sang … In der Schwärze des Patios zeichnete sich ein langer Lichtstreifen auf dem Mosaik ab, der aus Großmamas Zimmer drang, denn wie üblich war sie wach und wartete in ihrem Bett auf meine Heimkehr. Nachdem ich das Licht im Flur gelöscht hatte, folgte ich dem blassen Lichtstreifen, stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und trat ein, um ihr, wie üblich, gute Nacht zu sagen. Kaum sah sie mich an ihr Bett treten, fragte mich Großmama auch schon bang, mit großen, sorgenvollen Augen:«Warum kommst du erst so spät...?» Beim Gutenachtkuß fügte sie hinzu:«Und warum bist du so dünn angezogen in dieser kalten Nacht?» Sie befühlte meine Arme, die ihr eiskalt erschienen. Anschließend winkte sie mich näher zu sich heran und sagte in ernstem, 206
feierlichem Ton:«Geh noch nicht. Setz dich einen Moment, María Eugenia, ich habe mit dir zu reden.» «O je!»dachte ich, während ich den mit Leder bezogenen Betschemel an das Kopfende ihres Bettes schob, und nahm dann auf der niedrigen Sitzfläche Platz, so daß ich fast am Boden hockte. Da die Freude, die mich seit fünf Uhr nachmittags erfüllte, so groß war, daß es mir vorkam, als könnte ich nicht nur Berge versetzen, sondern auch ein Muster an Tugendhaftigkeit werden, wartete ich artig ab. Großmama richtete sich feierlich so weit wie möglich auf den Kissen auf, bis sie fast senkrecht saß, und schob ein kleines Kissen mit gekräuseltem Volant zwischen das Kopfteil aus dunklem Nußbaumholz und ihren Kopf, wo es mit seinen Spitzen eine Art weißen Glorienschein um ihr Haar bildete. Als ich dort unten auf meinem niedrigen Betschemel kauerte, spürte ich auf einmal, wie dieser weiße Glorienschein Großmamas Haupt in meinen Augen den Nimbus der absoluten Macht verlieh. Ihr Haupt war das Zentrum der Macht, und die gekräuselten Spitzen waren die sichtbaren Strahlen jener ehrwürdigen Erhabenheit. Inzwischen glaube ich, ohne dieses Spitzenkissen hätte Großmama mich mit ihren strengen Worten weniger stark beeindruckt, und ihre Vorwürfe und Ratschläge wären vielleicht an mir abgeglitten wie Wasser an einem imprägnierten Stoff. Doch dank dieses scheinbar so unwichtigen Details konnte ich von den Niederungen meines Schemels aus die große moralische Distanz besser ermessen, die mich von Großmama trennte; ihre ernsten Worte prägten sich mir eines nach dem anderen tief ins Gedächtnis ein, und trotz meines Glücksgefühls kam ich mir ihr gegenüber klein, ja winzig vor wie ein Aniskorn. In Demut versunken den Spitzenvolant betrachtend, überlegte ich:«Das hier ist zweifellos die Erklärung für diese äußeren Verzierungen, mit denen die Autorität gewöhnlich ihr Haupt schmückt; es ist offensichtlich, daß ein winziges Detail, etwas Emporragendes auf dem Kopf, eine starke Wirkung auf die Moral haben kann, was sicher auch die 207
Grundidee von Kronen, Tiaras, Mitren111, Baretten, Helmen, Käppis, Hauben und Kapuzen ist.»Und während mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, fing Großmama mit schlaff auf dem umgeschlagenen Laken liegenden Händen und gestrenger Stimme an zu reden, nachdrücklich, ruhig und gebieterisch:«María Eugenia, mein Kind: Du mußt unbedingt dein Temperament zügeln! Deine Aufsässigkeit macht mir Sorgen. Du hast eigensinnige Ideen und verhältst dich auch höchst eigensinnig. Doch vor allem deine Gedanken sind ein einziges Chaos; deine Lektüre hat dich verdorben, und ich stelle mir die bange Frage, was bei diesem ganzen Wirrwarr in deinem Kopf aus dir werden soll, zumal es von Tag zu Tag schlimmer wird. Heute morgen hast du unerhörte Dinge gesagt. Clara schlägt immer noch Kreuze infolge deiner Dreistigkeit und Unverfrorenheit. Nichts und niemanden achtest du mehr, María Eugenia, und ich sehe, wie du dich bemühst, Pancho nachzueifern. Für eine Frau deines Alters ist das ein Unding, aber weil du eben noch so jung bist, will ich dir das nachsehen. Ich verstehe sehr gut, daß du noch nicht die volle Bedeutung mancher Ausdrücke ermessen kannst; hättest du jedenfalls die Ideen, die du heute morgen im Privaten geäußert hast, vor Fremden geäußert, wäre ich vor Scham vergangen! Ich möchte, daß du weißt, wie sehr es mich enttäuscht hat, dich in dieser Weise reden zu hören. Wenn ich dich nicht gleich zur Ordnung gerufen habe, wie du es verdient hättest, dann nur, weil ich es für besser halte, solche Dinge in Ruhe zu besprechen. Heute morgen hattest du ja eine Art Tobsuchtsanfall, daher hielt ich es für klüger, zu schweigen. Jetzt aber will ich reden, und ich sage dir: So etwas wie heute morgen darf nie wieder vorkommen, nie mehr...! Hörst du...? Auch über Eduardo und seine Kinder, María Eugenia, hast du dich in einem Ton geäußert, der mich zutiefst gekränkt hat. Damit hast du dich nicht nur Eduardo gegenüber als undankbar erwiesen, dem wir heute alles zu verdanken haben, sondern warst auch mir gegenüber extrem rücksichtslos und beleidigend. Du solltest nicht vergessen, daß ich Eduardos Mutter 208
bin und ihn besonders liebe, weil ich ihm für seine Fürsorge und sein vorbildliches Verhalten als Sohn Dank schulde. Ich bin nicht undankbar! Hörst du, María Eugenia? In meiner Anwesenheit wirst du dich nie mehr so gehenlassen, wie du es heute morgen getan hast!» An diesem Punkt war es mir schon so unbequem geworden, mit den fast bis zum Kinn hochgezogenen Knien dazuhocken, daß ich die Beine unter dem Bett ausstrecken mußte. Unterdessen hörte ich betreten, mit hängendem Kopf und zu Boden gesenktem Blick wortlos weiter zu, was Großmama mir noch zu sagen hatte:«Eduardo war heute abend zum Essen hier, und wir haben uns lange beraten... Wenn du wüßtest, wieviel ihm an dir liegt...! Er ahnt nicht im entferntesten, wie du es ihm dankst...!» Es trat eine Pause ein, in der Großmama mir anscheinend die Gelegenheit geben wollte, diese ungeheure Schuld auf meinem Konto gegenüber Eduardo zu begleichen. Doch ich beschloß, die Gelegenheit verstreichen und das Schweigen entscheiden zu lassen, ob es in meinem Namen reden wollte und Großmama dies verstehen würde. Glücklicherweise ist Großmamas Gehör nicht fein genug, um die Sprache des Schweigens zu verstehen. Folglich war sie auch nicht verärgert, sondern redete weiter und fügte, jetzt etwas milder gestimmt, hinzu:«Ich wollte dir auch noch sagen, daß wir alle - Eduardo, seine Familie, Clara, du und ich - uns noch diese Woche gemeinsam nach San Nicolás begeben werden.» «Rataplumms...!»dachte ich voller Entsetzen. Doch ich schwieg und verbarg diesen inneren Aufschrei hinter meiner stoischen Ruhe. «Ich glaube, es würde dir guttun, eine Zeit an der frischen Luft auf dem Land zu verbringen, und hoffe, dort wirst du deine mehr als unbegründete und so ungerechte Antipathie gegen deine Vettern und deine Kusine verlieren... Mir persönlich bekommt das Klima auf der Hazienda nicht gut, weil mir dort mein Rheuma schwer zu schaffen macht... Es ist sehr feucht...! Aber aus Rück209
sichtnahme habe ich Eduardo nichts davon gesagt... Ein gemeinsamer Aufenthalt der beiden Familien für zwei oder drei Monate auf San Nicolás bringt ihm eine große Ersparnis, da er uns solange nicht in fast jeder Hinsicht unterstützen muß, wie er es tut, wenn wir hier allein im Haus leben... Du weißt also, María Eugenia, was ich dir gesagt habe: Noch in dieser Woche brechen wir auf, und ich hoffe, daß du dir in Zukunft mehr Gedanken machst, daß du auf deine Worte achtest, dir diesen ungehörigen Ton abgewöhnst, den du manchmal anschlägst, und daß du deinen Freiheitsdrang bezähmst - eine Folge deiner Erziehung, der man sehr das Fehlen der Mutter anmerkt... Im übrigen mußt du lernen, mich zu respektieren, deine ganze Familie zu lieben und in Ehren zu halten. Es sind nicht die fremden Leute, die eines Tages für dich einstehen werden, wenn du einmal darauf angewiesen sein solltest...! Die wahre Zuneigung, die einzig sichere und uneigennützige, ist die der Familie. Vergiß das nie!» Hinter dieser Predigt erkannte ich nun klar und deutlich wie durch eine Glasscheibe Onkel Eduardos Kopf mit allem Drum und Dran während seines Besuchs am Nachmittag. Dieser Umstand änderte jedoch nichts daran, daß meine Lippen am Ende zerknirscht und folgsam sagten:«Ja, ist gut, Großmama. Das werde ich tun. Gute Nacht!» «Gute Nacht! Gott segne dich, und bring mich nicht in die Verlegenheit, die Dinge, die ich dir soeben gesagt habe, noch einmal wiederholen zu müssen …!» Gehorsam, reumütig und lammfromm zog ich mich zurück... Doch später, als ich bereits in meinem Bett lag und die unterschiedlichen Eindrücke des Tages noch einmal Revue passieren ließ, spürte ich einen ungeheuren Optimismus in meinem Herzen aufkeimen. Alles, aber auch alles schien mir rosig! Was die unselige Reise nach San Nicolás betraf, so hielt ich sie für kaum der Rede wert und so sinnlos wie das Jaulen eines Hundes, der den Mond beißen will. Diesen Entschluß verstand ich als den Fehdehandschuh, den mir das Schicksal hinwarf. Doch ich 210
hielt mich für eine Gigantin und das Schicksal für eine Ameise. Das Gefühl meiner eigenen Stärke nahm solche Ausmaße an, daß ich kurz darauf, als der Schlaf sanft seinen Schleier über meinem euphorischen, übermüdeten Geist ausbreitete, dachte, ich sei plötzlich aufgestanden und bückte mich wie bei einem Turnier, um einen Fehdehandschuh vom Boden aufzuheben und dann mit dem Handschuh in der Hand ein letztes Mal diesen beleidigenden Ton anzuschlagen, den Großmama gerade noch für immer aus meinem Mund zu verbannen gedroht hatte, indem ich sagte:«Willst du mich in San Nicolás einsperren, Großmama, wie in den Kerker der Inquisition, damit ich zu diesem Familienkult bekehrt werde, dessen einziger Gott Onkel Eduardo ist? Aber ich werde mich niemals bekehren lassen, selbst wenn du mich auf den Scheiterhaufen schickst, ich glaube nämlich nicht an diese Religion; ihr Gott gefällt mir nicht, und im übrigen habe ich mir längst einen anderen auserkoren! Ja, ich habe meinen eigenen Gott, Großmama, und der ist, so wenig es dir auch gefallen mag, eben ein Fremder; ich bete ihn von ganzem Herzen an, und in seiner Lehre wird eine gewisse Dreifaltigkeit verehrt, die in meinen Augen die gütigste aller Gottheiten ist, gleichgültig welcher Religion. Du wirst mich nach San Nicolás bringen, Großmama, aber dort kannst du nur meinen Körper einsperren, niemals meinen Geist, niemals, denn der wird sich jeden Tag wie ein Vogel in die Äste aufschwingen, Stunde um Stunde auf den Telephonmasten thronen, über die Berge fliegen, sich in Schluchten und auf Flüsse hinabstürzen, über die Dächer hüpfen und wie eine Schwalbe von den Dachtraufen über Mercedes’ Patio trällern. Abends wird er mit seinen unsichtbaren Augen alles sehen, was er will, und vielleicht wird er bald, sehr bald, wenn du am wenigsten darauf gefaßt bist, auf seinen zarten Schwalbenschwingen auch meinen Körper forttragen, denn ich werde heiraten... Ach, ja! Ich werde Gabriel heiraten, und spätestens dann werdet ihr euch alle - du, Onkel Eduardo, María Antonia, meine Vettern und selbst Tante Clara - mächtig wundern und reichlich erschrocken, 211
auch ein wenig lächerlich dreinblicken, wie Jäger, wenn ihnen, ihren Hunden, ihren Gewehren und dem gesamten Jagdgefolge über ihre Köpfe hinweg eine Beute entwischt...!»
KAPITEL IV In dem man wartet und wartet, sich mit einem Akazienzweig unterhält und mit einem rosa blühenden Korallenwein. Seit mehr als einer Woche befinden wir uns nun bereits auf San Nicolás. Das Haus, ein altes Landhaus der Alonsos, vielleicht von den eigenen Dienstsklaven der Familie errichtet, die wie ihre Herren«Alonso»hießen, dieses Haus mit den geräumigen Zimmern und hohen Decken hat mich mit viel Liebe und Melancholie empfangen. Es weiß sicher, daß ich der letzte Sproß seiner einstigen Besitzer bin, und es nimmt mich voller Ehrerbietung und Mitleid auf, wie man einem jener entmachteten Thronerben Zuflucht gewährt, die traurig in einem dunklen Winkel ihres einstigen Reiches dahinvegetieren. Wie diese verfüge ich in San Nicolás über meinen einsamen Winkel, und zwar dieses Zimmer, das man mir allein zugewiesen hat. Es ist bereits ganz erfüllt von mir und mir sehr ans Herz gewachsen. Ich mag es schon deshalb, weil es mich an mein Zimmer in Caracas erinnert und wie jenes ein schattiges, blumengeschmücktes Gitterfenster besitzt. Allerdings gehören die Blüten der Orangenbäume vor meinem Fenster in Caracas dem Baum selbst, anders als hier, wo die Blüten an dem Akazienzweig, der mein Fenster überschattet, nicht von dem Akazienbusch stammen, sondern von einer wildblühenden Weinranke, die in einiger Entfernung von meinem Fenster an der Wand emporklettert und sich der Akazie bemächtigt hat, welche inzwischen dermaßen 212
überwuchert und mit Ranken und Blüten durchwirkt ist, daß sie fast erdrückt wird. Aber nicht, daß die Akazie etwa gegen diesen Übergriff protestierte, nein, sie wächst immer üppiger und breitet sich aus wie ein riesiger Schirm, ja, sie wirkt sogar überglücklich mit all den fremden rosa Blüten, die sie so hübsch aussehen lassen, und einen ihrer Zweige reckt sie nach meinem Fenster, um mir die blühende Pracht darzubieten. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, begrüße ich den Zweig:«Tausend Dank! Wenn du nicht wärst, würde mir das pralle Sonnenlicht direkt ins Gesicht scheinen und mich blenden; du bist so freundlich und hältst es mir fern, und deine falschen Blüten stehen dir so gut wie mir die, die ich manchmal am Hut trage. Leg sie bloß niemals ab, laß dir ja nicht einfallen, dich mit dem Korallenwein zu zerstreiten, selbst wenn er dir ein wenig lästig ist.» Trotz meiner Entmachtung und allem anderen wäre ich zufrieden in diesem dunklen Winkel meines verlorenen Besitzes, ich würde glücklich mit dem Blütenzweig reden oder mich in der Hängematte wiegen, die von einem Ende meines Zimmers zum anderen reicht, hätte ich nicht wie die Akazie meine ureigene Parasitenpflanze zu erdulden. Nur daß meine an mir zehrt, mich erstickt, mich nicht leben läßt, und dabei hat sie mir noch nicht einmal etwas geschenkt, anders als der Korallenwein, der die Akazie mit seinen Millionen rosa Blüten überhäuft. Ach! Mein Gewächs besteht lediglich aus unzähligen Schlingen und droht mich mit seinen Tausenden von Tentakeln zu erdrücken! Ja, es erdrückt mich, schnürt mir die Luft ab, zerquetscht mich, als wollte es mich zwischen seinen ellenlangen Fingern tot sehen, und sein Name lautet... banges Warten! Seit jenem wundervollen Abend, als wir auf die Liebe anstießen und«Cielito lindo»sangen, habe ich Gabriel nicht wiedergesehen. Wie oft habe ich schon voller Verzweiflung gedacht:«Warum wollte ich nicht am Klavier bleiben, als Gabriel mich darum gebeten hat? Warum? Warum nur...?»Diese Selbstverhöre sind nicht minder stechend und schmerzhaft als meine 213
Gewissensbisse und ebenso zäh und unüberwindbar... Am Tag nach der Nacht, in der wir auf die Liebe anstießen, wurde Gabriel nämlich dringend von Caracas abbeordert und mußte fort. Da wir anschließend hierher auf die Hazienda kamen, habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört..., das heißt, doch, ich habe von ihm gehört, aber nur indirekt, über Mercedes. Vor einigen Tagen hat Mercedes mich angerufen und mir gesagt:«Gabriel ist für einige Stunden hier in Caracas gewesen. Er hat mich besucht und war sehr enttäuscht, dich nicht bei mir anzutreffen. Er hat mir ein Paket für dich gebracht, das ich dir zukommen lassen soll, ein Paket mit Büchern, die er dir wohl versprochen hatte, und er sagte, wenn er nach Caracas zurückkehre, werde er sich mit Pancho verständigen, um dich auf San Nicolás zu besuchen. Er wirkte sehr zufrieden. Ich glaube, seine Geschäfte laufen gut. Wir beide haben lange Pläne geschmiedet, und dabei war natürlich viel von dir die Rede, zwangsläufig...» An jenem Tag bin ich gleich, nachdem ich aufgelegt hatte, mit Mercedes’ Worten wie klingende Musik im Herzen, hierhergeeilt, habe mich in die Hängematte gelegt und ganz sanft geschaukelt, wie ich es liebe, wenn mir nach Träumen zumute ist. Ich weiß noch, wie sich mein Zimmer, mein einsamer Zufluchtsort in meinen einstigen Besitztümern, beim sanften Schaukeln in der Hängematte nach und nach mit Träumen, mit Visionen füllte und überall weiße, blühende Gebilde auftauchten... Es war wie Dantes Traum von Beatrice 112 oder als hätte die Weinranke vor dem Fenstergitter sich aus einer Laune heraus durch die Streben gezwängt und angefangen, alles, die Wände, den Boden, die Ecken und die Decke mit Girlanden zu überziehen, zu überwuchern und sich zu verknüpfen, bis ein Strom, ein See, ein Sturzbach winziger rosiger Blüten entstand. Durch die köstlichen Worte von Mercedes heraufbeschworen und verstärkt durch das sanfte Schwanken der Hängematte, bevölkerte sich dieses Zimmer mit den kahlen Wänden und der kahlen Decke allmählich, bis es über und über geschmückt war wie für ein buntes Fest! 214
Immer noch von den sanften, fließenden Bewegungen der Hängematte gewiegt, begann ich, nachdem ich mich lange dieser Flut von rosafarbenen Traumbildern hingegeben hatte, schließlich meine angenehmen Visionen in konkrete Gedanken zu fassen, und stellte, während ich weiterschaukelte, in etwa folgende Erwägungen an:«Mercedes sagt, Gabriel habe ihr ein Bücherpaket ausgehändigt, das sie mir zukommen lassen soll. Also gut, man muß jemanden schicken, um das Paket abzuholen, bald, sehr bald, so bald wie möglich. Und wann ist so bald wie möglich? Na, die nächste Gelegenheit ist morgen ganz früh mit dem Dienstboten, der jeden Tag die Einkäufe in Caracas erledigt...! Dann wird das Paket also vormittags um halb elf oder vielleicht, vielleicht nicht vor elf Uhr eintreffen..., nun, eine halbe Stunde früher oder später ist unwichtig, manchmal zieht es sich endlos in die Länge..., aber die halbe Stunde geht auch vorüber, irgendwann wird sie um sein, dann ist es elf Uhr, und spätestens um elf wird der Dienstbote eintreffen... Ich werde hinausgehen und auf ihn warten, dann werde ich das Paket in Empfang nehmen, mit dem Paket in der Hand hierher in mein Zimmer eilen, den Schlüssel umdrehen, mich in die Hängematte setzen, und dann werde ich es mit kalten, zitternden Händen langsam öffnen..., ich werde es bebend vor Erregung öffnen, denn ich bin mir schon im voraus sicher, daß mich zwischen den Seiten eines der Bücher eine Überraschung erwartet... Ja...! Ja...! Zwischen den Seiten eines dieser Bücher wird ein Brief liegen... Ich kann ihn jetzt schon sehen... Ach! Ich sehe ihn..., es wird ein weißer Umschlag sein, groß, makellos…, ein großer stummer Umschlag, der in seinem Inneren den Brief hortet wie einen Schatz... Aber vielleicht auch nicht, vielleicht trägt der Umschlag ja Gabriels Handschrift, die ich erst einmal gesehen habe, mit Buchstaben wie verschlungene Fliegenbeinchen: ‹Señorita María Eugenia Alonso. Hazienda San Nicolás.› Gut..., ob beschriftet oder nicht, jedenfalls werde ich Mühe haben, ihn mit meinen ungeschickten Händen zu öffnen, denn sie werden noch viel kälter und zittriger sein als vorher 215
beim Öffnen des Pakets... Nach einigen Kämpfen werde ich den Umschlag endlich aufgerissen haben, und aus der Öffnung werden mir mehrere gefaltete Blätter entgegenfallen, und dann..., ach, dann werde ich mich reich fühlen, wie eine Millionärin, denn auf meinem Schoß werden sich Heerscharen, Legionen von Fliegenbeinchen tummeln... Ach! Diese Legionen werden tausendmal vor meinen Augen vorbeimarschieren...! Ja, genau hier in der Hängematte werde ich zum erstenmal die Blätter eines nach dem anderen verschlingen, dann noch einmal, zwei-, drei-, viermal, um alle, aber auch alle Dinge aufzunehmen, die einem bei der ersten Lektüre vor lauter Aufregung entgehen. Wenn ich sicher bin, daß ich nichts mehr übersehen habe, werde ich meinen Brief aus reiner Freude an der Lektüre erneut durchlesen, so wie man Gebete oder Verse liest, die man längst auswendig kennt … Sobald ich es müde bin, leise zu lesen, werde ich ihn laut lesen, damit das ganze Zimmer zuhören kann, und wenn es gut aufgepaßt hat und den Inhalt zur Genüge kennt, werde ich ihn draußen der gesamten Landschaft vorlesen. Ja, ich werde den Brief dicht an meinem Busen verstecken, damit ihn niemand sieht, und hinausgehen, um ihn dem großen Wassergraben unter dem Kapokbaum vorzutragen, wo das Wasser einen rauschenden, schäumenden Strudel bildet, weil es gegen die spitzen Steine schlägt, die zum Schließen der Schleuse dienen. Und wenn das Wasser ihn sich angehört hat, werde ich ihn auch noch dem gigantischen Bukare113 vorlesen, der wie ein Riese von den Soldaten der Kaffeeplantage an einem verborgenen Ort versteckt gehalten wird, wo nie jemand vorbeikommt. Und wenn ich ihn dem Bukare vorgelesen habe, werde ich, von einem Mückenschwarm bedrängt, zu den Trauerweiden am Teich hinabsteigen, um es ihnen vorzulesen, und dort werden mir die kleinen weißen Kieselsteine am Grund des Wassers lauschen, das zarte Gras, das am Ufer wächst, und die Enten, die durch die Stille des Teichs gleiten. Am Abend, nach Sonnenuntergang, werde ich dem steinigen Seitenweg bis zu den zerfallenen Mauern der alten Zuckermühle folgen, mich dort 216
auf einem Trümmerstein niederlassen und mit so lauter Stimme vorlesen, daß sie bis zu den Wipfeln der beiden hohen Chaguaramospalmen hinaufreicht, die, so nah beieinander gewachsen, wie sie sind, in der Melancholie der alten Mühle ganz idyllisch anmuten. Und sollte mich dort, wenn ich unter den idyllischen Palmen sitze, die Nacht überraschen, werde ich den Brief auf meinen Knien entfalten, eine ganze Weile ruhig dasitzen, und dann werden die Leuchtkäfer, die einzigen, die wie die klugen Jungfrauen114 der Liebe wegen nachts immer das Licht brennen lassen, einen Moment lang meinen Brief beleuchten, ihn mit schillerndem Glanz überfluten und mit ihren Lichtaugen lesen, während sie meinen Kopf umschwirren... Dann, erst dann, wenn das Wasser im großen Wassergraben, der Bukare auf der Kaffeeplantage, die Trauerweiden, die Kieselsteine am Grund des Teiches, das zarte Gras, die Enten und die beiden hohen Chaguaramospalmen bei der alten Mühle ihn angehört haben und ich es müde bin, ihn der gesamten Umgebung vorzulesen, werde ich, ermattet von dem ungeheuren Gewicht meiner Glückseligkeit, heimkehren, und wenn Großmama mich entkräftet und erschöpft hereinkommen sieht, wid sie mich fragen: ‹Was hast du den ganzen Tag getrieben, María Eugenia, hast du dir draußen im Gelände einen Sonnenbrand geholt?› Ich werde antworten, damit Großmama hinsichtlich der Existenz meines Briefes auf keinen Fall Verdacht schöpft: ‹Ich habe Schmetterlinge gejagt, um sie einer meiner Lehrerinnen aus Paris zu schicken, die eine Sammlung hat, und was die Sonne betrifft, mach dir keine Sorgen, Großmama, ich hatte den großen Hut aus Reisstroh auf...› Doch am nächsten Tag wird das Beste, das Größte und Eindrucksvollste von allem kommen, denn ich werde meinen Antwortbrief schreiben... Ach! Die Antwort! Die Antwort...! Mein ganzes Herz wird sich in einen Bach verwandeln, der strömt und strömt und wie ein Fluß in das reine Bett des Briefes hineinfließt...! Und welch eine Überraschung für Gabriel, wenn er ihn liest; ja, welch eine Überraschung und welch staunende Liebe...!» 217
So oder ähnlich dachte ich neulich, während ich mich in der Hängematte schaukelte und in meinem Herzen wie in meinen Ohren immer noch die Worte nachhallten, die Mercedes am Telephon gesagt hatte. Es kam der nächste Tag; es wurde elf Uhr; der Dienstbote kehrte aus Caracas zurück; er brachte das Bücherpaket mit, doch was nicht kam, war der Brief, der erahnte und mit solchen Liebeswonnen ersehnte Brief... Vergeblich durchsuchte ich Buch für Buch, vergeblich durchforstete ich Seite für Seite; da war weder ein weißer noch ein beschrifteter Umschlag, da war nichts, gar nichts... Bei den Büchern handelte es sich um eine kostbare fünfbändige Shakespeare-Ausgabe mit Goldschnitt und in Leder gebunden. Auf der ersten Seite eines jeden Bandes erschien ein Stich mit dem Porträt des Autors, steif und mit spitzem Bart, ganz im Stil des sechzehnten Jahrhunderts. Da die Seite mit dem Stich in den Büchern die dickste war und zudem direkt hinter dem Einband kam, türmten sich schließlich, nachdem ich Band für Band durchgegangen war, anstatt des einen ganzen endlosen Tag lang ersehnten Briefes von Gabriel zu meiner stillen Enttäuschung die fünf strahlenden Shakespeareporträts auf meinen Knien. Traurig und niedergeschlagen, wie ich war, betrachtete ich lange Zeit diesen schmalen Kopf, der überspitzt und langgezogen auf der ersten Seite eines der Bände aus der mit Stäbchen gesteiften Halskrause emporragte... Ich schaute ihn mir genau an, und da ich ihn am Ende als lästig und aufdringlich empfand, als einen Unbefugten, der sich am Schauspiel meiner Enttäuschung weidete, beschimpfte ich ihn:«Was gehst du mich an, Shakespeare? Dein ganzes Werk, dein ganzer Ruhm, deine ganze Unsterblichkeit würde ich tausendmal für ein einziges von Gabriels Fliegenbeinchen hergeben! Jetzt, da mich niemand hört, kann ich dir ja gestehen, daß mich dein Theater eher langweilt als unterhält. Es heißt, du seiest ein Betrüger gewesen, nicht du selbst hättest deine Werke verfaßt, und das glaube ich, denn mich hast du auch betrogen, du wolltest Gabriel ersetzen, und jetzt scheint meine Traurigkeit dich auch noch zu belustigen. Also gut, 218
ich gebe deinen Verleumdern recht, daß du ein Schwindler bist, und da deine Gegenwart mich nicht erfreut, sondern erheblich stört, klappe ich nun einen nach dem anderen deine fünf luxuriösen Bände auf Nimmerwiedersehen zu...!» Der Wahrheit halber muß ich jedoch sagen, daß die ganze lange Geschichte von dem Brief und ihrem enttäuschenden Ausgang von Anfang bis Ende allein meiner Phantasie entsprungen ist. In Caracas war ja nie die Rede davon, daß Gabriel kommen würde, und Gabriel selbst hat es niemals versprochen. Wie auch, wo wir an jenem letzten Abend bei Mercedes nicht im entferntesten ahnen konnten, daß es ein Abschied für eine so lange Zeit sein würde...? Ach...! Aber etwas hat Mercedes doch am Telephon gesagt, etwas, das eintreten wird, weil es eindeutig stimmt. Mercedes sagte:«Wenn er nach Caracas zurückkommt, wird er sich mit Pancho absprechen, um dich auf San Nicolás zu besuchen...»Daß Gabriel mich besuchen will, ist also sicher und kein Wunschdenken … Ich erwarte ihn jeden Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und dieses Warten, diese Hoffnung ist wie Labsal für meine Seele und gleichzeitig die Weinranke, die, noch nicht erblüht, mich quält, mich bedrückt und mir auf der Seele brennt. Aber Gabriel wird kommen! Ach, ja, Gabriel wird kommen, und wenn ich ihn von weitem kommen sehe, werden aus der noch nicht erblühten Weinranke, die mir das Herz zusammenpreßt, wie durch ein Wunder Millionen Blüten hervorbrechen. Wird Gabriel morgens eintreffen? Oder am Nachmittag? Wenn er morgens kommt, werde ich mich ganz in Weiß kleiden, mir meinen breiten Reisstrohhut aufsetzen und ihn im Direktoriumsstil mit einem Tüllband unter dem Kinn festbinden. Dann werde ich ein paar wilde Blumen pflücken und mit meinem langen Sonnenschirm in der Hand ihm entgegenschreiten wie Floria im ersten Akt von«Tosca»115. Wenn er erst am Nachmittag eintrifft, werde ich mich schwarz kleiden und seine Ankunft von meinem Fenster aus verfolgen. Sobald er an den Mangobäumen vorbeikommt, werde 219
ich mich auf den Weg machen, ihm gemächlich entgegengehen und in der prallen Sonne auf dem Zufahrtsweg meinen weißen Spitzensonnenschirm aufspannen, der im Kontrast zu meiner dunkelgekleideten Gestalt für die Blüte meiner Freude stehen wird. Aber wird er kommen...? Wird Gabriel tatsächlich hier erscheinen? Ach! Manchmal überfällt mich der Zweifel wie ein Dieb, der mir meine kostbaren Illusionen rauben will...! Meine Zweifel gründen sich auf eine Szene, die sich vor drei Tagen ereignete - eine alltägliche, aber quälende Szene, die ich immer wieder aus meinem Gedächtnis zu tilgen versuche, doch mein Gedächtnis bewahrt sie mit der Beharrlichkeit einer ewig brennenden Lampe, die meine Träume stört. Es mag so gegen neun Uhr abends gewesen sein. Alle Hausbewohner hatten sich im Eßzimmer versammelt. Wir waren gerade mit dem Nachtisch und dem Kaffee fertig. Von draußen drangen deutlich die nächtlichen Stimmen der Natur herein, das Quaken der Frösche, das Zirpen der Grillen; und die Tischgesellschaft schien sich endlos hinzuziehen. Ich weilte in Gedanken schon weit weg bei meinen Sorgen. Den Blick starr auf das geöffnete Fenster geheftet, blickte ich in das herrliche, von Sternen pulsierende schwarze Viereck der Nacht hinaus, als plötzlich Gabriels Name fiel. Ich weiß nicht, worüber sie sich unterhielten, aber ich kann mich noch genau entsinnen, wie María Antonia, kaum hatte sie seinen Namen vernommen, die Gelegenheit erkannte, mir eins auszuwischen, und mit einem boshaften Funkeln in ihren schwarzen Augen folgende Neuigkeit verkündete:«Heute habe ich bei einem Telephongespräch erfahren, daß in Caracas viel über Gabriel Olmedos Hochzeit mit der ältesten Tochter von Monasterios geredet wird. Falls das stimmt, macht er eine sehr gute Partie. Sie ist steinreich, ihr Vater ein mächtiger Regierungsvertreter, und obendrein ist sie noch hübsch. Sie hat wunderschöne Augen!» «Ja! Ihre Augen sind sehr schön!»pflichtete ihr meine Kusine bei, die vor Bewunderung schier platzte. 220
«Ja! Wunderschön!»wiederholten einhellig fast alle Schafe in der Herde, wie Onkel Pancho sagen würde. Da konnte ich mich nicht mehr bezähmen und rief aus:«Ich weiß nicht, wie ihre Augen sind, aber wie ich gehört habe, soll der gesamte Rest dieser Person ein einziger Witz sein.»Dann wiederholte ich wortwörtlich, wie Mercedes über sie geurteilt hatte:«Sie ist schrecklich fagotée! Ach! Gabriel Olmedo, der soraffiné ist, so feinsinnig, ein solcher Gourmet, würde nie so eine zur Frau nehmen!» María Antonia, die aufgrund der Flut von französischen Adjektiven erraten haben muß, aus welcher Quelle meine Information stammte, war erbost und wollte gerade wütend etwas erwidern, als jemandem sein Weinglas auf dem Tischtuch umkippte, wodurch die Unterhaltung eine andere Richtung nahm und das Thema schließlich in Vergessenheit geriet. Doch die zuvor vernommenen Worte prägten sich mir ein und quälen mich jetzt Tag und Nacht. Sie sind der Räuber, der mir meine kostbaren Illusionen genommen hat, sie sind die brennende Lampe, die mir den Schlaf raubt. Sie trage ich ständig mit mir herum wie einen Dolch, der sich in meine Hoffnung gebohrt hat, und sie führen mir diesen schrecklichen, nie gekannten Dämon der Eifersucht vor Augen. Ach! Könnte ich doch mit Mercedes reden, dort in der geschützten Intimität ihres Boudoirs; dann könnte sie, die mit dem Scharfblick eines listigen Seemanns Geheimnisse jeder Art vom Horizont abzulesen vermag, mir sagen..., mir sagen...! Aber ich kann weder mit ihr noch mit irgend jemandem sonst sprechen, und die Zweifel an meiner heimlichen Liebe wachsen ins Unermeßliche und erdrücken mich... Wer kann mir helfen, sie zu ertragen …? Nachdem ich diese letzten Worte zu Papier gebracht hatte, habe ich kurz aufgeschaut und den Akazienzweig erblickt, der in der leichten Brise schwankend durch die Gitterstäbe lugt und mir zu winken scheint. Seine Blätter öffnen sich ein wenig und bewe221
gen sich wie die Finger einer geliebten, zum Gruß erhobenen Hand, und seine rosa Blütenblätter hat er mir zum Geschenk auf dem Boden verstreut. Ich habe ihn lange angeschaut, mit flehentlich erhobenem Blick, voller Hoffnung und Zuversicht, so wie man die Wunder wirkenden Bilder der Schutzpatrone ansieht, und habe ihn aus tiefster Seele angefleht:«O alte, barmherzige Akazie, die du mich vor der Sonne schützt und dich Tag und Nacht mit den Blüten schmückst, die dir der Korallenwein schenkt; du, die du die Bosheit der Schlingpflanzen kennst, die sich wie Schlangen der Reue um dein Herz winden; du, die du mit christlicher Geduld das Kreuz so vieler fruchtloser, dorniger Umarmungen ertragen hast; du, die du gütig bist, denn du reichst denen, die dich anflehen, deine Hand und siehst wie die heilige Elisabeth von Ungarn116 deine Barmherzigkeit am Ende in ein Blütenmeer auf deinem Schoß verwandelt; du, die du die mütterliche Güte deines Schattens über alle ausbreitest, die dich lieben und die dich hassen; du, die du alles weißt, denn du hast die Erfahrung vieler Lenze; sag mir, alte, barmherzige Akazie: Wird meine Ranke eines Tages so üppig blühen wie dein Korallenwein…?»
KAPITEL V Hier sitzt María Eugenia Alonso auf einem Felsen und hält Zwiesprache mit dem Fluß; der Fluß erteilt ihr Rat, und brav und folgsam beschließt sie, seine Vorschläge Wort für Wort zu beherzigen. Großmama hatte recht, als sie mir prophezeite, wenn ich mit ihnen zusammenlebte, würde ich diese heftige Antipathie, die ich bis vor kurzem meinen Vettern und meiner Kusine gegenüber hegte, ablegen. Denn tatsächlich: Wir leben erst seit knapp einem 222
Monat hier zusammen auf der Hazienda, und... schon gefällt mir die Bande! Inzwischen finde ich sie sogar ausgesprochen liebenswert. Ich glaube, Antipathie ist eine oberflächliche Laune, die eigentlich gar nicht existiert und auch keine Daseinsberechtigung hat. In Wirklichkeit gibt es kaum jemanden, der unsympathisch ist. Wenn wir die Menschen näher kennenlernen und das Wesentliche ihres Charakters wohlwollend erforschen, hegen wir am Ende sogar Bewunderung für ihre Tugenden und tolerieren ihre Fehler, wie wir Regen, Hitze, Flecken auf der Tapete des Zimmers, das wir bewohnen, oder das harte Kissen auf dem Bett, in dem wir schlafen, ertragen: Alles ist nur eine Frage der Zeit und der Geduld. Das ist in meinen Augen einer der spürbarsten Beweise dafür, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, geboren, um in der Gemeinschaft mit seinesgleichen zu leben. Wenn uns bestimmte Fehler, die andere ab und zu an den Tag legen, immer wieder auf die Nerven gingen wie am ersten Tag unseres Kennenlernens, würden wir bestimmt am Ende lieber Selbstmord begehen, als weiter mit dieser Person zusammenzubleiben. Doch glücklicherweise hat die Natur alles vortrefflich gefügt, und die versöhnliche Gewohnheit sorgt für Herzlichkeit und predigt uns immer wieder:«Liebet einander.»Die Antipathie überdauert eigentlich nur, wenn sie auf Mißgunst beruht und die beneidete Person, mit der wir engen Umgang pflegen, immer weiter in der Achtung und Bewunderung des Mißgünstigen steigt, anstatt darin zu sinken. Ohne falsche Bescheidenheit will ich gestehen, daß dies genau die Lage ist, in der ich mich gegenüber meiner Tante mit den Augenschatten, der ehrenwerten, tugendhaften und sehr beredten María Antonia Fernández de Aguirre, Onkel Eduardo Aguirres Frau, befinde. Während ich mich mit ihren Kindern ausgesöhnt habe, verabscheut mich María Antonia von Tag zu Tag mehr: Sie überschlägt sich geradezu, mir unverhohlen ihre Bewunderung und zugleich ihre Antipathie zu zeigen, die sich als Komponenten ihrer Mißgunst die Waage halten. Jedes Mittel ist 223
ihr recht, um mich wie durch ein Vergrößerungsglas übertrieben schlecht darzustellen! Großmama und Tante Clara, die mich, wie Onkel Pancho ganz richtig sagt, im Grunde ihres Herzens meinen sämtlichen Vettern vorziehen, ärgern sich über María Antonias Art und verteidigen mich liebevoll, wenn diese mich direkt oder indirekt angreift, und da das ständig vorkommt, haben sie nicht nur reichlich zu tun, sondern müssen sich auch ewig herumstreiten. Nicht, daß María Antonias wachsende Abneigung mich störte, im Gegenteil, ich fühle mich sogar geehrt, denn ich kenne die Ursache. Außerdem finde ich es unterhaltsam, seit ich herausgefunden habe, wie ich es ihr heimzahlen kann. Meine Rache besteht darin, daß ich jeden Tag meine Macht über ihre Kinder ein wenig ausbaue, vor allem über Pedro José, der mit dreizehn Jahren der Jüngste ist. Alle vier waren mir anfangs, sicherlich unter dem Einfluß ihrer Mutter, feindlich gesinnt, doch durch den regelmäßigen Kontakt haben sich ihre Gefühle mir gegenüber gewandelt. Mit der Zeit haben wir uns sogar angefreundet, und inzwischen sehen sie in mir ein Vorbild und eifern mir in allem nach. María Antonia regt diese Liebedienerei ihrer Kinder furchtbar auf, doch trotz ihrer Wut habe ich bei ihnen das Sagen und zwinge ihnen mit der ganzen herrischen Allmacht unserer Regentin, der Mode, meine Gesetze auf. Meine Vettern und meine Kusine reden wie ich, plappern meine Sätze nach, vertreten die gleichen kühnen Ideen, teilen meinen Geschmack und meine Vorlieben, trällern meine Lieder, und selbst bei Tisch bevorzugen sie die gleichen Gerichte wie ich … Ach, meine liebe Schafherde, meine folgsame Truppe, wie gut ihr mir bei meiner friedlichen und zugleich grausamen Taktik sekundiert, die diese feurigen Augen, die aus den Augenschatten hervorfunkeln, immer zum Flackern bringt. Meine Macht über Pedro José und die beinahe fanatische Art, mit der er mich verehrt, suchen ihresgleichen. Um das Werk seiner Mutter so weit wie möglich zu zerstören, habe ich ihm, da ich 224
seinen Charakter nun nicht mehr von Grund auf ändern konnte, wenigstens einen anderen Namen verpaßt, quasi als Symbol und anschauliche Illustration seines Wesens: Statt Pedro José nenne ich ihn jetzt Perucho, und Perucho dient mir gleichzeitig als Page, als Knappe und als Troubadour. Es vergeht kein Tag, an dem er mir nicht Blumen, Avocados, Mangos oder süßes Zuckerrohr, geschält und in kleine Stückchen geschnitten, auf mein Zimmer bringt. Perucho hat mir Verse gewidmet, für die er mit einer innigen Umarmung belohnt wurde, und er ist es auch, der mich immer auf meinen langen, schweigsamen Ausflügen begleitet, die ich jeden Nachmittag unternehme. Diese täglichen Ausflüge sind mein größtes Glück und Labsal für meine Seele, während sie María Antonias schlechte Laune nur noch mehr schüren. Sobald es vier Uhr schlägt, erscheine ich in meinem kurzen Reitrock und Gamaschen, den breitkrempigen Hut nach Art der venezolanischen llaneros 117über dem Kinn festgebunden, die Weidenrute in der Hand, und rufe, mit dem einzigen Ziel, Marías umschattete Augen zum Überlaufen zu bringen, lauthals durchs ganze Haus:«Perucho! Perucho! Hast du die Pferde schon gesattelt?» Und Perucho, der mich unter den Guajavenbäumen mit den fertig gesattelten, an den Baumstämmen festgebundenen Pferden erwartet, antwortet mir mit einem heiseren Pfiff, der das Pfeifen einer Lokomotive nachahmen soll. Dieser ganze unnötige Aufbruchslärm erzielt natürlich immer die erwünschte Wirkung. María Antonia fängt gereizt an, halblaut ihre Kommentare abzugeben:«Wie mich diese Spitznamen anwidern! Solche Vertraulichkeiten mit Jungen finde ich abscheulich und geradezu gefährlich!» Aber ich tue so, als hätte ich nichts gehört, und gehe hinaus, wo Perucho mich unter den schattigen Guajavenbäumen mit den Pferden erwartet. Er hilft mir aufzusitzen und erklärt mir etwas in der Art wie:«Ich habe meinem Pferd viel Mais gegeben, damit es nicht so schwächelt wie gestern. Deins habe ich heute mit dem 225
Gurt gesattelt, den sonst das Maultier des Gutsverwalters trägt; ich habe das Zaumzeug des Braunen genommen, die neue Satteldecke und die besonders weichen Zügel von Papas Pferd.» Mit dieser Zusammenwürfelung bringt er die Pferdegeschirre in Unordnung und handelt sich regelmäßig großen Ärger ein. Doch er läßt die Abreibung mit heldenhaftem Gleichmut über sich ergehen, nur um am nächsten Tag gleich wieder rückfällig zu werden. Glücklich, uns so einträchtig zu sehen, beobachtet Großmama unseren Aufbruch gerne vom Fenster aus und streckt jedesmal, wenn wir losreiten, Mund und Nase zwischen zwei Gitterstäben hervor, um uns besorgt nachzurufen:«Etwas langsamer, Kinder! Ihr seid doch viel zu dünn angezogen! Vorsicht mit den Ästen! Achtet darauf, daß die Pferde nicht stolpern oder ausrutschen! Daß die Pferde bloß nicht scheuen! Und du, Pedro José, gib gut auf sie acht, reite hinter ihr, denkt daran, ein Sturz vom Pferd ist sehr gefährlich …!» Dann traben wir, während uns der Wind ins Gesicht bläst, den engen Pfad hinab, reiten eine Weile über die Felder, schlagen uns dann seitwärts in die Büsche eines Hohlwegs, bevor es schließlich bergauf geht. Während ich den Blick über die Landschaft schweifen oder auf der sanft vom Wind zerzausten weißen Mähne meines Pferdes ruhen lasse, denke ich eine Weile über María Antonias und Großmamas letzte Worte nach. Meistens regt mich dieses Grübeln zu philosophischen Betrachtungen an, wenn man gewisse Beobachtungen oder Überlegungen, die ich im Zuge meiner Selbstgespräche anstelle, überhaupt als solche bezeichnen kann. So oder so würde ich meine Gedanken keinem je anvertrauen, schon aus Furcht, man könnte sie für ungebührlich oder lächerlich halten. Während mein Pferd neben dem von Perucho, der wie ich in abgrundtiefes Schweigen versunken ist, vor sich hin trottet, veranlassen mich besagte Überlegungen dazu, innerlich zum Beispiel auszurufen:«Es ist doch merkwürdig! María Antonia, die mich haßt, sorgt sich mit lebhaftem Interesse um 226
meine moralische Gesundheit und ist zu der Erkenntnis gelangt, daß meine Vertrautheit mit Perucho abstoßend und gefährlich ist. Großmama hingegen, die jeden Tag betont, daß die moralische Gesundheit weitaus wichtiger ist als die körperliche, ist in diesem Fall lediglich um letztere besorgt und sieht nur die Gefahren, die drohen, wenn das Pferd zu schnell galoppiert. Ausgerechnet ihr, die mich so sehr liebt, scheint meine kostbare und so fragile moralische Gesundheit ganz gleichgültig zu sein.» Da in solchen Momenten alles um Perucho und mich herum von Pracht und Erhabenheit zu sprechen scheint, erblicke ich trotz meiner notorischen Unerfahrenheit mit außergewöhnlicher Klarheit das unsägliche Mysterium der Dinge, erahne das geheime Gleichgewicht des Lebens und bewundere am Ende aus tiefster Seele die Güte der Vorsehung, die mit ihrer weisen Sparsamkeit die Sorge um unser moralisches Wohl in die Hände derer gelegt hat, die uns verabscheuen.«Dank solch weiser Fügung», monologisiere ich dann weiter, immer von der Brise und dem rhythmischen Traben der Pferde eingelullt,«wird der Haß ebenso altruistisch oder noch altruistischer als die Liebe, die wie Cupido immer mit verbundenen Augen herumlaufen würde, wären da nicht die diskreten Hinweise, die sie in Fragen der strikten Moral von ersterem erhält. Das ist der Grund, warum man sich nicht so leichtfertig ein Urteil bilden sollte. Der Haß ist trotz seines schlechten Rufs in Wirklichkeit ein aufmerksamer Hüter, der über unsere Tugend wacht, die solide Basis, auf der unsere Moralvorstellungen ruhen, und der fruchtbare Boden, auf dem die Unschuld und der Geist der Vorsicht in trauter Eintracht gedeihen …» Doch solcherlei Selbstgespräche geraten augenblicklich ins Stocken, sobald mir einfällt, daß dieser unglückselige Hang zum Philosophieren der Grund für meinen Kummer, die Quelle meiner Traurigkeit und der Auslöser für meine Verbannung nach San Nicolás ist, eine Tatsache, die ich bisher einigermaßen stoisch ertragen habe. Ja, hätte ich nicht angefangen, meine persönliche 227
Auffassung von Scham und Moral in Worte zu fassen, hätte Tante Clara sich an jenem Tag nicht dermaßen erregt, und Großmama hätte nicht vor lauter Sorge beschlossen, mich auf der Stelle aus Caracas fortzuschaffen. Und da diese fatale Erfahrung zum Glück ihre Wirkung nicht verfehlt hat und ich gesehen und zu spüren bekommen habe, daß das Horten eigener Ideen so unvernünftig und riskant ist, als trüge man eine Stange Dynamit in der Tasche mit sich herum, verweigere ich mich in solchen Momenten augenblicklich jeglicher Form philosophischer Gedanken und beginne eine Unterhaltung mit Perucho, der mir jetzt Schritt für Schritt auf dem langen, schmalen und sehr schattigen Pfad folgt, der sich am linken Flußufer entlangschlängelt. Sobald wir an eine ruhige Stelle gelangen, wo der Fluß sich zweiteilt und einen Wasserarm zum Gebirge ausstreckt, pflegt Perucho mich zu fragen:«Bleiben wir hier an dieser seichten Wasserstelle, oder reiten wir noch weiter flußaufwärts?» Meistens ziehe ich es vor zu bleiben, denn dort, wo er sich staut, besitzt der Fluß einen eigentümlich heiteren Zauber. Und kaum habe ich auf Peruchos Frage geantwortet:«Laß uns heute hier bleiben», da springt er auch schon ab, hilft mir beim Absteigen, und nachdem er die Pferde an einen großen Terpentinbaum gebunden hat, springen wir im seichten Wasser von Fels zu Fels, auf der Suche nach einer Stelle, wo wir uns hinsetzen können. Nach langer Suche setze ich mich am Ende immer auf den Felsen, der den Fluß zu einem kleinen See aufstaut, und blicke auf die Wasserfläche, blicke unverwandt darauf, ganz aus der Nähe, bis die Welt meiner Gedanken allmählich verstummt, ich alle Ideen, die mir gerade noch beim gleichmäßigen Trott des Pferdes gekommen waren, vergesse, die konkreten Eindrücke des Tages einer nach dem anderen erlöschen und ich, jetzt ein unbewußter Teil der Natur, der einfachen, reichen Stimme des Wassers zu lauschen beginne. In dem Moment existieren Großmama oder María Antonia, das Haus dort unten, mein Zimmer, meine Bücher, mein Kummer, ja, ich selbst nicht mehr, denn vom vielen 228
Starren auf den Fluß ist mir so, als triebe ich mit der Strömung fort, als führte das Wasser zusammen mit den Steinen und dem Sand am Grund, mit den abgefallenen Früchten und den trockenen Ästen, die vorbeiziehen, mit dem Gitterwerk der Bäume und den blauen Himmelsfetzen, die sich von oben spiegeln, auch dieses quälende Gedicht meiner Liebe in seinen Eingeweiden mit sich fort. Dort auf meinem Felsen, in der belebten Stille der Landschaft ringsum, passe ich mich für eine Weile der reglosen Seele des Steins an und verharre ruhig und stumm, damit das Wasser mir, wenn es vorbeifließt, murmelnd mein Gedicht vorsingt und ich es in seinem Spiegel wiedererkenne. Doch dieser Zustand der Verzückung währt immer nur wenige Minuten, denn rasch erwacht in mir eine unerklärliche, freudige Erregung. Dann werde ich ungeheuer redselig und fange eine Unterhaltung mit Perucho an, lache ohne erkennbaren Grund, laufe über die Felsen, bewerfe die Bäume und Felsen im Fluß mit Steinchen und bekomme die verrücktesten Anwandlungen. Von seinem Platz aus schaut mir Perucho mit schüchterner Verehrung zu, wie ich mich freue, und welche Laune mich auch befällt, er errät es sogleich und bemüht sich eilfertig, mir alle Wünsche zu erfüllen. Wenn es eine Frucht ist, die ich begehre, klettert er auf den Baum und pflückt sie mir; wenn es einer der großen Falter ist, jagt er ihm, seinen Hut aus Cogollogras118 in der Hand schwingend, hinterher; ist es eine Blume, pflückt er sie und überreicht sie mir; auch wenn er, um den Baum zu erklimmen, die Schuhe ausziehen oder bis zu den Knien im Wasser waten muß. Eines Tages überkam mich auf einmal ein unbändiges Verlangen, die frischen, sprudelnden Geheimnisse der Wasserstelle zu erforschen und darin ein Bad zu nehmen. Kaum hatte ich meinen Wunsch geäußert, war Perucho auch schon aufs Pferd gesprungen, zum Haus hinuntergejagt und nach knapp zwanzig Minuten keuchend und verschwitzt mit meinem Korb, meiner Seife und meinem Kölnisch Wasser wieder zur Stelle. Eifrig darauf bedacht, daß niemand vorbeikam, hielt er dann bei den Pferden Wa229
che, während ich ganz allein blieb und mit dem Gefühl, die lebendige Seele der Landschaft zu sein, splitterfasernackt in das ersehnte frische Naß meines Lieblingssees eintauchte. Ich weiß noch, wie ich an jenem Tag im Wasser völlig das Bewußtsein meiner eigenen Existenz verlor, denn das sprudelnde Wasser hatte meine Haut in eine seltsam-wohlige Betäubtheit versetzt, und meine selbstvergessen umherschweifenden Blicke hatten angefangen, die Liebschaften der sich über dem Flußbett umarmenden und küssenden Zweige zu erforschen. Erst wenn die Sonne vollständig untergegangen ist, begeben Perucho und ich uns für gewöhnlich auf den Heimweg. Von Sehnsucht nach ihren Ställen getrieben, eilen die Pferde den Flußpfad entlang und fliegen mit leichtem Tritt über die Reitwege und Felder. Dieser entfesselte Galopp, der uns die Hüte vom Kopf reißt und die Haare zerzaust, läßt auch unseren Geist vor lauter Freude fliegen. Ausgelassen und vergnügt werfen Perucho und ich im vollen Galopp die Arme in die Luft, um die Viehhirten zu erschrecken, die vor den Türen ihrer Hütten Cogollogras rauchen, rufen laut, wenn wir Leute im Dunkeln aufscheinen sehen, oder singen aus vollem Halse. Perucho stellt sich dann in den Steigbügeln auf und antwortet auf das Krächzen der irgendwo im Unterholz versteckten Bergtruthähne oder Echsen, indem er ihre Stimmen nachahmt. Vor Entzücken über die Ähnlichkeit muß ich immer lachen und applaudiere seinen Reiterkunststücken. Und wenn wir an den tiefsten Punkt des Hohlwegs gelangen, rufen wir mit einem langen Schrei das Echo, das uns von den schwarzen Bergen her antwortet. Diese allabendlichen Ausflüge sind für mich so tröstlich wie eine Beichte, denn sie befreien meine Seele von der Last ihrer Trübsal. Der Fluß mit seinem barmherzigen Gesträuch, seinen Felsen und seinem Murmeln ist der Beichtvater, der mich jeden Tag von der Schwärze erlöst, die ich ihm hintrage; er spricht mir Mut zu und schenkt meinen Sinnen die unendliche Gnade der Fröhlichkeit. Ich preise den Wind, der mir die Haare zerzaust; ich 230
preise mein Pferd, das dem Wind entgegenläuft; und nachdem ich die gesamte Natur gepriesen habe, preise ich auch Perucho, den Knappen und Ministranten auf meinen sentimentalen Pilgerwegen. Wie mir jetzt klar wird, hat meine enge Vertrautheit mit Perucho ein eigenes Kapitel verdient, denn sie ist einfach und kompliziert zugleich; und da sie auch noch meinen Kummer in Liebesdingen zerstreut, ist sie mir sehr willkommen. Unsere Freundschaft begann mit einer sorglosen, kindlichen Kameradschaft. Perucho war mir nützlich wegen seiner Flinkheit, seiner beflissenen, schwärmerischen Art und seiner Bereitschaft, mir gefällig zu sein. So kam mir die Idee, ihn auf meine einsamen Ausflüge mitzunehmen, wie ich einen großen Hund hätte mitnehmen können, der stumm neben mir hertrottet, ohne meine Träumereien durch unerwünschte Worte zu stören. Doch von dem Tag an, als María Antonia zum erstenmal diese Bemerkung fallen ließ:«Solche Vertraulichkeiten mit Jungen finde ich abscheulich und geradezu gefährlich!», wurde Perucho auf einmal in meinen Augen ungemein interessant. Seine Gegenwart war für mich so, als sei die Liebe leibhaftig anwesend, und, wie Kinder mit Eisenbahnen und Puppen spielen und sie sich als Wirklichkeit vorstellen, fing ich an, mit Perucho zu spielen, als sei er mein Spielzeug, und stellte mir vor, er sei Gabriel. Unter diesem Gesichtspunkt erhielt Perucho für mich natürlich eine immense Bedeutung. Er mag und verehrt mich wirklich in seiner stillen und schüchternen Art, und da ich großzügig bin, und um meine Liebe auch tatsächlich zu erleben, während ich leidenschaftlich von Gabriel träume, nutze ich diese herrliche Fähigkeit, das Leben zu genießen und es auch den anderen schön zu machen, die nicht jede Frau besitzt und die manche abschätzig als Koketterie bezeichnen, und schenke Perucho Blicke und hin und wieder ein Lächeln. Erst dank meiner innigen Freundschaft zu Perucho habe ich entdeckt, daß ich diese Fähigkeit zur Koketterie, die uns wie eine 231
liebevolle Mutter auf den heiligen Pfaden der Liebe leitet, in beträchtlichem Maße besitze. Da ich vor meinem Gewissen besagte Fähigkeit nicht nur für einen Quell der Freude, sondern auch für einen Beweis von Großzügigkeit halte, sehe ich keinen Nachteil darin, es mir offen einzugestehen, und bin sogar stolz auf diese meine Begabung. Jeden Tag bedaure ich mehr, sie nicht schon vorher entdeckt und bei Gabriel angewendet zu haben... Ja! Anstelle dieser dämlichen Schüchternheit, die mich in seiner Gegenwart gehemmt und gelähmt hat...! Aber das sind die Launen des Schicksals...! Mein Gott, welch ein Wirrwarr aus Rätseln und Überraschungen herrscht in unseren Herzen...! Ich bin mir sicher, wenn Großmama, Tante Clara oder sonst jemand läse, was ich soeben niedergeschrieben habe, wären er oder sie schockiert und würden mir Schlimmes oder Beleidigendes hinsichtlich meines zukünftigen Rufs prophezeien. Doch da befänden sie sich im Irrtum. Meine Koketterien mit Perucho sind, wie ich finde, der greifbarste und sicherste Beweis dafür, daß ich grundsätzlich treu bin. Ja. Trotz seiner Gleichgültigkeit und obwohl er mich so allein läßt, liebe ich keinen anderen als Gabriel, und ganz bestimmt wäre Perucho, hätte ich Gabriel nicht kennengelernt, niemals in den Genuß auch nur eines einzigen freundlichen, aufmunternden Lächelns von mir gekommen, das ihn so sehr beglückt. Aufgrund dieser kleinen Erfahrung glaube ich, daß es bei uns Frauen so unsichtbare und erhabene Gestalten in der Liebe gibt wie in der reinen, theologischen Liebe zu Gott. Soweit ich sehe, ist es uns nicht immer möglich, den, den wir lieben möchten, als greifbare Erscheinung zu lieben, und in diesem Fall bleibt uns natürlich keine andere Wahl, als ihn in der uns möglichen Form indirekt zu lieben. Hat diese äußerste Treue gegenüber dem nicht anwesenden Objekt, das wir in Gestalt eines anwesenden Stellvertreters lieben, nicht vieles gemein mit der edlen Liebe des Asketen, der Gott in Gestalt einer Holz- oder Gipsfigur anbetet? Schwingt nicht auch in meinem Fall das erhabene Mysterium der 232
Willenskraft mit, die alles läutert und die plumpe Götzenverehrung in fromme Anbetung verwandelt? Diese feinen Nuancen bestehen in meinem Herzen, und dank ihrer ist Perucho in den Augen meiner Liebe nicht Perucho, sondern ein lebendiges Abbild, das sich aufgrund des ehrwürdigen Mysteriums der Willenskraft ab und zu in Gabriel verwandelt. Bei mir handelt es sich um einen Fall von menschlicher Liebe, in dem sich alle erhabenen, theologischen Feinheiten der göttlichen Liebe zu vereinen scheinen. Und doch bin ich mir sicher, daß Großmama, Mercedes und selbst Gabriel, sollten sie mein Verhalten bewerten, den Fehler begehen würden, es zu verurteilen; aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie mir Flatterhaftigkeit, Untreue, Unbeständigkeit oder eine andere schlechte Eigenschaft dieser Art nachsagen. Doch in dem Fall würde auch ich über sie urteilen, wie die Kirche über die sogenannten Bilderstürmer 119, die in ihrer großen Beschränktheit nie erkannten, welch ein Abgrund zwischen dem konkreten Abbild und dem abstrakten Ideal, der sichtbaren Form und dem unsichtbaren sublimen Inhalt klafft. Als Fazit der vorangegangenen Überlegungen stelle ich hiermit fest, daß meine Liebe zu Gabriel von Tag zu Tag größer und heftiger wird; daß meine kleinen Liebesbezeugungen gegenüber Perucho lediglich den Kult um diese Liebe, die in meinem Herzen überquillt, zum Ausdruck bringen; daß ich grundsätzlich eine sehr erhabene und leicht pantheistische Vorstellung von der Liebe hege und daß nicht zuletzt meine Form von geistiger Treue tausendmal reiner und verdienstvoller ist als die gängige äußere Treue, die die Männer, die Konventionen und die Gesetze vorschreiben. Um die Wahrheit dieser Auffassung und meine Treue zu Gabriel auch vor meinem eigenen Gewissen zu bezeugen, werde ich hier diese kleine Szene wiedergeben, die sich vor zwei Tagen nachmittags am Fluß zugetragen hat. Ich saß wie gewohnt auf dem großen Felsen, der das Wasser zu einem kleinen See aufstaut und schützt. Meine Füße berührten fast die Wasseroberfläche; ich 233
hatte mir einen blütenübersäten Bougainvilleazweig an den Hut gesteckt und vertrieb mir die Zeit damit, die Schalen der Mammeiäpfel120, die Perucho mir vom Baumwipfel aus in den Schoß geworfen hatte, schwimmen zu lassen. Es war eine üppige grüne Traube, die ich allmählich leerpflückte. Wenn ich die Frucht herausgeschält hatte, schnitt ich die Schale in zwei Hälften; den Kern nagte ich ab und legte ihn in die Schale zurück, die jetzt als Schiffchen diente. Vorsichtig, damit es nicht kenterte, ließ ich es dann auf dem Wasser schwimmen, und während ich ihm nachblickte, wie es flußabwärts verschwand, stellte ich mir die Boote vor, die in Indien mit einem Toten beladen einsam von der heiligen Strömung des Ganges davongetragen werden. Ich hing ruhig und versonnen meinen poetischen Gedanken nach, während Perucho unermüdlich hin- und herhuschte und sich wie eine Echse durch das Labyrinth von Zweigen, Blättern und Astgabelungen des gigantischen Mammeibaums wand. Plötzlich hörte ich einen schrillen Pfiff, der mich aufblicken ließ. Es war Perucho, der, auf einem sehr hohen Ast sitzend, mit den nackten Füßen in der Luft baumelnd und beide Hände als Schalltrichter vor den Mund haltend, auf sich aufmerksam machen wollte und mir nun, als ginge es um eine dringende Angelegenheit, zurief:«Hör mal, María Eugenia! Weißt du, an wen du mich von hier oben erinnerst? Mit dem Blütenzweig am Hut siehst du genauso aus wie dieses Mädchen auf dem Reklamebild für RossPillen, das in unserer Straße an der Tür der Apotheke hängt, ich meine in Caracas...!» Da ich besagtes Reklamebild kenne und das Mädchen wirklich reizend aussieht, riß mich dieses unverhoffte Lob aus meiner wehmütigen Selbstversunkenheit und hellte meine Stimmung mit fröhlichen und angenehmen Gedanken auf. Peruchos Beobachtung war für mich tausendmal interessanter, als wenn er mich etwa mit der Venus von Milo verglichen hätte, denn das hätte in meinen Ohren vielleicht nach einer für mein Ego wenig schmeichelhaften Platitüde geklungen. Das mit den Ross-Pillen hinge234
gen, noch dazu vom Wipfel eines Mammeibaumes heruntergerufen, fand ich einfach nur zauberhaft und sehr ehrlich. Um Perucho seine willkommene Galanterie zu danken, schaute ich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf durch die Zweige und Blätter hindurch lange Zeit zu ihm auf, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, nach meiner Einschätzung das aufreizendste aus meinem gesamten Repertoire, und fragte ihn zärtlich:«Ach, ja...?» Auf Peruchos Gesicht dort oben zeitigten mein Lächeln und der Ton meiner Frage unmittelbare Wirkung, woraufhin ich sogleich dachte:«Genauso werde ich reden und lächeln, wenn ich Gabriel das nächste Mal sehe.» Danach warf ich die Traube mit den grünen Früchten kurz entschlossen ins Wasser, wo die Strömung sie forttrug; ich lehnte mich auf dem Stein zurück und fing an zu träumen. Als hätte ich eine dieser berauschenden, halluzinogenen Drogen genommen, hatte die kurze Unterhaltung mit Perucho meine Erinnerung an Gabriel dermaßen belebt, daß ich ihn in allem, was sich um mich herum bewegte, sah: in dem Fluß, den Bäumen, den Vögeln oder in Perucho; ich spürte die Erinnerung so tief in mir, daß ich mir vorstellte, Gabriel auf der Stelle zu schreiben, einen ungewöhnlichen und aufrichtigen Brief, in dem ich ihm die ganze Freude, die ganze Qual meiner Liebe offenbarte … Schon hob ich erneut den Kopf und rief zu Perucho hinauf, indem ich wie er einige Minuten zuvor die Hände vor dem Mund zum Sprachrohr formte:«Hör mal, Peruchito! Komm mal kurz von diesem Baum herunter, geh zu den Pferden, hol aus meiner Satteltasche ein Buch, in dem ein Bleistift und Papier stecken, und bring es mir; ich möchte einen Brief schreiben!» Als er mit dem Buch und dem Schreibzeug zurückkehrte, forderte ich ihn ganz freundlich auf:«Bleib jetzt mal eine Weile still und stör mich nicht. Ich kann nicht schreiben, wenn man mich anspricht.» Dann schrieb ich, solange es noch hell war, auf dem Felsen im Fluß, benutzte das Buch als Unterlage und meine Knie als 235
Schreibtisch, spitzte von Zeit zu Zeit, wenn er stumpf geworden war, meinen Bleistift an einer Felskante, schrieb fieberhaft diesen Brief, mit der ungehemmten Aufrichtigkeit, die alle glühenden und niemals abgeschickten Liebesbriefe auszeichnet. Darin schilderte ich die liebliche Wahrhaftigkeit der Natur, die mich umgab, schilderte auch den wahren Zustand meiner Seele mit der schamlosen Ehrlichkeit, mit der uns das Wasser spiegelt, und der erfrischenden Nacktheit jener Felsen, die vor meinen Augen ihr ewiges, rauschendes Bad im Fluß nahmen. Der Brief, den ich auf dem Felsen sitzend auf meinen Knien schrieb, hatte in etwa folgenden Wortlaut: «Gabriel, ich liebe Dich, weil Du mir einmal mit Worten sagtest, daß Du mich liebst. Ich liebe Dich, weil Du es mir, bevor Du es mir klar mit Worten zu verstehen gabst, bereits mit Deinen Augen sagtest, die wie zwei Lampen des Nachts in weiter Ferne funkeln und meiner Seele leuchten. Ich liebe Dich, weil ich Dein Andenken in meiner Erinnerung verschlossen halte, die es schweigend und mit duftender Willigkeit hortet wie das Sandelholzkästchen den kostbaren Schmuck. Ich liebe Dich, weil Du so lebhaft und so schön in mir lebst und Dich regst, als sei ich der unbewegliche Spiegel und Du das lebendige Bild, das sich darüber neigt, um sich zu betrachten. Ich liebe Dich, weil meine Seele sich auch in der Deinen spiegelte und, als sie sich selbst erkannte, so erschüttert war wie das Gebirge, das zum erstenmal sein weißes Abbild im Wasser aufscheinen sieht. Gabriel, Deine Liebe hat mich begleitet und ist während Deiner Abwesenheit wie ein Singvogel, der, in der Enge seines Käfigs gefangen, hinter den Gitterstäben hin- und herhüpft und aufgeregt zwitschert: ‹Ach, käme eines Tages doch eine mächtige Hand, die mir den Käfig öffnete!› Deine Liebe, Gabriel, hat mich begleitet und ihren ganzen Vorrat an Rosen ins Exil mitgenommen, um daraus eine weiße Girlande zu flechten und mir ihre tausend spitzen Dornen ins Herz 236
zu schlagen. Die Dornen haben sich mit Blut gefärbt, und mein Herz preist sie, birgt sie in seinem weichen Schoß und hat unter den Schmerzen von tausend Stichen, betört vom Duft, stillgehalten, damit die Rosen nicht ihre Blätter verlieren. Gabriel, mit dem Glorienschein Deiner Liebe über der Stirn bist Du mir auf meinem ausgedorrten Pfad entgegengekommen, und seither bist Du der süße Messias meines Herzens. Die Spuren Deiner Sandalen im Staub haben mir einen Weg der Zuversicht gezeigt, und auf diesem Weg bin ich Dir gefolgt; wenngleich erschöpft und durstig, bleibe ich tapfer, denn ich denke an die Wonnen des Weins von Kanaan und hoffe, meinen Hunger mit dem wunderbaren Überfluß an Fischen und Broten zu stillen. Du bist der süße Messias meines Herzens, Gabriel, und Deine Liebe ist das Wasser des Jordans, das mich für immer von den Fesseln der Vorhölle erlöst hat. In der entbehrungsreichen Einsamkeit meiner Wüste lobpreise ich Deine beiden Hände, die so großzügig und gütig sind wie die Hände Jesu, denn sie legten sich eines Tages auf meine Stirn und öffneten diese beiden Augen, die bis dahin geschlossen waren und wie die Augen eines Blindgeborenen die Freuden des Lebens nicht sahen. Du bist der süße Messias meines Herzens, Gabriel, und ich lobpreise die Barmherzigkeit Deiner Füße, die Dich zu mir brachten. Wie die gesalbten Füße Jesu ihn in das Haus des Jairus trugen, 121 so trugen die Deinen Dich in das Haus meines Herzens, das Dich bleich und schlafend in dem weißen Leichentuch seiner Unschuld erwartete, und Du sagtest zu ihm: ‹Steh auf!› Doch Du, Gabriel, hast bei diesen Wundertaten nicht die edle Barmherzigkeit Jesu bewiesen, denn meinen geöffneten Augen nahmst Du die ersehnte Sonne, und mein erwecktes Herz ließest Du allein in seinem zugesperrten Haus. Gabriel, Deine Liebe hat sich verlobt mit meinem Herzen, sie lebt an seiner Seite, und mit ihm pocht sie immerfort im Kerker meines Körpers. Lege ich mir die Finger auf die Stirn, so höre ich in mir das aufgeregte Flügelschlagen Deiner Liebe, und oftmals 237
spüre ich, wie sie sich gleich einem gefangenen Vogel, dem man die Käfigtür geöffnet hat, vor meinen geöffneten Augen niedersetzt, höre, wie ihre Flügel die Luft durchschneiden, und sehe sie Sekunden später stolz und glücklich übers freie Feld auf und davon fliegen. Ja, Gabriel, während ich hier auf meinem kleinen Felsen im Fluß sitze, von dem aus ich Dir jetzt schreibe, flattert Deine Liebe allenthalben um mich herum. Sie ist es, die mir das Lied des Wassers auf den Steinen singt; sie, die den Fluß in rasantem Tempo an der Hand mit sich fortzieht, in einem wahnwitzigen Wettlauf voller Hindernisse; sie, die dem Wasser diese frischen, verstörenden Lippen gibt, die ab und zu am Felsen aufsteigen, um mir flüchtig die Füße zu küssen, und bei deren Berührung mir vor lauter Staunen und Wonne ein Schauder über den ganzen Körper rieselt; sie, die sich so hübsch macht, mir mit ihrem blumengeschmückten Strohhut aus dem Wasser zuwinkt und mich so anmutig nachahmt, wenn ich mich, gierig, sie zu betrachten, über den Fluß beuge, um im Wasser nach ihr zu suchen; sie ist es, die die Bäume erklimmt und von den schwankenden Ästen herab nach mir ruft; sie ist es, die sich zwischen die Flügel des Windes setzt und mir die Augen küßt und die Haare streichelt, wenn ich zur Stunde des Sonnenuntergangs auf meinem munteren Pferd heimwärts reite; sie ist es, die sich an den dunklen Wegkreuzungen versteckt und mir mit der Stimme des Echos antwortet, wenn ich sie aus den Niederungen der Hohlwege anrufe; und sie ist es, die sich schwarz kleidet, aus den Augen meines Vetters Perucho blickt, freudestrahlend nach mir ruft und mir wie die Mutter ihrem Kinde seine Liebe zu erkennen gibt, damit ich ihr zulächele. Gabriel, hier auf dem Felsen im Fluß schreibe ich Dir, weil ich Dir erzählen will, daß ich auf der weißen Schönheit meines Körpers plötzlich die ungeheure Fülle des Frühlings habe erblühen sehen. Blumenbeladen, mit dem Geschenk meiner Liebe in den Armen, erwarte ich Dich ungeduldig Tag und Nacht und gleiche
238
in meiner erwartungsvollen Hoffnung einer verlorenen Oase inmitten einer Wüste. Am Wegesrand harre ich Deiner, Gabriel, jeden Tag mit meiner Liebe als Geschenk in meinen Armen, und in froher Erwartung öffnet meine Liebe die Augen, hüpft vor Freude und will sich aus meinen Armen befreien, um Dir entgegenzueilen wie ein bockiges Zicklein, das in der Ferne die Glocke seiner Mutter hat läuten hören. Gabriel, ich schreibe Dir, weil ich die Bürde meines Geheimnisses nicht länger ertrage, und damit Du kommst, sie mit mir zu teilen, will ich Dir sagen: Deine Liebe ist für mich die wunderschöne Melodie des Hohelieds meiner Liebe...122 Dein Mund ist so weise und ruhmreich wie der Mund Salomos; er nähert sich mir viele Male, streift mein Ohr mit seinem Atem und summt es mir ganz leise vor, auf daß nur ich es höre und niemand sonst. Wie Sulamith, Gabriel, weiß ich den Wortlaut des Liedes, und wie sie rufe ich Dich zu jeder Stunde an in meiner Einsamkeit und sage Dir in meinem Lied: ‹Bis der Tag kühl wird und die Schatten weichen, wende dich her gleich einer Gazelle, mein Freund, oder gleich einem jungen Hirsch auf den Balsambergen.›123 Doch Du erhörst mich nicht, Gabriel; die Stimme, die mein Hohelied singt, ist schon so viele Male in der Dunkelheit der Nacht verklungen, und da ich sie immer lauter erheben will, bis sie auf die Höhe Deines Gehörs gelangt, sende ich es dir gefangen zwischen den Schwingen dieses Briefes. Gabriel, in der sengenden Wüste Deiner Abwesenheit bist du mein glorreicher Salomo, und ich bin Deine Sulamith. Ausgestreckt auf dem glühenden Sand, von Juwelen bedeckt und mich vor Durst verzehrend, erforsche ich aufmerksam den Horizont, denn ich will die erste sein, die den Glanz Deiner Sänfte in der Ferne erspäht, mein siegreicher Salomo. Ich bin Deine liebende Sulamith, Gabriel, und für das Fest der Liebe, zu dem ich Dich erwarte, habe ich meinen hübschen Körper prächtig geschmückt wie eine Braut im Königspalast. Ich bin 239
Deine gepeinigte Sulamith, Gabriel, und für die Qual des Wartens habe ich mein stummes Leid in die schmerzliche Demut des Grases gekleidet, das mein Pferd auf seinem nächtlichen Galopp niedertritt. Gabriel, in der Pracht der Braut und der Demut des Grases bin ich Deine Sulamith und erwarte Dich Nacht und Tag, mein glorreicher Salomo. Höre, höre gut diese Stimme, die Dich ruft in meinem Brief, mein Geliebter, mein Anmutiger, steig hurtig wie die Gazelle, wie der Hirsch herab von den Balsambergen, und komm, dem Schweigen meines Mundes mit Deinem Munde das herrliche Hohelied Deiner Liebe zu singen.» Als ich diesen absonderlichen Brief beendet hatte, verharrte ich noch lange Zeit reglos auf meinem Felsen. Der Lichtmangel hinderte mich daran, das Geschriebene noch einmal durchzulesen, und so begann ich jetzt, den Brief aus dem Gedächtnis zu rekapitulieren, während ich die Leuchtkäfer blinken und Stück für Stück das Band des Flusses aufblitzen sah. Im Verbund mit meiner schweigsamen Ruhe verdichtete die Dunkelheit sich nach und nach, bis sie schließlich mit den Felsen verschwamm, ganz und gar mit dem Wasser verschmolz und mich von Mal zu Mal enger umfing; wir vereinten uns in einer Umarmung; und ich spürte an meinen Armen, ich weiß nicht, ob ein Frösteln, das wie Angst, oder eine wohlige, kribbelige Angst, die wie Kälte war. Einen Moment lang fühlte ich mich mutterseelenallein in der Dunkelheit und schreckte fürchterlich zusammen, als Peruchos Stimme ganz in meiner Nähe sagte:«Wann brechen wir endlich auf, María Eugenia?» Ich sammelte sogleich ängstlich und voller Sorge die drei vollgeschriebenen Blätter ein, die wie Mondschein auf meinem Schoß schimmerten; ich versteckte sie an meiner Brust; an Peruchos Hand durchquerte ich, von Stein zu Stein hüpfend, einen Teil des Flusses. Dann bestiegen wir beide hastig unsere Pferde, die unruhig in der schwarzen Nacht unter dem Terpentinbaum hin- und hertänzelten. 240
Wieder daheim, beim Abendessen, sagte ich, während alle anderen redeten, kein Wort. Mit der Hand auf der Brust ließ ich insgeheim die drei beschriebenen Blätter auf der nackten Haut knistern. Tief in mich gekehrt, breitete ich sie auf meinem Herzen aus und las sie in Gedanken noch einmal durch. Ich fühlte mich glücklich, allem entrückt, nur von meinem Brief begleitet. Ich war stolz, daß ich es gewagt hatte, ihn zu schreiben, und dachte voller Sehnsucht und Vorfreude an die Wirkung, die seine Lektüre erzeugen würde. Doch - ich weiß nicht, ob durch glückliche oder unglückliche Fügung - ein kleiner Zwischenfall bei der Unterhaltung riß mich abrupt aus meiner poetischen Betrachtung und zwang mir mit einem Schlag einen anderen Blickwinkel auf, welcher dem schwärmerischen Idealismus, der meinen Brief diktiert hatte, gänzlich entgegengesetzt war. Perucho, der gegen meinen Willen bei Tisch gerne von den Abenteuern unserer Ausflüge berichtet, wollte gerade von unseren Erlebnissen am Nachmittag erzählen und sagte mit einem schwärmerischen Enthusiasmus, dessen tiefere Ursache kaum jemand erriet:«María Eugenia hat sich heute einen Bougainvilleazweig an den Hut gesteckt, den ich selbst ihr mit meiner Machete abgeschnitten habe, als ich an den Büschen bei der alten Mühle vorbeikam. Mit dem Hut voller Blüten hat sie sich auf einen großen Felsen gesetzt, der im Fluß oberhalb der seichten Stelle liegt, und einen Brief geschrieben. Ich saß oben im Mammeibaum, von wo aus man ein großes Stück vom Fluß überblicken kann, und wie ich sie dort mitten im Wasser auf ihrem Felsen sitzen und schreiben sah, kam sie mir von oben vor wie ein Gemälde. Wenn ich malen könnte, María Eugenia, würde ich mit dem Pinsel und allem Drum und Dran auf den Mammei klettern und dich so malen …!» So leidenschaftlich war Peruchos Beschreibung, daß María Antonia die Augen aufriß und ihren funkelnden Blick einen Moment auf ihm ruhen ließ, während sie, daran zweifele ich keine Sekun-
241
de, die Idee mit dem Gemälde in Gedanken wütend mit folgendem knappen Kommentar bedachte:«Idiot!» Dann heftete María Antonia ihre großen, immer noch funkelnden Augen auf Onkel Eduardo und sagte mit falscher Stimme leise, aber dennoch gut vernehmbar:«Ich kann ja verstehen, daß sie allein ausreiten wollen, auch wenn sie die Tiere schinden und die Sättel und das Zaumzeug zerstören; aber daß sie vom Pferd steigen und sich auf eigene Faust den ganzen Nachmittag am Fluß herumtreiben, finde ich äußerst anstößig, und ich verstehe nicht, daß du das erlaubst. Was für einen Grund gibt es, Briefe an der Wasserstelle zu schreiben? Ich denke doch, hier im Haus gibt es genug Tische und Schreibtische!» Da Onkel Eduardo nicht antworten konnte, denn er aß gerade und hatte den Mund voll, wandte María Antonia sich ungehalten an Perucho und sagte ihm diesmal laut und deutlich:«Es geht nicht an, daß du weiter so deine Zeit vertrödelst, Pedro José! Du denkst an nichts anderes mehr als daran, wie ein Strolch durch die Felder zu streifen. Du lernst nicht, du tust gar nichts...! Wenn du schon so gerne auf Bäume kletterst, die Pferde sattelst und dich als Tagelöhner betätigst, kannst du dich gleich morgen nachmittag nützlich machen und helfen, einen neuen Stacheldrahtzaun um den Hühnerstall zu ziehen. Der alte ist kaputt, und nachts dringen die Beutelratten ein.» Tante Clara widersprach:«Es sind nicht die Beutelratten, die die Hühner holen; ich bin mir fast sicher, daß es Menschen sind, die sie nachts stehlen kommen. Ich halte es für eine sinnlose Ausgabe, den Drahtzaun des Hühnerstalls zu erneuern! » Unterdessen bemerkte Großmama, die am anderen Ende des Tisches saß und von der Unterhaltung auf unserer Seite nichts mitbekommen hatte, durch Peruchos Schilderung alarmiert:«Aber María Eugenia, mein Kind, was für eine Narretei. Warum mußt du denn ausgerechnet zum Fluß reiten, um Briefe zu schreiben? Weißt du denn nicht, daß es am Fluß vor gefährlichen Moskitos nur so wimmelt? Du könntest dir ein Fieber holen! Mach das 242
nicht noch einmal! Wenn du schreiben willst, schreib hier im Haus, wie wir alle.» Ich sagte kein Wort, doch der Brief, der immer noch in seinem Versteck an meiner Brust unter meiner Hand knisterte, verschwand, vom Hauch der Realität entweiht, aus meinem Herzen. Nachdem das Geheimnis zerstört war, war auch der Zauber des gewagten Plans dahin, und alles, was ich am Nachmittag geschrieben hatte, erschien mir jetzt nur noch lächerlich. María Antonias, Tante Claras und Großmamas Worte hatten den Geist des Don Quijote verjagt, der sich meiner bemächtigt hatte, und es gab nur noch Sancho, der sich am anderen Ende meines Herzens ganz zu Recht über meinen unbesonnenen Brief lustig machte.124 In meiner Enttäuschung blickte ich vorwurfsvoll zu Perucho hinüber, doch wie ich war er verstummt und nahm mich nicht einmal wahr. Er hatte seine Taktlosigkeit bereits eingesehen und zeichnete mit den vier Zinken seiner Gabel unverhohlen zerknirscht und mit hängendem Kopf Figuren auf die Tischdecke. Sobald die Mahlzeit beendet war, wünschte ich allen eine gute Nacht und zog mich auf mein Zimmer zurück. Dort holte ich die drei mit Bleistift bekritzelten Blätter aus dem Ausschnitt hervor und faltete sie im altvertrauten Lichtkreis, den die Lampe jeden Abend auf den Tisch wirft, noch einmal auseinander. Ich sah, daß die Worte meines Briefes sich unschlüssig und krakelig über die Linien am rechten Rand hinausdrängten, und nun kamen sie mir ungelenk vor und voller Überspanntheiten. Bei hellem Licht betrachtet, fand ich sie tausendmal lächerlicher, als ich es mir, wenn auch eher vage, während des Abendessens vorgestellt hatte... Mit den zerknitterten Bögen vor meinen Augen versank ich, ohne weiter darauf zu blicken, in langen Grübeleien... Wie hatte ich nur auf die Idee verfallen können, einen solchen Brief zu schreiben...? Ach, was hätte Gabriel gesagt, wäre ich so unvernünftig gewesen, ihn auch noch abzuschicken...? Zweifellos hätte er ihn für absurd, gewagt und«anstößig»gehalten, um es mit María Antonias Lieblingsausdruck zu sagen. Ja...! Vor allem die anmaßen243
de und absolut lächerliche Idee, mich mit Sulamith zu vergleichen... Gabriel erinnerte sich bestimmt gar nicht mehr an das biblische«Hohelied»...! Nach diesen Erwägungen saß ich eine Weile wie versteinert da, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und starrte auf die vollgekritzelten Blätter, bis ich beschloß, sie wegen Verstoßes gegen die Regeln, denen Briefe unterliegen, wegen Indiskretion und Überspanntheit dazu zu verurteilen, in einen Haufen unleserlicher kleiner Stücke zerfetzt und anschließend verbrannt zu werden. Doch als ich mich daranmachte, sie zu zerreißen, fiel mir augenblicklich ein, mit wieviel Liebe ich sie zwei Stunden zuvor geschrieben hatte, und ich revidierte mein Urteil... Ich begnügte mich damit, sie mit aller Macht in den Händen zu einer Papierkugel zu zerknüllen und sie so in ein Symbol meiner ungewissen Zukunft zu verwandeln; dann warf ich sie in das unterste Schubfach meines Tisches. Anschließend schloß ich das Schubfach ab und versteckte den Schlüssel in der hintersten Ecke einer Konsole … Doch nicht umsonst heißt es, der Abenteuergeist des Don Quijote sei unsterblich und so hartnäckig wie die ewige Wiedergeburt des Lebens. Eine Stunde später, als ich bereits das Licht gelöscht hatte und mit geschlossenen Augen im Bett lag, hatte ich das Gefühl, als klängen mir die zutreffenden, vor Pragmatismus strotzenden Worte noch in den Ohren, die mir die heilsame Wahrheit offenbart hatten:«Warum muß man denn ausgerechnet zum Fluß reiten, um Briefe zu schreiben...?»,«Was für einen Grund gibt es, Briefe an der Wasserstelle zu schreiben...?»,«Du kannst morgen dabei helfen, einen neuen Stacheldrahtzaun um den Hühnerstall zu ziehen...»,«Ich halte es für eine sinnlose Ausgabe, den Drahtzaun des Hühnerstalls zu erneuern»,«Am Fluß wimmelt es nur so vor gefährlichen Moskitos, wenn du schreiben willst, schreib hier im Haus, wie wir alle...». Während meine Gedanken damit beschäftigt waren, derlei vernünftige und bedächtige Aussagen Revue passieren zu lassen, meldete sich am Grunde 244
meines Herzens erneut der Unternehmungsgeist des Don Quijote. Der Kampf, den er sich nun mit der Vernunft lieferte, nahm in etwa folgenden Verlauf: Einerseits akzeptierte ich uneingeschränkt den unbestrittenen Grundsatz, daß eine Señorita, die etwas auf sich hält, nicht befugt ist, Briefe an einen Mann zu richten, der weder ihr Vater noch ihr Bruder, ihr Ehemann oder ihr Verlobter ist. Daß die Idee, diesen Brief zu schreiben, mir nicht gekommen ist, als ich auf einem Stuhl an meinem Mahagonischreibtisch vor einer gekalkten Wand saß, sondern unter freiem Himmel, am Fluß unter Bäumen, wäre Grund genug gewesen, diesen Gedanken unverzüglich als Hirngespinst zu verwerfen, wie fast alles, was uns die Natur eingibt, weil sie zutiefst unmoralisch ist, die elementarsten Regeln der Schicklichkeit mißachtet und allzeit die gesunden gesellschaftlichen Konventionen verhöhnt. Von der klugen Argumentation überzeugt, freute sich meine Vernunft, und mein Gewissen konnte beruhigt aufatmen. Doch andererseits lehnte sich dieser unstete Geist, den wir alle in uns tragen, auf und flüsterte mir verlockend ins Ohr:«Wie kannst du nur auf deine Liebe verzichten...? Siehst du nicht, daß Gabriel, der dich verehrt, alles für dich aufgeben würde, sobald er erführe, daß du ihn liebst...? Womöglich hat auch der Fluß recht: Schau, der Wahnsinn ist die Mutter alles Erhabenen!» Diese Kontroverse verhalf mir am Ende zu der klaren Erkenntnis, daß das Übel der Dinge nicht in ihrem Inhalt verborgen liegt, sondern in ihrer Form und daß die Sünde immer ein kantiger, behaarter und unförmiger Körper ist, der schön und würdevoll sein kann, wenn man es nur versteht, ihn in eine angemessene Form zu kleiden. Ich beschloß, das äußere Erscheinungsbild meines Vorhabens zu ändern, das in einen Brief gekleidet«anstößig»und lächerlich wirkte, und es in Verse zu verpacken, die ich Gabriel dann indirekt zukommen lassen würde. Obwohl ich so im Kern das gleiche sagen würde wie in dem Brief, würden meine Ideen
245
nicht Gefahr laufen, die Konventionen zu verletzen oder ins Lächerliche abzugleiten. Zufällig hatte ich am Abend zuvor Shakespeares Werke ausgelesen und beschlossen, sie Gabriel zurückzugeben, weil ich mir nicht sicher war, ob die Sendung als Geschenk gedacht war. Da ich im Grunde meines Herzens glaube, eine poetische Begabung zu besitzen, mache ich von Zeit zu Zeit gern Verse, die ich indes noch nie jemandem gezeigt habe. Nachdem ich an jenem Abend im Bett beschlossen hatte, die Idee mit dem Brief aufzugeben und meine Gedanken in Verse zu fassen, sagte ich mir in meiner Euphorie als Liebende und als Künstlerin, daß ich, wenn ich immer wieder am Text arbeitete und feilte, meine Liebe vielleicht beschreiben könnte, indem ich die Liebe irgendeiner traurigen Shakespeareheldin schilderte, und so, nur in Form eines Kommentars zu einem der Dramen, könnte ich Gabriel die ganze Wahrheit meiner Seele offenbaren. Mein Plan gewann an Farbe, bis mein Optimismus schließlich wieder voll entflammte. Die Idee, das Buch mit einem zwischen seinen Seiten versteckten Gedicht zurückzuschicken, fand ich herrlich. Es war, als böte ich mich Gabriel selbst als schüchternes Geschenk dar, bebend unter einem Schleier. Zu meinem Plan gehörte der Gedanke, Mercedes in mein Geheimnis einzuweihen, damit sie mit ihrem so weisen und vollendeten Feingefühl Gabriel die Überraschung ankündigte. Während ich mich im Bett hin- und herwälzte, entschied ich mich nach langem Überlegen dafür, mich hinter dem Bild einer Julia zu verbergen, die auf ihrem Balkon endlos auf ihren Romeo wartet, der zu dem Rendezvous nicht erscheint. Im Dunkeln schmiedete ich mit den Fingerspitzen meine Verse auf dem Laken, zählte die Silben der Quartette, bis ich vor lauter Tatendrang wieder aus dem Bett sprang, mich in meinen Morgenmantel hüllte, meine Lampe anzündete und nach vielem Durchstreichen und Korrigieren in den frühen Morgenstunden folgendes Sonett fertiggestellt hatte:
246
Wie lang währt schon mein Warten...! In schattendunkler Nacht schier endlosen Sehnens erforsch’ ich auf dem Wege, ob, noch bevor der neue Tag in hellem Morgenlicht erwacht, auf zum Balkon, mein Romeo, sich deine Leiter rege. Doch nichts...! Du tauchst nicht auf, und ich, in meiner Traurigkeit im Schatten blutend, seh’ nur noch deinen Schatten kommen. Welcher Tybalt hat dich geschlagen...? Wer hat die Fröhlichkeit, o Liebster du, mein Romeo, die Flügel dir genommen? Längst warnte mich der weise Mond mit kalten Worten und sagte mitleidvoll:«Der irrt sich, wer der Toten harrt...!» Doch schließ’ ich am Balkon noch nicht die Pforten. Ich warte, bis die Morgenstunden den Tag verkünden, will deinen Körper suchen, wenn seine Lippen kalt erstarrt, mit meinem Mund auf deinem das Leben neu entzünden. Als ich das Sonett fertig hatte, schrieb ich es fein säuberlich hinter den Schluß von«Romeo und Julia»in das Buch und legte mich wieder schlafen. Am nächsten Tag packte ich die Shakespeare-Bände in aller Frühe zum Paket zusammen, legte den Band, der mich am meisten interessierte, ganz zuoberst auf alle anderen und adressierte die Sendung direkt an Gabriel. Anschließend schrieb ich Mercedes einen vertraulichen Brief, in dem ich ihr von meinem Plan erzählte und sie bat, mir dabei behilflich zu sein. Sobald Mercedes den Brief erhalten hatte, rief sie mich an und sagte mir im Laufe unseres Gesprächs:«Gabriel hält sich nicht in Caracas auf, ma chérie... Warum hast du ihm überhaupt die Bücher zurückgeschickt...? Er wollte sie dir doch zum Geschenk machen...! Da bin ich mir sicher, ganz sicher, denn er selbst hat mir gesagt... Aber sag mal: Liegt dir sehr viel daran, daß ich ihm von deinem Begleittext erzähle...?»
247
Ich weiß nicht mehr, was ich ihr erwiderte oder was ich danach sagte. Ich weiß nur, daß ich mich eine Weile, nachdem ich aufgelegt hatte, von einem seltsamen Kummer beschwert fühlte und mich schämte, überhaupt einen Text verfaßt zu haben. Alle meine Hoffnungen waren dahin; ich fühlte mich zutiefst gedemütigt und traurig... Mir fiel ein, daß die sonst so aufmunternde Mercedes schon bei unserem letzten Telephonat vor zwei oder drei Tagen vermieden hatte, Gabriels Namen zu erwähnen... Ihr Schweigen hatte mich bisher nur gewundert, doch jetzt..., jetzt..., in meiner getrübten Stimmung meinte ich zu verstehen... Nach dem Gespräch mit Mercedes war meine Enttäuschung so abgrundtief, und ich fühlte mich dermaßen bedrückt und allein, daß ich einfach loslief, ohne zu wissen, wohin, bis ich zum Teich gelangte, wo ich mich im Schatten unter den Trauerweiden ins Gras legte. Dort blieb ich reglos, wie tot, unter den Weiden liegen, dachte voller Neid an die ewige Ruhe der Friedhöfe und betrauerte mich mit einem Taschentuch aus Sonne und Schatten auf den Augen lange Zeit selbst …
KAPITEL VI Ein Platzregen, ein Brief und ein Nachmittag auf Reisen, der sich wie ein Weg hinzieht, sich schlängelt und in der Vergangenheit verliert. Heute hat es geregnet, mit viel Getöse sind die Tropfen herabgefallen, ein kurzer, aber heftiger sommerlicher Platzregen. Inzwischen ist der Schauer abgeklungen, das dürstende Land hat das ganze Wasser aufgesogen und scheint jetzt mit dem frischen Duft nach feuchter Erde dem Himmel zu danken und ein Loblied auf den Herrn anzustimmen, das majestätisch bis zu den Wolken auf-
248
steigt, die Berge erklimmt und fröhlich auf allen Atomen tanzt wie in den freudigen Psalmen Davids. Heute konnte ich wegen des Regens, der alles durchnäßt hat, nicht ausreiten. Ich befinde mich allein in meinem Zimmer. Durch das geöffnete Fenster, durch das Gitterwerk des Akazienzweigs blicke ich auf die Landschaft, betrachte das Land, dem der Himmel Wasser gespendet hat, spüre in dem Geruch diese unendliche Freude der dankbaren Erde, und trotz meiner Traurigkeit und der Dürre in meinem Herzen, in das kein Regen gelangt ist, besinge ich neidlos und ohne Gehässigkeit die Fröhlichkeit des Wassers, wie die drei Männer im Feuerofen ihre große Lobeshymne sangen:«Alle Wasser droben am Himmel, Regen und Tau, Reif und Schnee, Quellen, Meer und Wasserströme, lobt den Herrn, preist und rühmt ihn ewiglich!»125 Ach, aber der unerbittliche Himmel schüttet jenen rettenden Guß, der bis zu den drei Gefangenen in den Feuerofen vordrang, nicht über der Glut meines Geistes aus, und der brennend heiße Ofen meiner Zweifel wird mich weiterhin Tag und Nacht verzehren, ununterbrochen und ohne Erbarmen …! Heute morgen habe ich einen Brief von Cristina de Iturbe erhalten. Hier liegt er nun vor mir auf dem Tisch, neben dem aufgerissenen Umschlag, genauso, wie ich ihn dort hingelegt habe, nachdem ich ihn gelesen hatte. Es ist eine lustlose, verspätete Antwort auf meine Briefchronik. Er ist auf grauem, nach Sandelholz duftendem Papier mit Golddruck geschrieben; akkurat wie Notenlinien laufen Cristinas feste, gestochen scharfe Buchstaben darüber. Alles hochelegant, sehr korrekt und überaus enttäuschend in seiner Unbedarftheit und Banalität. Wie schon am Morgen blicke ich jetzt ratlos auf den grauen Briefbogen neben dem eingerissenen Umschlag und richte stumme Fragen an ihn:«Warum nur bist du unterwegs nicht verlorengegangen...? Warum warst du nicht so gütig, mir zuliebe zu schweigen...?»Denn von allen Fehlern, die ich bedaure, war dieser mein größter, der, den ich am tiefsten bereue und der mich am 249
ehesten veranlaßt, Besserung zu geloben: Ich empfinde unendliche Reue, mich in meinen Bekenntnissen so rückhaltlos ehrlich offenbart zu haben, denn sie sind nicht im mindesten verstanden worden; und mein Herz ist bekümmert wie ein Bettler, dem man sagt:«Heute nicht; komm an einem anderen Tag wieder...»Ach, welch ein Selbstbetrug; welch eine nicht wiedergutzumachende Unbesonnenheit; welch schreckliche Scham angesichts dieser seelischen Selbstentblößung, wenn die Vertraulichkeiten und Geheimnisse, sobald sie ausgesprochen sind, ungehört von den Freunden abprallen und auf uns selbst zurückfallen, in Tränen der Enttäuschung aufgelöst...! Auf meinen langen, intimen und persönlichen Brief geht Cristina kaum ein... Zu meinen Konflikten und Enttäuschungen äußert sie sich nur vage, in wenigen pompösen Sätzen von unerträglich schlechtem Geschmack; und am Ende kündigt sie mir in knappen Worten ihre bevorstehende Hochzeit an. Sie prahlt nur so mit ihrer Freude, ihrem Glück, ihrer erfüllten Liebe, wie ein Parvenü, der alle mit dem Prunk des neuen Glücks blenden will: «Du kannst Dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin. Mein Bräutigam sieht blendend aus; er betet mich an, und wir leben nur noch füreinander. Wenn wir heiraten, werden wir den Grafentitel erhalten, der ihm gebührt. Papa gibt mir eine Mitgift von zweihunderttausend Duros. Außerdem schenkt er uns noch ein kleines Hotel in San Sebastián und einen Wagen unserer Wahl...» Ach, Cristina, Cristina, so habe ich dir nicht geantwortet, als du mir unter der Ulme im Klostergarten mit deinem Picknickkorb am Arm dein trauriges Geständnis machtest...! Wie sehr muß ich jetzt hier an meinem Tisch daran denken, während ich vor deinem Brief die Totenwache halte und in die Nässe dieses regnerischen Nachmittags hinausblicke …! Meine innige Vertrautheit mit Cristina de Iturbe, diese zarte Intimität, die heute hier in Form dieses grauen Briefs vor mir aufgebahrt liegt; die tiefe Zuneigung, Heimat und Sonne meiner 250
Kindheit, basierte auf zwei Dingen: erstens auf ehrlicher Bewunderung, zweitens auf einem wichtigen Geheimnis, das uns zusammenschweißte … Auf den nassen Scheiben des Nachmittags sehe ich Cristina wie in einem Spiegel vor mir und entsinne mich ihrer Stimme; ich entsinne mich ihrer blauen Augen, ihrer großen Moiréschleife126, die oben von ihrem Kopf abstand, und mir ist, als erlebte ich von neuem jenen fernen europäischen Winternachmittag, frostig und nebelverhangen, an dem wir unter der Ulme im Kloster picknickten, jede mit ihrem Korb am Arm, und sie mich plötzlich zu ihrer engsten Freundin machte, als sie mich in ihr Vertrauen zog. Die Aura des Geheimnisvollen ist etwas Heiliges und Edles. Und sehr anziehend! Sie setzt sich durch und herrscht auf ewig, und das suggestiv Nebulöse, ihr Reich, löst sich niemals ganz auf...! Ja...! In jenem fernen Geheimnis drängt sich meine ganze Kindheit zusammen: Wie klar sehe ich sie heute auf der nachmittäglichen Fensterscheibe vorbeiziehen! Ich war gerade acht Jahre alt geworden, als ich ins Internat der Schwestern vom Heiligsten Herzen eintrat. Bis dahin hatte mich das Lernen schrecklich gelangweilt. In den ersten Jahren unseres Europaaufenthalts, das heißt im Alter zwischen sechs und acht, wechselte mein Vater ständig meine Kinderfrauen und Erzieherinnen aus. Ich hatte Engländerinnen und Französinnen, große und kleine, hübsche und häßliche, alte und junge. Alle waren mir angenehm und sympathisch, solange es darum ging, über die Champs-Elysées zu schlendern. Doch wenn sie mir gegenüber am Tisch saßen, viele Stunden lang, die mir wie Jahre vorkamen, gaben sie die langweiligsten Dinge der Welt von sich, während ihre funkelnden Augen, die zu allem Überfluß meist durch spiegelnde Brillengläser auf die doppelte Größe anwuchsen, in meine schüchternen Augen blickten. Das war das reine Grauen, raubte mir den Schlaf und verdarb mir meine Tage, und wenn ich auf der Straße darüber nachdachte, blickte ich voller Neid auf das Los der Pflastersteine, der Bäume und der Masten, die im Freien 251
standen und die Leute vorbeigehen sehen konnten, ohne eine Hauslehrerin oder einen Schreibtisch zu haben. Papa pflegte mir im Laufe einer Woche mehrmals Vorhaltungen zu machen:«María Eugenia, mein Kind, du bist ein äußerst ungebildetes Mädchen; du kannst immer noch nicht lesen. Schau, Paulina, die kleine Tochter der Concierge, ist genauso alt wie du und kann schon längst das Einmaleins. Aber du, du hast keine Ahnung. Deine totale Unkenntnis wird mir allmählich peinlich.» Doch mir war nichts peinlich. Ich hatte mich schon so an Papas Urteile gewöhnt, daß es, wenn er sagte:«Deine Ignoranz ist mir peinlich», in meinen Ohren und nach meinem Verständnis nicht anders klang, als hätte er gesagt:«Der Franc ist gefallen. »Oder:«Die Mistinguett 127 hat in der Tat wundervolle Beine.»Oder auch:«Die weltweite Abrüstung ist reine Utopie.»Alle diese Sätze, die zu seinem Repertoire gehörten, klangen in meinen Ohren gleichermaßen vernachlässigungswürdig und sinnentleert.«Unwissend»...! Wer scherte sich schon darum, ob ich ungebildet war, solange ich einen Mund hatte, um Süßigkeiten zu verschlingen, Füße, um spazierenzugehen, und vor allem Augen, um das Kasperletheater auf den Champs-Elysées zu sehen, den Elefanten im zoologischen Garten und die Schaufenster der Läden …? Wenn meine Hauslehrerinnen mit Papa redeten, lautete ihr kritisches Urteil über mich meist folgendermaßen:«Monsieur, elle n’est pas bête, mais il n’y a pas de moyen de la faire étudier.»128 Manche allerdings gaben bei mir die Hoffnung ganz auf, wenn sie Papa unauffällig, voller Bedauern, seufzend und mit vielen«Achs»von meinem völligen Mangel an Intelligenz unterrichteten. Beide Urteile ließen mich kalt, denn sowohl das Wort«Ignoranz»als auch das Wort«Intelligenz»hatten für mich nur vage Bedeutungen, waren für mich langweilig und nutzlos, weshalb ich ihnen nie die geringste Wichtigkeit beimaß. Aber nicht umsonst heißt es: Kein Tag gleicht dem anderen. Wie um die Richtigkeit dieses Sprichworts zu beweisen, ereigne252
te sich etwas, als ich am wenigsten darauf gefaßt war, ein kleiner, scheinbar banaler Zwischenfall, der genügte, daß sich meine Einstellung und damit auch mein monotoner Alltag von Grund auf änderte und ich mit einemmal ein völlig anderes Leben führte. Und das kam so: Es war an einem glutheißen Sommermittag. Ich saß an meinem Schreibtisch und wurde von Miss Pitkin, der letzten Erzieherin einer langen Reihe, unterrichtet. Miss Pitkin war Engländerin und trug natürlich eine Brille. Wie gewohnt saß sie um diese Zeit des Unterrichts mir gegenüber und folglich auch vis-à-vis vom Balkon, dessen Türen hinter meinem Rücken weit offenstanden und den Blick auf die grün und üppig belaubte Krone eines der Alleebäume freigaben. Je nach der Stärke der Brise pflegten die Blätter unmittelbar hinter dem Geländergitter unseres Balkons leicht zu flattern oder sich majestätisch zu wiegen. Doch leider regte sich der Baum an jenem Tag nicht, denn es herrschte absolute Windstille, und Miss Pitkin, die wie ich unheimlich schwitzte, war ungeduldig und hatte sich in einen schrecklich komplizierten und gleichzeitig schrecklich monotonen Vortrag verstrickt. Darin ging es um die unumstößliche hierarchische Anordnung sauber untereinander notierter Zahlengrößen, bevor man einen Querstrich zieht und schließlich unterhalb dieses Strichs die Summe aus den oben aufgelisteten Größen zieht, eine überaus findige Methode, die man gemeinhin Addition nennt. Doch anscheinend ist die Hitze dem Gedeihen der Wissenschaft nicht unbedingt förderlich; und Miss Pitkin sah sich, hochrot, schwitzend und die grünen, kurzsichtigen Augen hinter ihren Brillengläsern weit aufgerissen, genötigt, ununterbrochen zu wiederholen:«Die Hunderter notiert man in der Spalte für die Hunderter, die Zehner in der für die Zehner, die Einer in der für die Einer. Dann kommt das Komma, in dem Fall, daß noch die Zehntel addiert werden müssen... Wenn ich also einen Apfel habe und man mir zehn und danach noch hundert draufgibt...» «Ach! Hundert Äpfel!»dachte ich sogleich, während ich reglos, die verschwitzten Hände ausgestreckt auf dem Schoß, vor Miss 253
Pitkin saß. Wie herrlich wäre es, bei dieser unerträglichen Schwüle hundert Äpfel genüßlich einen nach dem anderen zu verzehren, ja, jetzt gleich, hier an diesem gräßlichen, todlangweiligen und ewig leeren Tisch, auf dem man sich nicht einmal mit den Ellenbogen aufstützen durfte …! Ach! Äpfel! Wie köstlich! Vor allem, wenn es nicht diese roten, sondern die anderen, noch grünen sind, die saftigen, ganz großen und leicht sauren …! Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Miss Pitkin unverwandt in ihre grünen Augen, um ihr mein starkes Interesse an der Arithmetik zu zeigen. Doch irgendwann, als wir konzentriert mit dem Thema der imaginären Äpfel beschäftigt waren, entdeckte ich plötzlich, daß die Baumkrone hinter meinem Rücken, vor dem offenen Balkon, die sich für gewöhnlich in der leichten Brise draußen gleichmäßig hin- und herwiegte, in dem schillernden linken Glas von Miss Pitkins Brille winzig klein, rund, grün und völlig reglos in ihrem Lichtkreis verharrte. Und wie das Schicksal so spielt! - der Anblick des Baums, der sich im linken Glas von Miss Pitkins Brille widerspiegelte, verbunden mit dem Bild der Äpfel vor meinem geistigen Auge, genügte, um den monotonen Ablauf meiner Tage, meine Einstellung, meine Vorlieben und überhaupt den gesamten Kodex meiner persönlichen Prinzipien von Grund auf umzukrempeln. Wie ich da vor Miss Pitkin hockte, mit dem fröhlichen Bild des Baumes und der Äpfel vor Augen, befiel meine Seele plötzlich eine unbändige Sehnsucht nach ländlicher Frische, Unbeschwertheit und Freiheit, weit weg, sehr weit weg, wohin eine Stimme, die sagt:«Die Hunderter in die Spalte für die Hunderter …», niemals gelangen würde. Und schon fingen meine Gedanken an, wie ein armer Vogel in Gefangenschaft sehnsüchtig mit den Flügeln zu schlagen: Zunächst war es nur ein zaghaftes Aufbegehren, das allmählich immer heftiger wurde, bis sie schließlich entschlossen in Richtung Vergangenheit davonflogen, wo sie sich in einer Landschaft vager, verschwommener Erinnerungen voller lieblicher vergilscher Bukolik 129 verloren … 254
Den Blick immer noch auf den Baum geheftet, der sich im linken Brillenglas spiegelte, gab ich mich voller Wonne der wohligen, auch mit einer gehörigen Portion Wehmut verbundenen Erinnerung an jene längst vergangenen Tage hin, die ich auf San Nicolás, unserer Hazienda in Venezuela, verbracht hatte, daran, wie ich unter den Guajavenbäumen, die voller Früchte hingen, im Gras gesessen und mit meinen Händen, die ganz frei und unabhängig waren und nur mir gehörten, zusammen mit meiner Freundin María del Carmen, der Tochter unserer Köchin, stundenlang in der Erde gewühlt hatte. Ach, wie glücklich war ich damals gewesen, und glücklich war María del Carmen bestimmt auch heute noch...! Ja, wahrscheinlich hockte sie immer noch im Schneidersitz im Gras, die Fingernägel schwarz vor Erde, die Füße in dunklen alpargatas130, aus denen vorn überraschend die weißen Kuppen ihrer beiden großen Zehen hervorlugten …! Wirklich, es hatte sich nicht gelohnt, weiß geboren worden zu sein; blonde Korkenzieherlocken, rosige Lippen und einen reichen Papa zu haben; eines Morgens in La Guaira ein Schiff zu besteigen und fünfzehn Tage übers Meer zu fahren - das Ergebnis war katastrophal: unerträgliche Kälte und drückende Hitze; der Schreibtisch; Miss Pitkin und die Arithmetik … Ach! Warum hatten wir Venezuela überhaupt verlassen müssen...? Wie glücklich ich dort gewesen war! Ja, María del Carmen war dort sicherlich immer noch unendlich glücklich...! Für einen Moment sah ich wieder den Kopf meiner Freundin vor mir, übersät von einem wirren Dickicht kleiner miteinander verwobener und verknüpfter Zöpfchen, unverändert eine ganze Woche lang. Erst am Sonntag, wenn sie nach dem Bad ein frisches Kleidchen anzog, wurde ihr Haar, wie eine Rechenaufgabe von Miss Pitkin, gelöst und war dann ganz kurz und aufgeplustert... Ja, wenn María del Carmen sich sonntags morgens ins Gras setzte, waren die tausend kleinen Zöpfchen verschwunden, und von ferne bot ihr Köpfchen einen ziemlich malerischen Anblick. Es sah aus wie ein riesiger blühender Pilz, der plötzlich aus dem Gras unter den 255
Guajavenbäumen hervorgeschossen war... Ja, warum plusterte sich María del Carmens Haar dermaßen auf, wenn sie es an den Sonntagen nach dem Bad unter ihrem roten Haarband offen trug…? An diesem Punkt meiner Überlegungen hatte Miss Pitkins Stimme bereits diesen äußerst unangenehmen, gereizten Ton angenommen, in den ein Lehrer verfällt, wenn er eine lange Erläuterung mit einer knappen Frage abschließt:«Also, mal sehen: Wenn man mir einen Apfel gibt und dann zehn und anschließend hundert, und später kommen noch einmal tausend hinzu; in welcher Form muß ich diese Zahlen aufschreiben, damit ich sie addieren kann...?» Um mir die Antwort zu erleichtern, reichte sie mir einen Bleistift; dann reichte sie mir noch mein Arithmetikheft, in dem ein Zettel mit einem Lösungsbeispiel lag. Anschließend richteten sich ihre Augen hinter den Brillengläsern herausfordernd und bedrohlich wie zwei Dolche auf mich und warteten ab … Einige Sekunden lang schwieg ich, doch dann sagte ich als Beweis für meine hervorragende Beobachtungsgabe und meinen Forschergeist, mein logisches Denkvermögen, meine geniale Experimentierfreude, meine Originalität und mein unabhängiges Urteilsvermögen, ohne das von ihr gereichte Heft oder den Bleistift anzurühren:«Ich glaube, daß das Haar der Neger sich aufplustert, weil sie sich soviel in der Sonne aufhalten und die Sonne es verbrennt, wodurch es schrumpft und sich kräuselt. Einmal habe ich eine Strähne von meinem Haar über einer Kerze des heiligen Patrick angesengt und gesehen, wie es sich zusammenzog wie eine Sprungfeder. Eins glaube ich ganz sicher: Wenn ich immer ohne Hut in die Sonne ginge, würden sich meine Haare am Ende genauso aufplustern.» Doch Miss Pitkin, die wie die meisten Menschen die schlechte Angewohnheit besaß, das Leben ausschließlich aus ihrer festgefahrenen Perspektive zu betrachten, wußte meine forscherischen Fähigkeiten überhaupt nicht zu schätzen und verurteilte sie unge256
rechterweise, anstatt sie zu loben. Sie sah meine Theorie über das wollige Haar nur in Verbindung mit ihren Äpfeln und fand sie natürlich dermaßen unlogisch, absurd und ärgerlich, daß sie sich lieber nicht dazu äußerte. Sie überließ es der Beredsamkeit ihrer Mimik, ihre gesamte Verachtung zum Ausdruck zu bringen, schlug das Arithmetikheft mit aller Macht zu, warf den Bleistift auf den Tisch, während ihren schmalen Lippen unter der verschwitzten Behaarung ein lautes Schnauben entfuhr und dann ein englisch intoniertes:«Oooooohhh...!» Völlig außer sich und ohne ein weiteres Wort nahm sie anschließend die Brille ab, zog ihr weißes, blau eingefaßtes Batisttaschentuch hervor, fuhr sich damit zwei-, dreimal über die geschlossenen Augenlider, wischte sich den Schweiß von Stirn, Oberlippe, Hals und Kinn und säuberte dann mit demselben Taschentuch nervös eines nach dem anderen die beiden Brillengläser. Ich saß ihr gegenüber und beobachtete eine Weile lang einigermaßen verdutzt die hektische Beschäftigung ihrer Finger mit dem Taschentuch und den Brillengläsern. Noch war mir die englische Psychologie nicht vertraut genug, so daß ich nicht so recht wußte, welche moralische Bedeutung ich ihrer Mimik zuschreiben sollte. Dieses«Oooooohhh!», das auf das Schnauben gefolgt war, konnte ebensogut als Protest gegen die erdrückende Hitze verstanden werden wie als Ausdruck der Empörung über meine Unachtsamkeit, weder das herübergereichte Heft noch den Bleistift entgegengenommen zu haben. Vielleicht war es ja auch eine neue Art, meinen Ungehorsam zu tadeln, weil ich mit dem Feuer gespielt und meine Haare über der Kerze versengt hatte, die sie sonntags für den heiligen Patrick anzündete, den Heiligen, den sie verehrte. Als sich diese uneindeutige Situation immer länger hinzog, dachte ich jedoch, es sei bestimmt an der Zeit, den Unterricht zu beenden, und da Miss Pitkins unstet und düster dreinblickende grüne, kurzsichtige Augen meiner Ansicht nach ein eher tristes, 257
äußerst langweiliges Schauspiel boten, wandte ich mich von ihnen ab, um den vertrauten, fröhlichen Baum zu betrachten, dessen Laub sich endlich in einem kurzen, wenn auch leider kaum merklichen Windhauch ganz sanft bewegte. Das war meine letzte Unterrichtsstunde bei Miss Pitkin, denn abends, kurz vor dem Abendessen, rief sie mich zu sich und erklärte in Papas Gegenwart feierlich, ich litte an unverbesserlicher Trägheit und beschämender Faulheit, und ihre Geduld oder Befähigung reiche nicht aus, um daran etwas zu ändern. Da die erste Laufzeit ihres Vertrags beendet sei und man sie zu ihrer erkrankten Mutter nach England zurückbeordert habe, habe sie beschlossen, ihre Stelle als Erzieherin in unserem Hause endgültig aufzugeben. Nachdem Miss Pitkin ihre Rechnung präsentiert und Papa über ihre Gründe aufgeklärt hatte, verließ sie förmlich den Raum, in dem wir uns alle drei aufhielten. Ich stand gehemmt, eingeschüchtert und zu Tode erschrocken in einer Ecke, an einen Tisch gepreßt, in Erwartung der schweren Vorhaltungen, die man mir sicherlich machen würde. Doch Papa schimpfte mich für gewöhnlich nicht aus, wegen nichts und niemandem; er äußerte allerdings gern in meiner Gegenwart laut und deutlich seine Meinung, ohne sich darum zu kümmern, ob ich diese verstand, billigte oder teilte. Als Miss Pitkin den Raum verlassen hatte und das dumpfe Hämmern ihrer flachen Absätze im Korridor verhallte, starrte Papa in die Glaskugel einer Lampe und sagte nur, wobei ein vages, geheimnisvolles Lächeln über seine Lippen huschte:«Ich habe mir immer gedacht, daß Miss Pitkin einen amant131 hat, aber jetzt, ich weiß nicht, warum, bin ich mir sicher. Ja, ich würde schwören, daß sie mit ihm nach England geht!» Ich wußte nicht so genau, was man sich unter einem «amant»vorzustellen hat, doch aus Gründen der phonetischen Ähnlichkeit erinnerte es mich stark andiamant, weshalb ich mir, während ich nun mit meinen kleinen rosigen Fingerchen die 258
Hohlräume und Vorsprünge des Tischs abtastete, ohne nachzufragen oder mir weiter mein armes Köpfchen zu zerbrechen, Miss Pitkin sogleich reisefertig angekleidet, mit ihrem Koffer in der rechten Hand und einer prächtigen, in vielen Farben funkelnden Diamantbrosche an der Brust vorstellte, die ihren Oberkörper im Zusammenspiel mit ihren spiegelnden Brillengläsern in einen schillernden Lichtkranz tauchten. Zufrieden und beruhigt, sie vor ihrer Abreise nach England so strahlend zu sehen, quittierte ich ihren Aufbruch mit einem glücklichen Lächeln... Doch alles in allem glaube ich, Papa hatte dasselbe Problem wie Miss Pitkin, und meine Gegenwart, die Sorge um mich, meine Erziehung und meine Hauslehrerinnen hielten ihn ständig dermaßen in Atem, daß er sich trotz seines guten Willens und seiner väterlichen Opferbereitschaft in seiner Freiheit eingeschränkt und in seinem Leben erheblich gestört fühlte. Als Miss Pitkin fort war, suchte Papa mir keine neue Erzieherin, sondern rief mich eines Morgens nach dem Frühstück zu sich, um mir sehr liebevoll mitzuteilen:«Es tut mir leid für dich, mein Kind, ich wollte mich nicht von dir trennen, aber deine Unwissenheit ist grenzenlos und beschämt mich. Ich sehe keinen anderen Ausweg, als dich in ein Internat zu schicken. Es ist offensichtlich, daß du in der Obhut von Erzieherinnen nichts lernst. Ich habe bereits mit der Mutter Oberin vom Heiligsten Herzen gesprochen, und am Ersten des Monats wirst du dort anfangen. » Eigentlich mißfiel mir diese Ankündigung nicht einmal. Zum einen fand ich die Idee, ein neues Leben zu beginnen, durchaus verlockend: Die Schulpausen im Internat waren sicherlich sehr lustig. Ich hatte andere Mädchen erzählen hören, da fänden Spiele statt, die«La balle oiseau»und«La balle empoisonnée»132 hießen, verlockende Namen, die sich mir ins Gedächtnis eingeprägt hatten. Zum anderen gefiel mir der Gedanke, daß ich für das Wasser oder den Wein zum Essen einen speziell für mich angefertigten Silberbecher haben würde, in den meine drei Initialen ebenso
259
eingraviert sein würden wie meine Schülernummer, die wahrscheinlich ebenfalls aus drei Ziffern bestehen würde. Tatsächlich lernte ich die Wonnen von«La balle oiseau» und«La balle empoisonnée»kennen und bekam meinen Silberbecher mit meinen drei Initialen, die unter meiner Schülernummer eingraviert waren, denn genau wie von Papa angekündigt, trat ich am ersten Tag des folgenden Monats als Schülerin in das Internat der Ordensschwestern vom Heiligsten Herzen ein. Seit meinem Eintreffen im Internat zog das Mädchen mit den blauen Augen und den schwarzen Haaren meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich und lenkte mich von meiner Traurigkeit ab. Es saß in meiner Klasse rechter Hand der Lehrerin, was bedeutete, daß es in der Woche zuvor die Klassenbeste im schriftlichen Aufsatz gewesen war. Das Band mit dem Klassenkreuz bedeckte seine Brust und hob sich feierlich von den drei Aufschlägen seiner marineblauen Uniform ab, die so sauber und brandneu aussah wie meine, die ich an dem Tag zum erstenmal trug. Das Gesicht über dem Kragen und die Hände, die aus den Manschetten der dunklen Uniform herausschauten, waren ganz weiß, so weiß, daß sie die Kälte von Marmor ausströmten und die für sehr weiße Dinge typische zarte Ausdruckslosigkeit besaßen. Sobald der Unterricht begonnen hatte und das Mädchen im Stehen die Lektion aufsagte, gewann diese zarte, ausdruckslose Blässe in meinen Augen einen glänzenden Zauber. Ohne zu wissen, wie oder warum, sah ich mitten aus ihrer Kälte heraus erstmals den leuchtenden Funken der Wissenschaft sprühen, eben der Wissenschaft, die, vermittelt durch die Stimme der Erzieherin, meinen Geist bis dahin immer nur mit Langeweile zu umnebeln vermocht hatte. Wie konnte nur plötzlich ein solches Wunder geschehen? Ich weiß es nicht, doch ich stellte baß erstaunt und reichlich eingeschüchtert fest, daß jene weiße Lilie, die in meinem Alter und nicht größer war als ich, gleichzeitig ordentlich, still und redegewandt war. Was mich aber am meisten verwunderte, war, diese ganze Korrektheit mit ebensoviel Klugheit gepaart zu sehen. 260
Wenn es um ein hochkompliziertes Problem beim Substrahieren von Dezimalen ging oder um die Reihenfolge der Könige von Israel, wandte sich die Lehrerin jedesmal nach rechts und sagte nur:«Señorita de Iturbe, gehen Sie mal an die Tafel.» Oder weniger formell und knapper:«An die Tafel, Cristina.» Und das Mädchen mit der schneeweißen Haut stand lautlos auf. Nie stieß es gegen seinen Schemel, sein Pult oder den Tisch der Lehrerin; nie ließ es sein Lineal fallen oder sein Federmäppchen, und seine Bücher, die so klug und so still waren wie es selbst, standen strikt nach Größe geordnet da, jeweils in ihrem marineblauen Umschlag mit dem weißen Schnitt, als versuchten sie in allem der überragenden Persönlichkeit und Klugheit ihrer Besitzerin nachzueifern. Während ich das Mädchen nicht aus den Augen ließ, saß ich stumm und reglos auf meinem zu hohen Stuhl, baumelte mit verschränkten Füßen in der Luft und wußte nicht, was ich mehr bewundern sollte: seine Disziplin oder seine Klugheit. Fasziniert wanderten meine Blicke von den Büchern zur Tafel und von der Tafel zu den Büchern. Im allgemeinen war es die Tafel, die schließlich meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Dann hatte Cristinas weiße Hand bereits die Kreide aufgenommen und angefangen, in gerader Linie mit energischen, spitz zulaufenden Buchstaben oder Zahlen tausenderlei unverständliche und rätselhafte Dinge anzuschreiben, wobei in meinem Kopf von Zeit zu Zeit blitzartig die Erinnerung an die langweiligen Ausführungen von Miss Pitkin aufschien. Ich sehe die Szene noch wie heute vor mir …: wie jene weiße Hand mit den kurzgeschnittenen Nägeln im Galopp auf dem Stück Kreide ritt, deren Weiß quasi mit dem Weiß ihrer Hand verschmolz, um eins mit ihr zu werden, und wie dann beide wie aus dem Nichts auf der nachtschwarzen Tafel eine Fülle von Rätseln schufen, hinter denen sich die geheimnisvolle Verlockung der Wissenschaft verbarg! Seltsamerweise hatten jene sinnlosen Rätsel letztlich doch einen Sinn. Denn während die weiße Hand geschwind über die 261
schwarze Tafel huschte, schossen mir Papas Worte wieder durch den Kopf:«Deine Ignoranz ist mir peinlich», und dabei ging mir ein Licht auf. Es war wie eine Leuchtreklame, die mitten in der Dunkelheit aufflammte. Das Schweigen der Hand, die Rätsel auf die schwarze Tafel zauberte, war am Ende also tausendmal aussagekräftiger als Papas gesamte Eloquenz, der es dennoch nie gelungen war, mir die Begriffe«peinlich»oder«Ignoranz»zu erhellen. Ich weiß nicht, wie es zu diesem großen Gesinnungswandel kam, jedenfalls füllte sich gleich an diesem ersten Tag im Internat, wie gesagt, Papas negative Aussage, die ich für nichtssagend, banal und nicht der Beachtung wert gehalten hatte -«Deine Ignoranz ist mir peinlich»-, mit Sinn und leuchtete in strahlendem Glanz neben jenem anderen, positiven Satz, den ich insgeheim dem Mädchen aus Schnee widmete:«Deine Klugheit verblüfft mich.» So sehr leuchteten die beiden Auffassungen in meiner Vorstellung, daß das Mädchen mit der schneeweißen Haut mir fortan wie die Weisheit selbst vorkam. Ich bewunderte es von ganzem Herzen, vor allem seine blauen Augen, in denen ich die bildliche Darstellung der Wissenschaft sah und den Born, in dem die Lösungen aller Probleme zu finden waren. Hinzu kam, daß auch die Klassenlehrerin blaue Augen hatte, ebenso wie das große Heilige Herz, das im Klassenraum hing, weshalb ich allmählich eine tiefe Verehrung für blaue Augen entwickelte und an ihre Überlegenheit glaubte. Ich lebte unter ihrem Einfluß, und mich bekümmerte zutiefst der Gedanke, daß meine unwiderruflich und auf ewig schwarz bleiben würden. In den ersten acht Tagen meines Aufenthalts im Internat hätte ich sehr viel Geld und viele Lebensjahre für das Privileg gegeben, blaue Augen zu haben. Glücklicherweise war es mir unmöglich, in diesem Punkt etwas auszurichten, zumal das katastrophale Folgen für mein zukünftiges Leben gehabt hätte. Angesichts der Tatsache, daß es mir nicht möglich war, mir die Augenfarbe des Mädchens mit der schneeweißen Haut anzueig262
nen, richteten meine Bemühungen sich darauf, ihm in allem anderen nachzueifern. Einen Tag nachdem ich Cristina kennengelernt hatte, waren meine Fingernägel bereits geopfert und radikal gekürzt, das Haar trug ich jetzt straff nach hinten gekämmt, und die schwarze Samtschleife, die sie zusammengehalten hatte, war einer aus Moiré gewichen und glich der ihren, die in Form eines großen Schmetterlings mitten auf ihrem Kopf saß. Wenn ich zum Unterricht kam, stellte auch ich meine Bücher nach der Größe geordnet auf das Pult, und wenn ich meine Lektion aufsagte, die darin bestand, das Einmaleins mit vier und fünf auswendig vorzutragen, hielt ich wie sie die Hände gefaltet und den Daumen in die Schnalle meines Ledergürtels eingehakt. Indem ich jedes Detail nachahmte, glich ich ihr bald als Gesamtbild, und über das Äußere gelangte ich schließlich auch innerlich ans Ziel. Nach wenigen Monaten im Internat hatten sich mir bereits alle Rätsel erschlossen und alle Geheimnisse aufgelöst. Nun begann auch ich, zur Rechten der Lehrerin zu sitzen, trug auch ich manchmal die Schärpe und das Klassenkreuz über der Brust, und auch ich trat an die Tafel vor, um die schwierigsten Aufgaben vor der gesamten Klasse zu lösen. Wie Cristina wurde ich in schwierigen Fragen um Rat gefragt, und sobald ich den Klassenraum betrat, teilte ich mit ihr das Ansehen und die Führungsposition. Doch wie ich ihr niemals etwas neidete, so nahm sie mir niemals übel, daß ich mir angemaßt hatte, an ihren Privilegien und Vorrechten teilzuhaben. Zwischen uns bestand nie die geringste Rivalität, und aus unserem gemeinsamen Erfolg schufen wir uns einen gemeinsamen Nimbus, innerhalb dessen wir in vollkommenem Einvernehmen lebten. Ich glaube ja, daß diese Harmonie weniger auf einem Gefühl gegenseitiger Großzügigkeit beruhte, als vielmehr auf diesem starken Einfluß, den Cristina vom ersten Augenblick an auf mich ausübte. Ich eiferte ihr weiterhin in allem nach, konsultierte sie in allem, befolgte ihre Ratschläge und vertraute rückhaltlos ihrer Meinung. Es war eine Art fanatische Vergötterung, die Liebe des 263
Anhängers zum Apostel und des Schülers zu seinem Meister. Wäre ich ihr nicht in meiner Klasse begegnet, wäre ich vielleicht so unwissend geblieben wie zuvor unter dem Einfluß meiner Erzieherinnen. Das Internat wäre für mich wie ein Gefängnis gewesen, ein Hort der Verzweiflung, wo ich weiterhin die Pflastersteine, die Bäume und Masten draußen beneidet hätte. Doch Cristinas Einfluß hatte mich von meiner Unwissenheit erlöst, und ich himmelte sie an, als sei sie das leibhaftige Licht der Weisheit. Cristina zog mich auch deshalb an, weil sie geheimnisvoll, einsam und andersartig war. Sie war das einzige Kind eines spanischen Vaters und einer frühverstorbenen englischen Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnerte. Die großen Ferien verbrachte sie immer bei ihrem Papa, der in Madrid lebte, oder bei der Familie eines Onkels, die in die Sommerfrische nach San Sebastián zu fahren pflegte. Doch wenn sie nach den Ferien in die Schule zurückkehrte, vermied sie es immer, von ihrer Familie zu reden, und erzählte nichts von ihren Unternehmungen. Während der Schulzeit kam keiner sie je besuchen, und gegen Ende, wenn alle längst abgereist waren, blieb die arme Cristina, umringt von Auszeichnungen, noch ein oder zwei Wochen allein im Internat und wartete, bis jemand aus Spanien kam, um sie abzuholen. Obwohl sie sehr hübsch, adrett, gewissenhaft und unglaublich ordentlich war, war sie nicht eingebildet. Sie hegte eine klösterliche Verachtung gegenüber jeglicher Form von Toilette, geselligen Festen und weltlichen Vergnügungen; allerdings hatte sie eine große Leidenschaft: das Theater. Immer wieder sagte sie mir im Vertrauen:«Wenn ich einmal groß bin, würde ich hier als Nonne bleiben, wäre es nicht so - weißt du? -, daß sie nie hinauskommen: Sie können niemals ins Theater gehen!» Cristina, die mir ihre Liebe zum Lernen gestanden hatte, erklärte mir auch, wie wenig sie sich aus weltlichem Pomp und sonstigen Eitelkeiten machte. Ich folgte ihr auf diesem Weg, wie ich ihr auf allen anderen gefolgt war, doch in diesem Fall ehrlich gesagt nur halbherzig, denn während ich darauf verzichtete, mir 264
die Wangen zu pudern, schlichte Kleidung trug und mein streng zurückgekämmtes Haar mit der riesigen Moiréschleife krönte, sehnte ich mich im Grunde meines Herzens doch immer nach weltlichen Dingen. Sobald wir den Unterricht verließen, kam uns unsere Selbstsicherheit abhanden, und auch der gute Ruf, den wir während der Schulstunden genossen, zählte nicht mehr. Wenn wir in den Ferien in irgendeinem Badeort oder an einem Strand auf elegant gekleidete Leute der feineren Gesellschaft trafen, wurden wir schrecklich verlegen. Wenn man uns ansprach, waren wir völlig eingeschüchtert und wußten nichts mehr mit uns anzufangen: wohin mit den Händen, wohin mit den Füßen, wohin überhaupt mit allem …! Seither habe ich viel über dieses lästige, unbezwingbare Gefühl der Verlegenheit nachgedacht, und inzwischen glaube ich, jene absurde Gehemmtheit war ein Spiegel unserer geistigen Prüderie. Wenn wir uns bar jeder Eitelkeit in der Öffentlichkeit präsentierten, wurden sowohl Cristina als auch ich ununterbrochen rot, denn was die Theologen und Moralisten auch behaupten: Diese himmlischen Kleider, die man aus Eitelkeit trägt, mögen ja manchmal den Körper entblößen, aber was sie auf jeden Fall bekleiden, ist das arme Selbstbewußtsein, das so verschämt ist und es allemal verdient hat, geschützt und hübsch angezogen zu werden. Ich weiß nicht, wie Papa meine Verzagtheit einschätzte, doch Tatsache ist, daß er mich manchmal betrübt ansah und sagte:«Bei den Nonnen hast du endlich einmal etwas gelernt, aber man möchte meinen, sie prügeln es euch ein. Du siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn, mein Kind!» Zu der Zeit hatte Cristina mich schon längst in ihr großes Geheimnis eingeweiht. Zehn oder zwölf Monate waren seit meiner Ankunft im Internat vergangen, als sie sich mir anvertraute. Ich kann mich noch gut an jenen Wintertag erinnern. Es war während der Nachmittagspause, und wie gewöhnlich standen wir etwas abseits im Park unter der Ulme und unterhielten uns. Nur wäh265
rend der Nachmittagspause war es den Schülerinnen erlaubt, miteinander zu sprechen; zu jeder anderen Tageszeit war es strikt untersagt. Doch während man seinen Imbiß zu sich nahm und die Hände mit dem Korb und dem darin enthaltenen Brot und Obst beschäftigt waren, konnte man weder rennen noch spielen, weshalb keine andere Möglichkeit blieb, als das Reden zu gestatten. Aus diesem Grund war die Nachmittagspause die vergnüglichste und interessanteste von allen. Cristina und ich, die wir immer Urlaubspläne oder Fragen aus dem Unterricht zu besprechen hatten, zogen uns regelmäßig unter eine Ulme zurück, die weiter hinten im Park emporragte, wo wir uns gegen die Vorschriften dann auf spanisch unterhielten. Es waren Momente intimer Vertraulichkeit, denn wir waren beide spanischer Herkunft, Einzelkinder und durch den Tod unserer Mütter Halbwaisen und fühlten uns durch unser beider Schicksal und die gemeinsame Muttersprache einander eng verbunden. Es war an einem frostigen Nachmittag unter ebenjener Ulme, als wir uns mit den Picknickkörben in der Hand auf spanisch unterhielten, daß Cristina ihr Schweigen brach und mir ihr Herz ausschüttete, das sich bis dahin immer in einen doppelten Schleier von Traurigkeit und Geheimnis gehüllt hatte. Ich weiß nicht mehr, wie unser Gespräch begann, oder wie es zu diesem Geständnis kam; jedenfalls erzählte mir Cristina, während wir abwechselnd ins Brot und in einen Apfel bissen und von Zeit zu Zeit den Tauben ein paar Brocken hinwarfen, die aus dem Taubenschlag herbeigeflogen waren, um die Brotkrumen direkt vor unseren Füßen aufzupicken, in ihrer etwas altklugen Art von ihrer kummervollen Geschichte, die fast die gesamte Dreiviertelstunde der Nachmittagspause in Anspruch nahm. Zunächst gestand sie mir, ihr Leben außerhalb des Internats sei ein einziges Martyrium, von dem niemand etwas ahne. Sie habe immer im Haus eines Onkels, des älteren Bruders ihres Vaters, gelebt, der zwei sehr nette und hübsche Töchter ungefähr ihres Alters habe und bei dem sie auch jetzt noch ihre Ferien verbringe. 266
Den Winter über lebe die Familie in Madrid, und im Sommer pflege sie nach San Sebastián zu fahren. Alle in der Familie hätten sie sehr gern und seien nett und herzlich zu ihr. Doch es sei nicht ihr wirkliches Zuhause, und die beiden Mädchen seien nicht ihre Schwestern, weshalb viele merkwürdige Dinge geschähen, die sie beunruhigten und betrübten, ohne daß die anderen etwas davon ahnten … Noch nie habe sie darüber gesprochen, weder mit ihrem Papa, noch mit den Schwestern im Internat oder sonst irgend jemandem auf der Welt. Ich sei die erste und einzige, mit der sie darüber rede … Nach diesen Präliminarien hielt Cristina, sicherlich plötzlich von ihrer englischen Zurückhaltung gehemmt, einen Moment fast reumütig inne, doch dann schaute sie mir in die Augen, und als sie feststellte, daß ich echtes Interesse zeigte, gab sie sich einen Ruck, kippte den Korb mit den Brotkrumen über den Tauben aus und kam gleich zur Sache:«Als ich noch ganz klein war und wir in Madrid wohnten, wurden meine Kusinen immer von ihrem englischen Kindermädchen ausgeführt, während mit mir nur eine Hausangestellte spazierenging. Nie kam ich mit, wenn die Mädchen Besuche machten oder auf Kinderfeste gingen, zu denen ich nicht eingeladen wurde. Aber da ich es seit frühester Kindheit nicht anders kannte, war ich daran gewöhnt, ich hatte es ja nie anders erlebt, verstehst du? Ich fand es schon irgendwie merkwürdig und war traurig, aber ich dachte mir: ‹Sie sind eben Schwestern, deshalb gehen sie zusammen..., ich bin allein, also gehe ich allein!› Doch eines Tages..., ach..., eines Tages geschah etwas, was ich niemals vergessen werde... Verstehst du, María Eugenia? Denk nur, obwohl es fast zwei Jahre her ist, habe ich es so lebhaft in Erinnerung, als geschähe es heute, jetzt hier, in diesem Augenblick...» Als Cristina«jetzt hier»sagte, zeichnete sie mit der Hand, in der sie den Korb hielt, einen Kreis der Vertraulichkeit, der den gesamten schattigen Platz unter der Ulme zu umfassen schien. Dann bat sie mich inständig, ihr Geheimnis auf ewig für mich zu behal267
ten, was ich ihr feierlich versprach. Nach diesen Vorkehrungen fuhr sie fort:«Es war ein Weihnachtsabend. Meine beiden Kusinen waren mit ihrer Erzieherin zu einem Fest unterm Weihnachtsbaum eingeladen. Ich hatte keine Lust, mit meinem Kindermädchen spazierenzugehen, sondern zog es vor, daheim zu bleiben und mit meiner neuen Puppe zu spielen, einem Weihnachtsgeschenk. Denn an Puppen, Kleidchen, Süßigkeiten hat es mir nie gefehlt... Wie du siehst, bekomme ich alles, was ich mir wünsche. Schon damals wurde ich ebenso reichlich bedacht wie meine Kusinen, und manchmal bekam ich sogar größere und schönere Geschenke als sie, denn meine Tante ist ein guter Mensch und sagt immer, da ich keine Mutter hätte wie die beiden Mädchen, sei es nur gerecht, wenn sie mir immer das Beste gäben … Kurzum, an jenem Weihnachtsabend war ich vollauf damit beschäftigt, mein Puppen anzukleiden, während meine Tante und mein Onkel sich im Nebenzimmer seit einer Weile unterhielten. Plötzlich hörte ich meinen Namen fallen, und als ich die Ohren spitzte, verstand ich, daß sie über mich redeten. Da die Tür zum Nebenzimmer geschlossen war und die Teppiche und Gardinen die Stimmen dämpften, konnte ich, selbst wenn ich direkt an der Tür lauschte, nur lose Wortfetzen und vereinzelte Sätze aufschnappen... Ach...! Aber das bißchen, das ich hörte, war so unmißverständlich, daß ich es niemals vergessen werde, nie...! Ich hörte nämlich, wie meine Tante sagte...» An dieser Stelle verfiel Cristina in eine Art Raunen, als gäbe sie ein fernes, schmerzliches Echo wieder:«‹So können wir unmöglich weitermachen...! Das ist ein schrecklicher Konflikt! Ich bringe es nicht übers Herz, sie wie ein armes Aschenputtel zu behandeln... Es war anders, als sie noch kleiner war, aber jetzt, nein, jetzt merkt sie es allmählich...!› Anschließend, María Eugenia, führte für eine Weile mein Onkel das Wort, und da Männerstimmen viel leichter geschluckt werden, bekam ich von dem, was er sagte, nur folgendes mit.»
268
Und wieder nahm Cristinas Stimme den Klang eines fernen, von einer geheimnisvollen Melancholie gefärbten Echos an, während sie die Sätze, die sie hinter der Tür belauscht hatte, wiederholte:«‹Natürlich...! Was willst du...? Trotz allem haben sie recht. Sie ist nun mal ein natürliches Kind133! Wir können sie niemandem aufzwingen, der sie nicht empfangen will...! Aber die beiden anderen Mädchen sollen nicht darunter leiden … Ich werde mit meinem Bruder sprechen..., das ist zu heikel und muß beizeiten geregelt werden...› Dann ergriff meine Tante wieder das Wort. Sie redete schlecht über jemanden, sehr schlecht. Na ja, zuerst konnte ich nicht alles verstehen, doch je mehr sie sich ereiferte, weißt du, desto lauter wurde ihre Stimme, bis ich sie ganz deutlich sagen hörte: ‹Da ist nichts mehr zu machen. Es ist eine Schande! Sie hat kein Schamgefühl und kein Herz, sie hat gar nichts...!› Als ich das hörte, glaubte ich, ihr Zorn gelte mir, und während ich das Ohr noch dichter an den Türspalt preßte, dachte ich: ‹Was habe ich denn Schlimmes getan, um Himmels willen...? Warum sagt sie, ich hätte kein Schamgefühl und kein Herz?› Doch der Zufall wollte, daß, als ich gerade die Ohren besonders spitzte, um mehr herauszubekommen, der Hausangestellte meldete, es sei Besuch eingetroffen. Da verließen Onkel und Tante den Raum durch die gegenüberliegende Tür, um in den Salon zu gehen. Ich aber rührte mich nicht vom Fleck, ich blieb dort an der Tür auf dem Boden hocken mit meiner halb angezogenen Puppe auf dem Schoß, ohne sie zu beachten, und grübelte... und grübelte... Nachdem ich mir lange den Kopf zermartert hatte, versteckte ich mich hinter dem Vorhang des Balkons, falls jemand den Raum betreten sollte. Dort in meinem Versteck konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen und sie mit dem Saum des Vorhangs trocknen, und obwohl ich eigentlich nie weine, weinte ich den ganzen Nachmittag... Siehst du, María Eugenia, ich hatte endlich die Wahrheit erfahren... Ich wußte nun, daß ich für die Familie meines Onkels ein Problem war; ich wußte, daß ich meine Kusinen nie auf Kinderfeste begleiten durfte, weil man mich 269
dort nicht empfangen wollte, und ich wußte auch, daß ich ein natürliches Kind war, wie mein Onkel gesagt hatte... Was mich aber am allermeisten schmerzte, war, daß meine Tante behauptet hatte, ich kennte keine Scham und sei herzlos..., ausgerechnet meine Tante, die immer so gut zu mir gewesen war... Doch auf dem Höhepunkt meiner Verzweiflung versiegten meine Tränen abrupt, denn plötzlich schwante mir, daß meine Tante ja vielleicht gar nicht mich gemeint hatte... Inzwischen bin ich mir fast sicher, daß sie nicht mich meinte, aber... Weißt du, María Eugenia...? Ich konnte mich von dem Gedanken nie ganz befreien, denn wenn sie nicht mich gemeint hatte..., wen dann...?» Da ich verunsichert war und nicht wußte, was ich sagen sollte, bestand mein erster Beitrag zu diesem Gespräch darin, daß ich ihre Frage wiederholte:«Stimmt..., wen könnte sie nur gemeint haben …?» «Nun ja», fuhr Cristina fort,«weißt du, wie es ausging? Am nächsten Morgen habe ich heimlich, damit die Erzieherin es nicht merkte, an meinen Vater geschrieben. Damals konnte ich noch kaum schreiben, meine Schrift war sehr krakelig, das Blatt war mit Rechtschreibfehlern und Tintenklecksen übersät, einfach lachhaft! Die Wörter klebten halb zusammen, und Großbuchstaben streute ich aufs Geratewohl ein. Doch so gut es ging, habe ich mit ungeschickten Worten an meinen Papa geschrieben, um ihm, bevor er es von meinem Onkel hörte, selbst mitzuteilen, ich wolle in ein Internat im Ausland gehen, weil ich mich in Madrid nicht mehr wohl fühlte, weder bei der Engländerin, die mich unterrichtete, noch bei meinem Onkel und meiner Tante. Obwohl sie alle reizend zu mir seien, langweilte ich mich bei ihnen, und da er immer gesagt habe, wenn ich größer wäre, käme ich in ein Internat, wolle ich möglichst nicht länger damit warten! Kurz nachdem ich den Brief geschrieben hatte, kam mein Vater, der auf Reisen gewesen war, nach Madrid und redete mit meinem Onkel. Man besorgte mir eine Schulausstattung und brachte mich nach Paris. Seither lebe ich hier bei den Nonnen vom Heiligsten Her270
zen. Und bei ihnen fühle ich mich glücklich, weißt du... Aber während der Ferien, du ahnst ja nicht, was ich da durchmache. Wenn mein Papa mich nach Madrid holt, verbringe ich langweilige Tage allein mit dem Kindermädchen, aber darüber beklage ich mich nicht. Oft ist mein Papa auch den ganzen Sommer über auf Reisen, auf die er mich nicht mitnehmen will, wegen der vielen Zugfahrten und Hotelaufenthalte, wie er sagt. Und da ich es nicht über mich bringe, ihm von ‹der Sache› zu erzählen, schickt er mich dann ahnungslos zu meinem Onkel und meiner Tante nach San Sebastián. Nun gut, sie sind immer sehr nett zu mir, das schon! Sie überhäufen mich mit Geschenken und lassen mich dort in San Sebastián auch gemeinsam mit meinen Kusinen und der Erzieherin ausgehen. Aber trotz allem ist es für mich eine Qual, ihr Haus zu betreten, als liefe ich durchs Feuer, verstehst du? Ich kann einfach nicht vergessen, was sie an jenem Weihnachtsabend gesagt haben. Ach, so bin ich eben, wenn mich einmal etwas gekränkt hat, kann ich es nicht vergessen, nein, ich muß immer daran denken, als geschähe es jetzt in diesem Augenblick, genau so, genau so...» Cristinas Stimme klang in einem tiefen Pianissimo aus. Anschließend trat eine lange Pause ein, in der Brotkrumen flogen und die Tauben am Boden herumhüpften... Selbst jetzt, da ihre Geschichte, die ich mir mit großem Interesse angehört hatte, zu Ende war, wußte ich nichts zu sagen. Cristina wartete eine Weile, und als mein Schweigen andauerte, rang sie sich dazu durch, ihre Beichte in einer einzigen drängenden Frage zusammenzufassen, blickte mich mit ihren kalten blauen Augen fest an und sagte:«Und, María Eugenia, weißt du, was ein natürliches Kind ist?» Aber ich wußte auch nur, daß ein natürliches Kind etwas Seltenes war. Ich fürchtete, es könne gar etwas Schlechtes, Schändliches sein, doch sicher war ich mir nicht, und da ich Cristina auf keinen Fall kränken wollte, zuckte ich nur ratlos die Achseln, bevor ich nicht ganz ehrlich sagte:«Natürlich..., natürlich... Na ja, natürlich ist sehr gut...! Man sagt: ‹das ist natürlich› oder ‹natürli271
cherweise›, wenn man meint, daß eine Sache so ist, wie sie sein muß. Sieh mal: Du und ich, wir sind natürlich, da wir keine äußeren Makel haben; die arme Jeanne Méric hingegen ist unnatürlich, denn sie schielt und ist furchtbar häßlich.» Ich dachte, Cristina würde leicht gereizt reagieren, wie sie es für gewöhnlich tat, wenn ich bei der Vorbereitung der Lektionen einen heillosen Blödsinn erzählte:«Du redest, ohne deinen Verstand zu benutzen, María Eugenia. Großer Gott, denk doch mal nach, dann siehst du, was für Ungereimtheiten du von dir gibst.»Aber nein. Diesmal wurde ich nicht für meine Ungereimtheiten getadelt. Wie die meisten Sterblichen schlug Cristina, um ihre Hoffnung nicht zu verlieren, jede Vernunft in den Wind und erwiderte im Brustton der Überzeugung:«Ja, genau das glaube ich auch! Ich habe das Wort ‹natürlich› in mehreren Lexika nachgeschlagen, und die sagen mehr oder weniger das gleiche wie du.»Sie schwieg sekundenlang und fuhr dann mit einem tiefen Seufzer fort:«Ich habe alles mögliche getan, um mir Klarheit zu verschaffen...! Eines Tages, es ist schon eine Weile her, noch vor deiner Zeit, habe ich in einem Geschichtsbuch der zweiten Klasse einen Satz gefunden, der folgendermaßen lautet: ‹Die Schlacht von Lepanto gegen die Türken gewann Don Juan de Austria, der natürliche Sohn von Karl V....› Ich nutzte die Gelegenheit, als ich vor der Stunde meine Bücher aufs Pult stellte, um die Lehrerin zu fragen, warum es heiße, Juan de Austria sei der natürliche Sohn von Karl V. gewesen. Doch die Lehrerin sagte nur, anstatt mich mit Don Juan de Austria, einer Figur aus der Neuzeit, zu beschäftigen, solle ich mich um die Personen der Bibelgeschichte kümmern, die in der siebten Klasse auf dem Lehrplan stünden... Und da war ich so klug wie zuvor...!» «Ach», unterbrach ich sie,«wie schade, daß Don Juan de Austria nicht der natürliche Sohn etwa von Salomo war. Was Madame Destemps dann wohl gesagt hätte...! Jedenfalls hätte sie sich dann ausführlicher darüber äußern müssen...!»
272
Diesmal nahm Cristina meinen völlig anachronistischen Vorschlag nicht so widerspruchslos hin und rief schockiert aus:«Herrje...! Was für ein Blödsinn! Salomos Sohn! Als Salomos Sohn, María Eugenia, hätte Don Juan de Austria nicht die Schlacht von Lepanto gegen die Türken gewonnen, sondern eine Schlacht gegen die Moabiter, die Philister oder die Assyrer, die Feinde des Reiches Israel.» Wie gewöhnlich hielt ich rasch den Mund angesichts ihrer außerordentlichen Gelehrsamkeit, während Cristina nach einigen Sekunden des Schweigens wieder auf ihre ungelöste Frage zurückkam und nachdenklich bemerkte:«Ja, es ist wahr... ‹Natürlich›..., ‹natürlicherweise›..., ‹etwas ist natürlich›..., ‹etwas ist nicht natürlich›… Was das betrifft, hast du, glaube ich, recht.»Doch plötzlich schüttelte sie verneinend den Kopf und antwortete sich selbst:«Ach! Warum hat mein Onkel denn dann an jenem Nachmittag mit so viel Verachtung...?»Sie schwieg erneut und sagte schließlich entschlossen:«Hör mal, María Eugenia, um uns endlich Klarheit zu verschaffen, machen wir folgendes. Ich will nicht danach fragen, aber du kannst die Frage doch deinem Papa stellen, als ginge es um dich, oder? Zuerst redest du über Don Juan de Austria oder worüber auch immer, dann fragst du ihn, und wenn du es weißt und auch verstanden hast, sagst du es mir, was es auch ist, einverstanden?» Aus Gewohnheit gehorchte ich und sagte, ohne zu zögern:«In Ordnung!» Da in dem Moment die Schulglocke das Ende der Pause anzeigte, rannten Cristina und ich los, um uns der Gruppe der anderen anzuschließen, damit niemand unseren Regelverstoß bemerkte. Nur wenige Sekunden später, als wir schon aufgestellt waren, insistierte sie noch einmal, machte mir Zeichen und flüsterte mir von ihrem Platz aus heimlich zu:«Machst du das auch für mich?» «Ich mache es.» «Schwörst du es, María Eugenia?» 273
«Ich schwöre, Cristina!» «Von hier aus sehe ich zwei Señoritas, die immer noch schwatzen, obwohl gerade das Schweigen eingeläutet wurde», ertönte sogleich die strenge Stimme der Oberaufseherin unter der steifen Haube hervor. Dann setzte sie noch ironisch hinzu:«Was haben sie sich wohl so Wichtiges zu sagen …?» Gleich darauf, als wir unter striktem Schweigen in Reih und Glied hintereinander zum Klassenzimmer marschierten, beschloß ich mit Blick auf Cristinas Moiréschleife drei Reihen vor mir, all das Unrecht in diesem armen, stillen und traurigen Leben wiedergutzumachen … Am folgenden Sonntag bat ich Papa, kaum daß er eingetroffen war, mit Señor de Iturbe zu reden, den wir bereits kannten, und ihn zu fragen, ob wir gemeinsam den Sommer verbringen könnten. Auf diese Weise könne Cristina bei uns bleiben, wenn er auf Reisen sei, und sie brauche nicht mit ihrem Onkel nach San Sebastián zu fahren, wo sie sich nicht wohl fühle. Papa, der sich sehr für meine beste Freundin Cristina interessierte, versicherte mir, das lasse sich alles sehr gut arrangieren, und wenn das mein Wunsch sei, würden wir die Sommerferien gemeinsam verbringen. Als ich mein Hauptziel erreicht hatte, befolgte ich Cristinas Anweisung; ich sprach zunächst über Allgemeines, bevor ich die Klärung unserer Frage in Angriff nahm:«Sag mal, Papa, was heißt es eigentlich, wenn ein Vater und eine Mutter ein natürliches Kind haben?» Papa hielt mir einen reichlich komplizierten Vortrag mit vielen Unterbrechungen und lauter unverständlichen Ausdrücken über den schwierigen Stand natürlicher Kinder im Leben und in der Gesellschaft, da ihre Eltern nicht miteinander verheiratet seien und ihnen folglich weder ihren Namen noch ihr Vermögen mitgäben. Doch was Papa mir da erklärte, war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Die Behauptung, Menschen könnten Kinder haben, 274
ohne verheiratet zu sein, kam mir völlig abwegig vor; und daß diese zum ewigen Verzicht auf Namen und Vermögen verdammt sein sollten, fand ich nicht nur absurd, sondern auch falsch und ungerecht. Aus all diesen Gründen machte ich mir die größten Sorgen. Ohne Zweifel, so sagte ich mir, gehörte Cristina, meine engste Freundin, mein Idol, meine Nymphe Egeria134, zu einer völlig abnormen Art von Menschen; ich mußte mich damit abfinden, die Wahrheit akzeptieren und mich mit viel Mut wappnen, um die Neuigkeit der betroffenen Person beizubringen, der ich es vor wenigen Tagen versprochen hatte. Cristina und ich trafen uns erneut zur Beratung im Schatten der Ulme, mit den Picknickkörben am Arm und dem weißen Halbkreis der Tauben zu unseren Füßen. Ich berichtete ihr wortwörtlich, was Papa mir am Sonntag erklärt hatte. Cristina hörte mir mit der gleichen Aufmerksamkeit zu wie im Unterricht der Lehrerin. Als ich geendet hatte, legte sie den Zeigefinger auf die Unterlippe, so daß die Spitze des Fingernagels an ihre schneeweißen Zähne stieß, blickte starr zu Boden und verharrte so sekundenlang, ohne zu blinzeln, so wie sie es immer macht, wenn sie scharf nachdenkt. Schließlich sah sie mir direkt in die Augen und sagte:«Dann... dann... ist es, wie ich es mir gedacht habe. Es stimmt also...! Meine Mama ist nicht tot, nein, alles Lüge! Meine Mama lebt! Sie war es, über die meine Tante so schlecht geredet hat..., sie war es..., die... kein Herz hat.» Angesichts dieser Neuigkeit, der jähen Auferstehung ihrer Mama, senkte Cristina, die mich gerade noch mit ihren großen blauen Augen angestarrt hatte, den Blick sekundenlang wieder zu Boden, hob ihn anschließend zu den Wolken am Himmel und sah dort weit oben in den Lüften dem Flug einer Taube nach. Dann ließ sie den Blick über die weite Landschaft schweifen, bevor sie ihn auf einen Ast der Ulme heftete, ganz still, und dabei waren ihre Augen so blau, so blau … Ich, die ich soeben kraft weniger Worte ein geliebtes Wesen wie Jesus vor den Augen Martas und Marias aus dem Reich der 275
Toten hatte wiederauferstehen lassen; ich, die ich dieses ungeheure Wunder vollbracht hatte, blickte neugierig in diese blauen Augen, die gedankenverloren auf den Ast der Ulme gerichtet waren, fand sie jedoch so ausdruckslos, daß ich nicht ablesen konnte, ob sie über diese Auferstehung der Toten erfreut oder traurig waren. Immerhin war ihre Mutter aus dem Grab auferstanden, wenn auch entstellt, da ohne Schamgefühl und herzlos … Als sie aus ihren Gedanken wieder auftauchte, lautete Cristinas knapper Kommentar:«Und paß auf, daß du weder meinem Papa davon erzählst noch Madame Destemps, niemandem...! Nur mit mir darfst du darüber reden!» Seither drehten sich alle unsere Gespräche immer nur um dieses Geheimnis, das uns mit dem ungeheuren Reiz des Mysteriösen von Tag zu Tag mehr fesselte. Cristina suchte in den Archiven ihrer Erinnerung unermüdlich nach weiteren Informationen und teilte mir später die Früchte ihrer Nachforschungen mit. Demnach schien die a priori gezogene Schlußfolgerung sich zu bestätigen: Die Tote war gar nicht tot...! Und dennoch blieb diese wiederausgegrabene Sphinx für uns ein unlösbares Rätsel. Wir wußten, daß sie Engländerin war. Von ihr hatte Cristina die blauen Augen, die schneeweiße Haut, ihre Reserviertheit und Eigenwilligkeit geerbt. Doch wo war diese Engländerin...? Was hatte sie für eine Geschichte...? Warum hatte man sie für tot erklärt...? Um dieses Geheimnis spannen wir alle möglichen goldenen Legenden, in denen Cristinas Ruhm wuchs wie in einem wundervollen Märchentraum. Eines Vormittags während der Sommerferien in Biarritz unterhielt ich mich schließlich lange mit einem spanischen Zimmermädchen, das in Madrid die Iturbes gut gekannt hatte. Hinterher rannte ich eilig zu der Parkbank, wo Cristina in ein Buch mit Erzählungen vertieft war, um ihr die große Neuigkeit zu verkünden:«Jetzt weiß ich es, Cristina, ich weiß es...! Ich weiß es endlich...! Deine Mutter ist eine Opernsängerin...! Sie singt großartig im Theater...! Deine Mama ist wunderschön...! Sie besitzt eine 276
Menge Brillanten, prächtige Kleider und Diademe wie eine Königin...! Luisa, das spanische Zimmermädchen vom Hotel gegenüber, hat sie im Real de Madrid135 gesehen. Sie sagt, deine Mutter habe sich einen italienischen Namen zugelegt, den sie jetzt vergessen hat, und was sie auch singe, am Ende gebe es immer tosenden Applaus...!» Ach, Opernsängerin...! Die strahlende Wirklichkeit übertraf ja alle unsere Träume...! Opernsängerin! Und während meine Lippen die märchenhafte Neuigkeit verkündeten, schien mir Cristina, wie sie dort mit ihrem Buch auf dem Schoß vor mir auf der grünen Parkbank saß, von edlerer Abstammung zu sein als alle blonden Prinzessinnen der europäischen Königshäuser. Doch zu meinem großen Erstaunen schien sie weder meine Begeisterung zu teilen noch besonders stolz auf ihre Herkunft zu sein. Während sie mir zuhörte, schloß sie bedächtig ihr Buch und sagte nur versonnen und nachdenklich:«Ach ja?» Und ich weiß noch, wie eine Wolke der Enttäuschung und Melancholie ihre himmelblauen Augen überschattete. Es folgten Tage, Monate, Jahre, und dann gingen Cristina und ich auseinander, ohne daß wir je den Namen der möglicherweise weltberühmten Opernsängerin erfahren hätten. Wegen ihrer panischen Angst, bei denjenigen, die Bescheid wußten, nachzufragen, hat Cristina niemals Gewißheit erlangt. Und doch war sie ständig von dem Wunsch besessen, das Antlitz jener namenlosen, berühmten Mama zu sehen. Es war ihr gleichgültig, ob es nur von ferne war, ob sie sich auf nichts als nebulöse Vermutungen stützen konnte, ja sogar, ob sie sie überhaupt würde identifizieren können...! Aus diesem heftigen Wunsch heraus entstand ihre Liebe zum Theater. Ich teilte sie voller Begeisterung. Diese Leidenschaft samt unserem Geheimnis wurde uns zu einer fanatischen Religion, und fortan verschmähten wir alles andere, für uns gab es nur noch das Theater und innerhalb des Theaters wiederum die Oper. Wir kannten die Namen aller berühmten Sängerinnen, und wenn 277
wir während der Sommerferien Hand in Hand die Straße entlangschlenderten, blieben wir immer lange vor den großen Plakaten stehen, die in roten Lettern das Ensemble und die Besetzung der Vorstellungen ankündigten. Wir ließen uns keine der Opernmatinées entgehen, und wenn dort irgendeine berühmte Sopranistin besonders stürmischen Beifall erntete, verlor Cristina völlig ihr englisches Phlegma und klatschte wie ich frenetisch mit erhobenen Händen. Wir hatten eine besondere Methode ausgetüftelt, um noch lauter zu applaudieren, und wenn der Beifall dann abflaute, auf der Bühne der lyrische Zauber unter der Leitung des Dirigenten von neuem erklang und die weiße Sopranistin, vom Applaus verklärt, erneut den Mund aufmachte und die Arme ausstreckte, als trüge ihre Stimme sie mit sich fort, blies ich mir, zurückgelehnt in meinem samtbezogenen Theatersessel, auf die vom vielen Klatschen roten und brennenden Hände, während Cristina neben mir den Blick nicht von der herrlichen Gestalt abwenden konnte und mit einem verzückten Lächeln sagte:«Sie sieht aus, als ob sie es sein könnte...!» Viele Jahre später, als Papa gestorben war und wir beide in Biarritz endgültig voneinander Abschied nahmen, hatte sich unser großes Kindheitsgeheimnis schließlich zu einem beklemmenden, alles überschattenden Mysterium ausgewachsen, das Cristinas gesamtes Leben unter seinem Gewicht begrub. Das Leben! Ach, was wußten wir damals schon vom Leben...! Denn in meinem ausführlichen Bericht habe ich noch nicht erwähnt, daß Señor de Iturbe ein schwerreicher Industrieller war. Hübsch, vornehm, fremdartig wie eine späte exotische Blume, mußte Cristina zwangsläufig irgendwann wie eine Knospe zu vollem Leben erblühen, ähnlich wie ich in der Wärme meiner letzten fünfzigtausend Francs vor einigen Monaten in Paris... Cristina ist nicht mehr das kleine Mädchen, das mich einst mit seiner Schüchternheit und Menschenscheu ansteckte, nein...! Das habe ich heute ihrem Brief entnommen! Ich bin mir sicher: Dank der Barmherzigkeit des Geldes ist auch sie eines Tages in Paris, Mad278
rid, San Sebastián oder wo auch immer mit einemmal in Freude erblüht, hat wie durch ein Wunder gelernt, sich zu kleiden, zu lächeln, vor Glückseligkeit angesichts ihres Spiegelbildes schier zu sterben, sich in den Blicken anderer zu spiegeln und sich endlich selbst zu spüren, und dann hat sie, berauscht von dem himmlischen Zauber ihrer eigenen Schönheit, sich an jenem anderen herrlichen Zauber berauscht, dem der Liebe. Ja...! Ich bin mir sicher...! Aber auf welche Weise ist es geschehen? Welche Stimme war es, die sie erweckt hat? Und was ist wohl aus ihrem quälenden Kindheitstraum geworden...? Inzwischen ist sie sicherlich längst verheiratet … Ja, Cristina, das traurige Mädchen von früher, ist heute unendlich glücklich, denn sie hat sich in das Kleid der Schönheit, des Luxus und der Liebe gehüllt. Sie wird geliebt, sie ist hübsch und reich, sie ist eine Gräfin, hat den Traum ihrer Liebe in einem wunderschönen Hotel am Meeresstrand verwirklicht und fährt ihr Glück und ihre Fröhlichkeit hinter den Scheiben eines prachtvollen Automobils spazieren. Bestimmt hat sie sich längst mit der Welt, ihrem einstigen Feind, versöhnt, verschmäht nicht mehr die wundervollen Toiletten der großen Modeschöpfer, empfindet nicht mehr die Leere, die sich hinter den schalen Gesellschaften verbirgt. In Pelze und Geschmeide gehüllt, wird sie in stolzer, vornehmer Reserviertheit durch die Welt spazieren und auf alles mit den kalten blauen Augen einer englischen Aristokratin herabsehen. Wie sehr sich Schicksale wandeln können, und welch ungeahnte Geheimnisse die Zukunft vor uns verbirgt...! Ach, wie anders ist doch mein Los, mein Leben, wie dunkel und trist verglichen mit der strahlenden Existenz von Cristina de Iturbe...! Doch wie gegenüber der Fröhlichkeit des Regens, der auf die ausgedorrte Erde fällt, empfinde ich auch gegenüber dieser anderen Glückseligkeit keinerlei Neid, ich hege weder Groll noch Haß, nein, ich fühle gar nichts, nichts...! Ich möchte nur ganz bescheiden in der heiligen Gnade der Resignation blühen...! Diese 279
Tränen, die mir jetzt ungewollt über die Wangen rinnen und hier und da auf den Brief tropfen, so daß die Tinte kleine blauschwarze Pfützen bildet, die auf dem weißen Papier verlaufen, sind keine Tränen der Wut, nein - sie sind der zarte Tau meiner nächtlichen Traurigkeit. Morgen, wenn die Sonne wieder scheint, werden sie trocknen, denn ich gebe die Hoffnung nicht auf... Ja! Im Feuerofen meiner Sehnsucht werde ich mit dem gleichen wundersamen, fruchtbringenden Glauben wie die drei jungen Männer des Propheten Daniel geduldig der Liebe harren … Hier unter der Akazie hat inzwischen, schwarz und duftend, die Nacht in meinem Zimmer Einzug gehalten. Immerhin schreibe ich schon seit Stunden über meinen Tisch gebeugt fieberhaft die Geschichte meiner Freundschaft mit Cristina nieder, die niemand je zu lesen bekommen wird und die ich für mich allein eigentlich nicht festzuhalten bräuchte, denn sie steht mir unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben. Auf dem ansonsten leeren Tisch habe ich meine Lampe angezündet, und sie taucht den Tisch in einen großen roten Lichtkreis. Meine Hände und das weiße Blatt, auf dem ich schreibe, haben ebenfalls die Farbe des Lichts angenommen, und die Nachtfalter und ländlichen Insekten kommen durch das offene Fenster herein, um das fröhliche Licht zu begrüßen; sie tanzen auf seinem Fest und küssen meine armen, müden und dürstenden Hände, die wie zwei Pilger von der langen Wanderung durch die Vergangenheit vollkommen erschöpft sind. Cristinas Brief, Antrieb meiner ausführlichen Schilderung, liegt jenseits des Lichtkreises im Halbdunkel, und ich betrachte ihn skeptisch und schmerzerfüllt... Nein, ich will ihn nicht noch einmal in die Hand nehmen! Er enthält nur alte, längst verlorene Illusionen, welke Empfindungen, die ich nicht in der Erinnerung bewahren sollte wie traurige vertrocknete Blumen... Nein...! Ich will ihn an der frischen Luft sterben lassen. Deshalb werde ich das graue Blatt morgen in aller Frühe, gleich nach dem Aufwachen, in kleine Stücke zerreißen,
280
die vielen kleinen Papierschnipsel aus dem Fenster werfen und im Schwarm über das Land davonflattern lassen … Asche meiner Kindheit, verwelkte Blütenblätter meiner ersten Rosen, sie sollen über die Äste hinwegfliegen, sich dann auf dem Boden verteilen und in der Sonne kräuseln; sie sollen ganz langsam, ohne das Licht ihrer verstümmelten Worte, die Äuglein schließen und am Ende in der schützenden Geborgenheit unserer lieben Mutter Erde, der einzigen Liebe, die nie vergeht, ihr Leben aushauchen...!
KAPITEL VII Supremum vale...! 136 Schon seit vielen Tagen hatte ich die schlimme Nachricht erwartet, und doch wurde ich, als ich sie erhielt, von einem heftig vibrierenden, anhaltenden Schmerz geschüttelt. Es hat meine Seele dermaßen verletzt, und es bedrückt mich so schwer, so schrecklich schwer, daß ich nur noch sterben möchte oder mir wünschte, mir würde die Seele im Leib absterben, damit wenigstens sie endlich nichts mehr spüre oder ihre Ruhe im Wahnsinn finde. Meine einzige Stütze, das, was mich aufrechterhält, ist mein Stolz. Manchmal lobpreise ich ihn ob seiner gigantischen Kraft, und dann werfe ich ihm wieder vor, meinem Körper und meinem Geist alle Kräfte zu rauben, so daß ich des Nachts völlig ermattet Stunde um Stunde vollständig bekleidet in der Hängematte liege und mit weitgeöffneten Augen auf das eintönige Dekkengebälk starre. Dank meines Stolzes hat niemand im Haus etwas von meiner furchtbaren Gemütskrise gemerkt. In dem Moment, als ich die Neuigkeit erfuhr, regte er sich in meiner Seele, bemächtigte sich ihrer und stützte meinen Körper, bis ich, nur von ihm getrieben, hier in meinem Zimmer Zuflucht gefunden hatte. Hier weinte ich, 281
weinte und weinte mit diesen endlosen Tränen, die von tief innen kommen und in ihrem Fluß Teile meines Lebens und dampfende Klümpchen meines Blutes mit fortzuschwemmen scheinen... Es war gestern zur Mittagszeit, als ich es erfuhr. Und wie zu erwarten, war es natürlich an María Antonia, mir die Neuigkeit zu überbringen. Normalerweise liest sie etwa gegen elf Uhr die Tageszeitung, doch um die Grausamkeit auf die Spitze zu treiben, wartete sie, obwohl sie mich den ganzen Vormittag über gesehen hatte, bis zur Mittagszeit, um mir am Tisch, als ich nicht fliehen konnte und meine Niederlage sowie meinen Schmerz vor allen offen eingestehen mußte, den tausendfach vergifteten Dolchstoß zu versetzen, der mich nun Tag und Nacht ununterbrochen quält wie das langsame Martyrium derer, die man mit stetig tropfendem Wasser foltert:«Heute wird in der Zeitung die Verlobung von Gabriel Olmedo mit María Monasterios gemeldet. Sie wurde gestern mit einem großen Essen und einem anschließenden Tanzfest in diesem überaus luxuriösen Anwesen gefeiert, das die Monasterios sich neu gebaut haben... Der Ball war bestimmt prächtig, denn das Haus mit der großen Parkanlage drum herum ist wie geschaffen für solche Feste! Wie es scheint, wollen sie im nächsten Monat heiraten... Sie wird als Braut traumhaft aussehen, denn sie ist wirklich hübsch, wunderhübsch … Das nenne ich eine attraktive junge Frau, nicht wie so viele, die dermaßen dürr sind, daß sie aussehen wie Drahtgestelle in Kleidern...!» Trotz meines ungeheuren Schocks weiß ich noch, daß ich in der ersten Sekunde nach der niederschmetternden Neuigkeit nur feststellte, wie recht ich doch mit meiner Vorhersage gehabt hatte. Ich hatte gewußt, daß es María Antonia sein würde, von der ich es erfahren würde, daß sie es am Mittagstisch verkünden würde, und auch daß der Nachricht eine kleine Lobrede auf die Schönheit und die sonstigen Vorzüge von María Monasterios folgen würde. Diese prophetische Gabe war mir in dem Augenblick sehr dienlich, denn da ich mich auf alles vorbereitet hatte, erfaßte ich die Situation im Nu, und mein Stolz war sofort zur Stelle und 282
bemächtigte sich stark und heldenhaft meiner Seele, brachte sie unter seine Kontrolle, sog alle meine Tränen auf und straffte mit seinen eisernen Fingern sämtliche Muskeln meines Körpers, unterband selbst das leiseste Zucken meiner Gesichtszüge, die angesichts der Schreckensbotschaft völlig ungerührt blieben. Ich weiß noch, daß ich, kaum hatte ich die ersten Sätze vernommen, nach meinem Wasserglas griff, während María Antonia weiterredete, es in einem Zug ausleerte und dachte:«So trinke ich das Gift der Erkenntnis, das mich umbringt.»Anschließend starrte ich auf das volle Rotweinglas und dachte wieder:«So ist das Blut, das meine Seele in diesem Augenblick vergießt, doch wie das Glas werde ich es in meinen Eingeweiden auffangen, und niemand wird den Fleck des vergossenen Blutes je sehen, niemand wird ihn je sehen...!»Ich beendete die Mahlzeit wie in Trance, taub und stumm, verloren in meiner Verzweiflung, ohne Kraft außer der positiven Kraft meines Stolzes, der ganz von mir Besitz ergriffen hatte, wie von außen, von einer fremden Macht geschickt... Später weinte ich, und in den letzten Tagen habe ich viel geweint, sehr viel... Inzwischen kenne ich die herzzerreißende Wollust des Schmerzes, dieses horrenden Schmerzes, der von der Eifersucht, der Demütigung und dem endgültigen Lebewohl des Todes herrührt! Und als reiche diese Qual noch nicht, wird sie noch durch einen weiteren Schmerz verstärkt... Ach! Gestern war der schwärzeste Tag meines Lebens! So gegen vier Uhr nachmittags, als ich mich in mein Zimmer verkrochen hatte, um mich meinem tiefen Schmerz hinzugeben, erhielt ich einen Anruf von Mercedes. Als ich nach mir rufen hörte, spülte ich mir die rotgeweinten Augen mit Wasser aus, verließ meinen Zufluchtsort und rannte zum Telephon, um Mercedes nicht warten zu lassen. Ihre bedächtige Stimme sprach langsam und gleichmäßig wie eine Liebkosung von Dingen, die nichts mit meiner Trübsal zu tun hatten, und obwohl ich nichts sagte, ergriff uns vom ersten 283
Augenblick an eine sanfte Welle der Rührung, denn wir wußten beide Bescheid... Mit der Sanftheit ihrer Stimme drückte sie mir ihr Bedauern aus, und nachdem sie mich auf diese Weise ihrer ganzen Sympathie versichert hatte, während ich innerlich bebend gegen die Tränen ankämpfte, fuhr sie im gleichen einschmeichelnden Ton fort:«Hör mal, María Eugenia, ich rufe dich an, weil ich eine Neuigkeit für dich habe und dir von einem Plan erzählen will, aber ich sage dir gleich: Ein Nein akzeptiere ich nicht...! Nächsten Monat werde ich mit dem Schiff nach Europa reisen. Es ist bereits beschlossene Sache. Alberto wurde zum Konsul in Bordeaux ernannt, aber da er noch Dinge in Paris zu erledigen hat, werde ich mich in Paris niederlassen, solange er seine Zeit zwischen dem Konsulat und seinen Geschäften aufteilen muß. Er knüpft große Erwartungen an diese Geschäfte und hofft, viel Geld damit zu verdienen - du kennst ihn ja -, aber ich bin inzwischen dermaßen skeptisch, daß ich an nichts mehr glaube, an gar nichts mehr...» Es folgte eine Pause, bevor ihre Stimme noch sanfter, noch mitleidiger, noch mütterlicher fortfuhr:«Nun..., es ist kein hohles Gerede, nein, es ist ein inniger Wunsch, von dem ich möchte, daß er in Erfüllung geht... Ich meine, ma mignonne137, du würdest mir einen Gefallen tun...! Hör mal: Alberto will genauso wie ich, daß du uns nach Europa begleitest und daß du bei uns wohnst, als wärst du unsere Tochter; ein paar Monate, ein Jahr, zwei Jahre..., so lange du willst. Angesichts der Verwandtschaft und der Vertrautheit meiner Familie mit allen Alonsos ist mein Vorschlag ganz natürlich; ich habe an Antonio, deinem Vater, gehangen wie an einem Bruder, und dich sehe ich wie eine Tochter an... Eugenia kann nichts dagegen haben, daß du eine Weile bei mir lebst; sie weißt ja, wie sehr ich dir zugetan bin! Du wirst ein paar fröhliche und glückliche Monate verbringen... Du könntest mir so viel Gesellschaft leisten, meine Hübsche...! Und ich werde mich um dich kümmern, dich ordentlich aufheitern, und wir werden uns königlich amüsieren, du wirst schon sehen! Dort mit mir vergißt 284
du in Null Komma nichts tous ces petits embêtements 138, die dich jetzt so traurig machen.» So offenbarte sie mir nach und nach in warmherzigem Ton und mit unglaublichem Feingefühl ihren Plan. Ihre Stimme, die irgendeinen Gefallen zu erflehen schien, war in Wirklichkeit von grenzenloser Anteilnahme erfüllt. Ich spürte, wie sie die empfindlichste Stelle meiner Seele erzittern ließ, und da angesichts der Umstände ihre sanfte Güte meinen Schmerz nur noch vergrößerte, erwiderte ich mit zitternder, halberstickter Stimme: «Ach, Mercedes, das fehlte mir gerade noch..., daß du jetzt auch noch fortgehst! Na, und ob ich dich begleiten möchte! Aber ich glaube, es hat keinen Sinn, es überhaupt vorzubringen, und ich sage dir jetzt schon: Rechne nicht mit mir...!» Aber Mercedes ließ nicht locker, bis ich ohne jede Hoffnung und in der sicheren Erwartung einer niederschmetternden Ablehnung versprach, mit Großmama zu reden. Gleich gestern habe ich es getan. Großmama hörte mich bereitwillig an, reagierte dann mit ein paar ausweichenden Sätzen des Bedauerns und gab mir zu verstehen, auch wenn sie es von vornherein für ausgeschlossen halte, wolle sie sich Mercedes’ Angebot noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. «Ja... Sie wird Onkel Eduardo zu Rate ziehen», dachte ich.«Morgen wird die endgültige Absage folgen.» Doch noch am selben Abend hat sie mit mir geredet. Großmamas anfängliches Mitgefühl war dem Bewußtsein ihrer Pflicht gewichen, und so fing sie an, mir entschlossen und bestimmt einen langen Vortrag voller guter Ratschläge zu halten, um mir klarzumachen, daß es ganz unmöglich sei, Mercedes’ Einladung anzunehmen. Alberto sei kein vertrauenswürdiger Mann, und auch Mercedes selbst hege ziemlich liberale Vorstellungen, mithin eine völlig falsche Lebensauffassung, und ich sei sehr leicht zu beeindrucken, ein Mädchen meines Alters sei empfindlich wie Glas, das bei jeder Nichtigkeit Flecken bekommt oder sofort zerspringt..., einen solchen Wahnsinn könne sie auf keinen Fall ge285
statten..., das könne sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, und es wäre auch ein Verstoß gegen ihre mütterliche Fürsorgepflicht. Das mit dem«empfindlichen Glas»verriet mir, daß nicht nur Onkel Eduardo mit zu der Entscheidung beigetragen hatte, sondern auch María Antonia, die besagte Metapher häufig im Munde führt und bei Großmama hohes Ansehen genießt, wenn es um Fragen der Ehre oder der Moral geht.«María Antonia hat dafür ein gutes Auge», pflegt Großmama in solchen Fällen zu sagen,«daher höre ich immer gern ihre Meinung.» Doch mein Schmerz ist so groß, daß dieses ganze Hirngespinst der Reise mit Mercedes an mir vorbeigezogen ist, ohne mich sonderlich zu beeindrucken. Es war wie eine Fata Morgana, die eine Sekunde lang vor meinen Augen aufblitzte, ohne daß diese sie eines Blickes gewürdigt hätten. Hinter dieser Sinnestäuschung haben sie von Anfang an nur die schreckliche Leere gesehen, die Mercedes in meinem Leben hinterlassen würde. Auch jetzt sehe ich nur jene Leere und rufe im stillen aus:«Wenn ich gedemütigt, ohne jede Hoffnung und ohne die mitfühlende Zuneigung von Mercedes nach Caracas zurückkehren und die ländliche Idylle hier mit ihrer tröstenden, besänftigenden Kraft verlassen muß, was soll dann bloß aus mir werden, mein Gott...!» Es gibt Augenblicke, da liege ich in meiner Hängematte mit Blick auf die schwankende Akazie, meine treue Gefährtin draußen vor dem Fenster, und lasse alle Ereignisse meines Lebens noch einmal Revue passieren. Mir fallen die dunklen Prophezeiungen ein, die mir einmal eine berühmte Wahrsagerin in Biarritz aus der Hand las, und ich gelange zu der schrecklichen Gewißheit, daß mir ein schlimmes Schicksal bevorsteht; dann denke ich voller Traurigkeit, wieviel besser es gewesen wäre, dieser so hübsche und doch so unglückliche Körper wäre niemals geboren worden. In meinen schwarzen Seidenkimono eingewickelt, verlasse ich, während ich diesen Verzicht auf das Leben äußere, meine Hängematte und gehe mich in dem länglichen Oval des 286
Spiegels anschauen. Ich stehe eine Weile davor, in den schmerzlichen Genuß versunken, mein feines, harmonisches Gesicht mit den makellosen Linien, das dennoch so traurig ist, zu betrachten..., ja, so traurig und so verloren für das Objekt seiner Sehnsucht...! Und trotz allem ergreife ich, wie ich dort vor dem Spiegel stehe, plötzlich ganz forsch und unchristlich den Kimono an beiden Enden mit den Fingern und breite die Arme aus, so daß der offene Kimono hinter dem entblößten Wunder meines Körpers aussieht wie die ausgebreiteten Flügel einer Fledermaus. Auf einmal schaue ich mir entzückt und glücklich in die Augen, und meine Augen und ich lächeln einander lange zufrieden an, denn wir haben verstanden, daß trotz des ganzen Leids und all der Demütigungen ich es bin - ich! -, die diesen Kampf um Gabriels Liebe am Ende gewinnen wird. Ich sage mir, daß seine Braut, diese María Monasterios, mir niemals das Wasser reichen kann, daß er mich hübsch und wundervoll findet, denn das hat er selbst gesagt, ich habe es auch gesehen, und Mercedes, die soviel von diesen Dingen versteht, hat es mir bestätigt... Indem ich vor dem Spiegel meiner Schönheit zulächele, vergesse ich im köstlichen Gefühl meiner Überlegenheit einen Moment lang die Hölle der Eifersucht; ich lache laut und verächtlich beim Gedanken an die durchschnittliche Erscheinung dieser María Monasterios; verachte Gabriel, der es nicht fertiggebracht hat, sich ein unabhängiges, glänzendes Leben aufzubauen, ohne die köstliche Erfüllung zu opfern, die ich für ihn bedeutet hätte; und beim Gedanken an all die Jahre der Jugend, die mir noch bevorstehen, erblühe ich in neuer Zuversicht und sage mir, daß Gabriel bloß eine der vielfältigen, ewigen Gestalten ist, die dieser göttliche Wein der Liebe vorübergehend angenommen hat, um das Fest meiner Jugend zu berauschen... Wieder in meinen Kimono gehüllt, kehre ich in der glücklichen Gewißheit, schön zu sein, in meine Hängematte zurück, und wie am ersten Tag, als ich mich von dem Skandal meiner totalen Mittellosigkeit erdrückt fühlte, verfalle ich wieder ins Grübeln und 287
frage mich bang, was für eine große und schreckliche Sache diese Liebe doch ist, die uns immer und überall erwartet und mit offenen Krallen bestürmt... Ach! Die Liebe..., die Liebe...! Warum diese Frage hier in der sanft schaukelnden Hängematte...? Ich habe sie doch schon erlebt...! Diese unterirdische, stumme Tragödie, über die alle gleichgültig hinweggehen, als überhörten sie die makabren Hilferufe eines lebendig Begrabenen … Warum sich etwas vormachen...! Sie ist mir nur allzu bekannt...! Es ist diese immer lodernde, knisternde Glut, diese schmerzhafte, brennende Wunde, die mich den grausamen Schmerz des Fleisches spüren läßt und mich voller Sehnsucht und unendlicher Wehmut an die süße Stille des Nichts denken läßt …
288
DRITTER TEIL Zum Hafen von Aulis139
KAPITEL I Nachdem María Eugenia Alonsos literarische Inspiration monatelang eingeschlafen war, ist sie eines Morgens in der Tiefe eines Kleiderschranks zwischen Schleifen, Spitzen und alten Stoffen zu neuer Redseligkeit erwacht. Und während sie sich noch die Augen reibt, meldet sie sich hier wieder zu Wort. Vor etwa zwei Jahren hatte ich mir angewöhnt, meine Eindrücke aufzuschreiben. Doch diese Sitte behielt ich nur wenige Monate bei, denn von einem bestimmten Moment an fand ich sie, ohne genau zu wissen, warum, plötzlich dumm, lächerlich und ungeheuer lästig. Ich sagte mir, es sei Unsinn, sich selbst Dinge zu schreiben, und so nahm ich die beschriebenen Blätter, packte sie zu einem großen Paket zusammen, wickelte dieses in Zeitungspapier ein und versteckte es, mit einer weißen Kordel zusammengeschnürt, kurzerhand unten in dem Spiegelschrank mit dem doppelten Boden, wo es niemand je finden würde. Da ich gestern voller Energie und Tatendrang war, beschloß ich, meinen Spiegelschrank einmal gründlich aufzuräumen. Ich brachte lange damit zu, Spitzen aufzutrennen und Bänder zusammenzufalten; alle Kleider, die ich nicht mehr trage, sortierte ich aus und verteilte sie auf verschiedene Haufen, um sie den Hausangestellten zu schenken, und als ich inmitten eines Berges von Schachteln, Schleifen, Taschentüchern und alten Kleidern stand, kam ich auf die Idee, den doppelten Boden des Kleider289
schranks zu öffnen. So entdeckte ich das Paket mit der weißen Schleife, das seit zwei Jahren dort begraben liegt; ich nahm es heraus, öffnete es und begann willkürlich hier und da in den verblaßten Manuskriptblättern zu lesen. Nach und nach fesselten sie so sehr mein Interesse, daß ich auf der Stelle die Arbeit des Aussortierens und Verteilens abbrach, es mir mit dem autobiographischen Paket wie üblich gegenüber meinen Orangenbäumen am Fenster bequem machte und dort in meinem Sessel sitzend zu lesen begann. Ich muß gestehen, daß die Lektüre mir eine angenehme Überraschung beschert hat, so sehr, daß ich, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, augenblicklich beschlossen habe, die vergessene Schilderung meiner Eindrücke wiederaufzunehmen. Aus diesem Grund bin ich heute schon sehr früh aufgestanden und habe mich mit der Feder in der Hand und einem großen Mitteilungsdrang am Schreibtisch niedergelassen. Heute denke ich, daß ich sehr streng mit mir war, als ich die Angewohnheit, meine Eindrücke zu notieren, als lächerlich abtat. Um es wiedergutzumachen, möchte ich heute feierlich erklären, daß ich die Manuskriptseiten, die sich in dem doppelten Boden meines Spiegelschranks befanden, keineswegs lächerlich finde, sondern daß sie im Gegenteil für mich von großem psychologischem Interesse sind. Hinsichtlich der literarischen Form weisen sie viele Mängel auf, die mir aufgefallen sind, nebst der vielen anderen, die ich nicht bemerkt habe. Wie es scheint, bleiben die sich millionenfach im Werk tummelnden Mängel der zweiten Kategorie den Augen des Autors verborgen, weshalb die Literaten, die ehrlich sagen, was sie denken, alle Werke, die aus ihrer Feder stammen, als genial betrachten, und nicht minder ehrlich alle Leser, die sie nicht für genial halten, als Idioten und Schwachköpfe bezeichnen. Da ich gleichzeitig die Autorin und die einzige Adressatin meiner Werke bin, habe ich das große Glück, mein literarisches Talent zu bewundern, ohne mich über die menschliche Dummheit 290
beschweren oder meinen Nächsten beschimpfen zu müssen, was nicht nur unangenehm und ärgerlich wäre, sondern auch wenig christlich. Ich glaube, wenn alle Autoren es mir gleichtäten, würden sie sich zahlreiche Enttäuschungen ersparen. Doch nach meiner Erfahrung sind Umsicht und weise Voraussicht in der Literatenzunft eher Mangelware. Für die Lektüre der vergrabenen, vor zwei Jahren verfaßten Manuskriptseiten brauchte ich einen Großteil des gestrigen Vormittags und den gesamten Nachmittag. Literarisch, von meinem falschen Standpunkt als Autorin aus gesehen, habe ich sie besser gefunden als manche Chroniken, Erzählungen und Prosagedichte, mit denen einige Tageszeitungen und Illustrierte sich gern brüsten, was weder ein großes Lob für mein Manuskript bedeutet noch einen unangemessenen Mangel an Bescheidenheit, denn die meisten dieser Erzählungen, Gedichte oder Chroniken, die ich meine, halte ich, die Autoren mögen mir verzeihen, für ziemlich schlecht. Das ist meine ehrliche Meinung hinsichtlich der literarischen Form meiner alten, wiederauferstandenen Manuskriptblätter. Ich wiederhole, psychologisch gesehen waren sie mir von großem Nutzen, denn dank ihrer Lektüre habe ich ermessen können, welch ungeheuren Fortschritt ich auf dem mühseligen, blütengesäumten Aufstieg zur Tugendhaftigkeit gemacht habe. Verständlicherweise hat mich diese Erkenntnis nicht nur sehr erfreut, sondern sie wird mir auch Mut machen und mir bei meinem weiteren Aufstieg als Ansporn dienen. Ja! Die moralischen und materiellen Fortschritte, die ich in den letzten beiden Jahren gemacht habe, sind ungeheuerlich und mannigfach. Zunächst muß ich erklären, daß ich mir diese anarchische, desorientierte und chaotische Art, wie Großmama es ganz zu Recht nannte, vollständig abgewöhnt habe, denn damit hätte ich mir meine Zukunft verdorben. Der schlagende Beweis dafür, daß ich mich in dieser Hinsicht gebessert habe, ist, daß ich mir die Lippen nicht mehr mit Rouge éclatant de Guerlain anmale, sondern 291
mit Rouge vif de Saint-Ange, einem viel dezenteren Rotton als Rouge éclatant de Guerlain. Ich pflege mich auch längst nicht mehr auf Tische zu setzen, sondern immer ordentlich auf Schaukelstühle, Sofas, Stühle oder Hocker, je nachdem. Irgendwelche anstößigen Lieder zu trällern oder gar zu pfeifen, käme mir überhaupt nicht mehr in den Sinn, denn die gehören in den Tingeltangel und nicht in den Mund einer Señorita. Aus dem gleichen Grund vermeide ich jegliche Art von Ausrufen, selbst solche, die völlig harmlos scheinen, wie das französische«sapristi!»140 oder Ausdrücke wie«Donnerwetter»,«zum Kuckuck»oder«verflixt», denn ich bin überzeugt, daß sie in Wirklichkeit als scheinheilige Stellvertreter für andere, weitaus schlimmere stehen. Ich gehe nie mehr in den Hühnerhof, um mich dort, auf Onkel Enriques Schrankkoffer ausgestreckt, mit Gregoria zu unterhalten, sondern bespreche mit ihr nur noch das Nötigste, und zwar im Stehen, um ihr Anweisungen bezüglich der Wäsche zu geben, was für gewöhnlich in der Küche oder im zweiten Patio stattfindet. Ich lese keine Romane mehr, in denen die Heldinnen Liebhaber haben, ein Wort, nebenbei gesagt, das weder mir noch jemand anderem jemals über die Lippen kommt, außer wenn María Antonia es gebührend schockiert zwischen zwei Eigennamen ausspricht, weil es ihr im Alltagsleben begegnet ist oder sie es vermutet. Diese Aufzählung würde allein schon genügen, um mir eine ungefähre Vorstellung von meinen Fortschritten zu geben, hätte ich nicht soeben gemerkt, daß besagte Auflistung lediglich Tugenden oder Umstände enthält, die man als«negativ»bezeichnen könnte, und daß ich noch meine neuen«positiven»Eigenschaften hinzufügen muß, um zu illustrieren, daß die letzten beiden Jahre zwar einerseits Einschränkungen mit sich gebracht haben, andererseits aber ungeheuer erfolgreich und gewinnbringend für mich waren. Ja, in diesen zwei Jahren habe ich erheblich dazugelernt. Ich kann jetzt sensationell nähen und sticken, sowohl mit der Hand als auch mit der Singer-Nähmaschine. Ich kenne alle Arten von 292
Hohlsaum und kann die schwierigsten Nachspeisen machen, zum Beispiel Chipolata141, Mokkacreme oder gâteau d’Alsace142 mit der Karamelschicht und allem. Abends gieße ich die Farne im Flur, die herrlich grün und üppig geworden sind. Montags zähle ich immer die Wäschestücke durch, wenn ich sie Gregoria zum Waschen gebe, und samstags wieder, wenn ich sie sauber und gebügelt zurückerhalte. Großmama reibe ich mit Elliman’s Embrocation ein, wenn ihr die Knie weh tun. Ich kann Spritzen setzen, bete den Rosenkranz mit Tante Clara und habe einen Bräutigam. Von allen oben genannten Veränderungen in meinem Leben ist der Bräutigam die neueste, und nur deshalb habe ich ihn ganz am Schluß erwähnt. Ohne diese Erwägung hätte ich ihn ganz oben auf meine Liste gesetzt, denn ich glaube, einen Bräutigam zu haben, ist für mich ein Ereignis von einiger Bedeutung. Wenn ich es recht bedenke und mit der nötigen Ruhe betrachte, wird mir klar, daß die Bedeutung eines solchen Ereignisses nicht nur mein momentanes Leben betrifft, sondern vielleicht auch einen entscheidenden Einfluß auf das Leben zukünftiger Generationen hat, da der Bräutigam die Ehe zur Folge haben wird, und die Ehe Kinder, und die Kinder Enkel, Urenkel und eine lange Kette von Nachfahren, welche sich unendlich fortsetzen, nach allen Seiten vordringen und somit den Lauf der Welt entscheidend beeinflussen kann. Diese auf den Regeln der geometrischen Progression beruhende Vorstellung erfüllt mich mit Genugtuung, denn sie verleiht mir ein Gefühl der Wichtigkeit hinsichtlich der menschlichen Wesenheit und sagt mir, daß ich vielleicht der Ausgangspunkt komplizierter genealogischer Verästelungen und Verzweigungen sein könnte. Überdies macht sie mir klar, daß ich schon lange vor meiner Geburt ein unverzichtbares und nicht wegzudenkendes Glied dieser unendlichen Kette von Menschen war, deren Ursprung sich irgendwo im Dunkel der Urgeschichte verliert, wie die einen sagen, wohingegen andere, wie Tante Clara, behaupten, er verliere sich nicht, sondern leuchte hell und strahlend wie der 293
prächtige Verschluß einer Goldkette in den Wäldern des irdischen Paradieses, in der vergilschen, patriarchalischen und fruchtbaren Liebe von Adam und Eva. Doch wie ich sehe, fange ich an zu philosophieren, und da ich meine Intelligenz nicht auf Tiefgründiges vergeuden will, das keiner je lesen wird, soll es damit jetzt genug sein. Ich werde lieber das Thema wechseln und in wenigen Worten so knapp und klar wie möglich schildern, wie und wann es zu diesem wichtigen Ereignis mit meinem Bräutigam kam. Es folgt eine Zusammenfassung: Eines Tages vor etwa fünf oder sechs Monaten saßen Großmama, Tante Clara und ich am Tisch und aßen wie gewöhnlich schweigend zu Mittag. Nur ich fächerte mir von Zeit zu Zeit, um überhaupt etwas zu tun oder zu sagen, mit der Serviette Luft zu und rief aus:«Was für eine Hitze!» Ich empfand es gar nicht so, aber es war mitten im August, und ich hätte es zum Beispiel unpassend gefunden zu sagen:«Was für eine Kälte!» Das Dienstmädchen María del Carmen, das einst in Kindertagen, als es formvollendet mit Erde zu spielen verstand, meine liebste Freundin war und es heute unter Tante Claras weiser Anleitung versteht, ebenso formvollendet bei Tisch zu servieren, María del Carmen also reichte uns eine Schüssel, in der ein Stück Fleisch mit Dampfkartoffeln lag. Tante Clara und ich bedienten uns und begannen jeweils unsere Scheibe Roastbeef voller Bedacht zu schneiden und zu verzehren. Großmama, der es aufgrund ihrer Arthritis strikt verboten ist, rotes Fleisch zu essen, aß nichts. Mit über dem leeren Teller gefalteten Händen saß sie da und wartete, bis Tante Clara und ich mit dem Fleisch fertig wären, derweil sie mich ununterbrochen und sehr eingehend beobachtete. Plötzlich sagte sie:«Mir scheint, María Eugenia, mein Kind, du bist in letzter Zeit erheblich dünner geworden. Du hast Schatten unter den Augen und wenig Farbe. Ich denke, du solltest
294
einmal den Robini-Kalziumsirup, die Scott-Emulsion oder irgendein anderes Stärkungsmittel nehmen.» Es trat eine lange Pause ein, während der das Fleisch weiter stückchenweise von meinem Teller in meinen Mund wanderte. Immer noch mit gefalteten Händen beobachtete Großmama mich unverwandt und eindringlich wie zuvor. Nachdem sie mich eine ganze Weile, sicherlich noch immer vom selben Thema beseelt, ausführlich und zu ihrer Zufriedenheit gemustert hatte, ergriff sie erneut das Wort:«Jetzt jährt sich Antonios Tod schon zum zweiten Mal. Vor genau acht Tagen wurde das Zweijahreshochamt gehalten... Wie doch die Zeit vergeht, mein Gott...!» Großmama seufzte. Wieder entstand eine Pause, in der die ganze Wehmut ihres Seufzers den Raum erfüllte, bevor sie fortfuhr:«Clara, ich verstehe nicht, warum man die Fenster noch nicht geöffnet hat. Ich möchte, daß María Eugenia ein wenig Abwechslung bekommt. Sie braucht mehr Vergnügen, muß unter Leute und Freundinnen finden... Alles hat einmal ein Ende! Man soll die Jugend genießen...! Das ist völlig legitim und natürlich...! Es wird endlich Zeit, daß María Eugenia die Trauer ablegt und sich ans Fenster setzt.» Noch am selben Nachmittag trug Tante Clara, nachdem sie den Rosenkranz gebetet hatte, María del Carmen auf, die Gitter des Salons von innen und außen abzustauben und aus dem oberen Fach im Schrank mit der weißen Wäsche die Matte und die beiden Kissen zu holen, die dazu dienen, die Ellenbogen darauf abzustützen, wenn man am Fenster sitzt. Und so nahmen Tante Clara und ich, fein wie zum Ausgehen gekleidet und gekämmt, gegen Viertel nach fünf einander gegenüber auf den Steinbänken am rechten Fenster des Salons Platz. Während unsere vier Knie sich schweigend wie in einem feierlichen Ritual zu küssen schienen, machte Großmama es sich hinter mir in einem Korbsessel bequem, und überglücklich, an längst zurückliegende Sitten anzuknüpfen, die während der letzten zwei Jahre wie ferne Lichtpunkte in der Monotonie ihres jungfräuli295
chen Daseins geglitzert haben müssen, sprang Señorita Chispita, Tante Claras wolliges Hündchen, mit einem Satz auf das Fensterbrett, streckte sich bäuchlings auf der Matte für die Ellenbogen aus, schob ihr schwarzes Schnäuzchen durch die Gitterstäbe hindurch und gab sich voller Verachtung für das muntere Treiben auf der Straße mit wohligem Augenrollen ihren Träumen hin. So kam es, daß sich diese legitime Sitte dauerhaft etablierte, die Großmama am Mittagstisch mit«Man soll die Jugend genießen!»angekündigt hatte. Bis zu jenem historischen Augenblick meines Lebens war mir das Prinzip des Am-Fenster-Sitzens noch gänzlich fremd gewesen, und ich hatte keine Ahnung von der entsprechenden Psychologie. Tatsache ist, daß ich bereits daran gewöhnt war, hinter den offenen Fensterläden zu beiden Seiten der Straße weibliche Oberkörper mit mehr oder weniger interessanten oder durchschnittlichen, mehr oder weniger häßlichen oder hübschen, mehr oder weniger gleichgültigen oder neugierigen Köpfen zu sehen, die mich beobachteten und mir durch die Gitter hindurch mit den Blicken folgten, wenn ich durch die Stadt lief. Tatsache ist auch, daß ich bei Onkel Eduardo schon manchmal in Gesellschaft meiner Kusine aus dem Fenster geschaut hatte, doch bis zu jenem Nachmittag wußte ich nicht, was es wirklich bedeutet und wie es sich anfühlt,«sich ans Fenster zu setzen». Was mir als Inbegriff des Vergnügens angekündigt worden war, kam mir anfangs ziemlich lächerlich vor. Mir schien, daß wir vier, das heißt Großmama, Tante Clara, Chispita und ich, für diese Einweihungszeremonie eine reichlich steife und viel zu feierliche Pose eingenommen hatten, die schrecklich gestellt wirkte. Aus diesem Gefühl der Unnatürlichkeit folgte ein Gefühl der Lächerlichkeit; ich fing an, mich zu langweilen, dann wurde ich mißmutig, bis ich schließlich die Nachmittage, die ich allein mit meiner Stickerei und den Büchern in meinem Zimmer verbracht hatte, aufs heftigste vermißte. Trotz der Langeweile und meiner Unruhe begann ich jedoch irgendwann, ohne zu wissen, warum, die Sache vergnüglich zu 296
finden. Meine Aufmerksamkeit hatte sich nach und nach auf die Details in der Umgebung gerichtet und mich, als das Interesse einmal geweckt war, unmerklich auf den Weg der Beobachtung geführt. Zunächst fiel mir auf, daß mit Fortschreiten der nachmittäglichen Ausgehzeit immer mehr Fahrzeuge auftauchten, bis sie die Straße mit Lärm und Bewegung füllten. Auf dem Höhepunkt des Trubels brach sich im Grunde meines Herzens unwillkürlich folgende Weisheit Bahn:«Ach, wie traurig ist das Los derer, die dazu verdammt sind, brav hier in der zweiten Reihe zu sitzen und nur zuzuschauen, während draußen das Leben vorbeizieht. Ach, mein Gott! Könnte man wenigstens mit einem dieser grauen Reifen tauschen, die, mit vier Riemen auf dem Heck der Automobile montiert, fröhlich durch die Welt kutschiert werden!» Ein verzweifelter Gedanke, der mich vor lauter Hilflosigkeit mit einem Satz hochfahren ließ. Da genau in dem Augenblick das Ende des cremefarbenen Seidenstores, der das Fenster schmückt, zerknittert zwischen der Innenfläche und den Fingergliedern meiner zerstreuten linken Hand eingeklemmt war, ging, als ich hochfuhr, ein Ruck durch die ganze Gardine. Als Tante Clara die Erschütterung bemerkte, sagte sie:«Bleib ruhig, María Eugenia! Du wirst noch die Gardine herunterreißen! » Großmama stellte fest:«Ich sehe, Clara, daß jetzt weniger Menschen zu Fuß vorbeikommen als noch vor einer Weile, wie merkwürdig!» «Das ist gar nicht merkwürdig, es ist normal!»erwiderte Tante Clara und erklärte:«Schau, von fünf bis halb sechs kommen all die Leute vorbei, die in die Nachmittagsvorstellungen der Lichtspielhäuser gehen. Danach bleibt die Straße leer bis sieben oder halb acht, wenn sie wieder nach Hause gehen.» «Aha!»sagte Großmama, die jetzt verstand. Dann fügte sie hinzu:«Es ist schon verwunderlich, wie verbreitet die Liebe zur Filmkunst inzwischen in Caracas ist...! Und wie ich gehört habe, sollen die meisten dieser Filme schrecklich unmoralisch sein. Ich denke da wie Eduardo: Der Kinematograph und diese amerikani297
schen Tänze verderben unsere guten Sitten, hier und auf der ganzen Welt!» Unterdessen beobachtete ich etwas, das weder banal noch zu verachten war: nämlich daß mit wenigen Ausnahmen alle Passanten, ob alt oder jung, ob zu Fuß, im Automobil oder in der Kutsche unterwegs, sobald sie unser Fenster erblickten, mich anstarrten und dabei deutlich ihre Neugier und Bewunderung zum Ausdruck brachten. Diese Erfahrung fand ich zunächst nur interessant und schließlich äußerst schmeichelhaft, so sehr, daß ich angesichts des allgemeinen Interesses irgendwann beschloß, mich von meinem Platz zu entfernen, um selbst diesen einmütigen Zuspruch des Publikums vor dem großen Spiegel im Salon zu überprüfen. Im abendlichen Dämmerlicht betrachtete ich mich ausgiebig, und wirklich, ich fand mich so hübsch in meinem weißen Kleid aus Crêpe de Chine mit den schlanken nackten Armen und der um den schneeweißen Hals geschlungen Granatkette, daß ich zufrieden eine Weile vor dem Spiegel stehenblieb und mit erhobenen Händen die zwei seidigen, blonden Haarlocken nach rechts und nach links zupfte, die auf beiden Seiten meine Schläfen einrahmen Doch Tante Claras Stimme riß mich schließlich aus meiner heiteren, glückseligen Verzückung, als sie von ihrem Fenstersitz aus, ohne sich umzuwenden, den Blick unverwandt auf die Straße geheftet, sagte:«Da du schon stehst, María Eugenia: schalte mal das Licht an!» Ich ging zur Wohnzimmertür, drehte am elektrischen Schalter, und der Raum erstrahlte in hellem und fröhlichem Glanz. Mit einem hochzufriedenen Lächeln ließ ich mich wieder auf meinem Sitzplatz gegenüber von Tante Clara nieder, wobei ich mir sagte, es sei doch ein wahres Verbrechen, die Passanten zwei ganze Jahre lang des Vergnügens, meine Schönheit zu bewundern, beraubt und meiner Schönheit die unendliche Genugtuung vorenthalten zu haben, die einmütige Bewunderung der Passanten zu spüren. Sobald dieses Urteil feststand, war die Langeweile verflogen, und ich fing an, mich köstlich zu amüsieren. Mir schien, im er298
leuchteten Salon am weit zur belebten Straße hin geöffneten Fenstergitter habe meine Person eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit jenen Luxusgegenständen, die man abends in den Schaufenstern der Läden ausstellt, um die Begierde der Passanten anzustacheln. In dem Fall war Großmama die Ladenbesitzerin, Tante Clara eine der Verkäuferinnen, und Chispita und ich waren quasi als Reklame im Schaufenster ausgestellt. Diese Vorstellung setzte sich in meinem Kopf fest, und ich faßte sie für mich in den Worten zusammen:«Ja. Ich bin tatsächlich ein erlesener Luxusgegenstand, der auf dem Jahrmarkt des Lebens zum Verkauf steht.» Und da dieser Vergleich überaus passend war und es mir Freude bereitet, aus meiner Haut zu schlüpfen und mich in andere Menschen, Tiere oder Gegenstände hineinzuversetzen, füllte ich diese Metapher mit Leben und begann, während die Leute vorübergingen, an Geschmeide, Brokate und alle möglichen kostbaren Gegenstände denkend, mit leiser Stimme zu proklamieren:«Ich bin zu haben...! Wer kauft mich...? Wer kauft mich...? Wer kauft mich...? Ich bin zu haben...! Wer kauft mich? Wer kauft mich...? Wer kauft mich?» Doch Großmama, die sich trotz ihrer achtundsiebzig Jahre ihr feines Gehör bewahrt hat, unterbrach plötzlich meinen Kehrreim, indem sie ungeduldig fragte:«Was murmelst du da vor dich hin, María Eugenia?» Als Antwort fuhr ich nur mit lauter Stimme im gleichmäßigen Rhythmus mit meinem Kehrreim fort:«Ich bin zu haben...! Wer kauft mich...? Wer kauft mich...? Wer kauft mich...? Ich bin zu haben...! Wer kauft...» «Was ist denn das für ein Unfug...? Das ist völlig unpassend, so etwas sollte eine Señorita nie sagen, nicht einmal im Spaß, schon gar nicht am Fenster, wo man sie hören kann und vielleicht falsch versteht! Wenn dir jemand im Vorübergehen etwas Beleidigendes sagte, hättest du es mehr als verdient und dürftest dich nicht beschweren.» 299
Großmama war sehr aufgebracht. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie, jetzt etwas sanfter, hinzufügte:«Ich weiß nicht, ich weiß nicht, María Eugenia, mein Kind, wann wirst du endlich lernen, die Wirkung deiner Worte zu ermessen! » Ich wiederholte besagten Refrain nicht mehr, doch ich erinnere mich, daß ich ihn an jenem Abend und an allen folgenden Tagen, sobald ich mich allein mit Tante Clara und Chispita - denn Großmama, die die Luft und den Straßenstaub scheut, leistete uns keine Gesellschaft mehr bei unserem allabendlichen Vergnügen ans Fenster setzte, im Geiste weiter aufsagte. An einem regnerischen Nachmittag dann, als infolge des schlechten Wetters nur wenige Leute unterwegs waren, erschien auf der wie leergefegten Straße plötzlich ein majestätischer, braunlakkierter Cadillac mit nur einem einzigen Fahrgast, fuhr vorbei und wirbelte -«Pssssss...!»- auf dem regennassen Fahrdamm einen feinen Wasserstaub auf. Ich schaute ihm nur zerstreut nach, doch Tante Clara, die ihn von vorne hatte kommen sehen, wandte, nachdem er vorbeigefahren war, den Kopf nach links, folgte ihm mit den Blicken durch die Gitterstäbe hindurch und sagte:«Was für ein prächtiges Automobil! Es gehört dem Doktor César Leal. Bestimmt hat er es sich gerade erst gekauft, denn - sieh nur! - es ist neu, funkelnagelneu. Früher hatte César Leal kein Automobil, sondern eine Kutsche. Doch wie es scheint, wollen heutzutage alle lieber ein Automobil.» Eine Weile später -«Pssssssss...!»- rollte behutsam das wuchtige Automobil wieder heran und nahm wasserspritzend erneut von der Straße Besitz. Tante Clara wiederholte:«Das Auto von César Leal...! Er ist schon zweimal vorbeigekommen. Bestimmt ist er in eines der Mädchen aus dieser Straße verliebt!» Diesmal hatte ich auf den Wagen geachtet und bemerkt, daß der Besitzer, besagter César Leal, als er, in den weichen Traum eines schokoladenfarbenen Sitzes versunken, an uns vorbeifuhr, mich angesehen hatte, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, der um vieles beharrlicher und eindringlicher war, als ich es von der 300
Mehrheit meiner anonymen Verehrer kenne. Aufgrund dieses Umstands dachte ich sofort voller Überzeugung:«Tante Clara hat ganz recht, und es besteht gar kein Zweifel, daß ich dieses Mädchen bin.» Doch ich weiß noch, wie ich laut genau das Gegenteil behauptete, indem ich sagte:«Nein, ich glaube, der ist in keine verliebt! Manchmal, Tante Clara, müssen wir aus irgendeinem Grund gezwungenermaßen noch einmal an einer Stelle vorbei, ohne es zu wollen, was sage ich, ohne auch nur die geringste Absicht, es zu tun. Vergiß außerdem nicht, daß es dort unten eine Tankstelle gibt, zu der die Automobile hinfahren.» Nichtsdestotrotz kam der Wagen von Doktor Leal «Pssssss...!»- immer wieder und wieder, und erst, als es dunkel wurde und wir das Fenster schließen mußten, weil es Zeit fürs Abendessen war, bekamen wir ihn nicht mehr zu Gesicht. Ich kann mich noch gut entsinnen, daß Tante Clara, sooft sie ihn kommen sah, ihre vollkommen zutreffende Meinung kundtat:«Bestimmt ist er in eines der Mädchen aus dieser Straße verliebt.» Während der Cadillac sich entfernte, behutsam im Zickzack den Verkehrshindernissen ausweichend, blickte Tante Clara ihm, den Kopf ganz nach links gedreht, nach, begleitet von der einen oder anderen Bemerkung etwa im gleichen Stil:«Ach...! Er ist eine gute Partie...! Ein ziemlicher Schürzenjäger, sehr unzuverlässig, das schon, er hat bereits mehrere Bräute sitzenlassen; aber er ist wundervoll, in jeder Hinsicht. Ach, das Mädchen, dem es gelingt, ihn zu ihrem Ehemann zu machen, vollbringt Großes.» Ich für meinen Teil sagte kein Wort, denn ich wußte, daß dieses ständige Hin und Her allein mir galt, und sobald ich das«Pssssss...!»hörte, blickte ich vage in die Richtung des schokoladenfarbenen Fahrersitzes und lächelte sanft, ganz sanft. Es war ein kaum merkliches Lächeln, das eher freundlich als schüchtern, in Wirklichkeit aber eher schüchtern als freundlich war, das ganz unwillkürlich und dabei vollkommen gewollt war, mit ei301
nem Hauch von..., kurz gesagt: Sobald ich«Pssssss!»erblickte, lächelte ich auf eine Weise, die mir zwar kinderleicht fällt, aber sehr schwer zu erklären ist. Doch ich will ehrlich sein: Trotz des ungeheuren Erfolges meines Lächelns, das den nagelneuen Cadillac auf und ab, auf und ab, auf und ab bewegte wie der Motor, das Benzin und die Reifen, lächelte ich ohne große innere Überzeugung, da ich der festen Meinung war, daß weder César Leal noch sein Automobil auch nur im entferntesten ein derart reizendes Lächeln verdient hatten. Den Wagen fand ich zu auffällig, häßlich in den Farben, viel zu überladen und mit einem absolut lächerlich gekleideten Chauffeur. Und was den Besitzer betraf, so war er mir zu dick, zu dunkelhaarig, zu alt, zu tief in seinen schokoladenfarbenen Sitz versunken und überhaupt zu..., aber ach, ich glaube, es ist nicht ratsam und überdies völlig nutzlos, jetzt meine ersten Eindrücke von der Person César Leals aufzulisten, da der erste Eindruck, den eine Person auf uns macht, mit der wir bisher nichts zu tun hatten, noch gar nichts besagt, weshalb man darauf absolut nichts geben kann, anders als bei leblosen Gegenständen, die man zu kaufen gedenkt, als da wären: Schuhe, bunte Strümpfe, Ballkleider mit tiefem Ausschnitt und vor allem Hüte! Ach ja! Der erste Eindruck, den man von einem Hut hat, ist zuverlässig und überaus wichtig, denn der täuscht fast nie! Doch sobald es sich um eine Person handelt, sollte man nichts auf den ersten Eindruck geben, schon gar nicht, wenn sich zwischen uns und dieser Person das empfindliche Netz der Liebe entsponnen hat; ein göttlich strahlendes Netz, in dessen Maschen sich eine Unzahl von Rätseln, Unvorhersehbarkeiten, Entdeckungen und Überraschungen verfängt und ansammelt... Es war noch kein Monat nach dem besagten Abend vergangen, als ich mich eines Morgens auf den Weg von meinem Zimmer zum Eßzimmer machte, um dort ein Glas Wasser zu trinken, und Großmamas Stimme in ihrer Oase im Eingangspatio feierlich meinen Namen nennen hörte. Sofort schlich ich mich auf Zehen302
spitzen an die Wohnzimmertür, die in den Hausflur führt, um zu lauschen. So erfuhr ich, daß Großmama mit Tante Clara, Onkel Eduardo und Onkel Pancho einen Familienrat abhielt, in dem es um meine Person ging. Obwohl ich sehr wohl weiß, daß es sich nicht gehört und gegen die gute Erziehung verstößt, an Türen zu lauschen, bediene ich mich dieses Mittels, sooft sich mir die Gelegenheit bietet, denn ich halte es für eines der wenigen, durch die sich uns die Wahrheit in ihrer ganzen strahlenden Leuchtkraft ohne Umschweife oder irgendwelche Vorbehalte und vor allem ohne dieses Beleidigende offenbart, das immer mitschwingt, wenn jemand sie einem direkt ins Gesicht sagt, sei es in Form eines guten Rates oder wie auch immer. Unter dieser Prämisse finde ich mein Verhalten nicht anstößig und sehe keinen Grund, mich dafür zu schämen, daß ich, kaum hatte ich die Wohnzimmertür erreicht und die ersten Fetzen der Unterredung vernommen, anstatt mich zurückzuziehen, leise einen der Sessel von der Sitzgruppe an die Durchgangstür schob, um leicht fliehen zu können, falls es die Umstände verlangten, mich in dem Sessel niederließ, mich weit nach hinten lehnte, den Kopf auf die Rückenlehne legte und mich so auf angenehm bequeme Art dem Lauschen hingab. Im Augenblick führte Großmama das Wort und sagte in die allgemeine Stille hinein:«Niemand, niemand scheint mir gut genug für sie! Nicht weil sie meine Enkelin ist, aber sie ist mehr wert, sehr viel mehr wert als die anderen... Eduardo, damit meine ich natürlich nicht Cecilia Margarita, die auch ein reizendes Mädchen ist, sondern die Mehrheit dieser geschmacklosen, schlechterzogenen jungen Damen, denen man, wie du sagst, heute überall auf Schritt und Tritt begegnet... Noch einmal: Nicht weil sie meine Enkelin ist, aber sie ist mehr wert als alle anderen …!» «Genau, das finde ich auch», war Onkel Panchos Stimme zu hören,«und weil ich so fest davon überzeugt bin, hielte ich es für Unsinn, wenn María Eugenia jetzt schon heiraten würde, ohne etwas von der Welt gesehen zu haben. Laßt sie tanzen, lachen, 303
sich amüsieren, und wenn sie sich erst einmal richtig ausgetobt hat, kann sie ja heiraten, wenn sie will!» «O weh...! Sie reden davon, mich zu verheiraten! »dachte ich wichtigtuerisch, während ich die Füße auf einen in der Nähe stehenden Stuhl legte, um es mir noch bequemer zu machen.«Ich wette, daß Onkel Eduardo der Anwalt ist, der für meine Heirat plädiert!» «Die Frauen, Pancho, müssen die Gelegenheiten nutzen, wenn sie sich ergeben», ertönte jetzt tatsächlich Onkel Eduardos näselnde Stimme, die an dem Tag infolge einer Erkältung obendrein noch heiser klang.«Sieh mal, in Caracas wimmelt es nicht gerade von guten Partien, und es ist sehr gut möglich, daß María Eugenia später nicht mehr findet, was sich ihr jetzt bietet.» «Na, dann soll sie eben weder jetzt heiraten noch später: Sie muß doch überhaupt nicht heiraten! » Ich weiß noch, daß Onkel Panchos Lösung in meinen Ohren schrecklich klang, so schrecklich, daß ich Großmama zunächst vehement zustimmte, als ich sie sagen hörte:«Nein, Pancho, nein, auf gar keinen Fall, das finde ich nicht richtig…! Schau: María Eugenia ist die Seele und die Freude dieses Hauses. An dem Tag, an dem sie fortgeht, wird sie bei uns eine ungeheure, fürchterliche Leere hinterlassen, aber ich bin nicht selbstsüchtig, nein, und obwohl ich auch keine große Verfechterin der Ehe bin, teile ich Eduardos Meinung: María Eugenia braucht einen Ehemann. Schon wegen ihrer Situation und auch aufgrund ihres Charakters. Dieses Kind ist allzu hübsch und gleichzeitig viel zu freidenkerisch, und wenn sie allein bliebe, könnte sie ihre Freiheit vielleicht mißbrauchen... Ja, diese übertriebene Unabhängigkeit, dieser leicht beeinflußbare Charakter, diese Verachtung gegenüber allem, was für sie eine Autorität darstellt, all das sind sehr, sehr gefährliche Dinge. Es stimmt zwar, daß sie sich in letzter Zeit erheblich gebessert hat; dennoch glaube ich, daß sie unbedingt einen starken Willen an ihrer Seite braucht, der sie leitet, oder besser gesagt, der sie sich gefügig macht und für das Leben er304
zieht. Ach, ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich María Eugenia allein auf sich gestellt wüßte, ohne eine Stütze im Leben!» Wenn Onkel Panchos Bemerkung mir schon nicht gefallen hatte, so brachten mich Großmamas letzte Worte jetzt regelrecht in Rage, und hätte ich mich nicht im kleinen Salon versteckt gehalten, hätte ich ihr voller Entrüstung geantwortet, meine Erziehung sei bereits seit drei Jahren beendet, ich sei vollauf zufrieden mit ihr und hielte die Jahre der Erziehung für die unangenehmste Phase im Leben, und wenn ich jetzt einen Ehemann akzeptierte, geschehe das keineswegs, um weiter auf dem ärgerlichen Thema meiner Erziehung herumzureiten, sondern um mich mit ihm Dingen zu widmen, die ich für um vieles origineller und amüsanter hielte. Zum Glück war ich unsichtbar, und dieser Umstand ersparte mir ernsthaften Ärger, der mit der gewohnten endlosen Litanei von Ratschlägen geendet hätte, die ich längst auswendig herunterbeten kann. Während ich insgeheim voller Entrüstung gegen Großmamas Äußerungen protestierte, dachte Onkel Pancho, der immer noch an seiner Ablehnung der Ehe festhielt, nicht im Traum daran, gegen diesen schrecklichen Plan meiner zukünftigen und ewigen Erziehung Einspruch zu erheben, sondern sagte lediglich:«Also mal ehrlich, Eugenia, was ich ausgesprochen selbstsüchtig finde, ist, daß Sie María Eugenia womöglich nur zu Ihrer eigenen Beruhigung opfern, indem Sie sie jetzt verheiraten.» «Wie kommst du überhaupt auf die Idee, daß ich sie verheirate?»sagte Großmama noch viel entrüsteter als ich. Ihre Stimme verriet, daß sie außerordentlich erregt war:«Wenn dich jemand hören würde, müßte er denken, ich wäre ein Unmensch, eine Frau, die ihre Enkelin um jeden Preis loswerden will und sie zwingt, den erstbesten, der auf der Straße vorbeikommt, zu nehmen...! Wie schrecklich ungerecht, großer Gott...! Wo es doch genau um das Gegenteil geht...! Und vor allem, wo ich doch schon jetzt weiß, daß der Tag, an dem María Eugenia heiratet, für mich ein Tag der Trauer sein wird, wie eine Beerdigung!» 305
«Ja», pflichtete ihr zum erstenmal Tante Clara bei.«Mama wird María Eugenia unendlich vermissen, wenn sie einmal nicht mehr bei ihr ist. Mir wird sie nicht nur emotional fehlen, sondern auch ganz konkret, denn sie hilft mir sehr bei der Hausarbeit. Seit mehr als einem Jahr kümmert sie sich ganz allein um die Wäsche!» «Aber, mein Gott», fing Onkel Eduardo wieder an zu näseln,«eine Ehe steht doch noch gar nicht zur Debatte! Wir wissen bisher nicht, ob sie sich überhaupt verstehen! Ja, wir wissen nicht einmal, wie María Eugenia über die Angelegenheit denkt!» «Ach! Es ist sehr schwer, oder besser gesagt, unmöglich, je zu erfahren, was María Eugenia denkt», wandte Tante Claras Stimme ein.«So launisch, wie sie ist, sagt sie dir heute grün und morgen rot. Ich glaube, sie selbst kostet es Mühe zu wissen, was sie will. Allerdings habe ich den Eindruck, César Leal gefällt ihr… Ja, ich würde schwören, daß er ihr gefällt!» «Nun, ich kann mir kaum vorstellen, daß er ihr gefällt», sagte Onkel Pancho,«ich würde sogar meine Hand dafür ins Feuer legen, daß er ihr nicht gefällt. Nur hat sie hier, gefangen innerhalb dieser vier Wände, ihren kritischen Geist verloren, sie ist desorientiert, hat keine Vorstellung mehr von Gut oder Schlecht, da es ihr an Vergleichsmöglichkeiten fehlt. María Eugenias Geschmack liegt vollkommen brach. Ich hege die Befürchtung, daß sie auf die Idee kommt, César Leal zu heiraten, es später schwer bereut und am Ende kreuzunglücklich wird.» «Also hör mal», sagte Großmama immer noch aufgebracht,«ich für mein Teil habe sie nie gedrängt, einen Freier zu akzeptieren, und werde es auch nicht tun, selbst wenn der König höchstpersönlich sich präsentierte. Noch habe ich ihr diesbezüglich kein Wort gesagt. Hörst du, Pancho? Nicht ein Wort! Denn ich will, daß sie die freie Wahl hat... Das heißt aber noch lange nicht, daß ich so weit ginge, mich einem ehrbaren jungen Mann zu widersetzen, der gute Voraussetzungen mitbringt, sich vollkommen korrekt benommen hat und schwer verliebt in María
306
Eugenia ist, und ihm die Tür vor der Nase zuschlüge, davon bin ich meilenweit entfernt! Findest du nicht, Eduardo?» «Ja, meilenweit entfernt!»erwiderte Onkel Eduardo mit seiner dunklen Erkältungsstimme, deren Klang den Sinn seiner Worte lautmalerisch unterstrich, denn sie schien wahrhaftig aus weiter Ferne zu kommen. Doch nach einer kurzen Pause, in der er geräuschvoll hustete, sagte er viel klarer:«Wäre César Leal bei uns auf so formvollendete Weise wie hier als Bewerber um die Hand meiner Tochter vorstellig geworden, hätte ich ihn mit offenen Armen empfangen... Natürlich sage ich ‹auf so formvollendete Weise wie hier›, denn es ist nicht zu leugnen, daß Leal im Grunde genommen einer der heiratsunwilligsten Männer ist. Er amüsiert sich gern und hat schon mehrere Bräute sitzenlassen, doch andererseits muß man auch sagen, daß er bei keiner seiner vorangegangenen Liebschaften so respektvoll und korrekt vorgegangen ist wie in diesem Fall. Wie er mir selbst versichert hat, ist dies das erste Mal, daß er sich ernstlich verliebt hat, und, wie gesagt, ich komme in seinem Auftrag, um euch mitzuteilen, er sei fest entschlossen, sie zu heiraten, sobald María Eugenia einwilligt, an einem Tag zu einer Uhrzeit, die wir bestimmen können. Ich glaube, kein Ehrenmann kann größere Garantien bieten.» «Oooohhh!»hauchte ich gerührt und mit offenem Mund, als ich diese ungeheure Neuigkeit vernahm. «Selbstverständlich, wenn es nicht so wäre, würde ich ihn nicht empfangen!»rief ernst und feierlich im selben Augenblick Großmama aus und schnitt Onkel Eduardo damit das Wort ab.«Ach! Das kannst du wohl glauben...! Andernfalls würde ich es niemals riskieren und auch María Eugenia nicht der Gefahr aussetzen, daß ein Mann, wer er auch sei, mein Haus betritt, nur um sich hinterher über mich und über sie lustig zu machen!» Tante Clara sagte mit leichter Wehmut, als schwinge eine traurige Erinnerung in ihrer Stimme mit:«Mach dir keine Illusionen, Mama, Männer, die einmal Frauenhelden und Casanovas waren,
307
können noch so gut sein, als Bräutigam ist auf sie nie völlig Verlaß...! Aber einen Fehler mußte Leal schließlich haben!» «Welchen?»wollte Onkel Pancho wissen.«Daß mit einer Heirat bei ihm eher nicht zu rechnen ist? Also hör mal, Clara, in meinen Augen ist dieser Fehler seine beste Eigenschaft, seine glänzendste Voraussetzung und die einzige Garantie für María Eugenias Glück.» Doch Onkel Eduardo, der ganz in seiner Rolle als Familienoberhaupt, Berichterstatter und Botschafter dieses wichtigen Ereignisses aufging, nahm seinen unterbrochenen Vortrag wieder auf, ohne Onkel Panchos letzten Worten Beachtung zu schenken:«Von allen anderen Gesichtspunkten aus betrachtet besteht kein Zweifel, daß Leal ein vortrefflicher junger Mann ist: Was können ein Familienvater oder eine Mutter mehr erwarten? Er ist außerordentlich wohlerzogen, sehr korrekt, sehr intelligent, ungemein gebildet und hat keine Laster, er ist Doktor der Rechte, Senator der Republik, Direktor eines Ministeriums, finanziell sehr gut gestellt, aus guter Familie, war ein guter Sohn und ist ein guter Bruder. Was hast du an ihm auszusetzen, Pancho?» «Nun, einmal abgesehen davon, daß er ein Angeber und ein schlechter Schreiberling ist, hat er den schrecklichen Makel eben der genannten Qualitäten. Sieh mal, Eduardo, wenn du die Geduld aufgebracht hättest, alle Tugenden von César Leal aufzuzählen, hättest du, ohne es zu wollen, eine Litanei heruntergebetet, die länger gewesen wäre als das Bittgebet bei der Osterprozession.» Zweifellos durch Gedankenassoziation angeregt, sagte Tante Claras Stimme sogleich:«Er ist sehr großzügig! Vor wenigen Wochen hat er eine beachtliche Spende für die Bodenplatten der Christuskapelle in der Kathedrale gegeben. Außerdem bin ich mir nahezu sicher, daß er letztes Jahr einer der acht Träger des Baldachins bei der Gründonnerstagsprozession war.» «Mir ist er, ohne daß ich ihn kenne, außerordentlich sympathisch, seit ich erfahren habe, daß er ein guter Sohn ist», meldete 308
sich Großmama, die sich inzwischen wieder beruhigt hatte, erneut zu Wort.«Und man hat mir erzählt, daß er sich sehr um seine beiden Schwestern kümmert. Er läßt sie nie allein ausgehen, nimmt sie nicht in die Clubs mit und verbietet ihnen, diese aufreizenden modernen Tänze zu tanzen. Ach, die gute Söhne und gute Brüder sind, taugen auch als Ehemänner. » Onkel Pancho sagte:«Ich kenne César Leals Schwestern. Zwei lange, dunkelhaarige Bohnenstangen voller Pickel. Wahrscheinlich nimmt er sie nicht mit zu den Tanzveranstaltungen in den Clubs, weil ihre Dekolletés gar zu häßlich aussehen. Daß er seine nicht präsentablen Verwandten versteckt, ist jedenfalls kein schlechter Zug, denn es spricht für ein gutes Herz und viel Familiensinn. » Ohne auf Onkel Panchos Worte zu achten, hatte Großmama unbeirrt ihren Gedankengang weiterverfolgt und sagte jetzt:«.... in Caracas stehen nicht viele zur Auswahl, und es wird von Tag zu Tag schwieriger, einen Mann zu finden, der keine Laster hat. Schade, daß diese Leals nicht aus unseren Kreisen kommen, das heißt... aus unserer Gesellschaftsschicht …!» Hier entstand eine kurze Pause, während der Großmama wohl einen ihrer tiefen Seufzer ausgestoßen haben muß, den ich, wenn er mir unter den gegebenen Umständen auch entging, im Geiste jedoch treffsicher hinzugefügt habe. Denn nach dieser Pause verlieh Großmama ihrer Stimme diesen wehmütigen Ton, den sie immer an sich hat, wenn sie in Erinnerungen schwelgt, und sagte dann zögernd:«Leal Leal... Diese Leals spielten zu meiner Zeit noch keine Rolle. Ich meine zwar, ihren Namen schon einmal gehört zu haben, aber nur so... ganz nebenbei... Nein, die gehören nicht zur Creme der Gesellschaft, ganz und gar nicht...! Aber Tatsache ist auch, daß sich die Dinge geändert haben...!» Wieder trat eine Pause ein, in der ganz sicher ein zweiter Seufzer ausgestoßen wurde, bevor Großmama hinzufügte:«Ach! Nicht weil sie meine Enkelin ist, aber sie verdient einfach so viel Besseres, so viel Besseres...!» 309
Da ich sehr empfänglich für jedes Lob bin, stieg mir jener letzte Satz, der schon zum zweitenmal geäußert wurde, definitiv zu Kopf. Während ich immer noch dort in meinem Sessel saß und meine Füße auf einem Stuhl lagen, sagte ich mir im Scherz, dieser César Leal habe es in der Tat nicht einmal verdient, mir die Schürsenkel an meinen Schuhen aufzubinden. Als dieses Urteil einmal gefällt war, fand ich, Onkel Pancho habe im großen und ganzen sehr weise gesprochen, mit Ausnahme natürlich, als er diese dumme Ansicht vertrat:«... dann soll sie eben weder jetzt heiraten noch später; sie muß doch überhaupt nicht heiraten...!»Als ich mir besagte Auffassung sekundenlang durch den Kopf gehen ließ, störte sie mich plötzlich dermaßen, daß ich nicht mehr auf die Unterhaltung achtete und mir vorstellte, Onkel Pancho stünde vor mir; und um gut vorbereitet zu sein und eine Antwort parat zu haben, falls er seine Meinung wiederholen würde, rügte ich ihn in Gedanken:«‹Sie muß doch nicht heiraten!›... Ja... Genau das...! ‹Sie muß doch nicht heiraten›... Na klar...! Um dich geht es ja nicht, Onkel Pancho! Dich würde ich gern einmal an meiner Stelle sehen; ob du dann wohl noch so reden würdest...? Du findest das Leben, das ich führe, wohl äußerst amüsant, wie...? Glaubst du vielleicht, ich werde einfach so aufs Heiraten verzichten, nur weil du es sagst, wo die Vorstellung von einer Heirat das einzige ist, was mich interessiert, das einzige Ziel, auf das all mein Tun ausgerichtet ist? Sag: Du fändest es wohl angenehm, wenn ich mein ganzes Leben so elegant und glücklich verbrächte wie Tante Clara, zwischen Chispita, den Farnen und dem Rosenkranz, nicht wahr...? Glaubst du wirklich...? Na schön, César Leal werde ich jetzt nicht heiraten, aber nur deshalb, weil ich finde, daß er, wie Großmama sagt, nicht gut genug für mich ist, und weil ich mir sicher bin, daß ich künftig noch etwas Besseres finde...! Andernfalls würde ich ihn selbstverständlich auf der Stelle heiraten, hörst du: Sofort, jetzt sofort würde ich César Leal heiraten, nicht einmal, nein, zwanzigtausendmal …!»
310
Doch die Stimme von Onkel Eduardo, die jetzt zu einem feierlichen Solo anhob, riß mich brüsk aus meinen Selbstgesprächen und verkündete unmißverständlich, worauf man sich geeinigt hatte:«Na gut, Mama, dann werde ich ihm also mitteilen, daß du nichts dagegen hast, ihn heute abend um neun Uhr zu empfangen. Wie er mir gesagt hat, kennt er Clara und María Eugenia bereits, denn kürzlich hat ein Freund ihn den beiden vorgestellt, als sie nachmittags am Fenster saßen. Er ist entzückt von Clara und vernarrt, wirklich ganz vernarrt in María Eugenia. Ich glaube, wenn sie ihn akzeptiert, macht sie eine sehr gute Partie. Hoffentlich entscheidet sie sich für ihn!» «Hoffentlich», wiederholte Tante Clara und sagte noch einmal:«Aber es ist so schwer herauszufinden, wie María Eugenia sich zu entscheiden gedenkt. Launisch wie sie ist!» «Ich werde mit ihr reden», sagte Großmama.«Aber, wie gesagt, ich werde sie nicht im geringsten beeinflussen, weder für noch gegen Leal.» «Also ich finde nicht, daß er zu ihr paßt, und werde daher, wenn ich mit ihr spreche, versuchen, ihn ihr, so gut ich kann, auszureden», hörte ich Onkel Panchos Stimme in aller Ruhe sagen. «Na schön. Das mußt du wissen, Pancho!»erwiderte Großmama ungehalten, als wollte sie Onkel Pancho daran erinnern, welch schwere Verantwortung er damit auf sich lud. Wenn ich mich recht erinnere, wurde bei der denkwürdigen Unterredung nichts Nennenswertes mehr zum Thema gesagt, denn als man sich schließlich geeinigt hatte, kamen die vier Beteiligten auf andere Dinge zu sprechen. Doch der letzte Wortwechsel hinsichtlich meiner zu erwartenden Entscheidung hatte mich diesseits der Tür in ein Meer von Zweifel gestürzt. Ich starrte auf die Spitzen meiner Schuhe, die sich jetzt nicht mehr auf der Sitzfläche, sondern auf der Rückenlehne des Stuhls, fast auf der Höhe meines Kopfes, befanden, während ich darüber nachdachte, wie unsinnig und wenig angenehm es auf der Welt doch zugeht, wenn eine hübsche Frau nicht einmal am Fenster lächeln darf, 311
wie und wann es ihr paßt, ohne gleich ein heilloses Durcheinander von Diskussionen, Beratungen und Aufwartungen auszulösen... Ach, vor allem ärgerte und erschreckte mich, daß man mich vor eine so unmittelbare und folgenschwere Entscheidung stellte, mir quasi die Pistole auf die Brust setzte wie ein Räuber, der fordert:«Geld oder Leben!»Nachdem ich jedoch eine Weile nachgedacht hatte, beschloß ich kurzerhand, auch wenn Tante Clara noch tausendmal wiederholen sollte«heute sagt sie grün, morgen sagt sie rot», und obwohl ich César Leal zwanzig Tage hintereinander zugelächelt hatte, ihm von nun an nie mehr ein Lächeln zu schenken und ihn vor allem auf gar keinen Fall zu heiraten; unter anderem deshalb, weil er im Auto eine schlechte Figur machte; weil er mir verbieten würde, Foxtrott zu tanzen oder allein auszugehen, und weil diese häßlichen Schwestern, die Onkel Pancho erwähnt hatte, nicht zu mir paßten, denn wenn ich erst einmal mit ihm verheiratet wäre, könnte ich heute oder morgen eine Tochter bekommen, die nicht mir, sondern ihren Tanten ähnelte, was nicht wiedergutzumachen wäre und was ich niemals verwinden würde. Nachdem ich diesen festen Entschluß gefaßt hatte, atmete ich erleichtert auf, nahm die Füße von der Stuhllehne, erhob mich aus dem Sessel und verließ verächtlich den kleinen Salon und die belanglose Unterhaltung, die im Eingangspatio fortgesetzt wurde. Eine Stunde später rief Großmama mich, wie während des Familienrats angekündigt, zu sich und setzte mich tatsächlich über César Leals Besuch und seine Absichten in Kenntnis. Selbstverständlich nahm ich es auf, als sei es für mich eine Neuigkeit, und der Vorsicht halber und um mich wichtig zu machen, gab ich mich geheimnisvoll und rätselhaft wie eine Sphinx. Ich hörte mir also schweigend und ohne jede Regung an, was sie mir mitzuteilen hatte. Als Großmama geendet hatte, sagte ich nur lakonisch:«In Ordnung.»Dann entfernte ich mich. Als ich nachmittags in meinem Zimmer gerade in einen dieser englischen Romane vertieft war, die in der großen, eleganten Welt spielen, stand plötzlich wie durch einen Zauber María del 312
Carmen, das Dienstmädchen, mit einem prächtigen Bouquet aus weißen Rosen und Orchideen in der Tür, die ich nur angelehnt hatte.«Der wurde im Auftrag von Doktor César Leal abgegeben!»sagte María del Carmen, die sich sichtlich freute, mir ein so wichtiges Ereignis verkünden zu dürfen. Sogleich füllte sich mein Zimmer mit einem betörenden Duft, der vollkommen im Einklang mit der Welt meines englischen Romans stand. Beim Anblick der Blumen war ich angenehm überrascht und empfand eine tiefe Genugtuung und Freude. Doch als mit den Blumen und María del Carmen auch Tante Clara erschien und sich in Lobeshymnen über die zarte weiße Farbtönung der Orchideen erging, sprang ich kurzerhand auf, nahm das Bouquet an mich und stopfte es achtlos in den großen Krug, indes ich in leicht ungehaltenem Ton sagte:«Sie sind ganz hübsch, aber ich werde sie erst später auf verschiedene Vasen verteilen, denn im Augenblick bin ich sehr beschäftigt: Ich lese gerade!» «Wie herzlos du bist, María Eugenia!»bemerkte Tante Clara.«So herrliche Blumen! Mama sagt, sie habe noch nie so viele verschiedene Orchideen auf einmal gesehen!» Kaum waren Tante Clara und María del Carmen gegangen, schloß ich meine Zimmertür, suchte alle Gefäße und Vasen zusammen, deren ich habhaft werden konnte, und machte mich daran, die Blumen in dekadent-romantischer Weise zu arrangieren. Es gab Blumen für den Schreibtisch, für den Nachttisch, fürs Fenster, für den Frisiertisch und für den Schemel. Sie reckten sich lieblich und zart vor der wolkigen Spitzengardine, sanken schmachtend auf den Eckschränkchen dahin oder spiegelten sich wie ich mich selbst tausendfach in meinem dreiflügeligen Spiegel... Während ich mein Werk betrachtete und mit aufgeblasenen Nüstern die Luft einsog, verharrte ich lange in äußerster Verzückung … Ach! Mein Zimmer war nicht mehr mein Zimmer, sondern ein zauberhafter romantischer Ort, wo die zartesten und lieblichsten Düfte in der Luft schwebten. Mir fiel das orientalische Boudoir 313
von Mercedes Galindo ein, immer über und über mit Blumen geschmückt, das mich einst so sehr fasziniert hatte, und um es ihr gleichzutun, schlüpfte ich in mein déshabillé aus cremefarbener Spitze. Vor dem Spiegel brachte ich meine goldenen Schläfenlocken in Ordnung, parfümierte mir den Hals und die Arme mit Nirvana de Bichara, und nachdem ich mir die Nägel poliert hatte, streckte ich mich mit meinem englischen Roman auf dem Bett aus, um dort die interessante, durch den Besuch solch angenehmer Gäste nur kurz unterbrochene Lektüre wieder aufzunehmen. Doch ich konnte mich keine Sekunde mehr aufs Lesen konzentrieren. Mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand zwischen seinen Seiten, lag das Buch, ebenso wie ich, gleichgültig, reglos und stumm auf dem hellblauen Atlasstoff der Daunendecke, während ich die feinen Farbnuancen der Blumen bewunderte, wohlig die zarte Mischung der Düfte nach Rosen, Orchideen und Nirvana de Bichara einsog und mir dachte, es müsse doch eigentlich sehr angenehm sein, einen Verehrer zu haben, der einem fast täglich Blumen schickt. Leicht berauscht von den zarten Düften, ließ ich mich von ihnen lange durch die Windungen und unwegsamen Regionen von tausenderlei köstlichen Träumen tragen. Und wenn ich hier von diesen süßen Träumen nichts erzähle, dann deshalb, weil es in allen ausnahmslos um sehr vage Eindrücke ging, die ich nur schwer in Worte zu fassen wüßte. Doch ich meine mich zu erinnern, daß jene Lords und Ladies, die Parks und Seen, Schlösser, Bälle und Jagden aus dem englischen Roman, der unter dem Gewicht meiner Hand immer noch auf dem himmelblauen Seidenstoff vor sich hin dämmerte, darin eine große Rolle spielten. Nachdem ich nach Lust und Laune auf den sanften, verschlungenen Pfaden der Phantasie umhergeschweift war, kehrte ich schließlich in die Realität zurück und lenkte meine Gedanken hin zu César Leal und seinen Besuch am Abend. Trotz meines festen Entschlusses würde ich mich, wenn auch reserviert und ableh314
nend, so doch freundlich zeigen müssen, nachdem er mir diese traumhaften Blumen geschenkt hatte und, wie Onkel Eduardo sagte, so überaus entzückt von mir war, was ihn immerhin als feinsinnigen Mann auswies und für seinen guten Geschmack sprach. Dann kam mir auch der Gedanke, es sei grundsätzlich nicht besonders klug, sich zu sehr von Onkel Panchos Meinung beeinflussen zu lassen, der, wie Großmama sehr zu Recht sagt, weder je ein sicheres Urteilsvermögen noch praktisches Geschick hinsichtlich seiner eigenen Lebensführung bewiesen hatte. Außerdem war es nur folgerichtig, wenn ich fortan seinen Ansichten mißtraute, seit er mich ganz selbstverständlich dazu verdammt hatte, niemals zu heiraten und auf immer und ewig allein, arm, traurig und halbtot vor Langeweile vor mich hin zu vegetieren wie Tante Clara. Nachdem ich solche eher moralischen Erwägungen angestellt hatte, fing ich an, mir Gedanken darüber zu machen, welches Kleid ich für den abendlichen Besuch auswählen sollte, um, wenn möglich, einen noch besseren Eindruck zu machen als hinter den Gitterstäben am Fenster, die der weiblichen Büste, quasi in Gefangenschaft, einen sehr reizvollen orientalischen Anstrich verleihen, der ihr sehr schmeichelt. Zunächst beschloß ich, mich dunkel zu kleiden, um die Harmonie der schlanken Linie hervorzuheben, doch dann dachte ich, bei den geringen Entfernungen in einem Salon sei es doch schwer, die Linie zur Geltung zu bringen, in dem Fall sei es wichtiger, sich auf die Farbe zu konzentrieren und sie auf den Teint, die Augen und die Haarfarbe abzustimmen. Da entschied ich mich, ohne zu zögern, für das Kleid aus rosa Charmeuse, denn ich finde, rosa ist meine Farbe, obwohl Tante Clara, die keinen Blick dafür hat und in ihrer Besessenheit nur lauter Unbefleckte und heilige Jungfrauen von Lourdes sieht, meint, mir stehe blau besser.143 Immer die Frage der farblichen Harmonie im Blick, sagte ich mir, in einem dunklen Kleid hätte ich mir zwei große Rosen der Sorte«Schneekönigin»an die Taille gesteckt, doch zu dem Charmeusekleid paßten viel besser zwei 315
Orchideen... Ja, definitiv, zwei Orchideen, anmutig an die Gürtellinie meines Charmeusekleids gesteckt, würden aussehen wie zwei große Schmetterlinge, die ihre Flügel über einer Rose ausbreiten. Allein bei dem Gedanken war ich schon ganz begeistert und stellte mir vor, wie grazil sich meine klassische griechische Büste von den zarten Farbtönen abheben würde. Doch da ich mir, auch wenn Großmama ständig das Gegenteil behauptet, alles, was ich tue, bis ins unbedeutendste Detail sehr genau überlege, dachte ich sofort, wenn ich mir zwei Orchideen aus dem Bouquet vom Nachmittag an die Taille steckte, könnte das als Zustimmung gedeutet werden, was nicht vorgesehen war und in absolutem Widerspruch zu meinem festen Vorsatz stand. Am Ende entschied ich mich dafür, mein rosa Charmeusekleid ohne irgendwelche Blumen an der Taille zu tragen, was zeigt, wie reiflich ich mir alle meine Schritte überlege. Als an jenem historischen Abend die Uhr Viertel nach neun schlug, stand ich immer noch vor dem Spiegel und betrachtete meine anmutige Gestalt, die wie geplant in einem einfachen, sehr zarten rosa Kleid aus Charmeuse steckte. Von nahem betrachtet, fand ich mich ein wenig farblos. Ich erwog gerade, mir einen Hauch von Lidschatten aufzutragen, um mich interessanter zu machen, ohne daß es Großmama groß auffallen würde, als im offenen Fenster María del Carmens Kopf auftauchte, um schon zum zweitenmal zu wiederholen, was sie mir ausrichten sollte:«Señorita Clara läßt sagen, der Besuch sei schon seit mehr als einer Viertelstunde da, und es sei sehr unhöflich, so lange auf sich warten zu lassen.» Ich warf einen Blick auf die Uhr auf meinem Schreibtisch, und während ich meine Augen behutsam mit der Spitze eines Stifts der Marke Faber Nummer Zwei umrandete, die ein wenig stumpf war und deshalb besonders gut malte, sagte ich mir: «Merkwürdig, wie wenig Zeitgefühl Tante Clara hat! Es ist erst sechseinhalb Minuten her, daß ich César Leal habe eintreten hören, und 316
das nennt Tante Clara ‹eine Viertelstunde›! Na schön, selbst wenn sie und Großmama noch zweitausendmal nach mir schicken, werde ich mindestens zehn Minuten auf mich warten lassen: Das ist das absolute Minimum, um die Spannung des Wartenden zu steigern und den Erfolg dessen, der hereinkommt, vorzubereiten!» Als die leichten Augenschatten fertig waren, nahm ich, nur um Zeit zu schinden, nur deshalb, aus der Vase, einer Sèvresimitation, die auf dem Fensterbrett stand, zwei Orchideen, hielt sie mir an die Gürtellinie meines Charmeusekleids und betrachtete mich im Spiegel, um die zarte Farbabstufung zu beurteilen. Ein paar Sekunden lang blickte ich versonnen auf die beiden Orchideen, die kapriziös ihre ätherischen Schmetterlingsflügel auf dem Rosa meiner Taille entfalteten. Und da sie von so unendlich zarter Farbe waren, streckte ich die Hand nach meinem Frisiertisch aus, griff nach einer langen Sicherheitsnadel, steckte die Stiele mit unendlicher Vorsicht, damit die Blüten ja nicht verrutschten, am Kleid fest und fixierte anschließend noch die Blütenblätter mit kleinen Stecknadeln. Dabei stellte ich folgende Überlegungen an:«Ach was...! Warum sollte ich sie mir nicht anstecken? Ach, nein, nein, diese Hindernisse, die der farblichen Harmonie oder anderen Details der Toilette im Weg stehen, sind wirklich ein Ärgernis; am besten kümmere ich mich gar nicht darum, wenn ich perfekt gekleidet sein will. Und überhaupt..., hat César Leal vielleicht das Monopol auf Orchideen, oder tragen Blumen, die er verschenkt, etwa seine Initialen oder sein Monogramm...? Phhh! Ich könnte diese Blumen ja selbst gekauft haben, und in dem Fall hätte ich niemals darauf verzichtet, sie zu tragen, selbst wenn er, der laut Onkel Pancho so verschwenderisch ist, mir ganze Körbe, ja Wagenladungen voller Orchideen geschickt hätte!» Als die beiden Orchideen endlich festsaßen, waren die dreieinhalb Minuten, die von den mindestens zehn Minuten obligatorischer Wartezeit gefehlt hatten, vorbei, und ich machte mich mit leichten Schritten voller geschmeidiger Eleganz, gefolgt von ei317
ner nach Nirvana de Bichara duftenden Wolke, auf den Weg in den Salon, wobei ich mich bemühte, gewichtig und abweisend dreinzublicken wie eine achtbare Frau, die gedenkt, einem Verehrer einen Korb zu geben. Doch... Ach! Es ist schrecklich, was für eine gespannte Erwartung sich in nur zehn Minuten in dem begrenzten Raum eines Salons zwischen vier Anwesenden aufstauen kann. Das hätte ich nie gedacht. Doch es ist so, einfach schrecklich! Es gibt Momente, in denen die Anspannung derer, die warten, wächst und wächst und immer größer, riesig, ja gigantisch wird, ein Ungeheuer, das sich schließlich auf den stürzt, der hereinkommt, um ihn zu verschlingen. So ist es mir ergangen, als ich mit einem wohlkalkulierten bezaubernden Lächeln, das mein Gesicht zum Leuchten brachte, durch die Tür in den Salon trat. Ein Blick genügte mir, um zu wissen, daß die Stimmung mich bereits geschluckt hatte. Ach…! Es herrschte eine gräßlich steife Feierlichkeit. Auf dem Sofa thronte Großmama in ihrem schwarzen Samtkleid mit dem Kragen aus Brüsseler Spitze, das sie äußerst selten trägt. Obendrein hatte sie zur Feier dieses besonderen Tages die feine Schildpattlorgnette aus der Schmuckschatulle hervorgeholt, die von ihrer Hand nun, als sie mich kommen sah, zu den Augen geführt und auf dem Nasenrücken abgesetzt wurde, von wo aus sie mich wie ein Komet mit seinem goldenen Schweif, der obgligatorischen Kette, kritisch anfunkelte. In einem Sessel neben Großmama, gegenüber der Eingangstür, saß gebieterisch und imposant, im Smoking, mit einer Knopfgarnitur aus Rubinen an der Hemdbrust, einer Gardenie im Knopfloch, einparfümiert und mit einem prächtigen Solitär am kleinen Finger der rechten Hand César Leal. Als er mich hereinkommen sah, stand er automatisch auf, und ich fand ihn dermaßen arrogant und förmlich, daß es mir so vorkam, als sei plötzlich, wie durch einen Zauber, ein üppiger Baum, die Äste schwer von Laub und Früchten, aus dem Boden geschossen. Was Tante Clara betraf, so hatte sie sich für ihr ma318
rineblaues Kleid entschieden, das sie, wie Großmama ihr schwarzes Samtgewand, nur zu ganz besonderen Anlässen herausholt, und ohne meine Erscheinung in ihrer Gesamtheit zu beachten, heftete sich ihr Blick, auch ohne Lorgnette, sogleich bohrend auf die Orchideen an meiner Taille. Onkel Eduardo hingegen, der sich wie César Leal bei meinem Anblick erhoben hatte, hielt es für formvollendet und der Situation angemessen, mir entgegenzugehen. Ich weiß noch, wie ich, während er väterlich-galant den Raum durchquerte, über seinen Kopf hinweg zu dem offenen Fenster schaute und hinter dem Gitter den nagelneuen Cadillac stehen sah, ein Gebilde aus Kupfer, Glas, Nickel und poliertem Lack, das im Licht der Straßenlaterne glänzte, und vorn auf der Motorhaube prangte angeberisch ein Bronzeadler mit ausgebreiteten Schwingen. Wie gesagt, es war einfach grauenvoll und traf mich obendrein völlig unvorbereitet, so daß ich spürte, wie meine vornehme Verächtlichkeit und mein vornehmer Hochmut sich in der steifen Feierlichkeit auf der Stelle in nichts auflösten wie ein Klumpen Zucker im Wasser. Schier erdrückt von dem Gefühl, daß diese ganze Förmlichkeit mir galt, ließ ich mich eingeschüchtert und nervös von Onkel Eduardo bei der Hand nehmen, grüßte errötend und mit der unterwürfigen Fügsamkeit einer Angeklagten und nahm neben Großmama auf dem Sofa Platz, mit gefalteten Händen wie in der Schule, ohne daß ich es gewagt hätte, die Beine übereinanderzuschlagen, und mir selbst ob meiner törichten Feigheit zürnend. So kam es, daß ich dank jener rätselhaften Spannungen, die manchmal in der Luft liegen, von der Herrscherin zur Beherrschten, von der Siegerin zur Besiegten, von der Gefängniswärterin zur Gefangenen wurde. Offen gestanden hatte sich in meinem Inneren in blitzartiger Geschwindigkeit eine vollkommene Kehrtwendung vollzogen. Um dieses psychische Phänomen, dessen Ursache ich Tag und Nacht zu ergründen suche, noch besser einzukreisen, reicht die bisherige Erklärung keineswegs aus, und da319
her werde ich nach der orientalischen oder biblischen Methode mit Hilfe einer Parabel oder eines Symbols meinen ungewöhnlichen Fall zu beschreiben versuchen. Ich will einmal veranschaulichen, was geschehen ist: Nehmen wir an, wir befinden uns in Perraults 144 phantastischer Welt und mir schlägt, als ich den Salon betrete, die erwartungsvolle Gespanntheit der Anwesenden im Raum entgegen. Ich bin nicht mehr María Eugenia Alonso, sondern eine verwunschene Prinzessin, ja, die stolze perlmutterne Tochter eines Königs, die, in Brokat, Perlen und Hermelin gehüllt, auf ihrem Elfenbeinthron Platz nehmen will, um der Parade der Prinzen beizuwohnen, die von weither angereist sind und um ihre Gunst buhlen. Doch als die blonde Prinzessin sich souverän lächelnd den Stufen zum Thron nähert und bereits die Schadenfreude zu genießen beginnt, die es ihr bereiten wird, die verliebten Prinzen einen nach dem anderen mit spöttischem Gelächter fortzuschicken, verwandelt sich die verzauberte blonde Prinzessin mit den Perlen und dem Lächeln durch das Einschreiten einer bösen Fee oder die Berührung eines Zauberstabs plötzlich in eine schüchterne, in Lumpen gehüllte, vor einer armseligen Hütte sitzende Schäferin. Da kommt ein mächtiger König, über und über mit Edelsteinen und Geschenken beladen, mit hundert Pagen und hundert Schildknappen im Gefolge zu ihr und sagt:«Arme kleine Schäferin, die du in dieser Hütte haust und den ganzen Tag hinter den Schafen herläufst, willst du meine Frau werden...?» Kurzum, das, was hier im Stil von Perrault oder Calleja145 geschildert wurde, ist mir geschehen, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mag. Wie und warum dieses psychische Phänomen aufgetreten ist, kann ich schwerlich anders erklären als mit diesem albernen kindlichen Gleichnis von der Prinzessin, die sich in eine Schäferin verwandelt. Allerdings ist mir aufgefallen, daß ich die Sache, sooft ich darüber nachdenke, in meiner Verwunderung und meinem absoluten Mangel an kritischer Urteilsfähigkeit nur spontan mit folgenden philosophischen Überlegungen kom320
mentieren kann:«Ach, wie sehr das unendlich Kleine über das unendlich Große herrscht und bestimmt! Und wie rätselhaft die Liebe ist, wie sehr ein Kragen aus Brüsseler Spitze und die zwei blitzenden Gläser einer Schildpattlorgnette mein gesamtes Leben zu wandeln vermögen und womöglich auch die ungeahnten Verbindungen zahlreicher kommender Generationen; welchen Einfluß der betörende Duft einer Gardenie, das Funkeln eines Solitärs am kleinen Finger, eine feierlich durch einen Salon schreitende Gestalt und der Anblick eines Cadillacs haben, der jenseits des offenen Fensters unter dem Lichtbogen einer Straße prächtig glänzt …!» Doch ich merke, daß ich nach alter Gewohnheit vom Thema abkomme, obwohl ich versprochen habe, mich in knappen Worten auf das Wesentliche zu beschränken. Ich verzichte also auf weitere überflüssige Kommentare und kehre zurück zu meinem Bericht: Ich weiß noch, daß mir, als ich neben Großmama auf dem Sofa Platz genommen hatte, zwei Dinge auffielen. Zum einen war nicht zu übersehen, daß César Leal ungeheuer stolz war, mich zum Erröten gebracht zu haben, und daß meine Schüchternheit, die mich selbst so aufbrachte, ihn mit Genugtuung erfüllte und ihn weitaus mehr entzückte als das Charmeusekleid, meine goldenen Locken, die griechische Büste und alle sonstigen Zierden oder Eigenschaften meiner Person. Meine zweite Beobachtung betraf Tante Clara: Ich sah an ihrem Blick, daß sie sich den Kopf über die Orchideen zerbrach. Nicht daß sie die ganze Zeit darauf gestarrt hätte, was nichts bedeutet hätte, nein, kaum war ihr Blick darauf gefallen, da schweifte er schon ab, wanderte durch den Raum und blieb dann an einer Blume auf dem Teppich oder einer Kristallkugel des Kronleuchters haften, während fast unmerklich ein Lächeln über ihre Lippen huschte und sie dreinblickte wie eine Wahrsagerin bei der Auslegung der Zeichen. Da ich nur zu gut verstand, daß sich hinter diesem vagen Blick mindestens der Spruch verbarg, den sie schon am Morgen zweimal wiederholt hatte:«Ich würde 321
schwören, daß er ihr gefällt..., ich würde schwören, daß er ihr gefällt», wurde ich schrecklich nervös und hätte nicht übel Lust gehabt, die Blumen auf der Stelle abzureißen, sie auf den Boden zu werfen, darauf herumzutrampeln und dabei lauthals auszurufen:«Damit du siehst, wie falsch deine Schwüre sind, Tante Clara, und wie lächerlich ich deine Interpretation finde.» Zum Glück liegt meine gute Erziehung immer wachsam auf der Lauer und verhinderte einen derart häßlichen gewaltsamen Ausbruch. Mehr noch, während meine Gehirnzellen in der vorher beschriebenen Weise noch ehrlich gegen Tante Clara aufbegehrten, gab mein Verhalten, auf dem die gute Erziehung sitzt wie der Schmetterling auf der Blume, unverkennbar genau das Gegenteil zu erkennen. Es wirkte nicht anders, als hätte ich beschlossen, mich selbst zu verraten und mich mit Tante Clara auf schäbigste Weise zu verbünden. Ja, Leals majestätische Präsenz, seine gewaltige Stimme, sein tiefschwarzer Blick beherrschten mein äußeres Verhalten wie das Fieber den Körper, wie die starke Hand die Zügel. So verkündeten es die unbezähmbare Schüchternheit, die aus meinen Augen sprach, die Unbeholfenheit meiner Bewegungen, die Röte auf meinen Wangen, und ohne Zweifel muß ich zugeben: Sie waren die ersten aufrichtigen Zeichen meiner Liebe! Wenn das so war, würde jetzt vielleicht ein verwunderter Leser fragen (in dem völlig abwegigen Fall, daß meine Texte Leser fänden), wenn das so war, warum dann diese Widersprüchlichkeit, warum rebellierte der Kopf gegen Tante Claras so richtige Vermutungen? Solch ein durchaus logischer Einwand würde mich anfänglich wohl ein wenig in Verlegenheit bringen, aber ich bin sicher, daß ich mich gewohnt wortreich und geschickt aus der Affäre ziehen würde, indem ich etwa ausriefe:«O wie dunkel und voller Wonnen sind doch die unwegsamen Wälder der Liebe, wo uns der kindliche Cupido, dieser göttliche und schreckliche Verbündete des Schattens, auf seinen Schwanenflügeln schwebend, durchs dichte Geäst trägt. O unergründliche Unwägbarkeiten des Le322
bens! Wie klug und raffiniert sind doch die Ausflüchte des Schicksals...! Ja, ich habe eure Schwingungen um mich herum gespürt wie fliegende Tauben in der Nacht. Und da ich euch ganz nahe sah und euch in mein Herz einließ, damit ihr euer Nest darin errichten konntet, kann ich jetzt aus tiefster Überzeugung sagen: Wenn es um die Zufälle der Liebe geht, hat der weise, wachsame, eifersüchtige und scharfsinnige Verstand immer das Nachsehen. Seine weitblickenden Adleraugen schlafen nur kurz, doch wenn es darum geht, zu erkennen, wo die Spitze von Cupidos Pfeil getroffen hat, sind alle empfindlichen Teile unseres Körpers, selbst die nichtigsten und verschmähtesten, sehr viel hellsichtiger als das ernste, grüblerische Gehirn, das, ähnlich wie es von den betrogenen Ehemännern heißt, immer als letztes merkt, was los ist.» Vormalige Exkurse über die Kurzsichtigkeit und Schwerfälligkeit des Gehirns in Angelegenheiten der Liebe sind nicht nur elegant präsentiert, sondern völlig zutreffend! Und da es mir grundsätzlich nicht liegt, Behauptungen aufzustellen, ohne sie mit einem Beispiel zu belegen, will ich zur Veranschaulichung einen kleinen Zwischenfall schildern, der die möglichen Konflikte zwischen den Prinzipien, die uns unser Intellekt diktiert, und den äußeren Kundgebungen unseres kühnen, ganz und gar ungehorsamen Organismus beleuchtet: Wie ich, glaube ich, bereits erwähnt habe, saß César Leal am Abend seines Besuchs majestätisch in einem Sessel, welcher mir, die ich mich wie eine Angeklagte fühlte, in meiner lächerlichen, unfaßlichen Verschrecktheit wie ein Herrscherthron vorkam. Seine Art der Gesprächsführung paßte zu seiner Erscheinung, sie war unterhaltsam und abwechslungsreich. Er erzählte sehr eloquent von seinen Europareisen; von den Attraktionen von Paris; den Rennen in Longchamp; den Schönheiten Versailles’; vom Louvre, der Venus von Milo, von Isadora Duncan146, Sacha Guitry147, vom Arc de Triomphe mit seinen prachtvollen Verzierungen, unter denen auch Venezuela mit dem unsterblichen Namen Miranda148 auf ruhmreiche Weise verewigt ist. Dann sprach er lange über die Geschichte unseres 323
Heimatlandes, seine unermeßlichen Bodenschätze und das Genie unseres Befreiers149. Schließlich ließ er sich in gewählten Worten über die venezolanische Frau aus und sagte mit vollendeter patriotischer Galanterie:«Unsere Damen sind außergewöhnlich schön und vor allem elegant! Alle, bis hin zu den ärmsten, ja selbst die Mulattinnen haben einen vortrefflichen Geschmack und kleiden sich wie echte Pariserinnen!» Er lobte auch den feinen Witz des Caraqueños, seinen spritzigen Humor, sein Talent für das Ersinnen von Spitznamen; und schließlich erläuterte er, wie es sich für einen Verehrer bei seinem Antrittsbesuch gehört, seine gesunden und gutfundierten Moralvorstellungen, die auf absoluter Keuschheit und einem strengen Verhaltenskodex für die Frau beruhen. Ich fand ihn außerordentlich redegewandt, und, wie zu erwarten, hörte Großmama ihm aufmerksam, ja, ich würde fast sagen mit religiöser Ehrfurcht zu. Als er seine Ausführungen beendet hatte und sie noch einmal folgendermaßen zusammenfaßte:«Ich glaube also, Señora, daß der Mann sich immer wie ein Mann zu verhalten hat und die Frau wie eine Frau!», schoß mir blitzartig der Gedanke an Monsieur de La Palisse150 durch den Kopf, während Großmama ihm aus tiefster Überzeugung beipflichtete:«Ich denke da ganz genau wie Sie!» Unterdessen sagte Onkel Eduardo etwas weiter hinten näselnd:«Eben das predige ich meinen Kindern jeden Tag!» Dies war in etwa der Tenor des unterhaltsamen Gesprächs. Ich meine, Leal immer noch zu hören. Ich weiß noch, wie seine linke Hand, während die Worte leicht wie Wassertropfen aus einer Fontäne aus seinem Mund hervorsprudelten, würdevoll auf der Sessellehne ruhte, indes die rechte in der Luft gestikulierte, wobei der Solitär am kleinen Finger leuchtende Blitze in alle Richtungen sandte. Kurz gesagt: Bei seinem Antrittsbesuch war César Leal würdevoll, unterhaltsam und sehr tiefgründig. Doch irgendwann muß ihm eingefallen sein, daß es bei seiner so eloquenten und vornehmen Darbietung ja eigentlich um meine 324
Person ging; er hielt in seiner abwechslungsreichen Rede inne und dachte einen Moment über mein Stillschweigen nach, als sein Blick auf die beiden blassen Orchideen fiel, die sich an meiner Taille öffneten, woraufhin er mit einem vielsagenden, geheimnisvollen, überaus beunruhigenden Lächeln sagte:«Da ich sehe, Señorita, daß Ihnen die Orchideen gefallen, und ich überdies feststelle, wie hübsch sie an Ihnen aussehen, werde ich mir erlauben, von Zeit zu Zeit welche zu schicken.» Sogleich drängte mich mein Hirn, das Würde mit weiser Voraussicht und rascher Einfallsgabe verband, folgende Replik zu geben:«In der Tat, Doktor Leal: Ich liebe Orchideen! Deshalb bestelle ich sie auch jeden Tag bei einer Floristin. Diese hier hat sie mir heute morgen in aller Frühe aus den Galipán-Gärten gebracht. Als sie eintrafen, sahen sie herrlich aus und vor allem so frisch…!»Doch anstatt zu gehorchen und wortwörtlich diesen eleganten und geschickt gefügten Satz bis zum Ende zu wiederholen, begannen meine Zunge und meine Lippen mit den Worten:«In der Tat, Doktor Leal: Ich liebe Orchideen! Deshalb...»Hier stockte meine Zunge einen Moment lang. Dabei hatte ich das abwegige Gefühl, als laste das gesamte Gewicht der vier Anwesenden auf ihr. Und in meiner großen Verlegenheit, die Leal wieder absolut reizend fand, änderte ich plötzlich die Richtung des Satzes und beendete ihn folgendermaßen:«... und deshalb habe ich mich sehr über Ihre Blumen gefreut; sie waren bezaubernd!»Schließlich fügte ich in Anlehnung an Großmamas Urteil hinzu:«Ich habe um diese Jahreszeit noch nie eine solche Vielfalt an Orchideen gesehen...!» Wie mir Leal, der ein ausgezeichneter Beobachter ist, später versichert hat, verstand er, als er mich an dem Abend auf diese Weise reden hörte, sofort, daß meine Aussage, gepaart mit meiner Verlegenheit, entschieden eine glühende Liebeserklärung war. Ich bin der gleichen Ansicht, zumal die Fakten es später bestätigt haben. Aus diesem Grunde glaube ich, daß obige Anekdote belegt, wie recht ich damit hatte, daß das Gehirn, wenn wir es in 325
den komplizierten Prozessen der Liebe zum Richter ernennen oder als Zeugen vorladen, nur seine Langsamkeit oder Kurzsichtigkeit unter Beweis stellt. Als Leal seinen Besuch an jenem Abend für beendet erklärte, war es bereits nach elf Uhr, und da ich für gewöhnlich um zehn ins Bett gehe, war ich unglaublich müde. Auf dem Weg in mein Zimmer ging ich deshalb an dem Fenster jenes Zimmers vorbei, in dem Großmama und Tante Clara sich entkleideten, ohne ihren Kommentaren Beachtung zu schenken, die sie herunterbeteten wie einen Rosenkranz. Dennoch drang im Bruchteil einer Sekunde wie ein Lufthauch durch den halb geöffneten Fensterladen Tante Claras Stimme an mein Ohr:«… es ist sehr schwer zu erraten, wie sie sich entscheiden wird, denn heute sagt sie grün und morgen rot; nur, sie mag ja noch so unbesonnen sein, aber wenn ein Mädchen sich die Blumen, die ihr ein Verehrer geschenkt hat, ans Kleid heftet …» Ich blieb nicht stehen, um weiter zu lauschen, denn ich war zu müde und wünschte mir nichts sehnlicher, als meinen Kopf auf die herrlich weichen Kissen zu betten... Zwei Tage später schickte Leal wieder einen wunderhübschen Orchideenstrauß, und mit dem Strauß kam ein großes japanisches Lackkästchen vollerBoissier-Pralinen. Als die Schachtel eintraf und ich beim Öffnen die Marke der Pralinen erkannte, fielen mir die lange zurückliegenden Abende ein, an denen Mercedes Galindo, in die unzähligen Kissen ihres türkischen Diwans versunken, mir ihre Pralinenschachtel mit den Worten hingehalten hatte:«Nimm, ma chère, nimm, die sind von Boissier. Ach! Mir kann niemand etwas vormachen, es gibt auf der ganzen Welt keine Pralinen und vor allem keine Fondants151wie die von Boissier...» So lag ich nachmittags mit meinem Buch in dem déshabillé aus cremefarbener Spitze auf dem Bett, den Hals und die Arme mit Nirvana de Bicharaeinparfümiert, betrachtete die zarten Farbnuancen der Blumen, sog ihren betörenden Duft ein und griff ab und zu in meine gläserne Bonbonschale, um eine köstlich sü326
ße, aromatische Praline von Boissier herauszunehmen, die, wie Mercedes zu Recht sagte, die besten der Welt sind! Leal kam in der gleichen Woche noch zweimal vorbei. Seine Besuche, immer von Süßigkeiten oder irgendeiner anderen hübschen Überraschung angekündigt, nahmen unmerklich zu, und ohne den feierlichen Charakter des ersten Tages wurden sie auch unmerklich immer angenehmer. Was mich aber am meisten begeisterte, war der Gedanke, daß meine Kleider, mein Haar, meine Augen und meine griechische Büste endlich eine Daseinsberechtigung erhielten, denn nun gab es jemanden, der all das sah und gebührend bewunderte. Aus diesem Grunde setzte ich alles daran, daß die Bewunderung nicht nachließ, sondern sich möglichst noch steigerte. An den Tagen, an denen Leal seinen Besuch ankündigte, widmete ich mich daher, vom zarten Duft nach Blumen und Parfüm umgeben, mehr als eineinhalb Stunden voller Eifer der delikaten und höchst interessanten Aufgabe, mich anzukleiden und hübsch herzurichten. Meine Sorgfalt wurde immer mehr als belohnt, denn wenn ich zurechtgemacht und parfümiert im Salon erschien, erwartete mich Leal schon voller Ungeduld; er trat auf mich zu und drückte kräftig meine Hand, während seine Augen mich entzückt musterten und sein Mund mir zuraunte:«Heute sehen Sie hübscher aus denn je!» Was das betraf, war ich immer exakt seiner Meinung. Und da zwei Menschen, die die gleichen Ansichten haben, auch die Ideale teilen, und daraus wiederum Respekt und Zuneigung erwächst, begann ich Leal immer mehr zu schätzen und fand das Urteil, das Onkel Pancho über ihn gefällt hatte, völlig unbegründet, ja schlichtweg falsch. Als Onkel Pancho sich eines Tages herausnahm, sich in meinem Beisein über Leal lustig zu machen, entgegnete ich ihm auf der Stelle voller Entrüstung:«Hör mal, Onkel, sei bitte so gut, deine Ansichten über Leal für dich zu behalten, ich will sie nicht mehr hören. Ich finde ihn nämlich hochintelligent, und vor allem hat er einen erlesenen Geschmack! Au-
327
ßerdem ist er mein Freund, und ich möchte nicht, daß du in meiner Gegenwart über ihn lästerst.» So verstrichen noch einige Wochen ohne besondere Vorkommnisse, bis ich in einer herrlichen Mondnacht vor dem Schlafengehen beide Fensterflügel weit öffnete, um die unfaßbare Weite des Himmels zu betrachten. Auf einmal beschlich mich ein ungeheures Gefühl der Unendlichkeit, und ich sagte lächelnd zu dem blassen Mond, als könnte er mein Bekenntnis hören:«Und jetzt, Mond, habe ich auch endlich einen Bräutigam...! Ja, endlich halte ich die Liebe, diese wunderbare, hauchzarte Libelle in Händen, wo sie, gefangen zwischen meinen rosigen Fingerspitzen, mit den Flügeln schlägt... Weißt du noch, wie begierig ich früher einmal hinter ihr hergelaufen bin...? Und weißt du noch, wie sie damals, als ich, ermattet von der Freude, ihr nachzujagen, schon meinte, ihre Flügel wie einen Traum mit den Fingern zu umschließen, einfach auf und davon flog und mich traurig und betrogen zurückließ...? Doch jetzt habe ich diese wundervolle Libelle eingefangen! Ich schätze mich glücklich, sie zu besitzen, und suche freudig alle Geheimnisse, die die Zukunft für mich bereithält, aus dem feinen, filigranen Äderwerk ihrer Flügel herauszulesen. Manchmal allerdings, Mond, wenn ich sie näher, sehr viel näher betrachte, habe ich das Gefühl, als erschrecke mich ihr Anblick... Aber ist es nicht so, daß sich jeder funkelnde Schmetterling, so herrlich er auch sein mag, aus nächster Nähe gesehen vor unseren Augen plötzlich als armer Wurm entpuppt, der sich mit Flügeln schmückt...? Ach, die Flügel, die Flügel, sie sind es, die ich verehre, weißer Mond...! Ja, sie sind es, die zwei wunderschönen Filigrane, durchwirkt von dem Äderwerk meiner wahr gewordenen Illusionen, sie sind es, die mich wie einer deiner Lichtstrahlen zu all den unbekannten Höhepunkten des Lebens forttragen sollen …!» So weit, denke ich, habe ich hinreichend erklärt, was ich mir vorgenommen hatte, als ich zu schreiben anfing; das heißt zum ei328
nen, die Gründe, die mich bewogen haben, meine zwei Jahre lang unterbrochenen täglichen Tagebucheintragungen wiederaufzunehmen; und zum zweiten, unter welchen Umständen und wann die Person meines Bräutigams César Leal, Doktor der Rechte, Senator der Republik und zur Zeit Direktor des Entwicklungsministeriums, in mein Leben getreten ist. Wie ich meines Wissens bereits erwähnt habe, hat mich der Einfluß meines Verlobten in jeglicher Hinsicht positiv verändert. Das ist meine Meinung, mein Empfinden und meine feste Überzeugung. Doch da ich Eigenlob für ungehörig halte, und sei es nur rein privat, will ich mich selbst zurückhalten und an dieser Stelle lediglich wiedergeben, wie sich die Menschen um mich herum über die positive Entwicklung meines Charakters und meiner Tugenden äußern. Großmama etwa sagt in letzter Zeit des öfteren mit in frommer Dankbarkeit erhobenen Händen:«Wie María Eugenia sich verändert hat, mein Gott! Von dem eigenwilligen, schlechterzogenen Mädchen, das sie einmal war, hat sie sich in weniger als zwei Monaten zu einer nachdenklichen, bescheidenen und zurückhaltenden Frau gewandelt! Gott sei Dank macht sie eine so gute Partie. Ich gebe sie in sichere Hände, und wie bereits der alte Simeon sagte, sage auch ich: Jetzt kann ich in Ruhe sterben. »152 Tante Clara ihrerseits meint:«María Eugenia ist gar nicht mehr wiederzuerkennen; ja, sie ist eine völlig andere Person! Endlich hat sie diese Unart abgelegt, den ganzen Tag lang Bücher zu verschlingen, und hält sich lieber in der Küche auf. Ich glaube, sie wird eine ausgezeichnete Hausfrau werden, denn sie hat für alles ein Händchen, aber in der Küche - ach! -, in der Küche ist sie unschlagbar. Ich glaube, es gibt niemanden in Caracas, der gâteaux d’Alsace und Staubgebäck so zart zuzubereiten versteht wie María Eugenia.» Onkel Eduardo wiederum habe ich anläßlich einer der Unterredungen, die er tagtäglich mit Großmama zelebriert, sagen hören:«Ich habe schon immer daran geglaubt, Mama, daß dieses 329
Mädchen seine Launen und sonstigen Unarten ablegen würde, sobald es einen Verlobten hat. Antonio, ihr Vater, hatte eine vollkommen falsche Vorstellung von Erziehung; er hat ihr viel zu viele Freiheiten gelassen. Glücklicherweise wird María Eugenia jetzt unter der Führung eines so fähigen und verständigen Mannes wie Leal nach und nach ihren Freiheitsdrang verlieren, den ich bei einer Frau für äußerst bedenklich halte!» Was Onkel Pancho betrifft, dem es in letzter Zeit zur Manie geworden ist, wie ein schwarzer Falter Unheil zu prophezeien, so hat er gänzlich seinen sprühenden Witz verloren und gibt gern die eine oder andere Torheit von sich, etwa:«Du bist in die Falle gegangen, María Eugenia! Du hast klein beigegeben! Ach, ach, ach...! Jetzt wirst du sehen, wozu du geboren bist...! Verabschiede dich vom polissoir, von Kleidern mit Dekolleté, vom Dolcefarniente und von der Literatur. In spätestens einem Jahr wirst du dein Dasein in einem weißen Pikeehausmantel fristen, eine imposante Oberweite aufweisen und - pfffff! - siebzig Kilo wiegen.» Natürlich schenke ich solch abgedroschenen und völlig haltlosen Prognosen keinerlei Beachtung, noch dazu, da Onkel Pancho nicht die geringste Ahnung von Moral oder von praktischen Lebensfragen hat. Selbstverständlich höre ich nur auf mein Herz und auf Großmamas, Onkel Eduardos und Tante Claras handfeste Argumente, die mir ein Meer von Glück für die Zukunft verheißen. Es ist in der Tat so, daß ich mich mit meinem Verlobten ganz wunderbar verstehe. Ich tue ja auch alles mir mögliche, um ihm gefällig zu sein, und wenn er zufrieden ist, zeigt er mir sein Wohlwollen, indem er mir ständig herrliche Parfüms, entzückende bibelots153 und winzige Kunstgegenstände schenkt und dazu immer ein Meer von Blumen oder haufenweise Boissier-Pralinen. Sind das nicht charmante kleine Aufmerksamkeiten? Ach, ich kann einfach nicht verstehen, wozu Diskussionen, Streitereien und Meinungsverschiedenheiten gut sein sollen. Ich bin eine getreue Verfechterin des friedlichen Miteinanders und werde es 330
immer sein. Ich sehe ja noch ein, daß ich mich manchmal von meinem schlechten Charakter hinreißen lasse und mit Großmama oder Tante Clara streite, wenn auch ohne nennenswerte Folgen, aber... mit meinem Verlobten...? Mich über ihn ärgern...? Nein, nein, nein! So etwas kommt nie vor, zumindest fast nie, das heißt einzig und allein, wenn es nicht mehr anders geht, und auch dann bemühe ich mich immer noch, den Ärger durch möglichst viele mildernde Umstände einzudämmen. Hier ein Beispiel: Mir ist aufgefallen, daß sich mein Bräutigam schon beim bloßen Verdacht, ich könnte geschminkt sein, fürchterlich ereifert. Also versuche ich, ihm gefällig zu sein, indem ich ihm täglich mein Ehrenwort gebe, daß der rosige Schimmer von Guerlain und das Rouge vif de Saint Ange die natürlichen Farben meines Mundes und meiner Wangen sind. Und da ich schon immer der Ansicht war, daß Gott uns die Intelligenz gab, um die Wahrhaftigkeit der Lüge nachzuweisen, da die Wahrhaftigkeit der Wahrheit ja für sich selbst bürgt und nicht auf Vermittlung angewiesen ist, versuche ich, Leal zufriedenzustellen und ihm die natürliche Farbe meiner Lippen eindeutig vor Augen zu führen, indem ich behaupte:«Schau her, die Farbe ist völlig natürlich...», und dann hinzufüge:«Der Beweis ist»- hier presse ich die Lippen fest nach innen, während ich mir rasch mit dem Taschentuch über den Mund wische -,«der Beweis ist, daß sich kein Fleck auf dem Taschentuch zeigt. Siehst du?» Ich habe auch bemerkt, daß mein Verlobter es gar nicht schätzt, mich in meinem rosa Charmeusekleid zu sehen, weil er meint, ich wirkte darin zu theatralisch, und wenn beide Fenster offenstünden, zöge ich die Aufmerksamkeit der Passanten auf mich. Na schön, um ihn auch hierin zufriedenzustellen, trage ich das Charmeusekleid nur unter einem geschickten Vorwand, und zwar jeden Dienstagabend, wenn infolge der Sondervorstellungen, die das Filmtheater nebenan veranstaltet, außergewöhnlich viel Betrieb auf der Straße herrscht und ich die höchstmögliche Anzahl an Bewunderern finde, während sich die Gefahr unange331
nehmer Konsequenzen auf ein Minimum beschränkt, da es sich am darauffolgenden Tag, also am Mittwoch, nicht schickt, Blumen, Süßigkeiten oder bibelots zu schenken. Mir ist auch nicht entgangen, daß mein Verlobter es vorzieht, beim Familiennamen genannt zu werden, weil das Verwenden des Vornamens herausragende Männer in ihrer Gewichtigkeit schmälert. Also gut; natürlich tue ich ihm auch diesen Gefallen und begehe niemals den Fauxpas, etwa zu sagen:«Hör mal, César...», sondern sage immer nur:«Hör mal, Leal...» Kurzum, was Onkel Pancho auch behaupten mag, mein Bräutigam und ich sind uns in allem einig, wir verstehen uns blendend, und ich bin mir sicher, daß wir glücklich sein werden! Was unsere zukünftige Lebensplanung betrifft, kann ich mit Sicherheit nur sagen, daß unsere Hochzeit in zwei oder drei Monaten stattfinden wird, innerhalb der Zeitspanne also, die nötig ist, um das Haus mitsamt Mobiliar fertigzustellen... Ach! Das Haus und die Einrichtung müssen laut Leal, der sie mir jeden Tag in mitreißender Weise, wortreich bis ins Detail, beschreibt, ungeheuer elegant, prachtvoll und luxuriös sein. In zwei oder drei Monaten wird also meine Hochzeit stattfinden. Es wird bestimmt eine herrliche Hochzeit, und mich wird man mit Glückwünschen und Geschenken überhäufen. Aber vor allem werde ich wunderhübsch aussehen. Ja, ich habe mich bereits entschieden: Ich werde ein Brautkleid aus Chantillyspitze tragen, ganz klassisch, mit einer Girlande aus Orangenblüten als einzigem Schmuck und einem Bouquet langstieliger Orchideen, die sich schmachtend über meine schneeweiße rechte Hand ergießen. Ob ich den Schleier auch aus Chantillyspitze in Auftrag geben soll oder aus Tüll, der zwar weniger edel, dafür aber luftiger ist, habe ich noch nicht entschieden...; doch ob aus Spitze oder Tüll: Sobald ich die Kirche betrete, werde ich ihn so tragen, daß er an mir herabfällt wie eine traumhafte Nebelwolke, eine schneeweiße Woge aus Schaum... Ach...! Und apropos, wenn ich hereinkomme, wird das Orchester Mendelssohns Hochzeitsmarsch anstimmen, und ich 332
werde mit meiner langen weißen Schleppe aus Chantillyspitze, die sich weit über den dunklen Teppich ergießt, am Arm von Onkel Pancho, dem es als Papas Bruder gebührt, mich zum Altar zu führen, eine königliche Braut sein... Ich höre förmlich schon das anhaltende«Aaaaaaah...», mit dem die sich rechts und links in der Kirche drängenden Schaulustigen ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen werden, und die Kommentare, die zwar hinter vorgehaltener Hand abgegeben werden, die ich aber sehr wohl höre, denn in solchen Fällen spitze ich die Ohren, obwohl mein Gehör ohnehin schon sehr fein ist. Die Leute werden sagen:«Was für eine bildhübsche Braut...! Sie sieht ja traumhaft aus...! Wie ein Engel...! Wie eine Blume...! Ach, was für ein glücklicher Bräutigam...!» Derlei Kommentare werden kaum übertrieben, sondern ganz objektiv sein und in jeder Hinsicht der Wahrheit entsprechen. Mit den Details meines Brautkleids habe ich mich allerdings noch nicht beschäftigt, denn das wäre zu voreilig; dafür habe ich aber bereits den gesamten Rest meines trousseau 154 in Auftrag gegeben. Erst vor wenigen Tagen habe ich einen Brief an Mercedes Galindo geschrieben und sie gebeten, die Kleider auszuwählen und sie mir aus Paris zu schicken. Was das betrifft, habe ich wohl sehr viel Glück gehabt, denn ich bin mir ganz sicher, daß mein trousseautraumhaft ausfallen wird. Ja, dank Großmamas großzügiger Zugeständnisse wird alles sehr elegant sein, genau nach meinem Geschmack. Ich habe die Szene, als Großmama mir die freudige Mitteilung machte, noch lebhaft vor Augen. Es war an einem Vormittag, als sie wie gewöhnlich in ihrem Korbsessel unter den Palmen im Eingangsflur saß und ihrem harmlosen Laster, der Stickerei frönte. Als ich den Flur am anderen Ende durchquerte, rief sie mich zu sich und sagte:«Komm mal her, María Eugenia, setz dich einen Moment zu mir, ich möchte mir dir reden!» Ich war überzeugt, daß mir wieder eine der üblichen Strafpredigten bevorstand, die für gewöhnlich in etwa folgendermaßen 333
lauten:«Du mußt dich in acht nehmen, wenn du dich hinsetzt, María Eugenia. Gestern abend war dein Kleid so weit hochgerutscht, daß man deine Beine bis zu den Knien sehen konnte, ohne Übertreibung, buchstäblich bis zu den Knien...!» Wie groß war daher mein Erstaunen, als Großmama mich nicht wie erwartet zurechtwies, sondern mir in ernstem und zugleich liebevollem Ton eröffnete:«Doktor Leal will etwa in drei Monaten heiraten, und ich bin einverstanden: Eheschließungen sollte man nicht hinausschieben! Kurzum, mein größter Wunsch ist, daß du einen ordentlichen trousseau bekommst. Ich besitze noch ein paar Smaragdohrringe von meiner Mutter, die ich dir immer schon am Tag deiner Hochzeit schenken wollte, glaube aber, daß es in Anbetracht unserer Verhältnisse und auch weil die Ohrringe sehr altmodisch gearbeitet sind, besser wäre, die Smaragde zu verkaufen, anstatt sie für teures Geld modern umarbeiten zu lassen, und dir den Erlös aus diesem Verkauf zur Verfügung zu stellen, damit du einen hübschen und eleganten trousseau bekommst. Man bietet mir zwanzigtausend Bolívar für die beiden Smaragde, doch bevor ich mich entscheide, möchte ich wissen: Was wäre dir lieber?» Da ich nicht im entferntesten geahnt hatte, daß sich zwischen den vorsintflutlichen Geheimnissen in Großmamas Schrank diese mir zugedachten Smaragde befanden, hatte die Nachricht auf mich eine geradezu magische Wirkung; ich sah auf einmal zwei blitzende grüne Steine vor mir, die wie durch ein Wunder wuchsen und wuchsen, bis sie sich in einen Schwall weißer Spitzen und ein Meer aus rosa Seide verwandelten. Vor lauter Freude ganz von Sinnen, sprang ich auf und rief zutiefst dankbar und glücklich aus:«Danke, danke, danke, allerliebste Großmama!» Dann wollte ich sie umarmen, ging jedoch so stürmisch vor, daß ich, bevor ich bei ihr war, an den Tisch stieß; infolge dieses Zusammenstoßes und meiner Umarmung rutschte ihr die Brille von der Nasenspitze und versank in den Falten ihres Rockes, die Schere fiel auf den Boden, und eine Garnrolle machte sich in 334
Windeseile davon, um unter den Blättern eines Farns zu verschwinden. Erst als ich ihr in dieser Weise meine Dankbarkeit gezeigt und die heruntergefallenen Sachen auf Knien wieder aufgesammelt hatte, beantwortete ich ihre Frage:«Ach, Großmama! Natürlich wäre es mir lieber, du würdest die Smaragde verkaufen und mir das Geld geben. Das wäre fabelhaft! Dann könnte ich einen trousseau in Paris ordern, ganz aus rosa Seide mit handgemachter Spitze und weißen Borten...! Ach, ach, ach...! Wie herrlich...! Das habe ich mir schon mein Leben lang gewünscht: einen trousseau aus Seide…! Einen trousseau aus Seide...!» «Du und deine Überspanntheiten, María Eugenia! »sagte Großmama, während sie auf ihrem Schoß verzweifelt nach der Nadel suchte, die ihr zusammen mit der Brille, der Schere und dem Garn heruntergefallen war.«Einen trousseau aus Seide...? Seidene Unterwäsche! Auf gar keinen Fall! Das ist weder schicklich noch praktisch! Weiße Leinenwäsche mit Spitzen und Stickerei ist viel vernünftiger und schöner. Außerdem, die Waschfrauen…» «Ach Großmama, um Himmels willen, wenn du mir auch das noch verbietest und mich zwingst, mit Spitzen und Stickerei verzierte Leinenwäsche in Auftrag zu geben wie zu María Castañas Zeiten 155, verkaufst du die Smaragde besser nicht... Dann bestelle ich lieber gar nichts in Paris... Ach, dann schenkst du mir besser gar nichts! Dann heirate ich lieber überhaupt nicht...!» Meine Stimme muß derart pathetisch geklungen und meine am Boden kauernde Gestalt derart mitleiderregend ausgesehen haben, daß Großmamas Herz sich erweichen ließ, denn zum erstenmal im Leben gab sie meinem Wunsch nach und sagte:«Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, María Eugenia, siehst du nichts anderes mehr und weißt kaum noch, was du sagst. Was bist du für ein Dickschädel! Ich dachte, du hättest dich gebessert, doch zu meinem Bedauern muß ich feststellen, daß ich mich getäuscht habe. Na schön, ich werde dir das Geld geben, und du 335
kannst damit machen, was du willst, denn ich habe beschlossen, nicht mehr mit dir zu streiten. Aber du wirst schon sehen, du wirst sehen, was die Wäscherinnen dir für ein Theater machen werden wegen deiner Seidenwäsche. Du wirst noch an mich denken, aber leider wird es dann zu spät sein!» Es erübrigt sich wohl, zu erwähnen, daß ich noch am selben Abend an Mercedes Galindo geschrieben und sie gebeten habe, mir eine komplette Wäscheausstattung aus blaßrosa Seide mit weißer Spitze und Stickerei auszusuchen,«so als sei es für sie selbst». Nun ja, ich weiß nicht warum, aber meinen Verlobten hat es ziemlich verärgert, daß ich meine Aussteuer in Paris bestellt habe. Als ich ihn freudig davon in Kenntnis setzte, reagierte er äußerst frostig, wobei sein einziger Kommentar lautete:«Ich hoffe, die Kleider sind nicht zu weit ausgeschnitten, denn in dem Fall kannst du sie gleich vergessen. Ich werde niemals dulden, daß meine Frau Dekolleté trägt!» «Ja aber», fragte ich, den Tränen nahe,«soll ich auf die Bälle oder ins Theater etwa auch hochgeschlossen gehen...?» «Denk nicht ständig nur an Bälle!»erwiderte er gereizt. Und dann fügte er, den Kopf nachdenklich auf die Fingerknöchel seiner linken Hand gestützt, an der der Solitär funkelte wie nie, hinzu:«Was hat eine verheiratete Frau auf einem Ball zu suchen? Ein Mann, der seine Ehefrau dem Publikum vorführt, macht sich doch vollkommen unmöglich!» Bei jemand anderem hätte ich auf eine solche Äußerung auf der Stelle erwidert:«Was interessiert mich das Publikum? Wir sind doch keine Truppe von Komikern! Wichtig ist doch nur, daß man sich wohl fühlt und sich amüsiert, zum Teufel noch mal!» Da es sich in diesem Fall aber um Leal handelte, hütete ich mich, derartige Gedanken zu äußern, und schon gar nicht in dieser respektlosen Weise, mit geistreichen Wortspielen, denn wie gesagt, es behagt mir keineswegs, einem Verlobten zu widersprechen, der mich so innig liebt. Angesichts meiner schweigenden Zustimmung kam Leal mir ein wenig entgegen, indem er fort336
fuhr:«Im Theater kann man geringfügig halsferne Kleider tragen, aber Dekolleté: niemals!»Und erneut:«Der Ehemann, der sich mit seiner praktisch nackten Frau ins Publikum setzt, macht sich doch zum Hanswurst!» Jetzt wagte ich doch etwas einzuwenden, indem ich ihm ganz behutsam erklärte:«Ich meine doch nicht nackt... Nun ja, mit einem leicht ausgeschnittenen Kleid, ganz leicht, wie alle Frauen mit Geschmack.» «Nein, nein, nein! Ich werde niemals zulassen, daß meine Frau einen Ausschnitt trägt..., und wenn es noch so chic ist!» Bei dem Wort«chic»wurde seine Stimme auf eine so unangenehme Weise schrill, daß ich auf der Stelle einsah, wie verächtlich und auch gefährlich irdische Eitelkeiten sind. Bei dieser und zahlreichen anderen Gelegenheiten, bei denen mein Bräutigam nicht minder eloquent war, habe ich Leals großes Interesse an mir bemerkt; mir ist außerdem aufgefallen, wie sehr es ihm widerstrebt, wenn ich irgendeine nicht von ihm angeregte Initiative ergreife, und noch mehr, wenn ich an etwas Freude habe, das nicht von ihm kommt, und sei es noch so unbedeutend. Großmama, der diese Eigenarten ebensowenig entgangen sind wie mir, schätzt sie außerordentlich, genau wie ich, denn sie sagt ständig:«Leal gefällt mir von Tag zu Tag besser. Was für ein loyaler Charakter, und wie er sich um María Eugenia sorgt! Man sieht, daß er sie aufrichtig liebt. Ach, die Ehemänner, die ihren Frauen völlige Freiheit gewähren, die nicht auf sie aufpassen und nicht auf die kleinen Dinge achten, die das Leben ausmachen, beweisen dadurch nur ihren Mangel an Liebe und Respekt.» Und Tante Clara, die die gleichen Bobachtungen gemacht hat, pflegt zu sagen:«Was für ein Glück du hast, María Eugenia, Leal betet dich an! Du mußt ihm immer gefällig sein und vor allem Gott danken, daß er dir einen so guten Bräutigam geschenkt hat. Glaub ja nicht, alle seien so. Ach, du Glückliche, wenn Leal dich tatsächlich zur Frau nimmt - er, der so viele Mädchen hat sitzenlassen! » 337
Wie Tante Clara stehe auch ich staunend vor meinem ungeheuren Glück. Ich kann es kaum fassen und fühle mich angesichts seiner Gewaltigkeit klein und schwach, ja winzig, und... Wie eigenartig...! Ich, die ich noch vor zwei Jahren sehnsüchtig auf die Liebe wartete, die ich sie auf Knien erflehte wie der Erzengel die Verkündigung, fühle mich jetzt, da ich sie gefunden habe, da ich sie aus nächster Nähe sehe, von Angesicht zu Angesicht, wie geblendet von ihrem strahlenden Glanz; ihre majestätische Ungeheuerlichkeit erdrückt mich, und oft, wenn ich mich setze, um mich von meiner tiefen Verwunderung zu erholen, höre ich eine geheimnisvolle Stimme, die mir ganz leise folgenden haltlosen Unsinn ins Ohr raunt:«Ach, wie glücklich die Unglücklichen, denen das Schicksal den Schatz der Liebe verwehrt hat; wie glücklich die, die hübsch sind und trotz ihres Unglücks stets auf Bällen tanzen und mit Dekolleté ins Theater gehen können!»
KAPITEL II Nachdem sie drei Tage lang auf der Karavelle ihrer eigenen Erfahrung gesegelt ist, macht María Eugenia Alonso schließlich eine wichtige Entdeckung. Ich halte es nicht länger aus, ich muß dringend folgende weise Erkenntnis loswerden, denn sonst geht mir das Herz über:«Die Liebe existiert nicht.» Ja, leider Gottes ist die Liebe, die blühende Liebe, die vielgerühmte Liebe: nichts! Wie bei so vielen anderen frommen Lügen ist ihr strahlender Glanz eine reine Fata Morgana, die von weitem in der kargen Wüste unseres Lebens leuchtet. Seit ich diese grausame Wahrheit entdeckt habe, verachte ich die menschliche Existenz zutiefst und wäre tausendmal lieber als Fels, See oder Ab338
grund geboren, alles Dinge, die ewig, unverrückbar und großartig und somit in der vorteilhaften Lage sind, sich niemals zu langweilen, die vor allem nicht von dieser lächerlichen Sehnsucht nach Liebe geplagt werden, welche, wie gesagt, ein Irrlicht und eine Utopie ist wie El Dorado. Da kaum zu erwarten ist, daß Großmama oder irgend jemand sonst auf Zehenspitzen hereinschleichen wird, um mir über die Schulter zu blikken und nachzulesen, was ich hier aufzuschreiben gedenke, denn das würde mich in furchtbare Konflikte stürzen, will ich erklären, wie ich zu der traurigen, ja deprimierenden Erkenntnis gelangt bin, daß die Liebe nichts ist oder, um es noch deutlicher zu sagen: daß die Liebe weniger als nichts und vor allem weitaus schlimmer als nichts ist. Ich will es rückhaltlos und ohne Umstände frei heraus erklären. In den Besitz dieser unumstößlichen Wahrheit, die ich nunmehr vertrete, daß nämlich die Liebe gar nicht existiert, bin ich gelangt, weil mein Verlobter mich geküßt hat; und ich habe ihn zurückgeküßt, nicht nur einmal - was für eine Beurteilung nicht ausreichen würde -, nein, mindestens zweimal..., nein, nein, ich will ehrlich sein, ich glaube, es waren sogar... drei Male..., ein Trio oder Triptychon der Küsse, was in puncto Erfahrung bereits eine respektable Ausbeute ist und allemal genügt, um sich ein Urteil zu bilden. Ach! Wenn ich bedenke, daß die Dichter Verse über Verse geschrieben haben, um die süßen Wonnen des Kusses zu preisen! Der Gedanke, daß Bécquer zum Beispiel mit dieser herrlich aufwühlenden Leidenschaft, an die ich in meiner Ahnungslosigkeit geglaubt habe, schrieb:«... Für einen Kuß, ich weiß nicht, was ich gäbe für einen Kuß!»156 Oder Rostand, der zu dem Thema eine wunderbare, bewegende Balkonszene zwischen Roxane, Christian und dem armen Cyrano entwarf, wobei meiner Ansicht nach Cyrano der Glücklichste von den dreien war, da er nicht hinaufstieg, um sich einen Kuß von Roxane zu holen, weshalb er sich bis zum Schluß seine Illusionen 339
bewahren konnte, hatte er doch gar nicht erst die Gelegenheit, diese schreckliche Enttäuschung zu erleben, die ich heute erlebt habe.157 Der Kuß! Ach, das sage ich jetzt und werde es mein Leben lang wiederholen, der Kuß,«dieses Geheimnis der Liebe, das den Mund für ein Ohr hält»,158ist nichts, absolut nichts Weltbewegendes! Der erste Kuß ist noch mit dem Reiz des Unbekannten, dem Schrecken des Verbotenen, der Scham des Ungehörigen behaftet, doch wenn diese Scham, dieser Schrecken, dieser Reiz erst einmal vergangen sind, bleibt für die nachfolgenden Küsse nichts, rein gar nichts mehr übrig...! Was als einziges bleibt, ist etwas..., etwas äußerst Unangenehmes... Ach, wenn es wenigstens nicht dieses fürchterliche Laster der Zigarre gäbe, wenn die Männer nicht diese Manie hätten, den Schnurrbart im amerikanischen Stil zu tragen, hart und stachelig wie diese Bürsten zum Striegeln der Pferde, dann..., dann könnte ich noch verstehen, daß zumindest einige Menschen auf die Idee verfallen, das Küssen zu rühmen...! Ach, und wenn sich dann nicht noch zu der Zigarre und der Pferdebürste die schreckliche Angst gesellte, man könnte mit dem Rouge vif de Saint Ange auffliegen... Daher erkläre ich hier zum zweitenmal feierlich: Ich werde das Küssen niemals lobpreisen. Ich bin mir vollkommen sicher, daß es eine geschmacklose Erfindung ist, die uns der Gefahr aussetzt, von einer dritten Person ertappt zu werden, was uns mindestens der Lächerlichkeit preisgeben würde; überdies halte ich es auch für einen äußerst eintönigen, und wenn es zur Gewohnheit wird, äußerst unhygienischen Zeitvertreib. Dank der natürlichen Langsamkeit, mit der mein Verstand arbeitet, machte ich mir diese Gedanken erst zwei Tage, nachdem ich den ersten Kuß von den Lippen meines Verlobten erhalten hatte. Tatsache ist jedoch auch, daß ich, sobald ich mir über all diese Dinge klargeworden war, mit der mir eigenen Tatkraft unverzüglich beschloß, der ebenso enttäuschenden wie unhygienischen Praxis ein Ende zu setzen. Noch am selben Abend machte 340
ich mich besonders sorgfältig zurecht und sagte Leal, als ich ihn begrüßt und wie üblich neben ihm auf dem dunkelblauen Damastsofa Platz genommen hatte, in würdevoller Strenge:«Leal, mir ist sehr wohl bekannt, daß eine tugendhafte Frau niemals einen Mann küssen darf, mit dem sie noch nicht verheiratet ist. Schon seit zwei Tagen verletze ich abends meine Pflicht, und da meine Gewissensbisse mich nicht mehr schlafen lassen und ich dir und mir selbst überdies beweisen will, daß ich jetzt und in Zukunft der Versuchung widerstehen kann, werde ich dir keinen Kuß mehr geben, selbst wenn du mich auf Knien darum bittest! » Vergeblich redete mein Verlobter mit den sanftesten und verführerischsten Schmeicheleien seines Liebeswortschatzes auf mich ein; vergeblich berief er sich anschließend auf seine Autorität, ermahnte mich streng und behauptete, ich hätte kein Recht, derartige Ansichten zu äußern, da ich mich weder in Fragen der Moral noch in sonstigen Angelegenheiten jemals von anderen Kriterien leiten lassen dürfe als den seinen. Doch ob sanft oder energisch vorgebracht, all sein Argumentieren war vergeblich. Zum erstenmal gehorchte ich ihm nicht und entgegnete in würdevoller Theatralik:«Nein, nein, nein! Ich möchte, daß du mich achtest! Ich möchte, daß du auch künftig deiner Frau vertraust! Und damit du siehst, wie ernst es mir ist und wie standhaft ich meine Tugend verteidige, werde ich augenblicklich Abstand zwischen uns schaffen.» Ich stand auf, ging zu Tante Clara hinüber, die diskret mit dem Rücken zu uns im hellen Licht des Kronleuchters strickte, und sagte zu ihr:«Aber Tante, du sitzt jeden Abend hier mitten im Raum, wo es zieht, du wirst dich noch erkälten und dir im schlimmsten Fall eine Lungenentzündung holen! Ich finde, du solltest dort gegenüber von uns in Großmamas Sessel Platz nehmen. Ich werde die Stehlampe einschalten, damit du im grünen Licht des Lampenschirms stricken kannst, das viel besser für die Augen ist.»
341
Und Tante Clara, die seit einigen Abenden, während Großmama schon schläft, im Salon aufpaßt, solange Leal zu Besuch ist, erhob sich, kaum daß ich ausgeredet hatte, und sagte:«Du hast recht!» Sie ließ sich in Großmamas Sessel nieder, knipste die Stehlampe an, warf uns Brautleuten einen forschenden Blick zu, nahm nach einem langen Seufzer erneut die beinernen Stricknadeln zur Hand und strickte weiter. Ich bin noch heute wie an jenem Tag fest davon überzeugt, daß mit dem tiefen Seufzer, der ihrem Mund entfuhr, sekundenlang auch die unsichtbaren Atome ihrer Gedanken durch den Raum schwebten, die in etwa folgendermaßen gelautet haben müssen:«Auch wir saßen einmal dort auf dem blauen Damastsofa..., und es gab Tage, da saß in der Ecke uns gegenüber... niemand!» Ich glaube, daß so in etwa Tante Claras Gedanken lauteten, denn sobald sich im Licht des grünen Schirms die beinernen Nadeln in ihren Fingern wieder bewegten, während das Wollknäuel kurz über ihren Schoß rollte und dann auf dem dunklen Teppich am Boden landete, stieg, ich weiß nicht warum, allmählich, ganz vage aus meiner Erinnerung eine angenehme Szene aus längst vergangenen Zeiten auf... Plötzlich fühlte ich mich wieder klein und hockte mit dem Rücken zum Damastsofa am Boden, genau dort, wo sich jetzt das Wollknäuel weiß vom dunklen Teppich abhob..., vor meinen Füßen die weiße Reihe der Papierhähne, die mir Tante Claras Bräutigam gebastelt hatte..., ja, Tante Claras Bräutigam! Der nette fremde Herr auf dem Damastsofa hinter mir unterhielt sich stundenlang ganz leise mit ihr, was sehr mysteriös war, und ab und zu gab es lange Redepausen, die noch viel mysteriöser waren... Heute, nach fünfzehn Jahren, befand sich das Wollknäuel dort, wo ich früher gehockt hatte, und anstelle von Tante Clara und ihrem Bräutigam saßen jetzt mein Bräutigam und ich hier... «Ach!»dachte ich voller Wehmut.«Das Leben ist wie ein Baum, der sich ständig belaubt und entlaubt, und an den gleichen 342
Stellen wachsen im monotonen Rhythmus der Zeitläufte immer neue Blätter nach.» Diese Gedanken überfluteten meine Seele wie eine Woge. Nicht nur um mich zu erleichtern, sondern auch um Leals schlechte Laune zu vertreiben, wandte ich mich an meinen mißmutig schweigenden Bräutigam, sprach vom Zauber der Lyrik und schlug ihm vor, das ergreifende Nocturne von Silva zu rezitieren:«Eines Nachts, eines Nachts, erfüllt von Duft, Gemurmel und schwebender Musik...»159 Doch noch verärgerter als zuvor fiel er mir brüsk ins Wort und stimmte einen ausführlichen, gebieterischen Monolog an, der, in wenigen Worten zusammengefaßt, in etwa folgendes besagte: Er haßt jede Art von Romantik; er haßt Rezitationen; doch am allermeisten haßt er Frauen, die wie ich die Oberschule besucht haben und sich für klug halten; er ist der Meinung, der Kopf einer Frau sei mehr oder weniger ein schmückendes Beiwerk, innen vollkommen hohl und allein dazu da, den Männern einen hübschen Anblick zu bieten, ausgestattet mit einem Paar Ohren, die nur dem Zweck dienen, die Anweisungen der Männer aufzunehmen und zu sammeln; und nicht zuletzt hält er es für unverzichtbar, daß eben dieses Schmuckstück langes Haar trägt, denn so hat es bereits die weise Philosophie Schopenhauers vorgeschrieben. 160 Die Anspielung auf Schopenhauer stammt allerdings nicht von Leal, denn er erwähnte ihn gar nicht, sondern von mir, und ich habe sie aus dem folgenden unwiderruflichen Befehl abgeleitet, mit dem er seinen Monolog abschloß:«... und noch ein Letztes: Ich will nicht, daß du weiterhin das Haar kurz trägst! Ebensowenig wie die Schminke schickt sich kurzes Haar für anständige Frauen …!» Sowohl diese letzten als auch die vorherigen entschiedenen Ansichten Leals ließen mich für einen Moment vor Erstaunen und Enttäuschung verstummen. Der Gedanke, meine beiden geliebten kurzen Haarsträhnen zu opfern, Schmuck meiner Schläfen 343
und ewige Beschäftigung für meine Hände, betrübte mich sehr, doch noch mehr betrübte mich die Vorstellung, daß ich unermüdlich gelesen und gelernt hatte, um mich zu bilden und auf diese Weise an Zierde oder Attraktivität zu gewinnen, und plötzlich sollte es weder eine Zierde noch attraktiv, sondern, wie Leal soeben mit Entschiedenheit erklärt hatte, bei einer Frau von Nachteil, häßlich und schockierend sein:«Eine Frau mit höherer Schulbildung!» «Ach, welch schrecklicher Konflikt», dachte ich verzweifelt, während ich kleinlaut und brav auf meiner Sofahälfte saß.«Wie soll ich denn meinen Kopf von dem in mehr als zwei Jahren angehäuften Lektürewirrwarr säubern, der in Form nebulöser Informationen auf ewig in ihm umherschwirren wird?» Während ich mit weit offenen Augen auf das Wollknäuel starrte, das am Ende des Fadens, angetrieben von Tante Claras eifrigen Fingern, unmerklich über den dunklen Teppich hüpfte, dachte ich darüber nach, daß die Ignoranz letztlich weitaus liberaler ist als die Weisheit, da ein Unwissender immer noch weise werden, ein Weiser hingegen niemals mehr unwissend werden kann. Eine Minute lang befiel mich die Sehnsucht nach den unwiederbringlich verlorenen Dingen, und ich sagte mir seufzend:«Ach, die unendliche Traurigkeit des Endgültigen! Was würde ich jetzt dafür geben, wenn ich den verlorenen Schatz meiner Unwissenheit wiedererlangen könnte, nur um Leal zu gefallen...!» Doch schließlich tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß es mir zwar nicht mehr möglich war, besagten Schatz zurückzugewinnen, daß mir aber immer noch der Ausweg blieb, so zu tun, als besäße ich ihn. Diese Lösung machte mich sehr zufrieden, nicht nur, weil sie den Konflikt löste, sondern weil sie mich auch an meine große Begabung erinnerte, mich zu verstellen, was, weit davon entfernt, ein Fehler zu sein, wie allgemein angenommen, vielmehr ein Zeichen von Talent ist und ein untrüglicher Beweis dafür, daß ich zu einer brillanten Karriere in der wunderbaren Theaterkunst fähig gewesen wäre, welche in meinen Augen die 344
erhabenste aller Künste ist. Und so, im Gedanken an mein Talent, das mich, gepaart mit meiner Schönheit, vielleicht, ja vielleicht bis ganz nach oben, auf die Höhe einer Sarah Bernhardt oder einer Duse hätte bringen können,161 fühlte ich mich wieder erstaunlich gut gelaunt; daher wandte ich frohgemut die Augen von dem Wollknäuel ab und heftete sie auf meinen Bräutigam, um ihm mit Blicken und lustigen Grimassen zu verstehen zu geben, daß Tante Clara uns schrecklich störe, mich fürchterlich mein Gewissen plage und es mir in der Seele leid tue, ihm nicht zu Willen gewesen zu sein. Doch anstatt seinen Ärger zu besänftigen, schienen diese Zeichen ihn nur noch mehr zu erzürnen, und zwar so sehr, daß Leal, wie ich inzwischen glaube, neben mir auf dem Damastsofa nicht übel Lust gehabt hätte, mich zu schlagen, wenn er mich schon nicht küssen durfte. Da beides ebenso unangenehm wie unmöglich war, fand ich meine Situation äußerst interessant, entfaltete noch ungehemmter mein gesamtes Repertoire an Grimassen und zwinkerte und lächelte nach Herzenslust. Wenn ich mich dabei auch leider nicht im Spiegel beobachten konnte, war mir doch klar, daß alle, ausnahmslos alle meine Gesichtsausdrücke äußerst raffiniert und spitzbübisch waren und es verdient hätten, nicht im Wohnzimmer und nur einer einzigen Person vorgeführt zu werden, sondern in einem Großstadttheater vor einer prunkvollen Kulisse, in einem wunderschönen Ballkleid, vor zahlreichen intelligenten Zuschauern. Seit jenem Abend hat mein Verlobter mich nie mehr geküßt. Dafür hat er aber unseren Hochzeitstermin vorgezogen und überschüttet mich tagtäglich mit allen möglichen Regeln, Verboten und Befehlen. Ich halte sie wie die Küsse für einen klaren Beweis seiner Liebe, nehme sie respektvoll entgegen und befolge sie willig. Tante Clara, der diese gegenseitigen Bezeugungen unserer Zuneigung nicht entgangen sind, versteht sie mit ihrem natürlichen Sinn für derlei Dinge und meint:«Ja, Leal liebt María Eugenia, und María Eugenia himmelt Leal an. Sie sieht alles nur noch mit seinen Augen! Nie hätte ich gedacht, daß sie sich so sehr ver345
lieben könnte. Andererseits ist es gar nicht verwunderlich; anscheinend hat er einen Charme..., etwas ganz Besonderes, das die Frauen anzieht, denn alle, ausnahmslos alle beten ihn an!» Onkel Pancho hingegen, dessen ständige Taktlosigkeiten sich mit jedem Besuch häufen, mißfallen diese Beweise meiner Willfährigkeit und Zuneigung gegenüber meinem Verlobten, und er gerät jedesmal außer sich. Er bleibt bei seiner Methode, wie ein schwarzer Falter Schreckliches zu prophezeien, und bereitet mir Schwierigkeiten, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet. Nun, und da Onkel Pancho, wie ich wohl schon erwähnt habe, seinen früheren Sinn für Humor völlig verloren hat, macht er nur noch plumpe Scherze, die so albern sind, daß man überhaupt nicht darüber lachen kann. Zur Verdeutlichung, also um zu zeigen, wie wenig komisch Onkel Pancho ist, will ich ein paar Beispiele anführen: Vorgestern so gegen zehn Uhr morgens stehe ich einen Meter von einem Stuhl entfernt im Eßzimmer und bin damit beschäftigt, Schnüre zu knüpfen, denn ein paar Unterkleider aus Mailänder Seide, die ich kürzlich für die Aussteuer gekauft habe, sitzen am Dekolleté ein wenig zu locker, so daß ich sie mit einer Schnur oder einem Band enger machen muß, damit sie mir besser passen. Ich bin ganz in meine Arbeit versunken, als plötzlich Onkel Pancho das Eßzimmer betritt, sich hinsetzt und fragt:«Was machst du denn da, María Eugenia, Fäden an diesen Stuhl knüpfen, als wärst du eine Spinne?» «Das siehst du doch…! Ich mache Seidenschnüre für meine Unterkleider aus Mailänder Seide, denn die sind mir zu weit.» «Sie sind dir zu weit...? Ach ja...? Also hör mal, wenn ich dir einen Rat geben soll: Ich an deiner Stelle würde nicht versuchen, sie enger zu machen, sondern eher weiter, und zwar so weit wie möglich. Nach einiger Zeit werden sie dir nämlich nicht mehr passen, María Eugenia. Ich schätze mal, daß du so um die fünf Kilo pro Monat zunehmen wirst, bis du die obligatorischen achtzig Kilo wiegst.» 346
Die Antwort auf diese Unverschämtheit, die das üblicherweise prophezeite Gewicht noch um zehn Kilogramm überschritt, ist absolutes Schweigen seitens María Eugenias. Die Fäden kreisen weiter zwischen ihren Fingerspitzen, und der Stuhl ruckt leicht im Rhythmus ihrer Arbeit und ihrer Wut. Nach einer Weile:«Wann findet die Hochzeit denn nun statt?» «Sehr bald...! Sobald das Haus fertig eingerichtet ist. Sie machen es wunderhübsch.» «Ach ja...? Ich sehe sie förmlich schon vor mir, die Einrichtung. Im Schlafzimmer werden ein paar Cupidos durch die Luft jagen, und im Patio wird sich eine riesige Landschaft in Grün und Blau über die gesamte Wand erstrecken, die Meer und Himmel darstellen soll...» Erneut keinerlei Reaktion, nichts: Schweigen! Dann plötzlich:«Hör mal, da du gerade mit diesem Band fertig bist, gib mir doch bitte, bevor du mit dem nächsten anfängst, einen Schluck Brandy, sei so lieb!» Da ich nicht nachtragend bin, bringe ich ihm einen Brandy, doch dazu noch etwas anderes! Es ist die Tageszeitung, die Leals neuesten Artikel bringt und denselben über den grünen Klee lobt. Als Onkel Pancho den Brandy geleert hat, breite ich die Zeitung auf dem Tisch vor ihm aus und sage triumphierend:«Schau mal; lies, was hier über diesen Artikel steht, und lies dann den Artikel selbst...! Hier: ‹weiter auf Seite zwei›»- umgeblättert -,«‹weiter auf Seite drei›»- umgeblättert -,«und ‹weiter auf Seite fünf›»umgeblättert -.«Na los, Onkel Pancho, lies, lies schon!» Doch anstatt sich die Brille aufzusetzen und zu lesen, verstummt Onkel Pancho für eine Weile, blickt dann plötzlich auf und fragt mich, zuckersüß, in Beichtvaterpose:«Sag mir die Wahrheit, María Eugenia: Hast du ihn so gelesen, indem du zur zweiten Seite weitergeblättert hast, dann zur dritten und schließlich zur fünften?»
347
«Nein. Ich habe ihn überhaupt nicht gelesen, denn du weißt doch genau, daß ich viel zu sehr mit den Bändern beschäftigt bin. Ich habe noch nicht die Zeit gehabt.» «Na schön, dir zu Gefallen werde ich den ganzen Artikel lesen, aber nur unter der Bedingung, daß du zuerst in vier oder fünf Sekunden - nicht mehr! - dieses Fläschchen mit Rubinatwasser hinunterkippst, das dort drüben steht.» Dabei zeigt er auf das gallebittere Abführmittel, das Tante Clara an jenem Morgen trinken wollte und bei dessen Anblick es mich schaudert und mir vor Ekel ganz übel und schwindelig wird. Jetzt frage ich: Ist an dieser Antwort vielleicht irgend etwas witzig...? Ist sie geistreich...? Hat sie Esprit...? Natürlich nicht! Was Großmama und überhaupt alle sagen, ist mehr als offensichtlich: Onkel Pancho geht jeder Sinn für Moral oder für das Praktische ab, und vor allem kennt er nicht den Unterschied zwischen dem, was schicklich und gut, und dem, was unschicklich und daher schlecht ist. Noch ein Beispiel von neulich: Vor etwa zwei Tagen saß Leal während seines abendlichen Besuchs neben mir auf dem Damastsofa und unterhielt sich gerade nicht mit mir, sondern mit Onkel Eduardo und Onkel Pancho, da die Themen, um die es ging, absolut nicht in mein Ressort fielen. Das Gespräch hatte damit begonnen, daß er über den Zusammenhang zwischen Mystizismus und der weiblichen Mentalität redete:«Die Religion ist für eine Frau ganz und gar unverzichtbar, und keine Frau hat das Recht zu sagen, sie sei nicht gläubig..., denn was versteht sie schon von Metaphysik, Biologie, Lamarcks Theorien, von Laplace und seinem kosmogonischen System oder gar von Einsteins neuen Ideen und alledem...? 162 Ich zum Beispiel glaube nicht, ich bin ein reiner Materialist, das stimmt schon, aber warum bin ich Materialist...? Nun, weil ich meine Gründe habe...! Ich denke; ich habe sehr intensiv studiert; ich überlege; ich verfüge über eine gewisse geistige Kapazität; ich habe mein System; ich habe meine spezielle Methode; ich habe mein... und so weiter...» 348
Inzwischen sprach er über Literatur, Rhetorik, Politik und hatte gerade vorgeschlagen, ein Stück aus seiner Rede vorzulesen, die er dieser Tage vor dem Senat halten wollte. Irgendwann im Laufe der Unterhaltung kamen auch Dante und sein Werk zur Sprache. Selbstverständlich behielt ich meine Meinung darüber für mich und schwieg diskret, wie ich es mir zur Devise gemacht hatte, womit ich zu verstehen gab, daß ich mit dem Wort «Dante» absolut nichts anfangen konnte. Doch anstatt sich um sich selbst und seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, wartete Onkel Pancho ab, bis alle schwiegen, und fragte mich dann mit Stentorstimme163:«Seit wann trägst du eigentlich nichts mehr aus dem Dante vor, María Eugenia?» «Dante?»fragte ich befremdet.«Ich weiß nicht, wovon du redest, Onkel Pancho!» «Das heißt also, daß du uns jetzt weismachen willst, du hättest Dante niemals gelesen, nachdem du uns letztes Jahr ständig mit deinem peniblen Wissen über ‹Die Göttliche Komödie› behelligt hast? Ich weiß noch, wie du sie auf altitalienisch vorgetragen hast - wobei die Aussprache sicherlich miserabel war, denn Französisch und Englisch beherrschst du wie deine Muttersprache, aber das Italienische verunstaltest du vollkommen.» «Also, hör mal, Onkel...», sagte ich verstimmt,«ich pflege nicht zu lügen. Ich habe dir schon des öfteren gesagt, daß ich ein sehr schlechtes Gedächtnis habe, und so wie ich das Englische schon fast wieder vergessen habe, ergeht es mir allmählich auch mit Französisch, und an die Verse der ‹Göttlichen Komödie› kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Es ist, als hätte ich sie niemals gelesen. Deshalb sage ich ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wer Dante ist!» Doch als sei es damit noch nicht genug, ritt Onkel Pancho, anstatt zu begreifen und endlich den Mund zu halten, genüßlich weiter auf dem Thema herum:«Ach! Das finde ich aber äußerst merkwürdig, daß du dich so weit von der Literatur entfernt haben willst, wo du doch selbst eine Literatin bist, mit anderen Worten: 349
eine ‹Schriftstellerin›. Und streite es ja nicht ab, streite es nicht ab, denn ich weiß es! Neulich habe ich dein Zimmer betreten, um ein Buch zu holen, und auf deinem Schreibtisch eine Menge Hefte liegen sehen, fein säuberlich numeriert und vollgeschrieben. Du bist hinter mir hergerannt und hast sie rasch mit einer Zeitschrift verdeckt, aber das war zwecklos, da ich sie bereits genau gesehen hatte...» Kaum hatte ich diese unverschämte Indiskretion vernommen, sprang ich auf und schnitt ihm das Wort ab:«Schriftstellerin...? Ich, Schriftstellerin...? Ich...? Nein wirklich, was für dummes Zeug…! Ach…! Aber ja…, jetzt erinnere ich mich..., du meinst bestimmt die Kochrezepte, die ich mir vor ein paar Tagen notiert habe...» «Ja…! Ja…! Kochrezepte mit Fragezeichen, Ausrufezeichen, Dialogen und Auslassungspünktchen...! Na schön, das bedeutet also, die Zutaten in deinen Kochrezepten unterhalten sich miteinander wie die Figuren einer Geschichte, etwa so, daß zum Beispiel beim Rühren eines Tortenteigs der Zucker Fragen an die Eier stellt, die Milch der Butter antwortet und das Mehl in der Form oder im Ofen aufschreit...» «Um Himmels willen! Welch ein Unsinn...! Vergiß nicht, Onkel Pancho, daß du ohne Brille nichts siehst und daher immer alles verdrehst.» Glücklicherweise bekam Leal von unserem Wortwechsel nichts mit, da er vollauf damit beschäftigt war, ein paar beschriftete Blätter aus seiner Hosentasche zu ziehen, sie auseinanderzufalten und aufmerksam zu überfliegen, um die eloquentesten Passagen seines Vortrags herauszusuchen. Als er sie endlich gefunden hatte, unterbrach er kurzerhand meinen Disput mit Onkel Pancho, indem er, die Blätter in der rechten Hand und mit der linken gestikulierend, vorzulesen begann:«Die diversen sich formierenden Gruppierungen von heterogenen Entitäten sind zu einem gemeinsamen heroischen Credo verschmolzen und haben den ethnischen und soziologischen Herzschlag unserer großarti350
gen Heldentaten dauerhaft internalisiert. Deren ruhmreiche Pracht wird in den Gesellschaften erkennbar, die das Epos hervorgebracht haben, welches bis zu den feurigen Gipfeln der Anden aufsteigt wie ein Dreikönigsfest des Kondors und so die ehrwürdige Idee unseres patriotischen Individualismus begründet...» An diesem Punkt warf ich, während Leal ungerührt weiterlas, Onkel Pancho einen fragenden Blick zu, der ernst und aufmerksam zuhörte und so tat, als sei er hoch konzentriert. Doch ich kenne ihn nur zu gut und konnte ich nicht anders, als insgeheim auszurufen:«O je! Welche Dummheit, welche neue Zote denkst du dir wohl gerade wieder aus, Onkel Pancho?» Leals Stimme fuhr unterdessen immer begeisterter fort:«… Beim Beschwören des wundertätigen Worts, das in einer weiten kosmogonischen Umarmung jene strahlende Fackel im Glauben erglühen läßt, leuchtete es schließlich über den heldenhaften Häuptern wie eine strahlende Feuerrose, wiederauferstanden in der triumphalen Apotheose unseres Ruhmes...!» Dann hörte ich nicht weiter zu, denn mir kam der Gedanke, daß meine Unwissenheit tatsächlich weitaus schlimmer war als gedacht, da es mir immer noch nicht gelungen war, den roten Faden eines so eloquenten Vortrags zu finden, der, nebenbei gesagt, ein großer Erfolg im Senat wurde. Wenn ich sage, er sei ein Erfolg gewesen, dann, weil die Zeitung, in der er abgedruckt wurde, dem letzten Absatz in Klammern und kursiv hinzufügte:«(Der Redner erhielt stürmischen Beifall.)» Ich kann mich noch entsinnen, daß Onkel Pancho mir, angetrieben durch seinen Hang, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit etwas zu sagen, mehr als einen Vortrag über meine enge Freundschaft zu Mercedes Galindo gehalten und mich an die Zeiten erinnert hat, als ich fast täglich bei ihr zu Abend aß. Es ist nämlich so, daß Leal, der Mercedes nur vom Sehen und vom Hörensagen kennt, ohne daß er je mit ihr zu tun gehabt hätte, eine echte und heftige Abneigung gegen sie hegt. Er hat mir schon wiederholte Male angekündigt, falls Mercedes nach Caracas zu351
rückkehren sollte, dürfe ich als seine Ehefrau nie mehr ihr Haus betreten. Da Leal mir die Gründe für seine Befehle und Verbote nicht zu erklären pflegt, war mir in diesem Fall, wie in allen anderen, nicht klar, was ihn dazu bewog. Vor einigen Tagen jedoch geschah es, daß Großmama, Tante Clara und Onkel Eduardo sich am anderen Ende des Salons, weitab von uns Brautleuten, unterhielten und aufgrund von ich weiß nicht welcher Äußerung von Onkel Pancho, nachdem dieser gegangen war, auf einmal auf Mercedes zu sprechen kamen. Plötzlich schreckte Leal neben mir auf dem Damastsofa hoch, ergriff feierlich das Wort und sagte in jenem gebieterischen, energischen Ton, in dem man über Personen redet, deren Umgang schädlich und anstößig ist, Mercedes sei eine sehr freizügige Frau, die im wahrsten Sinne des Wortes nackt auf Bällen erscheine, einen viel zu vertraulichen Umgang mit Männern pflege, sich mit ihnen auf ungehörige Weise unterhalte, und sie habe, wenn man sie auch in Caracas mit keinem speziell in Verbindung gebracht habe, in Paris mehrere Liebhaber gehabt. Ich hielt es für meine Pflicht, Mercedes gegen derartige Anschuldigungen in Schutz zu nehmen, woraufhin sich eine heftige Diskussion entspann, denn sowohl Großmama als auch Onkel Eduardo und Tante Clara, die alle drei auf den Plan traten, nahmen Partei für Leal und gegen mich. Es nützte nichts, daß ich, um Mercedes zu verteidigen, in lebhaftesten Worten schilderte, wie sie sich für Alberto, ihren Mann, aufopferte und wie gut sie trotz ihres großen Unglücks und ihrer Schönheit immer war; und daß ich ihre Freigiebigkeit und ihr großes Herz lobte. Alle hielten mir entgegen, darin könnten sie nichts Verdienstvolles erkennen, denn eine Frau aus gutem Hause müsse, sobald sie einmal verheiratet sei, still leiden, egal, wie unglücklich sie sei; sie dürfe niemals ihre Pflicht verletzen und der Gesellschaft vor allem nicht dieses groteske, skandalöse Schauspiel einer Scheidung bieten. Angesichts ihrer Einmütigkeit und ihrer guten Argumente gab ich
352
Mercedes’ Fall verloren und zog es vor, folgsam und diskret zu schweigen. Nachdem ich meine Niederlage eingestanden hatte, nahmen Leal und ich auf dem Damastsofa unsere Unterhaltung wieder auf, während Großmama, Tante Clara und Onkel Eduardo im Hintergrund leise ihr Gespräch fortführten. Ohne es meinen Verlobten merken zu lassen, spitzte ich dabei die Ohren und erfuhr so, daß die drei dort hinten jetzt im Zusammenhang mit Mercedes und ihrer Scheidung auch Gabriel Olmedo erwähnten. Großmama erinnerte daran, daß Mercedes einst auf die unselige Idee verfallen war, ihn mit mir zu verheiraten, und Onkel Eduardo fügte hinzu, dank seiner Bemühungen und durch ein Wunder der Vorsehung sei ich diesem Unheil noch einmal entgangen. Doch Tante Clara versicherte, Gabriel Olmedo habe mir nie gefallen; und als Großmama sich dieser Ansicht anschloß, erzählte Onkel Eduardo, Gabriel und seine Frau lebten de facto getrennt, denn sie hätten sich nie verstanden, sie habe in der Tat einen abscheulichen Charakter; Gabriel seinerseits vergnüge sich, und in Caracas heiße es, sie würden sich scheiden lassen. Nachdem sie noch eine Weile so leise weitergeredet hatten, daß ich, die ich meine Aufmerksamkeit zwischen zwei Unterhaltungen teilen mußte, nichts mehr hatte verstehen können, endete die Besprechung des Grüppchens mit Großmamas Bemerkung:«Vielleicht...! Da sie nichts von Moral halten und auch keine Kinder haben...! Ach, Kinder! Kinder sind so ungeheuer wichtig!» Abgesehen von der Diskussion über das heikle Thema Mercedes, an der Onkel Pancho schuld war, hatte ich meines Wissens keine Meinungsverschiedenheit mehr mit meinem Bräutigam. In völliger Einmütigkeit gleitet für uns die Zeit auf unserem Damastsofa unmerklich dahin, derweil der Termin unserer Hochzeit mit Siebenmeilenschritten näherkommt. Von heute an fehlen nur noch zwanzig Tage. Die Verlobung ist bereits bekanntgegeben, und am letzten Sonntag hat der Priester in der Kathedrale wäh-
353
rend der Achtuhrmesse nach dem Evangelium das erste Hochzeitsaufgebot verlesen. In einer dringenden Angelegenheit muß sich Leal auf eine Reise ins Landesinnere begeben, eine Reise, die nur wenige Tage dauern wird, etwa so lange, bis die Hochzeit stattfindet. Während seiner Abwesenheit will ich mich mit Körper und Seele ganz meinem Hochzeitskleid widmen. Ich habe es bereits in Auftrag gegeben. Es wird ein Traum aus Schleier, Schleppe und Kleid, eine einzige weiße Wolke aus Chantillyspitze, ohne weiteren Schmuck als die schlichten Orangenblüten, die, in der Wolke aus Spitze halb versteckt, erblühen..., und apropos Spitze..., die größte Neuigkeit habe ich ganz vergessen: Einer der Gründe, warum ich Mercedes Galindo neulich abends so vehement verteidigt habe, war meine Dankbarkeit dafür, daß sie meinen trousseau mit so viel Liebe zusammengestellt hat. Vor einigen Tagen ist er eingetroffen..., und er ist ein einziges Wunder, mein trousseau…! Alles, absolut alles aus rosa Crêpe de Chine mit weißen Spitzen und Borten, genau nach meinen Wünschen. Wenn ich ihn zusammenfalte und in meinen Spiegelschrank lege, wird er, da die Seide so fein ist, dermaßen winzig klein, daß, wenn ich manchmal, nur um ihn mir anzuschauen, die Schranktür öffne..., mir erst der Duft nach Pariser Seide entgegenschlägt, der allein schon ein Labsal ist, bevor sich mir der über ein ganzes Fach verteilte Rosengarten meines trousseau präsentiert. Eine Weile bestaune ich die akkurat geordneten Stapel, bis ich vor lauter Wonne, sie wachsen zu sehen, vor lauter Spaß am Pariser Duft, der mein ganzes Zimmer erfüllt, und vor Glück, daß all das mir gehört, sämtliche Stapel Stück für Stück auseinandernehme und auf meinem geliebten Bett ausbreite. Dabei wachsen und vermehren sie sich derart, daß mein Bett, um alles zu fassen, sich vor Freude auszudehnen, zu bewegen, zu wandern scheint, und am Ende sieht es, mit meinem gesamten trousseau beladen, wie ein wahrer Strom aus rosafarbener Seide aus, mit Wellen, stillem Gewässer, Wasserfällen, Strudeln und Schaumkronen. Manchmal packt 354
mich vor lauter Hinschauen die Lust, in diesem Fluß zu baden, und da Crêpe nicht knittert, schlüpfe ich in Windeseile, ohne lange zu überlegen, aus meinem Kimono, strecke mich auf dem Bett aus und nehme ein Seidenbad. Doch dann fürchte ich plötzlich, alles zu zerstören, und springe rasch auf, setze mich an das Fußende des Bettes, streiche alles liebevoll glatt und falte mein herrliches Rosenbad Stück für Stück wieder zusammen. Beim Falten sehe ich, wie alles in kleinen Häufchen wild durcheinandergewürfelt vor mir liegt, wie es sich hell auf dem blauen Daunenbett bis zu den Gipfeln der weißen Kissen türmt, und wenn ich ihn eine Weile betrachte, erinnert mich mein zerwühlter trousseau auf dem Kopfteil meines Bettes unter meiner traumhaften Spitzengardine an bizarre Nebelformationen und weiße und rote Wolkenfetzen, wie man sie von Sonnenuntergängen kennt; die Sonne als blaßroter Fleck und, etwas heller, die Wolkentürme und viele durchscheinende Nebelwölkchen aus rosa Crêpe, die sich an einem blauen Himmel verlieren, so blau wie mein Daunenbett. Doch so gerne ich meinen trousseau auf meinem Bett ausgebreitet sehe, so ungern sehe ich ihn an meinem Körper. Nicht, daß er mir schlecht stünde, nein: Er steht mir ausgezeichnet, sowohl farblich als auch vom Schnitt her, so daß sogar Tante Clara, die mich nie als hübsch bezeichnet, eines Tages, als sie darauf bestand, ich solle ihn einmal anprobieren, beim ersten Hemd, einem sehr kurzen Empirehemdchen, wortlos die Hände zusammenschlug, bevor sie voller Begeisterung ausrief:«Wie bezaubernd...! Du siehst ja aus wie eine Rosenknospe, María Eugenia!» Auch Gregoria, die Wäscherin, lugte kurz mit ihrem Wollkopf durch das Gitter an meinem Fenster herein, um mich in meinem rosa Hemdchen zu sehen, brach in dieses Gelächter aus, das so viel mehr ausdrückt, als man mit Worten sagen kann, und schwor, sie habe nie etwas Hübscheres gesehen; sie selbst werde mir stets meine rosa Unterwäsche waschen, damit keine andere Wäscherin sie mir verderben könne. 355
Trotz Tante Claras und Gregorias lachender Kommentare sehe ich meinen trousseau gleichwohl lieber auf dem Bett als an mir. Ja. Ich weiß noch, wie ich ihn sofort, als er eintraf, aus den Kartons nahm und alles anprobieren wollte. Schier wahnsinnig vor Neugier schloß ich mich damit in mein Zimmer ein, und zitternd vor Freude fing ich an, mir die wohlriechenden Stücke aus Crêpe de Chine eines nach dem anderen überzustreifen. Doch als ich mich glücklich von allen Seiten im Spiegel betrachtete, gleich einer Rosenknospe, wie Tante Clara gesagt hatte, fand ich, ich weiß nicht, warum, den Stoff der Hemden auf einmal zu durchsichtig, und mir fielen Großmamas Worte ein, die ich so oft gehört hatte:«Seidenwäsche ist weder dezent noch praktisch...»Und obwohl mich Nacktheit im Grunde nicht schreckt, sah ich mich plötzlich nackt unter der Seide und fühlte..., ach, ich weiß nicht, was ich fühlte... Jedenfalls zog ich die Spitzenwäsche rasch wieder aus, schlüpfte in meine Alltagskleidung und breitete den trousseau lieber auf dem Bett aus. Wenn ich es jetzt so recht bedenke..., habe ich die Anprobe nicht nur abgebrochen, weil mir Großmamas Worte eingefallen waren, sondern auch, weil ich daran denken mußte, was Onkel Pancho gesagt hatte. Während ich mir ein Unterkleid zuband, starrte ich lange wie gebannt in den Spiegel..., und auf einmal schienen meine Schultern in die Breite zu gehen, mein Busen immer üppiger zu werden, schließlich mein Kopf zu wachsen, bis er so quadratisch war wie der von María Antonia, und am Ende wurden meine Hände, meine hübschen Hände mit den glänzenden Nägeln, den lustigen Grübchen und den schlanken, sich nach oben verjüngenden Fingern ganz klobig, die Nägel stumpf, die Finger aufgedunsen, knotig und ein wenig verkrümmt, wie die von Tante Clara... Ja, dort vor dem Spiegel, spärlich bekleidet mit meinem Empirehemdchen aus Crêpe de Chine, spürte ich plötzlich, wie Onkel Panchos Worte mich bestürmten und einkreisten..., ja, mir war, als hätten sie Flügel und flatterten um mich herum wie ein Schwarm von Raben...! Nein..., nein...! Eher noch 356
wie ein Schwarm schwarzer Falter, genau..., es war ein grausiger Schwarm schwarzer Falter, die im Spiegel unsichtbar, aber hartnäckig um eine arme Rosenknospe flatterten … Was ich sagen will: Wahrscheinlich war auch das einer der Gründe, warum ich die Anprobe meines trousseau so Hals über Kopf abgebrochen habe …! Jetzt, beim Schreiben, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich frage mich ständig: Warum, warum nur hat Onkel Pancho neuerdings diese häßliche Angewohnheit, unheilvolle Dinge vorherzusagen...? Nicht, daß ich abergläubisch wäre..., aber ständig... Zum Kuckuck! Ständig …
357
VIERTER TEIL Iphigenie
KAPITEL I Eines frühen Montagmorgens Gerade hat es zwei Uhr morgens geschlagen... Und als die beiden Glockenschläge erklangen, sind sie mir plötzlich wie zwei Seufzer der Stille ans Ohr gedrungen, haben mich mit ihrem zweimaligen Schlagen gerufen und in meinem Herzen die Angst geweckt... Ich habe Angst... Ja..., ich schreibe, um mir die Angst zu vertreiben … Es war die alte, kaputte Standuhr im Flur, die zwei geschlagen hat... Ob es wirklich zwei ist? Jetzt macht die Uhr wieder wie zuvor ticktack … ticktack... ticktack... Die Schläge der Uhren in der Nacht sind die Stimmen der ächzenden Stille..., und das Ticktack der Uhren sind die nächtlichen Schritte - ach! -, die Schritte des Todes… Nein, nein, nein...! Es sind die Schritte der Stille, die dort hallen... Ja...! Die Schritte der Stille...! Wie langsam, wie schleppend und endlos wandert die Stille in der Nacht, mein Gott...! Vor allem, wenn die Nacht so schwarz und schweigend ist wie diese Nacht. So schwarz und still, daß ich mich vor ein paar Minuten, nur um ein wenig Licht zu sehen, ein anderes Licht als diese Flamme, die wie eine besessene Tänzerin auf dem schmalen Podest der Kerze tanzt und tanzt..., daß ich vor einer Weile, nur um ein wenig Licht zu sehen, ein anderes Licht als das Licht dieser wild tanzenden Flamme, mich von meinem Stuhl erhoben und einen Fensterladen geöffnet 358
habe; doch da in diesem alten, ärmlichen Haus alles ächzt, hat auch der Fensterladen beim Öffnen geächzt, und da mich sein Ächzen erschreckt hat und am Himmel kein einziger Stern zu sehen ist, habe ich den Fensterladen halb offen stehenlassen, und jetzt klafft im weißen Fensterrahmen ein schwarzes, schwarzes Loch, durch das ein so schwarzes, kaltes Geheimnis hereinweht, daß sich die Flamme auf dem schmalen Podest der Kerze krümmt und windet, als schmerzten sie die Eingeweide... Dieses Mysterium streift auch mein Gesicht und meine Hände, während sie mit der Feder über das Papier huschen. Es ist ein schwarzes Mysterium, schwarz und feucht und kalt..., ja... Es ist wie das Mysterium der toten Augen! Denn manchmal kommt es vor, daß in erstarrten Gesichtern unter den weißen Lidern die schwarzen Augen halb offenbleiben... so..., genauso wie dieser Fensterladen... Ach! Der Tod...! Es ist nicht die Stille, die durch die Nacht schleicht, nein, falsch! Er ist es..., der Tod. Ja! Der Tod...! Die Uhren sind die einzigen, die seine Schritte hören können... Deshalb wiederholen sie sie zu jeder vollen Stunde. Tagsüber kann sie niemand hören. Nur in der Nacht, inmitten der Stille, nimmt sie wahr, wer bei den Kranken wacht... Ach, die schreckliche Leere dieser Fensteröffnung...! Wie kalt dieses Mysterium, so feucht und schwarz...! Ich bin aufgestanden und habe den Fensterladen wieder geschlossen. Statt dessen habe ich die Eßzimmertür einen Spaltbreit geöffnet; und nun klingt die Uhr noch viel lauter: ticktack, ticktack … Auch die Tür seines Zimmers steht einen Spaltbreit offen, und sein Atem verläuft in gleichmäßigem Rhythmus, wie das Ticktack der Uhr... Fast scheint es, als gingen sie im Gleichschritt... aber nein..., der Atem geht schneller... Nein...! Langsamer..., nein, nein, schneller... Ach, alte Eßzimmeruhr, du bist schon zu alt, um zu erkennen, wie rasch der Tod naht...! Jetzt bin wieder aufgestanden und habe zum hundertstenmal die angelehnte Tür zu seinem Zimmer aufgeschoben... Sein Kopf ruht noch immer reglos auf dem weißen Kissen; er schläft trotz 359
seines beklemmten Atems, der gehetzt wirkt, als stamme er nicht von seinem reglos auf dem Kissen ruhenden Kopf. Er keucht wie das Pferd eines Reisenden, der es kurz vor dem Ziel kaum noch erwarten kann, endlich anzukommen, und hetzt und hetzt... mit letzter Kraft. Ach! Armer Onkel Pancho! Ich muß ständig daran denken, wie erschöpft er war, wenn er Großmamas Haus betrat und mir, während er Platz nahm, ganz verstört und trübsinnig sagte:«Bring mir rasch einen Schluck Brandy, María Eugenia, mal sehen, ob es mir dann bessergeht...» Dann habe ich ihm den Schluck Brandy gebracht, und sofort wurden seine kalten Hände warm, trat wieder ein wenig Leben in seine glanzlosen Augen, er fing an, mit allen zu scherzen und sprach nicht mehr von seiner Erschöpfung oder davon, wie krank er sei. Aber ich weiß noch, daß er, wenn er aufstand, um zu gehen, ganz gekrümmt war; er schlurfte davon, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern, und so, Schrittchen für Schrittchen, schleppte er sich nach Hause... Nach Hause! Armer Onkel Pancho! Sein Haus ist eine feuchte, enge Hütte, in der nur zwei Räume elektrisches Licht haben und die Zimmer keine tapezierten, sondern nur weißgekalkte Wände. Ja..., wie armselig, wie armselig ist dein Häuschen, armer Onkel Pancho...! Aber... was macht das noch? Er würde nicht langsamer von dieser rasenden Erschöpfung fortgerissen, wenn er statt dieses armseligen Häuschens einen Palast und statt der gekalkten Wände Tapeten besäße, wie die der alten Alonsos, die laut Großmama traumhaft gewesen sein müssen. Was macht das jetzt noch für einen Unterschied: Onkel Pancho liegt unwiderruflich im Sterben. Als sich der Arzt gestern verabschiedete, hat er mir schon zum zweitenmal gesagt:«Es ist nur noch eine Frage von Tagen. Vielleicht zwei, fünf, zehn Tage, doch es besteht keine Hoffnung, da ist nichts mehr zu machen. Zuerst dieser bleierne Schlaf, dieser komatöse Zustand, und dann 360
die Agonie! Wir können uns nur darum bemühen, daß er sowenig wie möglich leidet.» Vom ersten Moment an, als er diesen Anfall hatte, wollte Großmama, daß ich ganz bei Onkel Pancho bliebe, und hat mir zum Abschied gesagt:«Es soll ihm an nichts fehlen, María Eugenia. Ich bin hier, um alles anzuordnen, was er braucht. Und du, sorge für ihn mit ganzem Einsatz und größtmöglicher Liebe: Vergiß nicht, er ist das letzte, was dir von deinem Vater geblieben ist!» Allein, ich wollte nicht, daß sie irgend etwas schickt. Denn sie um etwas zu bitten, hieße, Onkel Eduardo darum zu bitten, und ich kann nicht ertragen, daß Onkel Pancho etwas aus Onkel Eduardos Händen bekommt. Ich habe in den Schrankfächern nachgeschaut und dort ein paar Kleidungsstücke und ein wenig Geld gefunden. Das und das bißchen, was mir von dem Verkauf der Smaragde geblieben ist, wird für alles reichen. Tante Clara und Gregoria haben mich zu Onkel Pancho begleitet. Aber Tante Clara kann Großmama nicht den ganzen Tag lang allein lassen, weshalb sie ständig zwischen den beiden Häusern hin- und hereilt. Da Tante Clara viel von Krankenpflege versteht, ist Onkel Pancho bestens betreut, und es fehlt ihm an nichts. Wenn sie weggeht, sitzen Gregoria, die Krankenschwester und ich an seinem Bett, und ich bin ganz Auge und ganz Ohr, denn ich traue niemandem genug, um ihn allein zu lassen. Nachts halten Tante Clara und ich abwechselnd bei ihm Wache. Heute hatte ich meine erste Nachtwache. Sie kam mir unendlich lang vor, wie eine Ewigkeit, eine schwarze, schweigende und feuchte Ewigkeit der Art, wie sie sich in den in die Erde eingelassenen Urnen versteckt. Ich glaube, es fängt endlich an zu dämmern. Durch die Eßzimmertür sickert ein grauer Schimmer, der noch nicht aufklart. Es ist ein trüber Schimmer ohne Glanz... Er läßt an den glanzlosen Schimmer der Augen denken, in denen sich die Weiße des
361
Lebens mit der Schwärze des Todes vereint, in den schrecklichen Stunden des Wartens auf den Todeskampf... Wie viele Nachtwachen stehen mir wohl noch bevor …? Ach, Onkel Pancho! Um die Dauer deines armseligen Lebens zu ermessen, habe ich gerade für einen Augenblick in die Zukunft geblickt und dort, ich weiß nicht, warum, meine Zuversicht ganz blaß werden sehen vor lauter Zweifel, so blaß, wie die weißen Gräber den grünen Friedhof machen, der dich dort unterhalb der Stadt in aller Stille erwartet... Die Tränen trüben meinen Blick, und durch den Tränenschleier sehe ich alles verschwommen, wie durch eine beschlagene Fensterscheibe... Wie gern der Tod mit Lebensplänen spielt...! Ach, nun wirst du mich nicht mehr am Tag meiner Hochzeit am Arm führen, wenn ich im Brautkleid mit der langen, langen Schleppe, die sich hinter mir wie eine lange Wolke aus Chantillyspitze auf dem dunklen Teppich ausbreitet, langsam in die Kirche schreite …
KAPITEL II Am frühen Dienstagmorgen Heute ist es an Tante Clara, Nachtwache zu halten, und ich hätte schlafen können. Doch anstatt zu schlafen, liege ich wach, ohne die geringsten Anzeichen von Müdigkeit. Es ist fast, als gäbe es noch einen Schwerkranken, denn etwas hat mich zutiefst verstört, so sehr, daß es mir heute nacht den Schlaf raubt. Vor ein paar Stunden war es so schlimm, daß ich aufgestanden bin und, um mich ein wenig abzulenken, beide Flügel des großen Fensters aufgemacht, mich mit einem Satz auf dem Fenstersims niedergelassen und so im Nachthemd, den Kopf hinten angelehnt, über die niedrige Wand hinweg, die den Patio abgrenzt, in den unendlichen Himmel geschaut habe... Wie rasch 362
die Stunden verstreichen, Stunden der Besinnlichkeit, Labsal aus dem Brunnen dieser klaren Nacht... Als ich immer noch auf dem Fenstersims in Erinnerungen schwelgte, kündigte die alte Standuhr im Eßzimmer bereits die ersten Morgenstunden an. Denn diese Nacht ist anders als die gestrige, nicht schwarz; nein, es ist eine heitere, klare Nacht mit einem gestochen scharfen, weißen Halbmond und einer Unmenge von glitzernden Sternen, von denen zwei am Rand des Himmels so heftig funkeln wie der Morgenstern und mich an die Brillanten erinnern, mit denen Mercedes Galindo sich gerne für den Abend schmückte..., damals, als sie mir scherzhaft am Tisch von weitem Zeichen machte, mich anlächelte oder mir mit ihren wie Morgensterne funkelnden Augen zuzwinkerte, während weiter unten die Brillanten ihrer Ohrgehänge fröhlich glitzerten wie zwei weitere Morgensterne am herrlichen Himmel ihres Ausschnitts... Während ich mit hinten angelehntem Kopf die Sterne betrachtete, verstrich unmerklich die Nacht. Vom langen Sitzen auf dem Fenstersims, obendrein nur im Nachthemd, wurde mir schließlich kalt, und um mich aufzuwärmen, verkroch ich mich wieder ins Bett. Jetzt schreibe ich im Licht der Kerze, das tanzt und tanzt und knistert, um zu tanzen, und sein Knistern ist so sanft wie die Musik, die den Tanz einer bezaubernden Tänzerin begleitet. Nebenan liegt das Zimmer, in dem ich gestern gewacht habe und Tante Clara diese Nacht Wache hält... Unter der Tür sickert ein Lichtstreifen hervor... Dahinter liegt das Zimmer, in dem Onkel Pancho stirbt..., und daran schließt sich der Salon an, ja, der winzige, enge Salon, in den man gestern abend ein Bett gestellt hat, damit er darin schlafen kann … Er! Aber …, ob er wirklich schläft? Ich denke fast, er kann ebensowenig schlafen wie ich..., hat auch das Fenster geöffnet und schaut hinaus … Obwohl es im kleinen Salon elektrisches Licht gibt... Vielleicht hat er wie ich das Licht angemacht und liest..., aber nein, nein...! Er schläft nicht und liest nicht... Bestimmt hat er das Fenster geöffnet und blickt, auf das Fenstersims gelehnt, nicht hinunter zur Straße, 363
sondern hinauf zum Himmel. Ob dort zur Straße hinaus Mercedes Galindos Brillanten wohl genauso deutlich am Himmel zu sehen sind...? Ach, gestern war ein eigenartiger Tag, so eigenartig, daß er in meinem Leben einmalig bleiben wird! Sowohl jetzt in dieser Nacht wie gestern während des Tages kommt mir alles, ausnahmslos alles, wie ein Traum oder wie ein Alptraum vor..., aber nein, nein, nicht wie ein Alptraum, nur wie ein Traum; ja, ein langer, wohliger Traum, der niemals endet, der weitergeht, immer weiter..., den ganzen Tag und die ganze Nacht. Wenn ich jetzt daran denke: Wie dumm war ich doch gestern, mein Gott, wie dumm, als ich vor lauter Verlegenheit den Löffel voll Milchkaffee auf Onkel Panchos Kopfkissen fallen ließ und alles, das ganze Bett, das Laken, das Kissen, die Decke, damit bespritzte...! Was für eine lächerliches Bild muß ich in dem Moment abgegeben haben, errötet und ungekämmt, ohne zu wissen, was ich tun sollte in meinem über der Brust halb aufklaffenden Morgenmantel und mit der Tasse Kaffee in meiner zitternden Rechten … Aber natürlich... eine solche Überraschung … Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet...! Ach! Wie sehr wird der seltsame gestrige Tag stets aus der monotonen Abfolge meiner Tage herausragen! Wie gut ich mich an alles erinnern kann, an alles, bis ins kleinste Detail! Nach der schlaflosen Nacht, dem Frühstück und dem Bad bin ich, während Tante Clara sich weiter um Onkel Pancho kümmerte, überwältigt von Aufregung und Müdigkeit in dieses Zimmer geeilt, wo ich mich jetzt aufhalte, um ein wenig zu schlafen. Tatsächlich habe ich tief und fest geschlafen. Nach dem Aufstehen bin ich wie üblich in Onkel Panchos Zimmer gegangen, um nachzusehen, wie die Dinge standen. Tante Clara hatte sich für einige Minuten entfernt, und Gregoria, die Wache hielt, hat mir erzählt:«Heute morgen ist ein junger Herr hiergewesen, der etwas von Medizin versteht. Aber was für ein hübscher Kerl, und wie zartfühlend und liebevoll er mit dem armen Don Pancho umge364
gangen ist! Gerade eben hat er mit dem Fräulein Clara das Zimmer verlassen und gesagt, er komme wieder...» Abgelenkt, wie ich war, weil ich gerade hinten auf die Uhr schaute, achtete ich nicht auf Gregorias Worte, sondern trug ihr auf, sofort den Milchkaffee zu holen, um die Zeit, zu der der Kranke seine Nahrung bekommen soll, nicht zu verpassen. Kurz darauf kehrte Gregoria mit der Tasse zurück; ich setzte mich aufs Bett, direkt neben das Kopfkissen, lehnte Onkels Panchos armen, grauen Kopf an meine Brust und träufelte ganz behutsam, Tropfen für Tropfen, die warme, mit etwas Kaffee vermischte Milch zwischen seine blutleeren Lippen. Plötzlich klopfte jemand an die Tür, und Gregoria sagte:«Herein!»Doch ich war so damit beschäftigt, dem bleichen Mund die ganze Milch einzuflößen, daß ich, als die Tür sich öffnete und wieder schloß und Schritte zu hören waren, den Blick nicht hob, sondern nur auf diese leblosen Lippen achtete, die nichts mehr sagen können. Dann erst schaute ich auf, und... ach...! In dem Augenblick sah ich ihn, neben dem Bett, aufrecht mir gegenüberstehend, so stattlich, so schlank, eine so elegante Erscheinung, ja, er war es..., ja... Er... Gabriel Olmedo! Und da ich nicht gekämmt war und der Morgenmantel durch das Stützen von Onkel Panchos Kopf über der Brust ein wenig aufklaffte, fuhr ich mir zunächst mit der Hand an den Kopf, um mir die Haare glattzustreichen, wollte dann jedoch lieber erst den Morgenmantel in Ordnung bringen, und während ich zwischen beiden Bewegungen schwankte, stieß ich mit der Hand an den Silberlöffel in der Tasse, der wie ein Pfeil durch die Luft schoß und das ganze Bett mit Milchkaffee bespritze, bevor er scheppernd auf dem Zementboden landete; ich starrte auf den Löffel am Boden, starrte auf meinen halboffenen Morgenmantel, starrte dann ihn an und fing an zu zittern, wobei ich rot wurde wie eine Tomate. Er trat ein paar Schritte vor, hob den Löffel vom Boden auf und sagte mit einem reichlich spöttischen Lächeln, strahlend weißen Zähnen, einem belustigten Blick aus sprühenden schwarzen Augen und mit einer Stimme... so..., so … wohltuend..., mit 365
dem gleichen Timbre in der Stimme wie damals:«Man sieht, daß die Krankenschwester nicht viel Erfahrung mit Kranken hat!» Glücklicherweise kehrte genau in dem Augenblick Tante Clara zurück und half mir bei dem Malheur mit dem Milchkaffee. Ich erhob mich vom Bett, und während ich die Haare und den Morgenmantel in Ordnung brachte, kam Gabriel zu mir und sagte noch einmal ganz leise und im gleichen Ton wie zuvor:«Und mich, grüßen Sie mich nicht mehr, María Eugenia?» Endlich brachte ich ein Lächeln zustande und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie, und dann spürte ich seine Hand in meiner, so lang und feingliedrig, daß ich beim Anblick der beiden in der Luft vereinten Hände an den Moment an Mercedes Galindos Tisch denken mußte, als dieselbe lange, unbehaarte Hand ohne Solitär sich von Zeit zu Zeit nervös auf dem Tischtuch meiner genähert hatte, und beide, einander so ähnlich in ihrer Feingliedrigkeit, auf dem weißen Tischtuch und zwischen den weißen Tellern wie eine große Lilie neben einer kleinen Lilie auf einem Feld voller weißer Lilien ausgesehen hatten. Tante Clara, die äußerst dankbar und zufrieden war, kam mich holen, führte mich in eine Ecke des Zimmers, wo Onkel Pancho uns nicht hören konnte, und berichtete mir, am Morgen, während ich schlief, sei Gabriel Olmedo zu Besuch gekommen. Sie hätten geredet und geredet, und dabei habe sie ihm erzählt, in Anbetracht der Schwere der Krankheit habe der Doktor uns geraten, dauerhaft einen Praktikanten ins Haus zu holen; wir hätten einen gefunden, den wir jeden Augenblick erwarteten. Zutiefst gerührt und voll des übertriebenen Lobes ob Gabriels Gutherzigkeit, fuhr Tante Clara fort, er habe, als er das hörte, schon wegen der engen Freundschaft zu Onkel Pancho sofort darauf bestanden, daß kein Geringerer als er selbst als Praktikant einspringen wolle. Und schließlich sagte Tante Clara noch ergriffener:«Ich habe das Angebot angenommen, María Eugenia, denn ich hatte den Eindruck, es kam ehrlich von Herzen... Außerdem ist er studierter Arzt,
366
wenn er auch nicht praktiziert, und ein studierter Arzt ist natürlich besser als ein Student..., meinst du nicht auch?» Ich fühlte, wie mir bei Tante Claras Nachricht auf einmal das Herz hüpfte, sowohl vor unbändiger Freude als auch vor Entsetzen; und während ich bei mir dachte:«Wie kann sich Entsetzen neben Freude breitmachen?», antwortete ich Tante Clara, ohne zu wissen, was ich sagte:«Nun, ich finde das sehr gut...!» Auf der Stelle dankte ich Gabriel für soviel Zuwendung und Güte. Seine Augen hingen an meinen Lippen, während er mich aufmerksam anhörte, so wie man Musik hört, und er erwiderte sehr freundlich:«Das ist doch selbstverständlich. Es ist das letzte, was ich für ihn tun kann... und auch für Sie, María Eugenia.» Als ich ihm dann bang die gleiche Frage stellte wie zuvor schon so oft den anderen Ärzten, schüttelte er traurig den Kopf und sagte ehrlich betrübt:«Hoffnung...? Nein! Es gibt keine Hoffnung!» Und während er das sagte:«Es gibt keine Hoffnung! », hatte ich auf einmal, ich weiß nicht, warum, das Gefühl, er rede nicht allein von Onkel Panchos Leben, sondern noch von etwas anderem. Anschließend herrschte ein langes, trauriges Schweigen … Gegen die Tränen ankämpfend, hielt ich den Blick auf das Haupt des Schlafenden gerichtet, der zum Tode verurteilt dort friedlich in den weichen weißen Kissen versank... Nachdem ich ihn lange betrachtet hatte, wandte ich schließlich den Blick von Onkel Panchos Kopf ab und richtete ihn auf mich selbst. Da mein Morgenmantel sehr zerknittert war, dachte ich, ich sollte lieber rasch in mein weißesdéshabillé aus Seide und Spitze schlüpfen. Ich verließ Onkel Panchos Zimmer, um hier in meinem Zimmer den Morgenmantel zu wechseln, und während ich mich kämmte, umkleidete und vor dem Spiegel zurechtmachte, fand ich meine Bestürzung darüber, daß Gabriel als Praktikant im Haus bleiben will, auf einmal albern und dachte... nun, was ich auch jetzt den-
367
ke:«Nach so langer Zeit und allem, was geschehen ist... Was interessiert mich Gabriel Olmedo …?»
KAPITEL III Mittwoch mittag Heute schreibe ich am Vormittag, bei Sonnenlicht; im Hintergrund sind gedämpfte Schritte, das leise Öffnen und Schließen von Türen und das hartnäckige Brummen einer Fliege zu hören, das mich ganz verrückt macht. Es ist Punkt elf Uhr. Unter dem Vorwand, schlafen gehen zu wollen, habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen und die Tür verschlossen. Das war vor etwa zehn Minuten. Tante Clara war gerade von draußen hereingekommen. Als sie eintrat, sah sie mich prüfend an und sagte zweimal, während sie den Schleier abnahm, zusammenlegte und die Nadeln hineinsteckte:«Geh und ruh dich ein Weilchen aus, María Eugenia, jetzt bleibe ich hier.» Und so bin ich gegangen, wohl wissend, daß ich nicht schlafen würde. Ich bin dermaßen nervös, daß ich, da ich schon nachts keinen Schlaf finde, tagsüber natürlich noch weniger zur Ruhe komme. Obwohl ich also nicht müde bin, habe ich, nachdem Tante Clara das zu mir gesagt hatte, das Zimmer verlassen und bin hergekommen..., warum, weiß ich nicht... Warum bin ich hergekommen...? Ist es nicht ein Zeichen von Gleichgültigkeit oder Egoismus und obendrein absurd, sich hinzusetzen und Albernheiten aufzuschreiben, während wenige Schritte weiter ein Kranker im Sterben liegt? Ach! Ich habe mich so sehr danach gesehnt, mit jemandem zu sprechen... Ja..., mit jemandem, der in der Lage ist, diese unterschwelligen Dinge zu verstehen, die man nicht benennen kann 368
und die nur die wenigsten überhaupt verstehen können. Tante Clara versteht nichts; und Gregoria, die alles versteht, ist immer in der Küche oder im Hühnerhof damit beschäftigt, Wasser abzukochen oder Wäsche zu waschen. Ja! Ich wünschte mir, jemand könnte in mich hineinschauen und mir sagen, welches Ausmaß die ungeheure Furcht hat, die ein so tiefes Loch in meine Seele gerissen hat. Diese Furcht kommt bestimmt vom Schlafmangel … ja, … das ist nur natürlich...! Da ich weder schlafe noch träume, sondern ununterbrochen wach bin, ist es fast so, als ob ich wachend träumte und schlafend wachte, immer mit dieser Sorge im Herzen, bang und zitternd auf die Schritte des Todes lauernd, der umgeht und umgeht, ganz nah, und doch nicht kommt... Wie üblich ist Tante Clara heute in aller Frühe für Onkel Pancho zur Messe gegangen und dann ein wenig bei Großmama geblieben. Auch die Krankenschwester ist aus irgendeinem Grund, der mit einem ihrer Kinder zu tun hat, verschwunden. Als ich sie fortgehen sah, ist mir ganz bang geworden, aber Gabriel hat gesagt:«Lassen Sie sie ruhig gehen, María Eugenia. Und wenn sie nicht wiederkommt: um so besser! Wir brauchen sie nicht. Ich bin ja hier, um mich um alles zu kümmern. » So habe ich Onkel Pancho von sieben Uhr morgens an mit Gabriel allein versorgt. Ach...! Gabriel ist so gütig! Ich wußte gar nicht, daß er ein so gutes Herz hat. Er sorgt liebevoll wie ein Sohn für Onkel Pancho und mit der Einfühlsamkeit eines vorbildlichen Arztes, der wie die Ordensschwestern jede Empfindlichkeit der kleinen Seele der Kranken errät. Außerdem... Gabriel ist ganz hellhäutig! Auch das wußte ich nicht..., nein..., das war mir nie aufgefallen. Seinem Gesicht nach hatte ich ihn für dunkelhäutiger gehalten, aber nein, er ist weiß, weiß, ganz weiß. Und da er immer so peinlich sauber und gepflegt, so tadellos gekleidet ist, wirkt er noch weißer… Ja…, Gabriel ist von einer leuchtenden Tadellosigkeit. Wahrscheinlich trägt er deshalb keine Ringe mit Brillanten, Krawattennadeln mit Bril369
lanten, Manschettenknöpfe mit Brillanten oder sonstigen Brillantschmuck; nein, Gabriels einziger Schmuck ist seine blendende Gepflegtheit... Aber woher nur dieser strahlende Glanz? Als Gabriel heute früh eine der Spritzen aufziehen wollte, die Onkel Pancho ständig bekommt, hat er angefangen, die Manschetten seines Seidenhemds umzukrempeln. Dann hat er die Ärmel weiter hochgekrempelt, bis seine Arme fast bis zu den Ellenbogen nackt waren, und da ist mir aufgefallen, daß sie genauso weiß sind wie meine Arme und wie die von Großmama, die ebenfalls sehr hellhäutig ist... Ich weiß noch, wie ich ihm, als er Onkel Pancho die Spritze in die Schulter gab, aus nächster Nähe mit dem Jod in der rechten, dem Wattebausch und dem Kölnisch Wasser in der linken Hand assistierte und, als er den Kopf weit nach vorne neigte, so daß der Hemdkragen ein Stückchen abstand, sehen konnte, daß sein Nacken unter dem pechschwarzen Haar zwischen den rosig durchscheinenden Ohren in ebenso mattem Weiß schimmerte wie seine Arme. Übrigens ist uns beiden, als ich gerade in die Betrachtung von Gabriels Hals versunken war, ein kleines Malheur passiert, das um ein Haar schlimmer ausgegangen wäre als das mit dem Kaffeelöffel und der Tasse Milchkaffee vor zwei Tagen. Nachdem ich Gabriels Nacken gesehen und festgestellt hatte, daß er genauso weiß war wie seine Arme, konzentrierte ich mich auf den feinen Zwirn seines Seidenhemds und sinnierte:«Man sieht, daß Gabriel es wie ich liebt, Seide direkt auf der Haut zu spüren.»Und schon ging ich im Geiste die Hemden durch, die Gabriel in den zwei Tagen, seit er Onkel Pancho beisteht, getragen hatte. Ich zählte die Hemden auf, die ich an ihm gesehen hatte; das aus Rohseide: eins; das aus weißer Seide mit blauen Streifen: zwei; ein fast identisches mit lila Streifen; drei; das mit grünen Karos: vier; und heute das weiße: fünf. Bei insgesamt fünf Hemden in weniger als drei Tagen überlegte ich:«Da Gabriel jetzt so reich ist, muß er wohl Dutzende und Aberdutzende solcher
370
Hemden aus japanischer Seide besitzen, der feinsten, die es gibt …» Ich weilte in Gedanken noch bei der Seide, als Gabriel plötzlich aufsah; er stieß gegen meine rechte Hand, in der ich das Jod hielt, und durch die Erschütterung spritzten ein paar Tropfen auf meinen rechten Daumen. Erschrocken zog ich den Arm zurück, in dem Glauben, mein weißes déshabillébeschmutzt zu haben. Darauf sagte er ganz zerknirscht:«Oh...! Entschuldigung. Mein Gott, welch ein Unheil hat mein Kopf da nur angerichtet? » Weil ich gleich feststellte, daß besagtes Unheil nur das vordere Glied meines Daumens betraf, erwiderte ich ruhig und sehr zufrieden, wobei ich den befleckten Daumen in die Luft hielt:«Sehr hübsch, ja, sehr hübsch wird er heute den ganzen Tag mit seinem Jodhütchen aussehen, der kleine Herr!» Gabriel betrachtete ihn lächelnd und sagte dann spitzbübisch:«Dann müssen wir diesen Kranken, Verletzten, oder wie auch immer ich ihn nennen soll, eben auch kurieren!» Und sobald er Onkel Pancho versorgt hatte, nahm er einen Wattebausch, tauchte ihn in Kölnisch Wasser und machte sich daran, den Nagel, die Kuppe und das gesamte oberste Glied meines armen Daumens gründlich zu säubern. Nachdem er diese äußerst delikate Behandlung beendet hatte, nahmen wir gemeinsam auf dem Ripssofa, das im Zimmer steht, Platz, wo wir lange Zeit schweigend sitzen blieben und wehmütig den schlafenden Onkel Pancho betrachteten, seinen schmalen, müden Kopf, den halb geöffneten Mund, den spitzen Bart und die ausgemergelten Züge, weiß und schmerzverzerrt wie die eines sterbenden Christus... Nur zögernd begannen Gabriel und ich ein leises Gespräch, doch dann redeten wir und redeten, bis Tante Clara eintraf... Es ist schon merkwürdig...! Wenn zwei Menschen sich im Zimmer eines Kranken unterhalten, scheint alles, was sie sagen, einen verborgenen, rätselhaften Sinn zu haben, und natürlich müssen sie, selbst wenn der Kranke tief schläft, Rücksicht neh371
men und leise sprechen..., ja... flüstern..., und ich weiß nicht, wie es geschieht, aber wenn man flüstert, wirkt jedes Wort, das man sagt, wie ein Geheimnis... Ja..., ein tiefes Geheimnis, bei dem die Augen mehr sagen als die Lippen und mehr hören als die Ohren, denn während Ohren und Lippen eher das Timbre der Stimme wahrnehmen, sprechen und verstehen die Augen … eine Sprache ohne Worte. Und so saßen Gabriel und ich fast den ganzen Vormittag lang auf dem Sofa und unterhielten uns im Flüsterton … Ich habe diese lange und eigenartige Unterhaltung angestoßen. Als Gabriel mir den Daumen gereinigt hatte und ich, umgeben vom süßen Duft nach Kölnisch Wasser, in die Betrachtung von Onkel Pancho versunken, neben ihm saß, erfüllte mich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und tiefen Traurigkeit. Ich wähnte Gabriels Blick ebenfalls auf Onkel Pancho gerichtet; doch auf einmal bemerkte ich, daß er nicht auf Onkel Pancho ruhte, sondern auf mir, unverwandt und so tief verstörend, daß ich im stillen Dämmerlicht des Raums erschrak, als drohe eine unerklärliche Gefahr... Um ihn von mir abzulenken, fragte ich Gabriel ganz leise, mit den Augen auf Onkel Pancho weisend:«Wird er leiden...?» Tatsächlich wandte Gabriel seinen verstörenden Blick von mir ab, betrachtete sekundenlang den Kopf des sterbenden Christus und sagte:«Jetzt leidet er überhaupt nicht. Die Wirkung des Schmerzmittels hält ihn im Zustand der Bewußtlosigkeit, und er spürt gar nichts.» «Aber wenn er aufwacht, muß er doch leiden, denn dann sieht er uns und erkennt uns... Armer Onkel Pancho! In solchen Momenten der geistigen Klarheit, Gabriel..., wird er dann wissen, daß er stirbt...?» «Vielleicht!»erwiderte Gabriel, und es klang, als streife ein Seufzer seine Lippen.
372
Ich sagte:«Vielleicht weiß er nichts und wacht auf einmal im Jenseits auf, so wie wir morgens nach einer durchschlafenen Nacht aufwachen...» «Das Jenseits...!»wiederholte Gabriel wie ein Echo.«Das Jenseits...! Und Sie, vertrauen Sie in Ihrem jetzigen Leben darauf, daß es ein Jenseits gibt, so wie Sie nachts darauf vertrauen, daß der Morgen kommt, María Eugenia?» Da unsere gedämpften Stimmen im abgedunkelten Raum wie eine Beichte klangen, gestand ich Gabriel ohne Mühe, wie man eine Sünde beichtet - eine schwere Sünde, die, sobald sie einem über die Lippen kommt, in der Seele ein Gefühl der Erleichterung und des Friedens zurückläßt -, zum erstenmal in meinem Leben mein schweres Vergehen, das ich noch nie jemandem offenbart hatte:«Ich bin davon überzeugt, daß es das Jenseits nicht gibt... Und es schmerzt mich... Ach! Ja..., es schmerzt mich, es kostet mich Tränen und Herzblut, denn dieser Glaube, an nichts zu glauben, Gabriel, ist sinnlos und grausam und nimmt einem jede Hoffnung, wo doch das Großartige, das Erhabene und das Gute, ja, der einzige Gegenstand des Glaubens, sein einziges Ziel, eben die Hoffnung ist! Sie ist unverzichtbar, vor allem für uns arme Frauen, die wir immer, immer mit der Last der Demut durchs Leben gehen... Sehen Sie: sich in die Langeweile zu schicken; darin die Ideale zu vergessen, die nicht verwirklicht werden können; zu schweigen und alles in uns zum Schweigen zu bringen... Ach...! Das erfordert so viel, so unendlich viel Demut, daß sie zugleich auch etwas Hoffnung enthalten muß, denn eins ist klar: Ohne Hoffnung verkehrt sich alles in unendliche, schwarze Trostlosigkeit, als sei man auf ewig verdammt. Sagen Sie, was würde zum Beispiel aus der armen Tante Clara werden, wenn sie ihr Leben nicht dank ihres Glaubens in Hoffnung verbrächte? An manchen Vormittagen, wenn ich sehe, wie Tante Clara mit ihrem bis auf die Schultern reichenden Schleier in die Kirche geht und dort meist über eine Stunde lang zusammen mit vielen anderen, die man wie sie als Betschwestern bezeichnet, auf den Knien liegt..., 373
wenn ich sie also morgens das Haus verlassen sehe und in rührseliger Stimmung bin oder ‹einen träumerischen Moment habe›, wie Gregoria sagt, dann stelle ich mir Tante Claras Seele und die aller anderen Betschwestern in dem Augenblick vor, da sie sich dem Weihwasserbecken nähern wie eine Reihe weißer biblischer Jungfrauen... Wissen Sie noch? Jene, die mit dem Krug auf den Schultern an Jakobs Brunnen dargestellt werden, wo sie Wasser schöpfen, um den Durst des Tages zu löschen... Das Wasser der Betschwestern, Gabriel, ist die Hoffnung, und die Betschwestern sind die Dürstenden, die einen Brunnen haben, aus dem sie trinken können... Deshalb - verstehen Sie? -, deshalb meine ich, es macht mir angst, einen Glauben zu haben ohne Hoffnung...» Während ich mit meiner gedämpften Beichtstimme sprach, hielt ich die Augen niedergeschlagen und starrte auf meine Hände. Als ich geendet hatte, hob ich schüchtern den Blick und sah in Gabriels Augen, die mich eindringlich musterten. Es waren gute Augen, die mich nicht mehr wie früher ängstigten, sondern, im Gegenteil, wie eine Liebkosung wirkten, wie ein Kuß auf die Wange eines Kindes oder die Hände eines Heiligen. Mit diesem neugierigen Blick aus seinen warmherzigen Augen sagte Gabriel:«Wozu brauchen Sie noch diese trügerische Hoffnung, an der sich die frommen Damen morgens am Weihwasserbekken laben? Wo Sie doch die göttlichen Dinge des wahren Lebens besitzen, María Eugenia! Wo das Leben Ihnen alles beschert hat, aus vollen Händen und im Überfluß...! Schauen Sie: Sie besitzen die Schönheit, Sie besitzen die Jugend, Sie besitzen die Liebe...!» Ich erwiderte:«Es ist wahr, ich kann mich noch nicht beklagen. Ich habe die Jugend und... habe auch... die Liebe...» «Apropos», bemerkte Gabriel mit einem geheimnisvollen Unterton,«ich weiß..., ich weiß schon..., dieser Tage werden Sie heiraten, María Eugenia! Ich habe Ihnen noch gar nicht gratuliert, weil... weil Sie es nicht für nötig gehalten haben, mich in Kenntnis zu setzen...! Ach! In Momenten des Glücks geraten die guten Freunde von einst wohl rasch in Vergessenheit...!» 374
Dies war der Augenblick, als ich mit einiger Bosheit, die den ganzen Groll jener schwarzen Tage von San Nicolás in sich barg, sagte:«Sie haben doch wohl kaum einen Grund, verstimmt zu sein, Gabriel...! Vergessen Sie nicht, daß Sie mich vor zwei Jahren auch nicht von Ihrer so... prunkvollen... Verlobung und Ihrer ebenso... prunkvollen... Hochzeit mit María Monasterios unterrichtet haben.» Ich weiß nicht mehr, was ich noch sagte und ob Gabriel zuhörte. Jedenfalls schluckte er die Bosheit meiner Bemerkung hinunter, als habe er plötzlich eine gallebittere Medizin schlucken müssen. Ungeduldig, nervös und hochrot im Gesicht schnitt er mir das Wort ab und sagte aufgebracht in beinahe normaler Lautstärke:«Ach, um Himmels willen, María Eugenia, erwähnen Sie bloß nicht diese Ehe, und vor allem: Erwähnen Sie nie den Namen meiner Frau! Herrje, meine Frau! Stellen Sie sich die dümmste, eitelste, ungebildetste Frau auf der Welt vor; obendrein ein absolut primitives Umfeld, dann wissen Sie, wie meine Frau ist und wie mein Leben aussieht: Sie redet immer im unpassenden Moment, kontrolliert mich, wenn sie nicht soll, unterbricht mich, wenn sie nicht soll, ja sie umarmt und küßt mich sogar, wenn sie nicht soll...! Ach...! Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was das bedeutet... Und zu allem Unglück ist sie zwar schwer zu ertragen, aber kein schlechter Mensch, das heißt eine Frau, von der ich mich niemals scheiden lassen kann, da die Gesetze so idiotisch sind, daß es nicht als hinlänglicher Scheidungsgrund gilt, wenn ein Ehepartner so einfältig und lästig und unerträglich ist wie meine Frau... Ach! Was wir für Dummheiten im Leben begehen! Und welch eine grausame, ewige Folter, wenn man sich in diesem Punkt irrt...! Zum Glück kann ich als Mann den ständigen Querelen entfliehen und den ganzen Tag außer Haus zubringen. Wäre ich hingegen nicht nur das Opfer, das ich ja bin, sondern hätte auch noch das Pech, die Frau zu sein... ach..., dann wäre ich längst vor Verzweiflung und Verdruß gestorben …!»
375
Gabriel sprach erregt und voller Leidenschaft. Als ich ihn so hörte, mußte ich an Mercedes Galindo denken, die mir damals in ihrem schummrigen Boudoir mit der gleichen Ehrlichkeit von ihrer heimlichen Verzweiflung und ihrem gescheiterten Leben erzählt hatte... Bei diesen Gedanken und in Anbetracht der schrecklichen Wahrheit, die Gabriel mir da offenbarte, spürte ich, wie mir ein Hauch des Grauens durch die Seele fuhr, denn ich meinte, alle verborgenen Tragödien zu erkennen, die das Leben hinter seiner friedlichen Fassade mitführt. Obendrein empfand ich, während ich ihm lauschte, eine - wie soll ich sagen - gewisse Schadenfreude, denn ich sah darin eine späte Genugtuung und Rache für die Schmach und den Kummer, der mir in San Nicolás und später in Caracas fast das Herz gebrochen hätte und den ich stumm ertragen hatte, ohne daß jemand in meiner Nähe etwas davon ahnte. Aufgrund all dieser Überlegungen hielt ich lieber den Mund, auch weil es mir schwierig erschien, zu dem heiklen Thema, das Gabriel angesprochen hatte, Stellung zu nehmen. Er verstummte ebenfalls einige Sekunden lang. Dann kam er mir ganz nah und sagte erneut mit leiser, dumpfer Stimme:«Letztendlich, María Eugenia, was interessieren Sie schon derlei... Banalitäten aus meinem erbärmlichen Leben...? Reden wir von Ihnen, die Sie glücklich sind, ja, reden wir von Ihnen! Ich will Ihnen etwas gestehen... Erlauben Sie mir, daß ich offen bin...? Nun..., ich hatte schon erwogen, am Tag Ihrer Hochzeit in die Kirche zu gehen, um von weitem einen Blick auf Sie in Ihrem Hochzeitskleid zu erhaschen, nur von weitem...! Nur so hätte ich ihren Anblick überhaupt ertragen... Jetzt, da ich Sie aus der Nähe gesehen habe, kann ich auf keinen Fall mehr hingehen, nein, niemals, um Sie als Braut zu sehen.» «Und warum nicht?»hauchte ich mit weitaufgerissenen Augen. «Darum nicht», sagte Gabriel nur. Ich lächelte und begann zu erzählen:«Ja..., meine Hochzeit sollte eigentlich nächste Woche stattfinden, doch wegen der Sa376
che mit Onkel Pancho werden wir sie verschieben müssen..., ein wenig, denn Großmama und Leal meinen, eine Hochzeit sollte man nie aufschieben, was auch geschieht. Es ist schon alles fertig, das Haus und alles, aber Leal...» Zum zweitenmal fiel mir Gabriel jäh ins Wort und stieß ungehalten hervor:«Ach, María Eugenia, bitte reden Sie nicht ständig von Ihrer Hochzeit, und vor allem: Seien Sie so nett, Ihren Bräutigam mir gegenüber nie zu erwähnen!» «Aber Gabriel, warum sind Sie heute so nervös? Denken Sie einmal nach..., denken Sie genau nach, und sagen Sie mir: Wer hat als erster von meiner Hochzeit gesprochen...? Waren das nicht Sie?» «Na schön, das war dumm von mir. Aber das ist noch lange kein Grund, den ganzen Vormittag bei dieser Dummheit zu bleiben!» «Also gut..., dann sollten wir jetzt am besten schweigen... Ja... Ich mache den Anfang!» Ich schwieg eine Weile lächelnd mit auf die Lippen gelegtem Zeigefinger. Doch schon ereiferte sich Gabriel erneut und sagte diesmal etwas, wovon mir die Hände kalt wurden, immer kälter und kälter, bis mein ganzer Körper vor Eiseskälte zitterte:«Bitte, María Eugenia, wir wollen reden, aber über die Zeiten, als ich noch keine Frau hatte und Sie noch keinen Bräutigam... Wissen Sie noch? Wissen Sie noch, wie Sie und ich und der arme Pancho jeden Abend bei Alberto und Mercedes zum Essen eingeladen waren...? Wissen Sie noch, wie die beiden sich um uns bemüht, uns bei Tisch nebeneinander plaziert und mit ihren Neckereien verrückt gemacht haben? Wissen Sie noch, wie ich, bevor ich Platz nahm, immer eine Blume aus der Vase in der Mitte stibitzt und sie Ihnen verehrt habe? Wissen Sie noch, wie Mercedes dann eine Nadel holte, um die Blume festzustecken, und sie mir mit den Worten überreichte: ‹Rühr sie nur mit der Nadel an, nicht daß wir noch Streit bekommen.› Dann habe ich Ihre Hand ergriffen und trotz meines wilden Verlangens, Ihre Hand mit den Lippen 377
zu berühren, habe ich sie nur mit der Nadel berührt. Und wissen Sie noch, später dann im Salon...? Sie haben sich ein paarmal ans Klavier gesetzt und dort im Halbdunkel, ganz nahe bei mir, angefangen zu spielen, und Ihre Hände huschten nebeneinander über die weißen und schwarzen Tasten, eilten über die Arpeggien, wirbelten über die Triller, und wenn sie plötzlich ermattet auf einem Akkord liegenblieben, habe ich sie mit den Augen geküßt und gedacht: ‹Sie haben die Musikalität, die Weiße und den ungleichmäßigen Flügelschlag sterbender Schwäne...› Dazu diese zarten Arme und diese feine Nackenlinie, dieser grazile Kopf, dieses strahlende Lächeln und die ganze harmonische Anmut im Einklang mit der Stimme des Klaviers, die wie die Stimme meines Herzens war, das vor lauter Glückseligkeit beinahe verging...! Und dann waren Sie eines Tages verschwunden, ich weiß nicht, wohin, und sind nie mehr bei Mercedes erschienen...! Warum sind Sie fortgegangen, María Eugenia...? Und warum ist mir nicht eingefallen, Sie zu suchen, warum nur, ach! Warum habe ich nicht verzweifelt nach Ihnen gesucht, wie man nach Wasser sucht, wenn man verdurstet …?» Gabriels riesengroße Augen leuchteten vor Erregung wie die eines Irren oder eines Verbrechers. Ich war wie erstarrt vor Verwunderung über das, was ich sah und hörte, während er mit diesem Ausdruck der Besessenheit in den Augen immer noch weiterredete:«Ja...! Wie konnte ich Sie verlieren...! Ich verstehe es nicht...! Was habe ich Schreckliches verbrochen, mein Gott, daß ich mit der grausamen Strafe leben muß, Sie endgültig und für immer, für immer, verloren zu wissen! Ach, nein, nein, Sie ahnen ja gar nicht, María Eugenia..., und... hören Sie mich an, denn ich muß es Ihnen jetzt sagen, da sich mir endlich die Gelegenheit bietet: Vor vielen Monaten, als Sie es am wenigsten geglaubt hätten, habe ich ständig an Sie gedacht, nur an Sie, María Eugenia...! Ich war so verrückt danach, Sie zu sehen, daß es mich Tag für Tag, wirklich Tag für Tag, in Ihre Straße getrieben hat, und wenn ich die geschlossenen Fenster Ihres Hauses sah und die halboffene 378
Tür zum Flur, war mein einziger Trost, dort vorbeizugehen und mir zu sagen: ‹Hier ist sie›... Als ich dann ein Jahr später, also vor ein paar Monaten, von meiner letzten Europareise zurückkehrte, habe ich erfahren: ‹María Eugenia Alonso hat einen Bräutigam und wird demnächst heiraten.› Da bin ich wie ein armer Kranker, der, anstatt das Bett zu hüten, sein Elend überall mit sich herumträgt, wie ein Einbrecher oder ein Spion ständig um Ihr Haus herumgestrichen; und als ich sah, daß die Fenster wieder offenstanden, bin ich langsam ganz dicht am Haus vorbeigegangen in der Hoffnung, einen Blick auf Sie zu erhaschen; aber ich hatte wenig Glück. Nur einmal habe ich Sie gesehen, eine Fee, eine Chimäre, etwas Unwirkliches... Ich weiß noch genau: Sie trugen ein rosa Kleid und durchquerten gerade den Salon. Sie haben doch ein rosa Kleid...?» «Ja..., eins aus rosa Charmeuse...» «Nun, nachdem ich Sie in Rosa gesehen hatte, war ich tagelang für alles andere blind...! Ach, María Eugenia! Soll ich ehrlich sein, hier, wo uns niemand hört...? Sehen Sie... Sie, nur Sie sind der Grund für mein Unglück... Ja, es ist Ihre Schuld, daß ich meine Frau, diese unerträgliche Person, nicht ausstehen kann, denn immer, wenn ich morgens aufwache, denke ich verzweifelt: Wie konnte ich sie nur verlieren? Was habe ich verbrochen, daß ich mit María Monasterios verheiratet bin, anstatt mit ‹ihr›? Ja, Sie könnten heute meine Frau sein, María Eugenia!» Gabriel schien vor Verzweiflung den Tränen nahe, und ich..., ich bekam eiskalte Hände und wußte nicht mehr, wo ich war, noch was ich denken sollte, während er mit Tränen in den besessenen Augen redete und redete und mir neben vielem, was ich nicht mehr weiß, sagte:«Denn..., leugnen Sie es nicht...!»Und dann wieder:«Nun, da wir allein sind und uns niemand hört: Leugnen Sie es nicht...! Sie liebten mich ebenfalls, mit dem herrlichen Überschwang Ihres liebevollen Wesens... Sie haben es mir selbst gesagt! Und wie Sie es mir gesagt haben! Gerade noch rechtzeitig und dennoch zu spät... Ja, ich habe es erst spät er379
kannt. Manchmal denke ich, María Eugenia, es war die grausame Rache Ihres empfindsamen Geistes, der so viel von Gefühlen versteht. Aber nein! Das ist unmöglich... Doch, so war es, so war es...!» «Was...? Was war so, Gabriel?»Ich bebte vor Erregung, wohl wissend, was er antworten würde:«Was …?» Er kam näher, so nahe, wie man jemandem kommt, den man küssen will, und sagte lächelnd und mit einer Zärtlichkeit, deren ich die menschliche Stimme bis dahin nicht für fähig gehalten hatte:«Na..., daß dieses hübsche blonde Köpfchen, daß diese zierlichen weißen Hände glühende Liebessonette schreiben und sie zwischen die Seiten eines Buches über die Liebe legen wie Blumen, die man zur Erinnerung an die Liebe aufbewahrt.» Zitternd hatte ich abgewartet, und als ich die süße Musik von Gabriels Worten vernahm, fiel mir siedendheiß jene wilde Leidenschaft, jener kühne Wahnsinn meines Liebessonetts wieder ein. Strahlend hell spiegelte es sich in meiner Erinnerung, und mit einemmal schoß mir das gesamte Blut meines Körpers in die Wangen, so daß ich zitternd und mit rotem Gesicht vor Verlegenheit am liebsten gestorben wäre. Doch Gabriel redete sich immer mehr in Rage, wobei seine Stimme jetzt so herzzerreißend klang wie die eines Bettlers, der eine milde Gabe erfleht, um nicht Hungers zu sterben:«War es nicht so, María Eugenia, daß Sie mich meinten...? War es nicht so, daß kein anderer als ich der sterbende Romeo war, dieser traurige Romeo, den Sie die ganze Nacht lang auf dem Balkon sehnsüchtig erwarteten, während Sie Zwiesprache mit dem Mond hielten?» Mittlerweile klang Gabriels Stimme derart jämmerlich, und die Balkongeschichte lag schon so lange zurück, daß ich, von der sanften Kraft der Wahrheit getrieben, hauchte:«Ja...!»Ohne recht zu merken, daß ich es war, die da sprach, fügte ich, immer noch schamrot, hinzu:«Sie ließen mich übrigens vergeblich auf dem Balkon warten...»
380
Gabriel flehte mit tränenerstickter Stimme:«Um Himmels willen, María Eugenia, sagen Sie das nicht, seien Sie nicht so grausam! Es war nicht meine Schuld, es war nicht meine Schuld...! Zufall, höhere Gewalt, das Schicksal, das mir nur Unglück beschert... Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte...! Mercedes hat mir immer von Ihnen erzählt, und ich wollte Sie ja auf Ihrer Hazienda besuchen... Es gab Zeichen genug, daß ich Pancho hätte begleiten sollen. Er hatte mir vorgeschlagen, mich seiner Familie vorzustellen, aber ich weiß nicht, ich hatte mich mit Leib und Seele den Geschäften verschrieben, war Tag und Nacht, zu jeder Stunde, beschäftigt, und als ich am wenigsten damit rechnete, mußte ich dringend ins Landesinnere aufbrechen; bei der Gelegenheit habe ich María getroffen, die sich dort vorübergehend mit ihrer Familie aufhielt. Ich habe sie alle sehr bewundert, und da... bin ich schwach geworden, ich weiß nicht, wieso! Vielleicht, ich will es nicht leugnen, ja, sehr wahrscheinlich hat mich mein unersättlicher Ehrgeiz angetrieben, endlich... jemand zu sein... Diese Dinge des Lebens sind kompliziert und undurchschaubar! Tatsächlich bin ich dank meines Schwiegervaters, der mich an sehr erfolgreichen Spekulationen beteiligte, zu Reichtum gelangt..., so, wie ich es mir immer erträumt habe, sogar noch mehr, aber - ach! - wenn Sie wüßten, wie sehr ich jetzt dafür büßen muß, María Eugenia! Wenn Sie wüßten, wie sehr mich dieses Geld reut, ja anödet, das ich niemals mit Ihnen werde teilen können, dieses nutzlose, alberne Geld, mit dem ich mir das einzige, was ich mir wünsche, das einzige, was ich begehre und was ich am meisten ersehne, niemals erkaufen kann...: Sie, María Eugenia, Sie! Ach...!» Gabriel faßte sich mit beiden Händen an die Schläfen, und einen Moment lang fehlten ihm die Worte, um die ganze Macht seiner Verzweiflung auszudrücken. Dann begann er, wieder etwas gefaßter, den Blick starr auf den Boden geheftet, das Vergangene noch einmal zu rekapitulieren:«Aber sehen Sie... Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, daß alles 381
eine verfluchte Folge unglücklicher Umstände war...! Einmal..., lassen Sie mich nachdenken…, nein…, zweimal..., ja... zweimal hatte ich schon den Wagen vor der Tür geparkt, um Pancho abzuholen und mit ihm, oder auch allein, zu der Hazienda hinauszufahren, wo Sie sich aufhielten... San Nicolás heißt sie, nicht wahr? Doch bevor ich mich, wie mit Mercedes vereinbart, auf den Weg nach San Nicolás machte, habe ich natürlich versucht anzurufen, um zu erfahren, ob Sie dort waren und mich überhaupt empfangen konnten. Und beide Male hat man mir gesagt, Sie seien ausgeritten. Das ist mir zweimal passiert, und außerdem war der Ton, in dem man mir Auskunft erteilte, immer sehr barsch und abweisend. Da ich Ihre Familie im übrigen nicht kenne, fürchtete ich - obwohl Mercedes mir versichert hatte: ‹Hör mal, Gabriel, sie erwartet dich› -, offen gestanden, ich sei nicht willkommen... Ich weiß noch genau, daß es beide Male eine Frauenstimme war, äußerst unangenehm und scharf...» Jetzt war ich es, die Gabriel abrupt ins Wort fiel und als Ausdruck meiner Bestürzung einen dumpfen, haßerfüllten Schrei ausstieß, der so unerwartet und verstörend war, daß Onkel Panchos Kopf brüsk aus den Kissen hochfuhr und sich im Schlaf unruhig hin- und herwarf. Indem mir dieser haßerfüllte Schrei aus tiefster Seele entfuhr, dachte ich bei mir:«Aha, María Antonia...! Das war María Antonia, während ich mit Perucho ausritt.... Sie hat mir nie etwas davon gesagt...!» Als Gabriel mich aufschreien hörte, schaute er mich an und erschrak über meinen verstörten Blick. Plötzlich ergriff er meine Hände, umschloß sie mit den seinen und sagte mit einer Stimme, die wie eine Liebkosung klang:«Beruhigen Sie sich..., beruhigen Sie sich, María Eugenia..., beruhigen Sie sich!» Mit gesenkten Lidern, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, antwortete ich:«Ja..., ja... Das, Gabriel, ist alles lange vorbei!» Und wieder sprach Gabriel mit seiner sanften, liebkosenden Stimme, diesmal zu meinen Händen, die in den seinen ruhten wie 382
in einem warmen Nest:«Ihr armen, kalten Hände, die ihr eiskalt im nächtlichen Mondschein wartetet. Jetzt seid ihr wieder eiskalt und feucht wie zwei Eiszapfen …!» Da Gabriels Hände glühten wie brennende Kohlen, gab ich mich für einige Sekunden widerstandslos dem wohligen Gefühl der Wärme auf meinen kalten Händen hin. Doch plötzlich waren Schritte zu hören, schreckliche Schritte, die näher kamen.... immer näher..., und vom Hämmern der Absätze schien das ganze Haus zu beben, denn der Hall dieser Schritte.... war der Hall von... Leals Schritten...! Zitternd vor Schreck entzog ich mich Gabriels Händen, sprang auf und sagte, von Entsetzen gepackt:«Da kommt er, Gabriel, da kommt er!» In dem Moment öffnete sich ganz langsam die Tür, und ich erkannte, daß es gar nicht Leals energischer Schritt gewesen war, denn der ist weit weg, sondern die leichten Schritte von Tante Clara, die wie gewöhnlich um diese Zeit von der Beichte für Onkel Pancho und ihrem täglichen Besuch bei Großmama zurückkehrte. Tante Clara musterte mich aufmerksam und sagte dann, während sie den Schleier abnahm und zusammenfaltete:«Geh und ruh dich ein Weilchen aus, María Eugenia, jetzt bleibe ich hier.» Ohne mich müde zu fühlen, habe ich mich daraufhin hier, im abgelegensten Zimmer des Hauses, eingeschlossen. Aber... Ach! Diese ungeheure Beklemmung, die nichts zu lindern vermag...! Ach! Welch abgrundtiefe Leere hat sich in meiner armen Seele aufgetan …! Diese ungeheure Beklemmung kommt nicht von meinem heutigen Gespräch mit Gabriel, nein, nein, unmöglich. Diese Beklemmung war schon vorher da, denn meine Geschichte, unsere Geschichte, diese Geschichte zwischen mir und Gabriel, hat keine Bedeutung mehr für mein jetziges, noch für mein zukünftiges Leben; nein, es ist eine alte, traurige Geschichte, auf die wir beide heute morgen kurz zurückgeblickt haben, wie man auf alte traurige Liebesgeschichten zurückblickt, die sich vor langer Zeit, vor 383
vielen Jahrhunderten, zugetragen haben, Liebesgeschichten, wie sie in Büchern stehen, auf gotischen Kirchenfenstern, alten verblaßten Gemälden oder auf Wandteppichen erscheinen, oder wie die Dichter sie in ihren Versen besingen... In aller Deutlichkeit habe ich es heute morgen gesagt, damit Gabriel es hörte:«... Das, Gabriel, ist lange vorbei...!» Ja..., es stimmt, diese Geschichte zwischen mir und Gabriel ist längst Vergangenheit. Es ist eine alte, traurige Geschichte, in der beide gestorben sind, denn in den alten Liebesgeschichten sterben die Liebenden immer..., wie Hero und Leander,164 Hamlet und Ophelia, Tristan und Isolde, die Liebenden von Teruel,165 der bleiche Werther; wie Romeo und Julia, verfolgt und gepeinigt... Diese Geschichte ist vorbei, wie das Leben von früher vorbei ist; heute führen wir ein anderes Leben..., ja, so als wären Gabriel und ich noch einmal geboren... Gabriel sagt, sein heutiges Leben sei trist und unglücklich, und das sagt er unter Tränen... Doch ich, ich vergieße keine Tränen, denn mein Leben ist schön, ich habe einen Bräutigam, der mich liebt, und ich werde demnächst heiraten..., ich werde glücklich sein und in Frieden leben... und glücklich... Aber, ach! Woher dann diese unheimliche Beklemmung, mein Gott…? Sicherlich rührt sie vom Schlafmangel her und von der ungeheuren Anspannung in meinem Herzen, denn ich lausche gebannt und zitternd auf die Schritte des Todes, der umgeht und umgeht, ständig näher und näher kommt und noch immer nicht da ist...!
KAPITEL IV In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag Jetzt ist es soweit, daß mir Gabriel angst macht... Ja, ich habe schreckliche Angst vor ihm! Heute während der frühen Nachmit384
tagsstunden, als wir uns in Onkel Panchos Zimmer aufhielten, sind seine lodernden Augen mir unablässig gefolgt, haben mich hartnäckig umkreist mit der schwindelerregenden, schwarzen Besessenheit der Fledermäuse oder der Beharrlichkeit des Verbrechens in den klassischen Tragödien. Den ganzen Nachmittag über habe ich nichts weiter getan, als Gabriel auszuweichen, meine Augen vor dem Wahnsinn in seinem Blick zu verbergen, der, ich weiß nicht recht, warum, nach meinem schreit. Wenn Tante Clara den Raum verließ, bin ich ihr gefolgt, nur um nicht mit Gabriel allein zu bleiben, bis er schließlich dermaßen nervös wurde, daß er, als Tante Clara hinter uns am Fenster stand und mit äußerster Sorgfalt die Tropfen eines Schmerzmittels abzählte, die rhythmisch auf den Boden eines leeren Glases fielen, sich mir näherte und ganz leise, hastig und gequält sagte:«María Eugenia, bitte, hören Sie mich an, ich muß Ihnen etwas sagen, nur zwei Worte!» Ich erwiderte:«Es gibt nichts, was wir nicht auch vor Tante Clara besprechen könnten, Gabriel.» Und wieder bat er in aller Hast:«Es geht um die Angelegenheit, über die wir heute morgen geredet haben!» «Die Angelegenheit von heute morgen», sagte ich sehr ernst,«die Angelegenheit von heute morgen, das mit dem Sonett... und alles übrige ist lange vorbei! Es ist, als sei es vor vielen Jahrhunderten geschehen. Die Freunde von damals, Gabriel, sind längst gestorben!» Da begann er von neuem in gehetztem, verzweifeltem Ton:«Nein, nein, nein, ich bin nicht gestorben, ich bin lebendiger denn je; gerade jetzt bete ich das Leben an wie nie zuvor, und es ist mir ein dringendes Bedürfnis, daß Sie mich anhören. Ich bitte Sie, um alles, was Ihnen auf dieser Welt lieb ist, María Eugenia, hören Sie mich an!» Tante Clara, die inzwischen mit dem Abmessen der Tropfen fertig war, trat vom Fenster zurück, und als Gabriel sie auf uns zukommen sah, verstummte er. 385
Wenn Gabriels Lippen in Tante Claras Gegenwart auch stumm bleiben, sagen seine Augen doch furchtbare Dinge, die ihm niemals über die Lippen kommen würden, und folgen mir unablässig, mit einer zähen, schwarzen Dringlichkeit, beharrlich wie der Tod, der hinter dem Leben herjagt. Ja, Gabriels Augen machen mir angst. Im Glanz ihrer Dunkelheit spüre ich diesen starken Sog, den ich manchmal vor dem Abgrund empfunden habe, wenn auf meinen Ausflügen in die Berge der Schwindel vom Grund einer Schlucht nach mir rief... Um neben der trüben Unausweichlichkeit in Onkel Panchos Augen nicht auch noch diesen Glanz der Besessenheit in Gabriels Augen sehen zu müssen, verließ ich, als schon der Abend dämmerte, den Raum, um ein wenig auszuruhen. Aber seit heute morgen haben sich Gabriels Augen, Gabriels Stimme, Gabriels Worte und Gabriels Gesicht in meinen Gedanken festgesetzt und verfolgen mich hartnäckig, wohin ich auch gehe. Da dieser Gabriel in meinem Kopf mich noch weit mehr ängstigt als der, der sich in Onkel Panchos Zimmer befindet, bin ich, um ihm wiederum zu entkommen, aus der Einsamkeit geflüchtet und habe Linderung in der friedlichen Ländlichkeit des Hühnerhofs gesucht, dem einzigen etwas weitläufigeren Ort in diesem ansonsten sehr engen und ärmlichen Haus. Glücklicherweise stand dort in der Abenddämmerung Gregoria an ihrem vor Schaum überquellenden Waschtrog und seifte gerade ein paar schneeweiße Laken und Kissenbezüge ein, die sie zuvor hatte kochen lassen. Ich setzte mich zu ihr auf den wackligen Bügeltisch, bewunderte die weißen Wolkentürme am Himmel, sah Gregoria wie einst beim neckischen Spiel ihrer schwarzen Hände auf dem weißen Schaum zu, und um mich ein wenig abzulenken, plauderte ich eine Weile mit ihr. Dort im Hühnerhof kam Gregoria plötzlich, während ihre Hände auf dem Seifenschaum schwammen, in den leuchtenden Farben ihres Wortschatzes erstmals Gabriels Name über die Lippen und flog und flatterte mir tausendmal um die Ohren. Doch in der 386
ländlichen Umgebung des Hühnerhofs machte er mir nicht mehr solche Angst, schüchterte mich nicht mehr ein; hier schien er mir weder schwarz wie das Verbrechen noch schwindelerregend wie ein Abgrund. Nein, im rosigen Schein der Abendsonne kam Gregoria Gabriels Name ganz natürlich über die Lippen, flog an mein Ohr und erhob sich dann mit einem so befreiten Schlagen seiner Flügel über die Bäume hinweg zum Himmel hinauf, daß mir, als mein Blick ihm folgte und sich zwischen den Ästen verlor, die zarte Liebe der Vögel in den Sinn kam, die ihr Nest zwischen zwei Blättern verstekken und, ohne zu wissen, daß die Menschen die Erde bewohnen, sich ihr Leben lang mit ausgebreiteten Flügeln in den Lüften wiegen. Nachdem ich es mir auf dem wackligen Tisch bequem gemacht hatte, sprach Gregoria zuerst über die Wäsche, die sie gerade bearbeitete; später redete sie mit vielen Seufzern und tiefer Trübsal von dem unausweichlichen Schmerz, den Onkel Panchos Tod bedeute; sie sagte, wie gut es sei, daß wir ihm beistünden; und als sie unseren Beistand erwähnte, fing sie plötzlich an, von Gabriel zu reden, indem sie mich fragte:«Und dieser junge Herr, ich meine, dieser Doktor, Don Gabrielito... Was für ein gütiger Herr...! Er ist verheiratet, nicht wahr?» Als ich seinen Namen hörte, schauderte es mich auf meinem Tisch vor Erregung, und ich erwiderte, glaube ich, mit einem Lächeln:«Ja, Gregoria, er ist verheiratet... Aber warum sagst du, er sei so gütig?» «Warum ich sage, er sei so gütig?»Gregoria richtete sich für einen Moment über ihrem Schaumrinnsal auf und sagte ganz erstaunt, wobei sie wieder ins Duzen verfiel wie in meinen Kindertagen, als wir Augenblicke enger Vertraulichkeit miteinander verbracht hatten:«Glaubst du vielleicht, María Eugenia, heutzutage findet man noch Ärzte, die einen Kranken pflegen, ohne etwas dafür zu verlangen, so wie dieser junge Herr Don Pancho pflegt...? Er sagt, er hat ihn gern..., schön..., seine Zuneigung zu Don Pancho mag ja ein Grund sein, aber so oder so ist das sehr 387
viel der Güte...! Und obendrein ist er eine äußerst attraktive Erscheinung und hat sehr feine Manieren!» «Und er ist sehr weiß und sehr sauber und sehr gut gewachsen, nicht wahr, Gregoria?» «Hör mir bloß damit auf! Und dieses Lachen! Das habe ich noch bei keinem anderen gesehen, nur bei ihm! Und du kannst mir glauben, mir sind schon eine Menge feiner weißer Herren unter die Augen gekommen, hübsche Kerle, hier im Haus bei deinen Leuten und anderswo. Aber dieses Lachen, was Vergleichbares habe ich noch nie gesehen. Das hat nur er...! Und diese Jungenszähne...! Man hätte nicht übel Lust, ihm einen Kuß auf den Mund zu drücken, wenn er dieses Lachen aufsetzt!» «Einen Kuß, Gregoria...? Einen Kuß auf den Mund...? Also...! Weißt du, was ich denke, und das habe ich schon immer gedacht...? Ach! Du findest großen Gefallen an den Männern, und deine Jugend, Gregoria..., die muß äußerst stürmisch gewesen sein.» «Stürmisch …?» Gregorias einziger Kommentar war ein schallendes Gelächter, eines dieser wagnerianischen, zwischen dessen Noten ich die fröhlichen Stürme ihrer Jugend heraushören konnte. Wieder über den Waschtrog gebeugt, verteilte sie hier und da ihre Seifenhiebe, nahm einen Bettbezug mit einer dicken Schaumkrone zwischen die Hände, richtete sich erneut auf und fuhr fort, wobei ihre Sätze im Licht ihres Lachens erstrahlten und vom Gesang ihrer Fingerknöchel auf dem eingeseiften Linnen begleitet wurden:«Ja; reichlich schwarz, reichlich häßlich, alles, was du willst, aber mir hat es nie an solchen gemangelt, die mir was hinterhergesagt haben. Das ist die reine Wahrheit...! Und wenn ich nicht geheiratet habe, dann nur deshalb, weil ich mich gar nicht erst auf die Ehe einlassen wollte, denn ich war immer der Meinung, die Ehe ist nur für die feinen Leute geschaffen... Ja, ja, die, die schwarz sind und verheiratet, stellen irgendwann Ansprüche und grämen sich wegen ihrer Hautfarbe; außerdem müssen sie sich Beleidigungen 388
vom Ehemann gefallen lassen, ja sogar Prügel, und den Mund halten und langgehen, wo die es sagen, und viel Leid ertragen, nur um der Achtbarkeit willen...»(hier ein gewaltiges Gelächter zu Ehren der Achtbarkeit),«wohingegen man als Unverheiratete heute den einen und morgen den anderen lieben kann, und wenn der eine sich schlecht benimmt oder sich als Bandit erweist, na, dann kann man den einen verlassen und den anderen lieben, und alle sind sie rücksichtsvoll und äußerst zärtlich, einer wie der andere... Ja, María Eugenia, ja, die Männer, wenn sie sich sicher fühlen, dann werden sie unleidlich... Ave Maria...! Anhänglich zeigen sie sich nur dann, wenn ihnen eine nicht sicher ist oder schwer erreichbar, oder bei einer, die ihnen aus den Fingern zu gleiten droht...!» «Gregoria, du entwickelst ja mehr Theorien als Lenin! Wenn Tante Clara dich hören könnte!» Und wieder brach Gregoria, anstatt zu antworten, in ihr wagnerianisches Gelächter aus. Dann beugte sie sich zu den Füßen des Waschtrogs hinunter und zog, aus welchem geheimnisvollen Versteck auch immer, eine Zigarre hervor, die sie sicher rasch hatte verschwinden lassen, als sie mich hatte kommen hören, denn das Verstecken der Zigarre ist längst ein unverzichtbarer Teil ihres Zeremoniells im Umgang mit Leuten des«inneren Kreises». Doch da sich mein Aufenthalt länger hinzog und die erlöschende Glut in ihrem Versteck unbedingt wiederbelebt werden mußte, beschloß sie, heute einmal jegliches Zeremoniell aufzuheben, zog die brennende Zigarre ans Licht, blies mehrmals auf das obere Ende und zog ein paarmal heftig am unteren. Dank dieser gekonnten Bearbeitung loderte die Zigarre bald wieder auf, Gregoria hüllte sich vergnügt in ihre Aureole aus dickem Qualm und fuhr, umgeben von üppigen grauen Wölkchen, sehr ernst und philosophisch fort:«Jede Hautfarbe und jeder Rang muß eine Moral für sich haben, María Eugenia. Mir kann Fräulein Clara nichts erzählen, denn ich bin eine gute Katholikin, und ich würde eher sterben, ehe ich es versäumte, der Virgen del Carmen166 jeden 389
Samstagabend ihre Kerze hinzustellen, und ehe ich vergäße, am Palmsonntag in die Kirche zu gehen, um mir meine geweihten Palmwedel abzuholen; und ehe ich in der Karwoche die Mittwochsbeichte an dem Altar ausließe, wo sie den Gekreuzigten zeigen; und ehe ich mir nicht die gesamte Predigt über die Sieben Letzten Worte anhörte und mich hinkniete, während über das Siebte gepredigt wird, welches der Herr in der Stunde seines Todes gesprochen hat.167 Ja, ich bin eine gute Katholikin, und mir kann keiner was vorwerfen, gar nichts, wenn es um die Erfüllung meiner Pflichten geht; doch alles an seinem Platz, mir sollen sie nichts erzählen. Gott hat uns auf diese Welt geschickt und uns per Gesetz befohlen, jeden Tag zu Ihm zu beten und Ihn zu preisen, aber er hat nie gesagt, wen oder wie viele wir auf Erden lieben sollen, denn sie können sagen, was sie wollen, diese Sache mit der Zuneigung mag Er zwar im Auge haben, aber da mischt Er sich nicht rein. Und damit du siehst, wie recht ich mit dem habe, was ich sage, brauchst du nur folgendes zu bedenken: Wenn Gott sich an gewissen Dingen so sehr stören würde, würde er wohl einen Unterschied zwischen Verheirateten und Unverheirateten machen, aber wie du weißt, tut er das nicht, denn die Geißel der Kinder schickt er allen gleichermaßen... Allein bei mir waren es, ohne auch nur einmal zu heiraten, vier Kinder, die ich gekriegt habe... Und soll ich mal ehrlich sein, María Eugenia...? Ich habe mich immer darüber hinweggetröstet, daß ich reichlich schwarz und reichlich arm geboren bin; einmal, weil Gott es so befohlen hat, und dann, weil ich, schwarz und arm wie ich bin, immer geliebt habe, wen ich wollte. Wohingegen es andere gibt, sehr Große und sehr Mächtige, die sehr zufrieden wirken, und doch brodelt es innen drinnen, María Eugenia! Paß auf und sag mir, falls es nicht wahr ist: Glaubst du zum Beispiel, Don Gabrielito liebt die Frau sehr, mit der er verheiratet ist? Glaubst du, er liebt sie...? Ach! Was Gregoria angeht, diese plumpe Negerin, diese primitive Alte, die zu nichts weiter nütze ist, als am Waschtrog zu stehen und Wäsche zu waschen oder sich die Hände am Bügeleisen 390
zu verbrennen, dieser plumpen, primitiven Alten entgeht nichts, denn trotz ihrer schwarzen Haut und ihrer Plumpheit hat sie eine sehr feine Nase!» «Aber woher weißt du..., woher weißt du, daß er sie nicht liebt?»fragte ich, zutiefst mißtrauisch. Gregoria wiederholte mit einem geheimnisvollen Lächeln, das plötzlich das ganze Erstaunen, die ganze Gemütsbewegung der verstörenden Szene von heute morgen wieder in mir aufleben ließ:«Woher...? O je, du lieber Himmel, immer diese Neugier! Woher...! Also sieh mal, wenn er sie liebte, würde er mich nicht schier wahnsinnig machen, indem er mich ständig nach einer anderen ausfragt; wann immer sich die Gelegenheit bietet, hält er allein mit mir Wache bei Don Pancho. Sobald er sieht, daß keiner sonst da ist, fängt er an, mich zu löchern, und dieses Löchern nimmt gar kein Ende: Ob sie als kleines Mädchen schon so hübsch war wie heute; ob sie ihr Leben mehr mit Büchern oder Handarbeit verbringt; ob sie viel Klavier spielt, ob sie den Verlobten, den sie hat, auch wirklich liebt; ob sie glücklich ist über diese Heirat, ob sie vor der Verlobung traurig war... Und lauter Nettigkeiten und Geschenke, um der Alten die Zunge zu lösen und sie richtig zum Reden zu bringen... Aber soll ich dir mal erzählen, was ich ihm gesagt habe...? Also, ich habe ihn gewarnt und ihm gesagt: ‹Hören Sie, Don Gabriel, sie ist gütiger und zarter als ein Seidenfaden, doch wer ihr was antut, kriegt was zu hören, denn dann - o je! -, dann kann sie wild werden, fuchsteufelswild... Ja, plötzlich kommt diese Wildheit raus, die sie geerbt und im Blut hat, hier von dieser Seite der Familie, von den Aguirres!›»> Ohne zu wissen, warum, verwandelten sich meine Freude und mein Erstaunen urplötzlich in heftigen Ingrimm gegen Gregoria, so daß ich mich nervös auf meinem Tischchen aufrichtete und Gregoria verärgert ins Wort fiel:«Aber was für ein Sammelsurium von Dummheiten gibst du da von dir, Gregoria...? Man könnte glatt meinen, du wärst im Alter trottelig geworden und 391
hättest das bißchen Verstand verloren, das du einmal besessen hast...!» «Dummheiten...? Dummheiten...?» Gregoria heftete ihren Blick auf mich, und zwar so unverwandt und durchdringend, daß es mir trotz des schwindenden Lichts unmöglich war, ihm lange standzuhalten. Nachdem sie sich derart wirkungsvoll der Sprache der Blicke bedient hatte, versuchte sie es erneut mit Worten:«Ja..., an der Trotteligkeit und am Alter mag es auch liegen...! Schau, María Eugenia, du willst doch, daß ich ehrlich bin, denn für mich bist du, mal abgesehen von den Jahren und der Hautfarbe, wie meine eigene Tochter. Dann hör gut zu, María Eugenia: Dieser junge Herr, der würde für dich sterben...! Und seinetwegen - streite es nicht ab! -, seinetwegen haben sie dich vor genau zwei Jahren auf die Hazienda verbannt, als wir dort drei volle Monate zugebracht haben und ich mir einen Sonnenstich geholt habe, daß ich dachte, ich sterbe... Na schön..., das ist er also..., und als du gehört hast, daß er eine andere heiratet, warst du so traurig, daß mir bei deinem Anblick fast die Tränen gekommen wären und ich dich am liebsten in die Arme genommen und dir gesagt hätte: ‹Komm her, wein dich aus an der Brust deiner alten Negerin, die dich ehrlich liebhat und als einzige weiß, welch schwerer Kummer dich plagt!› Doch da Gregoria guckt und schweigt und alles schluckt, damit niemand sagen kann, sie sei naseweis, vorlaut oder respektlos, habe ich nie was zu dir gesagt... Aber jetzt warne ich dich, María Eugenia, denn ich sehe dich in Gefahr: Du bewegst dich auf glattem Parkett..., sieh mal, dieser junge Herr ist verheiratet, und du bist sozusagen auch schon verheiratet, und du bist nicht Gregoria, María Eugenia, denn du bist vornehm geboren und von hohem Rang und mußt dich den Regeln des Anstands beugen, und wenn er dich liebt, dann - streite es nicht ab! - liebst du ihn genauso und würdest ihn heiraten, wenn man im Leben immer nach Lust und Laune tun könnte, wonach das Herz verlangt... Ja, ja, und er wäre heut am Tage imstande, selbst jemanden zu töten, nur um dich zu 392
kriegen, denn so sind sie..., sie verschmähen, was sie in der Hand haben, und wenn es ihnen entwischt, dann herrscht ungeheure Verzweiflung und große Heulerei. Aber das wäre nicht mal die größte Gefahr, María Eugenia. Die größte Gefahr ist, daß es dich mehr denn je zu dieser Liebe von früher hinzieht, denn nicht umsonst liebt man nur einmal, und nicht umsonst haben diese alten Augen schon so viel im Leben gesehen, und deshalb wissen sie, daß die Liebe nie vergeht, nie und nimmer, genau wie Unkraut...! Glaubst du etwa, ich sehe nicht diese Freude, die jedesmal, wenn ich ihn erwähne, in deinem Gesicht aufleuchtet...? Glaubst du etwa, ich hätte an dem Tag, als er plötzlich auftauchte, nicht gemerkt, wie du nur durch ein Wunder nicht vor lauter Schreck die ganze Tasse Milchkaffee über dem armen Don Pancho ausgeschüttet hast...? Und glaubst du, ich hätte auch jetzt, als ich dir das mit dem Lachen und dem Kuß auf den Mund gesagt habe, nichts bemerkt? Ich wollte doch nur mal dein Gesicht sehen, deshalb habe ich das so leichthin gesagt …!» Ich war mit einem Satz vom Tisch gesprungen und schrie sie, als ich mit den Füßen aufkam, wütend, ja, außer mir, mit erstickter Stimme an:«Halt den Mund...! Zum Donnerwetter noch mal...! Wenn du einmal anfängst, Unsinn zu reden, geht alles mit dir durch, als hättest du den Verstand verloren...! Das einzig Wahre, was du gesagt hast, ist, daß du schrecklich plump bist. Obendrein bist du noch vorlaut und respektlos und verstehst überhaupt nichts, und immer verdrehst du alles oder legst dir alles so zurecht, wie es dir gerade gefällt... Ja …, erzähl nur weiter solche Dummheiten, schrei sie laut heraus, damit auch die anderen sie hören können und mir aufgrund deines Geredes das Leben mit ihrer Mißgunst schwermachen!» «Gut so, María Eugenia, gut so! Beschimpf mich ruhig, schlag mich, oder jag mich meinetwegen aus dem Haus; auch wenn man mich beschimpft, mich schlägt oder wegjagt, werde ich meine Meinung nicht ändern, aus Prinzip nicht, und weil ich glaube, daß ich hier bin, um dir die Wahrheit zu sagen, denn nicht umsonst 393
habe ich schon deine Mutter großgezogen, und dich habe ich bei deiner Geburt als allererste auf dem Arm gehabt... Schimpf...! Schimpf ruhig weiter, denn dazu ist Gregoria da, dieses alte Negertrampel. Und denk ja nicht, dies sei das erste Mal, daß du mich schlecht behandelst oder ich mich von dir schlecht behandeln ließe... Schau, als du klein warst, kaum größer als einer dieser nassen Kissenbezüge hier..., war es immer Gregoria, die sich den ganzen Tag um die Kleine gekümmert hat, wenn sie dich tagsüber in das Haus dort unten gebracht haben. Und weißt du, was dir gefiel, was dir am meisten Freude gemacht hat? Na ja, am liebsten hast du die Negerin am Schopf gepackt und dich halb totgelacht, dich immer in die Kraushaare gekrallt, daß ich gar nicht weiß, warum du dir an dieser Drahtwolle nicht die Fingerchen gebrochen hast; und wenn ich dein fröhliches Lachen hörte, konnte auch ich mich nicht mehr halten vor Lachen und habe mir gesagt: ‹Für etwas muß diese Wolle ja gut sein.› Und wenn jemand einschreiten wollte, damit du nicht gar so heftig zogst, habe ich gesagt: ‹Lassen Sie sie ruhig, sonst weint sie, von Ihnen tut es ja keinem weh...!› Siehst du, mein Kind, das gleiche wie damals sage ich jetzt: Wenn du deinen Kummer loswirst, indem du Gregoria beschimpfst, dann nur zu, beschimpfe sie, irgendwann kommt der Tag, an dem du verstehen wirst, wie unrecht du mit deinen Verwünschungen hast…! Doch zunächst einmal gehe ich, auch wenn du es für ungezogen hältst, dich einfach mit dem Wort im Mund stehenzulassen, diese Wäsche hier aufhängen, damit sie von der frischen Nachtluft durchgepustet und bis morgen früh trocken wird …» Gregoria legte die bereits gespülten und ausgewrungenen Laken und Kissenbezüge in einen leeren Eimer und brachte sie seelenruhig zur Wäscheleine am hintersten Ende des Hühnerhofs. Dort begann das fröhliche Flattern und ausgelassene Lärmen der weißen, in der Luft ausgeschüttelten Wäschestücke, bis sie, aufgereiht wie die Vögel zum Schlafen, allmählich verstummten und Ruhe gaben... Da tauchte der schwarze Kopf, der für Sekunden 394
mit der Dämmerung verschmolzen war, vor der Mauer aus weißer Wäsche wieder auf. Von ferne kam mir, sobald meine Augen den Wollkopf erblühen sahen, die süße Erinnerung an die Tage der Unschuld, als es mir solche Freude bereitet hatte, dieses Knäuel aus dichtverfilzter Wolle zu lösen... Und als ich mich ganz auf das schwarze Kommen und Gehen vor den Laken konzentrierte, empfand ich Neid auf die verlorene Unschuld, Neid auf die Demut der Drahtwolle; dachte über die unüberwindliche Distanz nach, die zwei Leben voneinander trennen kann, und über dem Wollkopf sah ich dort am Ende des Hofes in einer schwarzen und flammendroten Spirale nach und nach die ganze tragische Freude meiner Gedanken aufsteigen, die sich erneut Gabriel zugewandt hatten.
KAPITEL V In der Nacht von Donnerstag auf Freitag Heute sind zwei Dinge geschehen, die mich sehr verdrossen haben. Den einen Verdruß bereitete mir ohne Absicht die arme Großmama, den anderen mit voller Absicht Gabriel. Er bestreitet das. Er schwört Stein und Bein, es sei keine Absicht gewesen. Aber ich glaube ihm nicht. Nein, ich glaube ihm nicht! Aber... wenn Gabriel nun doch recht hätte …? Kann so etwas... tatsächlich plötzlich geschehen..., völlig unbeabsichtigt...? Denn dann, dann... wäre es nicht seine Schuld, armer Gabriel! Ach, Gregoria mit ihrer fatalistischen Weltsicht sagt die reine Wahrheit, wenn sie erklärt:«Was kommen wird, wird kommen, wenn man es am wenigsten erwartet. Es macht sich bereits auf den Weg, nähert sich Schritt für Schritt und ist nicht aufzuhalten.»Ja; es stimmt. Gregoria hat vollkommen recht! Heute morgen waren Gabriel und ich nämlich, anders als gestern, nicht allein, schon weil ich furchtbare Angst hatte, es könn395
te wieder geschehen. Nein. Morgens waren Gabriel und ich keinen Moment allein, da die Krankenschwester sehr früh zurückkehrte und, nachdem sie mehrere Ausreden vorgebracht hatte, warum sie gestern einfach gegangen war, sich während Tante Claras Abwesenheit keine Sekunde von uns entfernte. Ich weiß noch, wie Gabriel die Krankenschwester wütend anstarrte, ihr, weil sie so häßlich ist, noch bevor sie ihre Erklärungen beendet hatte, den Rücken zukehrte und mir mit zusammengepreßten Zähnen zuraunte:«Wozu ist dieser Tölpel von Schwester nütze! Ich habe noch nie jemanden gesehen, der dermaßen ungeschickt und nutzlos war. Eine widerwärtige Person!» Auch ich finde sie höchst ungeschickt und völlig überflüssig, und ich denke tatsächlich, daß wir auf sie verzichten könnten. Außerdem besitzt sie das Taktgefühl, immer im unpassenden Moment zu reden. Ja, diese arme Krankenschwester ist ganz entschieden das, was man phlegmatisch oder schwerblütig nennt. Doch immerhin war sie heute morgen schon sehr früh hier, und ich wollte auf keinen Fall mit Gabriel allein bleiben. So als hätte er eine Vorahnung gehabt, war Gabriel heute morgen in sehr trauriger Stimmung. Ich nehme an, daß er die ganze Nacht kein Auge zugetan hat. In dieser Verfassung, mit Schatten unter den Augen und hängendem Kopf, hat er mir im Beisein der Krankenschwester ganz ruhig ein paar Sätze über sein Leben gesagt, die so niedergedrückt und kläglich klangen, daß es mir, ehrlich gesagt, schier das Herz zerrissen hat, und so ist nach und nach diese Angst von mir abgefallen, bis ich am Ende eher Mitleid mit ihm empfand. Ich weiß zum Beispiel noch, wie er mir mit Blick auf Onkel Pancho mehrmals mit glänzenden, tränenerfüllten Augen sagte:«Wäre ich doch bloß an seiner Stelle!» Nachdem er das zum zweiten- oder drittenmal wiederholt hatte, habe ich ihn gefragt:«Warum denn nur, Gabriel?» «Nun, weil mein Leben keinen Sinn mehr hat und ich nur noch einen sehnlichen Wunsch habe: zu sterben!» 396
«Zu sterben...?»fragte ich zutiefst entsetzt und voller Mitgefühl.«Zu sterben...! Nanu! Wo Sie doch so viele Möglichkeiten haben, glücklich zu werden! Es gibt andere, die weitaus unglücklicher sind und die sich nie beklagen, Gabriel.» Doch er entgegnete:«So unglücklich wie ich ist nur einer: ich.»Dann verstummte er und machte ein kummervolles, düsteres Gesicht, bis Tante Clara eintraf. Ach, es war Tante Clara, die heute für eine gehörige Portion Traurigkeit sorgte. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, ließ sie sich, ohne auch nur den Schleier abzunehmen, bleich und zitternd auf das Sofa in meiner Nähe fallen und preßte sich mit ihren dünnen, knotigen Fingern zitternd das Taschentuch auf die Augen, während sie mit erstickter Stimme unter Schluchzen sagte:«Ach, María Eugenia, María Eugenia! Wie wahr es ist, daß ein Unglück selten allein kommt...! Du kannst dir nicht vorstellen, was zu Hause los ist...! Du kannst es dir nicht vorstellen...! Erinnerst du dich noch an Mamas Schwindelanfälle? Weißt du noch, wie ich dir gestern sagte, sie habe wieder einen erlitten, der sehr lange gedauert und mich sehr beunruhigt habe, und wie ich danach hier vor dir mit dem Doktor sprach, damit er heute käme, um sie einmal zu untersuchen? Nun, er war gerade bei ihr, hat sie sich angeschaut und sorgfältig abgehört und mir dann gesagt, ihr Herz arbeite nicht mehr regelmäßig und setze manchmal aus. Ich war natürlich bestürzt und habe ihn gefragt, ob es sehr besorgniserregend sei, und er... Ach...! Weißt du, was er mir gesagt hat...? Also, er hat gesagt: ‹Ja, es ist ernst, aber nicht unmittelbar bedrohlich; sie kann noch an die zwei, drei Monate so weiterleben.› Stell dir vor, María Eugenia, wie ich mich da gefühlt habe...! Zwei oder drei Monate, María Eugenia, zwei oder drei Monate...! Und danach...? Danach...? O mein Gott, schenk mir Ergebenheit - diese Einsamkeit...! Wie wahr gesprochen, o Herr: Du schickst in deiner Weisheit nie ein Unglück allein!» Tante Clara saß mit auf die Schultern herabgerutschtem Schleier auf dem Sofa, das Taschentuch fest gegen die Augen 397
gepreßt, und weinte lange bitterlich. Als ich sie so sah, fing ich ebenfalls an, in mein Taschentuch hineinzuschluchzen, und auch Gabriel, der uns beide, so gut er konnte, zu trösten versuchte, stieß von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus. Natürlich seufzte er nicht wegen Großmamas Herzschwäche, sondern wegen der schrecklichen Verlassenheit in seinem Leben, die ihm so viel Kummer bereitet, daß er sich ständig den Tod herbeiwünscht. Da geteilte Trauer verbindet, war es, als seien Gabriel, Tante Clara und ich, die wir heute morgen alle in einer Reihe auf dem Ripssofa saßen, eine einzige in Trauer vereinte Seele, eine gemeinsame Seele für drei Körper. Seither war Gabriel noch sanfter, noch behutsamer und noch geschickter in seiner Fürsorge für Onkel Pancho als sonst. Bei dem Gedanken an Gabriels Güte war ich beruhigt und voller Vertrauen und bin häufig mit ihm allein geblieben, während die Krankenschwester und Tante Clara emsig hin- und herliefen; wir saßen innig vereint und eng beieinander, ohne ein Wort zu sagen; in der Stille des Raums waren nur immer wieder diese Seufzer vom einen oder vom anderen zu hören, wie ein Rosenkranz, der anstatt mit Ave-Marias mit Seufzern heruntergebetet wird. Da wir einander so verbunden und so betrübt waren und er so anständig wirkte in seiner Zurückhaltung, wie hätte ich mir da vorstellen können, was dann geschah...? Nein, nein. Unmöglich, das wäre mir im Traum nicht eingefallen! Es war so gegen sechs Uhr abends... War es wirklich sechs...? Nein, ich glaube nicht, daß es sechs war, denn es dämmerte bereits..., es muß eher gegen halb sieben gewesen sein... Aber welche Rolle spielt das? Es geschah so: Ich befand mich mit Gabriel und Tante Clara in Onkel Panchos Zimmer, und da es sehr heiß war, sagte ich plötzlich:«Ich gehe einen Moment Luft schnappen und ein Glas Wasser trinken, ich bin nämlich furchtbar durstig.» Ich ging langsam ins Eßzimmer, schenkte mir aus einem Krug frisches Wasser in ein großes Glas ein, und als ich noch mit dem 398
Krug in der rechten und dem Glas in der linken Hand dastand, hörte ich das Geräusch von Schritten hinter mir. Es war Gabriel, der mit den Worten das Eßzimmer betrat:«Ich habe auch Durst.» Da alles, was Gabriel heute sagte, so furchtbar leidend klang, mußte ich, als er sagte:«Ich habe Durst», an den quälenden Durst denken, den Christus am Kreuz litt, und um ihn ein wenig von seinem schweren Kummer abzulenken, sprach ich nicht von dem tragischen Durst Christi, sondern von einem anderen, gelinderen, als ich lächelnd zu ihm sagte:«Sehr schön! Sie sind gekommen, um es mir gleichzutun und zu trinken. Na gut, dann will ich Ihnen wie Rebekka dem Knecht Eliëser erzväterlich von meinem klaren Wasser zu trinken geben.»168 Dabei reichte ich ihm das Glas, das zwischen den Fingern meiner linken Hand erzitterte und überschwappte, denn es war bis zum Rand gefüllt. Doch Gabriel wies es sanft zurück und führte es behutsam an meine Lippen mit den Worten:«Nein, nein! Das Wasser nehme ich an, aber mit dem Erzväterlichen bin ich nicht einverstanden! Nein, zuerst trinken Sie, und ich nehme den Rest, das, was Sie mir großzügigerweise übriglassen, denn vielleicht..., ja vielleicht erwartet mich ein überraschendes Geheimnis am Boden des Glases.» «Ein Geheimnis?»fragte ich mit einem so langgezogenen Seufzer, als gelte es nicht mehr nur, Ave-Marias zu beten, sondern den gesamten glorreichen Rosenkranz mit Vaterunser und Mysterien.«Geheimnis...! Ich habe keine Geheimnisse mehr! Aber für den Fall, daß da doch noch eins ist, halte ich es für ratsamer, daß wir nicht aus dem gleichen Glas trinken. Trinken Sie, trinken Sie dieses Wasser, Gabriel, ich werde mir ein neues Glas aus dem Krug einschenken.» Doch Gabriel wollte das Glas nicht nehmen und schaute mich nur lächelnd an. Seine unendlich kummervolle Stimme war wie eine traurige Liebkosung, und seine traurigen Augen waren wie eine schwarze Liebkosung, in der kurz die Morgenröte der Heiterkeit aufschien, als er sagte:«So nicht! Ich trinke nur nach Ihnen 399
und aus demselben Glas...! Doch, María Eugenia, und während ich trinke, werde ich für den kurzen Zeitraum von wenigen Sekunden der glücklichste sämtlicher Erzväter und Propheten des Alten Testaments sein, denn meine Lippen und meine Augen werden in Augen schauen, wie jene sie niemals erblickt haben...» Vor lauter Freude darüber, daß Gabriel endlich seinen finsteren Ton abgelegt hatte, sagte ich mit einem zufriedenen Lächeln:«Da ist dem Alten Testament ja ein großartiger Anblick entgangen...! Aber wenigstens - Gott sei Dank, und dem Wasser sei Dank, und dem Durst sei Dank - hat der Herr Jeremias aufgehört zu weinen!» Ohne mir zuzuhören, als sei er taub oder im Rausch, hatte er weitergesprochen, während ich redete:«Denn so... übernächtigt, blaß und mit Schatten unter den Augen, in Ihrem rosa Morgenmantel, sind Sie hübscher, rosiger und mehr Julia denn je. So..., genau so habe ich Sie immer in meinen Träumen gesehen, so romantisch und empfindsam beim Schreiben meines Sonetts...!» Als ich ihn den Namen Julia und das Sonett erwähnen hörte, wurde ich ganz ernst und erwiderte in entsprechendem Ton:«Julia, nein....! Julia ist gestorben, Gabriel, vergessen Sie nicht, das habe ich Ihnen bereits gestern gesagt. Davon wollen wir nicht mehr sprechen...! Und nehmen Sie endlich das Glas, mir wird der Arm schon ganz lahm vom langen Halten!» Doch beharrlich und starrköpfig, wie Gabriel ist, wollte er das Glas nicht entgegennehmen, sondern bestand darauf, weiter von Julia zu reden, und fuhr mit einer Stimme..., mit der gleichen bezaubernden und verstörenden Stimme wie gestern fort:«Na schön, wenn Julia gestorben ist, María Eugenia, dann werde ich sie wiederbeleben, so wie man die wiederbelebt, die erfroren sind …» Aus lauter Neugier und ohne im entferntesten zu ahnen, was Gabriel im Schilde führte, fragte ich besorgt:«Wie denn?» Da schloß Gabriel mich rasch und ganz behutsam in die Arme, drückte mich fest an sich und sagte:«So...!»
400
Ich weiß nicht, wie es ihm gelang, mich einen Moment lang mitten auf den Mund zu küssen, ohne daß ich mich rühren, geschweige denn wehren konnte. Ich glaube, es lag nicht bloß an Gabriels Geschick, sondern auch an den Umständen, denn da ich zwischen dem Büfett und dem Eßtisch stand und obendrein das Wasserglas in der linken Hand hielt, konnte ich weder ausweichen noch mich zur Wehr setzen, aus Furcht, ich könnte das Glas zerbrechen oder Wasser verschütten … Nein...! Mit nur einer freien Hand und zwischen zwei Möbeln eingeklemmt: Wie sollte ich mich da gegen Gabriel wehren, noch dazu, wo er so flink und so stark ist...? Nein, ich konnte diesen Kuß nicht verhindern...! Ich konnte ihn nicht verhindern, ich konnte ihn nicht verhindern! Doch danach..., ach, mein Gott! Was der arme Gabriel danach zur Strafe für seinen Verrat zu hören bekam, das kann ich beim besten Willen hier nicht wiedergeben, und ich glaube, niemand auf der Welt könnte es je zu Papier bringen, denn es waren keine Worte mehr, nein, es war buchstäblich eine Flut von Empörung, ein Sturzbach an Schmähungen, ach ja! Gregoria hat letztlich doch in allem recht behalten...! Was Gabriel sich heute abend zwischen sechs und halb sieben aus meinem Mund anhören mußte, haben seine Ohren, da bin ich mir sicher, noch nie zu hören bekommen. Das erste, was geschah, als mein Zorn ausbrach, war, daß ich mit der ganzen Kraft meiner Empörung auf den Boden aufstampfte und das Glas gegen den Beton schleuderte, wo es mit einem schrecklichen Geklirr zerprang und eine entsetzliche Überschwemmung hinterließ, so daß ich mir bis jetzt nicht erklären kann, warum Tante Clara nicht besorgt herbeigeeilt kam, um nachzusehen, was Schlimmes passiert sei. Und inmitten der Glasscherben und des sich ausbreitenden Wassers, das uns die Füße naß machte, nachdem es uns schon die Kleidung bespritzt hatte, schalt ich ihn einen schlechten Kavalier; ich sagte ihm, er solle sofort Onkel Panchos Haus verlassen, denn hier hätte ich das Sagen; ich nannte ihn einen Heuchler, Schwindler, Schuft und Verräter und sagte, daß ich ihn aus tiefster Seele haßte... Als ich kei401
ne weiteren Schmähungen aus meinem Wortschatz schöpfen, keine weiteren Tonlagen der Entrüstung im Repertoire meiner Stimme finden konnte, murmelte er bekümmert und von oben bis unten mit Wasser bespritzt:«Verzeihen Sie, María Eugenia...! Es war keine Absicht...! Es ist nicht meine Schuld..., nicht meine Schuld...!» Da wandte ich mich brüsk von ihm ab, setzte mich auf einen Stuhl, ließ plötzlich beide Arme auf die Tischplatte fallen, legte meinen Kopf darauf und brach hinter Gabriels Rücken in bittere Tränen aus, ein tiefes, ersticktes Schluchzen. Gabriel näherte sich langsam, und als er neben mir stand, sagte seine Stimme mir im Rhythmus meiner Seufzer heimlich und in einem sanften, melodiösen Ton, leise wie ein Wiegenlied, mit dem man die Kinder in den Schlaf singt:«Verzeihen Sie, María Eugenia...! Verzeihen Sie, das war nicht ich...! Es war meine Liebe... Es war der Wahnsinn, der mich umbringt..., es war dieses verzehrende Feuer, das ich in mir trage... Es war der unvermeidliche Schrei der Natur, der Kuß des Sonetts..., aber ich werde es nicht wieder tun, nein, das schwöre ich Ihnen, niemals mehr..., niemals mehr...!» Ich schluchzte weiter und schluchzte und schluchzte untröstlich, denn jetzt, da mein Mund schwieg und mein Gesicht verdeckt war und meine Arme in Tränen schwammen, spürte ich wahrhaftig wie eine Feuersglut, die auf meinen unschuldigen Lippen aufloderte, jenen flammenden Kuß von Gabriel. Und ganz nah an meinem Ohr sagte seine liebkosende Stimme ernsthaft zerknirscht und reumütig:«... niemals mehr! Niemals mehr...!» Ich mußte an den furchtbaren Fluch des Raben denken:«niemals mehr, niemals mehr...»,169 und meine Tränen flossen und flossen wie das unendliche Fließen eines Sturzbachs … Ich weiß nicht mehr, wie lange meine Augen weinten und meine Arme und die Tischplatte mit Tränen überschwemmten. Manchmal scheint es mir gerade so, als hätte ich eine ganze Ewigkeit geweint, manchmal denke ich auch, es war nur eine 402
knappe Sekunde, die sich endlos hinzog dank dieses wundersamen, hartnäckigen Gefühls auf meinen Lippen, während ich spürte, wie seine nahe Stimme mein Ohr mit ihrem sanften Hauch streifte wie ein Kuß und meine Seele küßte, indem sie leise zum Abschied die traurigen Trostworte flüsterte:«Niemals mehr...! Niemals mehr!» Schließlich, ich weiß nicht mehr, ob durch das Geräusch von Schritten oder etwas anderes hochgeschreckt, sprang ich jäh auf und verließ, zutiefst beschämt ob des Kusses und auch ob meiner harten Worte, das Gesicht mit dem Taschentuch bedeckt, um Gabriels Gesicht nicht zu sehen, überstürzt den Raum, lief hierher in dieses Zimmer, legte mich ins Bett und vergrub den Kopf in den Kissen. Doch nach und nach versiegten die Tränen, und so allein auf meinem Kissen mußte ich auf einmal lächeln..., bis ich am Ende in schallendes Gelächter ausbrach, mich selbst auslachte..., ja... mich selbst, die ich noch unlängst, kurz bevor Onkel Pancho krank wurde, eines Morgens aus einer philosophischen Laune heraus die absurdesten und lächerlichsten Ansichten über den Kuß zu Papier gebracht hatte. Ach, der Kuß...! Der Kuß! Und als ich mich erneut in philosophische Betrachtungen über den Kuß vertiefte, begann ich allmählich, ganz allmählich über Gabriels Mund nachzudenken, wobei mir auffiel, daß ich mir aus der Entfernung beim besten Willen nicht mehr die genaue Linienführung seiner Lippen vorstellen konnte. An die Zähne konnte ich mich noch erinnern, auch an sein Lachen, aber die Form seiner Lippen, wenn sie ganz ernst sind, hatte ich völlig vergessen... Da wurde ich dermaßen neugierig und zugleich wütend über die Unzulänglichkeit meines Gedächtnisses und meiner Vorstellung, daß ich mir unvermittelt sagte:«Jetzt gehe ich einfach in Onkel Panchos Zimmer, um irgend etwas zu fragen, und dabei werde ich ganz nebenbei, ohne daß Gabriel es merkt, genau hinsehen!» Ich stieg aus dem Bett, wusch mir die Augen, kämmte, puderte und schminkte mich, und als kaum noch Spuren von den kleinen 403
Verheerungen durch die vergossenen Tränen zu sehen waren, machte ich mich, entschlossen, meine Würde zu wahren und kein Wort an Gabriel, den Verräter, zu richten, auf den Weg, meine Nachforschungen anzustellen. Doch, mein Gott, was der Zufall im Leben anrichtet...! Als ich nichtsahnend und sorglos die Tür vom Eßzimmer zum ersten Patio aufstieß - da diese Tür alt ist und sich verzogen hat, mußte ich sie wie immer mit einem heftigen Ruck öffnen -, was geschah da...? Da geschah es zu allem Unglück, daß Gabriel nicht, wie ich erwartet hatte, in Onkel Panchos Zimmer, sondern ausgerechnet in dem Moment auf dem Weg ins Eßzimmer war, das heißt, genau auf mich zulief, und als ich die klemmende Tür so energisch aufstieß, da gab sie mit einem Ruck nach und schlug Gabriel derart heftig gegen den Kopf, daß sie von dem starken Aufprall von oben bis unten erzitterte. Auch ich erzitterte und stieß vor Schreck einen spitzen Schrei aus. Nur Gabriel nicht. Gabriel sagte nichts. Er blieb sekundenlang stumm und wie angewurzelt vor mir stehen, ohne sich auch nur mit der Hand an die gestoßene Stirn zu fahren, so ungerührt wie ein Standbild des Stoizismus oder der heiligen Geduld, und klagte schließlich resigniert:«Erst mit Worten! Jetzt mit Taten!» Ich für meinen Teil fand die Posse, den Zufall, meinen Schock und Gabriels Gesicht, ja, alles auf einmal, dermaßen komisch, daß ich mir, ohne ein Wort zu sagen, die Hand vor den Mund hielt, damit Gabriel nicht merkte, daß ich am liebsten laut herausgeprustet hätte, und hastig in Richtung Onkel Panchos Zimmer davonlief. Doch Gabriel setzte nicht etwa, wie zu erwarten gewesen wäre, seinen Weg in entgegengesetzter Richtung, das heißt zum Eßzimmer, fort, nein! Wie ein Schoßhündchen, das seinem Herrn nachläuft, wenn es ihm unterwegs begegnet, machte er auf dem Absatz kehrt und folgte mir in Onkel Panchos Zimmer, ohne daß ich seine Schritte gehört oder gemerkt hätte, daß er hinter mir herkam. Um die Sache noch zu verkomplizieren, geschah dort obendrein folgendes: Seit ich Gabriel geschlagen und wie erstarrt an der 404
Tür zurückgelassen hatte, hatte ich alle Kraft zusammengenommen, um nicht laut loszulachen. Mit vermeintlich ernstem Gesichtsausdruck betrat ich nun das Zimmer und fragte Tante Clara, nur um irgend etwas zu sagen:«Gibt es etwas Neues, Tante Clara?» Doch anstatt mir zu antworten, starrte Tante Clara, dieses dumme Schaf, mich entgeistert an und bemerkte ungehalten:«Aber, María Eugenia, das fragst du mit einem strahlenden Gesicht, als ginge es um etwas Erheiterndes. Also hör mal, ich glaube kaum, daß es heute einen Anlaß zur Freude gibt!» Diese Vorhaltungen reizten mich nur noch mehr zum Lachen. Um das nicht zu zeigen, kehrte ich Tante Clara abrupt den Rücken zu, und da stieß ich zum zweitenmal unerwartet auf Gabriel, der hinter mir, unbemerkt von Tante Clara, ebenfalls still vor sich hin lachte, mit diesem Lachen, das Gregoria dermaßen entzückt. Und als ich plötzlich das Lachen wie ein Spiegelbild meines eigenen Lachens auf seinen Lippen sah, lachte auch ich, ohne zu wissen, was ich tat, fiel vor Erstaunen und Glück lautlos in sein Lachen mit ein, zur großen Verblüffung meines Herzens, welches mir in der Fröhlichkeit des Lachens zurief, daß mich Gabriels Lachen genau wie Gregoria - ach, noch viel mehr als Gregoria -, ja, daß dieses Lachen auch mich verzaubert...! Ach, ja! Gabriels Lachen gefällt mir so gut, mein Gott, gefällt mir so unglaublich gut, es entzückt mich und blendet meine Vorstellungskraft dermaßen, daß sich mir sein Bild verwischt und die Erinnerung ausgelöscht wird, weshalb ich, sobald ich allein bin, die Linien seiner Lippen, wenn sie ernst und stumm sind, nicht mehr nachzeichnen kann. Mit Gabriels Lachen im Bewußtsein habe ich den Raum wieder verlassen und mich hier eingeschlossen, um zu schreiben. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört und will es auch gar nicht..., nein..., nein! Ich will nichts mehr von ihm wissen! Dennoch würde ich jetzt, fern von ihm, in der Stille dieser Nacht, in der kalten Stille dieses einsamen Zimmers, während ich mit der Feder in den Fingern und dem zarten Papier unter den 405
Händen im Schreiben innehalte, mit geschlossenen Augen, genau wie am Nachmittag, genau wie schon so viele Male, gern in Gedanken für eine Sekunde die Linien von Gabriels Mund, wenn er ernst ist, betrachten, doch weder vorher noch jetzt oder jemals will er, wenn ich die Augen geschlossen halte, sich anders zeigen als mit seinem wunderbaren, bezaubernden Lachen...! Ach...! Wie sind sie bloß, mein Gott...? Wie sind Gabriels Lippen, wie sind die Linien seines Mundes, wenn sie ernst sind und schweigen...? Obwohl sich Gabriels Lippen in der Stille meiner geschlossenen Augen nicht zeigen wollen, sind sie doch in der Stille meines schweigenden Mundes schon seit mehreren Stunden immer … immer zu spüren... so, wie ich sie am Abend zwischen sechs und halb sieben im Eßzimmer einen Moment lang gespürt habe... Ja...! Gabriels Lippen können sich in der Stille meiner Gedanken nicht zeigen, denn sie sind auf meinem schweigenden Mund haftengeblieben, und dort spüre ich sie, fest und brennend, wie man Brandwunden auf der Haut spürt. Es nützt nichts, daß ich mir seit mehr als zwei Stunden, während ich dies mit der Feder zwischen den Fingern niederschreibe, immer wieder mit dem kalten Handrücken über den Mund fahre, um Gabriels brennende Lippen, die mich ängstigen, die mich furchtbar erschrecken, von meinen Lippen zu reißen... Doch Gabriels Lippen lassen sich nicht von den meinen wischen..., sie haften fest, ganz fest auf ihnen, wie Brandnarben, die sich in die Haut graben und ewig dort eingeprägt bleiben!
KAPITEL VI Am Samstagmorgen Jetzt ist geschehen, was zu erwarten war: Onkel Pancho ist gestorben. Sein armer, erschöpfter, gequälter Leib hat endlich Ruhe gefunden. Sie haben ihn zwischen die schwarzen Bretter eines 406
Holzsargs gesperrt, den im Licht der aufgestellten Kerzen ein unheilvoller Frühling allmählich mit Blumen bedeckt. Als ich vor einigen Minuten dabei zusah, wie sie ihn einsperrten, und mir das schreckliche Knistern des schauderhaften Feuers in den Ohren klang, mit dem sie das Blei schmolzen, welches den Zinkdeckel des Sarges versiegeln soll..., als ich das Knistern dieses schauderhaften Feuers vernahm, konnte ich nicht mehr und verlor mich eine glückliche Minute lang in der süßen Bewußtlosigkeit der Ohnmacht. Man hat mir ein Beruhigungsmittel gegeben und mich hierhergebracht, damit ich mich ausruhe und ein wenig schlafe. Aber ich schlafe nicht, nein. Ich schreibe, denn das Schreiben und das Weinen beruhigen mich besser als der Schlaf und bei weitem besser als jedes Beruhigungsmittel. Ich bin soeben in Ohnmacht gefallen, weil das Knistern des Feuers neben dem erstarrten Körper tief in meiner Seele den uralten Schrecken fanatischer Foltermethoden wachgerufen hat, und weil beim schauderhaften Auflodern und Zurückgehen der Flamme meine Augen, meine Ohren und mein gesamter Körper plötzlich die schrecklichen Qualen verbrannten Fleisches heraufbeschworen, jenes verbrannten Fleisches, in das sich das Flammenmal allen Glaubens und das Licht aller Religionen eingebrannt hat... Das war der Grund... Ja! Ja, das war der Grund, warum ich, als ich die tänzelnde Flamme neben dem in stiller Wehrlosigkeit daliegenden Leichnam sah, als ich sah, daß sie ihn bereits mit dem Spiegel der Zinkplatten bedeckten wollten, mit diesem Zinkspiegel, der allein im Dunkeln dem Festbankett der Würmer im Fleisch beiwohnt, als ich sah, daß sie ihn bereits mit der Zinkplatte bedecken wollten, sprang ich von meinem Stuhl auf und fragte mit einem letzten Blick auf das spitze, bleiche Antlitz, mit einer letzten Berührung des kalten Hauptes - ich weiß nicht wen! -, da fragte ich in einem verzweifelten Aufschrei, der mir vor Grauen in der Kehle erstarb:«Mein Gott...! Und wenn er noch lebt?»
407
Ohne zu wissen, wie mir geschah, fiel ich dann, an einen Sessel gelehnt, in Ohnmacht, weshalb man mich jetzt hierhergebracht hat, damit ich mich ausruhe. Jetzt erinnere ich mich wieder: Ich habe auch deshalb das Bewußtsein verloren, weil ich beim Gedanken an die alten fanatischen Foltermethoden einen Moment lang plötzlich fürchtete, Onkel Panchos regloser Körper könnte noch lebendig sein. Doch als ich mit den Händen fühlte, daß er tot, wirklich tot war, neidete ich ihm seinen echten Tod, und ich weiß nicht, warum..., ich weiß nicht, warum mir auf einmal bewußt wurde, daß ich neben der schrecklichen Flammenfolter und dem schwarzen Sarg nicht tot war, sondern lebendig, ja, lebendig! Wie ein Gefolterter... Ich weiß nicht, warum mir dieser Gedanke an mich selbst kam, da ich doch ein kerngesunder Mensch bin, mit einem eigenen Willen und eigener Energie, alle Hindernisse zu überwinden und geradewegs durchs Leben zu gehen wie alle, die diesen schmalen Weg des Lebens mit mir gehen. Ich bin ein wenig schwach..., ein wenig matt, ausgelaugt von der starken Gemütsbewegung … Das ist alles! Es wird schon vorbeigehen, dieser große Gefühlsstau wird sich wieder auflösen. Ich werde Onkel Pancho beweinen, ihn nicht mehr sehen, mich an seine Abwesenheit gewöhnen und ruhig in mein ruhiges Alltagsleben zurückkehren... Das ruhige Leben..., das ruhige Leben! Ach, ich weiß nicht, warum«das ruhige Leben»mich an die weiße Ruhe der Friedhöfe denken läßt, die schreckliche Ruhe der Särge unter der Erde … Alles scheint mir schwarz wie ein Sarg und hoffnungslos wie verplombte, luftdicht verschlossene Gefangenschaft. Dieses enge Zimmer hat heute für mich die längliche Enge der Todeszellen. Es nützt nichts, wenn ich mit weit offenem Mund in kräftigen Zügen die Luft einsauge, bis meine Lunge nicht mehr aufnehmen kann. Die Luft hier drinnen scheint mir keine Luft zu sein, und am liebsten würde ich die Tür aufreißen, um der Luft im Patio laut zuzurufen:«Hierher, Luft, hierher...!»Aber ich kann die Tür 408
nicht öffnen, denn hinter der Tür, dicht an die Tür gedrängt, ist er! Ja, genau hier, nur einen Meter entfernt, ist Gabriel. Augenblicklich bin ich wie eine in den Sarg eingesperrte Tote, und er ist wie der verzweifelte Hinterbliebene, der über dem Grab weint, und am liebsten würde er seinen Verstorbenen mit der unendlichen Kraft seiner Verzweiflung wieder lebendig machen, als hätte die Verzweiflung der Lebenden am Grab den erstarrten Leib dessen, der in ihm schläft, jemals wieder lebendig gemacht. Ja, Gabriel glaubt, ich schlafe, und bewacht hier, direkt hinter der Tür, meinen Schlaf mit der schrecklichen Verzweiflung, mit der man den Schlaf der geliebten Toten bewacht. Seine Schritte bewegen sich unruhig hinter der Tür hin und her, und ich erkenne sie unter allen, ich würde sie unter Tausenden heraushören, ja unter Millionen... Für meine treuliebenden Ohren sind sie genau wie seine Stimme, und wie seine Stimme sagen sie Worte der Liebe, wenn sie hinter meiner verschlossenen Tür unruhig auf dem Boden hallen. Ganz in der Nähe, auf den Stühlen, die sich in einer schwarzen Reihe durch den Patio ziehen, sitzen viele Freunde von Onkel Pancho. Als sie von seinem Tod erfahren haben, sind sie gekommen, um ihm in dieser letzten Nacht, die er in seinem Haus liegen wird, Gesellschaft zu leisten. Ich höre das Tuscheln der Stimmen, die gedämpften Schritte..., doch Gabriels erbitterte Schritte höre ich deutlich heraus. Er denkt, ich schlafe, und bewacht mich traurig und verzweifelt, ganz dicht vor meiner Tür. Ich werde mich indes noch viele Stunden hier vergraben und so tun, als schliefe ich, und für ihn werde ich für immer schlafen, denn sobald er sich entfernt, werde ich den Augenblick nutzen und klammheimlich wie ein Dieb dieses Haus verlassen, um für immer aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Ja, Gabriel! Du bist nur wenige Schritte von mir entfernt, aber du kannst mich nicht sehen, denn die undurchdringliche Mauer dieser dünnen Tür verbirgt mich vor deinen Augen. Da ich nicht mit dir reden kann, schreibe ich dir auf einem vierekkigen weißen Blatt, das die Größe und die Weiße dieser traurigen Marmortafeln 409
hat, die allmählich vom Gras der Friedhöfe zugedeckt werden… Ja...! Hier schreibe ich es nieder, als schriebe ich meinen eigenen Grabspruch:«Deine angebeteten Augen sollen mich fortan nicht mehr sehen, Deine angebeteten Ohren mich nicht mehr hören, nein, Gabriel, nach dem, was gestern geschehen ist, als Onkel Pancho im Sterben lag … Gabriel...! Du darfst María Eugenia Alonso um keinen Preis wiedersehen, auch wenn Du noch so laut danach verlangst mit Deinen Küssen, auch wenn mein Herz auf Dein Rufen tausendmal erwidert: ‹ja›; denn María Eugenia Alonso ist nicht Dein und kann es niemals werden, und Du hast sie in Deinem Liebesbegehr zu achten, wie ein ehrbarer, begieriger Mann die Schätze und Reichtümer achtet, die er nicht besitzt, wenngleich er sie begehrt.» Wenn sie Onkel Pancho fortgebracht haben hinter prächtig blitzenden Scheiben, gezogen von großen, mit schwarzen Federbüschen geschmückten Pferden, werde auch ich mich heimlich aus dem Haus schleichen und zu Großmama zurückkehren, ohne daß Gabriel mich sieht und ohne, daß meine Augen ihn erblicken, weder von nahem noch von ferne, denn mein Mund und meine Augen, die nicht mehr mein sind, kleben fortwährend an ihm. Sobald sie ihn spüren, verfolgen sie ihn mit der Ergebenheit und Freude losgelassener Hunde, die für einen Augenblick von Leinen und Ketten befreit sind. Er ruft sie von ferne, und weil das Timbre seiner Stimme sie freudig erregt und beherrscht, reißen sich dieser Mund und diese Augen, die nicht mehr mir gehören, los; wenn sie gerufen werden, folgen sie ihm, ohne noch auf mich zu hören … Ach...! Gestern dieser Vormittag...! Ach, was gestern geschehen ist, soviel Glück, soviel Schrekken... Wie kann es nur sein, daß der Blitz eines einzigen Kusses beides faßt...? Gestern... Gestern! Welch heftiger Lebensfunke, der für immer diese ewige Finsternis des Todes erleuchtet...! Um acht Uhr morgens, als ich noch fest und friedlich schlief, klopfte Tante Clara, die diesmal nicht die Morgenmesse besucht 410
hatte, leise mit den Fingerknöcheln an meine Zimmertür und weckte mich mit den Worten:«Steh rasch auf, María Eugenia, Pancho geht es sehr schlecht!» Einen Augenblick später, als ich hastig angekleidet, bleich und besorgt Onkel Panchos Zimmer betrat und ängstlich zum Bett schaute, sah ich voller Entsetzen, daß sich auf Onkel Panchos Körper, der dort bleich, reglos und tief in die Kissen vergraben unter den Laken lag, bereits der Tod gesenkt hatte. Gabriel stand allein am Kopfende des Bettes und blickte, nachdem er dem Todkranken den Puls gefühlt hatte, traurig auf das gequälte Haupt des sterbenden Christus hinab, dessen Lippen nur noch der zarte Hauch der Agonie entwich. Als ich Gabriel so sah, eilte ich zutiefst bekümmert und nervös neben ihn ans Bett, nahm eine der kraftlos auf die Kissen herabgesunkenen Hände in meine und spürte, daß sie eiskalt war..., eiskalt und feucht und hart wie die Hand eines Toten. Da verstieß ich gegen meinen Vorsatz und richtete erneut das Wort an Gabriel, ohne an meinen Zorn vom Vorabend zu denken:«Aber was heißt das..., was kann das sein, Gabriel?» Tieftraurig und ganz ruhig sagte er mir, was ich nur allzu gut wußte:«Das heißt, daß er jetzt... von uns geht!» Wie seltsam! Obwohl ich es genau wußte und in diesem sicheren Wissen seit einer Woche ergeben darauf wartete, daß dieser Tod eintrat; obwohl ich ihn jetzt mit eigenen Augen von Angesicht zu Angesicht gesehen und seine eisige Berührung unter meinen furchtsamen Händen gespürt hatte, bekam ich, als ich Gabriels Stimme ihn ankündigen hörte, einen ungeheuren Schrecken, der mir den ganzen Körper vor Kälte erstarren ließ, und unwillkürlich entwich mir eine Frage, in der der Schmerz des ewigen Abschieds lag und eine bittere Erregung, die unverhohlen meine ganze Hilflosigkeit verriet:«Und jetzt, Gabriel, jetzt, mein Gott, ohne ihn, der mich so sehr geliebt hat, was wird jetzt nur aus meinem furchtbaren Leben, ganz allein und schutzlos?»
411
Da in meiner Stimme voller ehrlicher Verzweiflung die Bitte um Schutz mitschwang, schloß Gabriel mich an Onkel Panchos Sterbebett sanft und mitfühlend in seine Arme und sagte mit leidenschaftlicher Anteilnahme:«Sie werden nicht allein bleiben, María Eugenia, und auch nicht schutzlos, denn Sie werden bei mir bleiben, der ich Sie verehre, wie kein Mensch auf Erden je einen anderen verehrt hat.» Angesichts meiner ungeheuren Untröstlichkeit verstand es Gabriel, so viel lindernden Zuspruch, innige Freundschaft und liebende Kraft, so viel beschützende Zärtlichkeit in seine Worte zu legen, daß ich mich ihm verbunden fühlte, als könnten wir gemeinsam allen Widrigkeiten des Lebens trotzen; schwach und hilflos, wie ich war, vergaß ich die unüberbrückbare Distanz zwischen unser beider Leben und ließ meinen Kopf für einen Moment auf seine liebende Schulter sinken... Und daraufhin... ja, ja..., daraufhin, als ich einen Moment später zum zweitenmal, wie am Vorabend im Eßzimmer, die wundervolle Berührung seiner Lippen auf den meinen spürte... Ja...! Als ich zum zweitenmal seine köstlichen Lippen auf den meinen spürte... Ach, da fühlte ich... Da fühlte ich, wie eine Welle des Trostes mich erfaßte, meinen ganzen Körper überspülte, und als sie plötzlich auf meinen Lippen haltmachte, küßten auch sie voller Leidenschaft Gabriels mitfühlende Lippen. Das war der Moment... Ach! Ja..., ich glaube, das muß der Moment gewesen sein, in dem ich kurz und kraftvoll wie einen Blitzstrahl dieses unendliche, für mich schon unerreichbare Glück, das die wahre Liebe auf Erden bedeutet, aufleuchten sah... So nah und doch so unerreichbar, erhellte sein blendendes Licht wie das tödliche Licht der Blitze für eine Sekunde die Schwärze dieser Finsternis, die mich jetzt umgibt und mich für immer umgeben wird... für immer...! Doch dieses blendende Licht erleuchtete auch mich auf tragische Weise, denn auf einmal erkannte ich durch einen Geistesblitz ganz deutlich und voller Schrecken, was mein Mund dort neben Onkel Panchos sterbendem Körper tat. Da 412
gelang es mir mit der Kraft meiner eigenen Furcht, mich Gabriels tröstenden Armen, die mich mit unendlich zarter, brüderlicher Liebe drückten, zu entwinden … Einen Moment später, als ich mich aus seinen Armen befreit hatte, fiel mein entsetzter Blick auf Onkel Panchos starre, gläserne Augen, und ich glaube, in dieser unheimlichen Starre spiegelte sich die ganze Unmöglichkeit unserer Liebe, wie sich der Himmel in den trüben Sümpfen spiegelt, in denen der Tod badet. Mein wachsendes Grauen angesichts dieses starren, gläsernen Blicks ließ mich rasch wieder zu Verstand kommen, und ich stieß Gabriel mit meiner zitternden, verkrampften Rechten nervös von mir, deutete mit den Augen auf den Körper des sterbenden Christus und brachte mühsam schluchzend die Worte hervor:«Gabriel, um Gottes willen...! Wir entweihen den Tod..., wir entweihen Jesus...!» Zum zweitenmal, wie am Abend zuvor im Eßzimmer, sank ich auf die Knie, diesmal am Totenbett, stützte die verschränkten Arme auf die Bettdecke, vergrub meinen Kopf zwischen ihnen und fing bitterlich zu weinen an … Wie in einem Anfall von Wahnsinn kniete Gabriel neben mir zu Onkel Panchos bereits kalten Füßen nieder und redete ununterbrochen, wie toll, mit leiser, hastiger Stimme auf mich ein. Ich weiß noch, wie er mich bat, um Gottes willen nicht mehr zu weinen, und dann in seinem rasenden Liebeswahn sagte:«Du gehörst doch mir, María Eugenia, mein Herz, und wirst immer mir gehören, denn ich bete dich an, und du liebst mich, ja, du liebst mich! Du liebst mich! Du liebst mich! Dein beredter Kuß hat es mir bewiesen...! Ja, María Eugenia, denn nur so, in der Sprache der Küsse, gesteht man diese erhabene Liebe, die man nicht in Worte fassen kann, weil die Gesellschaft es in ihrer frevelhaften Dummheit nicht zuläßt. Doch uns beiden, die wir uns über alles lieben, uns ist die Gesellschaft gleichgültig, sind Konventionen und Gesetze gleichgültig, wir strafen alles, alles mit Verachtung, was sich uns in den Weg stellt, denn unsere Liebe ist größer, ist stär413
ker, ist ehrbarer als sie... Ja... Ja...! María Eugenia, schau, wir beide knien hier nebeneinander wie ein Paar, das in der Kirche heiratet; wir heiraten jetzt vor uns selbst neben dem Körper dieses sterbenden Christus, der uns in unserer ungeheuren Liebe segnet. Er ist das leibhaftige Bild des sterbenden Christus: Sieh ihn dir an...! Sieh ihn dir an...! Und er ist auch der sterbende Pancho, der uns wie ein Vater zusammengeführt hat, um uns in der erhabenen Stunde seines Todes zu segnen...!» Ich erschrak über die frevelhaften Worte, mit denen ich ihn durch mein Schluchzen hindurch von diesem unglaublichen Glück sprechen hörte, und unterbrach ihn:«Gabriel...! Das ist ein unverzeihliches Sakrileg...! Wir entweihen den Tod! Wir entweihen Christus...!» Ohne auf mich zu hören, redete Gabriel voller Verzweiflung weiter behutsam auf mich ein und benutzte immer noch die leidenschaftliche Form des«du», die mich berauschte und mir in den Ohren brannte, wie seine Küsse mir auf den Lippen gebrannt hatten... Ja, meine Lippen! Meine Lippen, auf ewig durch seine Küsse entflammt und verstummt und jetzt in die Bettdecke vergraben, konnten nur unter Schluchzen wiederholen:«Es darf nicht sein...! Es darf nicht sein...!» Als er es schließlich müde war, mir leise zuzureden, und sah, daß mein Mund ihm alles abschlug, ging er, überwältigt von Liebe und Erschöpfung, dazu über, mich dort an meiner Seite auf Knien in einer eindringlichen Litanei demütig anzuflehen, so als betete er für Onkel Pancho das Sterbegebet, und wiederholte lange Zeit unablässig und rastlos:«Sag mir, daß du mein sein wirst, María Eugenia, Liebste...! Sag mir, daß du mein sein wirst...! Sag mir, daß du mein sein wirst...! Sag mir, daß du mein sein wirst...! Sag mir, daß du mein sein wirst...!» In diesem Moment, als Gabriel und ich uns in unserer Verzweiflung am innigsten vereint fühlten, er in der beredten Verzweiflung seiner Worte und ich in der stummen Verzweiflung meiner Tränen, betraten langsam und in inbrünstiger Trauer die 414
anderen den Raum: zuerst Tante Clara, dann die Krankenschwester und schließlich ganz behutsam, um jeden Luftzug zu vermeiden, die weinende Gregoria, die eine flackernde weiße Seelenkerze in den frommen schwarzen Händen hielt, flackernd wie das immer schwächer pulsierende Leben, das nach und nach zwischen den blutleeren Lippen verlosch. Wie Gabriel und ich knieten auch sie rund um das Bett nieder. Tante Clara, die am Kopfende direkt neben dem Kissen kniete, hielt in der linken Hand die mystische Seelenkerze und in der rechten ein aufgeschlagenes Novenenbuch, das zerschlissen und abgenutzt war wie ihre Hände. Im gleichen Ton, in dem Gabriel mich zuvor angefleht hatte, begann sie die schmerzlichen, ergreifenden Sieben Letzten Worte170 herunterzubeten, die wir im Chor wiederholten. Das in Tränen gebadete Gesicht immer noch in den Armen verborgen, gab ich mich dem langsamen melodiösen Rhythmus hin, den Tante Clara vorgab, überließ mich lange Zeit in der Dunkelheit meiner geschlossenen Augen mit Worten und jeder Faser meines Körpers der sanften Musik der Sieben Worte. Als ich des Weinens müde war, hob ich allmählich den Kopf aus der Versenkung und betrachtete erneut mit tränenverhangenem Blick den erlöschenden Schimmer der glasigen Augen vor mir. Mit einem verzweifelt lebendigen Leuchten in meinen Augen suchte ich zu ergründen, ob diese starren, kalten Augen Onkel Panchos hinübergleitender Seele wohl jenen frevelhaften Kuß widergespiegelt hatten, den ich an seinem Sterbebett gewährt hatte... Und durch ihren geheimnisvollen Spiegel hindurch hielt ich schließlich Zwiesprache mit der hinübergleitenden Seele und nahm mit immer wieder durch Tränen getrübten Blicken von ihr Abschied, indem ich ihr von ferne nachrief:«Onkel Pancho, Papa hat mir nach seinem Tod Armut und Knechtschaft mitgegeben..., doch du, Onkel Pancho, Onkel Pancho...! Welch trauriges, welch grausames Erbe wirst du mir hinterlassen...?»
415
Meine Stimme reihte sich in den monotonen Schmerz des Chors ein und wiederholte in brüderlicher Eintracht mit Gabriels Stimme:«Mich dürstet es, o Herr, zu sterben in Deiner Liebe...! Mich dürstet es, o Herr, zu sterben in Deiner Liebe…! »In dem einen brennenden Durst verschmolz für mich die Unausweichlichkeit des Todes mit der Unausweichlichkeit meiner ewigen Liebe, und ergeben und von Bitterkeit übermannt, sehnte ich mich nur noch danach, von dem Wasser zu kosten, das man jenseits des Grabes trinkt, während ich an der Seite von Gabriel, mit dem ich nie mehr würde reden können, weiter nachsprach:«Mich dürstet es, o Herr, zu sterben in Deiner Liebe! Mich dürstet es, o Herr, zu sterben in Deiner Liebe …» Ach...! Aber dieser Durst, um dessentwillen ich mich nach dem Wasser jenseits des Grabes sehnte, dieser Durst, den ich an Gabriels Seite und an Onkel Panchos Sterbebett empfand, war nicht der Durst nach Gott auf den ausgedörrten Lippen der Sterbenden, nein, nein... Das nicht...! Es war allein mein Durst nach Liebe, mein tödlicher Durst nach Liebe, den meine Stimme verkündete und den inzwischen bereits seit zwanzig Stunden mein ganzer Körper an der Seite von Onkel Panchos eiskaltem Leichnam laut herausschreit. Ach! Aber mein Körper wird vor Durst sterben müssen..., denn lebend werden meine Augen..., ja..., lebend werden meine Augen - das schwöre ich vor dieser Tür, hinter der seine liebenden Schritte mir Liebesworte sagen! -, lebend werden meine Augen Gabriel, den geliebten Menschen, nun nie mehr wiedersehen … Nein...! Sie dürfen ihn nicht mehr sehen, denn sobald sie ihn spüren, folgen ihm diese Augen, die nicht mehr mein sind, wie losgelassene Hunde, und ich befürchte, ja, ich befürchte sehr, wenn sie ihn erneut erblicken, werden meine Augen, die ihm gehorchen und ihm folgen, in ihrer Freude meinen gesamten Körper mit sich hinwegtragen, der sich in seinem ungeheuren Durst nach Liebe verzehrt …
416
Daß mein Körper Gabriel willenlos und freudig nachfolgen könnte, habe ich gestern während der köstlichen endlosen Sekunde gemerkt, die mein Kuß dauerte, und einige Stunden später wirklich verstanden. Es muß am späten Nachmittag gewesen sein. Onkel Pancho war unter den weißen Laken und dem weißen Taschentuch, unter dem sich seine scharfen Gesichtszüge abzeichneten, bereits in seinen ewigen bleiernen Schlaf gefallen. Seit dem romantischen Kuß im Angesicht des dramatischen Todeskampfes hatte ich nicht mehr mit Gabriel gesprochen, ja nicht einmal gewagt, ihn noch einmal anzublicken, weder von nahem noch von ferne. Die letzten Zuwendungen, die man den Toten angedeihen läßt, und dann die Ankunft der ersten Freunde, die uns beistehen wollten, all diese Umstände hielten mich notgedrungen von ihm fern. Später, als wieder Ruhe eingekehrt war, kamen die langen, schweigsamen Stunden, in denen ich schwarz gekleidet am Kopfende des Totenbettes bei dem bleichen, erstarrten Körper saß, ohne ein Wort zu sprechen, ohne an etwas oder jemanden zu denken, und im Lichtschein zweier Altarkerzen, die auf einem improvisierten Altar vor dem Bett den Leichnam bewachten und einen hölzernen Christus am Kreuz beleuchteten, berauscht vom Tränenduft der weißen Narden171 in den sich mehrenden Trauerkränzen nachdenklich und traurig neben Tante Clara die Beileidsbezeugungen entgegennahm … Mir war, als sei mit Onkel Pancho auch meine Seele gestorben und befinde sich jetzt feierlich aufgebahrt in meinem reglosen Körper wie in einer erleuchteten Kapelle. Plötzlich wurde ich jäh aus meiner sphinxartigen Ruhe gerissen, als mir jemand mit gedämpfter Stimme die Ankunft eines Telegramms meldete, dessen Empfang mit einer Unterschrift bestätigt werden mußte. Auf diese Nachricht hin erhob ich mich von meinem Platz am Totenbett und verließ den Raum in Richtung Eßzimmer, wo mich bereits Gabriel erwartete, der mir wortlos den geschlossenen Umschlag eines an mich gerichteten Eiltelegramms überreichte. Ich unterschrieb zunächst die Empfangs417
bestätigung, bevor ich mit zitternden Händen den Umschlag aufriß. Während ich unterschrieb und den Umschlag öffnete, trat Gabriel, dessen Adleraugen alles aus der Ferne verfolgen und denen nichts entgeht, Gabriel, der triumphale Adler, der mich mit ausgebreiteten Schwingen vom hohen Himmel aus verfolgt und belauert, Gabriel, den ich unabänderlich in mir trage und der jetzt, während ich hinter meiner verschlossenen Tür schreibe, mit seinen Schritten nach mir ruft und ruft, wie in einem Rausch der Erschöpfung und Liebe des Nachts der süße Geliebte im«Hohelied»; trat Gabriel, dieser Gabriel, der ganz mein ist, dieser Gabriel, der längst ein lebendig abgetrennter Teil meiner blutenden, verstümmelten Seele ist, während ich unterschrieb und dann den Umschlag aufriß, ganz nahe an mich heran und flüsterte mir leise, damit keiner der Anwesenden es hören konnte, mit liebevollem, gebieterischem Ausdruck zu:«María Eugenia, dieses Telegramm ist von diesem Mann, den du nicht liebst und dem du jetzt nicht mehr angehören kannst, denn du liebst mich und gehörst zu mir; zu mir...! Hör mich an..., weil du zu mir gehörst, werde ich dich verzweifelt gegen ihn und gegen die ganze Welt verteidigen, bis aufs Messer, wie jeder Mann, wenn er ein echter Mann ist, um das streitet, was ihm gehört...! Du brauchst dich vor niemandem mehr zu fürchten …, vertrau mir...! María Eugenia, meine María Eugenia... Hör mich an: In diesem Augenblick steht für uns beide das Glück unseres gesamten Lebens auf dem Spiel...!» Während er in seiner vermeintlichen Ruhe in dieser Weise auf mich einredete, strahlte Gabriel eine solche Macht und Anziehungskraft aus, daß ich wie ein armes todgeweihtes Täubchen nur noch die Sehnsucht verspürte, die Fänge des Adlers möchten mich aus dieser Einöde, in der ich lebe, fortreißen und durch die Lüfte in schwindelerregende Höhen, zu den Wolken, auf die unerreichbaren Gipfel - wohin auch immer! - tragen, und sei es nur, um mich danach zu quälen, zu zerfetzen und in einem blutigen Festmahl aufs grausamste zu verschlingen. Da ich meine 418
Sehnsucht und die starke Faszination nicht verhehlen konnte, gab ich mich geschlagen und erwiderte sanft und folgsam, mit gesenktem Blick:«Ja …, Gabriel..., ja...., wir müssen heute abend unter vier Augen miteinander reden..., später..., wenn Onkel Pancho im Sarg liegt..., aber jetzt nicht, Gabriel...! Jetzt noch nicht...» Gabriel, der sofort die hilflose Ergebenheit erkannte, die sich in meinem Gesicht und meiner Stimme widerspiegelte, verstand meine zögernden Worte als Zustimmung für ich weiß nicht welchen wundervollen, grausamen Plan, den er bereits mit Leib und Seele beschlossen hat und mir nun unterbreiten will. Ohne ihn zu kennen, ohne ihn mir auch nur angehört zu haben, ließ und läßt dieser Plan mich erschaudern... vor lauter Furcht und Freude. Aus diesem Grund..., weil Gabriel mir sein Vorhaben erklären will, belagert er mich wie ein Wahnsinniger, ganz in meiner Nähe, nur knapp zwei Meter von mir entfernt... Da ich ihn aber weder jetzt noch später oder überhaupt jemals anhören will, werde ich mich lange Zeit schlafend stellen, meine Tür verschlossen halten wie die Geliebte im«Hohelied»und sie erst wieder öffnen, wenn ich in aller Eile aus diesem Haus flüchten kann... Ja, ich werde das Haus tagsüber fluchtartig verlassen wie ein Verbrecher den Tatort... Ach, aber den Toten, das Opfer dieses Verbrechens, werde ich auf ewig aufgebahrt in meinem sphinxhaften Körper tragen, der ihm als Grab, als weißes Mausoleum dienen soll... Wie gesagt, als Gabriel auf mich einredete, habe ich ihm tief bewegt geantwortet, während ich zitternd das Telegramm auseinanderfaltete, und in seinem Ungestüm hielt er, ohne auf meine Worte zu achten, alles bereits für fest vereinbart. Fest vereinbart...! Ach...!«Fest vereinbart». Mein Gott, wie herrlich und zugleich schrecklich sind diese Worte, die mich beim bloßen Niederschreiben schon entsetzen...«Fest vereinbart...»! Gabriel, der diesen Plan, den ich nicht kenne und mir auch niemals anhören werde, von vornherein für vereinbart hielt, sagte mir ganz gerührt:«Danke, mein Schatz! Zweimal danke:
419
danke für mein unendliches Glück und danke für dein Glück, das mir noch viel lieber und heiliger ist als mein eigenes!» Als ich schließlich das Telegramm geöffnet hatte, konnte ich auf dem Papier in meinen zitternden Händen aus den Worten, die mir vor den Augen tanzten, folgendes herauslesen: «Habe von ernster Erkrankung Deines Onkels erfahren. Bin übermorgen nachmittag bei Dir. Leal» Nachdem ich das Telegramm und den Namen des Absenders gelesen hatte, verschwamm mir für einen Moment alles vor den Augen. Ich spürte den wollüstigen Windstoß der blutigen Bestrafung, etwas wie ein Knallen in der Luft über dem für die Züchtigung bereits entblößten Rücken, und bei diesem Gedanken stieg aus den unbewußten Tiefen meiner Seele heftiger denn je meine ungeheure Angst vor Gabriel wieder in mir auf... Da befreite ich mich mit letzter Kraft aus dem Bann seines Blicks, der nicht von mir wich, und seiner Lippen, die mich mit Liebe bedrängten, und murmelte, ohne ihn anzusehen, ohne auf ihn zu hören, ohne zu wissen, was ich sagte, voller Entsetzen:«Später, Gabriel..., später, später, am Abend, am Abend, ja, laß uns dann reden!» Anschließend verließ ich das Eßzimmer, durchquerte nervös den Patio, betrat den Trauerraum, nahm wieder am Kopfende gegenüber der brennenden Altarkerzen Platz und blieb dort nachdenklich und traurig, mit dem zerknüllten Telegramm in der Hand, viele Stunden lang still sitzen… Der Schrecken des Telegramms entströmte dem zerknüllten Papier in meiner Hand, kroch mir die Arme hinauf und rieselte mir wie das Kräuseln auf der Wasseroberfläche eines Teiches über den gesamten Körper, daß ich erschauderte... Erst in dem Moment, als sich mir dort am frostigen Kopfende des Bettes, umgeben von dem Duft nach Narden und dem Knistern der brennenden Kerzen, am ganzen Körper die Haut zusammenzog, erkannte ich, wie sehr Gabriels Körper den meinen in seinen Bann zog und beherrschte … Ich dachte erneut über diesen ungeheuren Sog des Abgrunds nach und bebte lange 420
Zeit abwechselnd vor Entsetzen und vor Wonne, bis ich nach und nach wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfand und sich der endlose Himmel meiner verbotenen Liebe in unerreichbarer Ferne verflüchtigte. Während ich das starre Antlitz unter dem weißen Taschentuch betrachtete, schwor ich in der finsteren Hoffnungslosigkeit der zu lebenslänglicher Kerkerhaft Verurteilten, wie ein Märtyrer, der seinen Körper für eine Idee freiwillig opfert, in aller Feierlichkeit, daß meine Augen die geliebte Gestalt Gabriels nie mehr wiedersehen sollten. Deshalb lausche ich jetzt, während ich mit Tinte aus Blut schreibe, unter Tränen seinen liebenden Schritten, die nach mir rufen und rufen und die ganze Nacht vergeblich hinter der Tür nach mir rufen werden, so vergeblich wie die ermattete, honigtriefende Stimme des Geliebten in der wollüstigen Nacht des erhabenen«Hoheliedes»...
KAPITEL VII Am selben Samstag um Mitternacht Endlich! Endlich sind mir Flügel gewachsen. Ich gehe fort! Mit ihrer Hilfe schwinge ich mich auf zu dir, Amor, Sonne des Lebens! Mit ihrer Hilfe fliege ich dir entgegen...! Ich komme! Ich komme! Warte getrost auf mich, ich komme! Ja, jetzt kann ich ohne Sorge gehen, denn hier in Großmamas ehrwürdigem Haus, in der familiären Vertrautheit meines verschlossenen Zimmers habe ich mit auf den Schreibtisch aufgestützten Ellenbogen, den Kopf auf meine in frommer Andacht gefalteten Hände gelehnt, vor dem Altar meines weitgeöffneten Fensters und dem strahlenden Aufgebot des Sternenhimmels, geleitet vom Mond, meinem Trauzeugen in der festlichen Stille dieser Nacht, weiße Hochzeit gefeiert. Wie die ägyptischen Jungfrauen im Tempel der Isis wache auch ich jetzt bebend vor Sehn421
sucht die ganze Nacht im Tempel dieser erhabenen Stille in Erwartung des glorreichen Morgens, der den ersten Tag meines Liebesfestes einläuten soll. Endlich, endlich sind mir Flügel gewachsen, mich aufzuschwingen! Unruhig flattern sie, erwartungsvoll ausgebreitet über meinen vor Schönheit, Liebe und Stolz frohlockenden Körper! Ich habe mich in Weiß gekleidet für mein Hochzeitsfest, doch meine Flügel sind durchsichtig und glorreich in alle Farben des Lichts gehüllt... Dank ihrer, dank ihres traumhaften Gewebes werde ich am Morgen wie die Schmetterlinge, die freudig die Wärme ihrer Kokons und den reichen Schatz ihrer Seidengespinste verlassen, die Wärme dieses alten, guten Hauses und den Schatz meines reinen Namens, den Schatz meines gesellschaftlichen Ansehens hinter mir lassen und mich, wenn der Morgen graut, mit einem einzigen Schlag meiner wundersamen Flügel aufschwingen, der Sonne, dem Licht, Mutter Natur entgegen, die mich in ihrem geschlossenen Garten erwartet, wo sie mir Blumen in den leuchtenden Farben und betörenden Düften der Freude gemalt hat. Endlich bin ich frei! Die grausamen Ketten, die mich an die Erde gebunden und meinen Schritt verlangsamt, mich wie die armen Würmer, die niemals zu Schmetterlingen werden, gezwungen haben, über den Boden zu kriechen, sind auf wundersame Weise in tausend Stücke zersprungen, als mir die Flügel hervorbrachen: Endlich bin ich frei! Ich gehe, tröstender Himmel, der du mir über dem traurigen Rechteck dieses Patios, wenn ich Kummer hatte, stets bereitwillig wie eine schützende Mutter von ferne die blaue Liebe deines ganz mit Juwelen gesäumten Schoßes dargeboten hast; ich gehe, Mond, trauter Mond, mein weißer Trauzeuge, mein großzügiger König, der du mich in Momenten frostigen Elends mit einem Stück deines königlichen Mantels aus Hermelin und Silberbrokat gewärmt hast; ich gehe, ihr Sterne der Nacht, tanzende Glitzerge422
stirne, die ihr mich mit fröhlichem Blinzeln lehrtet, in den dunklen Nächten des Überdrusses über mich selbst zu lachen; ich gehe, Gitter an meinem offenen Fenster, schützendes Gitter, barmherziger, rettender Gefängniswärter, der du mich in den schwärzesten Tagen meiner Gefangenschaft durch die Kreuze deiner barmherzigen Stäbe jederzeit zum tröstenden, unendlichen Himmel hast aufblicken lassen; ich gehe, Puppenlampe auf meinem Schreibtisch, leuchtende Gefährtin, innige Freundin, grün-rosa Lehrerin in Fragen der Koketterie, die du mir mit deinem aufgeplusterten Rock, deiner vorgetäuschten Ohnmacht und deinem geheimnisvollen Licht tagtäglich von den frivolen Wonnen erzählt hast, die Liebe und Luxus bergen; ich gehe, Orangenbäume, meine Freunde, galante Galane, die ihr Tag und Nacht, immer grün wie die Hoffnung, verliebt vor meinem Gitter Spalier gestanden habt; ich gehe, Apfelsinenblüten, meine kleinen Milchschwestern, die ihr als weise, barmherzige Krankenpflegerinnen so oft meine brennenden Wunden mit eurem Parfüm und der Watte eurer weißen Blütenblätter gesalbt habt; jungfräulich reine Apfelsinenblüten, die ihr wie Weihrauchpfännchen den Tempel der Stille für meine Vermählung mit Wohlgeruch erfüllt; ich gehe, süße Gefährten meiner Gefangenschaft, Priester und Gäste meiner Hochzeitsfeier, dichtgedrängte Sternenschar: Ade ihr alle, denn morgen gehe ich endlich, um für immer über die herrliche Pracht meines Freudenfestes zu herrschen! Ja, ihr lieben Freunde, ich gehe, denn Amor, der Berge zu versetzen vermag, hat meine Augen auf wundersame Weise wachgeküßt, mir diese zwei Flügel aus Licht an die Schultern geheftet und wünscht mich als Königin dort in seinem erhabenen, prachtvollen Reich. Ich habe bereits Hochzeit gehalten und beginne allmählich, während ich die Nacht durchwache, die laute Festtagsstimmung zur Feier meiner Thronbesteigung zu erahnen... Ich kann sie schon hören, kann alles hören...! Wie die Sphärenmusik lauter wird...!
423
Ich höre das Geklingel der Schellen an dem Pferdegeschirr, das die Reitknechte putzen und polieren; ich höre die ehrenwerte Stimme der großen Glocken, ich höre die tausend kindlichen Stimmen der Glockenspiele, die sich in einem wilden Reigen drehen; ich höre das Aufsteigen und Krachen des Sternenregens einer Kette von Feuerwerkskörpern; ich höre das ungeduldige Schnauben der Pferde in weißem Geschirr; ich höre das majestätische Gleiten meiner perlmutternen Kutsche; und über allem höre ich das schreckliche Geschrei der begeisterten Menge angesichts dieses ungewöhnlichen Festzugs, der auf Flügeln, ohne den Boden zu berühren, vorbeizieht und für alle sichtbar die Pracht seines königlichen Glanzes zur Schau stellt... Wenn meine Augen bei meinem Abschied nicht weinen, dann nur, weil sie den Tod beweint haben und die brachliegende Hoffnung, und ihr Vorrat an Tränen erschöpft ist. Wenn meine Augen jetzt nicht weinen, dann nur, weil die feurigen Augen der klugen Jungfrauen aus Furcht, ihre Flamme könnte in der Liebesnacht erlöschen, das verlorene Heim und die verlorene Unschuld allein mit Tränen aus Orangenblüten und dem Schluchzen ihrer durchscheinenden Schleier beweinen. Strahlende Hochzeitsgäste, treue Gefährten meiner Gefangenschaft und ihr, meine Milchschwestern, weint, weint alle für mich. Ich will meine Augen nicht mit dem Wasser meiner Tränen löschen, denn sie sind die Fackeln, mit denen ich dem Geliebten morgen in der mystischen Nacht meines Liebesfestes das Licht der Freude anzünden möchte... Leuchtende Hochzeitsgäste: Solange ich wache, weint, weint, weint alle für mich …! In diesem Augenblick hat der Kirchturm, mein alter Freund, mir mit seiner frommen Stimme des Gebetsrufers die erste Stunde verkündet... Die erste Stunde meiner rituellen Nachtwache ist vorbei. Die erste Stunde dieses Tages meiner Wiederauferstehung! Während meine Wache andauert, will ich über die Schritte nachdenken, die
424
ich bereits auf dem blutigen Leidensweg meiner Erlösung gegangen bin … Ich habe das Gefühl, immer noch das leise Raunen zu hören, das gestern am frühen Morgen in dem armen traurigen Haus voller Blumen und schwarzer Stühle wisperte. Es war Onkel Panchos Beerdigung, die sich leise regte. Ich spürte, wie es in dem geschlossenen Grab jenes engen Zimmers allmählich unruhig wurde. Nach und nach schwoll das schwarze Flattern zu einem sanften Zischeln an, wuchs sich dann zu einem gedämpften Brodeln aus und brach schließlich mit seiner Last andächtig in Richtung Friedhof auf... Auch Gabriel folgte dem Trauerzug auf dem gleichen Wege... Ich hörte das liebevolle Lebewohl, das seine Schritte mir jenseits der Tür auf dem Boden verkündeten. Als sie ebenso verhallt waren wie der ferne Lärm der über die Straße rollenden Wagen, spürte ich, wie sich auf meiner schmerzenden Haut auf schreckliche Weise das frische Grab meiner beiden Toten auftat. Nun verwaist und frei, hüllte ich mich in einen Umhang, öffnete die Tür und verließ verstohlen das Zimmer, in dem ich mich eingeschlossen hatte. Ohne Tante Clara Bescheid zu sagen oder mich von irgend jemandem zu verabschieden, nahm ich draußen einen vorbeifahrenden Wagen und kehrte in das Gefängnis dieses tugendhaften, strengen Hauses zurück. Als ich eintrat, saß dort in ihrem Korbsessel inmitten einer Flut von Palmen und Farnen Großmama … Sie erschrak über mein unerwartet frühes Erscheinen, und auch mir bereitete ihr Anblick einen schmerzlichen Schrecken. In der todkranken Mattigkeit ihres Gesichts, in dieser todbringenden Erschöpfung, deretwegen Tante Clara zwei Tage zuvor so viele Tränen vergossen hatte, glaubte ich das gleiche Siechtum zu erkennen, welches mir das Herz brach. Großmamas Mund war es dann auch, der meine Gedanken aussprach, als sie mir in ihrer Verwunderung ihren Eindruck schildern wollte und sich damit nur selbst beschrieb:«Du bist ja völlig verstört, María Eugenia, mein Kind, völlig verstört! 425
Du bist kaum noch ein Schatten deiner selbst, du Ärmste... Wie viele Nächte mußt du durchwacht haben, wie sehr mußt du gelitten haben, daß du so zerrüttet aussiehst … Aber jetzt ist alles vorbei, geh und ruh dich aus, mein Kind, geh ruhig und ruh dich aus...» Mit diesen Worten umarmte mich Großmama und weinte still über Onkel Panchos Tod. Auch ich umarmte sie wortlos, aber ohne eine Träne zu vergießen. Dann befolgte ich ihren Rat und wankte wie in Trance hierher in mein Zimmer, wie in Trance öffnete ich diese Tür, und als ich sie öffnete..., ach..., als ich sie öffnete, riefen mir alle vertrauten Gegenstände, alle meine liebgewonnenen Freunde, die mir wahrhaftig zugetan sind, als sie mich so blaß und elend heimkehren sahen, mit erhobenen Armen und einhellig zu:«Da hattest du das ganze Universum in Händen, und jetzt kommst du mit nichts wieder, María Eugenia...!» Erschüttert darüber, daß sie nicht etwa mein schreckliches Liebesvergehen beklagten, schloß ich die Läden, um das Licht zu verbannen, schloß die Augen und legte mich ins Bett, wo ich in meiner Verzweiflung die bittersten Tränen vergoß, die je ein Mensch vergossen hat. So lag ich stundenlang wach und weinte und weinte Tränen der Hoffnungslosigkeit. Zuerst kehrte Tante Clara heim. Ich hörte von ferne den Klang ihrer Stimme, als sie sich mit Großmama unterhielt, und eilte sofort zu ihr. Sobald sie mich hereinkommen sah, unterbrach sie ihren Bericht, um mir vorzuwerfen:«Aber was ist das bloß für ein Benehmen, María Eugenia! Du hast mich schrecklich blamiert. Du hast mir ja nichts davon gesagt, daß du nach Hause gehen würdest, und dich auch von niemandem verabschiedet, nicht einmal von Gabriel Olmedo, dem wir so viel Dank schulden... Als er vom Friedhof zurückkam und mich nach dir gefragt hat…, wußte ich ehrlich gestanden nicht, was ich ihm sagen sollte. Du hast dich nicht einmal bei ihm bedankt, María Eugenia! Nicht einmal bedankt!»
426
Nun nahm Tante Clara ihren unterbrochenen Bericht wieder auf und fing an, Gabriels Verhalten zu preisen. Ich jedoch fragte in Todesangst mit kraftloser Stimme:«Was hat er denn gesagt, Tante Clara?» Einen Moment lang schaute sie mich erstaunt an, ohne zu antworten. Dann fuhr sie vorwurfsvoll fort:«Herrje, was für eine Art zu reden! Entweder sind es die Nerven oder eine sehr schlechte Kinderstube, aber was für ein Benehmen, was für ein Benehmen... Na, nichts hat er gesagt, was sollte er schon sagen? Ich brauchte nur in sein Gesicht zu blicken, um zu verstehen, wie sehr ihn deine Unhöflichkeit gekränkt hat. Ich glaube, du solltest ihn heute oder morgen anrufen, um dich bei ihm zu entschuldigen und ihm zu danken.» Ach! Ihm danken! Ihm danken! Ich kehrte in mein Zimmer zurück, legte mich aufs Bett und fing wieder an, über das grausame Elend meiner Pflichterfüllung zu weinen. Doch während ich weinte, hoffte ich durch die Tränen hindurch voller Zuversicht... und hoffte..., ich weiß gar nicht, worauf! Und da wahre Hoffnung Berge versetzen kann, trat viele Stunden später, als es schon Abend wurde, wie durch ein Wunder ein, was ich erhofft hatte … Als es Abend wurde, öffnete sich meine Zimmertür einen Spaltbreit, und mit einem Lichtstreifen drang feierlich María del Carmens Stimme herein, vibrierend wie die einer Wahrsagerin, die ein Wunder verkündet:«Señorita María Eugenia, gerade ist ein Bediensteter gekommen, um eine persönliche Nachricht für Sie abzugeben.» Als ich das vernahm, schüttelte ich im Nu meinen Kummer ab und erhob mich, wieder voller Vertrauen in mich selbst und das, was nun geschehen würde, triumphierend, strahlend und voller Tatendrang, ruhmreich, als sei ich von den Toten auferstanden. Als mir zwei Hände kurz darauf an der Haustür einen versiegelten Umschlag reichten und eine Stimme vermeldete:«Von Don Gabriel Olmedo», fühlte ich mich geblendet von dem Licht, das 427
ich selbst ausstrahlte, denn dieser Brief war derselbe, der jetzt noch immer ungeöffnet hier auf meinem Tisch liegt, leidenschaftlich liebkost von meinen Händen...! Ja, es war dieser vergötterte Brief, dieser erlösende Brief; der, auf den meine Augen zwei Jahre lang vergeblich gewartet hatten; der von San Nicolás; der mit den Fliegenbeinchen; der, den ich in meiner verliebten Träumerei freimütig millionenmal der gesamten, mir brüderlich verbundenen Landschaft vorgelesen habe; der undankbare, verlorene Sohn, der nun an der Pforte meines nachsichtigen Herzens um Verzeihung bettelt; der späte Brief, der endlich meine lechzende Seele beglückt wie der Regen die lechzende, vom langen Warten schon rissige Erde; der kühne Eroberer, der mich einlud, ihm zu folgen, als das Leben mir bereits unüberwindliche Berge und Schluchten in den Weg zu meiner Liebe gestellt hatte; der weise Brief; der barmherzige Meister, der mich in meiner Verzagtheit die erhabenen Wonnen gelehrt hat, durch die Lüfte zu schweben, um die Abgründe zu überwinden; der Brief, der mich zur Königin gekrönt hat; der Brief, dessen Bögen, lichtbesprenkelt und von schwarzen Zickzacklinien durchzogen, die siegreichen Schwingen sind, auf denen ich morgen und auf ewig über der verächtlichen Unzulänglichkeit der menschlichen Konventionen schweben werde; der Brief, den ich schließlich mit einem Strauß von Küssen geöffnet habe; den ich mit jener Girlande aus Küssen gelesen habe, die meine Augen nach und nach über der flammenden Liebe eines jeden Buchstabens geflochten haben... Ja...! Ja! Dieser an mich adressierte Umschlag, den mir, als es schon Abend wurde, zwei Hände an der Haustür überreichten, war mein Brief..., mein Brief..., mein erlösender Brief von Gabriel...! Er hat mich mit seinem Licht niedergeschmettert, mich auf dem Weg meiner vorgefaßten Meinung zu Fall gebracht und mich im Nu zu seiner neuen Religion bekehrt, wie der Blitz den heiligen Paulus auf dem Weg nach Damaskus;172 er hat mich sanft in seinen Schoß der Liebe aufgenommen; er hat mich bekehrt, weshalb ich mich jetzt wie die jungen Konvertiten im weißen Tauf- und Brautkleid 428
feierlich vermählt habe vor dem prächtigen Aufgebot der nächtlichen Natur, jener schwarzen, mit Edelsteinen geschmückten Königin, die über alle geheimnisvollen Wonnen meiner neuen Liebesreligion gebietet... Mit meinen Lichtbögen, die mir als Flügel dienen, warte ich jetzt an meinem auf den unendlichen Himmel geöffneten Fenster wie die ägyptischen Jungfrauen im Isistempel, im Tempel dieser erhabenen Stille, bis im Morgengrauen die Liebe tagt...!
KAPITEL VIII Gabriels Brief María Eugenia, Liebste: Gestern, nachdem Pancho von uns gegangen war, hast du mir im Eßzimmer seines Hauses mit diesem verfluchten Telegramm in den Händen versprochen, du würdest am Abend mit mir reden. Du hast Dein Wort gebrochen, María Eugenia. Du hast Dich vor mir versteckt, Deine Tür vor mir verschlossen und mich erbarmungslos die grausamsten Stunden meines Lebens vor ihr verbringen lassen, und heute morgen schließlich hast Du meine Abwesenheit genutzt, um mir zu entfliehen, und hast mich verhöhnt. Doch dieser Brief, der meine Stimme ist, wird Dich, wie versprochen, suchen, wo immer Du Dich versteckt hältst, und Du mußt ihm in Deinem Versteck Gehör schenken und gehorchen, denn mein Brief ist der Schrei des Lebens, das Dich ruft, und ich fühle, daß Du ihn, halb tot vor Angst, sehnlichst erwartest. Mit Deinem Versuch, mich zu hintergehen, María Eugenia, Liebste, hast Du Dich selbst verraten. Damit hast Du mir gezeigt, wie sehr Dich die Gewalt unserer verbotenen Liebe erschreckt und zugleich lockt. Jetzt weiß ich, daß Du dort in Deinem Versteck, mein armer Angsthase, nur darauf wartest, daß die Stunden 429
verstreichen und Du unserer Liebe den Todesstoß versetzen kannst, indem Du sie den groben Händen dieses Henkers übergibst, der morgen eintreffen wird. Doch das wird nicht geschehen. Du darfst diese Sünde nicht begehen, María Eugenia. In einem Augenblick der Verzagtheit und der Hilflosigkeit warst Du dazu bereit, doch wenn Du jetzt diesen Brief liest, der Dir sagt, daß ich verrückt vor Liebe und Dir trotz der Entfernung ganz nahe bin, fest entschlossen, Dich vor dieser schändlichen Tat zu bewahren, wirst Du es nicht wagen, nein, Du kannst es unmöglich tun. Ich bin sicher, Du wirst stark sein, wenn Du mich angehört hast; sicher, Du wirst Deinen sichtbaren Henker ebenso besiegen wie alle unsichtbaren, die in Deinem Inneren toben. Ja, María Eugenia, gemeinsam werden wir über alle siegen, denn Du bist meine Verbündete gegen sie, und unsere Liebe ist stärker als alle zusammen. Gemeinsam sind wir die Wahrheit, das Leben, die Welt im Kampf gegen bloße Schimären. Mein Brief wird Dich um Deines Lebens, um der Liebe willen, um meinetwillen bitten, gleich morgen mit mir zu fliehen. Ich erwarte Dich hoffnungsfroh und voller Zuversicht. Ich fühle, daß Du kommen wirst, und habe für unser gemeinsames Glück schon alles minutiös geplant. Die Einzelheiten erkläre ich Dir später. Zögere nicht, wenn Du das liest; auch wenn Dir meine Worte skandalös erscheinen, denk nicht lange nach; denn schau, die Zeit drängt und ist der einzige wahre Feind, der alles vereiteln kann. Aber das brauche ich Dir nicht zu sagen: Du wirst keine Sekunde vertun! Nur wegen der flüchtigen Bedenken angesichts des möglichen«Skandals»wirst Du nicht auf die Erfüllung eines glücklichen Lebens im Rausch der Liebe verzichten. Nein, nein, Du brauchst keine Ratschläge! Während meine Hand dies schreibt, ruft mein Herz mir zu, daß Deine angebeteten Augen, Deine feurigen, leidenschaftlichen Augen, die jetzt mein sind und Dich mir schon so oft verraten haben, wenn sie ihr Licht auf diese Zeilen werfen, erkennen werden, wie sehnsüchtig und voller Ungeduld ich Dich erwarte, und Dir sagen werden, daß ich Dich als Ehren430
mann entschlossen bis zum letzten Blutstropfen beschützen werde, und dann wirst Du, die Du tausendmal mein bist, in Liebe entflammt, keine Sekunde mehr zögern und zu mir eilen. Aber..., wenn Du doch zögerst...? Nein! Unmöglich! Gestern noch, am Bett des sterbenden Pancho, hast Du in Deiner großen Verzweiflung unbewußt um meine Liebe gefleht, sie möge Dir mit ihrer Kraft beistehen in Deiner Hilflosigkeit. Vergiß nicht, daß es Deine Lippen waren, die mich darum baten, und daß sie dies nicht mit Worten taten. Seit dieser unmißverständlichen Bitte Deines Mundes weiß ich, daß Du mein bist. Deshalb rufe ich Dich jetzt und flehe Dich an, ja, ich gebiete Dir, zu kommen. Als Mann ist es mein gutes Recht, Dich zu mir zu rufen, María Eugenia, denn Du bist meine Frau. Wenn Du meinen Worten nicht Folge leistest, gerätst Du schon morgen für immer in die Fänge dieser grausamen Ehe, wirst ohnmächtig und unter Tränen der ewigen Prostitution anheimfallen, wogegen ich mich mit jeder Faser meines Körpers sträube. Du darfst diesem Mann nicht gehören, María Eugenia. Du gehörst mir, Du gehörst nur mir, per Naturgesetz. So selbstverständlich und unwiderruflich wie mein Leben meinem Körper gehört. Du und ich, wir sind eins, wir gehören einander, weil die Natur es so gewollt hat, als sie uns das seltene Privileg schenkte, in der wahren Liebe eins zu werden. Es ist das heiligste Gut, das sie zu vergeben hat. Erinnere Dich, María Eugenia, es war schon einmal zum Greifen nahe, doch ich habe es verschmäht, um mich nichtigen Dingen zuzuwenden. Heute, da ich es mit blutigen Tränen beklage, bitte ich Dich, diesen Fehler nicht zu wiederholen, denn diesmal wäre es endgültig. Verschmähe es nicht aus Feigheit, María Eugenia, nein, nein, verschmähe es nicht! Bedenke, daß Du zum Lohn vor der ewigen Sklaverei bewahrt bleibst, daß es nicht nur Deine Rettung ist, sondern auch ein unschätzbares, göttliches Geschenk, mit dem uns die Natur auszeichnet, die Liebe gewährt wie Leben und Tod.
431
Ich erwarte Dich also im Namen eines heiligen Rechts … Unsere baldige Vereinigung ist sanktioniert durch den erhabenen Willen der Natur und somit trotz der gesellschaftlichen Ächtung und der Empörung unserer Angehörigen legitim. Deine Ehe hingegen käme einer lebenslangen von den Gesetzen genehmigten und von allen gebilligten Zwangsprostitution gleich, die Dir wie den meisten Frauen unseres Standes sehr bald blüht, wenn ich Dich nicht davor bewahre. Meine unendliche Liebe wird Dich um jeden Preis schützen und verteidigen, denn nur sie hat einen legitimen Anspruch auf Dich. Du mußt wissen, daß ich moralisch gesehen frei und ungebunden bin, da meine Ehe, wie Dir bekannt ist, nur noch ein absurdes Possenspiel ist, um den Preis meines Glücks als gesellschaftliche Fassade aufrechterhalten, hinter der sich tagtäglich das abscheuliche und unanständige Drama gescheiterter Beziehungen abspielt. Daher habe ich, was meine Person betrifft, jedes Recht, mein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. In Deinem Fall, den ich kenne wie meinen eigenen, gilt das um so mehr. María Eugenia, bei Pancho und später bei Gregoria, Eurer alten Wäscherin, habe ich mich schon seit langem nach Deinem traurigen Leben erkundigt, wie es zu Deiner Verlobung kam, nach Deinem Bräutigam, diesem groben Kerl, den Du nicht liebst und den ich bis auf den Tod hasse. Da ich Leal nicht nur dank meiner Nachforschungen, sondern auch persönlich kenne, und auch Du mir vertrauter bist, als Du glaubst, bis in die verborgensten Winkel Deines schwärmerischen, liebenswerten Temperaments, weiß ich, daß Du in Deiner jugendlichen Gier nach Leben all Deine latenten und unterdrückten Sehnsüchte für Liebe gehalten hast. Auf diese Weise hast Du Dir in Deiner lebhaften Einbildung ein Scheingefühl geschaffen, diesen vulgären Leal idealisiert und in Deiner schwärmerischen Art Deine Liebe, die eigentlich einem anderen gilt, auf ihn projiziert. Da diese Gefühle ausschließlich in Deiner Phantasie bestehen, würdest Du, falls Du diese Ehe eingingst, irgendwann die Augen öffnen und das entsetzliche Elend 432
Deines armseligen Lebens erkennen. Stell Dir die ewige heimliche Tragödie vor, Treue, Ergebenheit, Respekt, Gehorsam und Liebe heucheln und Deine Aversion und Verachtung gegenüber diesem Despoten verbergen zu müssen, der Dir alles aufzwingt, seine Bedingungen, seine lächerliche Person, und selbst bei Deinen Kindern wirst Du seine Gesichtszüge, seinen Charakter und womöglich genau die Eigenschaften wiedererkennen, die Du am meisten an ihm haßt. Schieb nicht Deine Familie vor oder Deine Skrupel, dieses marode, rückständige Zuhause zu entehren, in dem Du lebst, das nicht einmal Deines ist, denn nachdem es als Befürworter dieser schändlichen Eheschließung unser Unglück erst einmal besiegelt hat, wird es schon bald untergehen. Sie haben nicht das Recht, Dir ihre moralischen Prinzipien aufzunötigen. Als Eduardo Aguirre Dich bestahl, hat er Dich in Ketten gelegt und moralisch und materiell abhängig gemacht. Wie jede mittellose hübsche Frau blieb Dir keine andere Wahl, als die Schönheit Deines Körpers zu verkaufen. Du wolltest ihn mit Billigung der Gesetze und der Kirche, der Gesellschaft und Deiner Familie für immer an einen einzigen Mann verkaufen, als machte diese Art des endgültigen Verzichts und der allgemeinen Zustimmung den Verkauf nicht tausendmal abscheulicher als die vielen Verkäufe, die heimlich geschehen, ohne gesetzliche Garantie oder religiöse Sanktionierung. Doch aufrichtig und ehrlich, wie Du bist, hieltest Du in Verkennung Deiner selbst Deine Wünsche und Bedürfnisse für Liebe und hast Dich verkauft, was ich zutiefst mißbillige und auf keinen Fall zulassen werde. Ja, hör mir gut zu: Ich habe, so paradox es klingen mag, das Recht, Dich gegen Deine Familie zu verteidigen, um so mehr, da ich genau weiß, daß einige von ihnen Dich unerbittlich von Mercedes’ Haus ferngehalten, Dich auf dieser Hazienda abgeschottet und aus Bosheit, aus Neid oder warum auch immer, jeglichen Kontakt zwischen Dir und mir unterbunden haben. Selbst die Dich wirklich lieben, wie Deine Großmama oder Deine Tante Clara, tun das im Rahmen gesellschaftlicher 433
Normen und veralteter Ansichten und Kriterien, die weder Du noch ich teilen. Daher sehen sie das abscheuliche Unrecht dieser Ehe nicht, in die Du Dich, allein durch die Umstände getrieben, blind und ohne jede Neigung begibst, und morgen werden sie mit Entsetzen das ungeheure Glück unserer Verbindung betrachten, nur weil diese im Widerspruch zu ihrem Respekt vor den gesellschaftlichen Vorschriften steht. Was sie lieben, ist Dein guter Ruf, der äußere Schein, für Dein persönliches Wohlbefinden interessieren sie sich nicht. Wie kannst Du also, wenn es darum geht, die Weichen für Dein ganzes Leben zu stellen - das wahre, reale, unmittelbare Leben, das einzige, an das Du glaubst und für das Du geboren wurdest -, ein Kriterium in Betracht ziehen, das nach unser beider Vorstellung völlig absurd ist? Ich verstehe ja, María Eugenia, Liebste, denn ich kenne Dich gut, daß Gefühle wie Zuneigung und Mitleid bei Dir stärker sind als alle Vernunft. Ich weiß, daß Du beim Gedanken an das Glück unserer siegreichen Liebe voller Trauer an den Schmerz denken wirst, den unser Glück Deiner Großmama in ihren letzten Tagen, schon am Rande des Grabes, zufügen wird. Ich respektiere dieses Mitleid Deiner empfindsamen Seele und liebe Dich deshalb um so mehr. Doch dieses Mitleid sollte Dich nicht soweit beherrschen, daß Du auf dein Lebensglück verzichtest, denn das wäre ein Verbrechen gegen Dich selbst. Die Liebe, die das Vorrecht der Jugend ist und der heilige Quell des zukünftigen Lebens, übertrumpft alle anderen Gefühle, denn so hat es die Natur, die gegen alles Alte und Hinfällige grausam ist, gewollt. Du darfst die vielen erfüllten, fröhlichen Jahre, die ich Dir bescheren werde, nicht für die zwei Monate opfern, die Deiner Großmama noch bleiben. Weine, weil Du sie verläßt, weine über ihren Schmerz, beweine ihren Tod, doch voller Mitleid und Güte, wie es die Starken im Geiste tun; laß die Pflicht über das Mitleid siegen und komm mit mir, der ich als Deine wahre Liebe die oberste Pflicht in Deinem jungen, triumphierenden Leben bin.
434
Damit Deine Ohren nicht schockiert sein müssen über die Worte, die Dir vielleicht über die Lippen kommen, lies stumm und aufmerksam im Licht Deiner angebeteten Augen, was ich Dir gebiete, damit wir beide einmütig den herrlichsten, köstlichsten Liebestraum wahr werden lassen. Hör auf mich, gehorche mir und tu, was ich Dir sage, Du mein Leben, denn zur Belohnung, das schwöre ich Dir, werde ich Dich auf den höchsten Gipfel des Glücks auf Erden führen, und ich schwöre, daß ich Dir immer untertänigst, ergeben und wahnsinnig vor Liebe wie ein Sklave zu Füßen liegen werde. Wenn Du meinen Brief gelesen und Dich dazu durchgerungen hast, meine Braut, auf dem von mir gezeigten, blumenübersäten Weg mitzukommen, zieh Dich zurück, ganz allein mit meinem Brief, geh allen aus dem Weg, und sprich mit niemandem. Mit diesen Seiten schicke ich Dir meine ganze geistige Kraft, und wenn Du ihn sorgsam in Deinem Herzen bewahrst, wird er Dich stützen und anspornen. Mein Brief wird heute abend in deine Hände gelangen. Ich fühle, daß Du ihn erwartest, spüre, daß Du ihn begierig lesen wirst, und wenn du die Lektüre beendet hast, wirst Du endgültig mein sein. Daher bitte ich Dich, Dich in Dein Zimmer einzuschließen, sobald Du ihn gelesen hast. Solltest Du noch nicht gegessen haben, ruf irgendeinen Bediensteten und laß Dir das Essen aufs Zimmer bringen. Gib Bescheid, daß Du schlafen willst, und bitte darum, daß man Dich aufgrund Deiner Erschöpfung und der langen Nachtwachen morgen früh nicht wecken möge. Dank dieser sehr überzeugenden Vorkehrungen wird niemand Deine Abwesenheit bemerken, bevor wir frei und jedem Zugriff entzogen sind. Denn morgen werde ich Dich in aller Frühe ab fünf Uhr in einem Wagen erwarten, der an der nächsten Straßenecke östlich von Deinem Haus parkt. Für diesen Schritt, durch den wir das Glück für unser gesamtes Leben erlangen, brauchst Du nur ein einziges Mal Deinen Mut zusammenzunehmen, das heißt Dich zu entschließen, unbemerkt die wenigen Schritte von Deinem Haus bis zu der nächsten Straßenecke zu435
rückzulegen, wo ich Dich voller rasender Ungeduld erwarten werde. Wenn Du erst einmal bei mir bist, brauchst Du nichts mehr zu befürchten, zu denken oder zu tun, denn da Du ganz mein bist, werde ich Dich fortan vor allen Deinen sichtbaren und unsichtbaren Feinden beschützen. Vorerst will ich das mit den effizientesten und sichersten Mitteln tun, als da sind: Rückzug und Flucht. Im Hafen von La Guaira liegt ein Dampfer vor Anker, der um zwölf Uhr mittags in Richtung Colón und New York in See stechen wird. Wir werden uns diskret als Frischvermählte ausgeben und an Bord sein, wenn der Dampfer ausläuft. Ich habe die Passagen bereits gebucht und die Genehmigung, an Bord zu gehen, erwirkt, und wenn Du heute nacht nicht zögerst, was Du nicht tun wirst, werden wir in fünf oder sechs Tagen frei von allen gesellschaftlichen Ketten ganz als wahre Kinder der Natur, die fortan unsere Mutter und Göttin sein wird, unsere Liebe erleben können, und um uns zu lieben, wird uns die ganze Welt offenstehen. Welch ein Leben voller Glückseligkeit, María Eugenia …! Zunächst aber kommt der morgige Tag und mit dem Morgengrauen der Augenblick unserer siegreichen Flucht. Zitternd und bleich vor Furcht und Erregung wirst Du zu mir stoßen. Wenn ich Dich endlich bei mir habe und Dich wahnsinnig vor Dankbarkeit in die Arme schließe, werde ich Deine Furcht vertreiben; während wir wie eines der legendären Liebespaare auf der Flucht sind, werde ich Deine angebeteten Augen mit sanften Küssen beruhigen und so Deine bebende Furcht in den süßen Schauder verwandeln, der Frischvermählte beim Aufbruch in die Flitterwochen vor Liebe erzittern läßt... Anschließend, mein angebeteter Schatz, folgt eine lange Schiffsreise, folgt die Weite des Himmels und des offenen Meeres. Stell Dir vor...! Wir werden helle Vollmondnächte erleben. Du wirst Dich vielleicht noch tagsüber vor den Passagieren verbergen, aus Furcht, sie könnten unsere Romanze erraten und darüber tuscheln, doch gleich nach Einbruch der Dunkelheit wirst du 436
heimlich, nah bei mir wie mein weißer Schatten im Mondschein, an meinem Arm die höchste Brücke des Schiffs erklimmen... Dort werden wir allein sein und uns eng umschlungen in die Augen schauen, uns auf den Mund küssen, uns in der Ruhe der freien Natur unter dem Sternenhimmel baden und mit unseren Küssen die weiße Herrlichkeit des Mondes, unseres blassen und überaus süßen Honigmondes, preisen... Wenn Du dann Dein hübsches blondes Köpfchen schmachtend auf meine Schulter sinken läßt und beim Gedanken an die Geschehnisse in Deinem alten, zurückgelassenen Zuhause in Caracas immer noch Tränen der Angst oder Tränen des Mitleids vergießt, werde ich Dir, an die Reling gelehnt, in der Ferne die weiße Kielspur auf dem im Mondschein glitzernden Wasser zeigen und Dich mit den Worten trösten:«Genau wie das Schiff, mein Schatz, sind auch wir das Leben, das mutig voraneilt. Sieh, wie es vorwärts strebt, ohne Furcht vor dem, was kommt, ohne je innezuhalten, um diese tiefe, weiße Wunde im Wasser zu betrachten, die nichts als Schaum ist und irgendwann vernarbt, verblaßt und sich auflöst, während der Dampfer, schau ihn Dir an, kraftvoll und ruhig, ohne Furcht oder Mitleid übers Meer gleitet, immer siegreich seinem Ziel entgegen...»Wenn Du dann mit sich in der Ferne verlierendem Blick unter Tränen erwiderst:«Du hast recht!», werde ich Dich ob dieser schmerzenden, offenen Wunde, die wir Deinem alten Zuhause im fernen Caracas zugefügt haben, noch tausendmal mehr lieben. Dann werden wir unser Ziel erreichen und mit ihm die stillen Gewässer, die ruhige Idylle unserer Liebe... Denk daran... Denk daran...! Wie alle Liebenden werden wir in dem immer rosig blühenden Pariser Frühling unser erstes Nest unter einer Dachtraufe oder im Schatten eines Baumes errichten. Und sollte Dich in der stillen Geborgenheit unseres Nestes immer noch Dein Gewissen oder die tiefe Sehnsucht nach einem geregelten bürgerlichen Leben plagen, werde ich, begierig, Dir die Rechtmäßigkeit unserer Liebe zu beweisen, Dich auf eine Pilgerfahrt um die ganze Welt führen. Erleuchtet von unserer heftigen Leidenschaft, werden wir 437
beide so im wahren Buch des menschlichen Lebens lesen, das die Welt auf all ihren Wegen vor uns ausbreitet. In diesem Buch wirst Du die ungeheure Vielfalt gesellschaftlicher Konventionen und religiöser Vorschriften kennenlernen, die quer durch alle Jahrhunderte und Rassen stets vergeblich versucht haben, den überbordenden Schwall des Lebens einzudämmen, wenn ebendieses Leben überschäumt und in einer erhabenen und allmächtigen Liebe wie der unseren zutage tritt. Auf diese ruhmreiche Pilgerreise, von der Du vollständig überzeugt und zu unserer heiligen Liebe bekehrt zurückkommen wirst, werden wir unsere idyllische Romanze im Gepäck überallhin mitnehmen. Bedenke..., bevor wir aufbrechen, werden wir unsere Herzen in den Geist der Kunst hüllen und Geheimnisse der Schönheit in allen verborgenen Winkeln des Vergessens suchen, wo das frühere Leben noch seine Träume träumt.... Und welch eine Freude, wenn wir unter dem Staub des Vergessens die Konflikte unserer ewig gepeinigten und ewig siegreichen verbotenen Liebe wiederfinden! Denk daran...! Auf unserer langen Absolutions- und Glaubensreise werden wir als brave Kinder zuallererst den unwirschen Seelen unserer Vorfahren huldigen... Wir werden unser Pariser Nest verlassen, die Pyrenäen überqueren und unsere Ahnen ehrerbietig im Escorial, in Toledo, Salamanca, Burgos, Granada, Córdoba und Sevilla begrüßen... Dort werden wir sie in den dunklen, verwinkelten Gäßchen flüstern hören, wo die mit Blumenkästen geschmückten Balkone alte Geschichten von der Liebe erzählen, grausam vom Eifer der Religion oder vom Rassenhaß verfolgt, stets glorifiziert, stets mit strahlendem Lächeln, Kußgeflüster, sanften Gitarrenklängen, Volksliedern, nächtlichen Messerstechereien, erleuchteten Christusfiguren, Prozessionen und Ketzerverbrennungen... Wenn Du diesen malerischen Triumph der Liebe gesehen hast, deren Spuren sich in den Gesichtszügen der Völker verewigt ha438
ben, die trotz aller Anfeindungen und Fanatismen siegreich aus der Glut ebenjenes Feuers hervorgingen, das auch in uns brennt, werden wir mit dem Glauben unserer Liebe in den Augen und auf den Lippen Spanien verlassen und das Mittelmeer bereisen. Dort werden wir uns in den friedlichen Wäldern auf den lauen, grünen Inseln verlieren, wo die Schwalben überwintern und die Romantiker mit ihrem Herzeleid … Anschließend werden wir am Strand von Neapel an Land gehen, um Italiens sanfte Lieblichkeit zu genießen... Denk daran...! Wie zwei Zugvögel werden wir, verliebt in die Umgebung, vielleicht unseren Flug unterbrechen und in einem kleinen Häuschen haltmachen, das in unschuldigem Weiß zwischen lauter Rosenstöcken und Zitronenbäumen erstrahlt... Schließlich werden wir über die Adria unsere wahre Pilgerreise gen Süden in Richtung Orient antreten, in die Länder unseres Ursprungs, die das einfache Leben früherer Epochen kommen und gehen sahen: Athen, Konstantinopel, Bagdad, Alexandria, Jerusalem und all die Stätten vergangener Pracht … Denk an den romantischen Zauber unserer Reisen über Seen und Flüsse, gesäumt von den Resten toter Städte, wir beide allein auf Kamelen in der Einöde der Wüste, der melancholischen Einsamkeit unter Palmen und Pyramiden, in der heiligen Pracht des Orients, von alten Geschlechtern mit ehrwürdigen Religionen und ebensolchen Vorurteilen geschaffen... Dort, meine Angebetete, in der asketischen Glut Asiens wirst Du, endlich müde vom vielen Reisen durch die Welt, während unsere Liebe immer noch wie eine frische, grüne Oase blüht, zu mir sagen:«Jetzt glaube ich, Gabriel, jetzt glaube ich...», und ich werde, wahnsinnig vor Glück, endlich Dein Herz zu besitzen, mit Dir heimkehren, mein Schatz, mein Leben, mich an meiner Seligkeit berauschen, und dann werden wir in unserem geliebten Nest in Paris auf ewig unsere Jugend, unsere Liebe, unseren Überschwang genießen... Ein prächtiges Leben wird das sein: Wie stolz werden meine Augen sein, Dich jederzeit anzusehen, mein süßer Schatz, verwandelt in eine erle439
sene Pariserin voller Luxus, Eleganz, Exotik und Glauben..., mystischem Glauben an die heilige Gottheit unserer Liebe...! Das ist der Plan für unser Glück, den ich in Deine Hände lege, meine Braut. Jetzt kannst Du ihn nach Gutdünken verändern und mit allen Launen Deiner Phantasie anreichern, denn ich will Dich und will Dich mit Deinen Launen, um sie mir später mit Liebe und Küssen vergelten zu lassen. Bis morgen, sage ich, denn vor lauter Reden vom Licht ist die Dunkelheit hereingebrochen und damit die Nacht unserer Vermählung. Denk daran, ich harre Deiner von jetzt an, und im Morgengrauen werde ich Dich in sehnsüchtiger Verzweiflung auf Knien zu unserem Rendezvous erwarten, denn nur Du kannst meine Seele retten, die sich nach Dir verzehrt. Komm also zu Deinem eigenen Wohl, um Dein Leben zu retten und zugleich meine Sehnsucht zu stillen, die mich erstickt, und wenn Du kommst, befiehl, tyrannisiere, regiere im Reich unserer Liebe, denn so, meine Göttin, meine Königin und Tyrannin wird Dich auf ewig anbeten Dein Gabriel
KAPITEL IX Am folgenden Montag gegen Abend Nach einem sehr langen, tiefen und dunklen Schlaf von fast vierundzwanzig Stunden habe ich soeben die Augen geöffnet im trübseligen Licht dieses schrecklichen Abends, der vor meinem Fenster schon in die Nacht übergeht. Im schwindenden Dämmerlicht will ich heute zum letztenmal meine Gedanken niederschreiben und hier auf diesem weißen, auf meinem treuen Schreibtisch vor mir ausgebreiteten Blatt Abschied nehmen, wie es mir meine sterbende Seele aufgetragen hat. 440
Denn aus dem langen, tiefen und dunklen Schlaf, aus dem ich vor einer Weile erwacht bin, ist allein mein Körper zurückgekehrt. Meine schon vor dem Einschlafen tödlich verwundete Seele ist hingegen für immer verstummt... Warum haben sich diese Augen, lebendige Fenster meines Geistes, nicht ebenfalls für immer in Frieden geschlossen...? Wozu dieses schmerzende Fleisch erneut dem Licht aussetzen, diesen verirrten Reliquienschrein, dazu verdammt, im ewigen Opfergang ziellos umherzuirren wie ein ausgestreckter Leichnam? Ach, stumme Resignation derer, die wir mit einer toten Seele leben! Ach, Schweigen derer, die wir resigniert in der großen Karawane marschieren und marschieren, mit der Last eines Geheimnisses beladen, ohne jemals zu fragen: Bis wann...? Bis wohin...? Wozu...? Das Leben, der grausame, blutrünstige Lenker der großen Karawane, prügelt uns mit der Peitsche seiner Stunden, damit wir ihm die Last ein Stück des Weges tragen und sie ihm an der Stelle übergeben, an der es ihm beliebt zu sagen: Hier! Warum, warum nur, Leben, grausamer Lenker, hast du mich aus dem Schlaf gerissen, um mich im trüben Licht dieses schrecklichen, tristen Abends mit der Last meines Geheimnisses und meines kalten, geopferten Leichnams auf den Schultern vor meinem vertrauten Schreibtisch mit der knallenden Peitsche deiner Stunden zu geißeln und mitleidlos anzutreiben:«Vorwärts, vorwärts»...? Vorwärts...? Vorwärts...? Ach! Das Leben...! Das Schicksal...! Der Tod...! Was weiß ich schon über mich selbst, was weiß überhaupt jemand über irgend etwas...? Fügsam mit der Karawane weitermarschieren, ja, immer weiter und weiter, wie das Leben es will, oder irgendwann starr und kalt am Wegesrand liegenbleiben, und das war es dann, armer, immer weiterhetzender Körper; das war es dann, arme Augen, die ihr euch gerade erst im schwindenden Licht dieses Abends geöffnet habt, arme, träumende Augen, die ihr in einer Sternennacht von einer fernen, leuchtenden Illusion geblendet wurdet. Nein, dieser herrliche Glanz war eine Täu441
schung, arme betrogene Augen; auf der langen Wegstrecke gibt es nichts als Sand, durch den wir uns weiter- und weiterkämpfen müssen, immer unter der Knute des blutrünstigen Sklaventreibers...! Ach, himmlische Verlockung meiner falschen Illusionen von vor zwei Nächten, genau hier an diesem Schreibtisch vor eben diesem offenen Fenster unter dem endlosen Himmel...! Ach, gesegnete Nacht vor zwei Nächten..., Samstagnacht, märchenhafte, verzauberte Nacht, die du mich wie ein romantisches Aschenputtel für einige Stunden auf dem Ball des Prinzen meiner Träume triumphieren ließest...! Wie rasch du verschwunden bist in deiner Sternenkutsche, glorreiche Nacht...! In der Ferne verblassen schon deine tausend Lichter, Leuchtkäfer der Liebe, mystische Laternen, funkelnde Heerschar, die wie ein unmöglicher Himmel weit oben auf ewig über der tiefen Dunkelheit meiner Resignation und meiner Ketten leuchten wird... Weißt du noch, Tisch, weißer Schreibtisch, mein treuer Gefährte? Hier habe ich mit seinem Brief in den Händen gesessen, die Ellenbogen auf dein blitzblankes Weiß aufgestützt, und hundertmal die zahlreichen, nie geahnten Herrlichkeiten gelesen, während meine Augen in Liebe entflammten und mein Herz zugleich ein Konzert von Hosiannas und Glorias anstimmte...? Weißt du noch, offenes Fenster...? Hier vor deinem erlösenden Kreuz habe ich mit fromm gefalteten Händen meine weiße Hochzeit gefeiert, und durch deine barmherzigen Streben hindurch haben der Mond und die Sterne mich reich beschenkt und in Hermelin und Silber gehüllt... Heute, trauter Schreibtisch, offenes Fenster, komme ich, um zum letztenmal als armes Aschenputtel das Elend meiner Lumpen und meines nackten Fußes zu beweinen, der niemals seinen verlorenen Schuh finden wird. Wenn ich komme, um hier bei euch zu weinen und schriftlich meinen Abschied zu verkünden, der das Vermächtnis meiner verendeten Seele ist, dann tue ich es im Gedenken daran, daß ich hier so viele Seiten mit der Schilderung meines elenden Lebens 442
gefüllt habe; daß ich in der Samstagnacht hier meine Liebeshochzeit gefeiert habe; daß ich hier meine flüchtigen Schmetterlingsflügel habe wachsen sehen; daß ich hier, nachdem ich gelesen, gesungen und geschrieben hatte, um mir die ungeduldig durchwachte Nacht zu vertreiben, und die Kirchturmuhr die Morgenstunden einläuten hörte, in meinem geistigen Höhenflug innehielt und mir mit einem triumphierenden Lächeln in feierlichem Ton sagte:«Jetzt ist es soweit...!», und mich erhob. Ich weiß noch, wie ich in jenem Augenblick, um aus der Unendlichkeit Kraft zu schöpfen und eine größere Vertrautheit mit der Seele des Mondes und der Sterne herzustellen, das Licht ausknipste und dich zum Schweigen brachte, kokette Puppenlampe, die du dich keck auf meinem Tisch aufplusterst … Und tatsächlich durchflutete, nachdem das Licht gelöscht und die Gegenstände verstummt waren, der Geist des Mondes und der Sterne mein Zimmer. Lange Zeit verharrte ich stumm vor dem Gitter und blickte nach oben, und da ich ganz in Weiß gekleidet und auch innerlich ganz von weißer Glückseligkeit erfüllt war, übertrug sich die Seele der Sterne in dem stillen Raum so sehr auf mich, daß sich mein regloser Körper und meine leuchtende Seele für einen Moment zum Himmel aufzuschwingen und mit dem fernen, diffusen Mondlicht zu verschmelzen schienen … Wieder zurück auf dem Boden der Realität, wandte ich mich, immer noch unter dem Eindruck der wundersamen Macht der Sterne, Gabriels Brief zu, betrachtete im schwachen Licht die offen oder gefaltet vor mir auf dem Schreibtisch verstreuten Blätter und stellte mir vor, sie seien ein Schwarm von Brieftauben... Mit den gleichen überirdischen Augen, mit denen ich zuvor den Himmel betrachtet hatte, blickte ich nun auf das Durcheinander der Blätter auf dem Tisch... Da erschienen sie mir auf einmal so lebendig, daß mich eine kindliche Furcht befiel, sie könnten durch das offene Fenster auf und davon fliegen...! Um sie aufzuhalten, sammelte ich die Blätter hastig ein und steckte sie zurück in den Umschlag. Als sie alle wieder in ihrem Nest gefangen 443
waren, nahm ich sie schließlich mit mütterlicher Fürsorge unter meine Fittiche, indem ich sie an meiner Brust barg...! Da die Besinnlichkeit sich nun verflüchtigt hatte, wurde ich von Geschäftigkeit erfaßt, und der Umschlag mit dem zusammengefalteten Brief war der erste Proviant, den ich für meine Liebesreise einsteckte. Vor dem Fenster in Gedanken meinen Aufbruch planend, beschloß ich, mich erst einmal sorgfältig anzukleiden und zurechtzumachen, und dabei, so dachte ich, sollte ich mit den Händen beginnen. Um sie einem prüfenden Blick zu unterziehen, hob ich die nackten Arme ins Licht, und während ich sie im Mondlicht betrachtete, kamen meine Hände mir auf einmal so zerbrechlich und müde vor, daß ich Mitleid empfand und ihnen aus Dankbarkeit im Geiste ich weiß nicht welche Worte des Lobes und der Anerkennung für jene Nacht sagte, in der sie einst, mühselig die Silben zählend, ein Sonett geschrieben hatten. Glücklich, mich so elegant und hübsch zu fühlen wie in Zeiten höchsten Überschwangs, lief ich zum Frisiertisch, nahm mein perlmuttfarbenes Necessaire heraus, schwang mich mit einem Satz auf das Sims des offenen Fensters, lehnte den Kopf hinten an und begann hastig, nicht ohne hin und wieder zum Himmel aufzublicken, mir die Nägel zu feilen und zu polieren, bis das Mondlicht aus den zehn rosigen Spiegelchen zurückstrahlte... Ich weiß noch, daß die kalte Nachtluft zum Fenster hereinzog und mir ein seltsam wohliger Schauder über den ganzen Körper rieselte. Dadurch wuchs der Überschwang meines Tuns immer mehr... Ich schwang den polissoir so eilig, daß die Anhänger meines Armbands unmittelbar neben meinen hellhörigen Ohren aneinanderklirrten. Das silberne Geklingel drang schrill durch die morgendliche, nur ab und zu vom fernen Krähen eines Hahns unterbrochene Stille und klang an meinem Ohr wie Weihnachtsgeläut, das mir aufmunternd zurief:«Halleluja, halleluja, die Geburt der Liebe steht bevor...!» Als die Hände fertig waren, stieg ich vom Fenstersims hinunter. 444
In morgendlicher Aufbruchstimmung und der Vorfreude auf das helle Wasserplätschern auf Felsgestein, die rasche Fahrt auf gewundenen Straßen, die geschwind vorbeirauschenden Bäume, den köstlichen Taumel tiefer Schluchten, den im Licht der ersten Sonnenstrahlen weiß schimmernden Rauhreif und das Wunder..., ja, das große, göttliche Wunder, Gabriel nahe zu sein, zog ich mich fröhlich im halbdunklen, stillen Zimmer, wo ich in weiser Vorahnung auf die Helligkeit des künstlichen Lichts verzichtete, immer noch in Erwartung der Morgendämmerung, blind tastend ganz nackt aus und fing an, mich zu waschen, zu parfümieren und mit tausenderlei Raffinessen und Koketterien wieder anzukleiden. Um für den Aufbruch frisch und duftig zu sein wie eine Braut, die am Arm ihres Bräutigams die Kirche verläßt, zog ich mein weißes Organdykleid an, das ich noch nie getragen hatte. In dem weitausgestellten Kleid, bauschig wie eine schwebende Wolke, wirkte ich ganz zart, und als ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich mich im schummrigen Licht des Mondes und der Sterne verschwommen und durchsichtig wie eine poetische Traumvision. Stolz und glücklich, als Schatten umherzugeistern, tanzte ich durchs ganze Zimmer, mal auf Zehenspitzen, mal mit erhobenen Armen in der Pose einer klassischen Ballerina, und drehte den Schrankspiegel abwechselnd nach rechts oder nach links, um mich im Halbdunkel aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten... Entzückt von meinem Anblick tanzte ich weiter im Zimmer auf und ab... Doch plötzlich fühlte ich mich, ich weiß nicht, warum, vom dumpfen Hallen meiner Absätze auf dem Parkett irgendwie verfolgt, zog mir aus lauter Angst vor der Angst rasch die Schuhe aus und schlüpfte in weiße Filzpantoffeln mit Gummisohlen, die man beim Auftreten nicht hört... Mit lautlosen Schritten tanzte ich eine Weile weiter vor dem Spiegel... Doch die Furcht hielt mich bereits in ihren Klauen. Das sage ich, weil mich, als ich mich so weiß und unwirklich im Spiegel auftauchen und verschwinden sah, meine eigene Unwirklichkeit 445
dermaßen schreckte, daß mich ein Frösteln befiel und sich allmählich über meinen ganzen Körper ausbreitete... Mich verließ die Lust, weiter die Arme zu heben, auf Zehenspitzen zu tanzen oder auch nur noch einen Schritt zu tun; wie gelähmt blieb ich vor meinem reglosen Spiegelbild stehen, und alle je gehörten Spuk- und Gruselgeschichten fielen mir ein: von den Toten, die kommen, um die Lebenden zu warnen..., von den gepeinigten Seelen, die immer ganz nah und doch unsichtbar um uns herumstreichen..., von den verzweifelten Schreien derer, die im Fegefeuer schmoren... Und während ich mit diesen Gedanken im Kopf und großen Augen unverwandt in den Spiegel starrte, meinte ich plötzlich, in den Umrissen eines meiner Organdyärmel Onkel Panchos sich unter dem weißen Taschentuch abzeichnendes Gesicht zu erkennen, wie ich es zwei Tage zuvor gesehen hatte. Diese Halluzination jagte mir einen solchen Schrecken ein, daß ich wie wild den Arm schüttelte, als kröche mir ein ekliges Insekt den Ärmel hoch, zitternd vom Spiegel zurückwich und mir reumütig sagte, diese unerklärliche Furcht sei sicher die Strafe für meine selbstsüchtige Freude, meine völlige Gleichgültigkeit und meine mangelnde Trauer … Um Onkel Panchos gekränkte Seele zu besänftigen, die vielleicht unsichtbar um mich herumgeisterte, tastete ich mit zitternden Händen nach meinem langen schwarzen Samtmantel und dem weichen schwarzen Samthut, wobei ich dachte:«So kann er mir nichts mehr vorwerfen: Jetzt trage ich Trauer!» Als ich mir den Mantel zuknöpfte und erneut die süße Berührung des an meiner Brust verborgenen Briefs spürte, kehrte der Gedanke an die Freude zurück, die meine Ankunft dem sehnsüchtig wartenden Gabriel bereiten würde, und ich fühlte mich wieder stark und entgegnete der Angst mit einem Lächeln:«... und mit meinem schwarzen Trauermantel über meinem weißen Brautkleid werde ich so geheimnisvoll aussehen, wie es sich im Fall einer ‹verbotenen› Liebe, wie Gabriel es nennt, für ein Rendezvous gehört...» 446
Um das Geheimnisvolle noch zu steigern, schlug ich den Mantelkragen hoch und zog die Hutkrempe tiefer ins Gesicht. Schaudernd dachte ich an die Augen, die mich bald in diesem Aufzug erblicken würden; ich wollte mich selbst so sehen und stellte mich erneut vor den Spiegel. Der Mond war jedoch fast vollständig hinter Wolken verschwunden, und noch lange würde kein morgendlicher Sonnenschein sein Licht auf die weiße Spiegelfläche werfen, deshalb konnte ich nur meine schwarzen, mit der Dunkelheit im Zimmer verschwimmenden Umrisse sehen. Ohne zu wissen, warum, packte mich wieder eine seltsam kalte Furcht und ließ mich von Kopf bis Fuß erschaudern... Ach, diese eiskalte Angst in einem vom vielen Wachen erschöpften Körper, und der schreckliche Anblick des Todes! Wie sie unsere Bewegungen im Dunkeln lähmen, wie sie sich miteinander verbünden und uns das Licht herbeisehnen lassen, das alle dunklen, unheimlichen Mächte vertreibt …! Schwarzgekleidet vor meinem im Schatten verwischten Spiegelbild, spürte ich erneut diesen frostigen Hauch, der meinen erstarrten Körper diesmal so heftig erzittern ließ, daß ich mir in meinem verzweifelten Wunsch, die Sonne möge sich endlich entschließen aufzugehen, einen Ruck gab und blindlings zu dem Schalter am Kopfende meines Bettes stolperte, um die große Deckenlampe anzuknipsen, die den gesamten Raum in helles Licht taucht. Und tatsächlich zerstreute das künstliche Licht meine Furcht. Doch schon zeigte sich ein neuer, ganz konkreter Effekt, weitaus schrecklicher als die Furcht und vor allem noch weitaus bedrückender. Um mich seinem Einfluß zu entziehen und mich abzulenken, sagte ich mir mit lauter Stimme, ich müsse unbedingt noch ein kleines Reisenecessaire mit den nötigsten Dingen des täglichen Gebrauchs zusammenpacken. Doch in hellem Licht betrachtet, haben die vertrauten Gegenstände eine Seele, die in Augenblikken schwerer Konflikte zu uns spricht, uns Zeichen macht, sich bei Berührung sträubt und uns 447
manchmal sogar kratzt oder in die Finger beißt, wenn wir nach ihnen greifen... Ja...! Die Zahnbürste mit ihrem halb verflüchtigten Geruch nach Zahnpasta ist eine ferne Stimme, die ruft und Ratschläge erteilt..., die geschlossene Puderdose mit dem darin gefangenen Quast eine Art empfindliches Gewissen, das ganz leise protestiert..., der Kamm, der sich mit seinen Zinken überall festkrallt, um nicht fortzumüssen..., die Nadeln, die in die Ritzen des Nadelkästchens rutschen, um in die nach ihnen tastenden Finger zu stechen..., der Fingerhut mit seinen tausend entsetzt aufgerissenen Argusaugen in Erinnerung an die gemeinsamen Nähstunden..., die Haarbürste mit ihren bedrohlich aufgestellten Stacheln, immer auf der Hut wie der ewige Stachel des schlechten Gewissens..., der Flakon Kölnisch Wasser mit seinem kalten, zugeschraubten Silberverschluß…, ach, das kalte Metall des Flakons unter dem Druck der Hände im Augenblick der Flucht...! Wie laut protestiert es, wie sehr gemahnt es an die grausame Kälte von Dolchen und Revolvern oder an jene andere Kälte von Verlassenheit, Krankheit und Elend...! Gleichwohl häufte ich immer noch wild entschlossen, ohne auf die lästigen Stimmen der Gegenstände zu achten, meine Reisesachen auf das nach der durchwachten Nacht völlig unangetastete Bett. Unfähig, meine Gedanken zu sammeln, um im Geiste noch einmal zu rekapitulieren, was fehlte, hielt ich, als alles fertig war, einen Moment inne, ließ meinen Blick über die Möbel schweifen und sagte dann mit lauter Stimme zu mir selbst, um mir Mut zuzusprechen:«Das ist alles. Jetzt kommt nur noch ein bißchen Kleidung hinzu..., ja..., ein paar Stücke von meinem trousseau!» Eine Sekunde lang vergaß ich alles andere und lächelte vergnügt bei dem Gedanken daran, wie hübsch die rosa Seidenunterröcke auf meiner Haut aussahen, wenn diese samtig-weiß durch den transparenten Stoff schimmerte... Nach diesem letzten glorreichen Moment der Freude ging ich zum Schrank, um die Kleider auszuwählen, die ich mitnehmen wollte. Doch bevor ich die Spiegeltür öffnete, konnte ich meiner Neugier nicht widerstehen, 448
mich so zu betrachten, wie Gabriel mich sehen würde, das heißt: ganz aus der Nähe und in hellem Licht... Daher stellte ich mich erneut vor den Spiegel... Als ich mir so ganz aus der Nähe in die Augen schaute, spürte ich die Gegenwart eines lieben, vertrauten Menschen, der jedoch nicht ich war und der mein Verhalten mit bleicher, ernster und sehr strenger Miene mißbilligte..., und zum drittenmal befiel angesichts meines Spiegelbilds ein heftiger Schauder meinen gesamten Körper, so daß ich meine Neugier gleich wieder bereute. Da ich aber stark sein wollte, beschloß ich, alle feindlichen Gedanken kraft meiner Schönheit zu vertreiben, und fuhr unverwandt fort, mich zu betrachten. In diesem grausamen Moment blickte mir bleich und erschöpft, schlaff und von krank wirkenden Augenschatten gezeichnet, zwischen dem schwarzen Samtmantel und dem schwarzen Samthut mein erschrockenes Gesicht entgegen wie das Elfenbein verwelkter Rosen auf frischen Gräbern … Wütend begehrte ich auf, nein, das war eine Lüge, diese bleiche Gestalt war nicht ich, die ich doch so zart und von unbestrittener Schönheit war, die stolze, strahlende Erscheinung, die Gabriel anbetete, die er sehnsüchtig und in unsterblichem Verlangen erwartete … Nachdem ich auf diese Weise mir selbst gehuldigt hatte, versuchte ich, meinem Spiegelbild mit einem Lächeln zu trotzen …, doch ich brachte kein Lächeln zustande; bei aller Anstrengung sah ich die weißen Lippen nur unmerklich vor Nervosität zittern. Ich sagte mir, es müsse wohl am fehlenden Lippenstift liegen; um diesen blassen, zitternden Lippen ein wenig Leben einzuhauchen und um das Weiß der Zähne vom Weiß der Wangen abzuheben, machte ich mich auf der Stelle daran, zwischen den auf dem Bett gestapelten Sachen nach dem Lippenstift zu suchen, und malte mir die Lippen karminrot an. Doch auch flammendrot blieb der Mund im Spiegel stumm und zitterte hartnäckig weiter … Und da dieses Zittern mit dem falschen Rot mich plötzlich an die grellroten Lippen in den müden Gesichtern von zwielichtigen Frauenzimmern erinnerte, wischte 449
ich mir das Rot, das meine zitternden Lippen belebt hatte, hastig mit einem weißen Taschentuch wieder ab … Anschließend öffnete ich den Kleiderschank. Mein duftender rosa trousseau lag wie immer ordentlich gestapelt in seinem Fach. Begierig nach heiteren, sinnenfrohen Eindrücken, packte ich zur Aufmunterung einen der rosa Stapel mit beiden Händen, nahm ihn, um die Wirkung der sanft mein Gesicht streichelnden Seide zu spüren, heraus und tauchte mein müdes Gesicht in die duftende Seide wie in eine Lotion. Allein, als ich diesmal das sanfte Streicheln auf den Wangen spürte, erinnerte mich das nicht etwa an Paris, an die Liebe oder meine Schönheit, sondern rief infolge einer seltsamen Verkettung meiner Gedanken mit unendlicher Grausamkeit die Erinnerung an die Herkunft der Seide in mir wach: die beiden alten Smaragde mit ihrer aufwendigen filigranen Goldfassung, die in einem grünen, nach Zedernholz und Vetiveröl duftenden Samtkästchen aufbewahrt wurden …, und gleichzeitig klang mir laut und deutlich Großmamas Stimme in den Ohren, die mir genau hier, in meinem Zimmer, die Smaragde in der offenen Schatulle gezeigt und gesagt hatte:«… Die haben einmal meiner Mutter gehört, María Eugenia, und ich habe sie immer aufbewahrt, um sie dir einmal am Tag deiner Hochzeit zu schenken. Sie waren mein einziger wertvoller Schmuck …» Um dieses schmerzliche Bild zu verdrängen, zog ich das Gesicht zurück und schleuderte die Wäsche aufs Bett, nahm die über das Schrankfach verteilte rosa Masse in Augenschein und überlegte laut, während ich in Gedanken meine Reisevorbereitungen weiterspann:«Nun …, fast …, fast … könnte ich alles mitnehmen … Ordentlich zusammengefaltet nimmt Seide ja kaum Platz ein!» Ohne weiter nachzudenken, lud ich mir nur ein paarmal die Arme voll, und schon hatte ich den gesamten über das Fach verteilten Rosengarten aus dem Schrank aufs Bett verfrachtet. Dann holte ich mein Necessaire, stellte es offen auf einen Stuhl und verharrte lange ratlos davor, als ich erkannte, daß unmöglich alles, was auf dem Bett lag, hineinpassen konnte … 450
Plötzlich fiel mir ein, daß es draußen neben der Waschküche in dem Raum, in dem Tante Clara fein säuberlich die ausrangierten Möbel abgestellt hat, den großen Schrank für die weiße Wäsche, den anderen für das feine Steingutgeschirr, die Reisekörbe und Reisekoffer, daß es dort noch einen kleinen, recht gut erhaltenen schwarzen Lederhandkoffer gab, der dank seiner flachen, länglichen Form mein reduziertes Gepäck, wenn ich es ordentlich zusammenpreßte, womöglich fassen würde. Ich stand unschlüssig zwischen dem Stuhl und dem Bett und dachte über diese Möglichkeit nach … Ja! Ich mußte definitiv auf das Necessaire verzichten und den Handkoffer holen…, den Handkoffer holen …! Und wie sollte ich unbemerkt durch den Patio, den Flur, die Küche gelangen, die Tür zum Hühnerhof öffnen, die Treppe zur Waschküche hinuntersteigen, dann einen Schlenker nach rechts machen, um die Kammer mit den Koffern und den alten Möbeln zu erreichen, noch dazu die ganze Strecke blind tastend, ohne Licht, um mich nicht zu verraten, und das ausgerechnet jetzt, da ich mich im Dunkeln so schrecklich fürchtete …? Um mich zu vergewissern, wie dunkel es draußen war, öffnete ich die Tür zum Patio und streckte den Kopf hinaus. Hinter dem Patio verlor sich der Flur in tiefer, undurchdringlicher Finsternis … Ich blickte zum Himmel hinauf und konnte nur hier und da einen schwach leuchtenden Stern entdecken … Der Himmel war bewölkt … Vielleicht würde es noch regnen … Ich blickte flehentlich zu dem verblassenden Morgenstern hinauf und murmelte, eingeschüchtert von meiner Angst und der Dunkelheit:«Wann wird es endlich hell, mein Gott, wann wird es hell?»Dann schloß ich die Tür wieder und zog mich in die Mitte des Zimmers zurück, wo ich erneut unschlüssig vor dem offenen Necessaire und den auf dem Bett verteilten Sachen stehenblieb. Am Ende kam ich zu dem Schluß:«Um Schwierigkeiten zu vermeiden, packe ich am besten nur die allernötigsten Kleidungsstücke in mein Necessaire, lasse den Rest hier, verzichte auf den 451
Koffer und den trousseau und warte, bis es an der Zeit ist, aufzubrechen.»Traurig betrachtete ich meinen trousseau, der auf dem Bett lag und sich brav in alles schickte … Mein schöner, lange ersehnter trousseau … der meinem Körper so sehr schmeichelte …! Sogleich regte sich Protest in meinem Inneren: Ach nein, nein, nein! Meinen trousseau hierlassen, niemals! Lieber wartete ich geduldig bis zum Morgengrauen ab, um ohne Angst bei Licht den Handkoffer zu holen … Aber … falls die Hausangestellten schon wach waren und sich vielleicht sogar im Hühnerhof oder in der Küche zu schaffen machten …? Nein! Ich durfte nicht länger warten: Der trousseau mußte mit, also blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Stelle den Koffer holen zu gehen, jetzt, wo die Hausangestellten noch schliefen, jetzt gleich …, im Dunkeln …, ganz ohne Licht …, mich vorwärts tastend …, halb tot vor Angst …, ja, jetzt gleich! Ich ging zum zweitenmal zu der Tür, die in den Patio führte, öffnete sie, trat hinaus, blieb unschlüssig in dem schmalen Lichtstrahl stehen, der durch die halb angelehnte Tür hinausdrang, und starrte in den dunklen Flur... Schließlich folgte ich zitternd, mit angehaltenem Atem den beiden Lichtstreifen, die aus meinem Zimmer durch den Türspalt und das offene Fenster hinausfielen und sich quer über den Boden des Patios zogen, bei jedem Schritt auf mein heftig pochendes Herz lauschend, ging zaghaft immer weiter, bis zu der Ecke, die die Küche rechter Hand mit dem Flur bildet. Dort angekommen, blieb ich stehen und schaute zurück, um die bereits bewältigte Strecke zu begutachten... Der Lichtschimmer, der aus meinem Zimmer bis in den Flur fiel, reichte nicht bis zur Küche. In meiner heftigen Erregung schien meinen erhitzten Augen die ganz im Dunkeln liegende Küche ein Abgrund voller schrecklicher Geheimnisse. Doch dann wappnete ich mich mit Mut, schloß die Augen und wagte mich in die Finsternis vor. Ich mußte mir blindlings den Weg bahnen und nach der Tür zur Waschküche und zum Hühnerhof tasten. Eine Schachtel Streichhölzer hätte mir aus 452
der Bedrängnis geholfen, doch da ich weder welche bei mir hatte, noch wußte, wo ich welche finden würde, kämpfte ich blind gegen die verborgene Macht an, die im Dunkeln pulsierte, und begann, mich mit zitternden Händen an der Küchenwand entlangzutasten. Plötzlich fielen mir die Küchenschaben ein, die dort nachts manchmal die Wände bevölkern; ich zog entsetzt meine Hände fort und wich hastig ein paar Schritte zurück. Der Ekel vor den Küchenschaben hatte meine Furcht noch verschlimmert, so daß ich jetzt wie gelähmt mitten in der Dunkelheit stand, bang und am ganzen Körper erstarrt, während meine feinen, hochempfindsamen Sinne sich allein auf meinen heftig rasenden Puls zu konzentrieren schienen … Plötzlich hörte ich von ferne die Kirchturmuhr schlagen, die ihr Stundenlied sang. Ich horchte aufmerksam und zählte zwei Viertel … Es war also halb fünf...! Trotz der Bewölkung würde die Dämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen …, und ermutigt durch die fortgeschrittene Uhrzeit, bezwang ich meinen Ekel vor den Kakerlaken, näherte mich wieder der Wand, tastete mich nach der Tür vor und suchte dort nach dem Riegel. Ich schob ihn beiseite, stieß die Tür auf und bekam die frische Luft aus dem Hühnerhof ins Gesicht, während sich im schwachen Licht, das durch die dichte Wolkenschicht hindurchsickerte, in einem wilden Durcheinander die bizarren Formationen des Hühnerstalls abzeichneten, die Bäume, der hier und da weiß durchbrochene Drahtzaun, die Lehmwände mit dem Ziegelvordach und die großen Steine mit den Seifenflecken. Zu allem Überfluß strich, als ich die Stufen hinabstieg, blitzschnell ein schwarzes Bündel an meinen Füßen vorbei und verschwand vor mir im dunklen Dickicht: eine wilde Katze, die sicherlich in der Nähe der Küche herumgeschlichen war. Wie vom Schlag getroffen, unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, machte ich einen Satz rückwärts und stieß dabei mit dem Kopf an den Staubwedel, der wie üblich neben der Tür hing. Die plötzliche Berührung der Federn zusammen mit dem unverhofften Auftauchen der Katze steigerte mein Grauen 453
ins Unermeßliche. Nachdem ich vor der schauderhaften Berührung der Federn von der Wand zurückgeschreckt war, stand ich nun wie gelähmt vor Entsetzen mitten in der Waschküche und starrte mit weitaufgerissenen Augen hinaus in das Dikkicht. Ich erwog, so schnell wie möglich in mein Zimmer zurückzukehren, doch die unerbittliche Furcht hielt mich wie in einem Alptraum gefangen und gab meinem überspannten Geist eine absurde Tragödie makabrer kindlicher Ängste ein … Ich starrte wie gebannt ins dunkle Gestrüpp und sah sie im Geiste alle auf mich einströmen: Ach! Die schwarze, unheilbringende Katze hält sich dort gegenüber versteckt...! Wie kann ich denn sicher sein, daß sie nicht plötzlich aus ihrem Versteck hervorspringt, um mich hinterrücks anzufallen, mir die Augen auszukratzen, wie Katzen es gerne tun, oder mir die Krallen in den Hals zu bohren und zuzudrücken, bis ich ersticke, ohne daß mir Zeit bliebe, mich zu wehren oder auch nur laut um Hilfe zu schreien …? Ach! Diese schwarzen Katzen mit ihren funkelnden Augen, die nachts wie Irrlichter leuchten...! Immer hatte ich sagen hören, sie hätten einen Pakt mit dem Teufel, mit Zauberern, Geistern und allen, allen unsichtbaren, okkulten Mächten geschlossen... Ach! Der Okkultismus...! Ach! Die Geister, die körperlos umherspuken...! Ja...! All das ist wahr...! Viele kluge Leute haben sie schon gesehen und glauben fest daran. War vielleicht in den Körper der Katze irgendein böser Geist gefahren, der mit allen Mitteln meine Flucht mit Gabriel verhindern will …? Womöglich ein sehr mächtiger Geist, der die Zukunft lesen kann..., oder der Geist von jemandem, der großes Interesse an mir hat..., jemand... Wer mag das sein...? Ach, das kann nur«er»sein, der mich manipuliert, mich gegen meinen Willen aus meinem Zimmer zum Hühnerstall gelockt hat und jetzt hier ganz allein festhält, um mich an der Flucht zu hindern... Nur Gott weiß, mit welchen schrecklich finsteren Mitteln…! Meine Flucht verhindern...! Verhindern... Plötzlich rief ich mit dieser unerklärlichen Energie, die mir manchmal die Erinnerung an Gabriels Brief verlieh, innerlich 454
trotzig aus:«Und ich werde fortgehen! ‹Ihm› und allen anderen zum Trotz...! Doch...! Ich werde mit Gabriel fliehen, der lebendig ist und stark und jung und reich und mich wie wahnsinnig liebt und mich glücklich machen und immer lieben wird..., ja...! Er wird mich immer lieben...! Er wird mich immer lieben...! Ach...! Wird er mich auch immer lieben?» Um den bohrenden Stachel des Zweifels abzuschütteln, der mir noch weit mehr zusetzte als die Angst, lief ich los, betrat stolpernd die Abstellkammer mit den alten Möbeln und begleitete im Dunkeln meine tastenden Hände wie schon zuvor in meinem Zimmer mit lauten Worten, um die finsteren Gedanken zu übertönen. Während ich mich mit zugekniffenen Augen und ausgestreckten Armen an den Möbeln entlang durch die Dunkelheit tastete, murmelte ich fortwährend:«Hier rechts steht der Schrank mit der weißen Wäsche..., gut... Das ist der große, wackelige Mahagonitisch... Hier haben wir die Kommode..., gut... Der Schrank mit dem Steingut... Die hintere Wand... Ein Reisekoffer... Hier..., hier ist der Handkoffer...!» Ich packte ihn am Henkel und zog ihn im Dunkeln hervor. Dabei fiel etwas zu Boden und zerbarst mit lautem Geklirr wie zersplitterndes Glas. Das Gepolter ließ mich, wie zuvor der Anblick der schwarzen Katze, erschrocken zurückweichen. Dann fiel mir die angeschlagene Vase ein, die auf dem Koffer gestanden hatte, und ich begriff, was geschehen war. Zurück in der Welt der realen Gefahren, überlegte ich:«O mein Gott...! Wenn dieser schreckliche Lärm nun die Hausangestellten geweckt hat!» Von einer Angst gepackt, die diesmal durchaus berechtigt war, rührte ich mich eine ganze Weile nicht von der Stelle, während ich auf die leisesten Anzeichen von Gefahr horchte und mir im Geiste eine glaubhafte Ausrede für meinen seltsamen Ausflug zurechtlegte. Doch nichts regte sich. Niemand war aufgewacht..., nein..., es herrschte absolute Stille …, woraus zu schließen war, daß alle im Haus noch fest schliefen. Mir fiel ein Stein vom Her455
zen. Den Koffer in der Hand, beschloß ich, rasch durch die Waschküche und die Küche in mein Zimmer zurückzukehren. Ich tat ein paar Schritte in Richtung Tür. Doch bevor ich sie erreichte, blieb ich wie durch einen seltsamen Bann plötzlich mitten im Raum stehen und starrte hinaus auf die dunkle Stelle, wo die Katze sich versteckt hatte. Es schien schon hell zu werden. Alles war still, mucksmäuschenstill. Der Hühnerhof lag in seiner ländlichen Idylle wie immer da, mit seinem weiß unterbrochenen Stacheldrahtzaun... Warum also diese Furcht? Plötzlich erschauderte ich: Oh! Dort..., gleich dort in dem Gebüsch, wo die Katze sich versteckt hatte, flackerte etwas..., ein Licht...! Wie schrecklich...! Ob es die Augen der Katze waren... oder der blasse Lichtschimmer, der spukende Gespenster ankündigt, die schreckliche Vision des Geistes, der in die Katze gefahren war...? Das Licht wuchs... und wuchs... Oh! Es war keine Täuschung, nein... Jetzt schien es nicht mehr aus dem Gebüsch zu kommen..., jetzt tanzte es... Und wie es tanzte, mein Gott, durch den ganzen Hühnerhof...! Da, da, auf der linken Seite war auch etwas zu hören..., etwas schien unheilvoll über den Boden zu schleifen..., etwas, das näher kam, immer näher, während das Licht größer wurde..., jetzt stieß es leicht gegen die Küchentür..., stieg die Stufen herab..., mit seinem beweglichen Lichtschwall, bog nach rechts ab, und kam..., kam auf die Kammer zu..., auf mich! «Oje …!» Wie ein Gespenst, eine seltsame chinesische Spukgestalt in Kimono und Pantoffeln, mit einem dünn auf die Schulter herabfallenden Zopf, einem brennenden Kerzenleuchter in der Hand und einem von tausenderlei Fragen beseelten Ausdruck im Gesicht erschien vor der Abstellkammer eine zutiefst verängstigte Tante Clara. Als ich sie hinter dem Lichtkranz der brennenden Kerze erkannte und merkte, daß ich es nur mit der Welt der Lebenden zu 456
tun hatte, fühlte ich mich unendlich erleichtert, und während ich noch unsichtbar im Dunkeln überlegte:«Ach, es war Tante Clara mit ihren Pantoffeln und der Kerze...! Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen...?», verbarg ich instinktiv die Hand, in der ich den Koffer hielt, hinter dem Rücken und wartete reglos in der Mitte der Kammer. Tante Clara spähte mit erhobener Kerze und fieberhaft umherwanderndem Blick eine Sekunde lang bang in die Dunkelheit und schien erst einmal erleichtert, als sie mich entdeckte. Doch dann fragte sie mich erstaunt:«Aber was machst du denn hier, María Eugenia...? Um diese Uhrzeit...! Noch dazu im Hut...! Und in deinem neuen Samtmantel …!» Ich hielt immer noch den Koffer hinter meinem Rücken versteckt, während ich, das Gesicht im Dunkeln und somit vor der Entlarvung der Lüge geschützt, ohne Sinn und Verstand die absurdesten und widersprüchlichsten Erklärungen herunterstammelte:«Nun ja..., Tante Clara, ich konnte kein Auge zutun..., weißt Du? Kein bißchen, nicht eine Minute, die ganze Nacht hindurch...! Nicht verwunderlich, nachdem ich so lange nicht geschlafen habe...! Und da mußte ich an Onkel Pancho denken und wollte die Messe hören, für sein Seeleheil..., und um nicht später zu gehen - wegen der Trauer..., weißt du...? -, bin ich schon ganz früh aufgestanden..., und da mir kalt war, habe ich den Mantel übergezogen..., und dazu gleich den Hut aufgesetzt..., aber dann, als ich hinausging, habe ich gemerkt, daß es noch zu früh war..., und da mir - ich weiß nicht! - irgendwie bang war und furchtbar heiß, habe ich mich in den Hühnerhof geflüchtet, um die Morgendämmerung abzuwarten... Doch da draußen, weißt du...? Da ist es sehr feucht, und deshalb habe ich mich hier in die Abstellkammer zurückgezogen..., um hier zu warten...» Inzwischen bin ich mir sicher, daß Tante Clara sehr gerührt gewesen sein muß von soviel religiösem Eifer, der mich nach einer schlaflosen Nacht in aller Herrgottsfrühe in die Messe trieb, um für Onkel Panchos Seelenheil zu beten. Daher stellte sie sich keine weiteren Fragen und bemerkte nicht, wie sehr ich ins 457
Schleudern geriet, während ich mein widersprüchliches Lügengespinst hervorbrachte. So kam es, daß sie, bevor ich ausgeredet hatte, im auf- und abhüpfenden Licht des Kerzenscheins tief bewegt und voller Zärtlichkeit ausrief:«Siehst du...? Siehst du, mein Kind? Ich habe dir doch gestern abend noch durch María del Carmen ausrichten lassen, du solltest diesen Kaffee nicht mehr trinken! Aber da du ja nicht mit uns am Tisch, sondern lieber in deinem Zimmer zu Abend essen wolltest, hast du nicht auf mich gehört und den Kaffee getrunken... Als hätte ich es geahnt...! Warum hast du mir auch nicht gesagt, daß du nicht schlafen konntest...? Ich hätte dir ein paar Tropfen Orangeblütenwasser gegeben oder dir rasch einen Kräutertee aus Salatblättern aufgegossen, der wunderbar beim Einschlafen hilft... Und später hätten wir gemeinsam zur Messe gehen können..., später..., also wirklich, es ist doch nicht nötig, so früh zu gehen, nur wegen der Trauer; du übertreibst aber auch!» Ich rührte mich nicht von der Stelle und stand völlig verdutzt da, ohne ein Wort zu sagen, baß erstaunt ob der widersinnigen Leichtgläubigkeit, mit der sie alles hinnahm. Mit ihrem müden, verschlafenen Gesicht, lächerlich gemacht durch meine Lügen und durch ihren chinesischen Aufzug, den Kimono und den dünnen Zopf, stand sie im tanzenden Kerzenschein da und fuhr fort:«Denk nur, wie erschrokken ich war, als ich in dein Zimmer kam und du nicht da warst, woraufhin ich im ganzen Haus nach dir gesucht habe, aber nichts! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß du in den Hühnerhof hinausgegangen wärst, wo der doch so dunkel war... Ach! Und diese Unordnung in deinem Zimmer …!» An dieser Stelle lächelte sie ein wenig vorwurfsvoll, was mir einen Stich versetzte, und fügte voller Rührung mit einem Kopfschütteln hinzu:«Selbst nachts, wenn du nicht schlafen kannst, hast du die Manie, deinen trousseau auf dem Bett auseinanderzunehmen und wieder zusammenzufalten!»
458
Ich war wie gelähmt und preßte immer fester den Koffergriff hinter meinem Rücken zusammen, während Tante Clara, wohl gehemmt durch meine Reglosigkeit und auch aufgewühlt durch die nächtliche Furchtsamkeit, in der dunklen Abstellkammer vor mir stand und wortreich jenen aberwitzigen Dialog fortsetzte, sie im Kimono, ich in Hut und Mantel, und als Gipfel der Absurdität zwischen uns das flackernde Kerzenlicht:«Weißt du, ich bin aufgestanden, weil Mama sich auf einmal schlecht fühlte vor Erschöpfung, sehr schlecht... Ach, es geht ihr jeden Tag schlechter …!»Sie seufzte, wodurch das Kerzenlicht vor ihrem Mund leicht erzitterte.«Ich wollte ihr ihre Tropfen geben, und als ich ins Eßzimmer ging, um Wasser zu holen, ist mir das Licht in deinem Zimmer aufgefallen. Nachdem ich Mama versorgt hatte, wollte ich nach dir schauen, und stell dir meine Überraschung vor, als ich dich nicht in deinem Zimmer antraf und auch nirgendwo sonst … Ich hatte das Gefühl..., ach, ich weiß eigentlich nicht, warum, dir könnte etwas zugestoßen sein..., ja, ich weiß nicht..., irgendein schreckliches Unglück... Und da ich kurz darauf Lärm von hier unten hörte...» Ein paar Worte hätten genügt, um den leisesten Verdacht, der sich vielleicht noch in Tante Clara regte, auszuräumen, sie weiter hinters Licht zu führen und eine halbe Stunde später meinen Plan zu Ende zu bringen. Diese einfachen Worte, jene wenigen klaren Worte, die ich mir dank meiner raschen Auffassungsgabe bereits im Geiste zurechtgelegt hatte, kamen mir jedoch nicht über die Lippen... Seither zermartere ich mir Tag und Nacht, im Wachen wie im Schlaf, ununterbrochen das Hirn mit folgenden Fragen:«Wieso...? Wieso nur...? Wie konnte das geschehen...? Welch verhängnisvoller Geist hat sich in jener seltsamen Nacht meiner bemächtigt...?» Ja, dieser Geist ist wie ein Gespenst aus dem Dunkeln aufgetaucht und hat gebieterisch durch meinen Mund gesprochen, mein Schicksal in seine Klauen genommen und grausam zerstört, um 459
es anschließend tyrannisch auf diese steilen Schienen zu setzen, diese Schienen ohne Wiederkehr, die mich schroff in die Ödnis meiner Zukunft hinaufführen, in den glühenden Wüstensand, durch den ich mich von nun an unermüdlich vorwärts kämpfen muß..., für immer! Ach! Welcher Geist hat das nur getan...? Ich weiß nicht..., nein! Ich weiß nichts über den finsteren Okkultismus, der sich in den Tiefen meiner Seele regt. In diesen letzten Stunden meiner Verzweiflung und Resignation habe ich mich gequält, mein Gedächtnis angestrengt, um eine Erklärung für mein Verhalten zu finden. Es ist zwecklos. In meinem Gedächtnis herrscht eine einzige Leere. An das Ende jener Szene und das, was danach geschah, kann ich mich nur noch vage erinnern. Ich weiß noch, daß ich, während Tante Clara in ihrem chinesischen Kimono, mit ihrem dünnen Zopf und der brennenden Kerze auf mich einredete, das Bewußtsein meiner selbst verlor. Ich spürte, wie etwas in meiner Brust anschwoll, bis ich schließlich, als sie sagte:«Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl hatte, dir könnte ein schreckliches Unglück zugestoßen sein...», nichts mehr hörte und plötzlich, ohne es zu merken, mit einem lauten Aufschrei, der geklungen haben muß wie der Schrei eines Menschen, der um Gnade fleht, oder wie der letzte Schrei, den der Tod auf den Lippen eines Selbstmörders erstickt, den Koffer fallen ließ, der auf dem Boden aufprallte, mit ausgestreckten Armen auf die Tür zurannte und sie mit dieser Stimme, die nicht wie meine klang, verzweifelt anflehte:«Ach, Tante Clara! Tante Clara! Laß mich heute nicht allein. Ich will auch hier bei der armen Großmama bleiben, wie du, Tante Clara, wie du!» Tränenüberströmt und schluchzend klammerte ich mich an ihren Hals, während eine Nervenkrise meinen ganzen Körper zittern ließ. Ich habe jetzt noch den Klang von Tante Claras Stimme im Ohr, als sie mich, die ich den Kopf an ihrer Brust vergraben hatte, liebevoll und mit mütterlicher Fürsorge fragte:«Aber was
460
hast du nur, mein Kind...? Was ist denn mit dir los...? Was hast du...? Was...?» Schluchzend wiederholte ich, wie aufgezogen, mit vor Angst erstickter Stimme:«Ich habe Angst, Tante Clara …! Ich habe große Angst...! Angst...! Angst...!» Und dann? Danach weiß ich nichts mehr. Ich glaube, Tante Clara sagte wieder etwas vom Kaffee, der mir den Schlaf geraubt habe, von nervöser Erregung, von schlaflosen Nächten und dem tiefen Eindruck, den Onkel Panchos Tod auf mich gemacht habe, während sie den Arm eng um mich legte und mich Schritt für Schritt durch den Waschraum, die Küche, den Flur, dann über die blutende Wunde, die das Licht aus meinem Zimmer auf den Boden des Patios warf, bis in Großmamas Zimmer führte, wo sie mich zu Großmama ins Bett brachte … Dort lag mein Körper direkt neben dem von Großmama, willenlos und ohne Widerstand, wie in Ketten auf der Folterbank... In dieser schrecklichen Reglosigkeit drängte sich mir mit der wollüstigen Grausamkeit eines ewigen Martyriums allmählich die ganze Fülle widerstreitender Gedanken auf, eine blutrünstige Flut in meinem Inneren, von der ich nichts mehr weiß, da sie in ihrer Wut mein Gedächtnis fast völlig zerstört hat. Nur eine ganz vage Erinnerung ist mir noch geblieben... In meinem Blickfeld, direkt an der Wand vor meinen Augen, waren die großen, in regelmäßigen Abständen auf der Tapete dahinschmachtenden Rosen; dann das Porträt von Großvater Aguirre, wie ein vornehmer Herr gekleidet; der große alte Kleiderschrank mit den Schnitzereien, in deren Labyrinth sich manchmal mein Blick verlor; der Korbstuhl in der Ecke; daneben der Altar; auf dem Altar die alte, mit den Jahren schwarz gewordene, ehrwürdige Christusfigur mit dem Kreuz in der Phiole; und dann auf einmal das Schlafmittel vor meinem Mund, das mir Tante Clara in einem der Kristallgläser reichte, aus denen wir drei jeden Tag trinken … 461
Aber dort... Ach! Dort drinnen, in meinem Kopf, die quälende Verlockung des Briefes...! Des Briefes mit seiner Strahlkraft aus Liebe und Schmach, der mir auf der Brust brannte und mich rief, der mir im Geiste den Weg zur Haustür leuchtete, die wenigen Schritte bis zur nächsten Straßenecke, zum Wagen und zu ihm, wahnsinnig vor Liebe, bebend vor Sehnsucht, die Straße mit Blicken verschlingend, wartend, wartend, ewig wartend! Ach! Wie schmerzlich der Anblick von Großmamas Gesicht, eingefallen, dem Tode nahe; ihre Hand, die meine Stirn streichelte, ihre Stimme an meinem Ohr, und immer noch die quälende Versuchung mit ihrem verzehrenden Feuer… Und die tickende Uhr...! Und der nahende Morgen...! Ein Sonnenstrahl, der sich am Boden ausbreitete... und im Kopf immer noch der Vorwand, unter dem ich das Zimmer verlassen, die kurze Strecke bis zur nächsten Straßenecke laufen konnte, dort der große schwarze Fleck des geschlossenen Wagens und im Fond das ewige Lebensglück, zum Tode verurteilt, die Hinrichtung erwartend, immer noch auf Begnadigung hoffend... Ach! Nein, die schreckliche Strafe dieses Morgens, dessen Licht meine Augen niemals hätten erblicken dürfen, die grausame Strafe könnte ich jetzt nicht in Worte fassen, selbst wenn ich noch jedes Detail im Gedächtnis behalten hätte... Worte sagen nichts...! Worte wissen nichts...! Nach den Stunden der Aufregung, als die Zeit verstrichen und die Katastrophe besiegelt war, nickte ich, müde und erschöpft vom Weinen, auch aufgrund des Schlafmittels und Großmamas sanft einlullender Stimme an meinem Ohr allmählich ein. Es war ein unruhiger Schlaf von kurzer Dauer, in dem mein Unterbewußtsein lebhaft arbeitete. Als ich die Augen wieder aufschlug, fiel mein Blick auf den Kleiderschrank mit den Schnitzereien, in deren Labyrinth noch die Erinnerung an meinen Kampf greifbar war, und ich faßte folgenden Entschluß:«... Jetzt, nach allem, was ich weiß, kann ich Leal nicht mehr heiraten!» 462
Das Telegramm, das mir Gabriel in Onkel Panchos Haus überreicht hatte, und die Ankunft des Zuges fielen mir ein. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß es schon zu spät war; ich stieg aus dem Bett, um Leal anzurufen. Er selbst war am Apparat, und nachdem ich mir teilnahmslos seine Beileidsbekundungen angehört hatte, bat ich ihn, so bald wie möglich zu kommen, da ich ihm dringend etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hätte. Als mir kurze Zeit später Leals Besuch gemeldet wurde, erhob ich mich gleich von dem Stuhl, auf dem ich gewartet hatte, und ging in den Salon, um ihn zu begrüßen. Überrascht, mich so gehen zu sehen, ohne Bescheid zu sagen und ohne mich zurechtzumachen, fragte Tante Clara:«Willst du ihn etwa so empfangen, María Eugenia...? Allein und in diesem zerknitterten Kleid, ohne wenigstens etwas Puder aufzulegen?» Um sie auf die sensationelle Neuigkeit einzustimmen, die ich gleich verkünden wollte, blieb ich stehen und erwiderte bestimmt:«Ja, Tante Clara, Leal ist um diese Uhrzeit gekommen, weil ich ihn angerufen habe, um unter vier Augen mit ihm zu reden. Ich habe ihn dringend hergebeten, und in einem solchen Fall läßt man niemanden warten. Im übrigen steht mir gerade nicht der Sinn nach derlei Eitelkeiten!» Ich setzte meinen Weg fort. Fest entschlossen, gefaßt und selbstsicher betrat ich den Salon, wo Leal mich erwartete. In meinem Herzen pochte eine ungeheure Abneigung gegen ihn. Ich weiß noch, daß ich mir ein paar Worte der Trennung zurechtgelegt und sie mir unterwegs eingeprägt hatte:«Leal, in den Tagen deiner Abwesenheit ist mir klargeworden, daß ich dich nicht genug liebe, um deine Frau zu werden, und da es um das Glück unseres ganzen zukünftigen Leben geht...» Doch als ich durch die Tür zum Salon trat, stand er, der zweifellos schon meine Schritte gehört hatte, überrascht von meinem Anblick, auf, kam auf mich zu, begrüßte mich, indem er meine beiden Hände ergriff, und musterte mich eine Weile verwundert, bevor er in etwa das gleiche sagte wie Großmama am Morgen 463
zuvor:«Oh, wie mitgenommen..., wie bleich und abmagert du aussiehst, María Eugenia...! Aber wie konntest du nur in wenigen Tagen so herunterkommen?» Instinktiv wandte ich den Kopf, um mich im Spiegel zu betrachten, und tatsächlich, nicht zurechtgemacht, wie ich war, fand ich mich blaß, ohne Leben, mit Augenschatten, fast häßlich und obendrein Tante Claras welker Verhärmtheit auffallend ähnlich. In meinem labilen Zustand wurde diese Ähnlichkeit in meiner Vorstellung plötzlich übermächtig wie eine grausame Offenbarung. Mir fiel die morgendliche Szene vor meinem Schrankspiegel ein und das, was ich so oft über Tante Clara hatte sagen hören:«Sie war rasch verblüht. Bezaubernd mit fünfzehn, und mit fünfundzwanzig kaum noch ein Schatten ihrer selbst...» Ich stellte mir vor, dasselbe würde man inzwischen auch über mich sagen, und meine Schönheit schien mir bereits zu verwelken. Angesichts dieser Katastrophe bemächtigte sich eine ungeheure Verzagtheit meiner Seele, eine jähe Anwandlung von Furcht, die mich einen Moment lang eingeschüchtert und verwirrt zaudern ließ... Dann befreite ich mich nach und nach aus Leals Händen, bat ihn, neben mir auf dem Damastsofa Platz zu nehmen, und erklärte ihm stockend:«Nun, weißt du, die schlechten Nächte haben mir schwer zugesetzt... Das wird schon vorübergehen, sobald ich mich ein paar Tage ausgeruht habe..., auch die letzte Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen!» Bei diesen Worten ordnete ich mir hastig das Haar und strich mit der flachen Hand den Rock glatt. Während ich redete, hatte er sich nach alter Gewohnheit so weit zurückgelehnt, daß die Rükkenlehne des Sofas knarrte. Um seine Haltung etwas zu variieren, stützte er jetzt den Kopf auf die zur Faust geballte Hand, schaute mich durchdringend an, und mit diesem penetrant auf mich gerichteten Blick und dem nicht minder penetrant funkelnden Solitär fragte er:«Na schön, laß hören, was gibt es denn so Wichtiges, das du mir unbedingt mitteilen willst?»
464
Mit der freien Hand zog er an einem Zipfel des Seidentaschentuchs, der aus einer seiner Brusttasche ragte, und wischte sich das Gesicht ab, und während er ungerührt auf meine Antwort wartete, durchdrang ein Geruch nach feinem Tabak und Origan de Coty, Leals mir so vertrautem Duft, auf betörende Weise den Raum. Immer noch verwirrt, weil ich besagte Urteile über Tante Claras rasch verblühte Schönheit auf mich bezog, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen und brachte den zurechtgelegten Satz, mit dem ich unsere Trennung verkünden wollte, nicht mehr hervor. Daher suchte ich, als ich mich durch seine vom Funkeln des Solitärs und dem intensiven Geruch nach Origan de Coty untermalte Frage in die Enge getrieben sah, hastig nach einer passenden Ausrede und stammelte schüchtern:«Nun ja..., ich wollte mit dir über unsere Hochzeit reden... Ich glaube..., das heißt, ich halte es für besser, wenn wir noch nicht heiraten … und wenigstens... noch ein paar Monate verstreichen lassen...» Da hob er den Kopf, straffte gebieterisch den Rücken und fiel mir im energischen Ton eines Mannes, der immer weiß, was er will, und das auch deutlich zum Ausdruck bringt, auf der Stelle ins Wort:«Nein, nein, nein, das kommt absolut nicht in Frage...! Ich bin nicht der Ansicht, daß eine Eheschließung bei bestehendem Verlöbnis nur wegen eines Trauerfalls aufgeschoben werden sollte. Zehn Tage nach dem Tod, das reicht...! Kein Tag mehr! Wir werden in aller Diskretion heiraten, nur im engsten Familienkreis..., denn andernfalls …» Um mir die Nachteile begreiflich zu machen, die ein Aufschub der Hochzeit mit sich bringen würde, und die Vorteile, die sich daraus ergeben würden, den festgelegten Termin beizubehalten, zählte Leal in entschlossenem Ton wortreich eine Fülle logischer und sehr vernünftiger Argumente auf: Da waren einmal die Geschäfte, die unter einer vollständigen Änderung der Pläne möglicherweise leiden würden; dann Großmamas Zustand, von dem er eben erst erfahren hatte und der sich verschlechtern konnte; das Haus, das fertig eingerichtet war; das bereits für die Hochzeitsrei465
se gemietete Landhaus; seine Familie, die sich extra freimachen mußte; und tausenderlei Dinge mehr, die dringend und unaufschiebbar waren und die mir inzwischen entfallen sind. Ich gab mich noch nicht geschlagen und fing an einzuwenden:«Aber..., aber...» Doch er ließ mich gar nicht erst aussprechen, und als er immer weiter auf mich einredete, verstummte ich schließlich und starrte ihn nur noch betreten an. Tatsächlich nahm ich von all den gewichtigen Argumenten allein das mit den Problemen ernst, die aus Großmamas prekärem Gesundheitszustand erwachsen konnten. Denn als er mir diesen Umstand so klar und eindringlich vor Augen führte, sah ich das verpfuschte Leben vor mir, das mir sicher drohte, wenn ich jetzt nicht die Gelegenheit wahrnahm, zu heiraten. Wenn Großmama nämlich einmal nicht mehr wäre, würden zunächst die Trauerjahre folgen und nach der Trauerzeit... Ach...! Nach der Trauerzeit würde ich, falls meine Schönheit, das einzige Gut, das ich besaß, inzwischen verblüht wäre, einem Leben wie dem von Tante Clara entgegensehen, auf ewig erniedrigt und gefangen im Kreis von Onkel Eduardos Familie … Sicherlich lag es an dieser flüchtigen Zukunftsvision, daß sich mir das Haus, das Leal im Laufe seiner Rede erwähnte und das uns bereits fertig eingerichtet erwartete, im Geiste als rettender Zufluchtsort auftat und ich mir mit unendlicher Genugtuung sagte:«Mein Haus!» Nun vollends besiegt, ich weiß nicht, ob von der Kraft meines Schicksals oder von der Schwäche meines Willens, gab ich den Versuch einer Erwiderung auf und verstummte endgültig. Ermutigt durch mein Schweigen, fuhr Leal angeregt fort: Er nannte Gründe, führte Beispiele an, argumentierte und gestikulierte geraume Weile. Ich blickte ihn an, so als hörte ich ihm aufmerksam zu, doch in Wirklichkeit verstand ich nichts. Gedankenverloren, bezwungen und allein mit meinem Unglück, sah ich ihn reden und betrachtete die auftrumpfende Gewöhnlichkeit je466
nes klaren, verläßlichen Geistes, quadratisch und abgezirkelt wie eine Festung, imposant, schützend und allmächtig; in der Lage, mir in meiner Schwäche in jeder Form eine materielle Stütze zu sein, doch unfähig, auch nur im entferntesten etwas von der sensiblen Zerbrechlichkeit meiner Seele zu ahnen... Das kraftvolle Timbre seiner Stimme in meinen empfindsamen Ohren lieferte mir bereits einen lebhaften Vorgeschmack auf die schützende Gewalt, die mich als lebenslange Geißel erwartete und mit ihrer abscheulichen Tyrannei die zarte Schönheit meines Körpers zerstören und unbewußt die unzähligen Sehnsüchte meiner Seele aufs grausamste mit Füßen treten würde … Das spürte ich ganz deutlich, während ich Leal mit geheuchelter Aufmerksamkeit anblickte, ohne auch nur zu blinzeln. Im Geiste verglich ich ihn in einem unwiderstehlichen Wunsch nach Rache für mein zukünftiges Leben in Knechtschaft in seiner albernen Lächerlichkeit mit Gabriel, der ihm so haushoch überlegen war, und stellte mir mit einer gehörigen Portion Schadenfreude die schändliche Blamage vor, wäre tatsächlich eingetreten, was ihm um ein Haar bevorgestanden hatte … Als Leal kurz darauf seinen Besuch für beendet erklärte und sich erhob, nahm er zum Abschied wieder meine Hände in seine und sagte mit einem gewissen herrischen Wohlwollen, so als seien meine Hände, mein Gesicht und mein gesamter Körper ein lebloser, von ihm erworbener Gegenstand, der nun ganz allein ihm gehörte:«Jetzt mußt du dich aber schonen! Zu den Mahlzeiten solltest du mehr und besonders Nahrhaftes zu dir nehmen, und vor allem brauchst du Ruhe…, sehr viel Ruhe!»Dann fügte er noch hinzu:«Über die Hochzeit kein Wort mehr, das ist jetzt abgemacht: morgen in acht Tagen!» Wie ein Echo wiederholte ich:«Ja..., gut..., morgen in acht Tagen!» Während das Geräusch seiner sich entfernenden Schritte im Wohnzimmer, im Flur, in der Einganghalle und schließlich auf dem Bürgersteig verklang, blieb ich noch lange reglos mit hän467
genden Armen auf dem Sofa sitzen, starrte auf den Boden und ließ meine Gedanken kreisen... und kreisen … Das Resultat jenes angestrengten Prozesses war, daß sich eine tiefe Selbstverachtung in meine Seele fraß. Ach, diese Unschlüssigkeit, diese Feigheit, dieser Verzicht, dieser absurde Widerspruch zwischen meinen Überzeugungen und meinem Handeln...! Mein Verhalten, mein feiges Verhalten war nicht nur ein Verbrechen gegen mich selbst, sondern vor allem schrecklich unsolidarisch gegenüber jenem Mann, den Gabriel verspottet hatte und der mir in acht Tagen ein Heim mit allem, was ich brauchte, seinen Namen, seinen Halt, eine gesellschaftliche Stellung und eine sichere Zukunft bieten würde, die mich vor der Armut und der demütigenden Abhängigkeit bewahrte. Vielleicht aus der absoluten Notwendigkeit heraus, mein Verhalten vor mir selbst zu rechtfertigen, kam mir schließlich eine Idee. Bevor ich zur Tat schritt, schaute ich auf die Uhr. Es war halb vier nachmittags. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß Gabriel um diese Zeit wieder zu Hause war und auf eine Antwort von mir wartete. Ohne länger nachzudenken, eilte ich unverzüglich in mein Zimmer, schloß die Tür hinter mir und breitete hier auf diesem Schreibtisch, dem stummen Zeugen der Stunden meiner unendlichen Liebe und meiner Hoffnung auf Glück, hier auf der glatten weißen Fläche, ein duftendes weißes Blatt Papier vor mir aus, das ich aus vielen ausgewählt hatte, und schrieb, ich weiß nicht, wie, folgendes: «Señor Gabriel Olmedo, gestern abend las ich den Brief, den Sie sich mir zu schreiben erkühnt haben. Wenn ich Ihnen diesen heute nicht zerrissen, in kleinen Schnipseln in diesem Umschlag zurücksende, wie es Ihre Dreistigkeit verdient und ich es am liebsten getan hätte, dann nur, weil ich ihn bereits gestern abend gleich nach der Lektüre in meinem ersten Zorn zerrissen und verbrannt habe. Ich weiß nicht, für wen Sie mich halten. Ich glaube, daß ich Ihnen am Abend vor Onkel Panchos Tod dort im Eßzim468
mer seines Hauses deutlich und in aller Offenheit zu verstehen gegeben habe, was ich über Sie denke. Da es mir widerstrebt, Beleidigungen zu äußern, insbesondere in schriftlicher Form, möchte ich mich hier und heute nicht wiederholen. Der einzige Grund für meinen Brief ist, daß ich Sie warnen möchte: Wenn Sie mich weiterhin mit Ihren ungehörigen Anträgen verfolgen, werde ich, was auch geschieht, César Leal davon in Kenntnis setzen.» An dieser Stelle klang mir der Name«César Leal»auf einmal allzu pompös, und ich fürchtete, das könnte lächerlich wirken. Daher tilgte ich die beiden Worte und überschrieb sie mit«mein Verlobter». Da die Tinte dabei ein wenig verlief, was die Korrektur verriet, beschloß ich, den Brief zu vernichten, wählte sorgfältig ein neues Blatt aus, schrieb den Brief noch einmal ab und fuhr dann fort: «was auch geschieht, meinen Verlobten davon in Kenntnis setzen. Sie sollten wissen, daß ich nicht allein bin. Ich habe jemanden an meiner Seite, der mich beschützt, und, nebenbei gesagt, wird der, der mich gegen Sie in Schutz nehmen wird, in acht Tagen mein Ehemann sein, denn ich schätze und liebe ihn von ganzem Herzen und finde vor allem, daß er Ihnen in jeder Hinsicht bei weitem überlegen ist.» Dann setzte ich meine Unterschrift darunter:«María Eugenia Alonso». Anschließend las ich mit einer Art grausamer Genugtuung den gesamten Text noch einmal durch, faltete das Blatt, steckte es in einen Umschlag und schrieb darauf:«Señor Gabriel Olmedo». Dann machte ich mich rasch auf die Suche nach Tante Clara und erklärte ihr:«Tante Clara, ich habe Gabriel Olmedo geschrieben, wie du mich gestern gebeten hast. Hier ist der Brief. Es wäre ratsam, ihn ihm gleich zu schicken, denn um diese Zeit müßte er zu Hause sein, und vielleicht ist er später nicht mehr zu erreichen. Ich glaube, ich habe ihn etwas von einer anstehenden Reise sagen hören, wohin, weiß ich nicht.» 469
Hochzufrieden, daß ich ihren Rat beherzigt hatte und mich dankbar erwies, erwiderte Tante Clara:«Das war ja auch das mindeste! Das mindeste! Du hättest es gar nicht anders machen können. Vergiß nicht, wie liebevoll er war und was er alles getan hat.» Dann ging sie Gregoria holen, damit diese den Brief sofort zu seinem Bestimmungsort brachte. Bereits im Aufbruch begriffen, den Kopf in ein schwarzes Tuch gehüllt, fragte Gregoria mich hinter Tante Claras Rücken mehr mit ihren listigen, hellseherischen Augen, denen nichts entgeht, als mit leisen Worten:«Soll ich auf Antwort warten?» Ich sagte im gleichen Flüsterton:«Ja, Gregoria, warte.» Ich weiß noch, wie ihre Schritte allmählich verhallten, als sie mit meinem grausamen Urteilsspruch losging. Auf meine Seele wirkte das Geräusch jener Schritte so niederschmetternd wie Schritte nach einer Beerdigung, wenn die Trauergäste das frische Grab verlassen … Doch Gregoria hatte augenscheinlich noch viele persönliche Dinge zu erledigen, denn nachdem sie in den frühen Nachmittagsstunden aufgebrochen war, kehrte sie erst bei völliger Dunkelheit zurück. Erschöpft vor Enttäuschung und Trauer, lag ich schon im Bett, wo ich rasend vor Nervosität auf sie wartete. Als ich endlich ihre Schritte vernahm, traurig wie nach der Beerdigung eines geliebten Menschen, sprang ich aus dem Bett, lief barfuß, nur im Nachthemd zur Tür, die in den Patio führt, und rief hinaus:«Gregoria! Gregoria!», um mich gleich wieder ins Bett zurückzuziehen. Auf mein Rufen hin kam sie, immer noch in das schwarze Tuch gehüllt, das ihr wie bei einer unheilverkündenden Wahrsagerin bis auf die Brust fiel, sogleich in mein Zimmer und verharrte stumm neben meinem Bett, bis ich das Wort an sie richtete. Die im Raum herrschende Dunkelheit verlieh der Szene die spirituelle Eindringlichkeit von Bekenntnissen, bei denen man sich 470
nicht in die Augen zu schauen wagt. Das war auch einer der Gründe, warum ich einen Moment zögerte und mich kurz sammelte, bevor ich ganz leise die einfache Frage stellte, in die ich meine ganze Seele legte:«Hast du ihm meinen Brief persönlich überreicht, wie ich es dir aufgetragen habe, Gregoria? » Unsichtbar und geheimnisvoll unter ihrem schwarzen Tuch sagte sie mit trauriger Stimme:«Ich habe ihn in seine Hände gelegt...» Dann schwieg sie sekundenlang, bevor sie noch trauriger hinzufügte:«... Er hat ihn sogar in meinem Beisein gelesen, der Ärmste.» Mit klopfendem Herzen drang ich weiter in sie:«Und was für ein Gesicht hat er während der Lektüre gemacht, Gregoria …? Und anschließend? Er muß doch etwas gesagt haben … Was hat er dir gesagt, nachdem er ihn gelesen hat?» Gregoria zögerte einen Moment angesichts der bangen Heftigkeit meiner beiden Fragen, doch am Ende entschied sie sich für die Wahrheit und erzählte voller Mitleid:«Wie er während der Lektüre dreingeschaut hat, María Eugenia..., das kann ich nicht sagen, denn sein Gesicht war von dem Brief verdeckt… Nachher allerdings…, nachdem er ihn gelesen hatte, da war er - wie soll ich sagen? - ganz bleich und zitterte, so als stünde er unter einen schweren Schock...! Und dann sagte er mit einem Lächeln, das trauriger wirkte, als wenn er geweint hätte: ‹Gut..., da ist nichts zu machen! Aber richte María Eugenia von mir aus, daß alles, was sie hier schreibt, eine einzige Lüge ist …! Und sag ihr auch, daß ich, da ich heute nicht mehr an Bord gehen kann, nachdem der Dampfer bereits ausgelaufen ist, Mitte der Woche Venezuela allein - ganz allein, verstehst du? - für immer verlassen werde.›»> Gregoria erklärte sogleich:«Ich denke, María Eugenia, er wollte dir auf diese Weise mitteilen, daß er sich endgültig von seiner Frau trennt...» Dieser simple, so sehnlich erwartete Bericht hatte in der Dunkelheit des Raums und in meinen empfindlichen Ohren so grau471
sam geklungen, wie die feierliche Verkündung des Todesurteils in den Ohren eines Schwerverbrechers klingen muß … Als die traurige Stimme neben mir verstummte, war meine einzige Reaktion, daß ich die Hände krampfhaft um einen Zipfel des Lakens ballte, ihn zusammenknüllte und in den Mund stopfte, um das tief aus der Brust aufsteigende Schluchzen zu ersticken. Dann verbarg ich den Kopf unter dem Kopfkissen und hörte, ganz in mich selbst versunken, nichts mehr von Gregoria... Ich hörte nicht einmal mehr, wie sie unauffällig und voller Mitgefühl hinausging. In meinem tiefen Schmerz und meiner Selbstverleugnung ging mir ständig jener mitleidige Satz durch den Kopf:«Sag María Eugenia, daß alles, was sie hier schreibt, eine einzige Lüge ist...», wie ein leuchtender Schimmer der Verzweiflung und zugleich der Hoffnung. Dort, in der weichen Dunkelheit unter dem Kissen, hörte ich den Satz, den Gregoria mir überbracht hatte, ganz klar und deutlich, mit Gabriels unvergeßlicher Stimme in meinen Ohren vibrieren und pries ihn immerfort... Ach, wie gut, ja wie unendlich großzügig und gut war Gabriel, der an die infamen Verleumdungen meines Briefs nicht hatte glauben wollen...! Wie er meine Liebe ausgrub, um sie mitzunehmen und auf ewig als bohrenden Schmerz in seiner Erinnerung hochzuhalten... Wie vollkommen wäre unser beider Leben geworden, und wie glücklich... Ach, wie unbeschreiblich glücklich hätten wir miteinander werden können…! Ich sah nun mit eigenen Augen und berührte mit eigenen Händen diese unendlich abscheuliche Lüge, die der moralische Schein gegen jede Natur mit künstlichen Blumen überdeckt, und verglich das herrlich erfüllte Leben, das ich an Gabriels Seite hätte führen können, mit der düsteren Knechtschaft, die mich nun sicherlich erwartete. Ich dachte daran, wie ungerecht die Dinge auf dem menschlichen Jahrmarkt verteilt sind: für die einen die ganze Fröhlichkeit und für die anderen der Schmerz; ich dachte auch an die unsichtbare Macht, die auf fatale Weise unsere Ge472
schicke lenkt, und murmelte, das tränennasse Gesicht immer noch unter dem Kissen vergraben, mutlos und verzweifelt ein Wort vor mich hin, das die ganze Absurdität zusammenfaßt:«Ach, das Leben...! Das Leben...!» Erschöpft von der heftigen Erregung fiel ich schließlich in diesen langen, tiefen und dunklen Schlaf, der fast vierundzwanzig Stunden währte. Um mein gesamtes trauriges Abenteuer zu schildern, habe ich heute sehr lange schreiben müssen. Gerade habe ich den eifrigen Lauf meiner Feder für einen Moment unterbrochen und stelle fest, daß es bereits Mitternacht ist..., und alles ist in weißes Mondlicht getaucht... Es ist ähnlich wie Samstag nacht, nur daß es heute nacht heller ist und natürlich weniger Sterne zu sehen sind. Ansonsten ist alles gleich: das tiefe Dunkelblau des Himmels, das Blinken der Sterne, die Orangenbäume im Patio, die Orangenblüten und direkt vor mir das Fenstergitter... Um mich in meiner Trübsal zu trösten, ist heute alles unverändert geblieben; der tiefblaue Himmel, die blinkenden Sterne, wahnsinnige Freude: Damals drückte alles Feststimmung aus … Ach, die gute Mutter Natur freut sich und trauert mit uns, ohne sich dafür umzukleiden...! Wie ihre schweigsamen und sentimentalen Kinder verbirgt auch sie ihre Freude oder ihre Traurigkeit tief in ihrer Seele. Hier in meinem Zimmer ist jedoch einiges anders. Die Puppenlampe auf meinem Schreibtisch hat den Platz gewechselt, und im sanften Licht ihres aufgebauschten Rocks ist der vertraute Sessel hinter mir nicht leer. In schmachtender Ohnmacht darüber ausgebreitet liegt mein weißes Brautkleid. Tante Clara hat es mir, in der Absicht, mir eine Freude zu machen, gegen Abend, als ich eben erst zum Schreiben aufgestanden war, ins Zimmer gebracht. Die Schneiderin hatte es gerade abliefern lassen. Tante Clara hatte es entgegengenommen und war sogleich freudig zu mir gelau473
fen, hatte an der Tür geklopft und laut gejubelt:«Mach auf, María Eugenia! Mach auf! Mach auf! Sieh mal, was ich dir hier bringe!» Ich versteckte rasch meine Papiere, und als ich die Tür öffnete, trug Tante Clara das Brautkleid auf den Armen, das wie eine weiße Schaumwolke aus seiner Holzkiste hervorquoll. Sie stellte die Kiste auf mein Bett, zog das Kleid an den Schultern hervor und sagte strahlend, vielleicht, um mich aus meiner ungeheuren Trübseligkeit herauszureißen, die sich, wie ich feststellen muß, bereits wie ein Brandmal in mein Gesicht eingegraben hat:«Probier es einmal an! Ja, ja, probier es jetzt gleich an, laß sehen, wie es dir steht...!» Ich stand, noch immer etwas mißmutig wegen ihres jähen Überfalls, an der Tür und prüfte das Kleid mit einem raschen Blick von oben bis unten, wobei ich sofort bemerkte:«Oh…! Die Schleppe haben sie mir nicht völlig abgetrennt gemacht, wie ich es wollte... So war es nicht gedacht...! So war es nicht gedacht...» Dann, als mir einfiel, daß der ganze schreiende Betrug dieses Kleides auf ewig meine totgeschwiegene Wahrheit bedecken würde, fügte ich nervös hinzu:«Aber heute probiere ich es auf keinen Fall an. Es würde mir äußerst schlecht stehen: mit diesen Augenringen und dieser Erschöpfung...!» Daraufhin breitete Tante Clara es hingebungsvoll und ganz behutsam, um es nur ja nicht zu zerknittern, über dem Sessel aus und sagte:«Das sieht dir ja gar nicht ähnlich, María Eugenia …! Das Kleid erhalten und es nicht sofort anprobieren! Wo ich dich doch so gerne als Braut gesehen hätte.» «Das wirst du noch, Tante Clara, das wirst du noch. Nur heute nicht. Siehst du nicht, daß ich heute mit diesem Gesicht und mit dieser … Erschöpfung eine sehr häßliche und traurige Braut abgäbe?» «Häßlich kannst du überhaupt nie aussehen», entgegnete Tante Clara im Brustton der Überzeugung.
474
Nachdem sie das Kleid von verschiedenen Seiten aus betrachtet hatte, verließ Tante Clara, ohne weiter zu insistieren, das Zimmer. Ich schloß die Tür hinter ihr und überließ mich erneut dem Fluß meiner Erinnerungen. Seither bewacht mein treuer Sessel hinter mir sorgsam meinen hübschen schneeweißen Gast. Während der endlosen nächtlichen Stunden voller Aufregung und Erinnerungsschmerz, in denen ich von der quälenden Frage nach meinem rätselhaften Ich verfolgt wurde, hatte ich diese weiße Pracht schließlich vollkommen vergessen. Jetzt hingegen, da ich hier an meinem Schreibtisch sitze und schreibe, halte ich ab und zu inne, wende mich um und verliere mich im Anblick dieses Traums aus weißem, wolkigem Schaum... Zu dieser andächtigen, ehrfurchtsvollen Stunde bildet der Sessel mit dem Kleid ein beunruhigendes Ensemble, das mir stumm Zeichen macht, um mir tausenderlei Scharfsinnigkeiten zu verraten, wie die Dinge es nur in der frommen Friedlichkeit um Mitternacht tun … Ja... wie redselig ist zu dieser erhabenen mitternächtlichen Stunde der schwarze Sessel in seinem Schweigen, und wie schweigsam der schrille Ruf der in seinen schwarzen Armen dahinschmachtenden Weiße! Der Sessel wirkt wie ein sadistischer Geliebter, der eine Tote in den Armen hält. Das Kleid mit den beiden leeren Ärmeln, die sich wie ein Kreuz öffnen und fast bis auf den Boden herabfallen, ist ein Leichnam..., der vergewaltigte Leichnam einer körperlosen Jungfrau..., ja...! In diesem Augenblick, im magischen Licht meiner grünen Lampe, ist das bauschige leere Kleid der Leichnam einer Seele..., einer dieser Seelen, die man in unblutigen Opferzeremonien beerdigt, während der Körper am Leben bleibt...! Das ist sicher der Grund, warum ich jetzt fühle, wie ich von Kopf bis Fuß ganz in diesem Liebesensemble lebe … Von meinem Platz aus schaue ich es mir lange an und sehe vieles und fühle noch mehr, aber verstehen tue ich wie üblich kaum etwas … 475
Ach, das Mysterium dieses Kleides, wie ein Leichnam hingegossen auf dem Sessel! Ist es nun das Symbol meiner körperlosen Seele in Gabriels Armen oder das Symbol meines seelenlosen Körpers in Leals Armen...? Mein seelenloser Körper...! Ach, welch höchstens Glück der Seelen, die keusch dahingehen, ohne jemals die unreine Berührung des Körpers gespürt zu haben...! Ach, perverse Wollust, tiefste Wollust der Körper, deren Bestimmung es ist, sich heuchlerisch zu verbiegen, angeekelt von den Küssen, die ihre Seele nicht berühren...! Ach, feierliche Heuchelei stillen Leidens…! Aufopferung…! Sonne, die meinem Weg leuchtet...! Gebieter, der du mein ganzes Leben für dich beanspruchst. In dieser erhabenen Stunde des tiefen Verständnisses, den Blick auf diesen weißen Leichnam auf meinem treuen Sessel geheftet, wollte ich die Geheimnisse entschlüsseln, die mein Schicksal lenken, und sehe nur deinen Namen auf der symbolischen Weiße der Schaumwolke treiben... Deinen Namen...! Deinen Namen: Aufopferung...! Ach! Ach, halt, halt, jetzt erkenne ich auf der symbolischen Weiße des Schaums, erleuchtet durch deinen Namen, endlich die Schönheit meines Schicksals: Ich bin Iphigenie, wie in der antiken Tragödie; wir fahren zur See bei widrigen Winden, sind unter dem Kommando von ich weiß nicht, wem unterwegs, um seinen Haß, ich weiß nicht, wo, zu stillen, und zur Rettung dieses Schiffes, das die Welt ist, muß mein williger Sklavenkörper, von den Ketten vieler Jahrhunderte in Knechtschaft gezeichnet, sich opfern. Nur er kann den Zorn dieses über alle Menschen herrschenden Gottes besänftigen, an den ich nicht glaube und von dem ich mir nichts erhoffe. Eine grausame, urväterliche Gottheit; ein tausendjähriger Gott mit sieben Köpfen, den man Gesellschaft, Familie, Ehre, Religion, Moral, Pflicht, Konventionen nennt. Eine allmächtige Gottheit, deren Körper der grausame Egoismus der Menschen ist; ein unersättlicher Moloch173, der nach dem Blut der Jungfrauen giert und auf 476
dessen heiligem Altar Millionen von Jungfrauen hingeschlachtet werden...! Gefügig, weiß und schön wie Iphigenie bin ich nun bereit für den Opfergang! Doch bevor ihr mich dem Henker übergebt, will ich es vor diesem unschuldigen Weiß, das meinen Körper umhüllen soll, laut herausschreien, auf daß es mein ganzes bewußtes Sein höre:«Nicht um des blutrünstigen Kultes des urväterlichen Gottes mit sieben Köpfen willen erkläre ich mich bereit zu diesem Opfergang, nein, nein …! Ich spüre, daß eine weit höhere Gottheit in mir lebt; es ist diese ungeheure Sehnsucht, die sich, um vieles mächtiger als die Liebe, in meinem Körper regt, mich beherrscht und zu einem geheimnisvollen höheren Ziel lenkt, dem ich huldige, ohne es recht zu begreifen! Ja, Heiliger Geist der Aufopferung, Vater und Sohn der Mutterschaft, mein einziger Geliebter; tüchtigerer Ehegatte als die Liebe, du, du allein bist der Gott meines Sühneopfers und die ungeheure Sehnsucht, die mich im Leben leitet und beherrscht. Auf meiner wilden Jagd als liebende Sklavin habe ich dich verfolgt, ohne zu wissen, wer du warst. Dank der Offenbarungen dieser erhabenen Nacht habe ich jetzt dein Gesicht erblickt, habe dich endlich erkannt, betrachte dich zum erstenmal und bete zu dir. Du bist der Gatte aller edlen Seelen; du beschenkst sie fortwährend mit der Wollust des Leidens und läßt sie tagtäglich in den offenen Rosen des Verzichts und der Barmherzigkeit erblühen. O mein Geliebter, Herr und Gott: Auch ich habe dich gesucht, und jetzt habe ich dich erblickt und begehre dich ob der Schönheit deines grausamen, makellosen Körpers, der folternd umarmt und küßt; auch ich sehne mich danach, deinen flammenden Kuß zu empfangen, deine Lippen, die mich ewiglich auf meinen schweigenden Mund küssen sollen; auch ich will, daß du mich von jetzt an ganz in deine dornigen Arme schließt, dich an mir ergötzt, mich ein für allemal und für immer zu der Deinen machst, denn wie die Liebe in allen Körpern Lust erzeugt, so zeugst du, um vieles fruchtbarer, mit deinem Schmerzenskuß die unendliche Schönheit, die die Welt mit 477
ihrem Heiligenschein umgibt und sie von all ihren Sünden erlöst!»
478
ANMERKUNGEN 1 Vermutlich Anspielung auf das venezolan. Volkslied Adiós, mujer, dessen erste Strophe lautet:«Ach, wenn das Meer aus Tinte wäre/und die Wellen aus Papier, / würde ich dir einen Brief schicken,/um dir zu zeigen, wie man liebt.» 2 Die«Töchter Mariens»: Ordensgemeinschaft, die 1872 von dem ital. Priester Don Giovanni Bosco (1815-1888) gegründet wurde und sich die Erziehung benachteiligter Jugendlicher zum Ziel setzte. 3 Frz.«Anstandsdame»,«Begleiter». 4 Bedeutendste Hafenstadt Venezuelas, rund 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Caracas. 5 Frz.«Bubikopf». 6«Manicure»: Mischform aus dem frz.«manucure»und dem span.«manicura»; dt.«Nagelpflegerin». 7 Vermutlich«chien fouetté», frz. für«gepeitschter, geschlagener Hund». 8 Frz.«Wie hübsch das Fräulein ist!» 9 Frz.«Sieh mal, was für ein hübsches Mädchen!» 10 Frz.«Erfolg». 11 Der heilige Hieronymus (um 347-419/420) war ein bedeutender Kirchenlehrer und Bibelübersetzer und trat für eine asketische Lebensführung ein. 12 Frz.«Entgleisung». 13«Pancho»und«Panchito»sind Kose- oder Spitznamen, die von Francisco abgeleitet sind; das span. Wort«pancho»bedeutet außerdem«ruhig»,«phlegmatisch». 14 Tussor: Gewebe aus einer Wildseide, die aus den Kokons chin. Eichenspinnerraupen gewonnen wird und eine bräunliche Farbe hat. 15 Demosthenes (4. Jh. v. Chr.), bedeutender griech. Redner; Petrus der Eremit (Petrus von Amiens, um 1050-1115), frz. Kreuzzugsprediger; Franziskus (Franz von Assisi, 1181/1182-1226), Heili479
ger und Gründer des Franziskanerordens; Martin Luther (14831546), dt. Reformator; Honoré Gabriel de Riqueti, Graf von Mirabeau (1749-1791), frz. Politiker und führende Persönlichkeit in der Anfangszeit der Frz. Revolution; Gabriele d’Annunzio (18631938), ital. Dichter. 16 Der span. Konquistador Hernán Cortés (1485-1547) versenkte 1519 seine Schiffe, nachdem er die Stadt Veracruz im heutigen Mexiko gegründet hatte. Er wollte damit die Verbindung nach Kuba abschneiden, von wo aus er in See gestochen war. Seine Eroberungsfahrt war von seinem Vorgesetzten und Rivalen Diego Velázquez, dem Statthalter von Kuba, nicht autorisiert worden. 17 Simón Bolívar (1783-1830), südamerik. General, Staatsmann und Freiheitsheld, spielte eine wichtige Rolle in der venezolan. Revolution von 1810/1811 und wurde zum bedeutendsten militärischen und politischen Führer im Unabhängigkeitskampf des nördlichen Südamerika gegen die span. Kolonialherrschaft. 18 Der Berg Ávila, der Caracas von der Karibikküste trennt, wurde nach dem span. Konquistador Gabriel de Ávila benannt, der mit dem Gründer der Stadt Caracas, Diego de Losada, in die Gegend gekommen war und an den Hängen des Berges Land gekauft hatte. 19 Der sogenannte«mantón de Manila»ist ein dreieckiges Schultertuch aus Seide, das von Flamencotänzerinnen verwendet wird. 20 Vertreter einer nach ihrem Versammlungsort Kynosarges benannten griech. Philosophenschule, die mit ihrem Leben in völliger Bedürfnislosigkeit praktische Kritik an gesellschaftlichen Konventionen übten. 21 Span.«las cuentas del Gran Capitán»: Redewendung, die eine absurd übersteigerte Auflistung von Ausgaben bezeichnet. Sie geht auf eine Legende zurück: Der span. Feldherr Gonzalo Fernández de Córdoba y Aguilar (1453-1515), genannt«El Gran Capitán», soll vom span. König Ferdinand dem Katholischen gebeten worden sein, Rechenschaft über seine Ausgaben abzulegen.
480
Aus Wut über das mangelnde Vertrauen legte er eine maßlos übertriebene Rechnung vor. 22 Frz.«der letzte Schrei». 23 Frz.«Aussehen». 24 Frz.«Negligé»,«leichter Morgenrock». 25 Frz.«Bettjäckchen». 26 Lat.«Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir». Anfang des 130. Psalms oder sechsten Bußpsalms und traditionelles Totengebet der kath. Kirche. 27 Das kath. Angelusgebet (lat. Angelus Domini, Engel des Herrn) wird, vom Angelusläuten eingeleitet, dreimal am Tag gebetet. Es besteht aus drei Ave-Marias («Gegrüßet seist du, Maria») und Betrachtungsworten über die Menschwerdung Gottes. 28 Span.«Über den Wellen», berühmter Walzer des mex. Komponisten Juventino Rosas (1868-1894). 29 Eugenia María de Montijo (1826-1920), span. Adlige, ab 1853 Ehefrau Napoleons III. und bis 1870 Kaiserin von Frankreich. Ihr übertriebener Katholizismus und ihre konservativen politischen Ansichten machten sie zu einem Symbol von Strenge und Steifheit. 30«frou-frou»: Lautmalerische Umschreibung des Geräuschs von aneinanderreibender Seide. Mimi: Vermutlich Anspielung auf eine der Hauptfiguren aus der Oper La Bohème von Giacomo Puccini (1858-1924). 31 Mitglieder der kreolischen Aristokratie, d. h. in Venezuela geborene Nachkommen span. Vorfahren, die zum Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrer Gesellschaftsschicht stets einen großen Umhang trugen (span.«mantón»). Die sogenannten«criollos blancos»(«weiße Kreolen») waren auf die Geschlossenheit und Homogenität ihrer Schicht und den Erhalt ihrer von den Konquistadoren ererbten Privilegien bedacht. Nach der Unabhängigkeit verloren sie mit der Protektion durch die span. Krone auch ihre gesellschaftliche und ökonomische Vormachtstellung.
481
32 Mulatten; Nachkommen sowohl weißer als auch schwarzer bzw. indianischer Vorfahren, häufig mit dunkler Hautfarbe. 33 Cyrano de Bergerac, Komödie von Edmond Rostand (18681918). Der Protagonist Cyrano ist zwar durch eine übergroße Nase entstellt, verfügt aber über eine einzigartige dichterische Begabung. 34 Herodes I. (um 73-4 v. Chr.): röm. Vasallenkönig in Palästina. Seine grausame Unterdrückung jeglicher Opposition zeigte sich unter anderem beim Bethlehemitischen Kindermord (Mt 2,1318). Nero (37-68 n. Chr.): röm. Kaiser, der seine Mutter Agrippina, seine Frau Octavia und seinen Stiefbruder Britannicus töten ließ; außerdem verantwortlich für die erste systematische Christenverfolgung. Kaiphas: um 18-37 n. Chr. jüd. Hohepriester, der maßgeblich am Zustandekommen des Urteils gegen Jesus beteiligt war (Mt 26,3; Joh 11,49). 35 Traditioneller Brauch in Lateinamerika: Am Karsamstag oder Ostersonntag werden aus Pappmaché gefertigte lebensgroße Figuren des Judas verbrannt. 36 Von lat.«atavus»:«Urahn». Wiedererscheinen von Eigenschaften entfernter Vorfahren; übertragen auch Rückfall in urtümliche oder primitive Zustände. 37 Feines, weiches Seidengewebe. 38 Radikale Mitglieder der brit. Frauenbewegung, die vor 1914 mit Massenprotesten, Hungerstreiks und teilweise gewaltsamen Aktionen für die politische Gleichberechtigung der Frauen kämpften. 39 Emmeline Pankhurst (1858-1928), brit. Frauenrechtlerin, gründete 1903 die Women’s Social and Political Union zur Erringung des Frauenwahlrechts. Sie und ihre Mitstreiterinnen, die Suffragetten (vgl. Anm. 38), unterstrichen ihre Forderungen auch mit Bombenanschlägen und Brandstiftung, Pankhurst selbst saß mehrfach in Haft.
482
40 Emilio Castelar (1832-1899), span. Politiker, wegen seiner flammenden Reden für Demokratie und Republik als vorbildlicher Rhetoriker bekannt. 41 Anspielung auf die Peripatetiker, die Schule des griech. Philosophen Aristoteles, benannt nach der Wandelhalle (griech.«peripatos»), in der dieser öffentliche Vorträge hielt. 42 Der griech. Philosoph Diogenes von Sinope (4. Jh. v. Chr.) ist durch zahlreiche Anekdoten bekannt. Eine davon besagt, er sei tagsüber mit einer Laterne über den Marktplatz von Athen gegangen und habe, nach dem Grund gefragt, erwidert:«Ich suche einen Menschen.» 43 Joh 20,24-29: Einer der zwölf Apostel glaubt erst an die Auferstehung Jesu, nachdem er dessen Wundmale mit eigenen Augen gesehen hat, und wird deshalb«ungläubiger Thomas»genannt. 44 Lat.«in jener Zeit». Formelhafte Redewendung, die häufig in der Bibel verwendet wird, etwa bei den Anfängen der Evangelien. 45 Werk des frz. Philosophen Voltaire (1694-1778), veröffentlicht 1764, das die Positionen der Aufklärung in kurzer und allgemeinverständlicher Form darstellt. Voltaire richtet sich darin gegen jede Form von religiösem Fanatismus. 46 Frz.«die Natur»,«mein Pelz»,«Mondlicht»,«die körperliche Schönheit». 47 1 Mose 28,10-22. Auf dem Weg nach Mesopotamien, wo er sich eine Braut auswählen will, legt sich Jakob, der Sohn von Isaak und Rebekka, am Wegesrand schlafen und bettet seinen Kopf auf einen Stein. Im Traum sieht er eine große Leiter, die vom Himmel bis zur Erde reicht und auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. Gott prophezeit ihm, daß seine Nachkommen zahlreich sein werden, und verspricht ihm das Land, auf dem er liegt, als Wohnstätte. 48 In Sèvres bei Paris befindet sich eine Porzellanmanufaktur, die seit dem 18. Jh. neben der Manufaktur in Meißen das kostbarste europäische Porzellan herstellt.
483
49 Jean Baptiste Greuze (1725-1805), frz. Maler, dessen sentimentale Sittengemälde seinerzeit sehr geschätzt wurden. 50 Lat.«Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt.» 51 Lateinamerik. Lied bzw. Tanz im 2 /4-Takt, nach der kuban. Hauptstadt Havanna benannt und im 19. Jh. sehr populär. Die Texte handeln meist von der tropischen Landschaft und dem Leben auf den Plantagen. Eine berühmte Habanera liegt der Arie L’ amour est un oiseau rebelle in Georges Bizets (1838-1875) Oper Carmen zugrunde. 52 Frz.«Hohlsaum». 53 Frz.«kleidsam». 54 Frz.«Mach es dir bequem». 55 Frz.«Ungeschicklichkeit». 56 Frz.«Streit». 57 Frz.«Voreingenommenheit»,«vorgefaßte Meinung». 58 Frz.«Da haben wir die Bescherung». 59 Frz.«schlechte Gesichtsfarbe». 60 Frz.«Unrecht». 61 Frz.«Fessel»,«Hindernis». 62 Frz.«Heidenangst». 63 Frz.«Geschäfte». 64 Frz.«Freidenker». 65 Frz.«Das ist schade». 66 Frz.«hübscher Kerl». 67 Frz.«Riesenerfolg». 68 Frz.«Geschicklichkeit»,«Wissen»,«Erfahrung». 69 Frz.«Er pfeift darauf». 70 Frz.«geschmacklos». 71 Frz.«vornehm»,«kultiviert». 72 Frz.«wenn das nicht indiskret ist». 73 Frz.«während du dabei bist, dich zu streiten». 74 Frz.«hübsch». 75 Frz.«wunderbar»,«großartig». 76 Frz.«verwandte Seele». 484
77 Titelfiguren des gleichnamigen Romans von Jacques Henri Bernardin de Saint Pierre (1737-1814). Die Liebesgeschichte zweier in tropischer Wildnis aufgewachsener Naturkinder illustriert den von Rousseau konzipierten Mythos, daß der Mensch nur außerhalb der Zivilisation gut und glücklich sein könne. 78 Frz.«barfuß». 79 Frz.«es regnet immer». 80 Frz.«Vorsicht». 81 Frz.«Aufopferung»,«Selbstlosigkeit». 82 Frz.«Bedauern». 83 Frz.«Ausschweifung». 84 Alfred de Musset (1810-1857), frz. Dichter der Romantik; Gustavo Adolfo Bécquer (1836-1870), span. Dichter der Spätromantik; André-Marie Chénier (1762-1794), frz. Dichter, der vielen Romantikern als Vorbild galt. 85 Frz.«geschmacklos»,«ekelhaft». 86 Frz.«Ehepaar». 87 Frz.«Hirten». 88 Der frz. Maler Jean-Antoine Watteau (1684-1721) ist berühmt für seine ländlichen Szenen. Die im folgenden Absatz erwähnte«Schäferidylle, wie man sie von Fächern kennt»bezieht sich ebenfalls auf Watteaus Gemälde, die häufig auf Fächern abgebildet wurden. 89 Frz.«Nagelpolierfeile». 90 Militärischer und politischer Machthaber, Oberhaupt, Führer. In der Kolonialzeit allgemeine Bezeichnung für regionale Magnaten, Großgrundbesitzer. Seit der Unabhängigkeit Lateinamerikas auch politischer Machthaber als Provinz- oder Landesfürst. 91 Die Unabhängigkeitsbewegung Lateinamerikas ging im wesentlichen von Venezuela aus, das am 19. April 1810 die Selbstverwaltung proklamierte. Am 5. Juli 1811 wurde in Venezuela unter Francisco de Miranda die erste unabhängige Republik ausgerufen; am 14. Mai 1813 begann der eigentliche Unabhängigkeitskampf unter dem Kommando Bolívars. Befreit wurden die Gebie485
te der heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panama, Ecuador, Peru und Bolivien. 92 Frz.«angeekelt». 93 Mythischer Ort in Südamerika, an dem die Konquistadoren unermeßliche Reichtümer an Gold und Edelsteinen zu finden hofften und den sie in den Niederungen des Orinoco oder des Amazonas vermuteten. 94 Frz.«Emporkömmling»;«unkultivierte, vulgäre Person, die ihren Reichtum zur Schau stellt». Der Begriff wurde im späten 19. Jh. in Frankreich als Bezeichnung für Neureiche aus Südamerika geprägt. Er ist vom span. Ausdruck«arrastrar cueros»abgeleitet, der in Venezuela in der Bedeutung«prunken, protzen»gebräuchlich war (von«cuero»,«Leder», vermutlich weil der Handel mit Rindsleder viele Venezolaner reich gemacht hatte). 95 Frz.«Da bin ich mir sicher! Meine Ahnenfolge, mein Lieber, ist etwas sehr Schickes!» 96 Frz.«Deine Ahnenfolge! Aber die Ahnenfolge, meine arme Mercedes, ist das Künstlichste und Konventionellste, was es gibt!» 97 Vermutlich Anspielung auf ein Dekret zur Befreiung aller Sklaven, das Bolívar 1816, während des Unabhängigkeitskrieges, in Caracas verkündete. 98 Frz.«Aber sprich doch Französisch, Pancho!» 99 Im venezolan. Unabhängigkeitskrieg (1811-1821) standen sich zwei Parteien gegenüber: die von Bolívar angeführten«Patrioten», die für die Unabhängigkeit Venezuelas von der span. Kolonialmacht kämpften, und die«Realisten», die die span. Krone verteidigten. 1812 wurde Caracas durch ein schweres Erdbeben verwüstet. 1814 unterlag Bolívars Armee der Armee der«Realisten»in der Schlacht von La Puerta. Daraufhin rückten die«Realisten»nach Caracas vor, und die Anhänger Bolívars sowie Teile der Zivilbevölkerung waren gezwungen, die Stadt zu verlassen und gen Osten zu fliehen.
486
100 Verwandte mütterlicherseits von Simón Bolívar; neun Schwestern, die der Aristokratie der«mantuanos»angehörten (vgl. Anm. 31) 101 Bragança: portugies. Dynastie, die 1640-1853 herrschte und im 19. Jh. zwei Kaiser von Brasilien stellte. Manuel Carlos Piar (1774-1817): venezolan. General, der zunächst mit Bolívar für die Unabhängigkeit Venezuelas kämpfte. Selbst Mulatte, fand er, daß die von weißen Kreolen dominierten«Patrioten»der Gleichberechtigung der Mestizen keine ausreichende Bedeutung beimaßen, konspirierte gegen Bolívar und wurde exekutiert. Louis Philippe Graf von Ségur (1753-1830): frz. Diplomat und Historiker, der die Aristeiguetas als«neun Musen»bezeichnet haben soll. 102 Titelheld einer Komödie von Molière (1622-1673), Le Tartuffe, mit der Bedeutung«Heuchler». 103 Alttestarischer Prophet. Die biblischen«Klagelieder Jeremias’», die vermutlich gar nicht von ihm stammen, beklagen den Untergang des Staates Juda und der Stadt Jerusalem. 104 Griech. Philosoph, Vertreter des Kynismus (vgl. Anm. 20 und 42), der äußerste Armut predigte. 105 Büßer der griech. Mythologie, der Hunger und Durst leidet. In der Unterwelt steht er bis zum Kinn im Wasser, doch sobald er den Kopf neigt, verschwindet das Wasser; über seinem Kopf hängt ein Ast mit Früchten, doch sobald er danach greift, entführt ein Windstoß den Ast. 106 Frz.«ohne Kniehose»: Bezeichnung für einen Anhänger der Frz. Revolution. 107 Frz.«heilige Armut». Vermutlich Anspielung auf das Armutsideal des heiligen Franz von Assisi. 108 Span.«Schöner Himmel». Titel eines populären mex. Liedes, komponiert 1882 von Quirino Mendoza y Cortés. Der Titel ist der Kosename für die darin besungene Geliebte. 109 Kuban. Tanz, ähnlich dem argent. Tango. 110 Span.«Singe und weine nicht.»Zeile aus dem Lied Cielito lindo (vgl. Anm. 108). 487
111 Bischofsmützen. 112 Der ital. Dichter Dante Alighieri (1265-1321) schuf mit Beatrice eine der berühmtesten Frauenfiguren der Weltliteratur. Sein Jugendwerk Das neue Leben erzählt im Wechsel von Prosa und Vers die literarisch stilisierte Geschichte der Liebe Dantes zu Beatrice. Im Traum begegnet ihm die Geliebte in den Armen Amors, welcher ihr befiehlt, das brennende Herz des Dichters zu essen. 113 Ausladender Baum, der leuchtend rot blüht und in Venezuela häufig als Schattenspender auf Kakaooder Kaffeeplantagen gepflanzt wird. 114 Anspielung auf das biblische Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,1-13): Zehn Jungfrauen warten des Nachts auf ihren Bräutigam; fünf von ihnen haben ausreichend Öl für ihre Lampen, den anderen fünf geht das Öl aus, und während sie welches herbeischaffen, versäumen sie die Ankunft des Bräutigams und werden von der Hochzeitsfeier ausgeschlossen. 115 Oper von Giacomo Puccini. Im 1. Akt betritt die Protagonistin, die gefeierte Sängerin Floria Tosca, eine Kirche, in der ihr Geliebter, der Maler Mario Cavaradossi, an einem Gemälde der Maria Magdalena arbeitet. Die grundlos eifersüchtige Tosca bezichtigt ihren Liebhaber der Untreue; dieser versucht sie zu beschwichtigen. 116 Die heilige Elisabeth von Thüringen (1207-1231), eine Tochter Andreas’ II. von Ungarn. Bekannt für ihr Streben nach freiwilliger Armut und ihren asketischen Krankendienst, dem sie sich in dem von ihr gestifteten Spital in Marburg widmete. 117 Llanos: ausgedehnte Savannenregion im Flußbecken des Orinoco, im Staatsgebiet von Kolumbien und Venezuela. Die Bewohner der Region, diellaneros, reitende Rinderhirten, sind das venezolan. Gegenstück zu den nordamerik. Cowboys oder den argent. Gauchos. 118 Hohes Gras mit langen Blättern, das im Heideland der Anden reichlich wächst. 488
119 Während der Reformation im 16. Jh. wurde im Zusammenhang mit der Frage nach dem rechten Gottesdienst auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit bildlicher Darstellungen Christi und der Heiligen aufgeworfen. Der Kampf gegen die kath. Messe führte zur Zerstörung von Gemälden, Skulpturen, Kirchenfenstern usw. (sog. Bildersturm). Die kath. Kirche verteidigte jedoch im Bilderdekret des Konzils von Trient (1563) die gemäßigte Bilderverehrung, da nicht das Bild, sondern der Abgebildete angebetet werde. 120 Kleine, kugelförmige, eßbare Früchte mit säuerlichem Geschmack. 121 Mk 5,35-42: Jesus wird von einem der Vorsteher der Synagoge, Jairus, gebeten, seine sterbende Tochter zu heilen. Als er das Haus jedoch betritt, ist das Mädchen bereits gestorben. Jesus sagt der trauernden Familie, das Mädchen schlafe nur, nimmt seine Hand und befiehlt ihm, aufzustehen. Daraufhin steht das Mädchen auf und geht umher. 122 In den folgenden Absätzen wird auf das alttestamentarische Hohelied Salomos Bezug genommen, in dem eine Braut namens Sulamith und ein Bräutigam abwechselnd sprechen. Der auch Lied der Lieder genannte Text wurde lange als Allegorie auf die Liebe Gottes zu Israel, im Christentum als die Liebe Christi zu der gläubigen Seele gedeutet; seit Herder wurde es auch als Sammlung israelit. Liebes- und Hochzeitslieder verstanden. 123 Hld 2,17. 124 Anspielung auf den Roman Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha von Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616). Im Mittelpunkt steht ein kleiner Landadeliger, dessen Phantasie durch die Lektüre zahlloser Ritterromane so beflügelt worden ist, daß er glaubt, selbst zum fahrenden Ritter berufen zu sein. Nach dem Vorbild der Romanhelden bricht er auf, um das Unrecht aus der Welt zu schaffen, und erwählt sich ein Bauernmädchen, das er«Dulcinea»nennt, zur schwärmerisch verehrten Dame seines Herzens. Er wird begleitet von seinem«Knappen», dem pfiffigen 489
Sancho Pansa, der seinem Herrn zwar treu ergeben ist, dessen Wahnbildern jedoch mit Unverständnis begegnet und immer wieder versucht, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. 125 Der Prophet Daniel berichtet von drei Männern, die sich weigern, ein goldenes Standbild anzubeten, das der König Nebukadnezar hatte errichten lassen. Der König läßt die drei Männer in einen Feuerofen werfen, wo sie jedoch nicht verbrennen; die Zuschauer sehen statt dessen vier Gestalten im Feuer umhergehen. Schließlich läßt der König die drei Männer unversehrt frei (Dan 3,1-30). Das Zitat gibt Auszüge aus den apokryphen Versen Dan 3,37-54 wieder. 126 Moiré: Gewebe mit geflammtem Muster, das feinen bewegten Wellen oder einer Holzmaserung ähnelt. 127 La Mistinguett (1873-1956), eigentlich Jeanne-Marie Bourgeois, frz. Varietékünstlerin, Chansonsängerin, Theater- und Kinoschauspielerin, zeitweise Besitzerin des berühmten Pariser Varietés Moulin Rouge. 128 Frz.«Sie ist nicht dumm, aber es ist unmöglich, sie zum Lernen zu bewegen.» 129 Von griech.«bukolos»:«Rinderhirt». Die bukolische Dichtung, auch Schäferdichtung genannt, idealisiert die Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens in die idyllische Welt der Hirten, so auch die Bucolica des röm. Dichters Vergil (70-19 v. Chr.), eine Sammlung von Hirtengedichten. 130 Leinenschuhe mit Hanfsohle. 131 Frz.«Liebhaber»,«Geliebter». 132 Frz. wörtlich«Vogelball»und«Vergifteter Ball». Bei letzterem handelt es sich um eine Art Vorläufer des Baseballspiels. 133 Veraltete Bezeichnung für ein uneheliches Kind; im Span. ist der Begriff«hijo natural»noch gebräuchlich. 134 Quellnymphe der röm. Mythologie, Geliebte des röm. Königs Numa Pompilius, den sie bei wichtigen Entscheidungen beriet und dem sie den Weg zu weiser Herrschaft wies.
490
135 Teatro Real de Madrid: eines der bedeutendsten Opernhäuser Spaniens. Es liegt dem königlichen Palast gegenüber und wird häufig von Mitgliedern der Königsfamilie besucht. 136 Lat.«Ein letztes Lebewohl». Aus: Ovid, Metamorphosen, X. Eurydike sagt Orpheus Lebewohl, der sie aus der Unterwelt gerettet, sich dann aber verbotenerweise nach ihr umgesehen hat, woraufhin sie in die Unterwelt zurücksinkt. 137 Frz.«meine Süße». 138 Frz.«all diese kleinen Unannehmlichkeiten». 139 Anspielung auf die Tragödie Iphigenie in Aulis des Euripides (5. Jh. v. Chr.). Iphigenie ist die Tochter des Agamemnon, des Königs von Mykene, der von Aulis aus das griech. Heer nach Troja führen will, jedoch von Artemis durch eine Windstille daran gehindert wird. Nur indem Agamemnon Iphigenie opfert, kann er die Göttin besänftigen. Nach schwerem innerem Kampf ist Iphigenie bereit, für die Griechen zu sterben. Artemis jedoch entrückt das Mädchen und läßt an seiner Statt eine Hirschkuh auf dem Opferaltar zurück. 140 Veralteter frz. Ausruf des Erstaunens oder Unwillens, früher auch im Deutschen gebräuchlich. 141 Pudding aus in Maraschino getränktem Biskuit, Sahne, Zucker, Eigelb und Kirschen. 142 Cremetorte mit Biskuitboden aus dem Elsaß. 143 Traditionell trägt die Jungfrau Maria in bildlichen Darstellungen ein blaues Gewand. 144 Charles Perrault (1628-1703), frz. Schriftsteller. 1697 veröffentlichte er eine Sammlung ironisch nacherzählter Volksmärchen, Contes de ma mère l’Oye (dt. Gänsemütterchens Märchen). 145 Saturnino Calleja Fernández (1853/1855-1915), span. Verleger, Schriftsteller und Pädagoge, der mit Märchenbüchern für Kinder bekannt wurde. 146 Isadora Duncan (1878-1927), US-amerik. Tänzerin, die ihre größten Erfolge in Europa feierte. Vorkämpferin des freien Tan-
491
zes; setzte den Zwängen des klassischen Balletts ein am Ideal der griech. Antike orientiertes Körpergefühl entgegen. 147 Sacha Guitry (1885-1957), frz. Schauspieler, Regisseur und Dramatiker. 148 Francisco de Miranda (1750-1816), venezolan. Offizier, der für die Unabhängigkeit Südamerikas von den Kolonialmächten kämpfte (vgl. Anm. 91). 149 Gemeint ist Simón Bolívar, der den Beinamen El Libertador trägt (vgl. Anm. 17). 150 Titelfigur der gleichnamigen Operette von Claude Terrasse (1867-1923), die nicht an das glückliche Zusammenleben der Geschlechter glaubt, im Laufe des Stücks jedoch eines Besseren belehrt wird. Uraufführung 1904 in Paris, dt. Fassung unter dem Titel Der Kongreß von Sevilla. 151 Konfekt aus Zuckermasse. 152 Lk 2,25-35: Dem frommen Simeon ist vom Heiligen Geist prophezeit worden, daß er nicht sterben werde, ehe er den Heiland gesehen habe. Als der zwölfjährige Jesus von seinen Eltern in den Tempel gebracht wird, nimmt Simeon ihn auf die Arme und sagt:«Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen...» 153 Frz.«Nippsachen»,«kleine Ziergegenstände». 154 Frz.«Aussteuer». 155«En tiempos de María Castaña»: Im Span. gebräuchliche Redewendung für eine weit zurückliegende Vergangenheit. Es ist ungeklärt, ob es eine historische Person dieses Namens gegeben hat; Legenden verweisen auf eine Frau, die im 14. Jh. im galicischen Lugo lebte und eine Revolte gegen den Klerus anführte, den sie der Raffgier bezichtigte. 156 Zitat aus dem Gedicht Rima XXIII von G. A. Bécquer (vgl. Anm. 84). 157 In der Komödie Cyrano de Bergerac (vgl. Anm. 33) liebt der Titelheld seine Cousine Roxane, stellt jedoch sein dichterisches 492
Talent in den Dienst seines Freundes Christian, der mit den von Cyrano verfaßten Briefen Roxanes Herz gewinnt. In einer nächtlichen Balkonszene im 3. Akt bewegt Christian seine Angebetete mit den Worten Cyranos, der sich verborgen hält, zur sofortigen Vermählung. 158 Cyrano de Bergerac, III, 9:«Un baiser, mais à tout prendre, qu’est-ce? […] C’est un secret qui prend la bouche pour oreille »(«Ein Kuß, was ist das? Es ist ein Geheimnis, das den Mund für ein Ohr hält»). 159 Beginn des Gedichtes Nocturno des kolumbian. Dichters José Asunción Silva (1865-1896), in dem es um den frühen Tod seiner geliebten Schwester geht. 160 Anspielung auf die Abhandlung Über die Weiber des dt. Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860), in dem dieser die Meinung vertritt, daß das weibliche Geschlecht mit einer«schwächeren Vernunft»ausgestattet sei als das männliche und daß«das Weib, seiner Natur nach, zum Gehorchen bestimmt»sei. 161 Sarah Bernhardt (1844-1923), frz. Schauspielerin; Eleonora Duse (1858-1924), ital. Schauspielerin. Beide waren nicht nur in Europa und den U SA, sondern auch in Lateinamerika berühmt und traten auf Bühnen in Buenos Aires und Montevideo auf. 162 Anspielung auf die Evolutionstheorie des frz. Biologen und Botanikers Jean Baptiste de Lamarck (1744- 1829) und die Hypothesen zur Entstehung des Sonnensystems des frz. Mathematikers und Astronomen Pierre Simon Marquis de Laplace (1749-1827). Albert Einstein (1879-1955) veröffentlichte wichtige Schriften zur Relativitätstheorie im Jahr 1905. 163 Laute, gewaltige Stimme, benannt nach Stentor, dem griech. Helden vor Troja, der so laut rufen konnte wie fünfzig Männer zusammen (Homer,Ilias V, 785). 164 Griech. Sage um die Aphroditepriesterin Hero und ihren Geliebten Leander, der jede Nacht den Hellespont durchschwimmt, um bei ihr zu sein, und eines Nachts in einem Sturm ertrinkt. Als
493
Hero die Leiche findet, tötet sie sich selbst. Anspielungen auf diese Sage finden sich bei Vergil und Ovid. 165 Legende um zwei junge Liebende, Diego de Marcilla und Isabel de Segura, die im 13. Jh. in der ostspan. Stadt Teruel gelebt haben sollen. Isabels Vater erlaubt ihr nicht, den mittellosen Diego zu heiraten, sondern drängt sie zur Hochzeit mit einem anderen Mann. Diego bittet um einen letzten Kuß von der Geliebten; Isabel weigert sich aus ehelichem Pflichtgefühl, und Diego stirbt. Während der Beerdigung will Isabel dem Toten seine letzte Bitte erfüllen, küßt ihn und sinkt ebenfalls tot zu Boden. 166«Die seligste Jungfrau vom Berg Karmel», Patronin des Karmeliterordens, der im 13. Jh. aus einer Einsiedlerkolonie auf dem Berg Karmel im Norden Palästinas hervorging. 167 Predigt, die an die letzten Worte Jesu vor seinem Tod am Kreuz erinnert und am Mittag des Karfreitags gehalten wird. Das siebte und letzte Wort lautet:«Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!»(Lk 23,46) 168 Anspielung auf 1 Mose 24: Eliëser, der älteste Knecht Abrahams, der den Auftrag hat, eine Braut für Abrahams Sohn Isaak zu finden, wählt Rebekka aus, weil sie ihm am Brunnen bereitwillig von dem Wasser zu trinken gibt, das sie geschöpft hat. 169 Anspielung auf das Gedicht The Raven (Der Rabe) des USamerik. Schriftstellers Edgar Allan Poe (1809- 1849). Die leitmotivischen Worte«nothing more»bzw.«nevermore»werden am Ende jeder Strophe wiederholt und unterstreichen die Unmöglichkeit, die verlorene Geliebte wiederzugewinnen. 170 Die sieben letzten Worte Jesu Christi am Kreuz (vgl. Anm. 167). Sie entstammen den Evangelien des Lukas, Johannes und Markus. 171 Bezeichnung für wohlriechende Pflanzen, die z. T. seit dem Altertum für Salben und Öle verwendet wurden, z. B. Baldrian, Lavendel. 172 Paulus von Tarsus (auch Saul oder Saulus) war ein jüd. Gelehrter und einer der leidenschaftlichsten Verfolger der ersten Chris494
tengemeinde in Jerusalem. Auf dem Weg nach Damaskus, wo er etliche Anhänger der neuen Religion vermutete, wurde er von einem Blitz geblendet und hörte die Stimme Jesu, der ihn aufforderte, ihn nicht länger zu verfolgen, woraufhin er zum christlichen Glauben bekehrt wurde (Apg 9, 1-19). 173 Kanaanäisch-punische Gottheit, der im antiken Mittelmeerraum bis etwa 600 v. Chr. Menschen-, speziell Kinderopfer gebracht wurden.
495
NACHWORT Sie war einfach umwerfend mondän. Zigarettenspitze, seidener Pyjama bis zum Mittagessen, dann ein Rendezvous mit einem Künstler oder Diplomaten in ausgesuchter Garderobe, sorgfältig frisierte Haarpracht, Make-up von Guerlain und immer ein Bonmot auf den Lippen. Teresa de la Parra wußte sich in Szene zu setzen und hatte diebischen Spaß an ihren Auftritten. Lustvoll hielt sie erst die Männerwelt von Caracas und dann die von Paris in Atem, wollte von der Ehe nichts wissen, landete 1924 mit ihrem Romandebüt Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt einen Skandalerfolg, vergnügte sich mit ihrem ecuadorianischen Liebhaber Gonzalo Zaldumbide, Diplomat und ebenfalls Schriftsteller, pilgerte von Grandhotel zu Grandhotel, reiste mit Freundinnen durch Europa, Venezuela, Kolumbien und bis nach Kuba und sprach vor großem Publikum über die Rolle der Frau in der lateinamerikanischen Geschichte. Die unterhaltsame Pariser Revue de L’Amérique Latine, halb Literaturzeitschrift, halb Gesellschaftsjournal und sowohl für die in Frankreich residierende lateinamerikanische Oberschicht als auch für Intellektuelle gedacht, übernahm nicht nur den Vorabdruck ihrer Bücher, sondern lieferte ganze Fotostrecken mit ihr. In Bogotá, wo die Autorin 1930 auf einer Vortragsreise Station machte, umlagerten dreitausend Menschen den Bahnsteig, um den berühmten Gast in Empfang zu nehmen. Jeder wollte einen Blick auf diese sagenumwobene Person erhaschen. Eine schreibende Frau hatte in jenen Breitengraden Seltenheitswert und wurde wie ein Zirkustier bestaunt, besonders Mutige kletterten sogar auf ihren Eisenbahnwaggon.«Elegant, strahlend, blendend», titelten die Zeitungen am nächsten Tag und druckten Bilder von de la Parra mit Hut und modisch ondulierten Lokken ab. Ihre ersten Feuilletons und Erzählungen hatte die bezaubernde Venezolanerin, deren zwischen grau und grün changierende Augenfarbe männliche Kollegen zu Schwärmereien hinriß, mit dem Pseudonym«Fru-Frú» unter496
zeichnet. Inspiriert vom französischen«frou-frou»- eine lautmalerische Nachahmung des Geknisters von Seidenstoffen -, benutzt die Autorin diesen Begriff auch für theatersüchtige junge Mädchen, die für jedes Amüsement zu haben sind. Der Name paßt zu de la Parras volatilem Charakter. Die 1889 in Paris geborene Tochter des venezolanischen Konsuls von Berlin entzog sich dem gängigen Rollenmuster und war dennoch ein Geschöpf ihrer Zeit. Das Schillernde macht bis heute Teresa de la Parras Faszination aus: kaum zu greifen, widersprüchlich, lebhaft, spontan, halb Belle Époque, halb Vorkämpferin von Frauenrechten, in ihren Positionen abwechselnd aufmüpfig und konventionell, so wirkt sie in ihren Briefen und literarischen Zeugnissen. Als Abkömmling der kreolischen Aristokratie - die in Venezuela geborene, äußerst privilegierte Nachkommenschaft der spanischen Eroberer legte sie trotz ihrer gesellschaftskritischen Haltung einen gewissen Standesdünkel an den Tag. Mit den klaren Forderungen der Suffragetten hatte sie nichts am Hut. Sie verehrte Simón Bolívar und wollte dem Freiheitskämpfer einen großen Roman widmen, dann wieder war sie politisch von grenzenloser Naivität. So ließ sie sich von dem venezolanischen Diktator Juan Vicente Gómez (1857-1935) vereinnahmen, der von 1908 bis zu seinem Tod das Land beherrschte, schickte ihm freundliche Briefe und zeigte sogar Verständnis für die Niederschlagung der studentischen Unruhen 1928, zu denen sie in einem Interview Stellung nahm. Sie habe nur vermeiden wollen, daß man allzu schlecht über ihr Heimatland denke, verteidigte sie diesen Schritt später. So flatterhaft und inkohärent de la Parra in ihren Positionen war, so ungescheut brachte sie soziale Mißstände auf den Punkt. Ihr Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt ist eine knallharte Bestandsaufnahme. Teresa de la Parra erzählt die Geschichte einer Umerziehung: Die liebenswertwiderspenstige María Eugenia Alonso wird um den Preis ihrer inneren Vernichtung zu einer vorzeigbaren Ehefrau in spe verwandelt. In der ersten Buchausgabe bekam der Roman den programmatischen Ti497
tel Ifigenia, denn das Mädchen wird wegen einer sozialen Konvention geopfert und unterwirft sich wie ihr klassisches Vorbild den tragischen Zuspitzungen. Anders als bei Euripides’ Iphigenie in Aulis, bei dem Iphigenies Entscheidung für den Opfertod einen frei gewählten heroischen Akt darstellt, ist die Unterwerfung bei de la Parra eine Kapitulation mit viel geringerer Fallhöhe. Iphigenie opfert sich, um Griechenland Gerechtigkeit und Größe zu verleihen, María Eugenia gehorcht lediglich den Regeln und darf zum Ausgleich auf materielle Absicherung hoffen. Der dritte Teil des Romans, der von ihrer Einwilligung in eine gute Partie handelt, trägt die Überschrift Zum Hafen von Aulis, und der vierte, in dem die Heldin die Flucht mit einem Mann, den sie liebt, ausschlägt und an ihrem Pflichtgefühl zerbricht, heißt Iphigenie. Was für eine Provokation! Die Wirkung von de la Parras freimütiger Darstellung war ungeheuerlich. Die Autorin hatte 1922 mit der Niederschrift begonnen, und die Zeitschrift Lectura Semanal in Caracas brachte Das Tagebuch als Fortsetzungsroman. Als das erste Kapitel erschien, war die Gesamtauflage des Magazins von sechstausend Stück innerhalb eines Tages ausverkauft. Auch das Buch, das 1924 in Paris herauskam und in einer überarbeiteten Fassung 1928 neu erschien, riß man sich aus der Hand. Die französische Übersetzung war ebenso erfolgreich. Der einflußreiche Essayist Enrique Bernardo Núñez sprach von dem«schönsten, nobelsten und ehrlichsten Buch, das in unserem Land je entstanden ist». Aber es gab auch harsche Kritik: Vor allem Männer warnten lauthals vor der schädlichen Wirkung der Lektüre, deren Folgen unabsehbar seien. Als Teresa de la Parra 1924 auch noch einen mit zehntausend Francs dotierten Preis des Pariser Verlages Casa Editorial Franco-Ibero-Americana erhielt, hagelte es Proteste. Die Verfasserin sei eine«señorita frívola »und verdiene keinen Beifall, hieß es, und schon gar keinen Preis. Ein Herr, der wohlweislich unter einem erfundenen Namen figurierte und sich Dr. Ignacio Vetancourt-Aristeigueta nannte, schickte sogar einen Protestbrief an den Verlag und verlangte das Verbot des Romans. 498
Achselzukkend verwies de la Parra darauf, daß der ironische Gehalt ihres Werkes übersehen worden sei. Zudem sei auch immer ein Körnchen Eifersucht im Spiel. Unbestritten war aber schon damals, daß die Autorin mit ihrem Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt einen Grundstein für die venezolanische Literatur gelegt hatte. Außerdem packte Teresa de la Parra einige heiße Eisen an. So streng war noch nie jemand mit dem Machismo und den gesellschaftlichen Zwängen Lateinamerikas ins Gericht gegangen. Auch wenn de la Parras eigener Lebensweg der Gegenentwurf zum tragischen Niedergang ihrer Heldin María Eugenia ist, wimmelt es in ihrem Erstling von autobiographischen Anklängen. Teresa de la Parras Geliebter Gonzalo Zaldumbide, der große Stücke auf den Roman hielt und seine Freundin selbst nach dem Ende ihrer Liaison öffentlich vor Anfeindungen in Schutz nahm, erkannte darin eine typisch weibliche Haltung:«Sie ist eben eine Frau, und deshalb wird es ihr niemals gelingen, etwas zu erschaffen, was jenseits ihrer selbst liegt. Statt Geschichten zu erzählen, schreiben Frauen immer Beichten, es gibt keine Maske, die das überdecken könnte.»Ohne die misogyne Haltung des notorischen Frauenhelden Zaldumbide weiter bewerten zu wollen, hat er doch in einem recht: Es stimmt, daß beide Romane de la Parras dicht an ihrem Leben entlang erzählt sind. Wie sie es aus ihrer eigenen Kindheit kannte, läßt die Autorin ihr Alter ego zwischen den Kontinenten hin- und herpendeln. María Eugenia wächst auf einer Hazienda in Venezuela auf, siedelt nach dem Tod ihrer Mutter mit dem sorglosverschwenderischen Vater nach Europa über, wird Zögling eines katholischen Internats in Spanien und kehrt, als auch der Vater verstirbt, über Paris nach Caracas zurück. Ganz ähnlich war Teresa de la Parras Werdegang verlaufen. Zwei Jahre nach ihrer Geburt ging ihre in Venezuela alteingesessene und sehr einflußreiche Familie in die Heimat zurück und ließ sich auf Besitztümern unweit von Caracas nieder. Mit ihren zwei älteren Brüdern und drei jüngeren Schwestern verlebte Teresa eine 499
unbeschwerte Kindheit, die sie in ihrem zweiten Roman Las memorias de Mamá Blanca (1929) heraufbeschwört. Der Tod des Vaters 1899 machte dem Idyll ein Ende. Ihre Mutter entschied sich, nach Spanien, in die Gegend von Valencia, überzusiedeln; Teresa wurde in das katholische Internat Colegio del Sagrado Corazón eingeschult. Ein Schock nach dem Leben auf der Hazienda, das trotz aller Anstandsregeln einem Mädchen Freiräume bot. Jetzt galt strikte Observanz, die durch die erzieherischen Maßnahmen der traditionsbewußten Mutter und Großmutter noch verschärft wurde. Das Umfeld des Internats war streng religiös, die einzige Abwechslung lieferten die Prozessionen während der Karwoche. 1909 kehrte die Abiturientin nach Venezuela zurück:«Ich verbrachte lange Zeit auf dem Land und versuchte, so viel wie möglich zu lesen. In Caracas kam ich dann zum erstenmal mit der Welt und der Gesellschaft in Kontakt», erinnert sie sich. Bezeichnenderweise enden an diesem Punkt die Parallelen mit ihrer Protagonistin aus dem Tagebuch. Teresa de la Parra gelingt das, was sie ihrer ebenfalls knapp zwanzigjährigen Heldin verwehrt: in der Literatur einen Freiraum zu finden und sich den Konventionen zu widersetzen. Einige Jahre nach der Veröffentlichung ihres Romans schreibt sie an einen Freund:«Ich beobachtete den ständigen Konflikt zwischen der neuen Reise- und Lektürementalität der jungen, für die Moderne aufgeschlossenen Frauen und dem tatsächlichen Leben, das sie führten. In ihrem tatsächlichen Leben waren sie durch Vorurteile und Gepflogenheiten früherer Epochen gefesselt. Ohne an diese Vorurteile zu glauben, ließen sie sich doch jederzeit von ihnen beherrschen und sehnten sich seufzend nach einem von Unabhängigkeit gekennzeichneten Leben und nach neuen Überzeugungen, bis sie eine Ehe eingingen, die sie zu Verzicht und Unterwerfung nötigte und sie schließlich dank der Mutterschaft zu den alten Überzeugungen bekehrte. Dieser ständige weibliche Konflikt, an dessen Ende der Verzicht steht, inspirierte mich zu meinem ersten Roman Ifigenia.»Natürlich kann sich Teresa de la Parra ihre exzent500
rische Unabhängigkeit auch leisten: Im Unterschied zu ihrer Heldin ist sie wohlhabend. Selbst die Heiratspläne ihres Geliebten, dessen manischer Verführungsdrang ihr Überdruß beschert, schlägt sie in den Wind.«Ach, wenn du mich nur mit der Seele einer Frau hättest lieben können», schreibt sie ihm in ihrem Abschiedsbrief. Die thematische Brisanz von Teresa de la Parras Erstling leuchtet unmittelbar ein. Es geht um die fatale Fremdbestimmtheit junger Frauen, die jenseits der Ehe keine Chance haben. Die Schriftstellerin zeigt auf, wie Liebe und Heirat zu Projektionsflächen romantischer Sehnsüchte werden und wie der standesgemäße Bräutigam dann aber jede Glückserwartung und harmloseste Freude - geschminkte Lippen, ein dekolletiertes Kleid, einen Theaterbesuch - mit Füßen tritt. Über angemessenes Verhalten entscheidet der Ehemann. Die Frau ist Eigentum des Mannes, und damit hat es sich. So etwas derartig ungescheut und komisch auf den Punkt zu bringen, war neu im zeitgenössischen Lateinamerika. Man las den Roman als Anklage, kämpferische Abrechnung und bewegendes Zeugnis einer Domestizierung; kein anderes Buch hat Kritik und Publikum in Venezuela je so gespalten und wurde dermaßen kontrovers diskutiert. Aber wäre dies alles gewesen, hätte das Tagebuch einer jungen Dame, die sich langweilt in seiner Zeit seine Funktion gehabt und wäre anschließend vergessen worden. Statt dessen gilt der Roman bis heute als ein Urtext der venezolanischen Literatur und ist auch in ästhetischer Hinsicht ein Bezugspunkt lateinamerikanischer Autoren. Von der Chilenin María Luisa Bombal über die Mexikanerin Elena Poniatowska, die Brasilianerin Clarice Lispector bis zu der Argentinierin Luisa Valenzuela - Teresa de la Parras Werk hat bei allen Spuren hinterlassen. Die Beichte und das intime Zwiegespräch sind die erzählerischen Formen, derer sich Teresa de la Parra bedient. Der erste Teil des Romans besteht aus einem langen Brief, den María Eugenia an ihre Schulfreundin Cristina de Iturbe schickt, nachdem 501
sie über Paris nach Caracas zurückgekehrt ist. Der zweite, dritte und vierte Teil sind Tagebucheintragungen der Heldin mit pamphletistischen Überschriften in Pikaro-Manier, die seit Ariost den komischen Charakter von Abenteuern unterstreichen. Da es mitnichten um Eroberungszüge gegen die Saraszenen und nicht einmal um den Kampf gegen Windmühlen geht, sondern nur um die von außen auferlegte Jagd auf einen Ehemann, deutet sich schon hier die parodistische Schlagrichtung des gesamten Unterfangens an. Teresa de la Parra taucht die verknöcherte postkoloniale Welt von Caracas in ein satirisches Licht. Ihre Heldin behandelt sie mit milder Ironie, vor allem die selbstherrlichen Männer bekommen ihr Fett weg. Durch die Ich-Perspektive hat der Leser direkt teil an den Stimmungsschwankungen der Achtzehnjährigen. Zuerst herrscht ein äußerst witziger, exaltierter Backfisch-Ton vor: Die sich an sich selbst berauschende María Eugenia berichtet ihrer Freundin minutiös von den Monaten in Paris, wo sie, befreit vom strengen Regiment des Internats, zum erstenmal die Freuden des mondänen Lebens genießt. Sie verpraßt das Geld, das ihr der Vater hinterlassen hat, kauft Unmengen von Kleidern, schneidet sich die Haare ab und experimentiert mit Lippenstiften von Guerlain. Nachdem sie jahrelang zu strengem Scheitel, gesenktem Haupt und langem Rocksaum angehalten wurde, ist das ein Befreiungsschlag. Was für eine wunderbare Figur sie hat, wie hinreißend ihr die neuen Gewänder stehen, wie ihr die Männer zu Füßen liegen! Stolz genießt María Eugenia sich selbst: Sie hat ihre innere«Goldmine»entdeckt, wie sie Cristina vorschwärmt, nämlich ihre eigene Person. Subtil nimmt Teresa de la Parra den harmlosen Narzißmus ihrer Heldin aufs Korn. Gleich zu Beginn gibt María Eugenia den Auslöser für den langen Brief preis: Sie langweilt sich in Caracas! Das«häßliche Monster»der Langeweile hockt sich nachts auf ihr Bett und packt«mit eiskalten Pranken»ihren Kopf. Zurückgekehrt in den Haushalt ihrer Großmutter, wo sie unter Aufsicht der betagten Dame und der altjüngferlichen Tante Clara ein eintöniges Dasein fristet, werden die 502
Erinnerungen an Paris und die Schiffspassage nach Venezuela zum Fluchtraum. Teresa de la Parra deutet das Madame-BovarySyndrom der Langeweile auf bezeichnende Weise um. Zwar empfindet María Eugenia ähnlich wie Madame Bovary den Provinzalltag zwischen kompliziertem Backwerk und Hohlsaumstickereien als Qual, reagiert aber mit einer Feier der eigenen Person. Anders als Flauberts Heldin hat María Eugenia außerdem die Kraft zur Sublimation. Sie schreibt. Sie mißt ihr Umfeld mit Sprache aus und behauptet sich auf diese Weise gegen den Anpassungsdruck. Das scharf gezeichnete Figurenensemble - bestehend aus dem opportunistischen Onkel Eduardo, der alle über den Tisch zieht, seiner intriganten, mißgünstigen Gattin María Antonia, dem liebenswert-liederlichen Onkel Pancho mit seiner Neigung zum Brandy, der zärtlichen, aber allzu tugendhaften Großmutter, der blaustrümpfigen Tante Clara und der lebensklugen schwarzen Wäscherin Gregoria - ergänzt Teresa de la Parra allmählich durch Personen, die außerhalb des familiären Umfeldes stehen. María Eugenias Autonomiebestreben spiegelt sich in der Inbesitznahme verschiedener Wirklichkeitssphären. Zuerst gestaltet sie ihr mit Fenstergittern versehenes Zimmer im Haus der Großmutter nach ihrem Geschmack um, dann unternimmt sie einen Ausflug mit Onkel Pancho in das Armenviertel von Caracas und findet schließlich, vermittelt durch ihren Onkel, im Haus der betörenden Mercedes Galindo Zuflucht. Der Salon der eleganten Freundin wird im zweiten Teil des Romans zum sinnstiftenden Element. Als sich herausstellt, daß María Eugenia arm ist, weil der gewiefte Onkel Eduardo das Erbe ihres Vaters durchgebracht hat, beklagt sie verzweifelt ihre Abhängigkeit: Sie müsse«zur vollkommenen Null werden, nur um irgendeinen Mann durch meine Nichtigkeit zu betören, damit er sich herabließ, mich, die Null, durch seine reine Gegenwart, indem er sich wie eine Zahl an meine Seite stellte, zu einer runden, ansehnlichen Summe aufzuwerten und mir so überhaupt erst eine Position in der Gesellschaft 503
und der Welt zu verschaffen.»Onkel Pancho weist sie auf ihr Kapital hin: ihre Schönheit. Hier ist Teresa de la Parra ganz konventionell. Der einzige Ausweg scheint auch nach Onkel Panchos Einschätzung eine Eheschließung zu sein, aber immerhin mit einem Kandidaten ihrer Wahl, der sich schon bald findet. Ein junger Mann mit liberalen Ideen, der den Namen des Erzengels Gabriel trägt, ist der Auserwählte. Doch die Sanktion folgt auf dem Fuße: Die Großmutter will den unguten Einfluß der älteren Freundin schmälern und der sich andeutenden Romanze ein Ende setzen und transportiert María Eugenia auf die Hazienda der Familie ab. Noch trägt de la Parras Heldin die Repressionen mit Fassung. Wie zu Beginn des Romans herrscht ein ungestümer Tonfall vor. María Eugenia ist weiterhin der Wildfang mit den europäischen Flausen im Kopf und vertreibt sich die Zeit mit Reitausflügen. Erst im vierten Teil nimmt das Ganze eine tragische Wendung. Der Roman vollzieht die Bewegung einer zunehmenden Selbstversenkung nach, die schließlich sogar in eine Art Auflösung mündet. Ist María Eugenia im ersten Drittel bereits durch die Form des Briefes noch nach außen gerichtet und auf eine Freundin bezogen, tritt sie anschließend, auch enttäuscht von der nichtssagenden Reaktion Cristinas, mit Hilfe des Tagebuchs in ein Gespräch mit sich selbst. Die Introspektion nimmt zu. Aber in den Tagebuch-Kapiteln des zweiten Teils läßt Teresa de la Parra ihre Ich-Erzählerin die Ereignisse weiterhin von außen betrachten und mit Dialogen bestücken María Eugenia besitzt also immer noch die Fähigkeit, sich als von der Familie getrenntes Wesen wahrzunehmen. Im vierten Teil schließlich, den sie nach zwei Jahren Umerziehung verfaßt, deutet sich eine Veränderung an. Jetzt hat María Eugenia die Ziele der Großmutter verinnerlicht und übt sich in Autosuggestion. Mit einem ähnlich eloquenten Wortschwall, mit dem sie zuvor ihre Unabhängigkeit beschworen hatte, überzeugt sie sich von der Attraktivität eines Ehekandidaten nach dem Geschmack ihrer Großmutter. Der langweilige, übergewichtige und stockkonserva504
tive Doktor Leal hat ein Auge auf sie geworfen, und María Eugenia willigt in das Verlöbnis ein. Nur ein Terrain ist ihr noch geblieben: ihre Garderobe. Jetzt gibt Teresa de la Parra dem Narzißmus ihrer Heldin eine andere Schlagrichtung. María Eugenias pausenlose Beschäftigung mit dem geeigneten Taftkleid für den abendlichen Besuch ihres Bräutigams ließe sich als Reaktion auf die von außen auferlegte Beherrschung ihrer inneren Welt deuten. Doch selbst diese letzte Freiheit - das Ausstaffieren ihres Körpers - wird ihr genommen: Der unappetitlich feiste, schnurrbärtige Leal hält nichts von Dekolletés und Schminke, das gehöre sich nicht für eine verheiratete Frau. Wieder ist es eine Kleiderszene, in der Teresa de la Parra die Selbstentfremdung ihrer Protagonistin metaphorisch verdichtet. Bezeichnenderweise kann María Eugenia ihre extra aus Paris bestellte Wäscheausstattung in feinster Seide, die sogar die vertrocknete Tante Clara zu Begeisterungsstürmen hinreißt, nicht an ihrem eigenen Körper ertragen. Nur auf ihr Bett ausgebreitet, vermag sie die Wäsche schön zu finden. Daß zunehmend die äußere Welt mit ihren Zwangssystemen über die Ich-Erzählerin verfügt, schlägt sich auch auf die Tagebucheintragungen nieder. Die Grenzen zwischen außen und innen verwischen. María Eugenia schafft es gerade noch, die Gegenwart festzuhalten, analytisch durchdringen kann sie sie nicht mehr. Sie verstrickt sich in ein Netz aus Erwartungen, Ansprüchen und Sehnsüchten. Die Apotheose beginnt mit der Erkrankung Onkel Panchos, ihres einzigen Verbündeten innerhalb der Familie, der bis zum Schluß nicht müde wird, sie vor der Eheschließung mit Leal zu warnen. Ausgerechnet am Totenbett des Onkels begegnet sie Gabriel wieder, der, in einer Zweckehe gefangen, ihr eine Liebeserklärung macht und ihr mit Anklängen an die romantischen Liebesgeschichten der Weltliteratur den Vorschlag unterbreitet, gemeinsam per Schiff nach Nordamerika zu fliehen. María Eugenia gerät in einen unlösbaren Konflikt zwischen ihrer festgelegten sozialen Rolle und ihren Wünschen. Ihr Schreibstil wird hektisch, 505
Auslassungspunkte deuten den Zerfall auf syntaktischer Ebene an, die inneren Nöte schlagen sich in der immer eiligeren Sprache nieder. Der literarische Bezugsrahmen ist jetzt das biblische Lied der Lieder. Im letzten Kapitel des vierten Teils kommt ihr der Bezug auf die äußere Welt dann vollständig abhanden: María Eugenia steigert sich in ein mystisches Sprechen hinein. Am Schluß steht ein vollständiger Selbstverlust. Die psychologische Zerrissenheit der Heldin steckt auch in den Dingen, die María Eugenia nicht ausspricht oder über die sie wortreich hinweggeht. Diesen Subtext sah Teresa de la Parra selbst als Fluchtpunkt ihres Unterfangens an. 1926 schreibt die Schriftstellerin an einen Freund:«Das einzige, was ich anIfigenia für gut geschrieben halte, ist das Nicht-Geschriebene, das, was ich ohne Worte aufgezeichnet habe, auf daß es der wohlwollende Leser flüsternd und der wohlwollende Kritiker laut lesen möge.» Obwohl Teresa de la Parra auf formaler Ebene nichts Ungewöhnliches wagt und fest in der erzählerischen Tradition des französischen 19. Jahrhunderts verankert ist - auch wenn die Stimme der bedeutendsten Barockdichterin des kolonialen Amerikas, der mexikanischen Nonne Sor Juana de la Cruz, als Basso continuo mitschwingt -, wird sie zu einer zentralen Figur der literarischen Entwicklung Venezuelas. Daß ihr Einfluß bis heute so ungebrochen ist, hängt auch mit ihren moderaten künstlerischen Positionen zusammen. Sie importiert das aus Europa, was ästhetisch für Lateinamerika verkraftbar war. Mit den bilderstürmerischen Nachahmungen aktueller Strömungen konnte sie gar nichts anfangen. Im Vorwort zu ihrem zweiten Roman Las memorias de Mamá Blanca nimmt sie ironisch auf die Moden Bezug:«In unseren Tagen pflegen wachsame Geister Werke, die einen hermetischen Glanz verströmen, im Schatten zu produzieren, sie geben ihnen verstörende Formen und kehren der Natürlichkeit den Rücken. Damit sich ihr Sinn erschließt, bedarf es erheblichen 506
zeitlichen Aufwands, denn man muß sieben Türen mit sieben goldenen Schlüsseln öffnen. Und wenn es einem gelingt, bis in den letzten Winkel vorzudringen, dann betrachtet man erschöpft ein verschleiertes Fragezeichen, das über einem Abgrund hängt. Was mich betrifft, und ich sage dies mit der süßen Befriedigung einer erfüllten Pflicht, so habe ich mich kubistischen Ausstellungen und dadaistischen Anthologien immer mit einer in Demut gehüllten und nach Glauben dürstenden Seele genähert. Und wie bei spiritistischen Sitzungen habe ich um mich herum nie etwas anderes gesehen oder gehört als Dunkelheit und Stille.» Es paßt zu Teresa de la Parra, daß ihr Leben in Europa zu Ende ging. Als sie 1931 nach ihren ausgedehnten Reisen über den lateinamerikanischen Kontinent mit neuen Plänen für einen Roman über Simón Bolívar wieder in Frankreich eintrifft, werden erste Symptome von Tuberkulose festgestellt. Begleitet von ihrer kubanischen Freundin, der Anthropologin Lydia Cabrera, hält sie sich in verschiedenen Sanatorien auf. In ihrer Eitelkeit bleibt sie bis zum Schluß ihrer Heldin María Eugenia verwandt: Als ihr ehemaliger Geliebter Gonzalo Zaldumbide, krisengeschüttelt und von Schuldgefühlen geplagt, weil er eine andere junge Frau in den Selbstmord getrieben hatte, noch einmal um ein Wiedersehen bittet, lehnt Teresa de la Parra ab. Sie sei zu dick geworden; ihr Freund solle sie so in Erinnerung behalten, wie er sie kannte. «Ich fühle mich wie ein Buch, das noch nicht gebunden ist und dessen Seiten völlig durcheinandergeraten sind», schreibt die sechsundvierzigjährige Teresa de la Parra in einem Brief einige Monate vor ihrem Tod am 23. April 1936 in Madrid. Bis zum Schluß bleibt sie ein flatterhaftes Wesen, hin- und hergerissen zwischen Lebensmodellen, ein bißchen Fru-Frú, ein bißchen Kämpferin, ein bißchen Dame von Welt, ein bißchen das ungestüme Mädchen.
Maike Albath 507
Titel der spanischen Ausgabe: «Ifigenia. Diario de una señorita que escribió porque se fastidiaba»(1928)
Copyright © 2008 by Manesse Verlag, Zürich in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Diese Buchausgabe der Manesse Bibliothek der Weltliteratur wurde aus der Berthold Bembo gesetzt und in Fadenheftung gebunden. Das FSC-zertifizierte Dünndruckpapier EOS Titan liefert Salzer, St. Pölten. Alle verwendeten Materialien entsprechen alterungsbeständiger Qualität, die Papiere sind chlor- und säurefrei. eISBN : 978-3-641-03722-0 www.manesse.ch www.randomhouse.de
508