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Buch Wer sind wir, wenn wir uns nicht ins Dasein denken? Ein Lehrer, dessen Sein und Wesen von wacher Bewusstheit erfüllt ist, entzündet ein Feuer in den Herzen seiner Schüler und lenkt ihr Bewusstsein in die Richtung der Selbstverwirklichung. Adyashanti weist mit seinem Buch den Weg dorthin und stellt das nötige Rüstzeug bereit. Er begleitet uns von ersten flüchtigen spirituellen Erfahrungen bis hin zu den umwälzendsten Tiefen der Erkenntnis. Seine Lehren über Illusion, »spirituelle Abhängigkeit«, Mitgefühl, Loslassen, ewiges Jetzt und anderes mehr spiegeln die aus der tiefsten inneren Stille aufsteigende Wahrheit wider und finden ihren Widerhall in unseren Herzen, weil sie zum Ausdruck bringen, was wir wirklich sind. Sie sind Wahrheit, die zu Wahrheit spricht, Ursprung, der sein Geheimnis dem Ursprung offenbart. Durch die Resonanz, die sie bei uns finden, brechen sie unsere gewohnten mentalen und emotionalen Reaktionsmuster auf und tragen dazu bei, uns aus unserer Ego-Trance zu wecken, indem sie uns einen flüchtigen Einblick in die tiefere Wirklichkeit unseres Lebens gewähren. Solche Einblicke können unsere Welt buchstäblich auf den Kopf stellen, uns aufrütteln und von den Verblendungen unseres Geistes befreien. Indem wir uns öffnen, erfahren wir eine ganz neue Bewusstheit, Lebendigkeit und Freiheit.
Autor Adyashanti wurde unter dem Namen Stephen Gray 1962 in Cupertino/Kalifornien geboren. Im Alter von 19 Jahren erwachte sein Verlangen nach der universalen Wahrheit. Er begann Zen-Meditation, seine Lehrer waren Arvis Justi, die Schülerin von Taizan Maezumi Roshi, und Jakusho Kwong Roshi, der Schüler von Suzuki Roshi. 15 Jahre intensiver Meditationspraxis brachten ihn, wie er sagt, nahezu zur Verzweiflung, ehe er erwachte. 1996 lud ihn seine Lehrerin Arvis Justi ein, selbst den Dharma zu lehren. Nach wenigen Jahren wurden aus seinen wöchentlichen »Dharma talks« Großveranstaltungen mit Hunderten von Teilnehmern. Mit seiner authentischen und direkten Art, ohne Zen-Jargon zu lehren, hat er inzwischen selbst viele Schüler beim Erwachen begleitet.
Adyashanti Tanzende Leere Erleuchtung für Herz, Bauch und Kopf
Aus dem Englischen von Erika Ifang
GOLDMANN ARKANA
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Emptiness Dancing« bei Sounds True, Inc., Boulder, Colorado, USA.
FSC Mix
Produittgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wildem und anderen kontrollierten Herltilnften Zert.Hr. SGS-COC-1940 www.fsc.org
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen.
1. Auflage Deutsche Erstausgabe Juli 2007 © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH © 2004, 2006 Adyashanti Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Getty-Images/JamesDarell Redaktion: Gerhard Juckoff WL • Herstellung: sc Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-442-21792-2 www.arkana-verlag.de
In liebevoller Zuneigung meinen Eltern, Larry und Carol Gray, gewidmet. Danke, dass ihr mich das Lachen gelehrt habt.
Inhalt
Einleitung
9
Vorwort 1 2 3 4 5 6
Erwachen Satsang Offenheit Unschuld Harmonie Freiheit
7 Das strahlende Herz 8 Stille 9 Bewusstsein
21 34 42 51 59 67 74 83 93
10 Tiefe
112
11 Ego
122
12 Liebe
134
13 Spirituelle Sucht
142
14 Illusion
157
15 Kontrolle
169
16 Loslassen
183
17 Mitgefühl
189
18 Das Feuer der Wahrheit
202
8 Tanzende Leere
19 20 21 22 23
Erleuchtung Die Folgen Die Dharma-Beziehung Ewiges Jetzt Treue
212 227 236 247 257
Interview mit Adyashanti (Tami Simon)
264
Einleitung
Die Liebe fließt ohne Plan. Sie fließt einfach, weil das ihr Wesen ist - zu fließen. Diese Worte sind charakteristisch dafür, wie der spirituelle Lehrer Adyashanti während der wöchentlichen Zusammenkünfte, auf Wochenend-Intensivkursen und stillen Retreats, wenn er über das Wesen des spirituellen Erwachens spricht, seinen Schülern begegnet. Das vorliegende Buch enthält eine Sammlung der bemerkenswertesten Vorträge, die ausgewählt wurden, weil sie wichtige Themen aufgreifen, die immer wieder von den Schülern angesprochen werden. »Bei dem, was ich hier mache und was euch hierher bringt, geht es im Kern um die unmittelbare Erfahrung dessen, wer ihr seid«, sagt Adyashanti. »Wie könnt ihr die Erleuchtung erfahren, wenn ihr nicht einmal wisst, wer ihr seid?« Durch seine einzigartige Übermittlung der Wahrheit und Freiheit gibt er den Schülern Fingerzeige, die zu dieser Einsicht führen können, zur Erkenntnis des eigenen wahren Wesens.
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Über den Autor Adyashanti wurde 1962 in Cupertino in Kalifornien geboren, einem kleinen Ort in der Bucht von San Francisco, und erhielt den Namen Stephen Gray. Wie er selbst erzählt, verbrachte er eine glückliche Kindheit im Kreis seiner bunten, großen Familie, zu der zwei Schwestern, vier Großeltern und noch verschiedene andere Verwandte gehörten. Einer der beiden Großväter zelebrierte gern Segenstänze aus der Tradition der amerikanischen Indianer für ihn und seine Vettern, wenn sie einmal zu Besuch kamen. Als Teenager und junger Erwachsener nahm er mit Wonne an Fahrradrennen teil. Mit 19 Jahren stieß er in einem Buch auf das Wort »Erleuchtung«, und von da an erfüllte ihn ein brennendes Verlangen nach der Erkenntnis der höchsten Wahrheit. Er begann sein Training unter der Anleitung zweier Lehrer: Arvis Justi, einer Schülerin von Taizan Maezumi Roshi, und Jakusho Kwong Roshi, eines Schülers von Suzuki Roshi. Fast 15 Jahre lang übte Adyashanti sich intensiv in der Zen-Meditation, und er war, wie er selbst sagt, der Verzweiflung nahe, als er endlich in mehreren tiefen Erfahrungen zu seinem wahren Wesen erwachte, in dem es kein Anhaften an einer persönlichen Identität mehr gibt. 1996 lud ihn seine Lehrerin Arvis Justi ein, den Dharma zu lehren. Was mit Zusammenkünften im kleinsten Kreis begann, wuchs innerhalb weniger Jahre zu wöchentlichen Veranstaltungen mit Dharma-Vorträgen vor Hunderten von Schülern an. Dharma bezeichnet im Buddhismus
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die höchste Wahrheit - die wahre spirituelle Bestimmung aller Lebewesen und das wahre Wesen aller physischen und geistigen Erscheinungen. Dharma-Vorträge sind die Lehren eines Menschen, der diese Wahrheit erkannt hat, der in dieser Wahrheit lebt und dessen Erkenntnis durch einen Lehrer aus einer bis auf Buddha zurückgehenden Linie bestätigt wurde. Adya (wie er von seinen Schülern genannt wird) mit seiner schlanken Gestalt und dem geschorenen Kopf strahlt Herzensgüte aus und hat eine ungeheure Begabung, Verbundenheit und Klarheit zu verbreiten. Nach Ansicht seiner Schüler kommt es oft vor, dass der ruhige Blick seiner fast durchsichtig hellblauen Augen ihren Verstand zum Stillstand bringt und ihnen mitten ins Herz dringt. Sein Stil ist direkt und herzlich, er kommt ohne Zen-Jargon aus, gibt jedoch vielfältige Hinweise auf die universelle Wahrheit. Über die Jahre waren seine Lehren und die Art der Übermittlung in seinen Satsang-Sesshins und -Retreats für viele seiner Schüler eine Offenbarung, die ihnen zum Erwachen verhalf.
Ein außergewöhnlicher Lehrer Adyas Stil des Dharma-Vortrags (auch Satsang genannt) ist mit dem der ersten Chan- oder Zenmeister Chinas sowie den Lehrern des (nichtdualistischen) Advaita-Vedanta in Indien zu vergleichen. Er steht dem verstorbenen Advaita-Weisen Nisargadatta Maharaj und anderen erleuchteten Lehrern sowohl östlicher als auch westlicher
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Tanzende Leere
Traditionen sehr nahe. Zwar setzen sich die Retreats, die er leitet, aus Meditation, Dharma-Vorträgen und Gesprächen mit Schülern zusammen, aber dennoch geht es bei der Hinführung zur Erleuchtung nicht so sehr um die Entwicklung einer spirituellen Praxis, sondern eher um die Aufhebung und Auflösung der persönlichen Identität. Auch ich habe, wie viele seiner Schüler, in Adyashantis Gegenwart ein großes Erwachen erlebt, das mich davon überzeugte, dass er mein Lehrer ist, obwohl ich mich schon Jahre vor unserer Begegnung von der Vorstellung, einen Lehrer zu brauchen, und der Suche nach einem Lehrer verabschiedet hatte. Ich erfuhr, wie ein Lehrer oder Führer dem verwirrten Geist einen Ausweg zeigen und das Herz unmittelbar der Liebe und strahlenden Leere öffnen kann, die allem, was existiert, zugrunde liegt. Das ist eine außerordentliche, tief greifende, unaussprechliche Erfahrung: Sie löscht jedes weitere Interesse an der spirituellen Suche aus und verbindet diejenigen, die sie erlebt haben, mit etwas in ihrem Innern, das äußerst einfach, still und offen ist. Ich bin ein ernsthafter Schüler östlicher spiritueller Lehren und selbst Lehrer und Therapeut für andere auf dem Weg gewesen, und doch hatte ich nie einen Eindruck gewonnen von der außergewöhnlichen Macht einer Lehrer-Schüler-Beziehung, bis ich auf diesen Lehrer stieß, den Lehrer, der etwas in mir zum Klingen brachte. Ich bin unendlich dankbar für diese glückhafte Begegnung. Bei Adya vereinen sich unbegrenzte Möglichkeiten mit der Normalität und Schlichtheit einer spirituellen Le-
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bensführung. Nach meinem Empfinden lebt er aus der Fülle der Leere und Freiheit heraus, ein Abbild der dynamischen Beziehung von Ursprung und Spontaneität, Herz und Humor, Freude an der Form und den formlosen Aspekten des Daseins.
Die Lehren in diesem Buch Die in diesem Buch zusammengetragenen Lehren Adyashantis sind die Quintessenz aus Hunderten von DharmaVorträgen, die er zwischen 1996 und 2002 auf SatsangVersammlungen, Wochenend-Intensivkursen und Retreats gehalten hat. Durch diese Veröffentlichung werden sie allgemein zugänglich, sodass die Fingerzeige, die Liebe und die Erkenntnis, die er übermittelt, nicht nur seinen Schülern eine stete Erinnerung sind, sondern darüber hinaus auch viele Menschen erreichen, die nicht persönlich mit ihm in Kontakt treten können. Ausgewählt wurden diese Texte, weil sie auf die Grundfragen und Themen eingehen, die sich ergeben, wenn wir das Wesen des Erwachens, der Befreiung und der Verkörperung mit einem erleuchteten Lehrer erforschen. Darüber hinaus beschreiben sie einige der unmittelbaren Erlebnisse Adyashantis beim Erwachen und zeigen die Vielfalt von Erfahrungen, die sich dem Selbstverwirklichten eröffnen: Erfahrungen von Unschuld, Offenheit, Liebe, Vergänglichkeit und Harmonie, des Friedens, der Tiefe und der Freiheit. Seine Worte, die wunderbar die aus der tiefsten inneren Stille aufsteigende Wahrheit widerspie-
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geln, finden ihren Widerhall in unseren Herzen, weil sie zum Ausdruck bringen, was wir wirklich sind. Sie sind Wahrheit, die zu Wahrheit spricht, Ursprung, der sein Geheimnis dem Ursprung offenbart. Durch die Resonanz, die sie bei uns finden, brechen sie unsere gewohnten mentalen und emotionalen Reaktionsmuster auf und tragen dazu bei, uns aus unserer Ego-Trance zu wecken, indem sie uns einen flüchtigen Einblick in die tiefere Wirklichkeit unseres Lebens gewähren. Solche Einblicke können unsere Welt buchstäblich auf den Kopf stellen, uns aufrütteln und von den Verblendungen unseres Geistes befreien. Indem wir uns öffnen, erfahren wir eine ganz neue Bewusstheit, Lebendigkeit und Freiheit. Diese Frische kommt im Leben Adyashantis und vieler seiner Schüler sichtbar zum Ausdruck. Keiner von uns kann den Lauf der Dinge beeinflussen, wie sehr er sich auch darum bemüht. So bringt das weltliche Leben sowohl Schmerz als auch Überraschungen mit sich. Im spirituellen Leben kann dies jedoch zum Segen für uns werden. Wenn wir in der Lage sind, in jedem Augenblick im Nichtwissen zu ruhen, in dieser tiefsten Wahrheit unseres Wesens, lassen wir zu, dass das Spontane in uns entsteht und uns erweckt. Adya rät seinen Schülern immer wieder, nicht an irgendwelchen Vorstellungen festzuhalten, nichts von dem zu glauben, was er ihnen sagt, und sich an keine Erfahrung zu klammern. Spirituelle Lehren können dem Geist Gutes tun und ihn zu intellektuellen Erkenntnissen führen, aber wenn Worte und Sein eines wahren Lehrers von wacher Bewusstheit erfüllt sind, wird ein Feuer in den Herzen der
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Schüler entzündet und ihr Bewusstsein in die Richtung der Selbstverwirklichung gelenkt. Letztlich müssen wir alle uns nach innen kehren und in uns selber die Verbindung zur Wahrheit finden. Ein Lehrer kann nur den Weg weisen, das nötige Rüstzeug für den Weg bereitstellen und durch seine Gegenwart die Wendung nach innen anregen. Aber am Ende stehen wir mit leeren Händen da - ohne Konzepte und Vorgaben. Wir selbst sind der Weg, und der Weg bewegt sich, hingebungsvoll darauf konzentriert, sich zu offenbaren und uns zu unserem wahren Wesen zu erwecken. Wenn wir in Stille sitzen, brauchen wir nichts zu tun, außer zuzulassen, dass sich die natürliche wache Bewusstheit einstellt. Ein authentischer Lehrer ist jemand, der das aus eigener Erfahrung weiß. Diese Wahrheit zu leben bereitet dem Leiden ein Ende.
Ein Gemeinschaftswerk Der Buddha (alles, was existiert), der Dharma (die Wahrheit oder Lehre) und der Sangha (die spirituelle Gemeinschaft) werden in der buddhistischen Tradition die Dreifache Zuflucht genannt und sollen den Transformationsprozess der spirituellen Verwirklichung unterstützen. Ein Lehrer kann die lebendige Gegenwart der Wahrheit verkörpern und lehren, aber er kann weder Gemeinschaft herstellen noch im Alleingang Dutzende von Versammlungen und Retreats im Jahr für seine Schüler organisieren. Während seines Wirkens ist um Adyashanti allmählich
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ein Sangha gewachsen, und viele haben darin das Potenzial zur eigenen Befreiung entdeckt. Adya vergleicht seine Beziehung zu diesem Sangha gern mit der Fahrt im Dienstwagen eines Zuges, von dem er nicht weiß, wohin er fährt, weil er weder bestimmte Absichten noch feste Ziele verfolgt. In wacher Bewusstheit reagiert er einfach auf das, was innerhalb der Gemeinschaft geschieht. Viele engagierte Menschen haben unzählige Stunden daran gewendet, die für dieses Buch ausgewählten Vorträge aufzunehmen und zu transkribieren, Tausende von Newslettern und Büchern zu produzieren und zu verschicken, Veranstaltungen zu organisieren und zu moderieren, Telefongespräche und E-Mails zu beantworten und die unendliche Vielzahl von Aufgaben zu erfüllen, die den Hintergrund unseres Open Gate Sangha als gemeinnütziger Verein bilden. Dieses Buch ist all den Menschen zu verdanken, die sich hingebungsvoll dafür engagiert haben, und hätte ohne sie nicht entstehen können. Besonders dankbar bin ich den vielen, die die Vorträge mitgeschnitten und transkribiert haben, und denen, die das Material durchgesehen und bearbeitet haben. Danken möchte ich ferner all den erstaunlichen Menschen, die als feste Mitarbeiter zum Open Gate Sangha gehören, sowie den Hunderten von Freiwilligen, die ihnen helfen, und vor allem Adyas Frau Annie. Sie alle haben daran mitgewirkt, die Gemeinschaft auf eine solide, funktionierende Basis zu stellen und diese zu erhalten, sodass sich Wahrheit und Erwachen in der Welt um uns herum ausbreiten können. Ich bin aus vielerlei Gründen dank-
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bar, dass mein Leben davon berührt wurde, aber besonders glücklich bin ich darüber, dass ich dieses Buch als Dienst an der Wahrheit zusammenstellen und herausgeben durfte, und das in einer Gemeinschaft, von der ich weiß, dass sie meine Arbeit schätzen, unterstützen und weiterführen würde. Es ist unser gemeinsames Dankopfer an uns selbst und an die größere Gemeinschaft derer in aller Welt, die in Geist und Herz erwacht sind. Es ist unsere tanzende Leere in der unermesslichen Weite des Ursprungs, der zu sich selbst erwachen will. Bonnie Greenwell, Herausgeber
Vorwort
Ich begrüße dich. Ja, dich, der du jetzt gerade diese Worte liest. Dieses Buch ist für dich und über dich. Hat dich nie jemand so angesprochen, wie du wirklich bist? Hast du dich je so angesprochen, wie du wirklich bist? Oder hast du dich von deiner äußeren Erscheinung narren lassen, von deinem Namen, deinem Geschlecht, deiner Familienzugehörigkeit, deiner Persönlichkeit, deiner Vergangen-heit und deinen heimlichen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft oder gar ein besseres Ich? Ich versichere dir, dass keine dieser Trivialitäten beschreibt oder offenbart, wer du wirklich bist. Auch nicht annähernd. Und jetzt sag die Wahrheit. Hast du nicht immer den Verdacht gehabt, dass mehr - oder weniger - an dir ist als das Bild, das dir der Spiegel zurückwirft? Hast du dich nicht in stillen Momenten insgeheim danach gesehnt, einmal hinter den Schleier der äußeren Erscheinungen zu blicken, sowohl bei dir selbst als auch bei anderen? Etwas an dir ist heller als die Sonne und geheimnisvoller als der Nachthimmel. Ähnliches hast du sicher insgeheim erwartet, aber bist du je vollkommen in deine geheimnisvolle Essenz eingetaucht? Ich begrüße deine geheimnisvolle Essenz. Dieses Buch
Vorwort 19
ist für dich und über dich. Es geht um dein Erwachen und deine Erinnerung daran, wer du wirklich bist. Nur Mut, schlag das Buch auf, in irgendeinem Kapitel, das dein Interesse weckt. Jedes Kapitel hat für sich allein Bestand und vertieft doch auch die vorherigen Kapitel. Ich vertraue darauf, dass dich die Weisheit deiner Intuition zu genau der Seite oder dem Kapitel führt, wo dir vielleicht Augen und Herz für das große Wunder deines unendlichen Selbst aufgehen. Das Buch fängt mit einem Kapitel über das spirituelle Erwachen an und endet mit einem Kapitel über die Treue zur ewigen Wahrheit. Falls du noch mehr lesen möchtest: Ein weiteres Buch über das Leben nach dem Erwachen ist in Arbeit. Doch nun Schluss mit Vorwort und Verweisen auf zukünftige Dinge. Jetzt ist die Zeit, und mein Willkommensgruß an dich in Gestalt dieses Buches hat dich vollkommen erreicht. Wenn es dir also Spaß macht, lies weiter, aber sei versichert, dass das spirituelle Erwachen absolut nicht das ist, was du dir darunter vorgestellt hast.
1 Erwachen
Der Gegenstand meiner Lehre ist die Erleuchtung - das Erwachen aus dem Traumzustand der Getrenntheit zur Wirklichkeit des Einsseins. Kurz: Meine Lehre konzentriert sich auf die Verwirklichung dessen, wer wir sind. Ihr werdet noch andere Elemente in meiner Lehre finden, die einfach in Reaktion auf die besonderen Bedürfnisse von Leuten in einem bestimmten Augenblick entstehen, aber grundsätzlich bin ich nur daran interessiert, dass ihr erwacht. Erleuchtung bedeutet, zu dem zu erwachen, was wir wirklich sind, und es dann zu sein. Erkennen und sein, erkennen und sein. Die Erkenntnis allein genügt nicht. Die Vollendung der Selbstverwirklichung liegt im Sein, das heißt im Handeln, Tun und Ausdrücken dessen, was erkannt wurde. Das ist etwas, das sehr tief geht, eine völlig neue Lebensweise - wirklich in der Wirklichkeit zu leben, statt die vorprogrammierten Ideen, Überzeugungen und Impulse des träumenden Geistes auszuleben. In Wahrheit seid ihr schon das, was ihr sucht. Ihr sucht nach Gott mit Gottes eigenen Augen. Diese Wahrheit ist so einfach und so schockierend, so radikal und so tabu, dass sie im Wirbel der Suche leicht untergeht. Unter Um-
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ständen habt ihr das, was ich sage, schon einmal gehört und es vielleicht sogar geglaubt, aber die Frage ist doch: Habt ihr es mit eurem ganzen Wesen verwirklicht? Lebt ihr es? Was ich sage, soll euch wachrütteln, statt euch noch süßere Träume zu bescheren. Ihr wisst selbst, wie ihr noch schöner träumen könnt. Entsprechend eurer jeweiligen mentalen und emotionalen Verfassung werde ich manchmal sanft und zart mit euch umgehen, manchmal auch weniger sanft und zart. Wahrscheinlich geht es euch nach einem Gespräch mit mir besser, aber das ist für das Erwachen eher nebensächlich. Wacht auf! Ihr seid alle lebendige Buddhas. Ihr seid die göttliche Leere, das unendliche Nichts. Das weiß ich, weil ich bin, was ihr seid, und ihr seid, was ich bin. Lasst alle Vorstellungen und Bilder in eurem Geist fahren, sie kommen und gehen und werden nicht von euch erzeugt. Warum schenkt ihr euren Einbildungen so viel Aufmerksamkeit, wenn doch die Wirklichkeit da ist, um gleich jetzt verwirklicht zu werden? Denkt nun nicht, dass das Erwachen das Ende ist. Das Erwachen markiert das Ende der Suche, das Ende des Suchenden, aber es ist zugleich der Beginn eines Lebens aus dem wahren Wesen heraus. Das ist eine völlig andere Entdeckung - Leben, das aus dem Einssein heraus gelebt wird, in dem ihr verkörpert, wer ihr seid, in dem ihr als Menschen das Einssein ausdrückt. Es ist keine Frage mehr, ob ihr das Eine werdet; ihr seid das Eine. Die Frage ist nur, ob ihr das Eine bewusst zum Ausdruck bringt. Ist das Eine zu sich selbst erwacht? Habt ihr euch daran erinnert, was
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ihr wirklich seid? Und wenn ja, lebt ihr es? Lebt ihr wirklich bewusst das Eine? In meinen Vorträgen geht es immer um das Erwachen und das nach dem Erwachen gelebte Leben, die Erwachtheit. Wie es auch scheinen mag, im Grunde spreche ich immer nur von diesen beiden Dingen. * * * Bevor ich vor vielen Jahren mein endgültiges Erwachen erlebte, war ich geradezu verrückt nach Erleuchtung. Man muss ein bisschen verrückt sein, um sich ernsthaft mit Zen zu befassen. Meine Lehrerin pflegte zu sagen: »Nur die Verrückten bleiben.« Meine Verrücktheit äußert sich zum Beispiel darin, dass ich sonntagmorgens vor der mehrstündigen Meditation mit der Gruppe meiner Lehrerin früh um 5.00 oder 5.30 Uhr aufstand und schon mal allein übte. Ich saß in einem kleinen Raum, meditierte und fror mich zu Tode. Eines Morgens, als ich dort saß, geschah zweierlei, eins nach dem anderen, und es kam mir sehr paradox vor. Als Erstes erkannte ich spontan, dass alles eins ist. Das manifestierte sich bei mir, als ich einen Vogelruf hörte, ein Zwitschern im Vorgarten, und sich irgendwo in meinem Innern die Frage erhob: »Was ist es, das diesen Laut hört?« Diese Frage hatte ich mir noch nie gestellt. Mir wurde plötzlich klar, dass ich sowohl Vogel und Klang war als auch derjenige, der den Vogel hörte, dass Hören, Klang und Vogel alle Manifestationen ein und desselben waren. Ich kann nicht sagen, was dieses Eine ist, außer dass es eins war.
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Tanzende Leere
Ich öffnete die Augen und merkte, dass das Gleiche im Raum passierte - die Wand und derjenige, der die Wand sah, waren ein und dasselbe. Das fand ich sehr merkwürdig, und dann wurde mir bewusst, dass derjenige, der dies dachte, auch wieder eine Manifestation davon war. Ich stand auf und ging im Haus umher, auf der Suche nach etwas, das nicht Teil dieses Einen war. Aber alles war ein Widerschein des Einen. Alles war das Göttliche. Ich ging langsam ins Wohnzimmer. Da verschwand mitten in einem Schritt auf einmal das Bewusstsein oder die Bewusstheit aus allem, aus allen Dingen, ob sie nun zum Körper oder zur Welt gehörten. Ein Schritt, und alles verschwand. Was erschien, war gewissermaßen ein Bild von unendlich vielen vergangenen Inkarnationen, als würde sich Kopf an Kopf reihen, so weit ich zurückschauen konnte. Und ein Bewusstsein entstand: »Mein Gott, ich habe mich in zig Leben mit unzähligen Formen identifiziert.« In dem Augenblick erkannte das Bewusstsein oder der Geist, dass er sich so sehr mit all diesen Formen identifiziert hatte, dass er wirklich bis zum derzeitigen Leben geglaubt hatte, eine bestimmte Form zu sein. Plötzlich war das Bewusstsein nicht mehr an die Form gebunden, sondern bestand unabhängig davon. Es definierte sich nicht länger über irgendeine Form, egal, ob es sich bei dieser Form um den Körper oder das Denken, ein ganzes Leben, eine einzelne Vorstellung oder eine Erinnerung handelte. Das sah ich, aber ich wollte es nicht glauben. Es war, als hätte mir gerade jemand eine Million Dollar in die Tasche gestopft und als würde ich die Scheine
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immer wieder herauszupfen, weil ich nicht glauben konnte, dass ich sie hatte. Ich konnte sie aber auch nicht ableugnen. Und obwohl ich jetzt das Wort »ich« benutze, gab es kein »Ich«, nur das Eine. Diese beiden Erfahrungen stellten sich zusammen ein, ein paar Sekunden nacheinander. Bei der ersten war ich mit allem eins, und bei der zweiten wurde ich zum Bewusstsein oder Geist, der aus allen Identifikationen voll erwachte, selbst aus dem Einssein. Als das Einssein wegfiel, war weiterhin eine tiefe Bewusstheit oder Erwachtheit da, aber mit zwei unterschiedlichen Aspekten: Ich bin alles, und ich bin absolut nichts. Das war das Erwachen, die Erkenntnis des Selbst. Als Nächstes machte ich einen Schritt, einen ganz normalen Schritt. Es war, wie wenn ein Baby seinen ersten richtigen Schritt tut, dann lächelt und sich umschaut, als wollte es sagen: »Habt ihr das gesehen?«, und man sieht ihm seine Freude an. Ich machte also einen Schritt, und es war wie: »Oho! Der erste Schritt!«, und noch einen Schritt, und noch einen, und ich ging im Kreis, denn jeder Schritt war der erste. Es war ein Wunder. Bei jedem »ersten« Schritt verschmolzen formloses Bewusstsein und Einssein einfach miteinander, sodass die wache Bewusstheit, die sich immer mit einer Form identifiziert hatte, jetzt vielmehr im Innern der Form und ungebunden war. Was sie wahrnahm, wurde nicht mehr durch irgendwelche Gedanken oder Erinnerungen an etwas, das einmal war, gefiltert, sondern bestand ausschließlich in den fünf Sinnen. Ohne Geschichte oder Erinnerung fühlte sich jeder Schritt wie der erste an.
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Dann schoss mir ein urkomischer Gedanke durch den Kopf - komisch für mich nach 13 Jahren der Zen-Übung: »Hoppla! Jetzt bin ich gerade aus dem Zen erwacht!« Wenn wir erwachen, wird uns bewusst, dass wir aus allem erwacht sind, aus allem einschließlich dessen, was uns geholfen hat, an diesen Punkt zu kommen. Als Nächstes schrieb ich meiner Frau einen Zettel. Darauf stand etwas Ähnliches wie: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Heute ist mein Geburtstag. Ich bin gerade geboren.« Ich ließ ihn für sie zurück, und als ich auf dem Weg zur Meditationsgruppe an unserem Haus vorbeifuhr, sah ich sie dort stehen und mit dem Zettel winken. Ich weiß nicht wie, aber sie wusste genau, was er zu bedeuten hatte. Meiner Lehrerin erzählte ich erst nach etwa drei Monaten von meinem Erlebnis, weil ich vorher keinen Sinn darin sah. Warum sollte irgendjemand davon erfahren? Ich hatte kein Bedürfnis danach, es zu erzählen oder mir gratulieren zu lassen. So wie es in sich und aus sich heraus war, schien es vollkommen zu genügen. Erst später erfuhr ich, dass meine Erfahrung dem entsprach, wovon meine Lehrerin die ganze Zeit geredet hatte. Mir wurde klar, dass es dieses Erwachen war, worum es in allen Unterweisungen ging. Auf sehr reale Art ist diese Erfahrung, die noch immer anhält und die heute noch genauso ist wie damals, die Grundlage all dessen, wovon ich rede. Wenn wir wirklich anfangen zu untersuchen, wer wir zu sein glauben, kommen wir der Gnade des Erkennens sehr nahe. Wir erkennen allmählich, dass wir zwar die verschiedensten Gedanken, Überzeugungen und Identitäten haben mögen, dass diese uns jedoch weder individuell
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noch kollektiv verraten, wer wir sind. Ein Rätsel zeigt sich uns: Wenn wir uns wirklich genau und sorgfältig betrachten, bemerken wir zu unserer Verblüffung, wie sehr wir uns über den Inhalt unseres Denkens, unseres Fühlens und unserer Geschichte definieren. Viele spirituelle Lehren basieren auf dem Versuch, Gedanken, Gefühle und Erinnerungen loszuwerden - den Geist zu leeren, als wäre das ein wünschenswerter oder besonders spiritueller Zustand. Aber ein leerer Geist ist nicht unbedingt erstrebenswert. Hilfreicher ist es, stattdessen die Gedanken zu durchschauen und zu erkennen, dass ein Gedanke bloß ein Gedanke ist, eine Überzeugung, eine Erinnerung. Dann können wir aufhören, Bewusstsein oder Geist an unsere Gedanken und mentalen Zustände zu binden. Als ich bei jenem ersten Schritt erkannte, dass das, was sich meiner Augen und meiner Sinne bediente, wache Bewusstheit oder reiner Geist war und nicht konditioniertes Denken oder Erinnerung, sah ich auch, dass derselbe Geist sich unterschiedslos anderer Augenpaare bediente. Egal, ob er durch andere Konditionierungen schaute, er war immer derselbe. Er sah überall sich selbst, nicht nur in den Augen, sondern auch in den Bäumen, in den Steinen und im Fußboden. Je mehr dieser Geist oder dieses Bewusstsein durch die Präsenz der Erwachtheit einen Geschmack von sich selbst bekommt, ohne in Gedanken, Vorstellungen oder Überzeugungen zu verfallen, umso mehr spiegelt sich diese Erwachtheit paradoxerweise überall wider. Je mehr wir aus Körper, Denken und Identitäten erwachen, umso deutlicher sehen wir, dass Körper und Denken im Grunde
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nur Manifestationen desselben Geistes, derselben Präsenz sind. Je klarer uns wird, dass das, was wir sind, vollkommen außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt und außerhalb von allem liegt, was geschieht, umso klarer erkennen wir, dass eben diese Präsenz die Welt ist - alles, was geschieht, und alles, was existiert. Es sind die zwei Seiten einer Medaille. Das größte Hindernis für das Erwachen ist die Überzeugung, es handle sich um etwas Seltenes. Sobald dieses Hindernis überwunden ist oder man sich zumindest sagt: »Ich weiß eigentlich gar nicht, ob meine Überzeugung, das Erwachen sei schwierig, richtig ist oder nicht«, steht einem sofort alles zur Verfügung. Da Bewusstsein alles ist, was existiert, kann es weder selten sein noch schwierig zu erlangen, es sei denn, wir bestehen darauf. Die Grundlage all dessen ist keine Theorie, sondern Erfahrung. Niemand hat mich diese Erfahrung gelehrt, und niemand kann sie dich lehren. Das Schöne am Erwachen ist, dass das Gefühl eines »Ichs«, das bisher das Leben lebte, nicht länger existiert, wenn man nicht mehr durch seine Konditionierungen bestimmt wird. Den meisten Menschen ist das Gefühl eines Ichs vertraut, das dieses Leben lebt. Aber bei entsprechender Einsicht stellt sich die Erfahrung ein, dass dieses Leben in Wahrheit von Liebe regiert und bestimmt wird und dass diese Liebe immerfort da ist, in jedem Menschen. Auf ihrem Weg durch das Persönliche hindurch zerstreut sie sich zwar, aber sie ist trotzdem da. Die Liebe gehört niemandem. Im Grunde ist jeder eine Manifestation dieser Liebe.
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Ob du dir dessen bewusst bist oder nicht, auch du hast Augenblicke in deinem Leben erlebt, in denen du das »Ich«, mit dem du dich immer identifizierst, vorübergehend vergessen hast. Das kann spontan geschehen, etwa bei einer schönen Aussicht oder in einem Moment der Selbstvergessenheit. Die meisten Leute schenken solchen Augenblicken keine besondere Beachtung. Ist der »schöne Augenblick« vergangen, kehrt der normale Identitätssinn wieder. Dabei sind solche Begebenheiten wie kleine Gucklöcher, die einen flüchtigen Blick auf die Wahrheit ermöglichen. Wenn du die Augen offen hältst, wirst du sie bemerken. Vielleicht wird dein Verstand plötzlich aufhören, sein Garn zu spinnen. Vielleicht merkst du, dass dein Gefühl der Getrenntheit, eines getrennten Ichs, auf einmal weg ist, während das, was du wirklich bist, nicht verschwindet. Frage dich in diesem Moment: »Was ist mein wirkliches Ich? Wenn sich meine Identität in Luft auflösen kann und ich trotzdem nicht verschwinde, was bin ich dann?« Oder besser: »Was bin ich, wenn ich verschwinde?« Um die Frage: »Was bin ich?« zu beantworten, wird normalerweise der Verstand aktiv. Er denkt so lange darüber nach, bis sich der Geist wieder einschaltet und sagt: »Nun hör mal - das sind doch auch nur wieder Gedanken.« Dann können Lücken der Stille im Denken entstehen, und wenn du während einer solchen Pause sehr präsent bist, hörst du auf, deine vertraute Identität auszuagieren. Sobald jedoch ein Identitätsgefühl die Lücke füllt, bist du nicht länger gegenwärtig. Niemand zu sein ist im Allgemeinen so verwirrend für den Verstand, dass er die Lücke
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so schnell wie möglich zu füllen versucht. »Wie kann ich denn niemand sein?« Einen Jemand einzufügen ist jedoch sinnlos. Wenn du wirklich wissen willst, was du bist, solltest du dir einfach die Lücke bewusst machen, die Offenheit erfahren und sie im Innern aufblühen lassen. Eine bessere Möglichkeit, herauszufinden, was du bist, gibt es nicht. Das ist der Punkt, an dem Spiritualität nicht nur real wird, sondern darüber hinaus abenteuerlich und lustig. Du fragst: »Diese Offenheit, diese Präsenz« - wie immer du es nennen möchtest -, »das bin ich?« Du merkst langsam, dass du bei etwas gelandet bist, das nicht deinem Denken, deinen Ansichten oder deinem Glauben entspringt. Und wenn du allmählich eins wirst mit dieser Erwachtheit, die frei ist von aller Identität, gibt der Verstand auf. Im Zen wird diese Bewusstheit »das Ungeschaffene« genannt; sie ist das Einzige ringsumher, was nicht vom Geist erschaffen wird. In der Bibel gibt es ein wunderbares Gleichnis, in dem es heißt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher in den Himmel gelangt. An Identitäten festzuhalten, auch wenn es die spirituellsten und heiligsten sind, ist so, als wollte man ein Kamel durch ein Nadelöhr treiben. Sie sind zu grob, zu groß, zu trügerisch und zu künstlich, um zur Wahrheit vorzudringen. Etwas jedoch gibt es, das durch das Öhr auch der allerkleinsten Nadel passt. Die Weite, das eigene Nichtsein, kann ungehindert hindurch und in den Himmel gelangen. Aber keiner von uns kann auch nur das kleinste bisschen von einer Ego-Identität mitnehmen.
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Der Himmel wird zur Erfahrung, sobald wir in das eigene Nichtsein eingetreten sind. Wir verwirklichen unsere Erwachtheit und erkennen, dass wir reiner Geist ohne Form sind. Wir erkennen, dass dieser formlose Geist die Essenz, die beseelende Gegenwart von allem ist. Damit sind wir im Himmel, denn bei jedem Schritt nehmen Geist und Essenz Besitz von unserem Körper. Das ist die wahre Bedeutung des Wiedergeborenwerdens. Wiedergeboren zu werden ist nicht nur die Erfahrung einer großen emotionalen und religiösen Umwandlung. Das kann zwar ganz schön sein, aber es ist im Grunde wie ein Kleiderwechsel. Wiedergeboren zu werden heißt letztlich nur, wieder geboren zu werden, und nicht, ein neues spirituelles Gewand zu erhalten. Genauer gesagt heißt es, ungeboren zu sein, sich bewusst zu werden, dass das ewige Nichts dieses Leben lebt, das jeder »sein Leben« nennt. Aber die Wahrheit zu erkennen und spirituell zu erwachen heißt nicht, dass das Leben dann für immer und ewig einen glücklichen Verlauf nehmen wird. Das wäre nicht der Friede, der höher ist als alle Vernunft. Solange wir das Leben genießen können, ist es leicht, im Frieden zu sein. Aber das Leben macht, was es macht, wie ein wogender Ozean. Ob sich die Wellen hoch auftürmen oder flach sind, es ist immer heilig, und da du niemand bist, kann es dich nicht verletzen. In dieser Erwachtheit liegt der Friede, der höher ist als alle Vernunft, und dein Leben muss nicht besser werden. Es kann weiter das tun, was es tut: einfach fließen. Dich kümmert es nicht.
* * *
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Schüler: Wenn wir die Egozentrik loslassen, sodass wir das Erwachen erfahren können - meinst du, dass sie sich so von uns abschält, wie wir eine Apfelsine schälen? Adyashanti: Die Häutung ist so, als hättest du nachts einen Traum, und in diesem Traum bist du bei einem Therapeuten in Behandlung; es geht dir immer besser, und du hast das Gefühl, etwas zu erreichen. Das Erwachen ist so, als säßest du auf der Couch und erzähltest deine Geschichte, und du bist immer noch ziemlich durcheinander - du bist nicht sehr weit gekommen. Dann merkst du plötzlich, dass es ein Traum ist, dass es gar nicht wirklich ist und du alles erfunden hast. Das ist Erwachen. Ein großer Unterschied. Schüler: Ich habe alles erfunden? Adyashanti: Von vorn bis hinten. Aber die Erwachtheit in dir träumt nicht. Nur der Verstand träumt. Er erzählt sich selbst Geschichten und will von dir wissen, ob du Fortschritte machst. Beim Aufwachen merkst du: »Aha, ein Traum. Mein Verstand erzeugt eine andere Realität, eine virtuelle Realität, aber die gibt es gar nicht wirklich - sie ist erdacht.« Das Denken kann innerhalb des Bewusstseins Millionen von Geschichten erzählen, und doch ändert sich die Bewusstheit dadurch kein bisschen. Das Einzige, was sich verändert, ist das körperliche Befinden. Wenn du dir eine traurige Geschichte erzählst, reagiert der Körper darauf. Und wenn du dir eine Geschichte erzählst, in der du dich selbst überhöhst, bläst sich dein Körper auf und ist zufrieden. Aber wenn du erkennst, dass alles nur Geschichten sind, kann es zu einem tiefen
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Erwachen kommen, einem Erwachen aus dem Denken, aus dem Traum. Nicht du erwachst, sondern das ewig erwachte Bewusstsein verwirklicht sich selbst. Du bist das ewig erwachte Bewusstsein.
2 Satsang Wir kommen hier zusammen, um die Wahrheit zu erkennen, die ewig ist. Am Satsang teilzunehmen heißt, mit der Wahrheit in Verbindung zu sein. Wenn wir das verstehen, können wir hier in gemeinsamer Absicht zusammenkommen. Wer zum Satsang kommt, um mit der Wahrheit in Verbindung zu sein, ist zu der Frage bereit: »Wer bin ich?« oder: »Was bin ich?«, ohne Drehbuch und ohne Rolle, ohne Geschichte, wer oder was er ist, und frei von bestimmten Vorstellungen über sein Leben. Jedem Identitätsgefühl liegt ein Drehbuch zugrunde. Darin finden sich unter anderem Rollen wie »eine erfolgreiche Person«, »eine erfolglose Person«, »eine Person, deren Beziehungen immer scheitern« oder »eine Person auf der spirituellen Suche, die schon viele spirituelle Erfahrungen gemacht hat«. Jeder hat eine bestimmte Rolle und weiß bestimmte Geschichten darüber zu erzählen. Aber die Rollen und Geschichten sind nicht das, was wir sind. Das Schöne am Satsang ist, dass er die Gelegenheit bietet, aus der eigenen Geschichte aufzuwachen. Wenn du zu erkennen beginnst, was Wahrheit ist, wird dir klar, dass Wahrheit nichts Abstraktes ist, dass sie nicht irgendetwas
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außerhalb von dir ist und nichts, was du morgen erfahren könntest. Du entdeckst, dass Wahrheit das ist, was du ohne dein Drehbuch, ohne deine Geschichte in ebendiesem Augenblick bist. Der wahre Segen dieses Beisammenseins liegt in der Möglichkeit, genau jetzt zum Anhalten gebracht zu werden, nicht erst morgen. Es wird dir nicht gelingen, irgendwann in der Zukunft zur Wahrheit deines Wesens zu erwachen. Das Erwachen ist nichts, worauf du dich vorbereiten könntest, was dir zusteht oder was du verdienst. Das Erwachen ist ein radikaler Identitätswandel. Du denkst, du bist du, dabei bist du es gar nicht. Du bist ewiges Sein. Der Zeitpunkt des Erwachens ist jetzt, Nicht morgen. Jetzt. Wenn dem kleinen Ich aufgeht, warum es hier beim Satsang ist, denkt es: »Das ist nicht der richtige Ort für mich. Ich bin hergekommen, weil ich mir einen Nutzen davon versprochen habe, aber das war wohl nichts.« Es ist eine revolutionäre Vorstellung für die meisten von uns, irgendwohin zu gehen oder irgendetwas zu tun, das keinen Nutzen bringt. Nicht dass etwas daran auszusetzen wäre, bisweilen auf den Nutzen zu achten. Aber beim Satsang sehen wir ein, dass Glück und Freiheit nicht davon abhängen, dass wir irgendeinen Vorteil erringen. Hingegen hängen Glück und Freiheit ganz und gar davon ab, in ebendiesem Augenblick die Erfahrung der völligen Strategielosigkeit zuzulassen. Auch die Strategie, alle Strategien loszulassen, gehört dazu. Hier hast du die Chance, alle Strategien, die etwas aus dir machen sollen, zu beenden. Der Segen liegt darin, dass wir hier unmittelbar erfahren können, wie das kleine Ich entwaffnet wird. Überall
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sonst wird dieses Gefühl der Entwaffnung unterdrückt oder versteckt, übergangen oder totgeschwiegen. Im Satsang jedoch können wir fragen: »Was bin ich, und wer bin ich jetzt - ohne meine Geschichte, ohne bestimmte Ansprüche an diesen Augenblick, ohne irgendeine Hoffnung an diesen Augenblick zu knüpfen, ohne mein Textbuch?« Wenn der Verstand sich dazu äußern könnte, würde er sagen: »Ich weiß es nicht«, denn ohne seine Waffen, ohne seine Rollen und sein Charakterspiel weiß er nicht mehr, wer oder was er ist. Der Schauspieler, der das alles spielt, wird »Ich« genannt. Selbst wenn wir dem Ruf des Satsang folgen und freudig dabei sind, bleibt der Schauspieler bestehen. Und auch der Verstand sagt: »Ich bin hier.« Doch wenn wir einmal schauen, was hinter diesem »Ich bin hier« steckt, ist es so, als würden wir in ein leeres Zimmer hineinrufen - sofort hallt es von den Wänden wider: »Ich bin hier«, und bei jedem Ruf tönt uns nur ein neues Echo entgegen. Wer? »Ich bin hier.« Wer? Dann beginnst du, noch mehr loszulassen und dich vom noch raffinierteren Spiel der Gedanken freizumachen, ein Schauspieler zu sein, der seine Rolle spielt. Du merkst allmählich, dass es sich wieder um eine Geschichte handelt. Wenn du wirklich genau hinschaust, hast du die wunderbare Chance, alle Waffen fahren zu lassen, denn du wirst weder einen Schauspieler noch überhaupt irgendjemanden finden. Sobald diese »Entwaffnung« stattgefunden hat, kann sich die wortlose Erfahrung einstellen. Es ist die wortlose Erfahrung des Seins, die du machen wirst. Du erkennst,
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dass es kein Drehbuch und keine Rolle, keine Pläne und Programme für diesen Augenblick gibt. Auch keinen Schauspieler. Was du bist, war eher da als deine Vorstellung von dir. Oft wird angenommen, dass sich das, was man ohne seine Rolle ist, irgendwo im Verborgenen befindet. Wenn man sich seiner Rolle entledigt hat und hinter dem Charakter namens »Ich« nach der Wahrheit seines Seins forscht, stellt sich leicht der Gedanke ein, irgendwo im Verborgenen wäre ein Jemand zu finden. Wenn das geschieht, wenn du in den Zustand der Offenheit eintrittst, denkst du möglicherweise: »Da ist niemand, aber ich forsche lieber weiter und suche nach dem Selbst, nach der Wahrheit, nach dem erleuchteten Ich.« Die Suche nach dem erleuchteten Ich ist wieder nur eine Rolle, eine Regieanweisung. Sie gehört zum Skript des spirituellen Suchers. Wenn du dieses Skript fallen lässt - wer bist du jetzt? Dass ich dich bitte, nachzuforschen, wer du bist, hat natürlich den Grund, dass du die Antwort in diesem Augenblick lebst. Nichts, was ich dir sagen könnte, kann diese Lebendigkeit, diese gelebte Antwort ersetzen. Darum heißt es immer, dass nur diejenigen, die nicht wissen, wer sie sind, erwacht sind. Alle anderen wissen, wer sie sind. Sie spielen, was auch immer in ihrem Skript steht, selbst wenn es dort heißt: »Ich bin nicht erwacht.« Erwachtsein heißt, kein Skript zu haben, zu wissen, dass ein Skript letztlich nur ein Skript und eine Geschichte nur eine Geschichte ist. Es gibt einen Zustand, in dem der Verstand sagt: »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin«, weil er das richtige
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Skript nicht finden kann. Das Erwachen ist die Erkenntnis, die einsetzt, nachdem der Verstand gesagt hat: »Ich geb's auf. Ich habe einfach keine Ahnung, wer ich bin.« Wenn du dies zu verstehen beginnst, wird dir klar, dass du nur deine Zuhörer- oder Sprecherrolle für einen Augenblick aufzugeben brauchst, um zu erkennen, dass du nicht das bist, wofür du dich gehalten hast. Zum Satsang zu kommen ist eine absolut revolutionäre Sache für dieses vorgestellte »Ich«, denn das Ich hofft, sein Glück zu finden, wenn es sich ein anderes Skript vornimmt, eine andere Rolle spielt, seine Identität verändert - selbst wenn es sich damit identifiziert, keine Identität zu haben. Es tut alles, um den Ball namens »Ich« am Rollen zu halten. Unsere spirituelle Kultur ist ziemlich trickreich geworden. Wir lassen immer raffiniertere spirituelle Vorstellungen in unsere Diskussionen einfließen. Schwerfällige alte Begriffe wie »Gott« und »Sünde« werden oft durch die Worte »Bewusstsein« und »Konditionierung« ersetzt, die ein wenig leichter klingen. Der spirituelle Mensch von heute geht mit sehr abstrakten Begriffen um. Je abstrakter ein Begriff ist, umso durchsichtiger ist er. Es ist schwierig, Bewusstsein abzubilden und als Altarbild zu verwenden. Halte deinen Altar leer. Wenn du die Wahrheit erkennen willst, darfst du nichts daraufstellen. Der beste Altar ist der, auf dem nichts steht. Doch selbst abstrakte Begriffe können dich in die Falle locken, wenn du dich mit ihnen identifizierst, und deinen Geist davon abhalten, die Waffen abzugeben. Auch wenn du ein spontanes Erwachen erfährst, ist es für den Verstand eine Kleinigkeit, in diese lebendige, wache Bewusst-
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heit einzudringen, ihr ein Etikett aufzukleben und etwas daraus zu machen: Erwachtheit oder Bewusstheit, Geist oder Selbst. Der Verstand wird es irgendwie benennen, nur um seine Waffen nicht zu verlieren. Wie wir sehen, kann selbst der heiligste Begriff, wenn man sich an ihn klammert, raffiniert zur Abwehr des gegenwärtigen Seinszustands benutzt werden, der sich nicht in Begriffe fassen lässt. Wenn wir fragen: »Wer bin ich ohne die Ichvorstellung? Was bin ich ohne das Ich?«, kann sich sofort das Wortlose, das Begrifflose öffnen. Lass diese Erfahrung zu, denn sie ist die lebendige Antwort auf die Fragen: »Was bin ich? Wer bin ich?«, keine tote, begriffliche Antwort, sondern die lebendige Antwort. Sie lebt! In diesem Augenblick strahlender Bewusstheit entfaltet sich ein Geheimnis aus sich selbst heraus, Augenblick für Augenblick für Augenblick. Dieser lebendige Seinszustand, wie immer du ihn auch nennen willst, ist das Einzige, was du bist, immer warst und immer sein wirst. Du bist kein Mensch, du bist Sein in menschlicher Gestalt. Das wahre Nachforschen gleicht kindlichem Fragen: »Bin ich das wirklich?« Denk nicht darüber nach, sondern lass dich durch diese Frage immer mehr entwaffnen. Je aufrichtiger du kraft deiner Erfahrungen in das Unbekannte eintrittst, umso wehrloser wirst du. Hast du nicht bemerkt, dass dein Verstand nicht mehr weiß, was er machen soll? Nimm dieses Gefühl des Nichtwissens freundlich auf und kümmere dich nicht um deine zunehmende Wehrlosigkeit. Achte darauf, dass mitten darin eine lebendige, strahlende Erwachtheit ist. Indem du zur Erkenntnis
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dieser Erwachtheit kommst, erwachst du wundersamerweise mitten darin. Sowie du der Erwachtheit Raum gibst, merkst du, dass sie mit deinem Leben spielt. Sie richtet sich nicht nach den Plänen des kleinen Ichs, das lauter Vorstellungen davon hat, was passieren wird, wenn du erwachst. Die Erwachtheit schert sich nicht um deine Pläne. Sie ist immer in Bewegung und hört nicht zu, was du willst, und du bist dankbar, dass sie nicht auf dich hört. Du stellst fest, dass sie eine Eigenbewegung hat, und mir scheint, es ist wahre Hingabe, wenn man dieser Bewegung folgt. Das ist die wahre Bedeutung von »dein Wille geschehe«. Vermutlich beunruhigt es den Verstand, entwaffnet zu werden und all seine Konzepte und Skripte fallen zu lassen. Vielleicht sagt er: »Ich bekomme wohl nicht, was ich will.« Und ich sage, du hast verdammtes Glück, wenn du nicht bekommst, was du willst! Mir hat das Erwachen nichts von dem gebracht, was ich mir wünschte. Ich dachte, es würde die meisten meiner Probleme lösen. Ich hatte jede Menge Vorstellungen, was es bewirken würde. Vergiss es! Der Punkt ist nicht, dass du bekommst, was du willst, sondern dass es dich nicht kümmert, ob du bekommst, was du willst. Ich kann mich nicht erinnern, dass überhaupt etwas so in Erfüllung ging, wie ich dachte. Das Einzige, was passierte, war, dass es mich nicht länger kümmerte. Was ich zu meinem Glück alles nötig zu haben meinte - ein Alptraum! Das Mysterium deines eigenen Seins willkommen zu heißen, das ist Satsang. Diese Spiritualität ist völlig anders, als meist angenommen wird - oft wird ja das eigene Sein
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weggedrückt und das Mysterium definiert oder mit Perlen und Blumen und dergleichen behängt, damit es den Anschein besonderer Kraft erhält. Beim Satsang wird das eigene Mysterium willkommen geheißen. Satsang ist ein Willkommenheißen, so lange, bis die Identifikation zerbricht und das Mysterium selbst erkennt: »Oh, das bin ich also! Und ich dachte, ich bin der oder die da drüben, die mit all den Plänen. Ich dachte, ich würde verschiedene Rollen spielen. Ich dachte, ich wäre die gespielte Figur.« Nichts davon ist wahr. Wenn die Rolle »Ich bin ein Mensch« ausgespielt ist, nennen wir das Tod. Es ist erheblich leichter, die Rolle bereits sterben zu lassen, ehe der Körper stirbt, und sie schon jetzt zur Ruhe zu betten. Im Satsang kannst du zu dem erwachen, was du in Ewigkeit bist, und das wahre Leben haben.
3 Offenheit Ein wichtiger Teil des Satsangs, zu dem wir uns versammeln, um die Wahrheit zu ergründen, ist die Offenherzigkeit. Manchen Menschen fällt es leichter, den Geist zu öffnen, während andere leichter ihr Herz öffnen können, aber wirklich jetzt hier zu sein heißt beides. Wenn du offen bist, filterst du deine Erfahrungen nicht, und du verbarrikadierst dich auch nicht. Du versuchst nicht, dich zu verteidigen, sondern öffnest dich dem Mysterium, indem du deine Überzeugungen hinterfragst. Wenn du dir selbst dieses wunderbare Geschenk machst, nicht zu versuchen, dich in einer bestimmten Idee oder einem bestimmten Gefühl zu finden, dann dehnt sich die Offenheit aus, bis deine Identität selbst mehr und mehr zur Offenheit wird, statt ein Bezugspunkt im Denken zu sein, der eine Überzeugung oder ein bestimmtes Gefühl im Körper markiert. Entscheidend ist nicht, sich von Gefühlen oder Gedanken zu befreien, sondern sich nicht in ihnen einzurichten. Offenheit ist an keinen bestimmten Ort gebunden. Sie scheint überall zu sein und hat Raum für alles. Es kann ein Gedanke da sein oder kein Gedanke. Es kann ein Gefühl da sein oder kein Gefühl. Es können Geräusche da sein,
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oder es kann Stille da sein. Nichts stört die Offenheit. Nichts stört dein wahres Wesen. Du wirst nur gestört, wenn du dich verschließt, indem du dich mit einem bestimmten Standpunkt identifizierst, mit einer Idee davon, wer du bist, als wer du dich fühlst oder wer du zu sein glaubst; dann stemmst du dich gegen das, was geschieht. Aber wenn du deinem wahren Wesen, der Offenheit, treu bleibst, merkst du, dass du eigentlich zu nichts im Widerspruch stehst. Was immer in der Offenheit geschieht, ist vollkommen in Ordnung, und in ihr kannst du spontan und weise auf das Leben reagieren. Beim Satsang geht es um das Erinnern. Es ist, als hättest du vergessen, dass du Offenheit bist, und dächtest, irgendetwas zu sein. Die Menschen haben unzählige Mythen ersonnen, wie es zu diesem Vergessen kam, dabei spielt das Wie im Grunde gar keine Rolle. Im Kern geht es beim Satsang nicht darum, dich zu verändern oder ein anderer zu werden, sondern dich zu erinnern, wer du bist. Die Wahrheit ist das Erinnern, Erkennen und Verwirklichen deines wahren Wesens. Kennst du die Erfahrung, dass dir etwas entfallen ist, was du eben noch im Kopf hattest? Du denkst angestrengt nach, aber dadurch wird es nur noch schlimmer. Was hilft am Ende? Du entspannst dich ein bisschen. Du vergisst, dass du dich unbedingt an etwas erinnern willst, und entspannst dich. »Ach ja, das war's!« Die Antwort kommt aus dem Nirgendwo. Genauso verhält es sich mit der Selbstverwirklichung - gleich jetzt. Sie liegt in der Bereitschaft, entspannt zu sein und nichts wissen zu wollen. Du kannst gleich jetzt Offenheit erfahren. Du brauchst
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dich nicht zu öffnen oder offener zu werden. Mach dir einfach die Offenheit bewusst, die bereits hier und jetzt erfahren wird. Innen, außen, überall. Spüre einfach diese Erfahrung. Lass das Wort »Offenheit« fallen. Lass es verschwinden, und die Erfahrung wird tiefer und immer wortloser. Sei einfach aus diesem Wortlosen heraus. Dann verwirren dich die Worte nicht mehr, und ebenso wenig schränkst du deine Erfahrung dadurch ein, dass du den Worten glaubst. Aber sobald du der Erfahrung das Wort »Offenheit« überstülpst, erhält sie eine bestimmte Färbung, und dann stimmt sie nicht mehr ganz. Sie mag zwar sehr nahe dran sein, aber sie ist nicht mehr ganz so wie das, was sie war, als du dir noch keinen Begriff von ihr machen konntest. Das Loslassen kann sich allmählich vertiefen. Das mag wie ein Fall ins Unbekannte auf den Verstand wirken, der die Erfahrung in Begriffe zu fassen und einzugrenzen versucht, aber im Grunde handelt es sich um eine tiefer werdende bewusste Seinserfahrung. In dieser tieferen Erfahrung beginnt die beschränkte Person, für die du dich gehalten hast, zu erkennen, dass sie stattdessen Offenheit ist. Du wirst auch sehen, dass andere das ebenfalls sind. Wenn du Befreiung erlangst, wirst nicht nur du befreit, sondern das Selbst. Du erinnerst dich an jedermanns Selbst, weil es immer dasselbe Selbst ist. Sobald dies eingesehen wurde, wird die totale Transformation aller menschlichen Interaktionen möglich. Öffne Geist und Herz. Mach dir klar, dass niemand da drinnen ist, den du schützen müsstest. Es besteht keine Notwendigkeit zur Errichtung einer emotionalen Barrie-
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re oder für die Gefühle der Getrenntheit und Isolation, die diese Barriere auslöst. Der einzige Grund dafür, warum du immer gedacht hast, dass du Schutz brauchst, ist ein ganz unschuldiges Missverständnis. Das ist entstanden, weil du zusammen mit dem Bild von dir selbst, das dir in frühester Kindheit mitgegeben wurde, auch das Rüstzeug erhalten hast, um die zum Schutz dieses Bildes nötigen Mauern aufzubauen. Du hast gelernt, dieses Rüstzeug den jeweiligen Umständen entsprechend zu erweitern. Wenn eine ordentliche Portion Wut nützlich erschien, hast du diese hinzugefügt, oder auch Groll, Scham, Schuld- oder Opfergefühle. Ob du am Selbstbild des guten Menschen oder des Versagers festhältst, das Identitätsrüstzeug wird stets zum Schutz des jeweiligen Bildes verwandt. Das geschieht in aller Unschuld. Es geschieht ohne dein Wissen. Und es geht immer so weiter, bis dir bewusst wird, dass diesem Festhalten am »Ich« als einem Körper und Geist umfassenden Selbstbild die Überzeugung innewohnt, dass du Schutz brauchst. Du kannst nicht das eine ohne das andere haben. Beides gehört zusammen. Wenn du deine Schutzvorkehrungen fallen lässt, tritt die Wahrheit auf und nimmt dir das Selbstbild weg. Darum gehört zum Selbstbild die Mauer, denn ohne die Mauer kommt wie der Blitz die Erinnerung an dein wahres Wesen über dich und nimmt dir dein Selbstbild weg, sei es gut oder schlecht. Es gibt kein Selbstbild ohne Schutzwall und kein Selbstbild, das kein Leid nach sich zieht. Du hast nicht nur Mauern um dich herum errichtet, sondern du projizierst sie auch auf andere, indem du dir ein be-
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stimmtes Bild von ihnen machst, das dich davon abhält, ihr wahres Wesen zu erkennen. Wenn du bereit bist, einzusehen, dass ein Bild keine Realität besitzt, fallen die Mauern ein. Wenn intellektuelle Mauern fallen, wirst du geistig aufgeschlossen. Wenn emotionale Mauern fallen, geht dir das Herz auf. Wenn die Erkenntnis der Wahrheit das beschränkte Ich hinwegfegt, ist plötzlich kein Selbstbild mehr da - nur totale Präsenz. Totale Präsenz! Die Offenheit ist präsent und vorstellungsfrei. Es ist nicht notwendig, sie zu beschützen. Wenn jemand sie anschreit, bewegt sich der Klang durch den Raum. Das ist in Ordnung. Es kann sie auch jemand lieben. Das ist schön, aber es fügt ihr weder etwas hinzu, noch nimmt es ihr etwas. Das Komische an der Wahrheit - der Erleuchtung oder dem Erwachen - ist, dass sie uns fehlt, obwohl sie gar nicht vor uns verborgen ist. Sie wartet keineswegs in weiter Ferne auf den Augenblick, in dem wir sie verdienen. Sie ist nur schwer zu finden, weil sie genau hier ist. Die Offenheit war immer schon da. Wenn sie eine Stimme hätte, würde sie etwas in der Art sagen wie: »Du meine Güte, ich frage mich wirklich, wie lange dieses Ding mit der Vorstellung noch dauern wird!« Das vorstellungsfreie Selbst - du kannst es Bewusstsein, Offenheit oder auch anders nennen, das Wort soll nur deine Erinnerung beflügeln - ist völlig still. Aber glaube mir nicht einfach aufs Wort. Lass das, was ich sage, in dich einsinken. Forsche selber nach. Du bist die zuständige Autorität. Ich bin nur der Bote. Je klarer dir wird, dass du Offenheit bist, umso klarer
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wird deinem physischen Körper, dass es nichts zu beschützen gibt. Dann kann auch er offener werden. Das spürst du auf der emotionalen Ebene in deinen Muskeln und Knochen. Dann beginnt sich die eigentliche Funktion des Körpers zu entfalten, sodass er die Offenheit zum Ausdruck bringt, die du in der physischen Gestalt bist; dann drückt er die Wahrheit aus, statt weiter das Ich zu beschützen. Auf diese Weise erweitert er die Offenheit noch. In der Bewegung deiner Hand oder deines Fußes drückt sich Offenheit aus, und die Berührung mit einem Gegenstand empfindest du ebenfalls als Erweiterung dieser Offenheit. Du empfindest fast eine kindliche Faszination für Bewegungen, für deine Sinne und alles, was in der Welt gegenwärtig ist. Doch wenn das spirituelle Erwachen tiefer wird und reift, hast du etwas, das dem Kind fehlt: Weisheit. Das Kind identifiziert sich im Lauf der Zeit mit den Gegenständen, die seine Aufmerksamkeit erregen, und mit dem, was andere über es sagen. Aber wenn sich der reife Körper-Geist nach und nach zur Offenheit erweitert, zu seinem wahren Wesen, entdeckt er die Unschuld wieder, nur dass jetzt eine tiefe Weisheit da ist, die es ihm gestattet, fasziniert zu sein, ohne etwas festhalten oder wegschieben zu wollen, weil das unnötig ist. Bewegung und Faszination sind also nicht infantil. Sie sind kindlich, aber zugleich absolut weise. In der Offenheit liegt die allertiefste Weisheit begründet. Am Ende kannst du fasziniert sein, ohne dich in einer Identität zu verlieren und ohne das Gefühl zu haben, dass dich etwas bedrohen könnte. Beim Kind ist die ganze Welt der Körper. So muss es
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auch sein. Aber der unschuldige Weise kümmert sich nicht um den Erhalt des Körpers. Dieser wird zwar erhalten, aber nicht aus Angst vor der Nichterhaltung. Darum liegt im Wiedererinnern, in der tiefsten Heimkehr zum Selbst, die Freiheit, tatsächlich hier sein und das Leben ohne Angst leben zu können. Ein weiterer Aspekt der Offenheit ist innige Nähe oder Vertrautheit. Am schnellsten gewinnst du Zugang zur Wahrheit und auch zur Schönheit, wenn dir jede Erfahrung vollkommen nahe ist, die innere wie die äußere, auch wenn sie »schlecht« ist. Bei dieser großen, uneingeschränkten Nähe der Erfahrung muss der mit sich uneinige Geist von all den Plänen ablassen, die ihn gerade beschäftigen. In dieser innigen Nähe wirst du sehr offen und stößt auf eine ungeheure Weite. Ob unangenehm oder schön, sobald du mit der Erfahrung als solcher vertraut geworden bist, ist Offenheit da. Wenn eine innige Nähe zu aller Erfahrung des Augenblicks besteht, beschränkt sich das Bewusstsein nicht nur auf das, was im emotionalen Körper, im physischen Körper, in den Wahrnehmungen und Gedanken geschieht. Es ist nur das Ganze da, das sich selbst wahrnimmt, sich selbst fühlt und sich selbst denkt, und alles, was geschehen mag, löst sich meist ganz von selbst. Wenn das Ganze sich selbst wahrnimmt, ist das etwas völlig anderes, als wenn das Ich eine Erfahrung macht. Wenn wir solcherart loslassen, sind, wie der Zenmeister Bankei sagt, »alle Dinge vollkommen gelöst im Ungeborenen«. Er nannte das, was ich als Wahrheit bezeichne, das Ungeborene. Wenn das Ganze sich selbst wahrnimmt, entsteht der Eindruck, dass das
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Ungeborene sich vollkommen selbst genügt. Es hält nie an einer Erfahrung fest. Es ist einfach voller Freude mit sich selbst im Einklang. Und wenn du von deinen Plänen und Projekten ablässt, zeigt sich, dass tatsächlich alles vollkommen gelöst ist im Ungeborenen. Manchmal bemerkst du, dass du dir im Geiste etwas vorgenommen hast. Du versuchst, dich von etwas zu befreien oder etwas zu verstehen, und du denkst darüber nach. Gönn dir lieber eine Pause und halte einen Augenblick im Denken inne. So hat Einstein es gemacht. Er pflegte über ein Problem nachzudenken, um dann in der Überzeugung, das Menschenmögliche getan und alle rationalen Möglichkeiten erschöpft zu haben, damit aufzuhören. Das ist allerdings eine Kunst. Die meisten Menschen merken, dass sie mit dem rationalen Denken irgendwann an eine Grenze stoßen, aber statt dann innezuhalten, machen sie eine 90-Grad-Kehrtwende nach links oder rechts, bewegen sich an den Rändern entlang und denken horizontal weiter, indem sie noch mehr Fakten, Erfahrungen und Erinnerungen zusammentragen. Das ist reine Zeitverschwendung. Nur dann hat Denken einen Sinn, wenn es ein rationaler Vorgang ist, der bis an seine Grenzen geht und dort anhält. Dann wird die Lösung dessen, was noch gelöst werden muss, etwas anderem überlassen, ähnlich wie bei Einstein, der mit seinem Denken bis an die Grenzen ging und dort innehielt, bis die Lösung kam. Dann sind alle Dinge vollkommen gelöst im Ungeborenen, in der Vertrautheit der reinen Erfahrung. Den schnellsten Zugang zur Offenheit des wahren Wesens gewähren dir die fünf Sinne, nicht das Denken. Wenn
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du zum Beispiel dem Ganzen des Augenblicks lauschst, statt nur die Töne zu hören, die deine Ohren auffangen, wenn du die Ganzheit des ganzen Augenblicks fühlst, kommt es zur Öffnung über den begrenzten Raum des Ichs hinaus. Ein bestimmtes Gefühl macht sich im Körper breit, und du fühlst es einfach - es dehnt sich aus. Du fühlst die absolute Stille. Du fühlst die Vögel. Du fühlst, wie es ist, einen Ton zu fühlen. Die fünf Sinne verschaffen dir den unmittelbaren Zugang zu etwas jenseits der virtuellen geistigen Realität, zu etwas, das nicht mental erschaffen wurde. Erstaunliches tut sich, wenn deine fünf Sinne allmählich offener werden. Du erkennst, dass 99 Prozent deiner Probleme daher kommen, dass du alles eingegrenzt hast, dass du dich nur auf eine Richtung konzentriert hast und dass, wenn du dich dem Ganzen öffnest, alles sehr klar wird. Sobald du wieder leidest, merkst du, dass es deine fünf Sinne aufgegeben haben, sich dem Ganzen zu öffnen, und sich stattdessen nur auf eine einzige Sache konzentrieren, die Leid verursacht. Du erkennst immer deutlicher, dass ein Großteil deines Leidens dadurch begründet ist, dass diese Konzentration auf einen engen Erfahrungsausschnitt es dem Ungeborenen sehr schwer macht, alle Dinge in sich zu lösen. Doch sobald der Fokus offener wird, kommt die Erkenntnis, dass alle Dinge im Ungeborenen gelöst sind und alles in Ordnung ist, selbst wenn es anders zu sein scheint. Dann kannst du deine beschränkte Sicht der Dinge hinter dir lassen und einsehen, dass in Wirklichkeit nicht du all diese Erfahrungen machst, sondern dass es das Ganze ist, das darin sich selbst erfährt.
4 Unschuld Drei Eigenschaften stiegen in mir auf, als ich ein tiefes Erwachen erlebte: Weisheit, Unschuld und Liebe. Sie sind zwar eigentlich Teile des Ganzen, aber die Ganzheit lässt sich durch diese drei Qualitäten ausdrücken. Das Erwachen erschließt Weisheit. Mit Weisheit meine ich nicht, dass ich plötzlich sehr klug wurde. Ich meine einfach, dass ich die Wahrheit realisierte. Diese Wahrheit ist das, was ich bin. Sie ist das, was die Welt ist. Sie ist das, was ist. Die Weisheit der Erkenntnis dessen, was man ist. Die Wahrheit wird erkannt, die eine einzige wahre Wahrheit. Diese Wahrheit ist nichts Philosophisches oder Wissenschaftliches, sie ist weder Ansichts- noch Überzeugungssache und auch keine Religion. Sie geht über all das hinaus - weit hinaus. Die zweite Eigenschaft, die in dem Erwachen geboren wurde, war Unschuld. Diese ungeheure Unschuld erzeugt das Gefühl einer ewig gegenwärtigen Frische des Lebens. Vom Erwachen an hält das Gehirn nicht länger an etwas fest und vergleicht nicht mehr, sodass jeder Augenblick als neu erfahren wird, wie im Geist eines kleinen Kindes. Der erwachsene Geist neigt dazu, die Dinge in sich aufzunehmen, seine Wahrnehmungen mit den vielen Begebenhei-
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ten zu vergleichen, die in der Vergangenheit geschehen sind, und im Grunde immer zu konstatieren: »Da bin ich schon gewesen, das habe ich schon gemacht.« Das ist ziemlich saftlos, trocken und langweilig. Der unschuldige Geist erwacht, wenn das Vergleichen aufhört. Die Unschuld kann auch Demut genannt werden. Aber ich persönlich mag das Wort Unschuld, weil ich finde, dass es der tatsächlichen Erfahrung näher kommt. Die dritte Eigenschaft, die in mir erwachte, war Liebe. Einfach die Liebe zum Dasein. Im Erwachen wird eine Liebe zu dem geboren, was ist - zu allem, was ist. Allein die Tatsache, dass überhaupt etwas da ist, erscheint wunderbar, denn wenn die Einsicht des Erwachens sehr tief geht, kommt damit auch die Erkenntnis, wie zerbrechlich das Dasein ist. Damit meine ich nicht, dass wir jeden Augenblick umkommen könnten. Ich meine, dass wir ein unglaubliches Wunder erleben und erkennen, wie unvorstellbar leicht es sein könnte, dass absolut nichts hier wäre. (Eigentlich ist ja auch absolut nichts da, aber das ist eine andere Geschichte.) Dass überhaupt etwas existiert, wird als unvorstellbar großes Wunder erfahren, und aus dieser Einsicht erwächst unendlich viel Liebe für das, was ist. Es ist eine andere Liebe als die, die wir empfinden, wenn wir den perfekten Partner suchen oder finden. Diese Liebe gilt einfach der Tatsache, dass wir Schnürsenkel haben, oder der Tatsache, dass es Fußnägel gibt, diese Art von Liebe ist es. Eine ungeheure Liebe zum Wunder dieses Lebens erwacht, und in ihr wird alles und jedes als das Eine erkannt. Wenn das Erwachen sehr tief ist, agieren wir nicht län-
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ger von einem persönlichen Selbst aus. Mit anderen Worten: Nichts hat mehr einen Bezug zu »mir«. Die Gedanken haben keinen Bezug mehr zu mir; die Gefühle haben keinen Bezug mehr zu mir; was andere tun, hat keinen Bezug mehr zu mir; überhaupt alles, was auf der Welt geschieht, hat keinen Bezug mehr zu mir. Im Egobewusstsein widerfährt buchstäblich alles, was je geschieht, einem Ich. Stimmt's? Das ist der »normale« Bewusstseinszustand. Niemand kann wirklich erklären, was das persönliche Selbst ist; wir fühlen es nur. Es ist etwas Instinktives. Es ist nicht nur die Art und Weise, wie wir handeln und was wir sagen; es ist unsere grundlegende Selbst-Fixierung. Während wir diese durchschauen, wird uns klar, dass das persönliche Selbst nicht mit dem identisch ist, der wir sind, und dass es eigentlich von Anfang an nie Substanz besaß. Und während wir unsere wahre Natur einsehen, entsteht in uns ein Paradox: Je deutlicher wir erkennen, dass kein Selbst da ist, umso eindeutiger sind wir präsent. Was in meinem Erlebnis an die Stelle des persönlichen Selbst trat, waren Unschuld und Liebe. Natürlich sind sie schon immer da gewesen, aber sie waren verschüttet unter dem Mischmasch von Gedanken und Gefühlen, die mein »Ich« geworden waren. Die Unschuld erstaunt mich immer noch, weil sie nie aufhört. Sie bleibt unschuldig, egal, wie viel sie sieht, egal, wie tief ihre spirituelle Erkenntnis ist oder wie sehr ihre spirituelle Tiefe zunimmt, und sie wird immer unschuldiger. Im Ichgefühl befangen, verlieren wir mit zunehmendem Wissen diese Unschuld. Doch in unserem wahren Wesen empfinden wir mit zunehmender Erkenntnis eine immer tiefere Unschuld.
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Ich nenne dieses Gefühl nicht nur deshalb Unschuld, weil es ein Empfinden ist, mit dem sich jeder identifizieren kann, sondern auch, weil es mit einem Empfinden von totaler Ungeschütztheit einhergeht. Ungeschützt merken wir, dass die Unschuld aus sich selbst entspringt. Das kann man vielleicht so verstehen: Wenn wir von einem Egobewusstsein herkommen, gehen wir im Grunde von einer Idee, einem Standpunkt aus, von einem Sammelsurium der Überzeugungen und Erinnerungen. Wenn wir von der Unschuld herkommen, gehen wir nicht von einer Idee, einem Standpunkt oder einer Überzeugung aus. Dann kommen wir aus der Unschuld selbst, die keinen bestimmten Standpunkt vertritt. Sie hat keine Ideologie und keine Theologie, sie hat weder einen Katalog von Überzeugungen noch einen Katalog von Ideen. Sie ist das Einzige auf der Welt, das mit Sicherheit nicht weiß, was gerade vor sich geht. In Unschuld hat man keine Vorstellung von dem, was gerade vor sich geht, und das ist das Wunderbare. Wenn ich sage, dass die Unschuld nicht weiß, was gerade vor sich geht, meine ich, dass sie sich nicht durch das Denken auf die Erfahrung bezieht. Vielmehr umgeht sie das Denken zugunsten der unmittelbaren, völlig ungefilterten Erfahrung. Darum ist sie unschuldig. Ein Vorgeschmack dieser Unschuld als Aspekt des erwachten Selbst ist bereits in allen Wesen angelegt. Auch der Verstand oder das Egobewusstsein fühlt sich manchmal zu ihr hingezogen, dabei dürfte er es eher schrecklich finden, bei ihr zu verweilen, denn sie nimmt ihm sein ganzes Instrumentarium und wirft es zum alten Eisen. Trotzdem begibt sich das Egobewusstsein ganz gern in diesen
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Zustand, denn er ist eine angenehme Abwechslung, so, als ginge es für ein paar Minuten innerlich auf Urlaubsreise. Aber letztlich fühlt sich der denkende Geist doch nicht wohl dort, weil er außer Betrieb ist, solange er dort weilt. Wir sehen, dass wir nicht sind, was wir gedacht haben, und dass die Welt nicht so ist, wie wir gedacht haben. Alles ist neu, offen und unvorhersagbar, und das gibt dem Ego ein Gefühl der Unsicherheit. Es ist mitunter schwierig, zu verstehen, wie weit die Unschuld reicht. Da sitzt du zum Beispiel in deinem Sessel und spürst plötzlich ein bestimmtes Gefühl in deinem Körper, das du mental sofort als Angst einstufst, während die Unschuld gar nichts davon weiß. Selbst ein Gefühl, das der Geist als Angst bezeichnen würde, wird also von der Unschuld nicht registriert, weil sie unabhängig vom Denken wahrnimmt. Sie würde es anschauen und sagen: »Nanu, was ist denn das?« Wenn du dich für etwas interessierst, bewegst du dich darauf zu. Wenn dich ein Klang fasziniert, neigst du dich in seine Richtung. Wenn dir ein Geruch in die Nase sticht, schnupperst du. Die Unschuld schaut nur voller Neugier hin und fragt: »Was ist das?«, und lässt sich voll auf das Gefühl ein. Statt sich einen Begriff von dem betreffenden Gefühl zu machen, »weiß« sie durch unmittelbare Erfahrung, wie es ist. Da ein Wort wie Angst seit Generationen überliefert wird - durch eine geistige Übertragung von Generation zu Generation -, hat der Gedanke, der dir durch den Kopf schießt und das Gefühl als »Angst« einstuft, nicht nur Bezug zu diesem einen Augenblick, sondern zu unzähligen Generationen von Angst.
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Da die Unschuld jedoch unabhängig vom Denken wahrnimmt, umgeht sie die Geschichte. Sie entdeckt jeden Augenblick neu. Für die Unschuld entscheidet sich der Egogeist nicht etwa: »Na schön, ich werde jetzt unschuldig sein, jeden Augenblick neu erfahren und ihm Aufmerksamkeit schenken.« So funktioniert es nicht, denn dann wird die Unschuld zu einem Projekt des Ichbewusstseins. Die Unschuld existiert bereits, sie nähert sich jedem Augenblick und erfährt ihn in vollkommener Unschuld. Wenn du mit ihr in Berührung kommst, spürst du ihre kindliche Neugier und merkst, dass sie tatsächlich auf jedes Ding, jede Erfahrung zugeht. Darum empfehlen uns viele Religionen, wie die Kinder zu werden (nicht kindisch, sondern kindlich), denn Kindlichkeit heißt, stets lebhaftes Interesse an dem zu haben, was ist. Das ist die Frische, die wir fühlen, wenn wir nicht als getrenntes Selbst leben. Natürlich haben wir auch weiterhin ein Gehirn und Gedanken, und so werden auch weiterhin Dinge gelernt und Erfahrungen gesammelt. Die Wahrnehmungen des Egobewusstseins gründen sich immer auf dieses angesammelte Wissen. Doch wenn wir nicht als getrenntes Selbst leben, greifen wir im Wahrnehmen nicht auf das angesammelte Wissen zurück, obwohl wir das bei Bedarf tun können. Wenn wir in aller Unschuld wahrnehmen, stattet uns das augenblicklich mit einer außerordentlichen Weisheit aus, denn in diesem Zustand steigt die tiefste Weisheit des betreffenden Augenblicks in uns auf. Diese Weisheit gehört nur dem Augenblick, sie ist nicht Teil unseres angesammelten Wissens. Im Zen wird sie Prajna genannt, die
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»Herzensweisheit«, eine Weisheit, die nur dem Ganzen und dem Augenblick innewohnt. Wir gehen dabei nicht länger von einem persönlichen Ichgefühl aus, sondern von der Ganzheit des Daseins. Eine weitere Eigenschaft, die ich beim Erwachen fand, ist die Liebe zur reinen Tatsache des Daseins. Es war keine Liebe, die durch irgendetwas geweckt wurde. Sie hing nicht von einem guten Tag, einem guten Menschen, einer guten Begegnung oder einem guten Gefühl ab. Auch wenn es sich um keinen so guten Tag, keine so gute Begegnung, keinen so guten Menschen und kein so gutes Gefühl handelte, war die Liebe dazu noch genauso groß. Eine solche Liebe liebt das Leben, weil sie sich im Leben Augenblick für Augenblick selbst begegnet. Das Erwachen offenbart uns, dass kein persönliches Selbst da ist und dass wir alles sind. Das scheint ein Paradox zu sein. Wir stellen fest, dass wir nichts und gleichzeitig alles sind. Wenn wir das einsehen, wird uns klar, dass nichts anderes geschieht, als dass die Liebe sich selbst begegnet - oder, anders ausgedrückt, dass du dir selbst begegnest, dass die Wahrheit sich selbst begegnet, dass Gott sich selbst begegnet. Die Liebe begegnet in jedem Augenblick sich selbst, auch wenn es ein schrecklicher Augenblick ist. Das geschieht jedoch nie im Egobewusstsein, in dem das Denken als Filter wirkt. Im Zustand der Unschuld begegnet die Liebe einfach sich selbst. Und sie liebt diese Begegnung. Die Rede ist von dem Einen, das sich selbst begegnet, sich selbst verwirklicht, sich selbst erfährt. Es ist eine Liebe, die all die guten Gefühle, die wir mit Liebe verbinden, in sich schließt, aber auch weit darüber
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hinausgeht. Es ist eine Liebe, die viel tiefer ist als eine Erfahrung. Hast du bemerkt, dass dir ungeachtet der Art von Liebe, die du erfahren haben magst, Herz und Gemüt aufgehen, sobald die wahre Liebe erwacht? Du bist auf einmal offen für alles, was geschieht. Das Egobewusstsein schließt immer die Türen zu. Es macht sowohl emotional als auch intellektuell dicht, wenn der Augenblick nicht der »richtige« ist, was auf 99 Prozent der Fälle zutrifft. Unschuld und Liebe jedoch verschließen sich nicht, auch nicht etwas sehr Unangenehmem. Achte einmal darauf, dass sich umso mehr Unschuld einstellt, je weiter du über dein Gefühl eines persönlichen Selbst hinausschaust. Und je mehr Unschuld erfahren wird, umso höher erhebt die Liebe ihr Haupt und beginnt, dieses Leben zu erfahren, dieses Leben zu leben und sich in diesem Leben auszubreiten. Offenheit erschließt nun den Zugang zur Weisheit. Weisheit und Unschuld vertiefen sich. Die Unschuld aber lässt wieder mehr Liebe zu, und je mehr Liebe da ist, umso mehr Raum erhält die Weisheit, und so geht es immer weiter. Liebe und Unschuld, diese Eigenschaften sind es, die dir die befreiende Weisheit ermöglichen. Sie sind nicht nur eine Folge des Aufblühens deines wahren Wesens, sondern auch das, wodurch das Erwachen und dessen Verkörperung überhaupt erst möglich werden.
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Im Zen wird Erleuchtung unter anderem als Harmonie von Körper und Geist definiert. Damit ist auch die Harmonie von Geist und Materie gemeint. Wenn Geist und Materie miteinander in Einklang sind, ist es so, als würde etwas Drittes geboren - das ist der buddhistische »Mittlere Weg«. Der Mittlere Weg hat nichts mit der Vorstellung zu tun, auf der Mitte zwischen zwei Gegensätzen zu sein. Der Mittlere Weg ist dann da, wenn Geist und Materie miteinander harmonieren - wenn die grundlegende Einheit erkannt wird. Geist und Materie sind nicht zweierlei, sondern nur zwei Aspekte des Einen. Das ist die Erkenntnis unseres wahren Wesens. Als Menschen identifizieren wir uns immer mehr mit der Materie. Zur Materie gehören die feinsten wie die gröbsten Manifestationen. Materie ist alles, was berührt, gesehen, gefühlt, wahrgenommen und gedacht werden kann. Ein Gefühl oder eine Emotion ist ebenso Materie wie ein Körper, ein Auto oder der Fußboden. Das Wesen der Materie ist Geist. Materie wird vom Geist beseelt, von der Lebenskraft, und beides ist nicht voneinander zu trennen. Wir können zwar darüber reden, als handle es sich um zweierlei, aber wenn wir die Lebens-
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kraft wegnehmen, ist auch keine Materie mehr da. Es ist nicht etwa so, als wäre noch tote Materie da. Es ist keine Materie mehr da. Ein Teil der Erkenntnis ist es, von der Identifikation mit Materie (die sich als Persönlichkeit oder »Ich« manifestiert) zur Identifikation mit dem Geist überzugehen. Wahre Erleuchtung findet statt, wenn Materie und Geist im Einklang miteinander sind. Diese Harmonie können wir Nichtunterscheidung oder Einssein nennen. Wenn wir einsehen, dass wir Geist sind, überkommt uns mitunter eine noch tiefere Harmonie als vor dieser Erkenntnis, aber es kann trotzdem ein Rest von Disharmonie bestehen bleiben. Darum ist es hilfreich zu verstehen, welchen Wert es für uns hat, der Lehre zu begegnen, was genau dasselbe ist, wie in jedem einzelnen Augenblick dem zu begegnen, was ist. Wir müssen uns der Lehre aussetzen, ebenso wie wir uns der Sonne aussetzen müssen, um braun zu werden. Statt uns zu bekleiden, ziehen wir uns aus. So verhüllen wir uns nicht mit Konzepten, Ideen und Meinungen, wenn wir frei sein wollen, sondern legen sie ab. Dann ergibt sich etwas ganz von selbst. Um diese Harmonie zu vertiefen, dürfen wir nicht an Konzepten festhalten, wie wir auch nicht teilweise bekleidet bleiben und trotzdem ganz braun werden können. So erfahren wir keine Transformation. Aber wenn wir wirklich nackt und vollkommen preisgegeben sind, werden wir uns ganz natürlich wandeln und erwachen. Vor vielen Jahren lehrte mich einer meiner beiden Lehrer, Kwong Roshi, als er hörte, dass ich ein paar Monate mit Rucksack in die Berge wollte, den richtigen Platz zum
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Übernachten zu finden. Nicht dass er mir Informationen darüber verschafft hätte. Er redete einfach eine Zeitlang darüber, und dann wurde mir auf einmal klar, dass ich ein unmittelbares Gespür für die Gegend, die für mich infrage kam, entwickeln würde. Ebenso, wie wir die richtige Gegend für uns erspüren können, können wir es auch fühlen, wenn in unserer Umgebung eine Harmonisierung von Geist und Materie stattgefunden hat. In einer solchen Umgebung geht es uns gut, dort kommen wir ganz natürlich in Einklang mit uns selbst. Je mehr Harmonisierung stattfindet, umso intensiver wird die Wahrheit, wird das Strahlen in uns. Natürlich ist das Strahlen überall, wir können ihm nicht entkommen. Aber für eine gewisse Zeit ist es hilfreich, durch die Umgebung eine Intensivierung zu erfahren. Es ist von Vorteil, Unterstützung zu erhalten, denn wir können das Gefühl dafür, dass überall ein Strahlen ist, immer wieder verlieren. Doch sowie wir tiefer gehen, erleben wir das Strahlen überall, selbst wenn es nicht sehr stark, kraftvoll und konzentriert zu sein scheint. Dies schaffen wir, indem wir uns bereitwillig Erfahrungen und Orten aussetzen, die uns als Verstärkung dienen können. Bei jedem von mir geleiteten Retreat kann ich den Augenblick spüren, in dem die Gruppe als ganze - einige etwas früher, andere etwas später - Geist und Materie zu harmonisieren beginnt. Wenn es klickt, sind die einen plötzlich glücklich, während die anderen Angst bekommen, weil so viel Kraft spürbar wird. Diese Harmonisierung ist der Grund dafür, warum es heißt, dass man sich unter Erwachten aufhalten soll, wenn man selbst erwa-
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chen will. Das können erwachte Menschen, erwachte Bäume, erwachte Berge oder erwachte Flüsse sein - jede Umgebung ist geeignet. Wenn wir sensibel sind, können wir es fühlen, wenn die Umgebung erwacht ist. Der Grad des Erwachtseins kann beim Menschen ebenso variieren wie bei Bäumen oder einem Berg, einer Schlucht, einem Gipfel oder einer bestimmten Straßenecke in unserem Viertel. Wenn wir sensibel sind, können wir diese Dinge spüren. Uns dieser Wachheit auszusetzen, dieser Umgebung, in der Geist und Materie in Einklang kommen, hilft uns, selbst zu erwachen. Darum geht es letztlich beim Satsang. Darum geht es im Grunde auch bei der Meditation. Wir geben uns preis, und schon kommen Geist und Materie ganz von selbst in Harmonie. Plötzlich funkt es bei dir, ohne dass du etwas dazutust. Je weniger du tust, desto besser. Wenn wir uns entspannen und diese natürliche Harmonisierung zulassen, kommt es zu einer tiefen Erkenntnis der Schönheit unserer Umgebung, so wie sie ist, und der Schönheit unseres eigenen Selbst. Das ist der Mittlere Weg, aber er ist eigentlich nicht in der Mitte, sondern allumfassend. Sein sanfter Einfluss kann sehr stark sein. Er wirkt unauffällig, wie Nebel, der in die Risse und Sprünge unseres Lebens eindringt. Er kündigt sich nicht gern mit Fanfarenstößen an. Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich an einem Retreat mit Kwong Roshi teilnahm und urplötzlich zu der Erkenntnis kam: »Ich weiß, was geschieht!« Nicht im Kopf, sondern im tiefsten Innern. Dieser Einfluss, diese Schönheit begannen in mir zu wirken, und ich begriff etwas, das
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ungesagt blieb, aber stets zur Verfügung steht. Wenn ich auf Retreats den Lehrvorträgen Kwongs lauschte, war ich manchmal voll und ganz bei der Sache, weil es mich fesselte, und manchmal unkonzentriert, weil es nicht so interessant war. Er pflegte zu sagen: »Manchmal ist der Vortrag gut, und ein andermal ist der Vortrag nicht so gut. So ist das mit dem Reden.« Es geschah an einem solchen Tag, als ich die Worte nicht recht in mich aufnahm. Nicht, dass ich mich meinen Fantasien hingegeben hätte, ich hörte bloß nicht richtig zu. Plötzlich war es wie Rauch, war der Hauch des Gegenwärtigen zu spüren. Ich wusste: »Das macht er also. Es ist gar nicht all das Reden, Reden, Reden.« Mir wurde klar, dass es nicht das war, was gerade passierte - oder zumindest nur ein Bruchteil dessen, was gerade geschah. Ich weiß noch, dass ich lächelnd dasaß und dachte, wie trickreich er doch ist, denn aus unerfindlichem Grund, ohne sein Zutun oder die Beteiligung irgendeines von uns Anwesenden, setzte sich etwas sehr Subtiles und trotzdem alles Beherrschendes durch. Es ist trickreich, weil wir glauben, dass gar nichts geschieht. Darum jagen wir auch nichts hinterher. Und so hatte ich es bis zu dem Tag und dem einen Vortrag, bei dem ich den subtilen Urgrund und das Strahlen wahrnahm, gar nicht mitbekommen. Ich saß da und spürte es, und dann strahlte es auch in mir auf. Es war innen das Gleiche wie außen. Ich sah auf einmal, dass es dies sein musste, was ich bin! Dies haucht allem Leben ein. Ich spürte eine vollkommene, wunderbare Harmonie von Körper und Geist, von Geist und Materie. Einfach dadurch, dass ich mich preisgab. Ich würde es nicht ein wirkliches Erwa-
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chen nennen, aber es war ein Vorgeschmack vom Erwachen: Die heilige Präsenz war zu spüren. Charisma kann etwas sehr Schönes sein. Aber wenn ein Lehrer zu charismatisch ist, kann es sein, dass die Schüler zu sehr an ihm hängen. Sie sehen nur den Körper und denken: »Was für ein wunderbarer Mensch!« Vielleicht handelt es sich ja auch wirklich um eine wunderbare Person, aber darum geht es nicht. Ich betrachte es als das größte Geschenk für mich, dass keiner meiner Lehrer eine besonders charismatische Persönlichkeit war. Sobald wir uns auf die Verehrung von Charisma oder etwas anderem verlegen, übersehen wir unbewusst die Präsenz, die wirklich da ist und die sich sowohl durch starke als auch durch schwache, sanfte Persönlichkeiten ausdrückt, bei viel Charisma und bei sehr wenig Charisma gleichermaßen. Keiner von uns kann sich das aussuchen. Sie kann ebenso durch die Großmutter wirken wie durch den Guru als göttliche Mutter. Wenn wir aufgrund dieser Harmonisierung erkennen, was wir sind, was tun wir dann? Wir brennen ewig weiter. Wenn wir aufhören zu brennen und sagen: »Ich hab's!«, gerät plötzlich die ganze Harmonisierung von Geist und Materie aus dem Lot. Das wird sehr schnell spürbar. Suzuki Roshi hat oft gesagt: »Wenn ihr leidet, werdet ihr ein bisschen zu gierig.« Nur bei ständiger Hingabe bleibt die Harmonie erhalten. Die alten Taoisten bezeichneten das als »Korrektur des Chi«. In alten Zeiten, mancherorts vielleicht auch heute noch, wurde bei Schwierigkeiten im Dorf ein taoistischer Priester gerufen. Man bat ihn um Hilfe, wenn die Bewoh-
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ner nicht miteinander auskamen oder es irgendwelche Probleme gab. Dann kam er aus seiner Einsiedelei angewandert und sagte etwas Ähnliches wie: »Stellt mir einen ruhigen Platz zur Verfügung, eine Hütte, und lasst mich allein.« Dort setzte er sich nieder und öffnete sich der Energie oder dem Chi der Umgebung. Damit bewies er großes Mitgefühl, denn wenn man sich der Umgebung öffnet und diese aus dem Gleichgewicht ist, spürt man diese Schieflage in sich selbst. Alles, was draußen geschieht, läuft auch im Innern ab. Doch wenn man stabil genug ist und genügend Einsicht besitzt, wird man innerlich nicht davon berührt. Dann hat man keine Probleme und braucht nicht zu leiden, denn alles geschieht einfach, und die Turbulenzen sind einfach da. Nur wenn man sich selbst vollkommen erkannt hat, ist man furchtlos genug, so zu handeln. Sonst geht man unter, sobald man sich öffnet. Der taoistische Priester saß also in der Hütte und öffnete sich einfach der Energie oder dem Chi der Umgebung - er fühlte sie, erfuhr sie und stellte sie in das Licht seines Bewusstseins. Das konnte einen Tag, eine Woche und gelegentlich sogar einen Monat dauern - er setzte einfach das Chi dem Licht seines Bewusstseins aus, und die Energie erneuerte sich. Den Dorfbewohnern ging es dann wieder besser, und sie kamen eine Zeitlang gut zurecht. Darum wird in den Schriften empfohlen, die Nähe von Erwachten zu suchen. Erwacht sein kann ein Menschenwesen, ein Baumwesen oder ein Straßeneckenwesen. Halte dich in ihrer Nähe auf. Bete sie nicht an, und erhebe
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sie nicht auf ein Podest. Begib dich in ihre Nähe, und die Korrektur setzt ein; durch ihren Bewusstseinszustand kommt es zur Harmonisierung. Aber mache dich nicht abhängig von ihnen. Du erweckst dich selbst! Das Licht des Bewusstseins denkt nicht daran, irgendetwas zu verändern. Es ist kein Gefühl da, dass irgendetwas anders werden müsste, und trotzdem verändert sich etwas. Der Priester konnte einfach da sitzen, und alles kam wieder ins Lot. Jedem ging es dann erheblich besser. Allerdings nicht für lange, denn alle, die die Sonne noch nicht im eigenen Innern gesehen haben, drehen wieder durch, sobald sich das erwachte Bewusstsein aus ihrer Gegend entfernt. Den Priester berührt das jedoch nicht weiter. Die Sonne streitet sich nicht darüber, wo sie scheint oder warum sie scheinen soll. Menschen erwachen und verwandeln sich nur, wenn sie es wirklich wollen. Bis dahin geht jede Veränderung wieder vorbei. Niemand kann dir ein permanentes Erwachen aufzwingen. Wenn du das Licht zu sehen beginnst, das du in Wahrheit bist, dieses in dir erwachende Licht, dieses Strahlen, wird dir klar, dass es nicht die Absicht hat, dich zu verändern. Es hat nicht vor, harmonisierend zu wirken. Es folgt keinem Plan. Es leuchtet einfach. Die Wahrheit ist das Einzige, was dir je begegnet, das keinen Plan hat. Alles Übrige folgt einem Plan. Alles. Darum besitzt die Wahrheit eine solche Macht. Gib deine Pläne auf, gib dich einfach preis, und die Harmonisierung vollzieht sich ganz von selbst.
6 Freiheit Der Weise Nisargadatta Maharaj wurde einmal gefragt, wie er Erleuchtung erlangt hätte. Er antwortete: »Mein Guru sagte mir, ich selbst sei der höchste Ursprung von allem, ich selbst sei das Göttliche. Darüber sann ich nach, bis ich wusste, dass es wahr ist, bis ich es wurde.« Er fügte noch hinzu: »Ich hatte Glück, denn ich vertraute dem, was mir gesagt wurde.« Freiheit ist die Erkenntnis, dass du dieser tiefe, tiefe Friede und dieses Unbekannte bist. Alles Übrige ist nur eine Erweiterung des Unbekannten. Der Körper ist nur eine Erweiterung des Unbekannten. Die Bäume draußen sind nur eine Erweiterung des Unbekannten in einer Form, in der Zeit. Denken und Gefühl sind auch nur zeitliche Erweiterungen des Unbekannten. Tatsächlich ist das gesamte sichtbare Universum nur eine zeitliche Erweiterung dieses Unbekannten, dieses Berges der Stille. Es ist also wirklich wichtig, den Reifepunkt zu erreichen, an dem du bereit bist, das zu betrachten, was grundlegend ist. Es ist ein Unterschied, ob man das Unkraut der Verwirrung ausreißt oder zur Wurzel der Wahrheit vordringt. Hast du je Unkraut aus einem Rasen gezupft, es zu diesem Zweck an der Spitze gepackt und ausgerissen, nur
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um festzustellen, dass es nach kurzer Zeit wieder da war, als sei es überhaupt nie ausgerissen worden? Genauso ist es mit dem Ausmerzen der Identifikation. Um deine Identifikation mit einem begrenzten Selbst mit der Wurzel auszureißen, musst du den Blick auf ihren Grund richten. Das heißt, du musst über deine normalen Bemühungen um die Lösung persönlicher Probleme hinausgehen. Sich mit persönlichen Fragen zu befassen ist wie das oberflächliche Unkrautjäten: Die Pflanzen schießen wenig später wieder aus dem Rasen. Für eine Weile hat sich die Mühe zwar gelohnt, aber die Wurzeln im Boden bleiben völlig unberührt davon. Spirituelle Erfahrungen zu machen ist etwas ganz anderes, als die Wurzeln dessen zu finden, wer du bist, auch wenn die Erfahrungen Probleme klären oder wunderbare Einsichten vermitteln. Wenn du nicht an die Wurzeln gehst, wächst einfach neues Unkraut nach. Deshalb fragen wir: »Was ist die Wurzel dieses Gebildes namens ›Ich‹?« Ihr müsst die Wurzel kennen, aus der es hervorgegangen ist, seine Entstehung. Es hat einen Augenblick gegeben, in dem jene unschuldige, wortlose Faszination und Liebe, die dein innerstes Wesen ausmacht, das unschuldige Fasziniertsein und die Liebe zu dem, was ist, aufgegeben und sich der Identifikation mit dem Inhalt des Denkens zugewandt hat. Genau da, im Übergang von der unschuldigen Faszination zur Identifikation, geht die Freiheit verloren. Das ist in ferner Vergangenheit, am Anbeginn der Zeit, geschehen, und das geschieht auch jetzt noch. In jedem Augenblick ist Unschuld da und das Fasziniertsein von allem, was ist, so wie es ist. Doch dann
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kommt das Denken ins Spiel und sagt: »Meins.« »Das ist meins. Das ist mein Gedanke. Das ist mein Problem.« Oder es sagt das genaue Gegenteil, nämlich dass es »dein« Gedanke oder »dein« Problem ist. Hier liegt der Ursprung, die Wurzel allen Leidens und aller Trennung. Dein wahres Selbst, deine wahre Natur zu sein ist etwas anderes, als es durch das Denken zu erfahren. Erkenne, dass du das Mysterium bist und dass du dieses Mysterium nicht wirklich von außen betrachten kannst, weil du nur vom Mysterium her schauen kannst. Es ist ein sehr waches, lebendiges und liebendes Mysterium, und es schaut in diesem Augenblick aus deinen Augen. Es hört in diesem Augenblick mit deinen Ohren. Statt das Mysterium zu ergründen, was unmöglich ist, empfehle ich dir, die Frage zu stellen: »Was ist letztlich hinter diesem Augenpaar?« Wende dich um und sieh, wer da schaut. Begegne dem reinen Mysterium, dem reinen Geist, und erwache zu dem, was du bist. Das Mysterium bleibt dir immer erhalten - solange du nicht darauf versessen bist, Konzepten zu folgen. Eine solche Versessenheit verwehrt dir den Zugang zum Mysterium. Dann hast du quasi ein Juwel in deiner Tasche, kannst aber die Hand nicht in die Tasche stecken, um es herauszuholen. Wenn du im tiefsten Innern weißt, dass du das Mysterium bist, das sich selbst erfährt, wird dir klar, dass das alles ist, was überhaupt je geschieht. Was immer du als Ich oder Du erlebst, als guten oder schlechten Tag, Schönheit oder Hässlichkeit, Mitgefühl oder Grausamkeit - alles ist und bleibt das Mysterium, das sich selbst erfährt und sich in Zeit und Form hinein erweitert. Nichts sonst geschieht.
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Wenn sich dein Verständnis hierfür nur auf den Kopf beschränkt, weißt du zwar darüber Bescheid, bist es jedoch nicht. Der Kopf sagt: »Aha, ich weiß schon, ich bin das Mysterium«, und dabei verhält sich dein Körper so, als wäre diese Botschaft nicht bei ihm angekommen. Er behauptet: »Ich bin nach wie vor jemand, und ich habe all diese beunruhigenden Gedanken, Bedürfnisse und Begierden.« Wenn wir es bewusst sind, ist die Botschaft unserem ganzen Wesen klar. Und wenn der ganze Körper die Botschaft versteht, ist es so, als würde einem Ballon die Luft entweichen. Wenn aus allen Widersprüchen, allem Aufruhr und allem Suchen nach diesem und nach jenem die Luft heraus ist, stellt sich die Erfahrung ein, dass der Körper eine Erweiterung des Mysteriums ist. Dann lässt sich der Körper leicht durch das Mysterium, durch den reinen Geist anrühren. Stell dir vor, dass du als Mysterium in einen Körper eingehst, einen anderen Körper als den, den du augenblicklich hast, vielleicht einen mit vielen inneren Widersprüchen - einen, der jede Menge gegensätzlicher Wünsche, Begierden und Anhaftungen hat, die miteinander im Streit liegen. Während du diesen anderen Körper »spürst«, siehst du, dass die Konzepte, an die er sich hält, unwahr sind. Stell dir vor, während du in diesen neuen Körper eingehst, dass er nichts von dem Mysterium weiß und deshalb an seiner Identität als Körper festhält. Jetzt beginnst du als das Mysterium den Körper zu beseelen und zu bewegen. Doch da der Körper glaubt, die Kontrolle behalten zu müssen, wehrt er sich ständig gegen dich. Jedes Mal, wenn du den Arm bewegen willst, verkrampft er sich; jedes Mal,
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wenn du den Mund aufmachst, stolpert er über Worte; jedes Mal, wenn du als Mysterium fasziniert sein willst, muss er erst all die körperlichen Widersprüche und Widerstände überwinden. Obwohl du die lautersten Absichten der Welt hast und so viel Energie durch dich hindurch und in den Körper strömt, kann der Körper mit dieser Liebe nur umgehen, indem er sie ins Gegenteil verkehrt. In Reaktion auf die Energie des Mysteriums verspannt er sich so, dass er sich kaum noch regen und kaum noch gehen, sprechen oder denken kann. Und nun stell dir einmal vor, du würdest aus diesem Körper heraus- und in einen anderen hineinschlüpfen, der auf zellularer Ebene absolut weiß, dass er das Mysterium ist. Er sieht zwar wie ein Körper aus und macht alles, was ein Körper tut, ist aber in Wirklichkeit gar kein Körper; er weiß, dass er eigentlich das Form gewordene Mysterium ist. Wenn das Mysterium in ihn einzieht, ist es folglich so, wie wenn Butter auf Butter trifft. »Ahhh. Schön. Jetzt kann ich mich endlich bewegen.« Und schon spürst du, wie es in solch einem Körper sein könnte, in einem Körper, der weiß, dass er das Mysterium ist. Ehe sich dieser Körper so vollkommen seinem wahren Wesen hingeben konnte, muss er zu der tiefen, totalen Einsicht gekommen sein, dass er das Mysterium ist, und all seine Selbstbilder müssen verschwunden sein. Wären noch Reste eines Selbstbildes vorhanden gewesen, hätte er sich verkrampft. Sobald er etwas als außerhalb seiner selbst gesehen oder beurteilt hätte, wäre er so steif geworden, als wären seine Gelenke eingerostet. Wenn er sich um das Morgen gesorgt hätte, wäre er steif geworden. Der
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Körper musste also, um bewusst aus dem Mysterium heraus zu leben, alle persönlichen Absichten und Pläne vollständig aufgeben. Der Körper-Geist kann allerdings nicht von seinen Absichten und Plänen lassen, nur weil er das für eine gute Idee hält, aber er kann ganz natürlich dazu kommen, wenn sein Sosein immer deutlicher erkennt, dass es das Einzige ist, was existiert. Es ist ein Bauchgefühl. Kannst du ein Gespür dafür entwickeln? Es gibt nichts, woran man sich halten kann. Keinen Standpunkt. Keine Trennung. Darum heißt es immer, dass die Wahrheit dich frei macht. Aber diese Wahrheit musst du mit dem ganzen Wesen verwirklichen. Du musst die Wahrheit bewusst sein. Deshalb nützt die Beschränkung auf oberflächliches Unkrautzupfen und Früchtesammeln nichts, bei dem ein Gedanke, eine illusorische Überzeugung durch eine andere, »bessere« ersetzt wird. Sobald du einen ichbezogenen Gedanken einbringst, kommt Sand ins Getriebe. Und wenn du versuchst, dich in einem solchen Körper zu bewegen, geht das nicht sehr gut. Es spielt keine Rolle, welche Idee du hereinlässt. Die eine oder andere erleichtert dir vielleicht sogar das Manövrieren, da manche Gedanken weniger kontraproduktiv sind als andere und manche Selbstbilder weniger konträr als andere. Wenn du dir ein positiveres Bild von dir selbst machst, ändert das zwar unter Umständen die Energie, aber es befreit nicht von Identifikationen; es bringt dich nicht zum Tanzen. Der Körper wird nur frei, indem er sein wahres Wesen erkennt. Dies gelingt nur, wenn nicht bloß die oberflächlichen Teile des Unkrauts ausgerissen werden, sondern auch die Wurzeln.
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Es bedeutet, aufzuwachen und herauszufinden, was du ewig bist, statt zu versuchen, mit deinen Neurosen fertig zu werden. Alles hat die natürliche Tendenz, sich selbst zu befreien. Das ist die frohe Botschaft. Was immer du festhältst, verhindert die absolute Erkenntnis. Wenn dir also die Selbstbefreiung nicht zu gelingen scheint, hältst du an etwas Statischem, an Ideen oder Erinnerungen, fest. Das kann ein großartiger Moment vor zwanzig Jahren oder ein unbedeutender Augenblick gestern gewesen sein. An einer Identität, einer Idee, einer Meinung, einem Urteil, an Schuldzuweisungen, Opfergefühlen oder Reue usw. festzuhalten ist ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstbefreiung. Du kannst diese Geschichten beenden, indem du sie ab- statt aufbaust. Wir denken, es wäre in Ordnung, etwas aufzubauen, während das Abbauen tabu ist. Die Gewohnheit, Erfahrungen durch Geschichten aufzubauen, die wir darüber erzählen, ist sehr tief eingewurzelt, als würde es uns etwas nützen, sie in einen besseren Kontext zu stellen. Bisweilen hilft es uns auch ein wenig, aber letztlich können wir nur dann aus dem Traum der Getrenntheit erwachen, wenn wir unsere falschen Ansichten vollkommen abbauen und loslassen. Das Unbekannte, unser wahres Wesen, besitzt die Fähigkeit, von selbst zu erwachen, sobald wir uns damit anfreunden, all die mentalen Strukturen fahrenzulassen, an denen wir festhalten. Meditiere einmal über Folgendes: Es gibt keinen wahren Glaubenssatz.
7 Das strahlende Herz Der Winter ist eine interessante Jahreszeit. Viele unserer heiligsten Tage fallen in den Winter. Er ist die Zeit spiritueller Feiertage wie Chanukka und Weihnachten; auch Buddhas Erleuchtungstag wird oft in dieser Jahreszeit gefeiert. Der Winter ist eine heilige Pforte, eine Gelegenheit zum Neubeginn. Die Bäume verlieren ihre Blätter, die Früchte fallen herab, die Äste werden kahl, und alles kehrt zu seiner essenziellen Urnatur zurück. Nicht nur in der Außenwelt, sondern auch in der Innenwelt wird alles abgeworfen. Darüber hinaus ist der Winter die Zeit der Stürme mit schweren Regen- und Schneefällen. Jedes Jahr werden die Berge der Sierra Nevada etwas niedriger. Ein Teil davon wird vom herabströmenden Wasser abgetragen, das zu seinem Ursprung, in die Seen und Meere, zurückkehrt. Trotz dieser Wetterverhältnisse ist der Winter die ruhigste Zeit des Jahres. Nichts ist mit der Ruhe nach einem Sturm zu vergleichen. Wenn du schon einmal das Privileg hattest, nach einem Schneesturm in den Bergen zu sein kein Lüftchen regt sich, nichts bewegt sich, der Schnee verschluckt jedes Geräusch, und überall herrscht eine tiefe Stille -, dann weißt du, wie mächtig diese Stille ist.
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Die Selbsterforschung ist im wahrsten Sinne eine spirituelle Winterzeit. Es geht weniger darum, nach der richtigen Antwort zu suchen, als alles abzuwerfen und zu sondieren, was überflüssig ist, zu sehen, ob du ohne es zurechtkommst und was du ohne deine »Blätter« bist. Bei Menschen sprechen wir nicht von Blättern, sondern von Ideen, Konzepten, Anhaftungen und Konditionierungen. Das alles sind Formen deiner Identität. Wäre es nicht schrecklich, wenn sich die Bäume draußen mit ihren Blättern identifizierten? Es wären doch sehr dürftige Dinger, an die sie sich da halten würden. Das Nachforschen ist eine Möglichkeit, einen spirituellen Winter im positivsten Sinne einzuleiten und alles bis hin zu seinen Wurzeln, bis zum Kern, von jeglichem Ballast zu befreien. Wenn wir bereitwillig alles abwerfen und wirklich in den inneren Winter eintreten, in dem alle Blätter bzw. Gedanken vom Geist abfallen, dann werden wir in das zurückfallen können, was wir waren, bevor unsere Eltern geboren wurden, wie es im Zen heißt. Das ist ein Fall in den essenziellen Ursprung des Seins. Ich glaube, es gibt nichts, was uns Menschen mehr widerstrebt als ein spiritueller Winter. Wenn die Menschen sich nicht so dagegen sträubten, ihre Identitäten abzustreifen, und sich der Erfahrung des Winters öffneten, wären wir alle längst erleuchtet. Wir brauchen nur den Winter in uns anbrechen zu lassen, schon setzt das Abwerfen oder besser gesagt: das Abfallen ganz von selbst ein. Wenn du sehr still und ruhig bist, geschieht das Abfallen ganz natürlich. Sobald du nicht mehr alles zu kontrollieren versuchst, merkst du, dass gewisse Denkmuster und Energien
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von dir abfallen wie Blätter oder wie Schneeflocken, ganz zart. Dazu dient die spirituelle Selbsterforschung. Wenn du fragst: »Wer bin ich?«, trittst du in den Raum des Nichtwissens ein, und diese Frage zieht all deine Überzeugungen und Annahmen in Zweifel. Die Erkenntnis der ewigen Wahrheit kostet dich all deine Illusionen. Natürlich haben Menschen Fähigkeiten, die Bäume nicht haben. Wenn Bäume wie Menschen wären, würdest du sehen können, wie sie ihre Äste ausstreckten, um alle Blätter wieder aufzusammeln und festzuhalten, sicherheitshalber. Wäre es nicht schmerzlich, den Bäumen dabei zuzusehen, wie sie an all ihren Blättern festhalten, als wären sie in einer existenziellen Krise? Auch wir neigen dazu, die Scherben unserer liebgewonnenen Theorien und Überzeugungen aufzusammeln und uns daran zu klammern, als hinge unser Leben daran. Wenn alles von dir abfällt, fühlt es sich mitunter so an, als fege ein starker Sturmwind die Blätter von einem Baum. Du hast vielleicht eine geheiligte Identität, und plötzlich kommt ein Windstoß - meist ein Mitmensch und fegt diese Identität fort. Eben hast du noch gedacht: »Ich bin so erleuchtet, es ist kaum auszuhalten, erstaunlich!« Und dann kommt der Wind und fegt diesen Gedanken fort. Ein Freund oder Kollege kommt vorbei und sagt: »Das sieht mir aber nicht nach Erleuchtung aus«, und du erkennst, dass auch das bloß wieder eine unnötige Identität war. Bück dich jetzt nicht, um sie wieder einzusammeln, sondern nimm die heilige Gelegenheit wahr. Dann erkennst du, während die neue Identität von dir abfällt, dass du sie gar nicht brauchst. Sie ist eine Illu-
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sion, einfach nur weiterer Ballast, den du über Bord werfen kannst. Indem du zum Kern, zur Wurzel deines Selbst zurückkehrst und alles durchschaust, was du zu sein meinst, können sogar deine geheiligtsten Identitäten von dir abfallen. Es liegt so viel Schönheit in der Entdeckung, dass wir ohne sie auskommen! Das schönste Geschenk des Winters ist letztlich etwas Unaussprechliches, das nur gelebt werden kann. Tatsächlich fleht der Winter dich an, loszulassen und dann vom Loslassen abzulassen. Lass diese natürliche, spontane Rückkehr zum Ursprung deines Daseins einfach geschehen. Kehre zu dem zurück, was nicht definiert werden kann. Jemand hat mit einem wunderbaren Gedicht über einen einsamen, astlosen Baumstamm im Winter am Rand eines Felsens sein Erwachen beschrieben. Ein Riss erscheint in der Rinde des Baums, und dann schält sich die Borke ab. Stell dir vor, du würdest einen Baumstamm spalten, um seinen Kern zu betrachten. Um sein Inneres sehen zu können, musst du ihn bis zum Kern spalten. Was findest du da? Du findest strahlende Leere, die volle, strahlende Leere des Winters. Stell dir etwas Strahlendes vor, das von nirgendwoher kommt, etwas, das einfach aufstrahlt und aus dem Nichts kommt, aus dem absoluten Nichts. Wenn du, nachdem du alles von dir abfallen hast lassen, zum Kern vordringst, platzt du von selber auf. Dort im Kern ist das spirituelle Herz. Du entdeckst nicht nur die Leere des strahlenden Geistes, sondern auch den Glanz und die Wärme des spirituellen Herzens. Wenn du wirk-
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lich zur Ruhe gekommen bist, kannst du den strahlenden, leeren Geist tatsächlich fühlen - nicht als Gedanken, sondern als die strahlende Leere deiner selbst, als das Nichts deiner selbst und aller anderen Selbste. Darüber hinaus erlebst du eine strahlende Herzensfülle - du erkennst, dass die Leere nicht bloß leere Leere ist, sondern Herzensfülle. Wenn die Leere erwacht, weißt du, dass sie auch das mitfühlende Herz ist. Die Wärme deines spirituellen Herzens wird lebendig. Manchmal scheint der Winter nur Kälte, Einsamkeit und Isolation zu bringen. Vielleicht bist du still geworden, zur Ruhe gekommen und empfindest tiefen Frieden, fragst dich aber trotzdem: »Was soll das Ganze? Wo bleibt das Leben?« Du kannst durchaus innerlich still und ruhig und in gewisser Weise sogar ziemlich leer geworden sein, aber dennoch weiterhin eine intakte Rinde haben, die kein bisschen aufgeplatzt ist. Dann hast du das, was man die Leere der Leere nennen könnte. Das ist die gut geschützte Form von Leere. Die wahre Leere ist die, bei der dir bewusst wird, dass sie erheblich mehr zu bieten hat als diese geschützte Leere. Wenn die Rinde abplatzt und du zum Kern vordringst, erkennst du, dass deine Vorstellungen von dir selbst und anderen falsch sind, dass sie reine Erfindung sind. Du siehst sie als etwas, das dir beigebracht wurde und das du dir »angezogen« hast wie Kleider, die zu dir sagen: »Das also bin ich.« Die strahlende Leere des Geistes ist eine sehr lebendige Leere. Und wenn das Herz als etwas empfunden wird, das tiefer geht als die Emotion, ohne emotionslos oder tot zu sein, scheint mitten im Winter die Sonne.
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Bist du jemals an einem frostigen Morgen draußen spazieren gegangen? Es war wirklich eiskalt, obwohl die Sonne schien, und du hast dich gefragt: »Wie kann es nur so kalt sein an einem so hellen, sonnigen Tag?« Wenn du die Sonne hier in dir selbst hast, ist es immer warm. Die wahre Leere ist strahlende Lebendigkeit. Manchmal werde ich gefragt: »Wenn mir klar wird, dass ich als getrennte Identität gar nicht wirklich existiere, wie ich dachte, wer wird dann dieses Leben leben?« Sobald du einmal mit dem strahlenden Herzen der Leere in Berührung gekommen bist, weißt du, wer oder was dein Leben lebt, es immer gelebt hat und es von diesem Augenblick an immer leben wird. Du erkennst, dass nicht du dieses Leben lebst; das strahlende Herz lebt dieses Leben - zusammen mit dem strahlenden, leeren Geist. Wenn du aufgibst, das zu sein, was du zu sein dachtest, und dir erlaubst, das zu sein, was du wirklich bist, dann lebt dieses strahlende Herz dein Leben. Dann wird das Nichts deine Wirklichkeit, und nichtduales Bewusstsein ist das, was du bist. Das jeder Person innewohnende wahre Wesen (das Einzige, worauf der Begriff Erleuchtung wirklich hindeutet) lässt sich hervorragend so erklären, dass beim vollen Erwachen der wahren Natur der Geist so offen ist, wie er je sein kann. Das heißt nicht, dass sich deine Gedanken in den Kosmos ausdehnen, sondern dass dein Geist offen bis zur Grenzenlosigkeit ist. Du merkst, dass sich dein Geist immer, wenn du einen Gedanken fasst und ihm glaubst, auf diesen Gedanken beschränkt. Der natürliche Geist aber ist ein offener Geist, und das natürliche Herz ist weit, komme, was mag. Das ist der Schock, den die Erkenntnis
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des natürlichen Zustands auslöst - dass Geist und Herz von Natur aus offen sind und sich unter keinen Umständen und zu keiner Zeit eingrenzen lassen. Und zugleich gehst du selbst über den offenen Geist und das weite Herz hinaus. Alles ist in dem enthalten, was du bist. Das konditionierte Denken pfuscht ständig Gott ins Handwerk, indem es darüber sinniert, was die Leute tun und warum sie es tun. Dabei ist das gar nicht deine Sache und geht dich nichts an. Du kannst einfach anfangen, mit dieser natürlichen Offenheit für alles, was ist, durchs Leben zu gehen, und zwar unter allen Umständen und zu allen Zeiten. Das ist das, was das wahre Selbst ohnehin immer getan hat. Wenn dein wahres Wesen verwirklicht ist, ist es nicht etwa so, als hättest du eine erstaunliche Erfahrung gemacht, die dich zu dem Ausruf bewegt: »Okay, Welt, es kann losgehen.« Die tiefste Erfahrung ist die Erkenntnis, dass dieser offene, strahlende, leere Geist und dieses weite, strahlende Herz immer offen waren. Sie brauchen sich nicht zu öffnen und werden sich auch nie öffnen; die Offenheit war immer schon da. Du siehst nicht länger zweierlei, du siehst in allem und jedem das Eine. Die Menschen sind schnell verletzt und nehmen lieber eine Verteidigungshaltung ein. Aber Verteidigungswälle um sich herum aufzubauen ist so, als würde man in die sternenklare Nacht hinausgehen und versuchen, den unendlichen Raum in ein Mäntelchen zu wickeln. Die unendliche Weite fliegt sofort durch Ärmel und Kapuze davon. Du bist im unendlichen Raum mit diesem albernen Mäntelchen, und nun schützt du dich selbst damit in der Hoffnung, es eines Tages vielleicht aufknöpfen und die
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spirituelle Befreiung erlangen zu können. Das wird nicht gehen. Wahrscheinlicher ist, dass du eines Tages aufhörst, dich mit dem albernen Mäntelchen zu identifizieren. Befreie dich von allen eingrenzenden Identitäten, und umarme die Unendlichkeit. Dass Offenheit im tiefsten Innern einkehren kann, wird durch die Erkenntnis erleichtert, dass wir die Offenheit bereits sind, der wir uns öffnen. Wir identifizieren uns weiterhin mit unserem Menschsein und denken: »O Gott, ich öffne mich da etwas, das zu groß für mich ist.« Wenn wir wirklich loslassen und in die offene Stille fallen, merken wir, dass sie endlos ist. Sie ist ewig und bestand schon vor Anbeginn der Zeit, und darin findet unser Menschsein den Aufruf, sich zu öffnen. Das liegt daran, dass wir uns keinem fremden, feindlichen, von uns verschiedenen Mysterium öffnen, sondern einem Mysterium, das wir immer schon waren. Kaum berührst du die Heiligkeit des Winters in deinem Innern - in der alles zu seinem essenziellen Wesen zurückkehrt -, fällst du vom Rand des Geistes in die Offenheit. Dies erfährst du, sobald du dich dem Winter einfach überlässt, während er dich öffnet, statt dich gegen ihn zu sträuben. Es kann eine Offenbarung sein, eine ungeheure Befreiung, einfach umzukehren, zurückzukehren, heimzukehren. Du brauchst Mut dazu. Du wirst dich fragen: »Wer werde ich sein? Wird alles seine Ordnung haben?« Kehre einfach zum Wesenskern zurück. Wenn du den Mut findest, dich auf die Rückkehr zum Wesenskern einzulassen, kehrst du am Ende zur Wurzel deines eigenen Selbst zurück. Das ist die Fülle, die der Winter zu bieten hat.
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Es ist so, als kehrtest du bis zum Samen zurück und würdest erst dort erkennen, dass er die ganze Wahrheit enthält. Wenn du den Kern deines eigenen Wesens erreichst, wird dir bewusst, dass der Same, der leer zu sein schien, als du ihn geöffnet hast, mit den Möglichkeiten für alles gefüllt ist, was ist. Bei einem Baum ist alles, was er je werden wird, bereits im Samen angelegt. Nur in der vollen Umkehr liegt Hoffnung auf einen vollen Frühling. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Idealen, Zielen oder Möglichkeiten. Offenheit ist im Grunde das, was jeder im Innersten ist. Warte nicht länger, lass alles los, und dein wahres Wesen wird sich realisieren. Lebe es, sobald es realisiert ist. Wird es gelebt, geschieht das Leben spontan. Dann kannst du endlich einmal in deinem Leben aufrichtig und ehrlich sagen, dass es ein unglaubliches Mysterium ist. Unergründlich. Du kannst es nicht wissen. Du kannst es nur sein, bewusst oder unbewusst. Wobei es erheblich leichter ist, es bewusst zu sein statt unbewusst. Erkenne dich selbst und sei frei.
8 Stille Die Wellen des Denkens verlangen so viel von der Stille. Dabei gibt sie kein Widerwort, sie antwortet und streitet nicht. Sie ist die heimliche Urheberin jedes Gedankens, jedes Gefühls, jedes Augenblicks. Stille. Sie spricht nur ein einziges Wort. Und dieses Wort ist nichts als das Dasein. Kein Name, den du ihr gibst, berührt sie, fängt sie ein. Kein Verstand kann sie erfassen. Das Denken wirft sich gegen die Stille, will eingelassen werden. Doch nichts Erdachtes kann hinein in ihre leuchtende Dunkelheit, ihr reines, lächelndes Nichtsein.
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Das Denken stürzt sich auf heilige Fragen. Aber die Stille bleibt unbewegt von dem Wüten. Sie bittet um nichts. Nichts. Aber das gibst du ihr nicht, denn es ist der letzte Heller in deiner Tasche. Und du würdest ihr lieber mit Forderungen kommen als mit deinen heiligen, leeren Händen.
* * * Alles jubelt zur Feier des Mysteriums, doch Nichts allein tritt ein in die heilige Quelle, den stillen Urgrund. Nichts allein wird angerührt und heilig, verwirklicht seine eigene Göttlichkeit, verwirklicht, was es ist, ohne die Hilfe eines einzigen Gedankens. Die Stille ist mein Geheimnis. Unverhüllt. Unverhüllt. Wahre Stille hat ungeheuer viel mit unserem Bewusstseinszustand zu tun. Ich glaube, jeder kennt das, was ich »künstlich hergestellte Stille« nenne, eine tote Stille. Wer schon einmal in einer Meditationsgruppe war, hat wahr-
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scheinlich auch schon die künstlich hergestellte Stille erlebt. Es ist die Art von Stille, die durch Manipulation des Denkens entsteht. Das ist eine falsche Stille, denn sie ist künstlich durch Kontrolle hergestellt. Wirkliche Stille tritt nicht durch Manipulation oder Kontrolle deiner selbst oder deiner Erfahrung ein. Hör auf mit der Kontrolle der Gedanken! Hier geht es um spirituelle Erleuchtung und Freiheit. Wir sind umgeben von »grobem« Bewusstsein. Diese Art von Bewusstsein ist schwer, dick und dicht. Wenn du das Fernsehen einschaltest, erlebst du überwiegend grobes Bewusstsein. Die meisten Filme, die du dir ansiehst, zeugen von grobem Bewusstsein. Grob, das heißt, schlafend im Traumzustand zu sein. In diesem groben Bewusstseinszustand wird Stille als Gegenstand angesehen und Ruhe als etwas, das dir widerfahren kann. Aber das ist keine echte Stille. Echte Stille ist dein wahres Wesen. Die Behauptung »Ich bin still« ist im Grunde lächerlich. Bei näherem Hinschauen erkennst du, dass du nicht still, sondern dass du Stille bist. Der Wortbedeutung nach scheint nur ein minimaler Unterschied zwischen der Erfahrung »Ich bin still« und »Ich bin Stille« zu bestehen, dabei ist es tatsächlich ein Unterschied wie zwischen Knechtschaft und Freiheit, Himmel und Hölle. Hör auf, dir Stille als Abwesenheit von Lärm zu denken - von mentalem Lärm, emotionalem Lärm oder dem Lärm deiner Umgebung. Solange du Stille als etwas Gegenständliches betrachtest, etwas außerhalb deiner selbst, das aber wie eine emotionale Erfahrung über dich kommen kann, jagst du deiner eigenen projizierten Vorstellung
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hinterher. Nach Stille zu suchen ist so, als würdest du mit einem Motorboot auf einem See herumsausen und nach einem ruhigen Ort Ausschau halten, wo alles still ist; du sitzt in deinem Boot, jagst - brumm! brumm! - auf dem See herum und fürchtest immer mehr, du könntest diesen Ort nie finden. Wie lange du auch auf dem See herum-fährst, nie wirst du die Stille finden. Dabei brauchst du eigentlich nur den Motor abzustellen und den Zünd-schlüssel abzuziehen, und schon bist du da. Dann ist es sehr ruhig, sehr still. Wenn du offen und empfänglich dafür bist, kehrst du allmählich zu deinem natürlichen Zustand zurück, zur vollkommenen Ruhe. Empfänglich zu sein ist das Gleiche, wie den Motor abzustellen. Es ist ein natürlicher Ruhezustand. Ich hatte das Glück, diese wundervolle Entdeckung vor vielen Jahren machen zu dürfen, nicht, weil ich so klug gewesen wäre, sondern weil ich vollkommen versagt hatte. Zen-Übende meditieren sehr viel und folgen dabei ihrem Atem. Man erscheint dabei sehr konzentriert, aber oft glaubt man, seinem Atem zu folgen, und merkt auf einmal, dass man seinen Gedanken in irgendeine Geschichte hinein gefolgt ist. Es ist so ähnlich, als wollte man einen Hund erziehen, der sich dagegen sperrt. Manche Leute kommen anscheinend gut mit dieser Übung zurecht. Sie sammeln sich, halten ihre Konzentration aufrecht und werden still. Ich hingegen habe mein Denken nie so zügeln können und kam deshalb nicht gut mit dieser Übung voran. Nachdem ich immer wieder gescheitert war, hörte ich meine Lehrerin sagen: »Du musst deinen eigenen Weg finden.« Statt meine Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu
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konzentrieren, fand ich heraus, dass es mein Weg war, einfach nur präsent zu sein, das heißt, total offen zu werden. Es ist eher ein Horchen als ein Konzentrieren. Beim »Horchen« stieß ich auf einen zutiefst natürlichen Zustand, tatsächlich den einzigen Zustand, der nicht künstlich hergestellt wird. In diesem Zustand, der dem Horchen ähnelt, erkannte ich allmählich, dass jede Anstrengung, etwas herbeizuführen, einen anderen Zustand erzeugte. Sowie ich mich anstrengte, entstand wie von ungefähr ein neuer Zustand. Ich konnte schöne, schreckliche und konzentrierte Zustände hervorrufen, alles Mögliche, aber es gab nur einen Zustand, der absolut natürlich und mühelos war. In diesem Zustand fand ich Zugang zum tiefsten Selbst, zur Freiheit. Dieser Zustand muss seiner Natur nach etwas sein, das keine Mühe macht. Er muss etwas sein, das keine Pflege erfordert. Ein stiller Geist, der durch Konzentration erreicht worden ist, ist im Grunde ein stumpfer und kein freier Geist. Er mag ruhig wirken und Wohlgefühle auslösen, weil er ruhig ist, aber er ist nicht frei, und auch im innersten Wesen fühlst du dich nicht frei. Das ist die Art von Frieden, die sich einstellt, wenn du gelernt hast, dich beim Meditieren in Konzentration zu üben, und dann sagst du zu deinem Lehrer: »Ja, ich habe Frieden gefunden, aber sobald ich aufhöre zu meditieren, ist alles für die Katz.« Jetzt weiß der Lehrer genau, wie deine Meditation aussieht - dass du dich und deine Erfahrungen kontrolliert hast. Wenn du aufstehst und dich deinem Tageslauf widmest, kannst du deine Konzentration nicht aufrechterhalten, sondern musst auf andere Dinge achten, und schon
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verfliegt dein innerer Frieden, weil er künstlich herbeigeführt wurde. Die Übung der spirituellen Selbsterforschung besteht zur Hälfte darin, dich sofort zur Stille zu bringen. Die Frage »Wer bin ich?« führt dich, wenn du ehrlich bist, sofort zur Stille zurück. Das Gehirn weiß keine Antwort darauf, sodass plötzlich Stille eintritt. Die Frage soll dich in den Zustand einer Stille versetzen, die nicht künstlich herbeigeführt wurde, einen Zustand, in dem das Denken und die Suche nach der richtigen emotionalen Erfahrung versagen. Fragst du: »Wer bin ich?« oder: »Was ist die Wahrheit?«, wirst du feststellen, dass diese Nachforschungen dich sofort zur Stille zurückführen. Wenn du dich aber gegen die Stille sträubst - die meisten Menschen haben eine starke Aversion gegen Stille - und trotzdem zum Zustand der Stille zurückkehrst, ist es genauso, als würden Wassertropfen in heißes Öl fallen: Die Gedanken spritzen auf und suchen nach etwas anderem, nach einer intellektuellen Antwort oder einer Vorstellung. Die Art von Stille, die sich ganz von selbst spontan und unkontrolliert einstellt, ist eine volle, weite Herzensstille. Kontrollierte Stille dagegen ist stumpf und eng. Wenn die Stille nicht kontrolliert wird, fühlst du dich sehr offen, du wirst empfänglich, und dein Verstand tritt in den Hintergrund. Du kehrst ganz natürlich zu deinem wahren Wesen zurück. Dein wahres Wesen ist nicht still; es ist Stille. Es könnte auch Nichts und Niemand genannt werden. Sobald du zur wahren Stille findest, hast du die Ruhe transzendiert. Eine Stille, von der du denkst, dass sie das Gegenteil von
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Lärm ist, ist nicht die wahre Stille. Wenn du in der wahren Stille bist, wird dir beim Dröhnen eines Presslufthammers bewusst, dass das die Stille ist - sie hat nur irgendeine Form angenommen. Wahre Stille ist absolut allumfassend. Sie übersteigt alle dualistischen Vorstellungen davon, was Stille ist. Wenn du die Stille findest, merkst du, dass sie nicht von Regungen und Bewegungen getrennt ist. Wenn du jedoch nach der Meditation aufstehst und beim Gedanken an den vor dir liegenden Tag denkst: »Warum kann ich mir bloß diese wunderbare Stille nicht erhalten?«, liegt es daran, dass du die künstliche Stille erlebt hast und nicht die natürliche, unkontrollierte Stille. Sobald du dich wieder in die wahre Stille fallen lässt, ist es die Stille selbst, die sich bewegt, während dein Körper aufsteht. Bei der Rückkehr zu deinem wahren Wesen wünschst du dir nicht, dass in der Stille bestimmte Dinge passieren. Oft geht es den Leuten so, dass sie im Stillsein darauf warten, dass etwas geschieht, sodass sie am Rand verharren und im Flachen herumplanschen, statt einfach einzutauchen. Sobald du nicht mehr darauf wartest, dass irgendetwas geschieht, sinkst du ganz von selbst immer tiefer in die Quelle deines eigenen Seins ein. Dort ist es sehr still, und dann, nur dann, beginnst du eine Präsenz zu fühlen. In der Stille ist eine spürbare Präsenz. Darum habe ich gesagt, dass diese Stille keineswegs tot ist. Du kannst Lebendigkeit spüren, eine Präsenz innerhalb und außerhalb deines Körpers. Alles ist davon durchdrungen. Wenn du danach suchst, suchst du nur eine grobe, schwere Präsenz, die dich umwirft. Aber du findest sie nicht. Die wahre Stille ist ein Leuchten. Du hast das Gefühl, selbst zu leuch-
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ten. Eine Wachheit ist da, ein tiefes Gefühl von Lebendigkeit. Wenn du still wirst, überlässt du dich entspannt dem Augenblick und deinem wahren Wesen. Sogleich wird dir klar, dass du keinen Teil deiner Erfahrung vermeiden kannst. Wenn du Stille suchst, um irgendein Gefühl zu vermeiden, wirst du die echte Stille nie erfahren. Die Nacktheit der Stille oder Präsenz macht dich so wehrlos, dass du keine Erfahrung, kein Ereignis, nichts ausklammern kannst. Durch die Art von Stille, die dich betäubt, kannst du vielleicht manches verdrängen, aber in der Stille deines eigenen wahren Wesens kannst du auch nicht ein Quäntchen von deinen Erfahrungen auslassen. Alles ist genau hier und wartet auf dich. Es werden viele Geschichten und spirituelle Märchen gesponnen und verbreitet, in denen die Rückkehr zum wahren Wesen als Kampf dargestellt wird, als sei etwas an dir, das nicht zu sich selbst zurückkehren will. Egal, ob das, was angeblich nicht still sein will, Ego, Ich oder Denken genannt wird, immer werden spirituelle Menschen durch dieses Märchen zu dem Glauben verleitet, dass etwas an ihnen ist, das nicht erwachen will, und dass sie sich irgendwie durchkämpfen müssen. Doch wenn du wirklich still bist, siehst du, dass das vollkommener Unsinn ist. Du erkennst, dass ein solcher Gedanke aus dem leeren Geist aufsteigt und dich nur dann in einen Kampf verwickelt, wenn du ihn für wahr hältst. Und du siehst klar, dass er überhaupt nicht der Wahrheit entspricht: Er ist lediglich eine spontan aufsteigende Geistesregung. Er wird nur wahr, wenn du an ihn glaubst und ihn in eine Geschichte
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vom heldenhaften spirituellen Sucher und seinem Kampf einbaust. Sobald du dich an diesem Kampf beteiligst, hast du ihn schon verloren. Aus der Stille heraus siehst du, dass jede Geistesregung nur eine Gedankenbewegung ist, die keine Realität besitzt und nur dann Wirklichkeit wird, wenn du daran glaubst. Gedanken fliegen einfach durchs Bewusstsein. Sie haben keine Macht. Nichts ist real, bis du danach greifst, es erfasst und mit der Kraft des Glaubens erfüllst. Du kannst nur in die Stille eintreten, wenn du es auf ihre Weise tust. Du kannst nicht mit etwas eintreten, sondern nur mit nichts. Du darfst nicht jemand sein, sondern nur niemand. Dann ist der Eintritt leicht. Dieses Nichts ist allerdings der höchste Preis, den wir je bezahlen. Es ist unser heiligster Besitz. Wir geben gerne alles hin: Überzeugungen, Herz, Körper, Geist und Seele. Das Nichts aber geben wir zuletzt hin. Wir halten am Nichts fest, weil es unser heiligster Besitz ist, und das wissen wir irgendwie im tiefsten Innern. Nur das Nichts tritt in die Stille ein; es ist das Einzige, was hineinkommt. Alles, was wir sonst noch sind, klopft bloß an die nichtexistente Tür. Sobald du etwas von der Stille willst, landest du wieder draußen. Stille offenbart sich nur sich selbst. Nur wenn wir als Nichts in sie eintreten und als Nichts in ihr bleiben, enthüllt uns die Stille ihre Geheimnis. Das Geheimnis ist sie selbst. Darum sage ich, dass alle Worte, alle Bücher, alle Lehren und alle Lehrer dich nur an die Türschwelle führen und dich höchstens noch locken können, einzutreten. Einmal dort, spürst du die Präsenz der Stille sehr stark. Wenn das geschieht, steigt spontan etwas Kraftvolles in dir
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auf und ist bereit einzutreten, ohne jemand zu sein. Das ist die heilige Einladung. Drinnen merkst du, dass die Stille der letzte und höchste Lehrer und die letzte und höchste Lehre ist. Sie ist der einzige Lehrer, der nicht mit dir spricht. Die Stille ist der einzige Lehrer und die einzige Lehre, die zu allen Zeiten unser Menschsein auf die Knie zwingt. Bei allen anderen Lehrern und Lehren können wir noch aufstehen. Wir können denken: »Oh, ich habe gehört, Adya hat bla-bla-bla gesagt, klingt gut«, und schon erheben wir uns vom Boden der Hingabe. Wir laufen vor der heiligsten, schönsten Demut davon. Die Stille ist der höchste und beste Lehrer, weil sie uns unaufhörlich dazu einlädt, das zu tun, was unser Menschenherz wahrhaft begehrt, nämlich immer auf dem Boden zu knien und immer von Hingabe zur Wahrheit erfüllt zu sein. Die Stille ist die einzige Lehre und der einzige Lehrer, der immer da ist. In jeder Minute, die du wach bist, jeder Minute, die du lebendig bist, jeder Minute, die du atmest, ist sie da.
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Wenn Bewusstsein bzw. Geist beschließt, sich als Objekt zu manifestieren - als Baum, Stein, Eichhörnchen oder Auto -, ist das weiter kein Problem. Doch wenn es sich manifestiert und dann versucht, sich seiner selbst bewusst zu werden, wird die Sache anscheinend schwierig. Die Rede ist vom Menschenleben, in dem sich Bewusstsein oder Geist als Mensch verkörpert. Menschen sind sich von Natur aus ihrer selbst bewusst, nur bezahlen sie dafür, dass ihr Bewusstsein seiner selbst gewahr wird, fast immer mit dem Verlust ihrer wahren Identität. Das Bewusstsein manifestiert sich, was so lange keine Schwierigkeiten bereitet, bis es sich seiner selbst bewusst werden will. Im Laufe dieser Bewusstwerdung macht es fast immer eine Art Fehler. Es ist eigentlich kein richtiger Fehler, eher eine Art Aussetzer in der Entwicklungskurve der Bewusstwerdung. An diesem Aussetzer verliert sich das Bewusstsein in dem, was es geschaffen hat, und identifiziert sich mit seiner Schöpfung. Dieser Aussetzer wird das Menschsein genannt. Ein selbstvergessenes Bewusstsein kann alle möglichen Fehler machen. Der erste Fehler, den es fast immer begeht, ist der, sich mit dem zu identifizieren, was es jeweils er-
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schaffen hat - in diesem Fall mit einem Menschen. Darin ist es wie eine Welle, die vergessen hat, dass sie zum Meer gehört. Es vergisst seinen Ursprung. Statt also das weite Meer zu sein, leidet es unter der üblen Täuschung, nur eine Welle an der Oberfläche des Meeres zu sein. Und so hat es eine sehr oberflächliche Selbsterfahrung. Natürlich ist es sich immer noch seiner selbst bewusst, aber es ist sich etwas bewusst, das unglaublich oberflächlich und begrenzt ist. Wenn alles, womit es sich identifiziert, bloß eine kleine Welle ist, ist jede Menge Verwirrung vorprogrammiert, da diese Identität falsch ist. Alles, was nicht der Wahrheit entspricht, verursacht natürlich Leid, und der einzige Grund für Leiden oder Konflikte ist Unwissenheit. Zu Anfang wird die falsche Identität in aller Unschuld angenommen. So unglaublich harmlos fängt es an, aber im weiteren Verlauf stellen sich, wie so oft, Folgen ein, die erheblich schwerwiegender sind. Das ist ein natürlicher Aspekt des Menschseins. Es scheint Teil der evolutionären Entwicklung zu sein, die Bewusstsein im Menschen durchläuft. Wenn du zum Beispiel an deine Entwicklung als Mensch denkst, weißt du, dass du geboren bist, Kindheit und Jugend durchlebt hast und hoffentlich, nachdem du diese unbeschadet hinter dich gebracht hast, was ja keine Selbstverständlichkeit ist, erwachsen geworden bist. Nun könntest du zurückschauen und sagen: »Na ja, mit zehn Jahren war ich wirklich dumm, und noch dümmer war ich mit 17. Aber irgendwie und irgendwann zwischen 25 und 45 bin ich anscheinend klüger geworden.« Du könntest rückblickend alle früheren Entwicklungsphasen als Fehler betrachten, als etwas, das
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nicht hätte sein dürfen, aber das hieße, die Fakten falsch auszulegen. Sie waren ja nur ein natürlicher Teil deines Heranwachsens. Im spirituellen Sinne ist das Menschsein ein natürlicher Bestandteil der Evolution von Bewusstsein, das versucht, mithilfe einer Form bewusst zu werden. Schließlich hält es sich selber für die Form statt für den Urheber der Form. Wenn es sich zu dieser Fehlinterpretation versteigt, leidet es unter der Riesenillusion der Trennung. Daher rührt das Gefühl der Isolation, das die meisten Menschen im Herzen tragen, egal, wie viele andere Menschen sie um sich haben, und ungeachtet dessen, wie sehr sie geliebt werden. Sie müssen sich einsam fühlen, denn sie sind ganz sicher, dass sie von anderen getrennt sind und sich von ihnen unterscheiden. Zum Glück ist das nur ein winziger Aussetzer in der Bewusstseinsentwicklung. Das Menschsein dauert zwar schon Äonen an, aber im Grunde ist es nur ein winziger Aussetzer. Wenn jemand aus diesem Aussetzer erwacht, wenn sich also Bewusstsein in der Form eines Menschen entfaltet, entwickelt es sich so weit, dass die betreffende Person über diesen Aussetzer, diese Trennung hinausreift wie ein Kind, das zum Erwachsenen heranreift. Eine solche Person nennen wir einen Menschen, der Befreiung erlangt hat. Befreiung wovon? Das Bewusstsein wird von seinem Fehler befreit, von der falschen Identifikation und dem Gefühl der Getrenntheit. Das Bewusstsein, der Geist, ist ziemlich klug und weise. Es hat als Mensch viele Mittel zur Verfügung. In Lebensformen ohne bewusstes Ge-
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wahrsein kann sich die Evolution nicht beschleunigen oder verlangsamen; sie schreitet einfach in der vorgegebenen Geschwindigkeit voran. Wenn sich Bewusstsein hingegen in einem Menschen seiner selbst bewusst wird, setzt es eine sehr interessante Dynamik in Gang, die keiner anderen Lebensform auf Erden möglich ist. Die Dynamik entsteht dadurch, dass das Bewusstsein, sobald es aus der Illusion, ein getrenntes Wesen zu sein, erwacht ist, mithilfe der Form zu einer noch viel umfassenderen Erkenntnis kommen kann. Wenn es den Fakt einsieht, dass es nicht die Welle, sondern der ganze Ozean des Seins ist, kann es die Welle dazu benutzen, diese Erkenntnis weiterzutragen - um andere Wellen dazu anzuregen, über die Möglichkeit des Erwachens zu meditieren. Bei Menschen kann sich diese Entwicklung aufgrund der Verschwörung, in die das Bewusstsein eintritt, unglaublich beschleunigen. Sobald es in einer Form erwacht, braucht es nicht erst den natürlichen Reifeprozess aller anderen Formen abzuwarten. Wenn diese Form nämlich eine Beziehung mit einer anderen Form eingeht, tritt das wache Bewusstsein mit dem schlafenden Bewusstsein in Beziehung. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das schlafende Bewusstsein den Riesensprung tut und erwacht. Das ist das Spiel des Bewusstseins im Satsang. Das ist alles, was wir hier machen.
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Schüler: Seit dem letzten Retreat bin ich ganz schön gebeutelt worden. Ich muss mich mit schmerzhaften Emotionen auseinandersetzen, die ich jahrelang verdrängt habe, sehr unangenehmen Emotionen. Ich habe sie beobachtet, aus ihnen gelernt und sie verbrannt. Das war kein Vergnügen. Adyashanti: So hattest du dir das nicht vorgestellt, stimmt's? Schüler: Stimmt. Ich bin deinem Rat gefolgt; ich habe den Teil von mir gefunden, der absolut sicher weiß, dass alles in Ordnung ist. Und ich bin hundertprozentig in dieses Vertrauen eingetaucht. Ich habe eine ungeheure Kraft gespürt und das Gefühl gehabt, dass wirklich alles okay ist, immer gemischt mit diesen schrecklichen Emotionen, der Wut und der Trauer, die nach wie vor in mir aufsteigen. Aber jetzt, wo ich in besserer Verfassung bin, ist mir aufgefallen, dass ich irgendwie hin und her schwanke. Es ist wie in der Pubertät, wie bei einem Jungen im Stimmbruch - mal so und mal so. Früher brauchte ich keine Uhr. Es spielte keine Rolle, ob ich pünktlich war oder zu spät kam; ich kam immer genau im richtigen Moment an, und alles war perfekt. Ergab sich eine bestimmte Situation, wusste ich immer sofort, warum sie sich ergab, was ich in dieser Situation tun musste und wie sie sich für alle Beteiligten am vorteilhaftesten gestalten ließ; ich konnte das Ganze sehen. Jetzt fehlt mir diese Stimmigkeit, obwohl die Energie, die positiven Gefühle und das Vertrauen nach wie vor da sind. Wenn du schon einmal in besserer Verfas-
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sung warst und es dann eine Weile abwärts geht mit dir, ist das einfach sehr schmerzhaft, weil du inzwischen weißt, wie es sein kann, und weit davon entfernt bist. Gibt es einen Rat für Heranwachsende, die die schwierige Entwicklungsphase der Verkörperung durchmachen? Adyashanti: Zuallererst muss man ein klares Verständnis vom Kontext haben. Wir kommen zu einer tiefen, durchgreifenden Erkenntnis, die wundervoll und sehr befreiend ist, nur glauben wir zu einem späteren Zeitpunkt oft irrtümlich, wir hätten etwas verloren, wenn sich keine Stimmigkeit oder eine andere wunderbare Erfahrung einstellt. Tatsächlich handelt es sich dabei nur um eine bestimmte Interpretation, die selten untersucht wird. Was faktisch geschieht, gleicht der menschlichen Erfahrung beim Durchlaufen verschiedener Entwicklungsstufen. Erinnerst du dich noch an deinen Eintritt in die Pubertät, als du zwischen 12 und 13 Jahre alt und noch nicht erwachsen, aber den Kinderschuhen entwachsen warst? Das, was dir in der Kindheit so herrlich erschien, galt dir nichts mehr. Die Dinge, die dir einmal Spaß gemacht hatten, machten dir kein Vergnügen mehr, und neue Möglichkeiten, das Leben zu genießen, sahst du nicht. Es war schrecklich, und du machtest Fehler, wenn man es überhaupt so nennen kann. Rückblickend hast du ein klares Bild von jener Zeit. Du hast dich nicht von der Kindheit abgewendet, sondern bist ihr entwachsen. Während du ihr entwachsen bist, hast du sie hinter dir gelassen. Es war unangenehm,
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aber dadurch hast du leben gelernt. Dennoch warst du noch kein richtiger Jugendlicher. Das Gleiche passiert beim Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter. Auch das kann unangenehm sein, aber das ist kein Fehler. In der Rückschau erkennst du darin Entwicklungsphasen. Du entwächst der Kindheit und Jugend, statt dich davon abzuwenden. Spirituell gelangst du vielleicht irgendwohin, wo es wundervoll ist, aber wenn dort nicht Ganzheit und absolute Wahrheit herrschen, wirst du darüber hinauswachsen. Es ist kein schönes Gefühl, diesen Ort hinter dir zu lassen, weil du dich dort wohlfühlst und sich dir der neue Ort noch nicht offenbart hat. Das legt man normalerweise fälschlich so aus, als hätte man sich von der früheren Erkenntnis, so wunderbar sie auch war, abgewendet, statt einzusehen, dass man an ihre Grenzen gekommen ist. Während du reifer wirst, musst du frühere Stadien hinter dir lassen. Und der Abschied wird dir viel schwerer fallen, wenn du sagst, dass du dich davon abgewendet hast, statt festzustellen, dass du reifer geworden und diesen Stadien entwachsen bist. Das sind völlig unterschiedliche Interpretationen. Bei der einen versuchst du das festzuhalten oder wiederzuerlangen, was vorher war. Bei der anderen schaust du über die Schulter zurück und verabschiedest dich von einem schönen Erlebnis, weil du weißt, dass etwas Reiferes vor dir liegt. Diese Erklärung könnte dir eine Hilfe sein, weil du siehst, wie wichtig die Interpretation deiner Erfahrung ist, und erkennst, dass dein Denken zu Interpretationen
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neigt, die oft nicht korrekt sind. Eine falsche Interpretation aber erzeugt mehr Leid und vergrößert deine Schwierigkeiten in unnötiger und unverhältnismäßiger Weise. Wenn du das weißt, hörst du auf, dem nachzuhängen, was du einmal hattest, und interessierst dich lieber für das Unbekannte, auf das du dich zubewegst. Du richtest deine gesammelte Aufmerksamkeit nach vorn. Das ist das Beste, was du tun kannst, anders geht es nicht. Schüler: Ich glaube, das habe ich gemacht, bis ich irgendwo ankam, wo ich so viele negative Emotionen vor mir sah, dass es reichte. Es ist sehr schwer, vorwärts zu schauen, wenn man viele Monate lang so etwas durchmacht. Adyashanti: Aber das ist kein Vorwärtschauen. Das ist nicht das, wovon ich rede. Bei den meisten Menschen ist es so, dass sie, sobald sich in ihrer Erfahrung etwas Negatives zeigt, ihre gesammelte Aufmerksamkeit darauf richten wie einen Laserstrahl. Nehmen wir einmal an, du bist deprimiert. Wie die meisten Leute konzentrierst du dich nun ausschließlich auf diese Niedergeschlagenheit, und plötzlich wird aus etwas, das zuvor Teil einer umfassenden Erfahrung vieler, vieler Dinge war, ein Problem, weil du dich darauf konzentrierst und es das einzig Bedeutsame in deinem Erleben zu sein scheint, obwohl es nur eine einzige Erfahrung unter vielen ist. Schüler: Mir ist klar, dass die negativen Gefühle nur ein sehr kleiner Aspekt meiner selbst sind, aber es steht auch fest, dass sie mir vorher nicht bewusst waren. Sie
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stiegen auf, wurden analysiert, bevor sie mir ganz ins Bewusstsein drangen, und verschwanden in der Versenkung. Sie waren aber nicht weg. Sie waren verdrängt, aber noch da. Dann wurde mein Bewusstsein auf sie aufmerksam, bevor sie in der Versenkung verschwanden. Es war eine neue Lektion für mich, dass ich diese Dinge erkennen konnte, bevor sie verurteilt und ins Unbewusste abgedrängt wurden. Wenn das die Lektion ist, wie kann man dann problematische Gefühle hochkommen lassen, ohne sich darin zu verfangen? Adyashanti: Das ist so ähnlich, als hätten wir schwarze Punkte auf diese Wand gemalt. Sagen wir, die Punkte sind drei Zentimeter groß und zehn oder zwölf Zentimeter voneinander entfernt, und die ganze Wand ist voll davon. Wenn wir in dieses Zimmer kommen, sehen wir normalerweise zuerst die Punkte, stimmt's? »Du meine Güte, sind da viele Punkte auf der Wand! Alles nur Punkte!« Dabei ist die Wand gar nicht mit Punkten bedeckt. Es sind viel mehr weiße Zwischenräume da als Punkte. Doch selbst wenn die Punkte winzig klein wären, zum Beispiel etwa stecknadelkopfgroß, würden wir sie sofort bemerken und denken, dass die Wand mit Punkten übersät ist. Dabei ist sehr viel mehr weißer Raum als Punkte da. Die Punkte sind einfach das, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet. Wenn es zu einem ersten Erwachen kommt, steigt alles auf, was verdrängt wurde, und meist konzentriert sich das Bewusstsein genau darauf. Natürlich findet man es ziemlich furchtbar, wenn das Bewusstsein das
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macht, statt einfach in sich zu ruhen und alles in seiner Ganzheit zu sehen. Sicher, es steigt eine Menge Zeug in dir auf, doch nachdem du es zur Kenntnis genommen hast, kannst du es einfach aufsteigen lassen. Das heißt aber nicht, dass du dich auf jede Kleinigkeit, die in dir aufsteigt, einlassen musst. Im Grunde ist es so, wie wenn du eine Wand mit ein paar Punkten darauf anschaust und einfach die ganze Wand bewusst wahrnimmst. Werde gewahr, dass viel mehr von der Wand leerer Raum ohne Punkte ist. Ignoriere die Punkte nicht, aber ignoriere ebenso wenig den Hintergrund. Schüler: Ich nehme an, dass man einfach darauf vertrauen muss, dass die negativen Dinge, wenn man sich nicht mehr auf sie konzentriert, nicht länger verdrängt zu werden brauchen. Man muss darauf vertrauen, dass dies ein Automatismus wird. Adyashanti: Richtig. Du musstest ja insgeheim damit einverstanden sein, dass sie verdrängt werden. So war es bisher immer. Du hast sie weggedrückt. Aber jetzt siehst du bewusst, wie sie hochkommen, nicht wahr? Jetzt brauchst du sie nur zur Kenntnis zu nehmen: »Oh, sie kommen mir zu Bewusstsein.« Auf diese Weise verdrängst du nichts. Schüler: Ich brauche also nicht zu warten, bis sie dahinschmelzen. Ich brauche ihnen nicht zuzusehen, wie sie verschwinden. Ich kann sie einfach zur Kenntnis nehmen und mich dann anderen Dingen zuwenden - sie tun lassen, was immer sie tun wollen. Adyashanti: Richtig. Dann wird sich alles wieder harmonisieren. Normalerweise fördern wir die verdrängten Ge-
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fühle jedoch zu Tage, pfuschen darin herum oder nehmen sie zumindest genau unter die Lupe. Schüler: Wir passen genau auf sie auf, bis sie wieder verschwinden. Adyashanti: Stimmt. In der Meinung, dass sie eigentlich gar nicht da sein dürften, halten wir ein Auge darauf, bis sie endlich wieder weg sind und wir uns in Sicherheit wiegen und entspannen können. Schüler: Wahrscheinlich bin ich davon ausgegangen, dass sich die negativen Gefühle, wenn ich nicht auf sie aufpasse, weiter so verhalten wie vorher. Ich weiß jetzt definitiv, dass ich nie mehr so leben will. Sobald ich sie zur Kenntnis genommen habe, lasse ich sie einfach los. Adyashanti: Ja. Wichtig ist die Einsicht, dass verdrängte Gefühle aus dem Bewusstsein aufsteigen und auch dorthin zurückkehren. Nichts davon ist von Dauer. Es ist etwas total Unpersönliches - das ist das Schöne daran. Wenn du weißt, dass du Bewusstsein bist, findet keine Verdrängung statt und kein Anklammern. Vielmehr ist es so, als wärst du der Himmel. Deine Wolken schiebst du weder weg, noch hältst du sie fest, um sie daran zu hindern, dich zu verlassen. Der Himmel bleibt seinem Wesen nach völlig unberührt, selbst dann, wenn ein Gewitter aufzieht, Blitze zucken und die Hölle losbricht. Das alles fällt nicht weiter ins Gewicht, solange er sich daran erinnert, dass er der Himmel ist. Es ist sehr leicht, in aller Unschuld Fehler zu begehen. Es ist so, als schautest du dir im Kino einen Film an, dessen Personen auf einmal zum Leben erwachen; sie laden dich ein, mitzuspielen, und du steigst ein. Dir
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kommt es so vor, als hätte alles, was in diesem Film geschieht, mit dir zu tun, und du bist ganz sicher, einer der Mitwirkenden zu sein. Dann wachst du aus einem unerfindlichen Grund auf und merkst plötzlich: »Sieh an, ich sitze in Wirklichkeit mit Popcorn und Cola im Kino, und dass ich die ganze Zeit gedacht habe, ich würde in dem Film mitspielen, stimmt gar nicht. Ich sitze hier bloß und schaue mir den Film an. Ich dachte, er sei Realität, aber das stimmt nicht.« So ähnlich verhält es sich mit dem Bewusstsein. Es projiziert dieses Etwas namens Mensch ins Dasein und verliebt sich so sehr in seine Schöpfung, dass es sich darin verliert. Schüler: Dort, wo ich bin, weiß ich absolut sicher, dass ich den Film anschaue, aber dann bin ich mit einem-mal doch wieder mitten darin. Urplötzlich macht nämlich alles in meiner Umgebung den Eindruck, als würde ich in dem Film mitwirken. Ich weiß zwar, dass ich im Kino sitze, aber meine Sinne signalisieren mir etwas anderes. Adyashanti: Es gehört zum Reifeprozess dazu, dass du lernst, das, was du denkst und fühlst, nicht als Hinweis auf das zu deuten, was du bist. Schüler: Man darf sich also nicht darauf verlassen. Adyashanti: Was du auch von dir selbst denken magst, es hat nichts mit dir zu tun. Du bleibst einfach, was du bist - nichts. Lass alles Verdrängte aufsteigen und bleibe dabei bewusst. Flüchte nicht ins Unbewusste oder in einen Trancezustand. Sieh aber auch vom Analysieren ab; lass einfach alles aufsteigen, was aufsteigen will. Stelle alle Annahmen, alle Interpretationen, alle alten
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Storys infrage. Unterdrücke nichts und schwelge in nichts - sei einfach still, forsche, und bleibe bewusst. Wenn wir keiner Illusion aufsitzen wollen, sollten wir uns nicht mit dem identifizieren, was wir denken und fühlen. Es zeugt von großer Weisheit, sich auch nicht mit den positiven Gedanken und Gefühlen zu identifizieren. Wir sind nur allzu gern bereit, die negativen aufzugeben. Aber wenn wir die Glückseligkeit, die Ekstase, die Freude und die Befreiung wahrer Offenbarung erfahren, all die Emotionen also, die wir für spirituell halten, sagen wir meist zu uns selbst: »Das bin ich. Woher weiß ich, dass ich das bin? Ich muss es sein, weil ich mich so unsagbar wohlfühle. Ich empfinde Glückseligkeit, Ekstase und Freude. Dadurch weiß ich, wer ich bin, was ich bin und dass ich in Sicherheit bin.« Aber in diesem Fall vertraust du wieder auf deine Sinneswahrnehmungen. Wenn du dich darauf verlässt, dass dir deine Sinneswahrnehmungen sagen, wer du bist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sinne andere Saiten aufziehen und dir ihre Kehrseite zeigen, und dann sagst du: »O Gott, ich sitze in der Falle.« Im Verlauf des Reifeprozesses wirst du unweigerlich zu der Einsicht kommen, dass du nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Wahrnehmungen aufgeben musst. Du gibst das ganze Bezugssystem auf, das dir gesagt hat, wer und was du bist. Dann erkennst du, dass dieser Körper-Geist alles erfährt, was er erfährt, und dass du der Bewusstseinsraum für all diese Erfahrungen bist. Es spielt im Grunde überhaupt keine Rolle, um welche Erfahrung es sich handelt. Es ist einfach so,
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dass der Körper-Geist, je mehr Raum du ihm gibst, diese Weisheit widerspiegelt, indem er sich wirklich wohlfühlt. Doch trotz allen Wohlgefühls und aller Glückseligkeit bist du nicht dagegen gefeit, der Versuchung nachzugeben, dich mit diesen angenehmen Emotionen zu identifizieren. Sobald du dich zu dem Gedanken verleiten lässt, dass diese Emotionen dir etwas über dich selbst sagen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann du wieder in die Getrenntheit zurückfällst. Das Denken will irgendwo anlegen, sich auf etwas fixieren, eine Idee verfolgen, aber die einzige Möglichkeit, wirklich frei zu sein, ist die, sich auf nichts zu fixieren. Das gehört zum wahren Reifen, und es ist mit das Schwierigste für spirituelle Menschen, die echte, tiefgreifende Offenbarungen erlebt haben, das Maß an Hingabe aufzubringen, das nötig ist, um buchstäblich alle Erfahrungen und alle Selbstbezüge aufzugeben. Auch die tiefste Offenbarung bringt fast immer etwas mit sich, das zu der Behauptung verleitet: »Dies bin ich.« Jedesmal, wenn du sagst: »Dies bin ich«, hast du lediglich von einer anderen Wahrnehmung, einem anderen Gedanken, einer anderen Emotion oder einem anderen Gefühl Besitz ergriffen. Doch wenn du das viele Male durchgemacht hast, begreift der Geist es im Innersten und lässt vollkommen los. Wenn der Geist loslässt, weißt du immer, wer und was du bist, obwohl du es nicht definieren, beschreiben oder auch nur denken kannst. Du weißt es einfach, indem du es bist. Das ist die höchste Befreiung von beidem: Identität und Getrenntheit.
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Schüler: Du hast über die Befreiung vom Persönlichen gesprochen, aber mir scheint, dass dies alles auch auf die Meditation zutrifft. Wenn ich meditiere, geschieht es, dass ich irgendwohin komme, wo ich wach bin, ohne jedoch etwas zur Kenntnis zu nehmen, und dann frage ich mich sofort: »Was nehme ich nicht zur Kenntnis?«, und schon fängt mein Denken an zu rotieren. Es ist mir deshalb eine Hilfe, zu hören, dass ich möglichst viel im Nichtdenken verweilen sollte. Adyashanti: Darum brauchst du dich nicht eigens zu bemühen, weil du tatsächlich immer schon dort bist. Ob dir das bewusst ist oder nicht, du bist in diesem Augenblick erwacht. Du bist ebenso erwacht wie in der tiefsten Meditation. Diese Erwachtheit oder Bewusstheit ist ebenso meiner Stimme gewahr, die gerade spricht, wie alles anderen. Sie ist vollständig, sie ist ganz, und sie wird nie mehr sein, als sie jetzt gerade ist. Sie ist schon da. Darum sagen wahre spirituelle Lehrer immer, dass du bereits erleuchtet bist und es nur nicht weißt. Damit erhebt sich die Frage, wie du dieses Wissen erlangst. Als Nächstes musst du all deine Annahmen bezüglich deiner Person tiefgreifend in Zweifel ziehen. Wir ergehen uns in vielen Annahmen, wer wir sind und was wir sind, aber wenn wir diese einmal infrage stellen, fallen sie schnell in sich zusammen. Schließlich kommen wir irgendwohin, wo wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Am Ende sind wir absolut sicher, dass wir nicht wissen, wer wir sind. Irgendwann siehst du ein, dass jede Art und Weise, in der du dich definierst, nur ein Konzept und daher eine
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Lüge ist. Das Denken hält einfach an, weil es nicht mehr weiß, wohin. Das Anhalten kann allerdings nicht geübt werden, denn jedes eingeübte Anhalten ist reiner Schwindel. Zum Anhalten kommt es infolge von Einsicht, von Weisheit, von Verständnis und nichts sonst. Nicht aufgrund einer Technik. Darum ist dies der Weg der Weisheit. Wenn der Geist seine eigenen Grenzen erkennt, kommt er zur Ruhe, und das ganz natürlich. Der Geist ist nur so lange bemüht, sich selbst zu finden, wie er unter der Illusion leidet, sich selbst finden zu können. Sobald ihm klar wird, dass er nicht zu sich selbst finden kann, hält er an, weil er weiß, dass es nichts mehr für ihn zu tun gibt. Wenn ich sage, dass der Geist zur Ruhe kommt, heißt das nicht zwangsläufig, dass dir kein Gedanke mehr durch den Kopf geht. Das ist nicht mit dem Anhalten des Geistes gemeint. Er hört nur auf, die Wirklichkeit zu interpretieren. Was bleibt, ist die reine, unverstellte Wirklichkeit. Dann erfährst du ein tiefes Gefühl der Befreiung. Eine große Last fällt von dir ab. Dabei können dir ruhig weiter Gedanken durch den Kopf gehen. Nichts muss sich ändern. Dein Geist braucht nur die Augen aufzumachen und neugierig nachzuforschen: »Was bin ich eigentlich?« Die Meditation über diese Frage wird dich geradewegs über das Denken hinausführen. Wenn du dich gleich jetzt einmal fragst: »Wer bin ich?«, was erkennst du dann als Erstes? Schüler: Das Erste, was ich wirklich erkenne? Dass ich nur das bin, als was ich mich immer definiert habe. Adyashanti: Heißt das, du weißt es nicht genau?
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Schüler: Ja. Adyashanti: Du weißt also, dass du nicht weißt. Das ist an und für sich schon eine unglaubliche Offenbarung. Meist kommt es gar nicht so weit, weil alle Menschen ganz sicher zu wissen glauben, wer sie sind. Vor fünf Minuten bist du vielleicht ebenfalls noch herumgelaufen, ohne darüber nachzudenken, hast dich emotional in Sicherheit gewiegt und dich auch so verhalten, als wüsstest du, wer du in Wahrheit bist. Es ist ungemein bedeutsam, dass ein Mensch wirklich nachforschen kann und, statt unbedingt wissen zu wollen, bei der Wahrheit bleibt, nämlich dass er nicht weiß. Das ist eine gewaltige Wahrheit, und sie wird fast immer unter den Teppich gekehrt. Wenn dir bewusst wird: »Ich weiß nicht, wer ich bin«, fängt auf einmal der Boden unter deinen Füßen an zu wanken. Du hast keinen Fehler gemacht, wenn du dich im Unbekannten wiederfindest. Du solltest nicht wissen wollen, denn das führt dich nur wieder zum Denken zurück, in eine Endlosschleife. Wahre Befreiung liegt jenseits des Denkens. Wenn du also das Unbekannte erreichst, bist du im Grunde schon auf der Schwelle zur Befreiung. Du musst dich nur noch in die Tatsache versenken, dass du nicht weißt. Wir nähren unser Leben lang bewusst oder unbewusst die Gewissheit, dass wir wissen - und das ist unsere ganze Erfahrung. Was ist die Erfahrung des Nichtwissens? Wie ist es wirklich, nicht zu wissen? Schüler: Ich weiß es nicht, aber es ist ein großartiges Gefühl, zu denken, dass ich nicht weiß.
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Adyashanti: Gut, du hast es gerade beantwortet. Es ist ein großartiges Gefühl, nicht wahr? Wenn du einmal nicht auf deinen Geist hörst, der sagt: »O nein, ich muss wissen«, und nicht in Panik gerätst, sondern dich stattdessen direkt dem Gefühl auslieferst, dann ist es ein sehr angenehmes, sehr befreiendes Gefühl, gleich von Anfang an. Es ist eine solche Erleichterung, nicht zu wissen, denn nur das, was du zu sein meintest, hat all die Probleme heraufbeschworen. Das hat dir solche Lasten aufgebürdet. Jetzt ist all das infrage gestellt - was ist, wenn du dich geirrt hast? Allein schon der Gedanke begeistert dich, stimmt's? Schüler: Es fühlt sich so gut an, dass ich weinen könnte. Adyashanti: Gut! Geh dem nach! Richte deine Aufmerksamkeit genau dahin - mehr brauchst du nicht zu tun. »Wie ist es, nicht zu wissen? Ah, es ist einfach wunderbar.« Lass dich einfach da hineinfallen. Nicht durch Wissen kommst du zur Erkenntnis, sondern durch Nichtwissen. Indem du tiefer und tiefer gehst, bis du so tief bist, dass du Millionen Meilen weit entfernt bist von allem, was du weißt, das heißt, weit über das Denken hinaus. Dann blitzt es, und du weißt. Schüler: Ich könnte in die Falle tappen, das Nichtwissen zu lieben. Adyashanti: Indem du einfach im Nichtwissen ruhst, weißt du. Es ist paradox. Je tiefer du im Nichtwissen ruhst, das heißt, je weniger du mit dem Denken zu verstehen suchst, umso unmittelbarer ist deine Erkenntnis. Es überkommt dich wie ein Blitz. Viele Leben hindurch tanzen wir direkt vor dem Tor
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zur Freiheit herum. Wir drehen Pirouetten auf der Fußmatte und wissen nie genau, wer wir sind. Nur ein Klick, eine Drehung am Knauf, und du weißt Bescheid - das ist alles. Es ist total leicht. Es ist keine schwierige Sache. Die Sache ist vielmehr die, dass Menschen nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Sobald du weißt, wohin, und den Mut hast, dorthin zu gehen, ist es ganz leicht. Geh ins Unbekannte, erfahre das Unbekannte, sei das Unbekannte. Alles wahre Wissen erwacht im Unbekannten.
10 Tiefe Zugang zur Spiritualität findet man auf zweierlei Art. Einmal, und das ist die verbreitetste, durch eine horizontale Bewegung des Geistes. Unter horizontaler Bewegung des Geistes ist vorwärts und rückwärts gerichtetes Denken zu verstehen, mit dessen Hilfe Informationen gesammelt werden. Das ist so, als käme das Denken an eine Mauer, die über und über beschriftet ist. Auf der Wand stehen alle möglichen Lehren, Übungen und Dinge, die man tun oder lassen sollte. Normalerweise bewegt sich das Denken lediglich horizontal an dieser Mauer entlang, um immer mehr Informationen einzuholen und zu speichern. Es bewegt sich erst nach links und dann nach rechts, wobei es ständig Informationen, Überzeugungen, Theorien usw. aufnimmt. Hast du schon einmal Leute kennengelernt, die so denken? Sie grasen den unteren Bereich der Mauer bis an die weit voneinander entfernten Enden ab und sammeln durch horizontales Denken Informationen. So läuft es mit dem Verstand, und die meisten Menschen folgen dieser Horizontalbewegung, um Informationen, Ideen, Überzeugungen usw. zu sammeln, in der Hoffnung, dass es ihnen spirituell weiterhilft. Aber die Wahrheit ist keine Sache des Wissens, sondern des Erwachens.
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Genauso verfahren wir emotional. Wir bewegen uns horizontal an der Mauer entlang und sammeln Erfahrungen. Wir machen ganz alltägliche Grunderfahrungen, sowohl gute als auch schlechte, und wenn wir uns ins Spirituelle vorwagen, machen wir spirituelle Erfahrungen. Ebenso wie beim Wissensammeln denken wir: »Wenn ich nur genügend Erfahrungen sammle, wird sich etwas Bedeutsames tun. Es wird mich weiterbringen.« Es wird uns nur weitere Erfahrungen bescheren, ebenso wie uns das Denken mit seinen horizontalen Bewegungen weitere Kenntnisse verschafft aber es führt weder zur Freiheit noch zur Wahrheit. Geist, Körper und Emotionen spielen also dieses Sammelspiel. Sie wägen jedes Stück Wissen gegen das andere ab. »Wie ist dieses Stück mit jenem zu vergleichen? Und wie verhält jenes sich zu dem dort?« Wir tauschen uns auch gern mit anderen über unsere Erfahrungen aus. »Was hast du erlebt? Ach, diese Erfahrung habe ich noch nicht gemacht, aber ich habe Folgendes erlebt, du auch?« »Ich glaube das und das; und was glaubst du?« Dann fragt der Gefühlskörper: »Ist es das? Ist das die richtige Erfahrung? Mache ich gerade die Erfahrung? Warum bleibt mir die Erfahrung versagt?« Der Körper-Geist findet noch mehr zum Sammeln, noch mehr Techniken, noch mehr dies, noch mehr das. Geist und Körper neigen dazu, in alte Verhaltensmuster zu verfallen, sich horizontal zu bewegen und dabei Fakten, Lehren, Lehrer, Ansichten und Erfahrungen zu sammeln. Das ist die vorherrschende Art und Weise, wie die meisten Menschen ihr Leben leben - horizontal, nicht ver-
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tikal. Die gleiche Bewegung übertragen sie dann auch auf ihr spirituelles Leben. Es spielt jedoch keine Rolle, wie viel Kenntnisse und Erfahrungen du horizontal erwirbst; mehr Informationen sind nicht das Gleiche wie größere Tiefe. Jetzt, in diesem Augenblick, kannst du einsehen, dass dir das, was ich sage, in Wahrheit keinen Gewinn bringt, dass dich alles, was dein Geist als Wissen aufnimmt und ansammelt, kein bisschen weiter in die Tiefe führt. Absolut nicht. Kein Stück. Zero. Es trägt dir nur weitere Bewegungen in der Horizontalen ein. Es bringt dir nur weitere Kenntnisse. Vielleicht ist es das, was du willst, vielleicht auch nicht. Doch sobald du die Grenzen des Denkens erkennst, fühlt sich der Verstand zum alten Eisen gelegt, weil er nun viel weniger zu tun hat. Du bist eingeladen, über die Mauer erworbener Kenntnisse hinauszugehen, nicht zu einem regressiven Zustand vor der Entwicklung der geistigen Funktionen, sondern zu einem transzendenten Zustand jenseits der Ebene des Denkens. Das ist Spiritualität. Sie führt dahin, wohin das Denken nicht gelangt. Stell dir einmal vor, du kämst an eine Mauer. In der Mauer ist ein Tor. Du machst das Tor auf und gehst durch die Mauer. Um nun weiter in die Tiefe zu gehen, musst du allerdings die Mauer hinter dir lassen. Wenn du nach hinten greifst und, während du dich mit einer Hand an der Mauer festhältst, weiterzugehen versuchst, kommst du nicht weit. Wenn du in die Tiefe gehen willst, in die transzendente Tiefe, musst du dich entscheiden, ob du vom Denken ablassen willst oder nicht. Dein Verstand sagt: »Ich werde ein bisschen nachgeben, mir aber möglichst
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viele Kenntnisse in die Tasche stopfen für unterwegs. Wahrscheinlich brauche ich irgendwo in dieser Richtung meine Konzepte.« Alle möglichen Fragen fallen ihm ein: »Ob das sicher ist? Oder weise? Mache ich vielleicht einen dummen Fehler?« Als sei alle Weisheit im Ansammeln von Wissen enthalten. Die meisten Leute sind mental und psychologisch völlig verunsichert, wenn sie ihre erworbenen Kenntnisse samt und sonders hinter sich lassen sollen. Mit dem Verstand lässt sich die wahre Intelligenz nicht ergründen, die transzendente Intelligenz, die nicht vom Denken bzw. intellektuellen Verständnis erzeugt wird und ihm auch nicht entspringt. Dem Verstand ist es unerklärlich, dass es eine Weisheit geben soll, die sich nicht in Form von Gedanken, von erworbenen oder angesammelten Kenntnissen einstellt. Das echte spirituelle Verlangen, das echte Sehnen ist stets eine Aufforderung, über das Denken hinauszugehen. Darum heißt es immer, dass du zu Gott nur nackt kommst oder gar nicht. Das gilt für alle. Du gehst ohne dein erworbenes Wissen zu ihm, oder du bleibst ihm für immer und ewig fern. Ein intelligenter Verstand sieht seine eigenen Grenzen ein, und es ist eine wunderbare Sache, wenn er das tut. Sobald du aufhörst, an all dem Wissen festzuhalten, trittst du in einen anderen Seinszustand ein. Eine andere Dimension eröffnet sich dir. Du bewegst dich in eine Dimension, in der das innere Erleben sehr still wird. Ob im Hintergrund noch immer das Geschwätz des Denkens zu hören ist oder nicht, das Bewusstsein befasst sich nicht
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länger damit. Du brauchst es nicht anzuhalten. Dein Bewusstsein überschreitet einfach die Mauer des Wissens und tritt in einen Zustand tiefer Stille ein. In dieser Stille wird dir klar, dass du gar nichts weißt, weil du nämlich nicht auf den Verstand und seine erworbenen Kenntnisse zurückgreifst. Die Stille ist dem Verstand ein Rätsel. Sie ist etwas Unbekanntes. Während du in die Tiefe gehst, vertieft sich auch deine Erfahrung dessen, was ein großes Mysterium zu sein scheint. Jetzt tritt vielleicht auch der Verstand wieder auf den Plan, er will wissen, was los ist, und fängt an, alles zu definieren, aber das führt keineswegs noch tiefer. Das Mysterium öffnet sich einfach weiter zu sich selbst hin, wenn du es lässt wenn du keine Kontrolle mehr ausübst. Sowie das angesammelte Wissen zurückbleibt, merkst du, dass du auch dein vertrautes Selbstgefühl hinter dir gelassen hast. Dieses Selbst bestand nur in der Akkumulation von Wissen und Erfahrung. Etwas sehr Interessantes geschieht, wenn du alles zurücklässt: Auch deine Erinnerung bleibt zurück. Du lässt alles hinter dir, was du für dich selbst gehalten hast, was du für deine Eltern gehalten hast, alles, was du je gedacht und geglaubt hast... Das Gestern ist vorbei. Nun fällt dir etwas Spannendes auf: Du kannst all das zurücklassen und trotzdem sein - du bist genau hier und genau jetzt. Was du bist, wird also noch rätselhafter. Wenn du erkennst, dass du alle Selbstdefinitionen hinter dir lassen und trotzdem sein kannst, siehst du allmählich ein, dass deine Gedanken nicht das sein können, was du bist. Anders ausgedrückt: Wer bist du, wenn du dich
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nicht ins Dasein denkst? Wer bist du, wenn du alle Gedanken aufgibst, auch solche, die du eigentlich gar nicht infrage stellen kannst, wie etwa: »Ich bin ein Mensch. Ich bin eine Frau. Ich bin ein Mann. Ich bin jemandes Tochter. Ich bin jemandes Sohn«? Sobald du dich nicht mehr ins Dasein denkst, gibt es den, für den du dich gehalten hast, überhaupt nicht mehr. Wenn aber dieses »Ich« einfach so verschwinden kann und wiedererscheint, sobald du es ins Dasein denkst, wie wirklich ist es dann? In diesem Augenblick der Erkenntnis bist du bereits über die Mauer des angesammelten Wissens hinausgegangen. Wenn du diesen Augenblick nun weder definierst noch in irgendeine mentale Schublade zurückdrängst und dich auch nicht damit ins Dasein zurückdenkst, kommt dein wahres Sein allmählich zum Vorschein. Das, was du wirklich bist, beginnt zu erwachen. Das wahre Ich bin ist unglaublich leer. Es ist völlig frei von allem, was du zu sein glaubtest. Es hat keine Grenzen und ist nicht definiert. Jede Definition würde dem, was du bist, einen schlechten Dienst erweisen. Alles, was noch da ist, ist Bewusstsein, und das trifft es auch nicht, denn es ist nur ein Wort. Die Erkenntnis dessen, was du wirklich bist, übersteigt alle Vorstellungen. Du bist so leer, dass nur noch Bewusstsein da ist. Es ist kein inneres Kind mehr da und auch kein Erwachsener. Keine deiner Identitäten existiert mehr, bis du sie wieder ins Dasein denkst. Das Bewusstsein kann hinunterschauen und einen Körper sehen, aber das wirft für niemanden Probleme auf. Ein Problem ist nur das, was du im Kopf hinterher zufügst. In dieser Leere bekommst du einen ersten Geschmack
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von der Erfahrung des Seins. Es ist dies ein Sein, bevor du etwas oder jemand bist. Und dieses Mysterium des Seins ist wach und lebendig. Es ist das Einzige, was nicht durch das Denken ins Dasein beschworen wird. Du brauchst überhaupt nicht zu denken, um diese wache Bewusstheit zu sein. Alles an dir ist veränderlich, außer dieser einen Tatsache der Bewusstheit. Der Körper verändert sich. Der Geist verändert sich. Die Gedanken verändern sich, und zwar viel schneller, als den meisten Menschen lieb ist. Und egal, wie viel Wissen du auch anhäufst, es bringt dich keineswegs schneller hierher. Das Sein ist die einzige Konstante - das, was immer erwacht ist. Nun wartet dein Verstand, wenn du zu ihm und seinen Kenntnissen zurückkehrst, mit allen möglichen Ideen auf, wie dein wahres Wesen beschaffen sein muss, denn du hast viel darüber gelesen und spirituelle Lehrer davon reden hören, und so hat sich eine ganze mystische Mythologie um die Wahrheit herum gebildet. Natürlich ist die Einsicht, dass du nichts dergleichen bist, ein Schock. Was immer du zu sein meinst, ist es nicht. Selbst wenn deine Vorstellung davon sehr spirituell, mystisch oder jenseitig ist, bist du es nicht. Das erworbene Wissen fahrenzulassen unterstützt den Identitätswechsel vom Ichselbst zum Nichtselbst. Wenn dieser geschieht, wird es spirituelles Erwachen genannt. Das heißt aber nicht, dass du nicht von deinem Wissen Gebrauch machen könntest. Deine Kenntnisse sind immer noch vorhanden für den Fall, dass du sie brauchst. Du kannst darauf zurückgreifen, wenn du wissen willst, wie du deinen Computer bedienen musst, und zu allen mög-
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lichen anderen Zwecken. Nichts ist verschwunden, nur deine falsche Identität. Du wirst kein Dummkopf. Du vergisst nicht, wie du deine Schnürsenkel binden musst, nur weil du erkannt hast, dass du nicht der bist, der du zu sein glaubtest. Aber der Verstand hat Angst vor alledem. Das größte Hindernis vor der Erkenntnis sind deine Gedanken darüber, denn die Gedanken schaffen Bilder vom Zustand des Erwachtseins, und diese Vorstellungen sind auch wieder nur erworbenes Wissen. Ganz gleich, welches Bild du dir auch von deinem wahren Wesen machst, ein Bild kann nicht die Wahrheit sein. Wenn du dies einsiehst, fällt es dir leicht, das bewusst zu erfahren, was hier ist. Einfach nur das, was immer hier ist - ewiges Bewusstsein, reiner Geist. Sobald du diese tiefe Erfahrung machst - weder durch Denken noch durch deduktive Logik, sondern einzig durch unmittelbares Erwachen -, wird alles Übrige ziemlich leicht. Sobald deine Welt intellektueller Kenntnisse auf ihren Platz verwiesen wird, kannst du sie transzendieren. Du erkennst, dass du ewiges Bewusstsein bist, das gerade als Frau oder Mann, diese oder jene Person in Erscheinung tritt. Aber wie jeder gute Schauspieler weißt du, dass du nicht das bist, was du darstellst. Alles, was existiert, ist Bewusstsein, Gott, reiner Geist oder Selbst, das Gestalt annimmt. Der Buddha nannte es das Nicht-selbst. Wenn du dies einsiehst, erkennst du die Einheit. Nur Gott ist da. Sonst nichts: Gott als Fußboden, als Mensch, als Wand, als Stuhl. Kein Wissen und keine Verkündigung der Wahrheit berührt das, was ewig ist und was du wirklich bist. Anleitungen, wie man dahin kommt, sind ebenfalls unwahr,
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denn was den einen dorthin führt, ist noch längst nicht für den anderen geeignet. Ein denkender Geist, der nach dem einen wahren Weg sucht, wird ihn nicht finden. Das gefällt dem Geist natürlich nicht. »Kein richtiger Weg? Nichts von dem, was gesagt oder gelesen wird, soll die letzte, höchste Wahrheit sein? Auch der Erleuchtetste soll die Wahrheit nicht sagen können?« Nein. Das ist nie gelungen und wird nie gelingen. Du kannst höchstens ein Schild an der Mauer anbringen mit dem Hinweis: »Schau dorthin.« Ein falscher spiritueller Wegweiser ist einer, der zur Mauer hinzeigt mit den Worten: »Schau hierhin.« Ein guter Wegweiser weist über die Mauer der Konzepte hinaus. Egal, ob die Hinweise annähernd der Wahrheit entsprechen oder nicht, und egal, wie sie den Weg beschreiben, sagen sie doch nichts darüber aus, was jenseits der Mauer liegt. Nichts. Denn sobald du darüber hinausgehst und bist, was du bist, trifft nichts mehr zu. Darum haben so viele der großen spirituellen Lehrer gesagt, dass es nichts zu wissen gibt. Um frei zu sein, um erleuchtet zu sein, musst du absolut nichts wissen, und es gibt keine Erleuchtung, solange du glaubst, etwas zu wissen. Sobald du mit absoluter Sicherheit weißt, dass du nichts weißt und dass es absolut nichts zu wissen gibt, tritt der Zustand ein, der Erleuchtung genannt wird, denn alles, was dann noch da ist, ist Sein. Von wem aber kann das Eine im Einssein noch etwas wissen? Das Eine weiß nur: »Ich bin dies. Ich bin das.« Wie es in der Bibel heißt: »Ich bin, der ich bin.« Das ist wahres erleuchtetes Wissen. Alles andere Wissen ist zweitrangig.
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Wissen, das einem bestimmten Ziel oder Zweck dient, ist absolut an dieses Ziel oder diesen Zweck gebunden. Wenn du das einsiehst, hörst du auf, die Wahrheit in irgendetwas zu suchen, von dem du Kenntnis hast. Vielmehr suchst du die Wahrheit in dem, was du bist, denn wenn du herausfindest, wer du bist, findest du auch heraus, was alles andere ist. Es ist alles eins. Du erkennst, dass es nichts zu wissen gibt, und dann verändert sich deine Zielrichtung vom Denken zum Sein. Jeder hat schon einmal das Aufblitzen transzendenter Weisheit in seinem Geist erlebt. Wenn du dir lange Zeit das Hirn zermartert hast, um ein Problem zu lösen, dann aus irgendeinem Grund damit aufgehört hast, dich abzurackern, und auf einmal ein Aha-Erlebnis hast: »Aha! So ist das!«, woher mag das kommen? Es ist der Durchbruch der Weisheit. Es kann eine Kleinigkeit sein, etwas völlig Alltägliches. Im Kopf macht es sich als Aha! bemerkbar, aber es entspringt nicht dem Denken. Es ist von irgendwoandersher gekommen, vom Sein. Das Sein besitzt also tiefe Weisheit. Es ist ein Schock, denn wir sind es nicht gewohnt, aus solcher Weisheit heraus zu agieren, die nur ab und zu aufzublitzen scheint. Doch dein Sein funktioniert schon immer so. Vieles ist relativ wahr, aber nichts von dem, was im denkenden Geist aufsteigt, ist absolut wahr. Welch eine Erleichterung für den Geist, wenn er sich nicht länger abmühen muss und du dich fortan in spiritueller Hinsicht am Sein statt am Wissen orientierst!
11 Ego Sündenbock der Spiritualität ist das Ego. Da in Wahrheit niemand für das, was im Leben geschieht, verantwortlich gemacht werden kann, haben wir das Ego erfunden, um ihm die Schuld an alledem zuschreiben zu können. Das stiftet eine Menge Verwirrung, denn das Ego existiert eigentlich gar nicht. Es ist bloß eine Idee, die Bezeichnung für eine Bewegung, an die wir unser Selbstgefühl geknüpft haben. Wenn wir einsehen, dass das Ego nur eine Idee ist, die nicht wirklich existiert, erkennen wir auch, dass viele spirituelle Menschen ihm völlig ungerechtfertigt die Schuld an allem geben, wovon sie meinen, sich befreien zu müssen. Sie glauben irrtümlich, dass etwas, das in ihnen selbst aufsteigt - ein Gedanke, ein Gefühl, eine Abneigung, ein augenblicklicher Schmerz -, der Beweis für ein Ego ist, nur weil sie denken, etwas, das sich in ihnen regt, spreche für die Existenz eines Ego. Sie glauben, sie hätten ein Ego, weil das alles angeblich darauf hindeutet. Doch alles, worauf wir je stoßen, ist bloß dieses Zeugnis, dieser angebliche Beweis für die Existenz eines Ego, während wir das Ego selbst nie finden. Wenn ich jemanden bitte, sein Ego zu suchen, kann er
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oder sie es einfach nicht finden. Es ist nicht da. Ein wütender Gedanke oder eine Emotion führt zu der Überzeugung: »Oh, das muss ich loswerden - das ist mein Ego.« Es scheint, als müsste alles, was einem Menschen begegnet - insbesondere einem Menschen, der sich spirituell weiterentwickeln möchte -, als Beweis für die Existenz eines Ego herhalten, das es auszulöschen gilt. Und doch kann niemand dieses Ego finden. Mir ist noch niemand begegnet, der mir das Ego hätte zeigen können. Ich habe schon viele Gedanken, Gefühle und Emotionen miterlebt. Ich bin auch häufig genug Zeuge von Wutanfällen, Freude, Depressionen und Glückseligkeit gewesen, aber das Ego hat mir bisher noch kein Mensch präsentieren können. Weil all diese Dinge existieren, nehmen allerdings viele Menschen an, dass es jemanden oder etwas in ihrem Innern geben muss, dem sie die Schuld daran geben können, einen Sündenbock. Das ist die allgemeine Auffassung vom Ego, aber es ist nicht das Ego. Manchmal ist jedoch alles so einfach, wie es scheint. Manchmal ist ein Gedanke nur ein Gedanke, ein Gefühl nur ein Gefühl und eine Tat nur eine Tat, ganz ohne Egobeteiligung. Das einzige Ego, das existiert, falls es überhaupt ein Ego gibt, ist der Gedanke, dass ein Ego existiert. Es liegen jedoch keine Beweise für die Existenz eines solchen Ego vor. Alles entsteht völlig spontan, und wenn es überhaupt ein Ego gibt, dann nur in Form dieser einen Geistesregung: »Das ist meins.« Nun folgt der Gedanke »Das ist meins« im Allgemeinen auf einen anderen Gedanken oder auf ein Gefühl, zum Beispiel: »Das verwirrt mich - das ist meine Verwirrung!« oder: »Das macht mich eifersüchtig - das ist meine Eifer-
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sucht!« oder in Reaktion auf eine ähnliche Erfahrung: »Das gehört mir.« Man denkt, da wäre ein Ego präsent, das diesen Gedanken, dieses Gefühl, diese Verwirrung ausgelöst hat. Doch jedes Mal, wenn wir der Sache auf den Grund gehen, um das Ego zu finden, stellen wir fest, dass das Ego nicht Urheber des betreffenden Gedankens war, sondern anschließend erschien. Es erscheint als Interpretation eines Ereignisses, eines bestimmten Gedankens, einer bestimmten Emotion. Ego ist die nachträgliche Feststellung: »Das ist meins.« Das Ego ist auch die nachträgliche Feststellung: »Das ist nicht meins«, die Ablehnung eines Gedankens oder Gefühls. Wie leicht zu erkennen ist, impliziert eine solche Haltung, dass jemand da ist, dem etwas nicht gehört. Das ist die Welt der Dualität. Es ist mein Gedanke, meine Verwirrung oder Ähnliches, oder es ist nicht mein Gedanke, meine Verwirrung, nicht meins. Beides sind Geistesregungen zu dem oder Interpretationen dessen, was ist. Das Ego lebt ausschließlich in dieser Interpretation, dieser Geistesregung, und darum ist es auch nicht zu finden. Es ist wie ein Gespenst. Es ist bloß eine speziell konditionierte Geistesregung. Von Kindesbeinen an empfangen wir Botschaften wie: »Du bist hübsch«, »Du bist klug«, »Du hast gute Noten erzielt, also bist du gut« oder: »Du hast keine guten Zensuren, also bist du auch nicht gut.« Bald glaubt das Kind daran, es fühlt sich entsprechend und macht diese emotionale Essenz zu seinem »Ich«. Ähnlich geht es, wenn jemand einen Gedanken hat und wenig später das dazu passende Gefühl empfindet. Wenn er sich einen glücklichen, sonnigen Tag vorstellt, nimmt sein Körper bald da-
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rauf diese Stimmung auf und empfindet etwas nach, was gar nicht existiert. Schwierig wird es, wenn von jemandem verlangt wird, sich von seinem Ego zu lösen, denn nun erhebt sich die Frage, wer sich eigentlich von seinem Ego befreien soll. Was ist da, das sich von seinem Ego befreien will? Auf diese Weise erhält es sich selbst aufrecht und denkt, dass es etwas mit sich selbst tun soll. Das Ego ist eine Bewegung. Es ist ein Tätigkeitswort oder Verb. Es ist nichts Statisches. Es ist eine nachträgliche Geistesregung, die immer gerade entsteht. Mit anderen Worten: Egos sind immer unterwegs. Sie sind psychologisch unterwegs, spirituell unterwegs, sie sind unterwegs, um ein höheres Gehalt oder ein besseres Auto zu erlangen. Das »Ich«-Gefühl ist immer im Werden begriffen, ständig in Bewegung, stets dabei, etwas zu erlangen. Oder es tut genau das Gegenteil - es macht einen Rückzieher, lehnt ab, stellt infrage. Damit das Verb in Umlauf bleibt, muss Bewegung da sein. Das heißt, wir müssen vorwärts oder rückwärts gehen, auf etwas zu oder von etwas weg. Wir müssen jemandem den Schwarzen Peter zuschieben können, und das sind wir meist selbst. Wir müssen weiterkommen, denn sonst werden wir nichts. Das Verb - nennen wir es »egoieren« - bringt also nichts, wenn wir nichts werden. Ohne Tätigkeit ist ein Verb kein Verb mehr. Sobald man zu laufen aufhört, gibt es so etwas wie Laufen nicht mehr - es ist weg; nichts geschieht mehr. Das Ego braucht Bewegung, denn bei Untätigkeit verschwindet es, ebenso wie das Laufen aufhört, sobald die Füße anhalten. Wenn wir das in uns einsinken lassen und einzusehen
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beginnen, dass es gar kein Ego gibt, nur ein »Egoieren«, sehen wir das Ego allmählich als das, was es wirklich ist. Dadurch hört das Verlangen auf, auf etwas zu- oder vor etwas wegzulaufen, ganz von selbst. Das Aufhören muss sehr sanft und natürlich geschehen, denn wenn wir aktiv gegen das Ego angehen, sorgen wir bereits wieder für Bewegung. Solange wir uns bemühen, das zu tun, was wir spirituell für richtig halten, das heißt, uns vom Ego zu befreien versuchen, erhalten wir es am Leben. Hingegen führt die Einsicht, dass es sich wieder nur um »Egoieren« handelt, sein Ende herbei, ohne dass wir uns anstrengen müssten. Du kannst bei hundert Eichen hundert verschiedene Persönlichkeiten ausmachen, aber kein Ego. Das Aufhören des Tätigkeitsworts »Ego« bedeutet nicht, dass auch die Persönlichkeit wegfällt. Das Aufhören berührt nichts, woran wir den Finger legen könnten: weder das Denken noch das Gefühl, noch die Person. Wenn wir oder die Welt zum Stillstand kommen müssten, um frei zu werden, hätten wir ein großes Problem. Es ist die Bewegung des Werdens, die Bewegung auf etwas zu oder von etwas weg, die zur Ruhe kommt. Eine andere Seinsdimension eröffnet sich, sobald das Verb Ego zur Ruhe kommen darf. Durch bloße Beobachtung können wir allmählich erkennen, dass nichts von dem, was in Erscheinung tritt, eine Ego- oder Ich-Natur hat. Ein aufsteigender Gedanke ist bloß ein aufsteigender Gedanke. Ein aufkommendes Gefühl hat seinem Wesen nach kein Ich und kein Selbst. Wenn Verwirrung entsteht, ist kein Ich an seiner Entstehung beteiligt: Indem wir ein-
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fach nur beobachten, sehen wir, dass alles spontan entsteht und dass ihm kein Ich innewohnt. Ein Ego wird erst nachträglich dazugedacht. Aber kaum glauben wir diesem nachträglichen Gedanken, tritt eine ganze Weltanschauung auf den Plan - »Ich bin wütend«, »Ich bin verwirrt«, »Ich habe Angst«, »Ich bin glücklich«, »Ich bin niedergeschlagen«, »Ich bin nicht erleuchtet« oder, noch schlimmer, »Ich bin erleuchtet«. Plötzlich färbt dieser vorgestellte Ich-Gedanke alles, was wir sehen und tun, jede einzelne Erfahrung, die wir machen. Die Leute denken, Spiritualität sei ein anderer Bewusstseinszustand, dabei ist diese Täuschung der andere Zustand. Spiritualität ist kein Zustand, sondern ein Erwachen. Meine Lehrerin hat mir einmal gesagt: »Wenn du darauf wartest, dass das Denken anhält, wirst du ewig warten.« Da musste ich plötzlich meinen Weg zur Erleuchtung überdenken. Ich hatte seit geraumer Zeit versucht, mein Denken zu stoppen, und auf einmal war klar, dass ich fortan eine andere Strategie verfolgen musste. Die spirituelle Anweisung, einfach »aufzuhören«, richtet sich nicht an den Geist, die Gefühle oder die Persönlichkeit. Sie bezieht sich auf den nachträglichen Gedanken, durch den etwas als Verdienst angerechnet oder als Schuld ausgewiesen und gesagt wird: »Das ist meins!« Hör auf! Hierauf zielt die Belehrung, aufzuhören, ab. Hör einfach damit auf. Und dann fühl, wie schwach das Ichgefühl in dem Augenblick ist. Wenn das Ichgefühl kraftlos geworden ist, weiß es nicht mehr, was es tun soll, ob es sich nach vorn oder hinten, rechts oder links wenden soll. Dieses
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Anhalten ist entscheidend. Der Rest ist nur ein Spiel. In der Ruhe entfaltet sich nach und nach ein anderer Seinszustand, ein ungeteilter Zustand. Warum? Weil wir nicht mehr mit uns selbst im Streit liegen. Das hat der Verstand vielleicht mitangehört, und sofort fragt er: »Was ist denn ein ungeteilter Seinszustand?« Und schon verpasst du das, was gerade geschieht. Den ungeteilten Seinszustand fühlt man; er ist nicht in irgendeinem abstrakten, erdachten Raum zu finden, der selbst schon wieder geteilt ist. Den ungeteilten Zustand berühren wir, wenn wir wehrlos werden, wenn wir nicht versuchen, etwas zu beweisen oder abzuleugnen, und uns dieser Wehrlosigkeit ohne Widerstand ausliefern. Dann stellt sich ein Zustand ein, bei dem man im Körper und zugleich außerhalb des Körpers ist und der Körper nicht mehr mit sich im Streit liegt. Auch die Gedanken liegen nicht mehr im Streit miteinander, ob der Geist nun Gedanken produziert oder nicht. Werde neugierig auf dein wahres Wesen, auf das, was du wirklich bist, denn diese Neugier macht dich offen für den ungeteilten Zustand. Im ungeteilten Zustand erkennst du als Erstes, dass du nicht weißt, was du bist. Vorher, als du es wusstest, warst du gespalten - immerfort. Hier, wo es keine Teilung gibt, ist auch kein schweres, enges, beschränktes Selbstgefühl mehr da. Du wirst zum Mysterium. Die Spaltung begünstigt die Entstehung eines Selbstgefühls. Es ist zum Beispiel da, wenn wir wütend sind. Aber wenn nur Wut da ist und keine Identifikation stattfindet, entfaltet diese sich plötzlich ganz von selbst. Es ist eine Energie, die aus sich selbst entsteht und vergeht. Wo bin
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ich dabei? Wenn es nicht »meine« Wut ist, wenn ich nicht »mit mir« zerfallen bin - was bin ich dann? Lass es zu, dass sich das Mysterium des Seins auf eine erfahrbare Weise entfaltet. Beginne lieber auf der Ebene des Seins statt auf der Ebene des Denkens. Während sich das Mysterium entfaltet, erstrahlen wir immer stärker in diesem gegenwärtigen Bewusstsein. Und das Identitätsgefühl hört allmählich auf, sich durch Abspaltung und innere Konflikte zu definieren. Der Geist merkt, dass kein Haken mehr da ist, an dem er die Identität festmachen könnte, und so löst sie sich allmählich in die Offenheit hinein auf. Rätselhafter- und paradoxerweise sind wir umso präsenter und lebendiger, je mehr die Identität sich auflöst. Das Selbstgefühl schmilzt wie Zucker in Wasser, bis es den Anschein hat, dass gar kein Selbst mehr da ist, und doch existieren wir noch. Buddha hätte vielleicht gesagt: »Aller Zucker aufgelöst - kein Selbst mehr.« Und Ramana Maharshi hätte vielleicht gesagt: »Der Zucker hat sich im Wasser aufgelöst, also sind Zucker und Wasser ein und dasselbe - nur noch das Selbst.« Die letzte Befreiung vom nichtexistenten Ego ist die Einsicht, dass es im Grunde irrelevant ist. Solange es als relevant angesehen wird, entsteht es ständig neu. Alle guten Vorsätze dieser Welt nähren es. »Ich befreie mich Tag für Tag etwas mehr von mir selbst, eines Tages werde ich mich ganz von mir gelöst und absolut kein Ego mehr haben.« Wie klingt das in deinen Ohren? Nach Ego. Aber wenn das Ich in einem Augenblick der inneren Einkehr als irrelevant erkannt wird, ist das Spiel vorbei. Es ist wie bei jemandem, der Monopoly spielt und denkt, sein Leben
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hinge davon ab, dass er das Spiel gewinnt, bis ihm plötzlich dämmert, dass es völlig belanglos ist - es spielt keine Rolle. Er spielt vielleicht weiter. Oder er steht auf und holt sich ein Sandwich. In diesem Leben geht es nicht darum, das spirituelle Spiel zu gewinnen; es geht darum, aus dem Spiel zu erwachen. Es gibt aber noch einen anderen Teil in uns, die so genannte »Konditionierung«. Dabei handelt es sich nicht um das Ego. Konditionierung ist Konditionierung, nicht EgoKonditionierung. Die Konditionierung ist so etwas wie die Installation eines Programms im mentalen Computer. Wenn das Programm installiert ist, heißt das nicht, dass der Computer nun ein Ego hätte. Er wurde nur für eine gewisse Zeit konditioniert. Wenn wir erwachsen sind, ist die Konditionierung des Körper-Geistes abgeschlossen. Für diese Konditionierung wird das Ego verantwortlich gemacht, aber sie kommt gar nicht vom Ego. Das Ego ist der nachträgliche Gedanke, der im Kielwasser der Konditionierung entsteht -, da, wo alles wirklich Gewaltsame geschieht. Wenn wir erkennen, dass die Konditionierung eine Art Programmierung durch den genetischen Code, die Gesellschaft, Eltern, Lehrer, Gurus usw. ist (der Verstand beginnt außerdem, sich selbst zu konditionieren, aber das ist eine andere Geschichte), geht uns nach und nach auf, dass die Konditionierung ohne Selbst auskommt. Das macht dem Verstand Angst, denn wenn die Konditionierung ohne Selbst geschieht, gibt es niemanden, der zu tadeln wäre. Dann würden wir ebenso wenig etwas an uns selbst oder jemand anderem auszusetzen finden wie an unserem
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Computer, nachdem wir eine CD eingeschoben haben. Betrachte den gegenwärtigen Augenblick, um zu erkennen, welche Konditionierungen da sind, und es wird deutlich werden, dass nichts daran auszusetzen ist. Es ist Teil des Daseins. Ohne Konditionierung oder Programmierung des Körpers würde uns der Atem stocken und das Gehirn ausrasten, und es gäbe keine Intelligenz - auch sie gehört zur Konditionierung. Die Konditionierung bleibt so fest in uns verankert, weil wir sie als »unsere« interpretieren. In diesem Fall gibt es natürlich auch etwas an uns und anderen auszusetzen, und dann versuchen wir, die Konditionierung aufzuheben, weil »wir« sie angeblich geschaffen oder nicht geschaffen haben oder uns nicht von ihr befreien können, und das mag der Verstand gar nicht. Der Verstand ist so verblendet, dass er denkt, er könnte die Konditionierung aufheben, aber sobald die Wahrheit in uns wirkt, nimmt die Gespaltenheit immer mehr ab. Wenn die Konditionierung nicht als »meins« bezeichnet wird, entsteht sie im ungeteilten Zustand. Dieser könnte auch der unkonditionierte Seinszustand genannt werden. Wenn Konditionierung und ungeteilter Zustand sich begegnen, findet eine alchemistische Transformation statt. Es geschieht ein heiliges Wunder. Wenn etwas aufsteigt, kann es erfahren werden als »Das bin ich« oder »Das bin ich nicht, ich bin doch hier«. Beides sind Bewegungen im Geist, nachträgliche Gedanken, besser bekannt als Ego. Doch wenn der ungeteilte Zustand eintritt, geschieht unter Umständen zweierlei. Als Erstes erwachen wir möglicherweise zu unserem wahren Wesen,
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dem ungeteilten Zustand, dem ungeteilten Sein. Als Zweites kann es passieren, dass die Konditionierung, diese Verwirrung, die in aller Unschuld durch Unwissenheit übertragen worden ist, im ungeteilten Sein aufgeht. Wenn die Konditionierung bei einem Menschen einsetzt, der in einem ungeteilten Zustand ist, in dem er weder von ihr Besitz ergreift noch sie verleugnet, kann es zu einem heiligen alchemistischen Prozess kommen, durch den sich die Konditionierung ganz von selbst mit der Ungeteiltheit vereinigt. Sie sinkt einfach ab wie Schlamm in Wasser. Es ist wie ein Naturwunder. Das ist mitunter eine heikle Angelegenheit, denn wenn auch nur die leiseste Aneignung oder Ablehnung der Konditionierung stattfindet, wird der Prozess unterbrochen. Er verlangt von uns innere Weichheit und Offenheit, denn das Gefühl der Ungeteiltheit ist sehr zart, und wir können nicht danach suchen, wie ein Vorschlaghammer nach einem kleinen Nagel sucht. Darum betonen alle spirituellen Lehren die Demut, denn sie hilft uns, sanft und bescheiden in die Wahrheit unseres Seins einzutreten. Wir können die Himmelstore nicht erstürmen. Stattdessen müssen wir es zulassen, dass wir immer wehrloser werden. Dann beginnt das Bewusstsein des Seins immer heller zu strahlen, und wir erkennen, wer wir sind. Wir sind dieses Strahlen. Wenn es aufstrahlt, sehen wir, dass diese Helligkeit, dieses Leuchten wir selber sind, und dann kommen wir allmählich durch eigene Erfahrung zu der Erkenntnis, was es mit unserer Geburt als Mensch überhaupt auf sich hat. Das Leuchten kommt zurück, um für sich selbst zu sor-
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gen, für jede kleinste Verwirrung, für jedes Quäntchen Leid. Für all die Dinge, denen das Ich zu entrinnen versuchte, kommt das heilige Selbst zurück. Dieses leuchtende Selbst beginnt sein wahres Wesen zu entdecken, es will sich ganz befreien, sich freuen und sich mit all seinen Facetten wahrhaft lieben. Wahrhaft heilig ist die Liebe zu dem, was ist, nicht Liebe zu dem, was sein könnte. Diese Liebe befreit, was ist. In seinem tiefsten Herzen liebt jeder Mensch das, was ist. Darum können wir keinem Teil unser selbst entfliehen. Nicht weil wir Versager sind, sondern weil wir bewusst sind und durch diese Geburt zu uns als Ganzem zurückkehren. Ganz gleich, wie groß unsere Verwirrung auch ist, wir kehren zurück für jeden Teil unserer selbst, der aus dem Spiel gelassen wurde. Das ist die Geburt wahren Mitgefühls und wahrer Liebe. Viel zu lange haben spirituelle Traditionen gelehrt, was man alles abtöten muss, um zur Liebe zu gelangen. Aber das ist ein Märchen. In Wahrheit ist es die Liebe selbst, die wirklich befreit.
12 Liebe Jeder kennt die Art von Liebe, die in Liedern, Gedichten, Werbespots und Schülerliebschaften besungen wird. Diese Art von Liebe ist schön, aber ich will von Liebe in ihrer Essenz, in ihrer grundsätzlichsten Form sprechen. Liebe ist ein wichtiger Aspekt der Wahrheit. Ohne Liebe gibt es keine Wahrheit. Ohne Wahrheit gibt es keine Liebe. Wer schon einmal das Glück hatte, eine tiefe, bedingungslose Liebe zu erleben, weiß, dass sie alle Erfahrungen und Gefühle sprengt. Wenn du diese Liebe einmal erlebt hast, weißt du, dass sie auch dann noch da ist, wenn du nicht mehr in romantischen Gefühlen schwelgst. Wenn es keine wirkliche Liebe ist, merkst du, sobald der Zustand der Verliebtheit abgeklungen ist, dass du nur Gefühle hattest, sonst nichts; dann bist du wie ein Auto, dem das Benzin ausgegangen ist. Das ist keine wirkliche Liebe, es ist nicht die tiefste Liebe, nicht der Urgrund der Liebe. Wenn du wirklich liebst, weißt du, dass die Liebe über alles Erfahrbare hinausgeht. Zum Beispiel liebt eine Mutter ihr Kind auch dann noch, wenn es ihr auf die Nerven geht. Sie weiß, dass selbst in schwierigen Zeiten, wenn sie verärgert ist, noch Liebe da ist. Wenn du jemals einen
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Freund oder eine Freundin geliebt hast, weißt du, dass die Liebe da ist, auch wenn du sie nicht fühlst, auch in schwierigen Zeiten. Die tiefste, innigste Anteilnahme übersteigt alle Erfahrungen. Natürlich kommt die Liebe auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck. Aber wenn du auf eine echte Liebeserfahrung blickst, weißt du, dass die Liebe auch ohne eine solche Erfahrung da ist. Jedesmal, wenn du sie mit Worten beschreibst und sagst: »So ist die Liebe« oder: »So fühlt sich die Liebe an«, wird dir klar, dass sie auch in Abwesenheit dieser Definition besteht. Du kannst sie im Grunde nicht erfassen, indem du sagst: »So ist wahre Liebe wirklich«, weil sie darüber hinausgeht. Sie ist ein bisschen wie das Selbst: Sie ist nicht zu finden. Du könntest also sagen: »Ich kann kein Selbst finden, folglich gibt es wohl keins.« Und doch ist da etwas Waches, Leuchtendes, Bewusstes, auch wenn es sich dabei um strahlendes Nichts handelt. In ähnlicher Weise ist in der Wahrheit stets der Aspekt der Liebe präsent, wenn die Wahrheit präsent ist. Diese Liebe transzendiert Ebbe und Flut der Emotionen; sie ist immer offen. Wenn du die Offenheit wegnimmst, ist die Liebe tot, ist die Wahrheit tot. Diese Liebe ist etwas, das uns ohne Worte zu einer tiefen Verbundenheit verhilft, und sie überkommt uns, wenn wir wirklich zugänglich, wirklich offen sind. Durch Worte wird sie weder verstärkt noch vermindert. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Unausgesprochene richten, ist sie da. Dann ist die Verbindung geknüpft - etwas Schönes, Inniges geschieht. Wenn wir auf diese wortlose Art offen sind, haben wir ein Gefühl, als begegne Offenheit Offenheit.
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Jeder hat dies irgendwann schon einmal erfahren, sich jedoch aus irgendwelchen Gründen zugunsten anderer Prioritäten von der Offenheit gelöst. Irgendetwas passierte, es hat »schnipp!« gemacht, und schon war die Verbindung gekappt; danach begann das Lügen. Wenn du dich von der Ebene des Wortlosen trennst, ist es so, als würdest du sagen: »Ich werde jetzt anfangen zu lügen oder Halbwahrheiten zu sagen.« Das Lügen fällt leicht, wenn man das Herz vor der Liebe verschließt. Solange du im Herzen mit ihr verbunden bleibst, fällt es dir schwer, zu lügen oder Halbwahrheiten zu sagen. Wenn du an der Liebe festhältst, wird jede Beziehung, die du eingehst, eine vollkommene Transformation erfahren, sogar deine Beziehung zu dir selbst. Das mag etwas seltsam für deine Ohren klingen, weil du früher einmal gelernt hast, dass die Liebe speziellen Augenblicken, speziellen Menschen und speziellen Umständen vorbehalten sein sollte. Es schien tabu zu sein, sie wahllos auszudehnen. Vielleicht hast du gedacht: »Ich will sie für dich, für dich und für dich aufheben - aber ihr anderen seid mir eher ein Graus.« Doch dieser Zustand der Wachheit, diese Liebe, die nicht zu beschreiben ist und die als innige Verbundenheit und Einheit erfahren wird, diese Liebe trifft keine Unterscheidungen. Sie weiß nicht, wie sie sich ein- und ausschalten soll. Ein solcher Schalter besteht nur im Kopf. Diese Liebe ist immer eingeschaltet. Sie ergreift Heilige und Sünder gleichermaßen. Das ist wahre Liebe. Falsche Liebe äußert sich so: »Ich liebe dich mehr als irgendeinen anderen, weil du meiner kleinen, verdrehten Weltanschauung besser entsprichst als jeder andere.«
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Wahre Liebe ist gleichbedeutend mit Wahrheit. Sie ist nicht von Wahrheit verschieden. Es ist nicht die Art von Liebe, bei der man mit dem perfekten Partner zum Abschlussball geht. Das ist zwar schön, aber etwas anderes. Liebe in ihrer tiefsten Essenz flammt nicht auf und erlischt auch nicht. Sie ist einfach, Punkt. Sie erstreckt sich sogar auf Menschen, die du vielleicht nicht magst. Und das nicht etwa, weil wir diese Liebe kultivieren oder edel, hilfreich und gut werden. Das hat nichts mit der Liebe zu tun, von der ich spreche. Die Liebe, die ich meine, ist eine tiefe, einfache Erkenntnis, etwas, das sich in jeder Erfahrung, in jedem Wesen und in jedem Paar Augen selbst begegnet und erkennt. Sie begegnet sich in allem, was geschieht. Es ist Liebe zu der einfachen Tatsache, dass überhaupt etwas geschieht, denn das ist das eigentliche Wunder. Es könnte doch leicht sein, dass nichts da ist; viel eher könnte nichts da sein als etwas. Es ist ein Wunder, dass überhaupt etwas geschieht und wir in dieser Fülle namens Leben leben. Die tiefe Liebe ist etwas, das keinen Anfang und kein Ende hat. Das Aufflammen und Verlöschen der Liebe ist meist weit vom Wesen der Liebe entfernt. Auch diese Art von Liebe gehört für die meisten Menschen zur Lebenserfahrung, aber die wahre Liebe wird einfach daran erkannt, dass sie da ist. Es ist eine große Überraschung, wenn sie uns das erste Mal bewusst wird - wenn wir feststellen, dass diese Liebe hier, die direkt aus uns selbst kommt, mit allem in Liebe verbunden ist, dem sie begegnet. »Wie kann das sein? Ich kann die Person eigentlich gar nicht lieben, sie hat eine völlig andere Philosophie als ich.«
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»Wo kommt denn hier die Liebe her? Unsere politischen Ansichten sind doch vollkommen entgegengesetzt!« »Warum liebe ich dich nur? Wie konnte sich diese Liebe bloß bei mir einnisten? Was für eine Liebe ist das?« Das ist die tiefe Liebe. Das ist die Liebe, die gleichbedeutend ist mit Wahrheit. Wo diese Liebe gegenwärtig ist, ist auch die Wahrheit gegenwärtig. Wo die Wahrheit präsent ist, ist auch diese Verbundenheit, diese tiefe Liebe, präsent. Viele biblische Geschichten über Jesus beschreiben diese Art von Liebe. Die Leute in seinem Umkreis erzählten ihm ständig, was alles unliebenswert sei: »Die Hure dort, die werden wir steinigen. Gott liebt keine solchen Menschen.« Aber Jesus in seiner totalen Verbundenheit wusste, dass die wahre Liebe keine Unterschiede kennt. Sie ist nicht da, weil jemand nett oder edel ist. Sie ist einfach da und liebt alle gleichermaßen. Die Botschaft Jesu gründet sich im Wesentlichen auf diese Art von Liebe. Diese Liebe erfasste sogar die, die für Jesu Tod verantwortlich waren. Er sagte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Das entspringt der Liebe, die nicht aufhört, auch nicht im Angesicht des Todes. Das ist die Stimme der Liebe. Der Verstand sagt vielleicht: »He, sie werden mich umbringen. Da habe ich wohl das Recht, meine Liebe zurückzuhalten.« Doch die Wahrheit hält sich nicht an dieses Gesetz; sie spielt das Spiel nicht nach den Regeln, die der Verstand aufstellt. Sie liebt einfach. Aber täusch dich nicht: Diese Liebe steht in keinem Zusammenhang damit, dass du edel, hilfreich und gut wirst. Es ist eine Liebe, die schon vor Anbeginn der Zeit existier-
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te. Sie war immer da und wird immer da sein. Diese Liebe ist einfach. Du musstest dich von dieser Liebe abwenden, um deine Existenz als Einzelwesen zu verteidigen, aber sie ist trotzdem nicht versiegt. Und das ist überhaupt deine größte Angst, nämlich festzustellen, dass du alle möglichen Menschen und Dinge liebst, die zu lieben dein Verstand dir abrät. Das Einzige, was noch mehr Angst macht als der Tod, ist Liebe, wahre Liebe. Herauszufinden, dass du liebst, dass dein Wesen Liebe ist, bedeutet den Anfang vom Ende all dessen in dir, was sich getrennt glaubt. Wenn du dich über andere Menschen ärgerst, liegt es im Grunde daran, dass die Liebe da ist und du dich dagegen sträubst. Darum gehen sich Partner bei ihrer Scheidung oft an die Gurgel. Da sie geschieden werden, meinen sie, dass keine Liebe mehr da ist, dabei ist sie weiter da. Das mag dir nicht zusagen, vielleicht willst du ja nicht mehr mit dem anderen zusammenleben, aber die Liebe ist weiterhin da, weil man nicht einmal lieben kann und dann keinmal mehr. Wenn es den Menschen gelingt, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass die Verliebtheit irgendwann verfliegt, innige Zuneigung und Verbundenheit jedoch bestehen bleiben, kann das ihre Energie befreien. Und du kannst dich getrost bei einem einzelnen Menschen an die Liebe gewöhnen, denn irgendwann wird dir aufgehen, dass sie bei allen Wesen da ist. Sie ist einfach da. Sie stellt keine Bedingungen. Es spielt keine Rolle, wer es ist. Wenn du die Liebe annehmen kannst, weißt du, wann du bei jemandem bleiben und wann du ihn verlassen musst.
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Wahre Liebe hat nichts damit zu tun, ob man jemanden mag, mit ihm oder ihr übereinstimmt oder sich verträgt. Vielmehr ist sie eine Liebe des Einsseins, eine Liebe, bei der Gott in all seinen Verkleidungen auftritt und sich in allen wiederfindet. Ohne sie wird die Wahrheit ein abstrakter Begriff, etwas Kaltes, Analytisches, und das ist nicht die echte Wahrheit. Die Wahrheit zeigt sich in der Bereitwilligkeit, sich dieser innigen Verbundenheit mit allem zu öffnen. Ob der Einzelne es mag oder nicht, die Verbundenheit ist da. Manchmal kommt die Liebe angestürmt und zeigt sich auf unübersehbare Weise. Und manchmal glimmt sie im Hintergrund vor sich hin wie Holzkohlenglut und ist einfach für alle da. Bei dieser Liebe kannst du fühlen, wie die tiefe Verbundenheit erkannt wird und die Mauern des Widerstands ganz von selbst in sich zusammenfallen. Nicht genug damit, dass die Mauern fallen, sondern die Liebe, die du empfindest, umfasst alles und jeden, ja das Leben selbst. Es ist wie bei der Elternliebe zu einem Kind: Diese Liebe bleibt konstant, auch wenn die Eltern manchmal frustriert sind. Darin gleicht sie dem Leben, das einen manchmal zur Verzweiflung treibt und dann wieder total schön ist. Diese Liebe besteht jenseits aller guten und aller schwierigen Momente, die einander auch weiterhin abwechseln. Wenn du zu dieser Liebe erwacht bist, die alle guten und schlechten Augenblicke übersteigt, wird deine Beziehung zum Leben selbst radikal revolutioniert. Diese Liebe hat kein Gegenteil wie etwa Hass, sondern ist in allem gegenwärtig, in jedem Augenblick. Sobald du das erkennst, vollzieht sich eine Revolution, denn wenn du
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erkennst, dass diese Liebe, die du bist, das Unliebsame liebt, dass sie das liebt, was du nicht lieben darfst oder aus kulturellen Gründen nicht lieben solltest, und dass sie sich nicht an die Trennungsregeln des Ego hält, wird dir klar, dass es sich um eine andere Art von Liebe handelt. Bitte versteh mich richtig: Die Liebe, von der ich spreche, schließt nichts aus, auch keine anderen Liebeserfahrungen. Die Liebe der Freundschaft, die Liebe der Ehe sowie viele andere Arten von Liebe haben alle ihre eigene Daseins- und Bewegungsform in dieser Welt. Mir geht es jedoch um das Wesen der Liebe, um die Essenz, die allen Formen der Liebe innewohnt. Das ist die wahre spirituelle Liebe, eine tiefe, wortlose Verbundenheit. Nur diese Liebe hat die Macht, unseren Beziehungen Leben einzuhauchen, unseren Beziehungen untereinander und unseren Beziehungen zur Welt. Diese Liebe ist zeitlos und unfassbar. Schon oft haben mir Leute, die zu dieser Liebe erwacht sind, gesagt: »Adya, das ist einfach zu viel für mich - es zerreißt mich.« Lachhaft! Zu viel? Du bist durchsichtig. Du bist leer. Die Liebe strömt einfach durch dich hindurch und über dich hinaus. Nur wenn du dich in einer bestimmten Weise eingrenzt, wird sie dir zu viel. Wenn du an der Vorstellung festhältst, dass du endlich bist und dir Grenzen gesetzt sind, kannst du sie natürlich nicht fassen. Denn die Liebe ist und bleibt unfassbar.
13 Spirituelle Sucht Ein spiritueller Mensch kann süchtig werden nach spirituellen Highs und dabei die Erfahrung der Wahrheit verpassen. Zu einer spirituellen Abhängigkeit kommt es dann, wenn etwas Großartiges geschieht und sich ein Gefühl wie unter der plötzlichen Wirkung einer tollen Droge einstellt. Sobald du es hast, willst du mehr davon. Keine Droge ist potenter als eine spirituelle Erfahrung. Die intellektuelle Komponente dieser Sucht ist die Überzeugung, dass du nur genügend solcher Erfahrungen sammeln musst, um dich immer so high zu fühlen. Sie wirkt wie Morphium. Du bekommst einen Schuss davon im Krankenhaus, weil du dir den Arm gebrochen hast, und denkst: »Wenn ich nur immer ein kleines bisschen davon bekäme, wäre mein Leben relativ angenehm, egal, was passiert.« Mit spirituellen Erlebnissen geht es oft genauso, sie werden in ein vertrautes Muster eingepasst, sodass du denkst: »Wenn ich diese Erfahrung immer hätte, wäre ich endlich frei.« Aber bald merkst du, dass es dir kaum besser geht als einem gewöhnlichen Trinker, nur dass der Trinker um sein Problem weiß, weil es gesellschaftlich inakzeptabel ist, betrunken zu sein. Der spirituelle Mensch ist sich sicher, dass
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kein Problem vorliegt, dass seine Trunkenheit keine Ähnlichkeit mit anderen Formen der Trunkenheit aufweist und dass es letztlich darum geht, für immer und ewig spirituell berauscht zu sein. So ist die Denkart eines Süchtigen: »Ich hatte es und habe es wieder verloren. Ich brauche es. Ich habe es nicht mehr.« In unserer Kultur geht man bei den meisten Abhängigkeiten davon aus, dass es dem Süchtigen dreckig geht. Dem Suchenden wird erzählt, die spirituelle Sucht unterscheide sich von allen anderen Abhängigkeiten. Du bist doch kein Junkie, du bist ein Mensch auf der spirituellen Suche, heißt es. Das Problem bleibt ein Problem, solange etwas in dir die Hoffnung auf ein High aufrechterhält. Erst wenn diese schwindet, erkennst du allmählich, dass die angenehmen, wunderbaren, erhebenden Erfahrungen einem sehr angenehmen, erhebenden Alkoholrausch vergleichbar sind. Für kurze Zeit bringen sie ein Hochgefühl mit sich, um dann ins Gegenteil umzuschlagen. Auf das spirituelle Hoch folgt ein spirituelles Tief. Das habe ich bei vielen Schülern beobachten können. Wenn du die Achterbahnfahrt lange genug mitgemacht hast, dämmert es dir, dass das spirituelle High womöglich nur Teil einer Pendelbewegung ist, die anschließend wieder ihren Tiefpunkt erreicht. An irgendeinem Punkt hast du vielleicht einmal einen lichten Moment und merkst, dass das Pendel vollkommen gleichmäßig von einer Seite zur entgegengesetzten Seite schwingt. Dir wird klar, dass es unmöglich ist, nur einen Teil der Pendelbewegung zu erhalten, weil es in der Natur des Pendels liegt, hin und
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her zu schwingen. Das Pendel lässt sich auf keinen Punkt seiner Schwingung festlegen. In einer solchen Pendelbewegung befindet sich der Suchende ebenfalls, wobei es sich dabei auch um die Bewegung des Ichs handelt, denn das Ich orientiert sich in seinen Reaktionen ebenfalls nach zwei Seiten hin und versucht manche Erfahrungen zu bewahren, während es andere lieber vermeidet. So verfährt das Ich. Es jagt dem Guten hinterher und meidet das Schlechte. Solange du dich mit dieser Bewegung identifizierst, wirst du nie frei sein, selbst wenn du erhabenste spirituelle Höhen erreicht hast. Darin liegt keine Freiheit, weil es nicht möglich ist, eine Erfahrung zu erhalten. Die Freiheit hat ihrem Wesen nach nichts mit der Erhaltung eines bestimmten Erlebnisses zu tun, denn es liegt in der Natur von Erfahrungen, flüchtig zu sein. Sie sind ebenso in Bewegung wie die Zeiger einer tickenden Uhr. Wir müssen über dieses Thema der spirituellen Abhängigkeit reden, denn wenn ihr in diesem Punkt kein Verständnis zeigt, werdet ihr auch den nächsten Punkt, den ich ansprechen will, nur für ein weiteres ausgefallenes spirituelles Konzept halten. Doch wenn ihr den ersten Punkt begreift - nämlich dass es beim spirituellen Erwachen nicht um irgendein High geht -, wird der zweite eine viel tiefere Bedeutung für euch haben und von viel größerem Interesse für euch sein. Der zweite Punkt ist der, dass alles Bewusstsein ist. Alles ist Gott. Alles ist eins. Die Einsicht, dass alles eins ist, macht den Versuch überflüssig, den Pendelschwung der Erfahrung an einem bestimmten Punkt einzufrieren. Wenn alles eins ist, ist es kein Unterschied,
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ob das Pendel gerade hoch schwingt oder ob es gerade an einer anderen Stelle angekommen ist. Zen-Lehrer erklären nichts in abstrakter Form, was sowohl das Schöne als auch das Schreckliche daran ist. Jakusho Kwong Roshi pflegte diese Sache zu erklären, indem er seinen Stock hoch hielt und sagte: »Das ist Buddha.« Danach schlug er mit dem Stock auf den Boden, dass es nur so krachte, und alle dachten: »Wow! Das ist endlich mal echtes Zen! Ich wünschte nur, ich wüsste, was er damit sagen will.« Und dann schlug er weiter auf den Boden - »bumm, bumm, bumm, bumm« - und sagte: »Das ist Zen. Dies ist es!« Und wieder sagten alle: »Wow!« und fragten sich: »Was denn? Wo denn?«, aber keiner sagte es. Wir dachten: »Das kann es doch wohl nicht sein, er haut ja nur mit dem Stock auf den Boden.« Der Verstand sieht nicht alles im Einen, deshalb sucht er weiter danach: »Wo ist es? Was für ein Zustand ist das?« Da das Ich alles auf seine eigene emotionale Verfassung bezieht, bestimmt es auf diese Weise auch, was wahr ist. Das Ich denkt, das Wahre sei immer eine erhabene spirituelle Emotion, aber der krachende Stock löste beileibe keine erhabene spirituelle Emotion aus. Dann sagte mein Lehrer etwas, das alles noch schlimmer machte: »Das ist eine konkrete Beschreibung der Wahrheit. Das ist Buddha. Das ist nichts Abstraktes«, woraufhin wir wirklich nicht mehr weiter wussten... Es ist ein wahrer Segen, eine Lehre in so kompromisslos konkreter Form übermittelt zu bekommen, denn er hätte auch einfach, wie ich es manchmal tue, sagen können: »Alles ist Bewusstsein. Alles ist eins.« Dann denkt der Ver-
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stand: »Jetzt hab ich's. Das leuchtet mir ein. Was das bedeutet, weiß ich.« Aber wenn ein Stock auf den Boden kracht und der Lehrer sagt: »Dies ist es!«, kannst du dein Denken nicht darum herumwickeln. Im Aufschlagen des Stockes ist Gott so nah, wie du ihm je kommen kannst. Alles, was danach kommt, ist eine Abstraktion, eine Bewegung weg vom Fakt. Im Zen werden keine Konzessionen zugunsten der Abstraktion gemacht. Das ist der Segen wie auch der Fluch des Zen, denn es zwingt die Schüler, das Wahre zu erkennen, statt zu denken, sie hätten verstanden, während sie in Wirklichkeit nichts begriffen haben. Hierbei gerät der spirituelle Sucher in eine Zwickmühle. Bei der Meditation darüber, was »alles ist eins« bedeutet, beginnt das Ich nach einer Erfahrung dieses Einsseins zu streben. Dann liest es ein Buch über die Erfahrung des Einsseins oder einen Bericht darüber, wie man mit der Rinde eines Baums oder etwas anderem verschmilzt und darin aufgeht, und schon stochert es in früheren Erfahrungen nach, ob es nicht auch einmal ein solches Erlebnis hatte. Die Erfahrung des Verschmelzens ist sehr angenehm und schön; vielleicht machst du sie manchmal oder auch nicht. Wenn du einen bestimmten Typ von Körper-Geist hast, machst du sie unter Umständen alle fünf Minuten. Bei einer anderen Art von Körper-Geist machst du sie vielleicht nur alle fünf Jahre. Es ist völlig ohne Belang, wie oft sich diese Erfahrung einstellt und ob überhaupt. Ich kenne Leute, die im Handumdrehen verschmelzen können, und sie sind etwa so frei wie ein Hund, der im Zwinger seinem eigenen Schwanz hinterherjagt. Das Verschmel-
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zen hat nichts mit Freisein zu tun, geschweige denn mit irgendeiner Vorstellung davon, was Einssein wirklich ist. Einssein bedeutet einfach nur, dass alles das Eine ist. Alles ist eins, und alles war immer schon eins. Sobald ein sehr tiefes Wissen da ist, dass alles eins ist, hört die Suche des Ichs nach früheren Erlebnissen in dieser Richtung auf. Die Bewegung wird gestoppt. Die Suche wird gestoppt. Der oder die Suchende wird gestoppt. Durch die Erkenntnis wird alles auf einmal gestoppt. Jede Erfahrung, die du je machen kannst, ist das Eine, ob es sich dabei um ein Verschmelzen handelt oder um den Gang zur Toilette. Auch wenn es der krachende Stock und die Sätze sind: »Das ist es. Das ist der Buddha. Das ist der erleuchtete Geist. Mehr Erleuchtung gibt es nicht!« Es ist alles Gott. Diese Einsicht dämmert oft erst, wenn das Ich, das die Erfahrung des Einsseins bisher mit dem Pendelschwung zum höchsten emotionalen Zustand hin verband, merkt, wie einschränkend diese Überzeugung ist. Die Erfahrung des »Ich hatte es und hab's wieder verloren« ist eine sehr wertvolle Erfahrung für den spirituellen Sucher. Das Schöne am Hin und Her der Erfahrung ist, dass sie das Ich zwingt, alle festen Vorstellungen über die betreffende Erfahrung aufzugeben. Du stellst endlich deinen falschen Glauben infrage, die Erfahrungsqualität irgendeines Augenblicks könnte dir etwas über das höchste Wesen der Wirklichkeit sagen. Das Ich denkt, es sei seiner wahren Natur näher, wenn es sich wohlfühlt, und ihr ferner, wenn es ihm schlecht geht. Aber in diesem Hin- und Herpendeln zwischen »Ich hatte es« und »Ich hab's wieder verloren« hört es allmählich auf, an seine Selbsttäuschung zu
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glauben. Etwas beginnt, diese zu durchschauen, und erkennt, dass das keine Freiheit ist. Wenn jedoch der Suchende auf eine bestimmte Weise programmiert ist, wird er hören, was ich sage, und denken: »Vergiss es. Ich glaube trotzdem, dass ich die Pendelbewegung beim spirituellen High anhalten und darin verweilen kann.« Unter Umständen richtet er seine ganze Existenz, sein ganzes Identitätsgefühl auf diese Pendelerfahrung aus. Es ist sehr desorientierend, festzustellen, dass man sein ganzes Leben, vielleicht sogar mehrere Leben, daran gewandt hat, seine Erfahrung mit einem emotionalen Hochgefühl zu verknüpfen, und alles, was es bewirkt hat, ist, dass man ein Junkie wurde und nach spirituellen Erfahrungen süchtig geworden ist. Das kann dich in ein neues Tief und noch größere Verwirrung stürzen. Wenn du völlig desorientiert bist, versuchst du vielleicht, von alledem wegzukommen, weil der Sucher in dir plötzlich nicht mehr weiß, was er tun soll. Er ist völlig verwirrt und fragt sich: »Wenn ich nicht hinter diesem High herjagen soll, um frei zu werden, was bleibt mir dann?« Der Suchende muss inmitten dieser Desorientierung und dieses Gefühls, nicht weiterzuwissen, ausharren, denn in dem Augenblick, in dem er widerstandslos darin verweilt, statt davon abzurücken, wird etwas Neues geboren. Spüre in deiner eigenen Erfahrung nach, was da geboren wird, wenn du dich der Desorientierung des spirituellen Suchers auslieferst, der nicht länger auf eine andere Erfahrung aus ist als die, die er gerade macht. Du kannst fühlen, wie sich der Sucher in dir auflöst und wie sich Friede aus-
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breitet, der Friede, den der Suchende immer erstrebt hatte. Während sich der Sucher auflöst, wird Friede geboren, und Stille tritt ein. Das ist keine Stille, die in irgendeiner Weise von einem emotionalen Zustand abhängt. In dem Moment, in dem sich der Sucher auflöst und nur noch Friede herrscht, kann die Pendelbewegung sowohl einen Zustand höchster Spiritualität als auch einen vollkommen normalen oder gar unangenehmen Zustand erreichen, aber der Friede bleibt völlig unabhängig davon. Jetzt dämmert allmählich die Erkenntnis, dass nur an dem Punkt, wo der Suchende sich auflöst, Frieden einsetzen kann, denn nur dort ist keine Bewegung mehr zu einer Erfahrung hin oder von ihr weg. Das Wesen der Erfahrung ist Veränderung, ist ein Wogen wie das der Wellen im Ozean. So muss es sein. Jetzt aber wechselt die Identität einfach vom »Ich«, dem Suchenden, der einer bestimmten Erfahrung nachjagt, zu diesem hier. Einfach diesem. Die Mitte ist immer genau hier. Die Mitte war immer genau hier. Nur hat der Suchende immer darauf bestanden, dass die Mitte in einem spirituellen High zu finden wäre. Doch sowie er sich auflöst, ist im selben Augenblick die Mitte genau hier. Hier ist keine Bewegung. Du kannst eine vollkommen normale, eine sehr unglückliche oder eine außergewöhnliche emotionale oder psychische Erfahrung machen, und trotzdem ist die Mitte genau hier. Und nur von hier aus kommst du allmählich zu der Erkenntnis, dass alles Ausdruck dieser Mitte ist. Alles. Ohne Unterschied entspricht eins wie das andere der Wahrheit. Keine Erfahrung kommt der Wahrheit näher als die andere, denn in der Mitte von allem ist
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kein Suchender mehr da. Die Mitte ist genau hier, hier ist nichts, alles ist eins. Du wirst feststellen, dass in der Mitte kein kleines »Ich« ist, das diesen Raum für sich beansprucht. Ohne dieses Ich in der Mitte ist niemand mehr da, der beurteilen könnte, ob eine bestimmte Erfahrung die richtige ist und ob sie überhaupt spirituell ist. Hast du's? Das ist es! Als mein Lehrer mit dem Stock auf den Boden schlug, zeigte er, dass alles aus der Mitte aufsteigt, wo nichts ist. Alles ist Ausdruck dieser Mitte, nichts ist getrennt von dieser Mitte. Wenn du es nicht hier siehst, wirst du es nirgendwo sehen. Das ist die Große Befreiung - die Befreiung davon, alles verändern zu müssen, um ins Gelobte Land zu gelangen oder Erleuchtung zu erfahren. Die Erleuchtungserfahrung besteht darin, dass sich nichts ändern muss. Tatsächlich erkennst du von hier aus sogar, dass die Erleuchtung selbst gar keine Erfahrung ist. Und schon gar kein spirituelles High. Jede Erfahrung ist also nur ein Ausdruck dessen, was keine Erfahrung ist. Alles ist dieses, es gibt nichts außer diesem, und es hat nie etwas außer diesem gegeben. Das bedeutet es, wirklich zu wissen, dass alles eins ist. Darum haben die Weisen zu allen Zeiten gesagt: »Dies ist das Gelobte Land.« Dieses Einssein ist Gott. Dies ist das Eine. Dies ist es. Es ist nirgendwoanders. Und sobald eingesehen ist, dass die Mitte leer ist, und du weißt, dass niemand da ist, der es anders haben will, als es tatsächlich ist, ist das viel besser als das erhabenste aller spirituellen Highs. So schön diese sind, die Wahrheit ist unendlich befreiender.
* * *
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Schüler: Könntest du mir den Unterschied zwischen spirituellen Erfahrungen und Augenblicken des nichtdualen Erwachens erklären? Wie es scheint, klammert man sich manchmal daran, etwas wiederzuerschaffen, was eigentlich nur ein vorübergehendes nichtduales Erwachen war. Adyashanti: Ich sage nur: Eine Erfahrung ist eine Erfahrung ist eine Erfahrung. Es stimmt zwar, dass man einen flüchtigen Einblick in die Nichtdualität nehmen kann. Aber wenn der Suchende nicht durchschaut worden ist, geschieht es meist, dass er sich schnell wieder festlegt und die Nichtdualität mit ihrem Nebenprodukt gleichsetzt. Das Nebenprodukt der nichtdualen, erfahrungsfreien Einsicht, dass es nichts zu suchen gibt, dass es nie etwas zu suchen gab und dass alles Gott ist, ist ein großes: »Aha!« Oft macht der Suchende, wenn er nicht vollständig zur Einsicht gelangt ist, den Fehler, dieses Aha-Erlebnis mit dem nichtdualen, erfahrungsfreien Zustand gleichzusetzen. Natürlich kann das Aha-Erlebnis einfach nur Erleichterung hervorrufen, Glück, Gelächter, Tränen oder Seligkeit, lauter Nebenprodukte, die sehr schön sind. Ich will damit nicht sagen, dass das, was eingesehen wurde, nicht die Wahrheit war. Ich sage nur, dass der Suchende, sofern er nicht tiefste Einsicht erlangt hat, die Nebenerfahrungen wieder aufs Neue mit dem Erwachen selbst verwechselt. Das Nebenprodukt wird zum Ziel. Es wird das Ziel. Ich sage also nicht, das, was eingesehen wurde, sei unwahr oder das Geschehene habe keinen Wert, weil
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nur das Nebenprodukt so schön ist. Ich frage dich aber: Kannst du damit anfangen, alle Nebenprodukte auszuräumen? Kannst du erkennen, was die Quelle einer solchen Nebenerfahrung ist? Schüler: Was dies betrifft, würdest du mir zustimmen, dass du eine Art Abbruchtechnik zum Freiwerden anbietest, durch die wir die Missverständnisse durchschauen, die uns binden, um uns dann möglichst daraus zu befreien? Mir scheint, dass die Art von Offenheit, von der wir reden, auch durch andere Techniken wie etwa die Meditation erreicht werden kann. Wenn wir konstruktiv daraufhinwirken, uns stets auf diese Offenheit einzulassen, müsste sie uns eigentlich mit zunehmender Erfahrung in den Körper-Geist eingehen und irgendwann zu einem Aufblühen führen. Adyashanti: Mag sein, dass es auch so funktioniert, normalerweise aber nicht. Normalerweise hat der Suchende einmal bestimmte Erlebnisse und dann wieder nicht, oder er hat sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit, sei es einmal die Woche, einmal im Monat oder einmal im Jahr. Nach allem, was ich bisher gehört habe, wird das Märchen verbreitet, man müsste nur oft genug solche Erfahrungen machen, dann würde sich etwas ändern. Manchmal ändert sich auch etwas. Meistens fährt der Suchende fort, in ziemlich regelmäßigen Abständen solche Erfahrungen zu haben. Man kann fast Buch darüber führen. Die Betreffenden glauben, dass sich das irgendwann für sie auszahlen wird. Sie glauben, dass sie der Erleuchtung näherkommen. Das ist ein Märchen. Ich will damit sagen, dass es meistens auf diese Art
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einfach nicht klappt. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Ich sage nur, dass es meistens nicht funktioniert, weil der Suchende denkt, dass die nächste Erfahrung anders sein wird als die, die er gerade macht, und dass sie die richtige sein wird. Das ist die Illusion, die für gewöhnlich nicht infrage gestellt wird, und wenn sie nicht bezweifelt und nicht untersucht wird, kann man weiter spirituelle Erlebnisse haben, vielleicht sogar sehr häufig, und steht dann sozusagen dauernd unter Strom. Man trinkt einfach öfter, stimmt's? Man kann mit schöner Regelmäßigkeit spirituelle Erfahrungen machen, aber das heißt nicht, dass man kein Süchtiger mehr ist. Der Suchende ist fest an seinem Platz. Schüler: Dabei frage ich mich, inwieweit man seinen Erfahrungen trauen kann. Wenn du etwas isst, das dir nicht schmeckt, isst du es nicht mehr. Du meidest es möglichst, und das wird Weisheit oder Klugheit genannt. Wenn nun etwas bei dir funktioniert hat und dir ein Gefühl der Freiheit gibt, setzt ein gottgegebenes, natürliches Feedback ein und bestärkt dich: »Weiter in dieser Richtung.« Wie sollen wir deiner Meinung nach mit der natürlichen Neigung umgehen, ein bestimmtes Vorgehen mit der spirituellen Erfahrung oder der Öffnung, von der sie begleitet wurde, zu assoziieren? Empfiehlst du etwa, diesem Feedback nicht zu folgen? Adyashanti: Nein, im Gegenteil. Ich sage, ihr solltet dem Feedback folgen. Ihr solltet eurer Erfahrung folgen. Das einzige Problem ist, dass die meisten Leute nur einem Teil ihrer Erfahrung folgen und nicht der ganzen Erfahrung. Ein Teil der Erfahrung wäre die Überzeugung:
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»Wenn ich das tue, werde ich die Erfahrung der Freiheit machen, und das ist schön, darum geht es ja.« Oder: »Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass mir, wenn ich es so mache, an irgendeinem Punkt die Gnade widerfährt, dieses schöne Erlebnis zu haben.« Dagegen habe ich gar nichts einzuwenden. Es ist Teil der Erfahrung. Aber ein anderer Teil der Erfahrung, der oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass diese Entwicklung, diese Bewegung selber eine Begrenzung darstellt. Sie führt nicht zur Freiheit. Sie regt nur zum Warten auf die nächste Erfahrung an. Das, was die Leute erfahren, zeigt, dass es so ist, und sie wissen, dass es so ist. Sie wissen, dass sie nicht wirklich frei sind, weil sie noch auf die Freiheit warten. Und dieses Warten ist ebenfalls ein Teil ihrer Erfahrung, der jedoch fast immer sofort verdrängt wird, weil er das gesamte spirituelle Paradigma des Betreffenden bedroht. Der Suchende schaut also lieber nicht so genau hin. Schüler: Stimmt. Ich will da nicht hinschauen. Adyashanti: Ich sage, du sollst auf deine Erfahrung bauen, aber auf deine ganze Erfahrung. Schüler: Es klang ja so, als würdest du die Idee der Evolution infrage stellen. Nämlich, dass es Stufen gibt. Stadien. Man geht von A nach B. Es muss so etwas wie ein Ziel geben, sonst würden wir hier nicht darüber reden, was getan werden kann. Gibt es keine Fortschritte? Adyashanti: Es gibt Fortschritte, aber du gehst nirgendwohin. Wenn überhaupt, gehst du eher zurück, als dass du vorankommst. Wenn der Rückschritt etwas taugt und ich meine nicht den Rückfall in die Infantilität,
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nicht diese Art von Regression -, kehrst du von all deinen spirituellen Vorstellungen zurück zu einem viel einfacheren Zustand. In diesem Sinne kann sicher eine Regression stattfinden, und sie bringt den Nutzen, dass man dabei dem begegnet, wovon ich rede. Das kann jäh und plötzlich geschehen oder auch ganz allmählich, so wie Butter schmilzt. Wenn wir nun das Schmelzen von Butter einen Fortschritt nennen wollen, können wir das wohl tun, aber ich glaube, dass es etwas anderes als Fortschritt ist, wenn Butter schmilzt. Du kommst nirgendwohin. Du kommst sogar schnell nirgendwohin. Es kann also so oder so gehen, es kann allmählich oder plötzlich geschehen. Ich habe bei vielen Menschen die Erfahrung gemacht, dass es so passiert, wie es will. In diesem Sinne kann ich die Fortschrittstheorie akzeptieren, nicht aber die Idee, dass man durch manche Erfahrungen mehr Fortschritte macht als durch andere. Das ist der Haken an der Sache. Nichts daran deutet darauf hin, dass mehr Fortschritte gemacht werden. Schüler: Das halte ich für ein bisschen gefährlich, denn ich glaube, wir alle wollen irgendeinen Maßstab haben, an dem wir unseren Fortschritt messen können, und davon reden wir hier im Satsang. Adyashanti: Das tun wir. Schüler: Wir haben ja darüber gesprochen, in welcher Situation ich letzte Woche war, und ich finde, ich bin besser damit umgegangen - als hätte der Satsang Wirkung gezeigt. Man hat ein Gefühl, als ginge es aufwärts und als würde das Leben besser.
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Adyashanti: Ja, natürlich wird es besser, aber Verbesserung ist nicht das Gleiche wie Erwachen oder Erleuchtung. Schüler: Es gibt offensichtlich die verschiedensten Erfahrungen. Wir können uns leicht von ihnen irreführen lassen. Und ich habe mir wirklich eingeprägt, dass du gesagt hast: Fallt nicht auf das Glitzern herein. Geht zur Quelle des Reichtums. Lasst euch nicht von irgendwelchen Gold- oder Silberminen aufhalten. Adyashanti: Richtig, denn sie erschöpfen sich allesamt. Wenn ihr die Erfahrung macht, dass euer Leben immer besser oder immer freier wird, was sollte ich dagegen einzuwenden haben? Das ist eure Erfahrung. Wenn jemand diese Erfahrung macht, freut es mich wahrhaftig, dass er oder sie dann glücklicher ist und wahrscheinlich sich und andere fortan freundlicher behandelt. Das ist schön. Was die Freiheit betrifft, so gibt es dafür keinen Gradmesser. Entweder bist du erwacht, oder du bist es nicht.
14 Illusion Die Welt ist illusorisch. Brahman allein ist wirklich. Die Welt ist Brahman. Ramana Maharshi
Die Welt ist Brahman, die höchste Wirklichkeit, wenn man sie unmittelbar wahrnimmt. Doch diese Welt ist von einer Hülle umgeben, die aus den Anforderungen besteht, die wir an die Welt stellen. Jeder stellt eigene Anforderungen. Manche Leute finden, dass die Welt ihnen nicht genug gibt. Manche halten die Welt für nicht sicher genug. Manche verlangen, dass sich alle friedlich verhalten sollen. Es sind die unterschiedlichsten Anforderungen, die man an die Welt und sich selbst stellt, und sie sind ohne Ende. Diese Anforderungen bilden eine Art Überzug oder Hülle. »Die Welt ist eine Illusion« bedeutet, dass diese Hülle nicht existiert. Sie ist nicht wirklich. Sie ist nur eine Funktion des Geistes. Wenn dir jemand sagt: »Ich liebe dich« und du dann das Gefühl hast: »Oh, ich bin anscheinend doch etwas wert«, ist das eine Illusion. Es ist nicht wahr. Oder jemand sagt: »Ich hasse dich«, und du denkst: »O Gott, ich wusste ja,
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dass ich nichts wert bin«, was ebenfalls unwahr ist. Keiner dieser Gedanken besitzt eine innere Realität. Der eine wie der andere ist nur eine leere Hülle. Wenn einer sagt: »Ich liebe dich«, sagt er damit etwas über sich, nicht über dich. Wenn eine sagt: »Ich hasse dich«, sagt sie damit etwas über sich, nicht über dich. Weltanschauungen sind Selbstbilder - im wörtlichen Sinne. Diese Wahrnehmungshülle der Welt besteht im Grunde nur im Denken. Um dir das anschaulich zu machen, solltest du dir einmal vorstellen, du lägst im Sterben. All das, was mit dir stirbt, ist das, was gar keine Wirklichkeit besaß: dein Selbstbild, deine Weltsicht, deine Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte, wie sie sein könnte, wie du sein solltest, wie du sein könntest, ob du erleuchtet oder unerleuchtet warst. All diese Vorstellungen sind weg, sobald das Gehirn nicht mehr funktioniert. Sie haben gar keine Wirklichkeit und geschehen gar nicht wirklich. Darum hat das spirituelle Erwachen etwas vom Sterben an sich. Wenn du wirklich frei sein willst, musst du auf den Verlust deiner Welt gefasst sein - deiner ganzen Welt. Wenn du beweisen willst, dass deine Weltanschauung die richtige ist, kannst du ebenso gut gleich deine Koffer packen und nach Hause gehen. Wenn du erwachen willst, um festzustellen: »Halleluja! Ich hatte doch Recht mit allem«, gehst du besser gleich in die Ferien oder wieder an die Arbeit, statt dich mit spirituellen Fragen verrückt zu machen. Aber wenn es auch nur den leisesten Reiz für dich hat, dir vorzustellen, dass du beim Erwachen denken könntest: »Oh, ich lag ja völlig daneben. Ich lag ja voll-
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kommen falsch, was mich und alle anderen betrifft. Auch in Bezug auf die Welt lag ich vollkommen falsch«, bist du hier wahrscheinlich richtig. Manch einer meditiert vielleicht nur, um zu beweisen, dass seine Weltanschauung richtig ist, allerdings ohne es zu merken. Die Gründe dafür können negativ oder positiv sein. Der eine denkt vielleicht: »Ich weiß, dass ich ein Buddha bin. Ich weiß, dass ich erleuchtet bin. Ich weiß, dass ich erwacht bin.« Aber schon mit diesem Gedanken versucht er, sich eine Weltanschauung aufzuzwingen, die nie ganz passt. Der Zenmeister Huang Po rief die Leute dazu auf, den Buddha über Bord zu werfen - alle Ansichten, alle Weltanschauungen, sogar alle spirituellen Anschauungen, über Bord zu werfen -, um sie nicht dem überzustülpen, was ist. Daher der Satz: »Triffst du Buddha unterwegs, bring ihn um.« Wenn du irgendeine Vorstellung davon hast, was Wahrheit ist, dann fort damit, denn so ist sie nicht. Sich von der Hülle aus Ideen und Vorstellungen zu befreien ist so ähnlich wie das Erwachen aus einem Traum. Aufwachen ist die einzige Möglichkeit, sich darüber klar zu werden, dass es nur ein Traum war. Wir können wahre Fundamentalisten sein - selbst bei östlichen Lehren. Wir glauben vielleicht, dass es weder eine Welt noch ein Selbst gibt, aber wenn dies nicht unmittelbar erfahren wurde, ist es nur eine andere Form von Fundamentalismus. Auch so stülpt das Denken dem, was ist, wieder etwas über. Wenn du sitzt und meditierst, erkennst du nach und nach die verschiedenen Ansichten, die du hattest, und lässt sie alle fallen. Doch ebenso schnell, wie du sie fallen
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lässt, ersetzt du sie wieder. Es ist wie mit dem Glauben. Die meisten Leute legen sich, kaum dass sie einen Glauben abgelegt haben, auch schon einen neuen zu. »Dieser Glauben oder diese Ansicht scheint besser zu sein, also werde ich's mal damit probieren.« Dabei wäre es viel effizienter, den zu hinterfragen, der all diese Ansichten vertritt, als jede kleine Ansicht unterwegs anzuzweifeln, denn sobald die eine durchschaut ist, ist schon die nächste da. Mein bester Freund aus Kindertagen wohnte uns gegenüber in einem Haus mit einem Garten, dessen Rasenfläche mehr Unkraut als Gras aufwies. Sein Vater bezahlte uns 25 Cent die Stunde, wenn wir das Unkraut ausrissen. Selbst damals - vor dreißig Jahren! - war uns schon klar, dass 25 Cent nicht viel Geld sind. Aber nach einer Stunde Arbeit hatten wir genug für einen Schokoriegel zusammen. Zuerst hockten wir uns in den Garten und gruben das Unkraut mit kleinen Tafelmessern aus. Das war jedoch Schwerarbeit, und so verlegten wir uns darauf, das Unkraut auszureißen. Wir rissen einfach die oberirdischen Pflanzenteile ab. Es war erheblich mehr Unkraut da als Rasen, wir rupften, rupften und rupften tagtäglich Stunde um Stunde, im Sommer und wenn wir das Geld dringend haben wollten, bis zu zwei Wochen lang. Wenn wir nach einer Woche am anderen Ende der Rasenfläche angekommen waren, war das Unkraut am Anfang des Rasens schon wieder nachgewachsen. Genauso verhält es sich mit Ansichten und Überzeugungen. Du nimmst dir eine vor, aber wenn du nicht an die Wurzel gehst, wenn du nicht den ausreißt, der diese Ansicht oder Überzeugung vertritt, tauchen ständig neue Ansichten und Überzeugungen auf
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und fesseln deine Aufmerksamkeit. Das ist eine sehr effektive Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Auf diese Weise bleibt das Ego beschäftigt. Es geht also nur darum, den mit der Wurzel auszureißen, der an einer Ansicht oder Überzeugung festhält. Wer ist es, der an dieser Ansicht, dieser Überzeugung festhält? Wer ist es, der sie erhalten will? Und wer ist es, der sie aufgibt? Sobald du den entwurzelst, der das ganze Gebilde aufrechterhält, fällt es in sich zusammen. Wenn du die Wurzel ausreißt, dann bricht das Dickicht aus Ideen zusammen. Lässt du aber auch nur ein Stückchen Wurzel im Boden, kommt es wieder hoch und wächst zur früheren Größe heran. * * * Schüler: Manchmal erkenne ich, dass meine Ansichten von der Welt nur Illusionen sind, und fühle die Ganzheit. Aber dann werde ich wieder von der Getrenntheit eingeholt. Was kann ich tun, um nicht mehr hin und her zu schwanken, sondern von gelegentlichen Augenblicken der Einsicht zu einer bleibenden Erkenntnis zu kommen? Adyashanti: Löse den auf, der fragt: »Wann werde ich von gelegentlichen Augenblicken der Einsicht zu einer bleibenden Erkenntnis kommen?« Hast du ein Gefühl von dem, der diese Frage stellt? Es ist eine bestimmte Bewegung im Denken, die diese Frage hervorruft. Das alles ist bloß eine Hülle aus Vorstellungen. Im Zen heißt es: »In der einen Minute bist du ein Buddha,
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in der nächsten ein Lebewesen.« Manchmal bist du ein Buddha, manchmal ein gewöhnliches Lebewesen. Es ist eigentlich immer der Buddha, denn beides sind nur Masken. Das Lebewesen ist eine Maske. Und auch der Buddha ist eine Maske. Wenn die Maske abgelegt wird, sind das Lebewesen und der Buddha ein und dasselbe. Schüler: Und das kann man nicht benennen. Adyashanti: Man kann es nicht benennen. Es ist das Unmaskierte, die Leere. Wie Huang Po sagt: »Dieser Geist ist Buddha. Er ist nicht kleiner, wenn er sich in gewöhnlichen Dingen, noch größer, wenn er sich als Buddha manifestiert.« Schüler: Ich beobachte an mir eine Neigung, mich an diese Leere und das Gefühl des freien Falls zu klammern. Adyashanti: Sich an Gefühle der Leere und des freien Falls zu klammern heißt, weiterhin anzuhaften. Und es ist Ursache für Leiden, denn Gefühle sind nicht immer angenehm, Gefühle verändern sich. Dies einzusehen, führt zum Loslassen. Spontan wird sogar vom Festhalten an wundervollen Erlebnissen abgelassen. Wir gehen über die Erkenntnis, die Ego-Maske und die Buddha-Maske hinaus. Wir ziehen auch die Maske der Leere ab, gehen über die Leere hinaus und -»Ahhhhh!« * * * Schüler: Wenn du sagst, dass man sich keinen Vorstellungen oder Illusionen hingeben, sondern die Leere realisieren soll, scheint das etwas jenseits von Liebe zu sein. Nach meiner Erfahrung steigt aber auch Liebe in die
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sem Erwachen auf, und mir kommt sie wie ein Kraftfeld zwischen Illusion und Leere vor. Kannst du etwas über die Liebe sagen und wie sie sich ins Erwachen einfügt? Wie kommt es, dass wir Menschen uns trotz so viel Liebe in uns so selten geliebt fühlen? Adyashanti: Die erste Bewegung in der Leere ist Liebe. Das ist auch unsere erste Bestimmung, was dasselbe ist, dieselbe Liebe. Sie führt zum Universum in seiner Ganzheit, zur Kreativität dieses Daseins und zu dessen Geburt. Sie ist wie eine Mutter. Alles entspringt diesem unbeschreiblichen Gefühl der Liebe und Schönheit. Es ist der erste Ausdruck des Nichts. In diesem Sinne ist Liebe oft das Tor, der Eingang zum tiefsten, wahrsten Zustand. Ich glaube, der Grund dafür, warum Menschen keine Liebe empfinden, ist der, dass sie von sich selbst, die sie ja Liebe sind, vom Ursprung der Liebe, abgeschnitten sind. Der Mensch mit all seinen Funktionen ist Fleisch gewordene Liebe, Fleisch gewordene Kreativität. Dafür ist das Ego blind. Es ist nicht in der Lage, diese Art von Liebe in sich einzulassen. Nur in unser wahres Wesen kann sie hinein, ohne dass wir davon überwältigt werden. Daran liegt es, dass in einer spirituellen Gemeinschaft der Lehrer oft nicht einfach nur geliebt, sondern angebetet wird, denn ein Ego kann so viel Liebe nicht ertragen. Bisweilen spüren die Leute solche Liebe auch in sich selbst, aber da das Ego sie nicht verkraften kann, wird sie auf den Lehrer projiziert. Wir neigen dazu, unsere eigene Wahrheit, unsere eigene Schönheit anderswohin zu projizieren. Das ist der
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unbewusste Handel, auf den wir uns eingelassen haben: »Irgendwie habe ich mich aus Überlegung oder Unwissenheit entschlossen, ein einzelner Jemand zu sein. Da ich aber letztendlich gar kein einzelner Jemand bin, muss ich mich meiner Wahrheit entäußern. Ich kann jedoch meine Wahrheit nicht loswerden - sie verschwindet nicht einfach im Universum -, und deshalb muss ich sie irgendwohin abschieben. Wenn ich so tue, als wäre ich dieser beschränkte Jemand, muss ich meine Göttlichkeit an jemand anderen übergeben.« Dann geht der oder die Betreffende damit zu Jesus, Buddha oder einem anderen spirituellen Lehrer. »Jemand muss sie aufbewahren, während ich damit beschäftigt bin, ich zu sein.« So sieht die Projektion aus. Ich glaube, wenn Liebe da ist, Liebe im wahrsten Sinne des Wortes, verlieben wir uns tatsächlich in unser eigenes Selbst. Wir verlieben uns in das, was unser Ego nicht umfassen kann. Wenn wir darüber hinausgehen, ein einzelner Jemand sein zu wollen, nehmen wir unser wahres Wesen wieder an und ergreifen Besitz von unserem Selbst, sodass wir wirklich den Buddha - bzw. den Heiligen oder unseren Lehrer - anschauen können und unmittelbar und absolut wissen: »Das bin ich. Wir sind ein und dasselbe.« Dies ist aber nur möglich, wenn wir die Fülle wirklich vollständig wieder in Besitz genommen und in ihr unser eigenes Selbst erkannt haben. Dann erfüllt uns große Liebe und Dankbarkeit. Beides empfinde ich für meine Lehrer. Es ist eher wie: »Danke, dass du meine Projektion ausgehalten hast. Danke, dass du auf meine Erleuchtung aufgepasst hast, während ich
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damit beschäftigt war, so zu tun, als sei ich nicht erleuchtet. Danke, dass du sie nicht festgehalten oder dir angeeignet, sondern sie mir zurückgegeben hast. Dafür ist unendlich viel Liebe und Dankbarkeit da. Danke, dass du sie mir gezeigt hast.« Im Zen heißt es: »Wenn die Erkenntnis tief ist, tanzt dein ganzes Sein.« Du kannst eine Erfahrung der Leere haben, bei der es sich unter Umständen um eine leere Leere handelt. Sie wird auch als »kalte Leere« bezeichnet. Aber wenn es die wahre Leere ist, tanzt dein ganzes Sein. Die wahre Leere durchdringt sogar deinen physischen Körper. Alles wird wieder lebendig. Du tanzt du bist tanzende Leere. Du gehst immer tiefer in diese Liebe, diesen Tanz, diese Freude hinein. Noch während Liebe, Tanzen und Freude andauern, entsteht etwas Stilles, alles Durchdringendes. Eine immer tiefer werdende Liebe und Stille breiten sich aus. Beim Erwachen muss das Herz aufgehen. Ich glaube, die wahre Erkenntnis muss auf drei Ebenen aufblitzen im Kopf, im Herzen und im Bauch -, denn du kannst zwar einen klaren, erleuchteten Geist haben, dessen du dir im tiefsten Innern bewusst bist, aber das heißt nicht, dass dein Sein dann auch tanzt. Erst wenn dir mit dem Erwachen des Geistes auch das Herz aufgeht, beginnt dein Sein zu tanzen. Auf einmal wird alles lebendig. Und wenn du nun auch noch dein Innerstes öffnest, deinen Bauch, kommt eine tiefe, unergründliche Festigkeit über dich, in der sich die Offenheit, die du bist, in Transparenz auflöst. Sie wird zum Absoluten. Das bist du.
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Es gibt den Begriff der »festen Leere«. Im Geist ist die Leere nicht richtig fest. Vielmehr ist sie sehr weit, sehr ätherisch: die Erleuchtung auf der geistigen Ebene. Erleuchtung im Herzen ist Lebendigkeit, ist ein Gefühl, als tanze alles in einem. Die Erleuchtung auf der Bauchebene gleicht der geistigen, nur dass sie wie ein Berg ist, wie ein transparenter Berg. All das ist Ausdruck der Wahrheit im Menschen. Schüler: Das ist das Schönste, was ich je gehört habe. Ich habe mich immer über spirituelle Gruppen gewundert, die die Liebe übergangen haben und nicht von da aus zu leben scheinen. Sie haben nicht diesen Mittelpunkt und wirken ziemlich trocken. Ich habe mich immer gefragt, wie es ohne Liebe ein Erwachen geben kann. Adyashanti: Meine Lehrerin sagte: »Spiritualität kann leicht zum bloßen Gerede werden.« Es kann ein gewisser Grad geistiger Erleuchtung und totaler Klarheit erreicht werden - ein Erwachen zu Raum oder Weite -, der ewig erhalten bleibt. Doch selbst darin können sich subtile Formen des individuellen Ichs, das sich zu schützen sucht, verbergen. Sobald es auf eine Ebene unterhalb des Kopfes hinuntergeht, wird der Selbstschutz für viele zum zentralen Thema. Im Geist eine Veränderung hin zum Nichts, Nichtdenken oder Nichtsein zu vollziehen ist eine Sache, aber wenn davon auch das Herz berührt wird, geht es um unser Innerstes. Diese Offenheit gehört in eine ganz andere Kategorie von Intimität. Meines Erachtens fehlt einigen spirituellen Gemeinschaften etwas, weil manche Leute nur einen erleuchteten Geist haben und sonst nichts.
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Schüler: Es ist verblüffend, aber genau das hat mich zu dir gezogen. Unter manchen spirituellen Lehrern kann man durchaus eine Menge Erfahrungen sammeln und durch diverse Übungen höhere Bewusstseinszustände erreichen oder Samadhi erlangen. Bei dir aber kommt noch etwas hinzu, was bei vielen Lehrern fehlt, nämlich die uneingeschränkte Verkörperung des Daseins hier. Da muss die Liebe mit dabei sein. Wenn unser spirituelles Leben nur auf Bewusstseinserweiterung ausgerichtet ist, leben wir nicht in unserem Dasein hier und denken, wir brauchen das nicht. Dann lassen wir uns zu dem trügerischen Denken verleiten, dass das Erreichte alles ist oder genügt. Adyashanti: Während des Erwachens gelangst du in völlig neue Bereiche deines Seins, die nach und nach eingesehen werden. Vom Kopf abwärts wird es gemein und schmutzig, wenn du verstehst, was ich meine. Es ist so, als sei spirituell die Zeit gekommen, Schutzhandschuhe anzuziehen, und man braucht viel menschliche Einsicht, um auf einer sehr tiefen emotionalen Ebene wirklich weiterzukommen. Wenn wir uns festgefahren haben, wie du meinst, kann es tatsächlich sein, dass wir das Spirituelle als Schutz gebrauchen, um nicht noch vollständiger sterben zu müssen. Die spirituellen Höhen sind also mitunter die effektivsten Verstecke, weil sie einen Eindruck von Glückseligkeit und Ganzheit vortäuschen. Da hast du nun diese erstaunlichen Erlebnisse und versetzt doch deinem Hund einen Tritt, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Verschiedene spirituelle Traditionen verkörpern offen
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bar unterschiedliche Aspekte der Erkenntnis. Das Zen verkörpert die Ebene des Bauches. Darauf zielt es ab. Im Zen wird das tiefe Versenken in den Bauch der Große Tod genannt, weil sich dabei alles löst, selbst das Anhaften am Herzen. Ebenso wie wir an der geistigen Erleuchtung anhaften, können wir auch an der Herzenserleuchtung anhaften, und deshalb ist im Zen so oft von Leere die Rede. Das ist der Berg der Leere, die Substanz des Daseins.
15 Kontrolle Wie wär's, wenn du jede Kontrolle, jedes bisschen Verlangen, alles überall kontrollieren zu wollen bis hin zur allerleisesten Regung und einschließlich dessen, was in diesem Augenblick vielleicht mit dir geschieht, aufgeben würdest? Stell dir vor, du wärst in der Lage, die Kontrolle auf jeder Ebene komplett und absolut aufzugeben. Wenn du die Kontrolle absolut, total und vollständig aufgeben könntest, wärst du spirituell ein freier Mensch. Viele Leute behaupten, dass die Hauptempfindung, die Menschen voneinander trennt und die beim tiefen Nachgraben bis auf die alleruntersten emotionalen Grundlagen zum Vorschein kommt, Angst ist. Meines Erachtens stimmt das nicht. Wie ich festgestellt habe, ist das Kernproblem der Menschen, das sie dazu bringt, sich als getrennte Einzelwesen zu erfahren, ihr Verlangen und ihr Wille, Kontrolle auszuüben. Angst entsteht, wenn du glaubst, nicht im Besitz der Kontrolle zu sein. Oder du bekommst Angst, weil dir bewusst wird, dass du keine Kontrollmöglichkeit hast, aber das Verlangen danach in dir noch nicht erloschen ist. Wenn ich von Kontrolle spreche, meine ich damit alle Arten von Kontrolle. Die augenfälligste Kontrolle ist die,
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die Menschen aufeinander ausüben. Denk einmal an eine x-beliebige Unterhaltung, die du heute mit jemandem geführt hast, und die Chancen stehen gut, dass du darin irgendetwas findest, das einem Kontrollversuch nahekommt. Du wolltest dein Gegenüber beeinflussen, damit es dir zuhört, dich versteht, dir zustimmt oder dich sympathisch findet. Das gilt nicht unbedingt für alle Gespräche und Gesprächspartner, aber wahrscheinlich für ziemlich viele. Mit Kontrolle meine ich alles von den offensichtlichsten Formen der Machtausübung bis hin zu den subtileren Formen der Einflussnahme. Durch die subtileren Formen versuchen wir unsere Erfahrung des Hier und Jetzt zu verändern. Eine der Fragen, die mir sehr häufig gestellt werden, lautet: »Adya, ich habe so etwas wie ein spirituelles Erwachen erlebt, zumindest glaube ich das, aber ich habe trotzdem nicht das Gefühl, dass das schon alles ist. Ich habe nicht das Empfinden, jetzt vollkommen frei zu sein. Ich mag ja zu dem erwacht sein, was ich bin und wer ich bin, es war auch sehr schön und sehr ergreifend, und doch fehlt etwas daran.« Und dann kommt die Frage: »Was soll ich machen?« Ich habe es noch kein einziges Mal erlebt, dass jemand in dieser Situation nicht in erster Linie ein Problem mit Kontrolle hat. Nicht ein einziges Mal, denn jeder hat es hier mit der Frage der Kontrolle zu tun, es sei denn, er hat sich vollkommen von seinem Verlangen nach Kontrolle befreit. Stark vereinfacht ausgedrückt, liegt der Unterschied zwischen Menschen, die ein tiefes, umfassendes spirituelles Erwachen zu ihrer wahren Natur erlebt haben, und
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solchen, die tatsächlich Befreiung erlangt haben und frei sind, in dieser einfachen Tatsache: Diejenigen, die vollkommene Befreiung erlangt haben, haben jede Kontrolle absolut und total aufgegeben. Das ist wahr, denn wenn du die Kontrolle aufgibst, bist vollkommen frei. Es ist so ähnlich, als würdest du dich von einem Gebäude in die Tiefe stürzen. Du kannst gar nicht anders, als hinabzufallen; die Schwerkraft zieht dich nach unten. Wenn du die Kontrolle vollständig aufgibst, gelangst du zur vollen Selbstverwirklichung. In seiner elementarsten Form fühlt sich das Verlangen nach Kontrolle wie eine geballte Faust in deinem Bauch an. Was du findest, nachdem du dich durch all die verschiedenen Arten der Kontrolle hindurchgearbeitet hast, ist diese elementare geballte Faust. Und wenn du nahe genug an diese geballte Faust herankommst, stellst du fest, dass sie einen Beschützer hat. Der Beschützer unseres elementaren Verlangens nach Kontrolle ist Wut. Normalerweise ist diese Wut destruktiver als jedes Gefühl, dessen Existenz in dir du dir jemals eingestehen würdest. Letztlich ist sie es, die über die Aufrechterhaltung der Kontrolle wacht, denn wenn du jemals in der Nähe eines vor Wut schäumenden Menschen warst, hast du schleunigst das Weite gesucht, es sei denn, du bist dumm. Es gibt alles Mögliche, zu dem man sich hingezogen fühlen kann; der eine spielt gern die Opferrolle oder suhlt sich in Depressivität, der andere quält gerne seine Mitmenschen oder zeigt andere Verhaltensweisen. Die Leute mögen in allen möglichen emotionalen Mustern festhängen, aber die wenigsten fühlen sich wohl dabei, wenn sie wie eine Motte
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vom Feuer der Wut angezogen werden. In dieser Hinsicht ist die Wut ein sehr guter Schutz, sie erfüllt ihre Aufgabe hervorragend. Viele Menschen dringen nie bis zu ihrer Wut vor, weil dicht darüber die Angst sitzt. Auch die Angst funktioniert normalerweise sehr gut. Die meisten Menschen, die entsetzliche Angst bekommen, rennen weg. Aber die wenigen, die noch tiefer bohren als bis zur Angst, gehen daraus mit einem Gefühl hervor, dass etwas ungeheuer Zerstörerisches da unten lauert. Wenn du weiter in diesen Tornado eintauchst, merkst du, dass dich dort etwas wie eine eiserne Faust packt, meist in der Magengrube. Und deren Klammergriff überdauert selbst ein sehr tiefes spirituelles Erwachen. Angst und Wut überleben oft nicht, aber der Klammergriff bleibt häufig in seiner elementarsten Form bestehen. Darum rate ich dir, dir einmal vorzustellen, wie es wäre, wenn kein Gedanke an Kontrolle in dir wäre, kein Verlangen nach Kontrolle, keine Vorstellung von Kontrolle ob in einem naheliegenden Bereich oder auf der tiefsten Ebene deiner Erfahrung. Male dir aus, wie es sein könnte, wenn das Verlangen nach Kontrolle vollständig in deinem Körper erloschen wäre. In diesem Verlangen nach Kontrolle kommt im Grunde unsere Abneigung gegen das volle Erwachen zum Ausdruck. Es gibt eine wunderbare kleine Geschichte von Anthony DeMello, einem spirituell erwachten Jesuitenpater, der Bücher geschrieben und Vorträge gehalten hat und in den 1980er Jahren gestorben ist. Darin erzählt er von einer Mutter, die bei ihrem Sohn an die Tür klopft und
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sagt: »Johnny, du musst aufwachen. Es ist Zeit, zur Schule zu gehen.« Johnny erwidert: »Ich will aber nicht aufwachen.« Mama sagt noch einmal: »Johnny, du musst aufwachen!« »Ich bin doch wach!« »Johnny, du musst aus dem Bett, du musst aufstehen und zur Schule gehen!« »Ich will nicht aus dem Bett.« Klingt das vertraut? »Ich will nicht zur Schule gehen. Ich bin die Schule leid. Warum muss ich zur Schule gehen?« Die Mutter erklärt ihm: »Ich nenne dir jetzt drei Gründe, warum du zur Schule gehen musst. Nummer eins: weil es Zeit ist, zur Schule zu gehen. Nummer zwei: weil eine ganze Schule voller Schüler auf dich wartet. Und Nummer drei: weil du vierzig Jahre alt und der Schulleiter bist.« Ähnlich ergeht es vielen Menschen, die ein sehr tiefes spirituelles Erwachen erlebt haben. Es ist, als hätte der Wecker geschrillt, sodass du aufgehört hast, dein illusorisches Selbst in ein dauerhaftes Dasein zu träumen, und endlich zu der Erkenntnis gekommen bist, dass du in Wahrheit reiner Geist bist. So ist deine Erfahrung. Du bist wie der Schulleiter, der im Bett liegt, obwohl es Zeit ist, zur Schule zu gehen. Du bist wach, jedoch nicht ganz damit einverstanden, wach zu sein. Du hast die Kontrolle noch nicht ganz aufgegeben. Du willst im Bett bleiben, dabei ruft dich eigentlich alles heraus. Das Leben ruft dich, und das letzte bisschen Kontrolle, das dir geblieben
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ist, drückt sich in dem Satz aus: »Nein. Es ist schaurig da draußen. Ich weiß nicht, ob ich dort zur Tür hinaus will. Es ist ein völlig neues Leben da draußen. Das ist eine ganz andere Daseinsform. Ich bin zwar erwacht, aber ich bin nicht sicher, ob ich wirklich ganz wach sein will. Ich dachte, ich könnte richtig aufwachen und trotzdem im Bett bleiben.« Es ist schon komisch, dass Leute, die in ihrer spirituellen Entwicklung an diesen Punkt gekommen sind und ein tiefes Erwachen erlebt haben, sich aber trotzdem weiter mit der Kernfrage der Kontrolle auseinandersetzen müssen, mich oft fragen: »Meinst du, ich sollte in ein Kloster gehen? Ich wünschte, ich könnte einfach für immer ins Retreat gehen - hältst du das für eine gute Idee?« Und ich sage immer: »Nein.« Es ist so, als würde der Schulleiter sagen: »Könnte ich nicht einfach für die nächsten zwanzig Jahre im Bett sitzen bleiben?« Werden dadurch deine Probleme gelöst? Absolut nicht! Du musst aufstehen und raus. Und du musst die Kontrolle aufgeben, um das zu können. Das ist eine sehr grundlegende und weitreichende Bewegung. Im Grunde handelt es sich um eine totale Umwandlung in deinem innersten Wesenskern. Es ist nicht unbedingt eine Offenbarung, ein spiritueller Fortschritt oder eine Erkenntnis, sondern vielmehr eine totale Umwandlung deiner Daseinsweise - ohne den Willen zur Kontrolle zu leben. Wenn du zum Kern der Kontrolle vorstößt, ist dir höchstwahrscheinlich zumute, als würdest du sterben. Die meisten Leute haben dieses Gefühl, denn in gewisser Weise stirbst du ja auch. Das Leben jäh und
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plötzlich nicht mehr unter Kontrolle zu haben, nicht einmal auf der fundamentalsten Ebene, ist ein Tod. Bei den meisten von uns geht es im Leben etwa vom ersten Lebensjahr an um Kontrolle. Schon bei zweijährigen Kindern kann man beobachten, wie sie ihre Mütter zu kontrollieren versuchen oder beide Eltern manipulieren und herumkommandieren. So früh fängt es an, dieses Verlangen nach Kontrolle, diese Art von angeborenem Gefühl, dass man nur überleben kann, wenn man die Kontrolle behält. Es ist wirklich eine vollkommene Transformation. Darum sage ich, dass wir zu einer sehr tiefen, profunden Erkenntnis der Wahrheit kommen können und am Ende doch nicht den höchsten Frieden in dieser Erkenntnis finden. Dieser stellt sich erst durch die innigste Hingabe in unserem tiefinnersten Wesen ein. Allerdings müssen die meisten Menschen erst zu einer tiefgreifenden Erkenntnis ihres wahren Wesens kommen, um sich ihm spontan und natürlich hingeben zu können. Aber das Erwachen erfüllt sich erst durch die blinde, unvorhersagbare Aufgabe der Kontrolle. Natürlich werde ich zu diesem Punkt oft gefragt: »Wie soll ich das denn machen?« Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass schon die Frage von Kontrolle zeugt. Die Kontrolle macht schon wieder ihr Ding. Die Frage nach dem Wie hat immer etwas mit Kontrolle zu tun. Bisweilen kann es sogar von Nutzen sein, ein Wie zu haben, aber letztlich geht es dabei um die Kontrolle. Es gibt kein Wie. Lass einfach los.
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Schüler: Was meinst du mit unvorhersagbar? Adyashanti: Damit meine ich, dass beim letzten Aufgeben der Kontrolle, des Willens zur Kontrolle, einfach alles unvorhersagbar wird. Es ist das Letzte, dem wir uns stellen wollen, weil nichts mehr voraussagbar ist. Mit anderen Worten: Wir wissen absolut nichts mehr. Schüler: Das unvorhersagbare Aufgeben der Kontrolle geschieht also einfach dadurch, dass man sich dem Nichtwissen ausliefert - und sich dann öffnet. Richtig? Adyashanti: Du kannst dort sein und trotzdem noch verhaftet sein. Wenn wir wirklich in unserem wahren Wesen ruhen, funktionieren die normalen Formen von Kontrolle nicht mehr. Falls doch, ruhen wir nicht in unserem wahren Wesen. Dann sind wir weit davon entfernt. Wenn wir offensichtlich bestrebt sind, Kontrolle über uns selbst und andere auszuüben, sind wir wieder im Reich der Träume angelangt. Doch selbst wenn wir tief in uns ruhen, ist es möglich und nach meiner Erfahrung mit anderen sogar wahrscheinlich, dass dieser existenzielle Druck, die Kontrolle zu behalten, immer noch da ist. Er wird in dem Augenblick vielleicht nicht einmal bemerkt, aber er ist potenziell da. Schüler: Das erzeugt Angst. Adyashanti: Ja, es ist die Angst vor dem Tod. Denn das Aufgeben gelingt nur durch die Erfahrung, dass unser getrenntes Ich stirbt, und das ist ein sehr einschneidender, sehr tiefer Tod. Natürlich ein völlig illusorischer Tod. Schüler: Kommt es zum Loslassen, wenn wir tatsächlich sterben?
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Adyashanti: Nein, ganz und gar nicht. Du kannst physisch sterben und trotzdem 200 000 Leben lang weiterhin Verlangen nach Kontrolle haben. Schüler: Ist es dann eine physische Angelegenheit, sich dem existenziellen Klammergriff zu entziehen? Adyashanti: Der existenzielle Klammergriff wird physisch empfunden, aber er geht viel tiefer. Stell dir zum Beispiel einmal vor, du machtest die absolut überzeugende Erfahrung, dass du so, wie du dich selbst derzeit verstehst, heil und ganz überleben wirst, auch wenn dein Körper stirbt. Dass dies keine Ansicht, kein Glaube und keine Hoffnung wäre, sondern hundertprozentige Gewissheit. Hättest du dann noch Angst davor, dass dein Körper verfällt und stirbt? Schüler: Nein. Adyashanti: Ich glaube, die meisten Menschen haben gar nicht wirklich Angst vor dem physischen Tod, denn wenn sie davon überzeugt wären, dass sie nicht sterben, wäre es ihnen egal, ob ihr Körper stirbt. Was ihnen am Sterben Angst macht, ist nicht: »Mein Körper stirbt«, sondern: »Ich sterbe.« Schüler: Ich, so wie ich mich kenne. Adyashanti: Ja, »ich« sterbe. Und wenn ich nicht dächte, dass ich sterben muss, würde es mich weiter nicht bekümmern, dass mein Körper stirbt. Es ist jedoch so, dass derjenige, der Angst vor dem Tod hat, gerade derjenige ist, der festhält. Das Ich, wie es mir vertraut ist, meine Persönlichkeit, wird nicht mehr sein, wird weg sein. Das ist natürlich ein völlig illusorischer Tod, denn das Ich ist nur eine Kollektion vertrauter Gedanken. Doch wenn
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ich mich damit identifiziere, fühlt es sich überhaupt nicht mehr wie ein illusorischer Tod an, oder? Schüler: Geschieht das Loslassen denn im Lauf der Zeit? Adyashanti: Es geschieht, wenn die Zeit um ist. Es kann auch im Lauf der Zeit geschehen. Es kann urplötzlich oder nach und nach geschehen. Die einzige Regel lautet: Es gibt keine Regel dafür, wie man sich entfaltet. Schüler: Sollten wir einfach aufhören, Fragen zu stellen? Adyashanti: Nein, das klappt auch nicht. Da ist zu viel Kontrolle im Spiel. Schüler: Aber wenn man Fragen stellt, versucht man doch, die Kontrolle über etwas zu erlangen. Adyashanti: Ja. Aber wenn du dich beherrschst und keine Fragen mehr stellst, versuchst du ebenfalls, Kontrolle auszuüben. Das Beste, was Menschen für sich tun können, ist, absolut, total und vollkommen ehrlich mit sich zu sein, sich die innere Integrität zu bewahren. Wenn sich eine Frage erhebt, die sehr wichtig, tiefgreifend und real für dich ist, dann stelle sie. Verstehst du, was ich meine? Es ist wichtiger, sich integer gegenüber dem zu verhalten, was im eigenen Innern ist, als diese Integrität wegen einer Idee zu verraten. Das Festhalten an der Integrität führt die Menschen zur vollen Wahrheit. Es sind nicht viele, die das schaffen. Die meisten messen das, was in ihnen geschieht, an einer Vorstellung, die von außen geprägt ist. Wenn du das, was ich heute gesagt habe, so verstehst, dass alle Fragen Formen der Kontrolle sind, und deshalb aufhörst, Fragen zu stellen, wäre das fatal, denn du würdest lediglich in einer anderen Richtung Kontrolle ausüben.
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Schüler: Ist es mit der Fragerei irgendwann einmal vorbei? Adyashanti: Ja. Das ist der springende Punkt. Die Fragerei hört auf, wenn kein Fragender mehr da ist. Alles, was der Fragende fragt, dient dazu, den Klammergriff zu verstärken. Schüler: Zur Selbstverteidigung? Adyashanti: Richtig. Selbst wenn dieser Griff nach Befreiung und Hingabe verlangt, sucht er trotzdem weiter nach Kontrolle, indem er sagt: »Ich will die sofortige Unterwerfung.« Die vollkommene innere Integrität ist also von entscheidender Bedeutung. Meine Lehrerin pflegte etwas Einfaches, aber sehr Tiefgründiges zu sagen: »Nur die Schwindler werden nicht erleuchtet.« Schüler: Heißt das, sie wollen die Wahrheit gar nicht wissen? Adyashanti: Ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit nicht wissen wollen. Ich weiß nur, dass es den meisten Leuten sehr schwer fällt, über einen längeren Zeitraum hinweg sich selbst gegenüber integer zu bleiben. Sie geben ihre Integrität immer wieder aus irgendwelchen Gründen und zugunsten aller möglichen Ideen und Konzepte auf. Sie folgen den Lehren von 400 Büchern gleichzeitig und tun alles, um dem aus dem Weg zu gehen, was tatsächlich in ihrem Innern geschieht. Sobald sie nach innen schauen und ihrer tiefsten Integrität folgen, beginnen sie sich zu öffnen. Sie haben vielleicht eine Tonne Fragen, oder sie haben plötzlich keine einzige Frage mehr. Es spielt keine Rolle, solange sie ihrem Herzen
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folgen, das sie nichts und niemandem geopfert haben. Dort hat alles eine tiefe Bedeutung. Wenn du dir die Menschen anschaust, die im Lauf der Geschichte als beispielhaft für das spirituelle Erwachen galten, findest du im Innersten immer eine Gemeinsamkeit: Sie alle waren schonungslos ehrlich und integer sich selbst gegenüber. Es ist ziemlich hart für einen Menschen, das zu sein, denn normalerweise stößt jeder dabei auf die eigenen Unsicherheiten, Ängste und Zweifel. Schüler: Willst du damit sagen, dass es schwer ist, es im Alltagsleben zu tun? Adyashanti: Nein. Es ist hart, aber der Lebensalltag ist kein Hindernis. Die Menschen gehen seit Jahrtausenden in Tempel, Klöster oder Ashrams. Schau dir die Leute an, die es so gemacht haben - wie viele von ihnen haben tatsächlich Erleuchtung erlangt? Die Erfolgsquote ist ziemlich mager. Auch heute noch kannst du jemanden fragen: »Wie lange hast du in dem Ashram in Indien, Tibet, China oder Japan gelebt?« »Ich bin dort 15 Jahre gewesen.« Na ja, du kennst ja die entscheidende Frage, wenn es um Spiritualität und nicht nur um Religion geht: »Und? Hast du's gefunden? Hast du das erreicht, weshalb du dorthin gegangen bist? Ich erinnere mich, dass du dich vor 15 Jahren dorthin begeben hast, um Erleuchtung zu erlangen. Ist dir das gelungen?« So lautet doch die Kernfrage, nicht wahr? Wenn alles andere beiseite gelassen wird, bleibt nur noch die Frage, ob es gelungen ist oder nicht, und die meisten Leute
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beantworten die Frage, ob sie Erleuchtung erlangt haben, mit »Nein«. Ich sage nicht, dass es keinen Nutzen bringt, in ein Kloster zu gehen - es kann durchaus eine Hilfe sein. Was ich meine, ist Folgendes: Wenn wir genau da, wo wir gerade sind, wo immer das sein mag und was immer wir gerade tun, den Willen zur Kontrolle aufgeben, erkennen wir, dass es gar keinen besseren Ort für uns gibt. Dann haben wir keine Ausreden mehr. Sind dir schon jemals im Leben die Ausreden ausgegangen? Wenn dir nichts mehr einfällt, stehst du auf einmal mit dem Rücken zur Wand. In dem Augenblick wird dir vielleicht klar, dass nur noch ein totaler innerer Wandel hilft. Darum bietet das normale eigene Leben so, wie es ist, wenn man nicht mehr versucht, vor ihm davonzulaufen - den besten Raum für die eigene spirituelle Entfaltung. Dabei spielt es keine Rolle, ob du in Palo Alto bei IBM arbeitest oder Mönch bzw. Nonne in irgendeinem Kloster bist. Egal, wo du bist und in welcher Situation du dich befindest, immer hast du die gleiche fundamentale Frage. Und was du gerade tust, ist unerheblich, denn es kommt nur darauf an, was du bist. Schüler: Wenn du sagst, dass es nur darauf ankommt, wer ich bin, was geschieht denn dann, wenn sich das Ich auflöst, wenn mir bewusst wird, dass alles, was ich als »Ich« kenne, nicht von Dauer ist? Adyashanti: Du wachst auf. Ich meine, du stolperst in dieses wunderbare Paradox, dass überhaupt kein Ich mehr da ist und du trotzdem überall bist, beides simultan. Einen größeren Spaß kannst du gar nicht haben. Es
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ist kein Ich mehr da, nur ein einziges großes Ich existiert noch, das aus allem herausleuchtet. Aber das sind alles nur Worte. Es gehört auch zur Integrität, sich nie mit der Wahrheit eines anderen Menschen zufriedenzugeben. Du musst es in dir selbst erfahren, denn das ist die einzige Möglichkeit, Gewissheit zu haben. Finde unabhängig von anderen heraus, was du bist. Genau da ist ein Mysterium, selbst auf der Erfahrungsebene. Schon gleich zu Beginn kannst du inmitten des Mysteriums so etwas wie ein intuitives Erlebnis haben und einen Vorgeschmack davon bekommen, dass kein getrenntes Selbst existiert. Du findest kein Selbst mehr, aber du bist trotzdem offensichtlich da, denn dieses Nichts wird wahrgenommen. Du kannst gleich zu Anfang einen ersten Eindruck davon bekommen, während Leute, die schon seit zwanzig Jahren auf ihren Kissen sitzen und meditieren, womöglich nichts dergleichen erfahren haben. Etwas so Einfaches ist ihnen vielleicht entgangen. Dabei hat jeder den Geschmack schon auf der Zunge. Das ist das Erstaunliche daran. Es ist nichts Fernliegendes.
16 Loslassen Es gibt einen sehr einfachen Schlüssel zum Geheimnis des Glücklichseins. Lass einfach alles los, was du vom gegenwärtigen Augenblick erwartest. Jedesmal, wenn du an diesen Augenblick die Anforderung stellst, dass er dir etwas einbringen oder dich von etwas befreien soll, entsteht Leid. Deine Ansprüche halten dich an den Traumzustand des konditionierten Geistes gefesselt. Das Problem ist nämlich, dass dir völlig entgeht, was gerade jetzt ist, wenn du eine Erwartung hegst. Das Loslassen gilt auch für höchste und heiligste Forderungen, ja sogar für das Verlangen nach Liebe. Wenn du auf noch so subtile Weise nach Liebe verlangst, wird dein Verlangen nie gestillt werden, selbst wenn dir die Liebe zuteil wird. Schon im nächsten Augenblick macht sich das Verlangen wieder bemerkbar, und gleich brauchst du wieder einen Liebesbeweis. Doch im selben Augenblick, in dem du loslässt, weißt du, dass die Liebe längst da ist. Nur hat der Geist Angst vor dem Loslassen, weil er denkt, dass er in diesem Fall nicht bekommt, was er will - als würde dieses Einfordern funktionieren. Aber es funktioniert nicht so. Hör damit auf, der Liebe und dem Frieden hinterherzujagen, und das Herz wird dir voll. Hör damit auf,
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ein besserer Mensch werden zu wollen, und du bist ein besserer Mensch. Hör auf, vergeben zu wollen, und die Vergebung geschieht. Halt inne und sei still. Zur plötzlichen Erkenntnis kommst du im Ablassen von jeglichen Anforderungen an diesen Augenblick, an dich selbst und an andere. Du brauchst dazu nur den Bruchteil einer Sekunde. Es ist ganz einfach, wenn du es unablässig tust. Aber wenn du nur einen lichten Moment hast und danach wieder Anforderungen an dich und die Welt stellst, gerätst du erneut in Verwirrung, weil das wahre Wesen des Seins verdunkelt wird. Es ist, als würdest du dem Diamanten hinterherjagen, der sich in deiner eigenen Tasche befindet, und darauf bestehen, dass du ein Bettler bist. Sobald du aufhörst, darauf zu beharren, und die Hand wieder in die eigene Tasche steckst, wird dir klar, welcher Reichtum jetzt da ist, und dieser Reichtum ist keine Folge von irgendetwas, das du tust. Die Schönheit des Selbst besteht unabhängig davon, dass etwas gesehen oder erworben, zur Kenntnis genommen oder hoch geachtet wird. Es handelt sich um die innere Schönheit dessen, was du bist, um diese Glückseligkeit. Um dies tief zu erfahren, brauchst du es bloß in dich einsinken zu lassen, nicht als Antwort, sondern als Frage. »Könnte es sein, dass ich diese Glückseligkeit bin? Habe ich mich etwa immer geirrt, wenn ich mich als wert oder unwert oder entsprechend der sozialen Rolle definiert habe, die ich im Leben spiele? Habe ich mich geirrt und die verborgene Glückseligkeit übersehen, die allem und jedem innewohnt?« Die Glückseligkeit scheint verborgen zu sein, weil sie
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nichts Greifbares ist, dabei ist sie ihrem Wesen nach gar nicht verborgen. Sie wird übersehen, weil wir nur die Struktur des Denkens sehen, während uns das, was diese Struktur möglich macht, entgeht. Unsere Strukturen aus Ansichten, Zweifeln und Emotionen, alle unsere inneren und äußeren Strukturen kommen und gehen. Nur der Raum der Wachheit hat Bestand. Und es ist erheblich mehr Raum als Struktur in dir. Das, was du bist, ist das Einzige, was du nicht erwerben kannst. Das ist das Schöne daran. Du kannst dir alles aneignen, nur Gott nicht. Gott kann man sich nicht aneignen. Du kannst nur aufhören zu lügen und dir bewusst werden, dass du Gott bist. Das ist in der Vergangenheit immer als Tod des Ego dramatisiert und durch diese Theatralik ins Lächerliche gezogen worden. Das Ego ist einfach die Tätigkeit des Geistes, die immer etwas zu erwerben bestrebt ist - Geld, ein neues Spielzeug, Liebe oder Gott. Es denkt immer, durch irgendetwas würde es glücklich werden. Das Einzige, was dein Ego nicht erwerben kann, ist dein wahres Wesen, das, was du bist. Es kann 100 000 spirituelle Erfahrungen sammeln, aber nicht, wer du bist. Die Essenz dieses Augenblicks kann nicht eingesammelt werden, weil sie das Einzige ist, was weitergeht. Darum wird es Realisation genannt, dies zu erkennen. Du realisierst, was immer ist, immer war und immer sein wird. Jeder, der auch nur einen Hauch von Erwachen erlebt hat, ist schockiert, wenn ihm klar wird, dass er immer schon hatte, was er sein Leben lang zu erlangen versucht hat. Es ist, als wäre man ein Taschendieb, der einen Diaman-
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ten in der eigenen Tasche findet. Bisher hat er sich nie die Zeit genommen, die Hand in die Tasche zu stecken, weil er sie immer in anderer Leute Taschen hatte. Spirituell geschieht das, wenn wir unsere Hände bzw. unseren Geist in die Taschen unseres Gurus stecken. Wir sehen den Diamanten in seiner (oder ihrer) Tasche und sonnen uns in seinem Glanz. Das ist jedoch nur von Nutzen, wenn wir den Hinweis beherzigen: »Schau auch in deine eigene Tasche. Schau in dein eigenes Inneres und sieh, ob du dort nicht genau das gleiche Juwel findest.« Du musst dazu bereit sein. Es muss die Bereitschaft da sein, das Spiel zu beenden und deine Hände nicht länger in anderer Leute Taschen zu stecken. Sonst fasst du zwar diesen Teil deines Seins ins Auge und sagst: »Oh, wie schön«, fährst dann jedoch fort, nach dem Diamanten von jemand anderem zu suchen. Ich begegne immer wieder Leuten, die bis zu einem gewissen Grad erkannt haben, wer sie sind, aber trotzdem noch nicht zum Innehalten bereit sind. Du musst willens sein, deine vertraute Rolle aufzugeben. Ob du der Liebe, dem Geld oder der Erleuchtung hinterherjagst, das ist deine Identität und bestimmt, wer du in dieser Welt bist. Solange du davon nicht ablassen kannst, wirst du selbst das kostbare Juwel des Seins, wenn du es denn findest, dem altvertrauten Gefühl opfern. Viele Menschen verharren länger als nötig in einer kaputten Beziehung, obwohl ihnen klar ist, dass es nicht mehr geht, nur weil sie nicht wissen, wer sie sind, wenn sie die Beziehung lösen. Diese Tendenz zeigt sich überall im Leben, zum Beispiel in folgenden Gedanken: »Ich wer-
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de den Job behalten - ich hasse ihn, aber ich werde ihn behalten.« Oder: »Ich bin derjenige (diejenige), der ein Ziel hat - was wäre ich ohne dieses Ziel?« Es ist ein weitverbreitetes Spiel, das die Menschen da spielen, um nicht mit ihrem wahren Selbst eins zu werden. Du bist ein unglaubliches Mysterium, das du nie durchschauen wirst. Dieses Mysterium bewusst zu sein ist die größte Freude. Bereit zu sein, aus dem Kreislauf des Werdens auszusteigen, ist ebenso wichtig wie zu erkennen, wer und was du bist. Dann bist du zwar frei und glücklich, aber dein Spiel ist aus. Eine Zeitlang weißt du vielleicht nicht, wie du mit anderen reden oder was du tun sollst, und dein Leben wird dir fremd. Meine Lehrerin pflegte zu sagen, dass man durch die Erkenntnis, wer man wirklich ist, so etwas wie ein Baby-Buddha wird. Du wirst ja nicht neu geboren und weißt gleich, wer du bist, wenn du so lange eine andere Rolle gespielt hast. Vielmehr geht es dir so, als würdest du die ersten tapsigen Schritte tun. Aber du musst dich auch bereitwillig auf dieses Tapsige, Unsichere einlassen, denn wenn du die Unsicherheit scheust, fällst du gleich in die alten Formen des Selbstschutzes und Suchens zurück. Es ist sehr merkwürdig, ein Liebhaber dessen zu sein, was ist. Meist ist man ein Liebhaber des einen, nicht aber des anderen. Aber die neue Erfahrung, einfach das zu lieben, was ist, kommt dir auch seltsam vertraut vor. Es ist, als wüsstest du irgendwie, dass es schon immer so gewesen ist, dass alles uralt ist und doch so, als wäre es gerade erst geboren. In alter Zeit gab es Klöster - gesellschaftlich anerkannte
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Institutionen, in denen Baby-Buddhas laufen lernen konnten. Das waren geschützte Orte, wo Leute lebten, die wussten, worum es geht. Heute wachen viele Menschen auf, viel mehr, als man in Klöster stecken könnte. Es läuft ziemlich aus dem Ruder. Und dass es aus dem Ruder läuft, liegt daran, dass es das eng geknüpfte Netz der geschützten, heiligen Gemeinschaft nicht mehr gibt, die das Neue schützt und uns sagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen, weil sich mit der Zeit alles klären wird. In unserer Gesellschaft klingelt bald nach dem Erwachen zum neugeborenen heiligen Wesen um sieben Uhr früh der Wecker und ruft uns zur Arbeit. Das bringt uns ein bisschen aus der Fassung. Aber so ist es nun einmal. Das ist unser Los. Deshalb ist die Bereitschaft wichtig, es so sein zu lassen, wie es ist. Nichts löscht das Licht der Erkenntnis so schnell wieder aus wie der Versuch, alles erklären zu wollen. Es ist ein kraftvolles Erlebnis, zur Erkenntnis des Soseins zu kommen und es immer tiefer zu erfahren. Nicht blitzartig, sondern in einem natürlichen Reifeprozess wird allmählich klar, wie sich diese Erkenntnis in der Welt von Zeit und Raum auswirkt. Die Voraussetzung dafür ist totales Vertrauen in den Reifeprozess, ein ebensolches Vertrauen wie darauf, dass aus Babys Kinder werden, aus Kindern Jugendliche und aus Jugendlichen Erwachsene.
17 Mitgefühl Es gibt zwei Arten von Leiden. Die erste ist natürliches Leiden. Das sind die Schmerzen des Hungerleidens, der physischen Bedrohung und der natürlichen Seelenqual beim Tod eines geliebten Menschen. Dies sind unvermeidbare Formen des Leidens, und auf dieser Ebene fällt es leicht, von Mitgefühl zu reden. Wenn Menschen hungern, brauchen sie Nahrung; wenn sie seelisch leiden, brauchen sie manchmal Raum, in dem sich dieses Leid entfalten kann. Ihnen diesen Raum zu lassen, kann ein Akt sehr tiefen Mitgefühls sein, ob er von anderen oder vom Leidenden selbst geschaffen wird. Diesen Grundbereich des Leidens nenne ich »Schmerz«, und ihm kann man auf praktische Weise begegnen. Das hat Meister Eckhart wunderbar zum Ausdruck gebracht: Es ist besser, einem Bedürftigen einen Teller Suppe zu geben, als in der Verzückung zu verweilen. Die einfachen Mitleidsregungen machen Freude. Auch wenn wir noch nicht zu unserer wahren Natur erwacht sind, verhalten wir uns oft mitfühlend und entsprechen damit einer allgemeinen Idee. Doch wenn wir wirklich mit unserem wahren Wesen in Berührung gekommen sind, merken wir, dass es daran Freude hat, im Augenblick
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der Not zu helfen. Wenn das selbstlose Wesen des Selbst erwacht ist, merken wir, dass dieses Wesen sich vor nichts drückt. Die zweite Art von Leiden - die anderen 95 bis 99 Prozent - sind Seelenqualen, die durch die innere Gespaltenheit verursacht werden. Diese Art von Leiden entsteht, wenn man sein wahres Wesen nicht kennt. Das Gütezeichen einer vollen Erkenntnis des eigenen wahren Wesens ist Ungeteiltheit. Das heißt nicht, dass man, einmal erleuchtet, nie Hunger leiden und nie Trauer empfinden wird, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Du wirst auch weiterhin gelegentlich unangenehme Erfahrungen machen, aber du wirst nicht die innere Zerrissenheit empfinden, die der ursprünglichen Traurigkeit noch viel, viel mehr Gewicht gibt. Das ist eine neue Leidensschicht, die zum unvermeidlichen Schmerz noch hinzukommt. Das wahre Selbst ist unteilbar, aber das vorgestellte Selbst lässt sich sehr leicht aufspalten. Das meiste Leid entsteht durch dieses geteilte Selbst, das nur im Kopf existiert. Da es nur im Kopf existiert, du jedoch daran glaubst, sendet es Signale an den übrigen Körper aus, und schon macht der übrige Körper die emotionale, traumatische Erfahrung der Zerrissenheit. Im Buddhismus ist vom Rad des Leidens die Rede, vom Samsara, das dieser inneren Zerrissenheit entspringt, diesem falschen Selbstgefühl. Es ist unpersönlich, zyklisch und entsteht automatisch. Du bist ihm ausgeliefert, ob du willst oder nicht. Es ist ein fester Bestandteil der Welt, denn die Welt ist im Großen und Ganzen ans Rad des Samsara gebunden. Das Samsara ist die vollkommen mechanische Entfal-
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tung der Konditionierung. Sie wird bei einem Menschen in Gang gesetzt, der sie auf fünf weitere Personen überträgt, die jeweils wieder fünf Personen entsprechend beeinflussen usw., bis diese Bewegung wie die Speichen eines Rades immer weiter nach außen strebt und viele Menschen erfasst. Vom Rad des Samsara wegzukommen heißt, die Tatsache einzusehen, dass dieses Rad einzig und allein durch ein Missverständnis besteht - durch den Gedanken, dass ich dieses Wesen mit diesen Gefühlen und Problemen bin. Wir sagen zwar Samsara dazu, aber es besitzt eigentlich gar keine Wirklichkeit. Es existiert nur in unserem Kopf. In unserer Kultur machen wir aus dem Leiden des Samsara etwas Nobles. Es ist fast schon ein Sakrileg, das Sein, so wie es ist, nicht als ein Problem anzusehen, für das wir eine Lösung finden müssen. Es wird überhaupt nicht von uns erwartet, von diesem Rad des Leidens abzuspringen und aus der Trance des »Ich« aufzuwachen. Stell dir einmal vor, du besuchtest Marsmenschen in ihrem Land und würdest sehen, dass jeder Marsmensch in seinem Kopf ein individuelles Selbstbild besitzt und einer jeweils eigenen »Ich«-Story folgt. Du siehst jedoch deutlich, dass keine dieser Geschichten wahr ist. Du siehst, dass die Marsmenschen im Grunde die ganze Story mit allem Drum und Dran über Bord werfen können, ohne dass es ihnen dann schlechter ginge, weil das Licht des Bewusstseins das Leben lebt und Storys lediglich dieses Licht aufspalten und verdunkeln. Alle Wesen sind dieses Licht der Bewusstheit, aber alle glauben, nur durch ihre Geschichte real zu sein. Das ist völlig verrückt. Aber natürlich denken die Leute, dass es normal ist, in eine Ge-
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schichte verstrickt zu sein, weil eine kollektive Übereinstimmung besteht, dass es normal ist. Egozentrierte Verrücktheit wird als normal betrachtet. Du bist keine der Geschichten über dich, die du glaubst. Letztlich bist du nur ohne Geschichte Wirklichkeit. Darum hat Buddha gesagt: »Da ist kein Selbst.« Heute wäre er wahrscheinlich erwacht und hätte gesagt: »Es gibt keine Geschichte über mich.« Einzig das Gefühl, ein getrenntes, isoliertes Selbst zu sein, ist die Ursache all deiner Mühen. Du strampelst dich ab, weil du deine Aufmerksamkeit einem Konglomerat von Vorstellungen und Überzeugungen zuwendest. Du strengst dich an, um dir das Gefühl eines getrennten Selbst zu bewahren, und das sogar noch während du dich bemühst, dieses Gefühl von einem getrennten Selbst loszuwerden. Wenn du aufhörst, dich abzustrampeln, erkennst du, dass gar kein getrenntes Selbst da ist. Es ist im Grunde gar kein Selbst da. Das angenommene Selbst ist also gar kein Substantiv, sondern eigentlich ein Verb: abstrampeln. Und solange du dich abstrampelst, leidest du. Warum strampeln sich die Menschen ab? Wenn für dich nichts dabei herausspränge, würdest du es lassen. Das muss dir unbedingt klar sein, denn spirituelle Menschen fragen sich oft: »Warum kann ich nicht einfach loslassen?« Du bleibst dran, weil du einen eingebildeten Nutzen daraus ziehst - du machst diese Erfahrung, ein Ich zu sein. Es ist nicht durch und durch schrecklich, sondern verschafft dir eine gewisse Befriedigung. Das zeitgebundene Selbstgefühl kann einige großartige Erfahrungen machen. Viele Erlebnisse wertet das vorgestellte Einzel-Ich als sehr
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positiv. Wenn du zum Beispiel zu deinen Nachbarn gehst und sie beim Rommé schlägst, fühlst du dich hinterher richtig gut. Oder du erzielst einen guten Aktiengewinn und bist daraufhin ein Jahr lang reich und obenauf, allerdings ist es meist ein Jahr später wieder damit vorbei. Oder du gehst zu deinem Therapeuten oder spirituellen Lehrer und glaubst, Fortschritte zu machen, was dir ein Gefühl gibt, besser zu werden. Aber das ist ein trügerisches Glücksgefühl und keine wahre Glückseligkeit. Das trügerische Glück ist eine Trance, eine egozentrische Täuschung. Freiheit - und Erleuchtung sowieso - besteht einzig darin, sich selbst aufzugeben für das, was ist. So einfach ist das. Erleuchtung ist nichts anderes als die vollkommene Abwesenheit von Widerstand gegen das, was ist. Punkt. Könnte es eine größere Freiheit geben als das Ende jeglichen Widerstandes und aller Mühe? Doch wenn man den Kampf gegen das, was ist, aufgeben will, kann man nicht an einem Selbstbild, an Standpunkten, Ideen oder Identitäten festhalten. Das ist ein wichtiger Punkt, denn spirituelle Menschen wollen oft ihr Identitätsgefühl aufgeben, aber an ihren Ansichten, ihrer Weltanschauung festhalten. Die können sie aber nicht mit in die Erleuchtung hineinnehmen, denn Erleuchtung kennt keine Ansichten und keine Programme. Sie stellt keine besonderen Ansprüche an die Welt, an sich selbst oder andere. Sie hat kein Zentrum. Sie liebt einfach nur. Das eingebildete Ich hat ein Zentrum. Es hat das Empfinden: »Alles widerfährt mir. Ich bin die Haupthandlung im Drama des Universums.« Das eingebildete Ich spielt in
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jeder Sekunde seiner Existenz die Hauptrolle, selbst wenn es träumt. Das meine ich mit Zentrum. Alles wird darauf bezogen und alles, was geschieht, als etwas Persönliches aufgefasst. Aber in Wahrheit gibt es kein Zentrum, und alles geschieht einfach. Eine Menge Punkte wirbeln im Bewusstsein herum, aber es gibt keine Zentren. Es mag zwar in jedem einzelnen Körper noch einen Brennpunkt des Interesses geben, aber das ist etwas anderes, als wenn dieser Brennpunkt als das Zentrum von allem betrachtet wird. Wie jeder weiß, ging die Wissenschaft einst davon aus, dass die Erde das Zentrum des Universums sei, um das sich alles dreht. Ebenso glaubt jeder, dass sich alles Leben um ihn oder sie dreht. Erinnerst du dich noch daran, dass du unter Mitgefühl verstanden hast, du müsstest dich der illusionären Geschichte von jemandem über das, was geschieht, anschließen? Du hattest das Empfinden: »Ich muss deine illusionäre Story unterstützen, damit du meine unterstützt, und dann sind wir wirklich innig verbunden und einander nahe.« Aber Mitgefühl auf der Ebene, von der ich spreche, ist etwas ganz anderes. Dieses Mitgefühl bedeutet Hingabe an die Wahrheit. Und die erste Regung dieses Mitgefühls muss dir selbst gelten. Es wimmelt nur so von Leuten, die Mitgefühl für alle Mitmenschen empfinden und die Welt retten wollen. Aber auf sich selbst wollen sie es nicht anwenden, weil sie damit ihr Zentrum aufgeben würden. Das Zentrum aufzugeben ist jedoch der höchste Akt des Mitgefühls. Dann herrscht nur noch Freiheit - die Freiheit wacher Bewusstheit, die Freiheit, zu sein, was
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man längst ist, nämlich Geist statt der lebenden Verkörperung einer Story. Die Hingabe an die Wahrheit wird also zu einem Akt des Mitleids, das wir nicht nur uns selbst, sondern auch anderen entgegenbringen, und dabei erkennen wir allmählich, dass wir das, was wir für uns selbst tun, automatisch auch für andere tun. Rate mal, was du an all deinen Mitmenschen erkennst, sobald du aus deiner Geschichte aufwachst? Sie sind nicht ihre jeweilige Geschichte. Sie sind ebenfalls reiner Geist. Und dieser reine Geist ist völlig unabhängig von ihrer Geschichte und der Geschichte, die du über sie erfindest. Du verlierst also nicht nur dein eigenes Zentrum, sondern siehst, dass auch die anderen gar kein Zentrum haben, dass keine Schublade da ist, in die du sie stecken könntest. Du erkennst, dass ihr das Gleiche seid. Darum heißt es, dass die Erleuchtung keine persönliche Angelegenheit ist. Du kannst nicht erkennen, dass du erleuchtet bist, und trotzdem glauben, dass andere es nicht sind. Du kannst nicht dein wahres Wesen erkennen, ohne auch das wahre Wesen von allem anderen zu erkennen. Das ist absolut unmöglich. Es ist ein ungeheurer Akt des Mitgefühls, ein Akt der Liebe. Nichts fördert die Hingabe mehr als ein Akt der Liebe. Mitgefühl führt ganz von selbst zu Hingabe. Aber solange wir uns nur hingeben, um etwas zu gewinnen, ist es keine echte Hingabe. Dann ist es die Leidenschaft einer spirituellen Person - alles hinzugeben in der Erwartung, im Gegenzug dafür die Glückseligkeit der totalen Erleuchtung zu erfahren. Das ist genauso, als würdest du sagen: »Ich gebe dir einen Dollar, wenn du mir dafür eine Mil-
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lion gibst.« Wahre Hingabe hört sich eher so an: »Bitte befreie mich von dem Dollar. Ich will und brauche ihn wirklich nicht. Ich will die Freude erleben, ihn nicht zu haben.« Hingabe bedeutet, die eigene Geschichte aufzugeben, auch die Geschichte davon, wie erleuchtet wir sind. Wir sehen, dass unsere Geschichte in nichts der Wahrheit entspricht. Wir können sie an nichts festmachen, wodurch sie wahr werden würde. Wir können Erfindung nicht in Wahrheit verwandeln. Wir können der Geschichte eine tragische oder eine glückliche Note geben, aber sie bleibt trotzdem Erfindung. Zu erkennen, dass unsere Geschichte reine Erfindung ist das ist Erwachen. »Mein Gott, alles reine Erfindung!« Das ist Freiheit. Für das Ego oder das eingebildete Ich ist diese Erkenntnis schrecklich, weil es immer noch an der Fiktion interessiert ist. Aber für das Bewusstsein bedeutet die Einsicht, dass die ganze Sache reine Fiktion ist, die größte Freiheit. Dann beginnen wir endlich zu erkennen, was wahr ist. Wenn sich das Bewusstsein von allen Erfindungen über das Selbst, das Leben und die anderen frei macht, bleibt die Wahrheit übrig. Du kannst nicht sagen, was das ist, denn dadurch wird sie wieder eine Idee. Aber das Leben ohne Geschichte zu sehen und zu erfahren, sodass das angebliche Zentrum zusammenbricht, ist wirklich der größte Akt des Mitgefühls dir selbst und anderen gegenüber, weil du dann »selbst-los« bist. Selbstlosigkeit im Wortsinne heißt, ohne Zentrum zu sein, ohne Geschichte. Das entspricht nicht dem Bild, das sich der Verstand von der Selbstlosigkeit macht, denn das ist eine romantische
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Vorstellung von Selbstaufopferung. Selbstlosigkeit heißt, ohne Selbst zu sein. Kein Zentrum zu haben ist absolut nicht das, was sich der Verstand darunter vorstellt. Die Erkenntnis, dass du kein Zentrum hast, geht mit der Verwirklichung einer tiefen, bleibenden Liebe einher, einer Liebe, die von Natur aus da ist - die nicht erzeugt wird. Es ist eine Liebe ohne Ursache. Es gibt keinen Grund, im Frieden zu sein, und trotzdem bist du es. Selbst wenn du keinen Grund hast, dich wohlzufühlen oder glücklich zu sein, bist du im Frieden. Die Liebe will immer Leiden lindern, nicht durch eine Aufhebung der Geschichte, sondern durch Aufheben des Erzählers, dieser Illusion eines Ichs. Denk daran, dass jedes Mal, wenn du ins Jetzt-Hier eintrittst, das Jetzt-Hier ungeheuer einfach ist. All die Punkte auf deinem Programm - woanders zu sein, etwas darzustellen oder irgendwohin zu kommen - verschwinden. Das Hier und Jetzt genügt vollkommen. Du weißt, dass du ebenso wenig ein Problem bist, das es zu lösen gilt, wie dein Nachbar oder die Welt. Das ist eine Revolution für den gegenwärtigen Bewusstseinszustand des Menschen. Ist dir nicht klar, dass du, sobald du dies in dich einsinken lässt, kein Problem mehr bist, das in irgendeiner Weise auf eine Lösung wartet? Stell dir einmal vor, du wüsstest, dass alles, was dich vom Gegenteil überzeugen will, bloß ein Gedanke ist, der sagt: »Was immer da ist, es ist nicht so, wie es sein soll.« Der bedeutendste Akt des Mitgefühls beginnt folglich im eigenen Innern. Und wenn das Selbst nicht länger als Problem betrachtet wird, nennt man das »den Frieden, welcher höher ist als alle Vernunft«.
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Ehe du nicht klar erkennst, dass alles der Buddha ist, siehst du die Dinge auch nicht so, wie sie sind. Mutter Teresa hat einmal gesagt, dass sie sich bei jedem Kranken und Hungernden, dessen sie sich annimmt, Jesu annimmt. Das ist nicht bloß nettes spirituelles Gerede. Es ist echte, konkrete Wirklichkeit. Der wahre Christus ist in jedem Lebewesen. Ebenso ist der Buddha in jedem Wesen. Und der Einzige, der dafür Augen hat, ist der innere Christus. Nur der innere Buddha nimmt den Buddha wahr. Nur im Einssein wird das Einssein erkannt. Das Ich wird niemals das Einssein erfahren. Jeder strahlt seine eigene Erleuchtung 24 Stunden am Tag aus wie ein Funksignal. Und ebenso ist ein jeder Empfänger. Wenn dir klar wird, dass dein wahres Wesen längst frei ist, dass es keinem Bild entspricht, sondern leer, reiner Geist und reine Präsenz ist, erkennst du, dass dies auch alle anderen sind. Das übermittelst du, ohne auch nur daran zu denken. Und wenn du glaubst, jeder sei ein Einzelwesen für sich, sendest du dieses Signal aus, egal, was du tust. In dieser Freiheit erkennst du allmählich, dass es kein Innen und kein Außen gibt, weil alles eins ist, und diese Erkenntnis ist stärker als alles, was ich je sagen könnte. Ich garantiere dir, dass ein einziges Wesen, das den Buddha in dir sieht, mehr wert ist als 10 000 Bücher über den Buddha. Ein Wesen mit dem tatsächlichen Wissen, dass es nur den Buddha gibt und sonst nichts, hat die stärkste Wirkung überhaupt. Tiefstes Mitgefühl will nichts verändern, es verändert aber paradoxerweise alles. Wenn du in dir selbst das be-
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rührst, was nichts verändern will, hast du die absolute Widerstandslosigkeit berührt, und das verändert deine Sicht von allem komplett. Wenn deine Konditionierung innerlich mit dem in Berührung kommt, was unkonditioniert ist, wird dadurch deine Konditionierung unumkehrbar verändert. Das ist die heilige Alchemie, das ist Mitgefühl.
* * * Schüler: Ist das Festhalten an einer Identität für alle traumatisch? Adyashanti: Schalte einmal das Fernsehen ein oder hör dir an, was dein Nachbar dir erzählt. Es ist immer traumatisch und eine Katastrophe, wenn du die Konditionierung mit dem verwechselst, der du wirklich bist. Das Identitätsgefühl selbst ist nicht von Natur aus traumatisch. Erst das, was nachträglich damit angestellt wird, bewirkt, dass es als traumatisch erfahren wird. Schlag die Zeitung auf. Da findest du die Geschichten von individuellen Ichs und dem, was sie tagtäglich tun. Es ist vollkommen verrückt. Aber es ist wichtiger, sich der Wahrheit zu verpflichten, als sich von der Identität zu befreien. Du kannst dich nicht auf eine Identität konzentrieren und gleichzeitig von ihr loskommen. Lerne zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was unwirklich ist. Die meisten Menschen unternehmen, kaum dass dieses Ichgefühl in ihnen aufsteigt, so schnell etwas, um es entweder loszuwerden oder sich darin zu aalen, dass sie die Wahrheit nicht einmal sehen.
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Schüler: Wie ist es denn für dich? Adyashanti: Die Wahrheit ist für mich das Interessanteste überhaupt. Sie ist das Einzige, was interessiert. Sie ist immer frisch. Alles andere ist entsetzlich langweilig. Für mich ist die Wahrheit das Einzige, was geschieht. Es tut sich nichts außer Buddha, außer dem Einen. Durch dein Interesse kannst du das, was wahr ist, von dem unterscheiden, was unwahr ist. Das ist etwas ganz anderes als der Versuch, ein Ergebnis zu erzielen. Wenn du nicht darauf aus bist, etwas zu erreichen, findest du es sehr interessant zu sehen, was wahr ist und was unwahr. Gehirn und Geist halten einen Werkzeugkasten für dich parat, mit dessen Hilfe du praktische Dinge bewältigen kannst. Aber alles, was außerhalb dieses Werkzeugkastens erdacht wird, ist nur wieder eine Geschichte ohne jeden Wahrheitsgehalt und ohne objektive Realität. Nichts von dem, was in deinem Kopf geschieht, entspricht der Wahrheit; es ist bloß eine Story. Was bist du ohne deine Geschichte? Im Land der Unterscheidungen gibt es immer etwas zu wissen. Aber im Zustand der Erleuchtung gibt es nichts zu wissen. Die Erleuchtung ist letztlich ein Prozess der Aufgabe des Wissens. Wenn alles in deinem Kopf zum Nichtwissen wird, bleibt nur noch die Wahrheit übrig. Diese Art von Wissen kann nicht einmal in Worte gefasst werden, denn tätest du das, würde sich der Verstand sofort des Gesagten bemächtigen und es seinem Wissensschatz einverleiben, der nur Symbolwert hat. Die Wahrheit ist aber nie etwas, das nur Sym-
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bolwert besitzt, sie ist etwas Reales. Wenn wir das begreifen, verschwenden wir nicht mehr so viel Zeit daran, im Denken nach Wahrheit zu suchen.
18 Das Feuer der Wahrheit Wenn du konzentriert hinhörst, tief empfindest und dir gestattest, diesen Augenblick genau so zu erfahren, wie er ist, werden der Gefühls- und der Energiekörper weicher. Nimm dir jetzt gleich ein paar Minuten Zeit, um einfach nur zu lauschen und dir deiner Umgebung bewusst zu werden. Nimm, während du die Geräusche in dein Bewusstsein dringen lässt, auch den Duft und das Raumgefühl um dich herum und außerhalb des Zimmers wahr, sodass dein Empfindungssinn nicht auf deine Haut und Knochen beschränkt bleibt. Gib dir selbst Gelegenheit, für die Welt der Geräusche offen zu sein, die dich umgibt, und den Raum außerhalb deines Körpers zu fühlen. Fühle, wie diese Geräusche und Erfahrungen in dich einströmen, je mehr du dich entspannst, und wie sie dich durchdringen, wenn du sie nicht abwehrst. Dann spürst du, wie du weicher und offener wirst. Überlasse dich dieser Offenheit. Du wirst wahrscheinlich merken, dass die von dir empfundene Schranke zwischen der Außenwelt und dem, was innerhalb deiner Haut geschieht, sehr durchlässig wird, oder das Gefühl haben, dass die Grenze zwischen Innen und Außen gar nicht mehr zu finden ist. Geräusche von außen und Abläufe im Körper werden er-
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fahren, als hätten sie die gleiche Qualität. Ein Gefühl im Körper unterscheidet sich kaum vom Geräusch eines vorbeifahrenden Autos oder vom Gezwitscher eines Vogels, der auf einem Baum sitzt. Ein Gefühl in deinem Körper gehört eigentlich auch nicht mehr dir als das Raumgefühl in dem Zimmer, in dem du dich aufhältst. Achte einmal darauf, wie all diese Erfahrungen, sobald du Besitz davon ergreifst, in Innen und Außen, Mein und Dein, ein Geräusch da und ich hier aufgeteilt werden. Dabei sind das im Grunde alles nur Erfahrungen, sind das Außen und das Innen dasselbe. Nicht meins und nichts anderes als meins. Die Präsenz von Stille macht den Körper weit, und die Stille wird, wenn du es zulässt, von ihm aufgenommen wie von einem Schwamm. Ein stillschweigendes, wortloses Verständnis setzt ein, nur durch die unmittelbare Erfahrung dessen, was ist. Überlasse dich dem wunderbaren Geschenk, dich nicht nach einer anderen Erfahrung zu sehnen. Was ist es, das dies erfährt, ohne darüber nachzudenken, ohne dass sich auch nur ein einziger Gedanke regt? Was ist es, das die Erfahrung macht? Erkenne, dass nichts da ist, das diesen Augenblick erfährt, und doch wird dieses Nichts erkannt und erfahren. Etwas Geheimnisvolles ist da und erkennt, etwas Geheimnisvolles macht in diesem Augenblick diese Erfahrung, aber du kannst nicht sagen, was das ist, denn wenn du sagst, was es ist, ist es das nicht mehr. Es ist näher, spontaner. Sobald du darüber nachdenkst, siehst du, dass es nicht dieser Gedanke ist. Es ist vor dem Gedanken da. Keine Beschreibung ist nötig, also verweile einfach am
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Rand, am Abgrund, in der direkten Erfahrung und mit dem unmittelbaren Gefühl, nicht zu existieren und dennoch zu wissen, dass du da bist. Ein Gedanke über dieses Geheimnis trennt Himmel und Hölle voneinander. Denken zerreißt die Einheit in Stücke, damit sie der Verstand analysieren kann. Stille hingegen eint. Die Erfahrung dieses Augenblicks ist präsent, aber unfassbar, bewusst, aber undefinierbar. Das, was wach ist, lässt sich nicht ergreifen. Gib den vergeblichen Versuch auf, es zu erfassen und zu definieren, und lass einfach los. Vielleicht bist du am Ende doch gar nicht du. Vielleicht bist du ja das, was in diesem gegenwärtigen Augenblick der Erfahrung wach ist. Finde dich bereit, es zu sein, statt es begreifen zu wollen. Während der Körper offen wird, schweben weiterhin Geräusche durch die Stille. Was in dir weiß, dass es Stille ist? Es lässt sich nicht definieren. Wenn du vom Weg abkommst, musst du wieder auf die Geräusche horchen. Sie verweisen auf die Stille zurück, die ihrerseits auf das verweist, was sowohl die Stille als auch die Geräusche erkennt. Hänge nicht deinen Gedanken nach, denn sonst verpasst du dein Leben. Entspanne dich einfach, entspanne dich, entspanne dich. Es ist der einfachste Akt des Vertrauens. Die Bewusstheit, die in dir wach geworden ist, erkennt sich selbst. Der Verstand erkennt sie nicht, der Körper erkennt sie nicht, und die Gefühle erkennen sie nicht. Allein die Bewusstheit erkennt sich selbst als sich selbst. Das ist eine schlichte Wahrheit, die über alles Verstehen hinausgeht. Sie ist unmittelbar, sie hat schon vor allem Suchen bestanden. Sie ist allgegenwärtig und kommt in jeder ein-
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zelnen Facette der Erfahrung in diesem Augenblick zum Ausdruck. Du hast immer die Wahl. Die eine Möglichkeit ist die, das Vertraute zu wählen und die geheimnisvolle Bewusstheit etwas anderem zu opfern. Die zweite Möglichkeit ist die, das, was wach und präsent ist, nicht aufzugeben, wo du auch sein magst. In diesem Fall opferst du es nicht der Hoffnung auf einen günstigeren Augenblick, ein schöneres Ereignis oder eine bessere Erfahrung. Du hast die Wahl dem, was wahr ist, treu zu bleiben oder nicht. Und das nenne ich das Feuer der Wahrheit. Das, was in dir als du wach geworden ist, macht dir klar, wie unerheblich letztlich alle Einwände sind, auf die du noch verfallen könntest. Für das, was zu sich selbst erwacht ist, ist alles, was nicht wahr ist, irrelevant. Die Stille verbrennt alles Verlangen nach etwas anderem und macht das Leben, das du bist, frei, um vorbehaltlos als es selbst zu leben. Fühle die unmittelbare, intuitive Einladung deiner Wachheit, von allem anderen abzulassen. Sie ruft dich auf, nicht länger mit dem Leben, mit dem gegenwärtigen Augenblick, mit dir selbst, deinem Lehrer, deinem Freund oder deinem Partner zu feilschen. Hör einfach auf damit. Das Feuer ist unsichtbar und unerkennbar, und doch verzehrt es alles außer sich selbst. Diese wache Bewusstheit, die in jedem Augenblick den Kern deiner ganzen Seinserfahrung bildet, das ist es! Jeder kann frei wählen, wem er sein Leben widmet. Vielleicht ist diese Möglichkeit nie erkannt oder nie bewusst geworden. Jetzt ist sie es. Was ist dir wichtig? Woran willst du dein Herz hängen? Mich kümmert es nicht, wel-
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che Wahl du triffst, und Gott kümmert es auch nicht. Aber dich selbst kümmert es, und du bist der einzige Mensch, der zählt. Das, was in dir wach ist, hört die Geräusche und nimmt das wahr, was vor deinen Augen erscheint, sobald du sie öffnest. Verlier dich nicht an Bilder, Klänge und Gefühle. Öffne dich ihnen ganz, aber bewege dich nicht. Verharre in der Stille und Wachheit. Diese Entscheidung, die von Augenblick zu Augenblick erneuert wird, ist das Feuer der Wahrheit. Sie hat keine dramatischen Folgen. Vielmehr hat sie etwas Unaussprechliches zur Folge, das befriedigender ist als Freude, Friede oder Begeisterung. Sei dir in jedem Augenblick, in dem du deine Erwachtheit aufgibst, hellwach dessen bewusst, was du aufgibst. Stell sicher, dass der Deal so ist, wie du ihn dir wünschst. Du kannst aber auch die Gnade erfahren oder das Glück haben, dir bewusst zu werden, dass nichts mehr in dir das, was in dir wach ist, aufgeben möchte, nicht einmal zur Sicherheit oder damit andere eine gute Meinung von dir haben. Es ist eine wirkliche Gnade, dies zu erkennen. Es ist total einfach. Im Moment der Erkenntnis gewinnst du ein Leben, in dem es kein Feilschen und Schachern mehr gibt. Das Feuer der Wahrheit befreit dich von dem Verlangen, mit dem, was ist, zu feilschen, zu schachern und zu wünschen, dass sich etwas oder jemand ändern möge. Dir wird klar, dass dich Veränderungen, auch Veränderungen in dir selbst, keineswegs glücklicher machen. Um dieses Geschenk voll und ganz zu empfangen, muss es allem und jedem überall weitergegeben werden. Das, was erwacht ist, verlangt von nichts und niemandem, sich
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zu verändern oder zu verbessern. Das ist das Feuer. Das ist die Asche des Feuers. Du kommst zu der Erkenntnis: »Vor einer Minute wollte ich noch, dass du dich änderst, aber jetzt will ich das nicht mehr. Du bist okay so. Alle sind okay, alles ist okay.« Was ist geschehen? Niemand hat sich verändert, niemand hat sich deinen Vorstellungen angepasst, und doch ist jetzt eine Glückseligkeit da, die dadurch, dass sich nichts und niemand verändert hat, noch schöner ist. Die Vielfalt der Wesen und des Lebens macht sie noch schöner. Das, was wach ist, ist bei uns allen dasselbe. Und in allem anderen kommt herrlich und wunderbar die Vielfalt zum Ausdruck. Sobald ich mir wünsche, dass du dich veränderst, oder du dir wünschst, dass ich mich verändere, stoßen wir einen Dolch mitten ins Herz unserer Existenz. Das spüren wir sofort und unmittelbar an uns selbst. Das ist es, wovon das Feuer der Wahrheit uns befreit. Und geheimnisvollerweise wird durch diese Befreiung Transformationsenergie freigesetzt. Alles wird transformiert - nicht nur wir selbst, sondern auch alle um uns herum. Das Feuer der Wahrheit verwandelt dich bis ins Mark. Nicht dass du das beabsichtigt hättest oder dich darum kümmern würdest. Es geschieht einfach. Sobald wir uns darum kümmern, wird die transformierende Energie wieder eingeschlossen, und sobald der Geist versucht, die Wahrheit einzugrenzen und sie seinen eigenen Vorstellungen gemäß zu interpretieren, ist es so, als würde ein schwerer Stein auf einen Spiegel fallen. Er zersplittert, und du fühlst das Zersplittern sofort in Körper und Geist. Die Transformation erfordert tiefste Demut ohne ein Wissen um diese Demut.
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Ich bitte dich, nicht über das Schauen hinauszublicken und dich nicht von dem, was wahrnimmt, fortzubewegen. Verbessere dich nicht über das hinaus, was schon vollkommen ist. Und gib das Geschenk weiter. Das ist die Erlösung der Welt. Gib es weiter und sieh es dort. Wo immer dieses Dort ist - ob zu deiner Linken, zu deiner Rechten, hinter dir, auf den Kopf gestellt oder unter deinen Füßen. Sieh die Ganzheit dort. Das ist die Transformation von allem. Wenn du nicht Ganzheit überall um dich her siehst, herrscht weiter Unwissenheit, herrscht weiter Gewalt. Opfere nicht das, was wach ist. Denk es nicht aus dem Dasein heraus. Dränge es nicht an den Rand deines Lebens. * * * Schüler: Wenn ich mir die Nachrichten anschaue, sehe ich so viel Streit und so viel Beharren auf Standpunkten. Wie kann ich angesichts all der Probleme in der Welt an der Wahrheit festhalten? Adyashanti: Worte sind nur ein winzig kleiner Teil dessen, was geschieht. Die Wahrheit lässt sich nicht in Worte fassen. Sie ist etwas Stilles, das nicht erklärt werden kann. So wird auch durch die Verwandlungskraft in unserem Innern die Welt auf eine Weise beeinflusst, wie Worte es nicht vermögen. Und ungeachtet der Worte, die wir sprechen, selbst solcher wie »Frieden, Frieden, Frieden« oder »Nährt die Hungernden, helft den Armen«, wird letztlich doch nur »Konflikt, Konflikt, Konflikt« übermittelt, solange noch der Krieg in uns wütet.
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Selbst wenn wir das Wort »Konflikt« nicht aussprechen, drücken wir unweigerlich Konflikt aus. Wir übermitteln das, was wir sind. Das ist ganz wichtig. Ich sehe immer wieder, dass Einheit die Menschen mit Entsetzen erfüllt, weil in dieser Einheit niemand außerhalb der Einheit da ist, der entscheiden oder diktieren könnte, wie diese Einheit handelt. Und das Ego weiß, dass in der Einheit kein Ego mehr da ist. Es gilt nichts mehr. Null. Zero. Das Ego fragt: »Ob wohl alles gut geht? Soll ich etwa in der Besenkammer verschwinden, mich um nichts und niemanden mehr kümmern und bloß da drin sitzen in dem Wissen, dass alles Gottes Wille ist?« Wer weiß? Wenn die Einheit will, dass du in der Versenkung verschwindest, wirst du das auch tun. Wenn sie nicht will, dass du dich einmischst, tust du es auch nicht. Und wenn sie will, dass du dich einmischst, wirst du auch die Kraft haben, dich ganz auf das einzulassen, was anliegt. Bei 99 Prozent ihrer Aktivitäten gehen die Menschen von der Getrenntheit aus, nicht von der Einheit, ob sie ihr Tun nun für gut oder für schlecht halten. Wenn du vom Getrenntsein ausgehst, übermittelst du auch nichts anderes. Wenn du aus der Einheit kommst, kannst du dich trotzdem noch von den gleichen Dingen gerufen und angezogen fühlen wie im Getrenntsein. Dein Handeln ist unter Umständen beide Male sehr ähnlich. Du schreibst vielleicht immer noch an Politiker oder fliegst überallhin, nur ist es völlig anders, wenn es im Einssein geschieht. Und wenn es so ist, weißt du es, weil du das Empfinden hast: »Ich weiß nicht einmal, warum ich das
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jetzt tue.« Das heißt, du wirst nicht mehr durch irgendeinen Konflikt motiviert. Darum kannst du auch keinen Grund nennen, denn alles ist einfach okay. Und doch bewegt sich von da aus etwas. Der Verstand kann nicht ergründen, warum sich etwas bewegt, obwohl alles okay ist. Dann weißt du, dass du in der Einheit bist. Du gehst von dem Gefühl aus, dass die Welt in Ordnung ist. Die Welt braucht weder dich noch deine Botschaft noch irgendetwas, das du tust, du bewegst dich einfach nur oder wirst dazu bewegt, zu tun, was du tust. Rätselhafterweise geschieht diese Bewegung ohne Grund. Es ist einfach die Art und Weise, in der sich das Leben durch dich bewegt. Du kannst ein Mensch wie Gandhi sein und dich zu irgendeiner Handlungsweise berufen fühlen. Oder wie Ramana Maharshi sagen: »Es ist alles Gottes Wille, warum sollte man da eingreifen?« Der Geist will immer fragen: »Wer von denen hat eigentlich Recht?« Und normalerweise beurteilst du entsprechend deiner vorgefassten Meinungen, was gut und richtig für die Welt ist. Das ist jedoch ein Trugschluss. Der Verstand weiß nichts. Ob das Leben eine Eiche ist oder ein Weiher, ein Fels, ein See oder ein Auto, ob es sehr aktiv oder sehr passiv verläuft, alles entspringt derselben Quelle. Spürst du das? Schüler: Ich spüre es. Es ist, als sei im Innern eine Kraft wirksam. Und als du gesagt hast: »Es ist alles okay«, hatte ich wirklich das Gefühl, dass alles okay ist, ob sich nun etwas bewegt oder nicht, weil Friede und Akzeptanz da sind.
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Adyashanti: Dann schreitet das Leben so voran, wie es will, statt dem Diktat eines Ichs und dessen Plänen zu folgen. Das ist etwas völlig anderes. Wenn du die Veränderung betrachtest, die daraus folgen kann, siehst du, dass eine einzige Person Tausende und Abertausende inspirieren kann. Gandhi, ein Mensch mit einer Vision, warf die mächtigste Nation der Welt aus Indien hinaus, indem er sie davon überzeugte, dass es Zeit war, zu gehen. Mit Gewalt wäre das nicht möglich gewesen, dann wären die Briten noch immer dort. Aber die Einsicht in die Wahrheit hat eine so große Kraft. Aus der Wahrheit entspringendes Tun hat ein solches Potenzial. Jedes andere Motiv als Bewegungs- oder Handlungsauslöser ist gewalttätig. Ich halte es für eine wunderbare spirituelle Übung, den Fernseher einzuschalten und dir jemanden anzuhören, den du abgrundtief hasst und der dich total auf die Palme bringt. Wenn du da Gott siehst, bist du auf dem besten Weg. Wenn du hingegen den Fernseher beim Anblick dieser Person jedesmal abschalten musst, weil du sonst in Weißglut gerätst, hast du's noch weit bis zum Erwachen.
19 Erleuchtung Im Lauf der Jahre, in denen ich Vorträge gehalten und viele Gespräche über Erwachen, Erleuchtung und Befreiung geführt habe, ist mir aufgegangen, dass die meisten Menschen, die Erleuchtung oder Befreiung suchen, keine Ahnung haben, was das ist. Es ist schon komisch, dass Leute, die einen Großteil ihrer Energie an diese Suche wenden, die bisweilen sogar ihr Leben dafür opfern, indem sie sich in Klöster einschließen oder zum Satsang kommen, wann immer ein neuer Lehrer in ihrem Ort auftaucht, und die alles überschüssige Geld, das sie besitzen, für Bücher, Wochenendseminare und abendliche Zusammenkünfte ausgeben, auf denen sie sich intensiv mit spirituellen Fragen beschäftigen, dass diese Leute im Grunde keine Vorstellung davon haben, was sie eigentlich suchen. Dies festzustellen, nachdem ich begonnen hatte, die Leute zu fragen, was Erleuchtung ihrer Meinung nach ist, war gewissermaßen ein Schock für mich. Die ganz Ehrlichen pflegten sich im Allgemeinen am Kopf zu kratzen, bis ihnen plötzlich dämmerte: »Ich weiß es nicht genau. Ich bin nicht ganz sicher.« Und diejenigen, die nicht so viel Ehrlichkeit aufzubringen vermochten, sagten meist etwas
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von der Art wie: »Na ja, die Vereinigung mit dem Göttlichen.« Wieder andere hatten ganz eigene Vorstellungen davon - man könnte vielleicht Hirngespinste sagen. »Wenn die Erleuchtung kommt, dann ...« Man setze das Passende ein. Normalerweise ist die Erwartung die, dass die Erleuchtung so etwas wie ein unaufhörlicher Orgasmus ist. Im Zen heißt es: »Wenn du lange genug mit dem Gesicht zur Wand sitzt und den Mund hältst, wird etwas passieren.« So haben es viele Menschen gehalten und schließlich eine sehr schöne Erfahrung gemacht - unter Umständen sind sie in einen höchst angenehmen Zustand geraten, der ein paar Minuten oder Stunden andauerte, wenn sie Glück hatten, sogar das ganze Retreat über. Vielleicht hat er sich aber auch nur für einige Sekunden während der Meditation eingestellt, bis sich der Gedanke durchsetzte: »Wenn ich diese Erfahrung einfach unendlich lange ausdehne, müsste das doch die Freiheit sein.« Meine Erleuchtungserfahrung bestand jedoch einfach in der Sprengung all meiner Vorstellungen davon, wie es sein müsste. Und ich kenne keinen Menschen, der wahrhaft und authentisch zur Wahrheit erwacht ist und etwas anderes darüber sagt. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der hinterher gesagt hätte: »Adya, es ist ziemlich genau so, wie ich es erwartet hatte.« Vielmehr sagen die meisten: »Es ist völlig anders gewesen, als ich gedacht hatte. Und es gleicht in nichts den spirituellen Erfahrungen, die ich bisher in meinem Leben schon gemacht habe, einschließlich von Erfahrungen der Glückseligkeit, Liebe, Einheit mit dem Göttlichen oder des kosmischen Bewusstseins.«
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Wieder gilt das Zen-Wort: »Wenn du lange genug mit dem Gesicht zur Wand sitzt und den Mund hältst, wirst du all diese Erfahrungen machen.« Und nun rate mal, was mit diesen Erfahrungen geschieht. Sie vergehen. Nur tun die meisten Leute so, als wüssten sie das nicht, obwohl sie es wissen. Die meisten Menschen, die schon eine Reihe von spirituellen Erfahrungen gemacht haben, wissen, dass nicht eine davon angedauert hat, denn wenn sie das getan hätte, würden sie nicht auf die nächste Erfahrung warten. Die meisten Leute, die schon lange genug im Spiritualitätsrennen sind, wissen, dass keine ihrer Erfahrungen von Dauer war. Niemand will das wahrhaben. Die Schüler können Hunderte und Tausende von Malen hören, dass die Erleuchtung keine Erfahrung ist, und beklagen sich trotzdem im Satsang bei mir: »Adya, das, was ich gewinne, wenn ich zum Satsang komme, verliere ich wieder, wenn ich gehe.« Und ich sage dann immer: »Natürlich. Egal, welche Erfahrung du machst, sie geht vorbei. Das ist das Wesen einer Erfahrung.« Es klingt zwar gut, wenn man sagt, dass Freiheit das ist, was nicht kommt und nicht geht, aber das Einzige, was der Verstand damit anfangen kann, ist, sich eine bleibende Erfahrung vorzustellen, die keinen Anfang und kein Ende hat. Und dann denkt er: »Ich habe einfach nicht die richtige bleibende Erfahrung ohne Anfang und Ende gemacht. Irgendwas mache ich falsch.« Aus irgendeinem Grund - und das rechne ich mir keineswegs als Verdienst an - hatte ich, während ich 15 Jahre Zen übte und mit dem Gesicht zur Wand saß, eine ganze
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Reihe von spirituellen Erlebnissen. Dazu gehörten die umwerfendsten Kundalini-Erfahrungen und Erlebnisse mystischer Vereinigung, Zustände reiner Glückseligkeit und das Überflutetwerden von göttlicher Liebe und göttlichem Licht. Wie die meisten Leute, die mit dem Gesicht zur Wand sitzen, fand ich, dass diese Erlebnisse bei weitem nicht so häufig eintraten und nicht annähernd so lange anhielten, wie ich es mir gewünscht hätte. An bestimmten Punkten meines spirituellen Weges dachte ich oft: »Jetzt hab ich's! Diese Erfahrung ist so überwältigend schön, das muss es sein!« Mein Bewusstsein weitete sich unendlich, und ich wurde mit mehr Einsichten beschenkt, als ich zu fassen vermochte. Wenn du auf solche Erfahrungen aus bist, kann ich dir genau sagen, wie du sie erlangst - sitz einfach endlose Stunden mit dem Gesicht zur Wand. Dabei empfing ich allerdings etwas, das ich später als unglaublichen Segen erkannte, nämlich dass ich inmitten solcher höchst erstaunlichen, wunderbaren Erfahrungen, die sich für meine Begriffe viel zu selten einstellten, jedes Mal eine beunruhigende leise Stimme hörte, die mir sagte: »Mach weiter! Das war's noch nicht!« Doch daneben machte sich der Gedanke breit: »Das ist es, denn Geist und Körper sagen mir, dass es das ist. Alles spricht dafür. Es ist so unglaublich schön, dass es das sein muss.« Aber gleich meldete sich wieder die leise Stimme und sagte: »Hör bloß nicht hier auf, das ist es noch nicht.« Wenn ich hätte wählen können, hätte ich wahrscheinlich die leise Stimme gepackt und aus dem Fenster geworfen, denn ich bemerkte, dass auch andere so tiefe Erfahrungen machten, die sie aber im Gegensatz zu mir ein
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paar Tage, Wochen und manchmal sogar Monate genießen konnten, sodass sie felsenfest davon überzeugt waren, am Ziel zu sein. Ich hingegen vermochte kaum länger als zehn Minuten in einer solchen Erfahrung zu schwelgen. Das heißt nicht, dass sie gleich wieder vergangen wäre. Es heißt nur, dass ich, während ich diese Erfahrung machte, ohne den Schatten eines Zweifels wusste, dass dies nicht das Letzte, Höchste war, wie immer es auch beschaffen sein mochte. Und ich wiederhole, dass dies ein unglaublicher Segen für mich war, denn dadurch wurde ich immer wieder von da fortgetrieben, wo ich mich gern häuslich eingerichtet hätte. Wenn du an irgendeiner Erfahrung festhältst, wirst du leiden, sobald sie vergangen ist. Merkwürdigerweise treibt uns dieser Schmerz nicht zum Weitergehen an, sondern bewegt uns dazu, uns um 180 Grad zurückzuwenden, um die verlorene Erfahrung wiederzufinden. Unser Leiden ist also oftmals reine Zeitverschwendung, weil wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass eine Erfahrung, die kommt und geht, nicht die Erleuchtung sein kann, und doch versuchen, die Erfahrung zu erhalten oder unaufhörlich zu wiederholen. Wenn wir großes Glück haben, wissen wir entweder sofort, dass eine bestimmte Erfahrung nicht die wahre ist, oder wir machen wenigstens keine 180-Grad-Kehrtwende, sobald sie verblasst. Vielmehr ist uns dann klar, dass die Erfahrung, wie immer sie auch gewesen sein mag, nicht die Erleuchtung war. Denn eine solche Erfahrung ist etwas, das mir widerfährt, und alle Erfahrungen, die einem Ich widerfahren, sind an Zeit gebunden, was schlicht be-
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deutet, dass sie kommen und gehen. Für mich war das ein Segen, weil ich bei jeder Erfahrung, die sich auf meinem Weg einstellte, erkannte, dass es sich nicht um die Erleuchtung handelte, die ich suchte. Das hat mir die Reise über alle Maßen verkürzt. Wenn wir von der Suche nach Erleuchtung - dem am häufigsten missbrauchten Begriff aus dem spirituellen Wortschatz - sprechen, suchen wir im Grunde eine Antwort auf die Frage: »Was ist die Wahrheit?« Aber diese Frage zeigt in eine völlig andere Richtung als die Frage: »Wie kann ich diese Erfahrung machen?« und: »Wie kann ich sie möglichst lange erhalten?« Die Frage: »Was ist die Wahrheit?« ist wie ein Sprengkommando. Im Allgemeinen ist mit Spiritualität ein Aufbauen verbunden. Es geht immer weiter aufwärts - Ideen steigen auf, Kundalini-Energie steigt auf, Bewusstsein steigt auf. Das alles baut sich ständig auf, und wer das erlebt, hat das Gefühl: »Ich werde immer besser.« Aber die Erleuchtung ist ein Sprengkommando. Sie zeigt dir einfach nur, dass alles, was du je für wahr gehalten hast, es nicht ist. Alles, was du zu sein meinst, welches Selbstbild du auch haben magst - ob ein gutes, schlechtes oder neutrales -, entspricht nicht der Wahrheit. Was immer deiner Meinung nach die anderen sind - ob gut, schlecht oder weder das eine noch das andere -, es ist nicht wahr. Wie immer du dir Gott denkst, es ist falsch. Du kannst nichts Wahres über Gott denken, darum verraten dir all deine Gedanken über Gott nur genau und präzise, was Gott nicht ist. Welche Auffassung du auch von der Welt haben magst, sie verrät dir nur genau und präzise,
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was die Welt nicht ist. Auch das, was du über die Erleuchtung denkst, verrät dir bloß genau und präzise, was sie nicht ist. Merkst du allmählich, worum es geht? Es handelt sich um ein Abbruchunternehmen. Was wird abgebrochen? Alles. Und wenn nicht alles abgebrochen wird, ist es auch keine Befreiung. Wenn nur eine einzige Sache, ein einziger Standpunkt nicht abgebrochen wurde, ist es noch nicht die Befreiung. Im Leben der meisten Menschen dreht sich alles darum, die Wahrheit zu vermeiden. Die Wahrheit, um die wir uns drücken, ist die Wahrheit der Leere. Wir wollen nicht wahrhaben, dass wir nichts sind. Wir wollen nicht wahrhaben, das das, was wir glauben, falsch ist. Wir wollen nicht wahrhaben, dass das, was alle anderen glauben, falsch ist. Wir wollen nicht wahrhaben, dass unser Standpunkt falsch ist und dass es überhaupt keinen richtigen Standpunkt gibt. Wir wollen nicht wahrhaben, dass alles, was wir über Gott denken, das ist, was Gott nicht ist. Wir wollen nicht wahrhaben, was Buddha meinte, als er sagte, es gäbe kein Selbst. Wir führen lieber schnell etwas Positives an. Statt einzusehen, dass es kein Selbst gibt und dass alles, was der Geist für wahr hält, letztlich leer ist, denken wir uns schnell etwas Positives aus, zum Beispiel: »Ich bin Bewusstsein« oder: »Alles ist Glückseligkeit« oder: »Gott ist Liebe«. Wir wollen nicht wahrhaben, dass im Mittelpunkt unseres Daseins gähnende Leere herrscht. Immer, wenn im Lauf der Jahrhunderte von spirituellen Dingen auf eine Weise gesprochen wurde, die der Wahr-
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heit so nahe kam, wie Worte ihr nur kommen können, hat man das Erkannte so schnell wie möglich wieder verdrängt. Selbst im Zen - eine der reineren Formen der Suche nach der Erleuchtungserfahrung Buddhas, soweit ich es beurteilen kann - drückt man sich oft um den Kern der Lehre, dass es kein Selbst gibt, herum. Darum findest du selbst in buddhistischen Zeitschriften, die du aufschlägst, den zentralen Satz der Lehre nicht. Nichts dergleichen. Stattdessen belehren dich die meisten spirituellen Schriften darüber, wie du mitfühlender und liebevoller wirst, wie du besser meditieren, den Atem zählen, dein Mantra aufsagen oder deine Gottheit visualisieren kannst usw. Selbst im Buddhismus wird der Kern der Lehre oft versteckt, obwohl es ziemlich schwierig ist, die zentrale These seines Begründers, dass es kein Selbst gibt, zu verstecken. Aber auch sonst spricht man kaum darüber, und wenn doch, dann irgendwie verschleiert. Die wahre Lehre von der Erleuchtung ist wie ein scharfes Schwert, das durch alles hindurchschneidet, wohin du dich auch wendest. Es trennt dir die Beine ab, und gleich fällst du um und schlägst dir die Nase blutig. Vor langer Zeit schon wurde gesagt, dass es die Wahrheit ist, die uns frei macht, und das Mitfühlendste, was wir für uns oder jemand anderen tun können, ist, die Wahrheit zu sagen. Hingegen ist es keineswegs befreiend, einander oder uns selbst nur das zu erzählen, was wir hören wollen. Das ist nicht mitfühlend, sondern versteckte Grausamkeit, denn es macht uns zu Sklaven einer endlosen Suche nach etwas, das gar nicht existiert. Die Wahrheit könnte dafür sorgen, dass unser Verstand sich ziemlich hilflos
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fühlt, aber genau darum geht es ja! Nämlich um Hingabe. Hingabe heißt nicht: »Ich widme mich ganz dem Göttlichen, indem ich alles aufgebe, indem ich mein Leben, mein Herz, einfach alles hingebe. Ich gebe alles auf, damit ich die höchsten spirituellen Weihen erlange.« Viele von denen, die sich auf ihrer Pilgerschaft im Himalaja 100 000mal niederwerfen, tun das nur, weil sie denken, dadurch die letzten Weihen zu erlangen. Hast du je darüber nachgedacht? Wenn wir nicht glauben würden, dass es uns die letzten Weihen einträgt, würden wir es doch nicht tun, zum Kuckuck! 100 000 Niederwerfungen sind eine verdammte Quälerei. Hingabe ist ebenfalls Niederwerfung, innerlich oder äußerlich, aber ohne daran geknüpfte Erwartungen. Alles andere ist ein Spiel, hinter dem das Ego steckt. »Ich werde mal so tun, als sei ich spirituell, denn das bringt mir garantiert etwas ein.« Der wahrhaft Spirituelle sagt: »Ich will nur die Wahrheit. Ich bin bereit, alles aufzugeben, was nicht der Wahrheit entspricht. Es spielt keine Rolle, ob ich es gerne aufgebe oder nicht. Es spielt auch keine Rolle, ob es mein Dasein bis in die Grundfesten erschüttert oder nicht. Und ich betrachte die Wahrheit auch nicht als eine Errungenschaft, die ich mir aneignen und an der ich festhalten kann. Ich will die Wahrheit, die ihrem Wesen nach das ist, was nicht erworben werden kann.« Es muss zu einem absoluten Freiwerden, einem absoluten Loslassen kommen, ohne dass im Gegenzug etwas dafür erlangt wird. Das absolute Loslassen ist ein Freiwerden von dem, der loslässt. Für das Ich hat die Erleuchtung nichts zu bieten.
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Man könnte auch sagen, Erleuchtung ist die Erkenntnis, dass kein getrenntes Selbst da ist. Wir mögen 100 000mal hören, dass es kein getrenntes Selbst gibt. Aber was geschieht eigentlich, wenn wir ernsthaft in unserem Innern nachforschen, was das bedeutet? Wir würden herausfinden, dass alles, was wir als getrenntes Selbst für wahr halten, gar nicht wahr ist. Kein getrenntes Selbst zu sein hat etwas total Befreiendes. »Kein getrenntes Selbst« heißt nicht, dass es eine spirituelle Existenz à la »Ich bin unendlich weit geworden und mit allem verschmolzen« gibt. Das ist eine wunderbare und schöne Erfahrung für ein getrenntes Selbst, aber kein Einssein. Das Eine verschmilzt nicht. Zum Verschmelzen sind immer zwei nötig, und da nur das Eine da ist, verschmilzt bei einem solchen Erlebnis nur eine Illusion mit einer anderen, so schön und wunderbar diese Erfahrung auch sein mag. Selbst wenn ich die Erfahrung mache, mit dem Absoluten, mit dem Unendlichen, mit Gott verschmolzen zu sein, bedeutet das nur, das mein fiktives Selbst mit einer anderen Fiktion verschmolzen ist. Mystische Erlebnisse sind keine Erleuchtung. Im Einen gibt es kein Anderes. Einssein heißt - da ist nur dieses. Jenes da drüben ist nicht da, nur dieses hier. Und sonst nichts. Es ist nur dieses hier da, und sobald du beschreibst, was dieses ist, hast du nur definiert, was es nicht ist. Dieses wird nur im totalen Niederreißen all dessen erkannt, was nicht ist. Ein solches Erwachen ist ein Erwachen jenseits von allem, was kommt und geht. Es ist ein totales Erwachen außerhalb der Zeit. Es ist ein Erwachen wie ein Aufwachen aus einem
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nächtlichen Traum - ein Bild, das aus diesem Grund über die Jahrhunderte immer wieder gebraucht wurde. Der Traum erscheint so wirklich wie dieser Augenblick. Wenn du im Traum dein Leben bedroht glaubst, wirst du ebenso in Panik geraten, wie du bei dem Gedanken in Panik gerätst, dass dein Leben gerade jetzt in Gefahr ist. Aber wenn du am Morgen aufwachst, denkst du: »Du meine Güte, es war ja gar nicht wirklich.« Es war so wirklich, wie Träume wirklich sind. Es existierte, wie Träume existieren, aber es besitzt nicht die Wirklichkeit, die wir ihm während des Träumens zusprachen. Die Menschen wissen gar nicht, wie lehrreich es ist, mitten in der Nacht aus einem Traum aufzuwachen. Wir wachen buchstäblich aus einer Dimension auf, die wir für ebenso wahr gehalten haben wie diese hier. Es ist eine umwälzende Bewusstseinsveränderung. Alles, was wir im Traum für wahr gehalten haben, stellt sich als irrelevant heraus. Bei einem wirklichen, authentischen spirituellen Erwachen ist die Wirkung genau die gleiche. Ich sage nicht, dass diese Welt ein Traum oder kein Traum ist - es führt zu nichts, diese Welt zu definieren. Ich sage nur, dass die Erfahrung des Erwachens genauso ist. Es ist ein Erlebnis wie: »Mein Gott, ich habe mich immer für einen Menschen namens Soundso gehalten und bin es gar nicht. Und es ist nicht etwa so, dass ich etwas Besseres, Größeres, Umfassenderes, Heiligeres oder Göttlicheres wäre. Ich bin einfach nichts. Punkt.« Das bedeutet aber nicht, dass kein Körper da wäre. Ganz offensichtlich ist ein Körper da. Es bedeutet auch
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nicht, dass kein Verstand da wäre. Ganz offensichtlich ist der Verstand da. Und ebenso wenig bedeutet es, dass keine Persönlichkeit da wäre. Ganz offensichtlich ist eine Persönlichkeit da. Es ist auch ein Selbstgefühl da. Ob du erleuchtet bist oder nicht, du hast ein Selbstgefühl. Sonst könnte das Bewusstsein nicht in einem Körper wirken. Sonst würde dich jemand beim Namen rufen, und du würdest nicht reagieren. Soweit ich weiß, haben die Weisen aller Zeiten stets irgendwie reagieren können. Ramana Maharshi hat es genau andersherum gesagt. Er sagte: »Es gibt nur das Selbst«, was das Gleiche ist wie: »Es gibt kein Selbst«, nur umgedreht. Es ist ein und dasselbe. Was ist da, wenn es kein Selbst gibt? Wie nennen wir das? Ramana entschied sich dafür, es das Selbst zu nennen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Selbst das, was da ist, wenn kein Selbst da ist. Ich garantiere dir, dass du auch nach der Erleuchtung noch ein Selbstgefühl hast. Dein Körper könnte ohne Selbstgefühl nicht funktionieren. Es ist also ein Märchen, dass du, wenn du Erleuchtung erlangst, irgendwie dein Selbstgefühl verlierst. Beim Meditieren geschieht es bisweilen, dass vorübergehend kein Selbstgefühl mehr da ist, sodass du dich nicht umdrehst, wenn dich jemand beim Namen ruft. Ich habe erlebt, dass sich Leute in der Meditation nicht einmal mehr von ihrem Sitz erheben konnten. Das wird in Indien Nirvikalpa Samadhi genannt. Ein schönes Erlebnis. Mitunter führt es zu einer gewissen Einsicht. Oder auch nicht. Du kannst das erleben, was als zeitweiliges Aufhören der Selbsterfahrung bezeichnet wird, aber ich garantiere dir, dass es vorübergeht,
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denn dein Körper kann ohne Selbstgefühl nicht funktionieren. Wenn du wirklich ins Nichtselbst fällst, dann außerhalb der Zeit, das heißt, weder für eine kurze noch für eine längere Zeitspanne. Es ist eine zeitlose Erkenntnis, und wenn es anders ist, bist du noch nicht zur Erkenntnis gekommen. Dann hast du bestenfalls eine Erfahrung von der Art »Ich habe vorübergehend mein Selbstgefühl verloren« gemacht, und das ist etwas ganz anderes, als was »Nicht-selbst« bedeutet. Nichtselbst bedeutet, ob mit oder ohne Selbstgefühl, dass du direkt und total erkennst, dass es kein Selbst gibt, und das bedeutet auch, dass es keinen anderen gibt. Es gibt nur ein Einziges. Ob du dieses Einzige Gott, das Göttliche, Bewusstsein, Buddhanatur, Leere, Fülle, die Linke oder die Rechte nennst, spielt keine Rolle. Aber wenn es nur ein Einziges gibt, gibt es wirklich nur ein Einziges. Es gibt nur die Leere und deren unendliche Selbstentfaltung. Freiheit ist das totale Abbruchkommando, denn sie nimmt dir alles. Das ist das Befreiende daran. Sie nimmt dir den Streit, in dem du mit dir selbst liegst, denn da ist niemand. Sie nimmt dir den Streit, in dem du mit anderen liegst, denn es sind keine anderen da. Sie nimmt dir den Streit, in dem du mit der Welt liegst, denn es ist nur das Eine da. Es gibt nur eins, und das liegt nie mit sich selbst im Streit. Nie und nimmer. Darum ist es so befreiend, denn du wirst von dieser immerwährenden Zweiheit befreit. Wenn wir zu unserem wahren Wesen erwachen, schaut unser Geist nicht länger auf die Leere, weil getrennt davon niemand da ist, der sie anschauen könnte. Wir erkennen,
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dass das Einzige, was je die Leere anschaut, die Leere selbst ist. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum ich nicht der Erste bin, der sagt, dass es keine erleuchteten Menschen gibt, sondern nur Erleuchtung. Erleuchtung erwacht. Nicht du oder ich. Du und ich werden bedeutungslos und nichtexistent. Erleuchtung erwacht. Darum heißt es, dass jeder von Natur aus schon erleuchtet ist. Nur ist diese Feststellung irreführend, da sie impliziert, dass jeder ein einzelner, spezieller, einzigartiger Jemand ist, der von Natur aus erleuchtet ist, und das ist natürlich Unsinn. Eine Illusion kann nicht erleuchtet sein. Es stimmt also gar nicht, dass jeder erleuchtet ist. In Wahrheit ist die Erleuchtung erleuchtet. Der andere Punkt ist der, dass die Erleuchtung dir alles nimmt. Daran kannst du sie erkennen - der Körper, in dem sie sich vollzogen hat, hat einfach alles verloren, und er weiß das, aber es ist ihm völlig egal. Er ist überglücklich, endlich alles los zu sein, keine Standpunkte mehr zu haben und das nicht mehr zu glauben, was der Verstand sagt obwohl der Verstand weiterhin bestimmte Meinungen haben wird, denn es sind ja noch immer Körper, Geist und Persönlichkeit mit eigenen Vorstellungen da, nur werden sie jetzt als bedeutungslos erkannt. Dann weißt du, dass etwas Wahres geschehen ist. Ich habe absichtlich die vielen positiven Aspekte der Erleuchtung unerwähnt gelassen, aber etwas muss ich doch ansprechen: Es ist absolut unmöglich, die Wahrheit zu erkennen und nicht bis zum Lebensende vor sich hin zu kichern. Es ist absolut unmöglich, diese Welt nicht bis zum Ende zu lieben, selbst wenn du weißt, dass sie auch
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nicht halb so real ist, wie du gedacht hattest. Es ist absolut unmöglich, deine Mitmenschen nicht hundertmal mehr zu lieben, obwohl du weißt, dass sie nicht das sind, was du gedacht hattest. Aber darüber will ich lieber nicht viel sagen, denn sonst könnte der Verstand leicht denken, er bekäme ein Zuckerbrot, dabei kriegt er ein Schwert.
20 Die Folgen Nachdem du aus dem Traum des Getrenntseins aufgewacht bist und erkennst, dass du selbst der Ursprung bist, musst du herausfinden, wie du die Konsequenzen aus dieser Offenbarung auf dein Leben übertragen kannst. Wenn du wirklich zu der Erkenntnis gekommen bist, dass es niemanden außer dir selbst gibt, stockt dir der Atem. Alles ist eins, und das Eine bist du. Als ich zu lehren begann, dachte ich, man brauchte nur die Erfahrung des Erwachens zu machen, und alles andere würde von alleine kommen. Inzwischen weiß ich, dass die Sache komplizierter ist. Wie ich festgestellt habe, machen zwar viele Menschen die grundlegende Erfahrung, zu dem zu erwachen, wer und was sie sind, zum Absoluten, aber sie sind danach nur selten frei. Natürlich fragte ich mich, wieso. Zur wirklich lebendigen Erfahrung zu erwachen, dass man nicht Körper, Geist und Persönlichkeit ist, sollte befreiend wirken und macht anfänglich auch leicht und frei, nur lassen sich die meisten Menschen so von den emotionalen Nebenerscheinungen des Erwachens forttragen, dass sie die wahre Bedeutung dessen, was geschehen ist, verkennen. Zu den Dingen, die übersehen werden, gehört unter
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anderem die Offenbarung des vollkommenen Einsseins, die Einsicht, selbst der letzte Ursprung zu sein. Du kannst durchaus die Erfahrung machen, frei zu sein, weil du dich nicht mehr mit Geist, Körper und Persönlichkeit identifizierst, aber nur selten folgt darauf über ein vages Gefühl des Einsseins hinaus die wirklich klare Erkenntnis der vollkommenen Einheit, wie sie unbedingt zum Erwachen gehört. Es ist so wie in einem nächtlichen Traum, in dem du dich mit irgendeiner Figur identifizierst und denkst, von allen anderen getrennt zu sein. Wenn du am Morgen aus dem Traum erwachst, wird dir klar, dass du gar nicht die geträumte Figur bist. Du bist der Träumer. Alles in deinem Traum stammt von dir. Ebenso ist es mit dem spirituellen Erwachen, denn wenn du spirituell erwachst, wird dir bewusst, dass du nicht der Körper-Geist bist. Wahrscheinlich entgeht dir jedoch, dass du die eigentliche Quelle des ganzen Traums bist. Ich glaube, das ist ziemlich leicht zu verstehen. Einerseits ist dir klar, dass du niemand bist, und andererseits erkennst du, dass du der Ursprung von allem bist. Warum ist es so wichtig, dies einzusehen? Wegen der natürlichen Folgen des Erwachens und des vollen Wertes einer wahren spirituellen Offenbarung. Du selbst bist der höchste Ursprung, alles ist vollkommene Einheit, und alles da draußen ist tatsächlich gleichermaßen du. Es folgt also ganz natürlich aus der Erkenntnis der Einheit, dass so etwas wie das »Andere« nicht existiert. Da ist niemand sonst, weil letztlich alles das eigene Selbst ist. Ich kenne Leute, die zu dieser Einsicht gekommen sind
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und doch gleich danach wieder zu leben begonnen haben, als gäbe es jemand anderen. Sie leben ihr Leben, als gäbe es ein persönliches Ich und ein persönliches Du, obwohl sie flüchtig die Erfahrung gemacht haben, dass das nicht stimmt. Durch Erfahrung erlangtes Verständnis reicht demnach in vielen Fällen nicht aus. Aber kannst du dir vorstellen, wie sich dein Leben verändern würde, wenn du zu der Erkenntnis kämst, dass niemand anders da ist, und dass dich die Neugier packen würde, den Folgen dieser Erkenntnis auf den Grund zu gehen? Was wäre, wenn du fragtest: »Was bedeutet dies für mich und mein weiteres Leben?« Die meisten Menschen bauen ihr ganzes Leben auf die Vorstellung auf, dass es sie selbst und andere gibt, ein persönliches Ich und ein persönliches Du. Aber nach der Offenbarung, dass niemand anders da ist, gibt es so etwas wie eine persönliche Beziehung plötzlich nicht mehr. Wie lebt man damit? Was bedeutet es letztlich, wirklich zu wissen, dass es niemand anderen gibt, und entsprechend zu leben, obwohl man in der Welt der Erscheinungen als »Selbst« mit »anderen« in Beziehung tritt? Die meisten Menschen, die nur an einer persönlichen Erleuchtung interessiert sind, würden sagen: »Solange ich frei bin, kann niemand Anforderungen an mich stellen.« oder: »Ich will andere lehren, wie sie Erleuchtung erlangen.« Es ist nichts an der persönlichen Freiheit auszusetzen. Aber wenn du nun tiefer nachforschst? Wie kannst du frei sein, wenn kein persönliches Ich da ist? Wer ist denn noch da und erlangt die Erleuchtung? Eine meiner schmerzlichsten Erfahrungen habe ich ma-
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chen müssen, als ich im Satsang über Beziehungen sprach und mir dann angehört habe, wie einer nach dem anderen Fragen stellte, deren Grundaussage immer war: »Ich bekomme in meiner Beziehung nicht das, was ich mir wünsche« oder: »Ich wüsste gern, wie ich eine bessere Beziehung erreichen könnte.« Einige Schüler fragten, wie ich Beziehung erfahre. Dazu sagte meine Frau Annie: »Wir erwarten nichts voneinander, und wir benutzen unsere Beziehung auch nicht dazu, miteinander klarzukommen, denn dazu ist eine Beziehung nicht da.« Keiner hörte darauf, und es wurden weiter die gleichen Fragen gestellt. Schau dir an, welche Folgen es hat, wenn dir bewusst wird, dass nichts außer dir da ist. Wenn du erwachst, wachst du aus diesem »du und ich« auf. Sobald dir klar wird, was das heißt, stockt dir wirklich der Atem. Wenn nichts und niemand anderes da ist, gibt es auch keine persönliche Beziehung. Das ganze Problem mit Beziehungen kommt daher, dass eine oder beide Seiten nicht ernst nehmen, dass kein anderer da ist. Da ist niemand, von dem man etwas bekommen könnte, niemand, der sich verändern müsste, niemand, der ein Bedürfnis haben oder befriedigen könnte - alles das ist ein Traum. Vor solchen Wahrheiten stehst du, wenn du nicht bloß auf eine spirituelle Erfahrung aus bist, sondern auch wirklich verstehen möchtest, was diese Erfahrung bedeutet. Die Erfahrung des Erwachens ist wie eine persönliche Erfahrung des Urknalls, mit dem alles anfing. Alles begann mit nichts, sagen die Physiker, aber dann gab es diesen kleinen Impuls, und daraus wurde das ganze Universum. Zu Anfang hast du diesen Impuls vielleicht wahrgenom-
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men, aber nicht erkannt, um was es sich eigentlich handelt, und falls du dich dann davon abgewandt hast, ist dir das Wesentliche entgangen. Doch wenn du diesem Impuls, der spirituelles Erwachen genannt wird, auf den Grund gehst, eröffnet er genau so viele Möglichkeiten wie der Urknall und mehr. Ich werde oft gefragt: »Wie kann ich meine Spiritualität ins Alltagsleben integrieren?« Du brauchst es nicht. Du kannst es gar nicht. Wie könntest du sie integrieren? Du kannst die Unendlichkeit nicht in dein endliches Leben zwängen. Überlass dein Leben lieber dem göttlichen Impuls. Es gibt keine Integration. Es gibt nur Erkenntnis, und diese Erkenntnis ist immer ein perfekter Zerstörer. Sie zerstört jedes Gefühl von Getrenntheit, sie zerstört das, was nicht wahr ist. Gib dein Leben der Wahrheit hin, aber unterlass jeden Versuch, die Wahrheit in dein Leben zu zwängen. Selbst wenn du sehr ernsthaft bist und dir vornimmst, deine Erkenntnis zu vertiefen und ihr auf den Grund zu gehen, wird es weiterhin dich selbst und andere geben. Wenn du deine Erkenntnis nicht voll und ganz in deine Beziehung übernimmst, wird sie mehr oder weniger so weitergehen wie bisher. Das eine oder andere mag neu geordnet werden, aber im Wesentlichen bleibt die Beziehung auf das gegründet, was ihr einander gebt und wie ihr miteinander klarkommt. Wenn du tiefer forschst, um zur tiefsten Erkenntnis zu gelangen, dass es keinen anderen gibt, gestaltet die Erkenntnis selbst den Traum der Erscheinungen neu. Das Gefühl für die Beziehung ändert sich, weil du wahrhaft erkennst, dass es keine persönliche
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Beziehung zwischen einem Du und einem Ich gibt. Die ganze Welt der Beziehungen ordnet sich spontan neu, ohne dass du einen Finger rührst, um die Kontrolle darüber zu behalten. Soll die Beziehung besser werden, musst du einfach noch wacher werden. Es verändert sich auf jeden Fall etwas, ob die Veränderungen so sind, wie du sie dir gewünscht hast, oder nicht. Werde ganz wach! Denn wenn du wirklich erwachst, sind die Dinge einfach so, wie sie sind. Du brauchst keinen Lehrer, der dir erklären müsste, welche Folgen es hat, dass es nichts und niemanden gibt du musst es selbst herausfinden.
* * * Schüler: Was heißt »wacher werden?« Adyashanti: Viele Lehrer haben den Vergleich mit dem nächtlichen Träumen angeführt. Du weißt doch, wie es ist, angenehm zu träumen, mittendrin halb wach zu werden und dann wieder einzuschlafen, weil der Traum weitergehen soll. Du drehst dich also um und schläfst wieder ein, und dann wachst du erneut auf und weißt, dass du geträumt hast, aber du bist noch ziemlich benommen und nicht ganz sicher, ob du überhaupt richtig wach werden willst. Später an dem Tag wird alles klarer, du bist viel wacher. Die meisten spirituellen Sucher sind sogar nach einem einschneidenden spirituellen Erwachen oft noch ziemlich schlaftrunken. Sie schwanken hin und her und sind sich nicht sicher, ob sie wirklich wach werden wollen, weil sie eine völlig andere
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Welt erleben. Sie wollen aus allem Unangenehmen erwachen, aber weiter von angenehmen Dingen träumen. Sie wollen lieber wieder in die persönliche Beziehung zurück und weiterschlafen, denn sie wissen, dass überraschende Veränderungen eintreten können, wenn sie wirklich aufwachen. Wenn du noch schlaftrunken bist, kommt es dir so vor, als müsstest du unendlich viel aufgeben, und deshalb kannst du dich nicht recht entschließen, ob du wirklich aufwachen sollst oder nicht. Doch sobald du vollständig erwacht bist, weißt du, dass alles nur ein Traum war, und willst nicht mehr dahin zurück. Wenn du wirklich frei sein willst, musst du dich darum bemühen, ganz aufzuwachen. Dann verlierst du jedes Interesse an der Unwahrheit und bist nur noch an der Wahrheit interessiert. Dann hat der Traumzustand der Getrenntheit in all seinen Erscheinungsformen keinen Reiz mehr für dich. Wer hat die Kontrolle über den Traum, wenn du nachts träumst? Du selbst bist der Träumer, der die Fäden zieht. Alle Traumgestalten sind davon überzeugt, dass sie das Geschehen bestimmen. Dabei ist es in Wirklichkeit der Träumer, der das Ganze inszeniert. Nur vergisst du das, wenn du träumst. Der transzendente Träumer ist derjenige, der den Traum von der Welt erzeugt. Wenn du mit der Welt klarkommen willst, ohne anzuecken, darfst du das nicht vergessen. Es ist ein Märchen, dass du die Transzendenz hinter dir lassen musst, um in die Welt zurückkehren zu können. Der Gedanke der Integration und die Vorstellung,
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nicht im Transzendenten verweilen zu können, ergeben nur so lange einen Sinn, bis du selber nachforschst und dich fragst, ob das überhaupt wahr ist. Wenn du deine eigenen Erfahrungen unter die Lupe nimmst und dich fragst, wie die spirituelle Erkenntnis eigentlich funktioniert, geht dir auf, dass vieles von dem, worüber wir reden, einfach lächerlich ist - als würde der Blinde den Blinden führen. Das, was du anschaust und Lehrer nennst, ist deine eigene Schöpfung, dein Traum, den du in ebendiesem Augenblick erschaffst. Sobald du zu Bewusstsein kommst, wird dir klar, dass du ihn selbst erzeugst und dass die Trennung zwischen der Person, die spricht, und der, die zuhört, eine Täuschung ist. Wenn du erwacht bist, hast du dies klar erkannt. Aber die Konditionierung kann dich in den Traum zurückziehen. Das spielt jedoch keine Rolle. Du musst einfach immer wieder den Traum infrage stellen. Manchmal lassen wir uns von einer ungewöhnlichen spirituellen Erfahrung in den Bann ziehen, und dabei entgeht uns etwas Tieferes, nämlich die Erkenntnis dessen, wodurch sie verursacht wurde. Wir müssen unbedingt fragen: »Warum hatte ich eine solche Erfahrung?« Hinterfrage sie. Wissbegier und Spürsinn sind wichtig. Du machst eine transzendente Erfahrung, weil du intuitiv die Wahrheit erfasst, die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind. Aus spiritueller Sicht ist die Frage: »Was bin ich?« die Frage, die direkt zum Kern der Sache vorstößt. Im Grunde bist du die höchste Intelligenz, aber du
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musst die nötige Ernsthaftigkeit aufbringen, selber die Wahrheit herauszufinden. Dazu musst du dich der Möglichkeit öffnen, dass alles, was du gelernt hast, falsch ist. Wie könntest du sonst herausfinden, was wirklich ist? Wenn du ganz offen bist, ist die Wahrheit das Einleuchtendste, was es gibt. Spirituelle Menschen meinen immer, die Wahrheit sei vor ihnen verborgen. Sie ist aber keineswegs verborgen. Nur schiebt sich deine Vorstellung davon, wie sie sein müsste, vor sie. Finde das, was tatsächlich ist. Es gibt nur das Eine, das sich in allem manifestiert. Meditiere und sinne darüber nach, bis es dir selber durch und durch bewusst geworden ist. Erwache zu dem, was du bist.
21 Die Dharma-Beziehung Eine der wertvollsten Lektionen, die ich während vieler Jahre des Sitzens in Zen-Meditation gelernt habe, war die, dass ich mich selbst finden musste, um so viel mit mir allein sein zu können. Still zu sitzen, nur mit einem Bild von sich selbst oder dem Göttlichen im Kopf, ist ein Elend, ein unablässiges inneres Geschwätz. Man kann einfach nicht gut sitzen mit einem Bild im Kopf, auch wenn es ein schönes Bild ist. Wenn wir als wahres Selbst sitzen, dann sitzen wir ohne Selbstbild, ohne eine Vorstellung oder Idee von uns selbst. Wir sitzen einfach als Leere da. Das ist die Grundlage jeder wahren Beziehung, denn wenn wir nicht mit dem in Verbindung sind, was wir wirklich sind, wird es uns mit Gewissheit auch nicht gelingen, mit irgendjemand anderem eine echte, tiefe Beziehung einzugehen. Wenn wir als strahlende Leere eine Beziehung eingehen, ist diese Beziehung wunderbar, weil wir sind, was wir sind. Im Grunde sind wir verliebt in ein Mysterium. Das Mysterium ist in sich selbst verliebt. Wenn dieses Mysterium mit etwas anderem in Beziehung tritt, ob es sich dabei um eine Blume, einen Vogel, den Wind, die Kälte oder einen Menschen handelt, dann tut es das als Ausdruck desselben Mysteriums. Es ist eine echte, heilige Be-
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ziehung, in der wir erkennen, dass wir wirklich mit der Manifestation des Mysteriums in Berührung sind, dass wir hier sind als dies, hier als das, hier als er, hier als sie, hier als Kälte, hier als Bitterkeit, hier als Süße, hier als Langeweile, hier als Kummer, hier als Seligkeit, hier als Verwirrung und hier als Klarheit. Alles ist eine Manifestation des Mysteriums. Das wahre Fundament der Dharma-Beziehung ist die Beziehung zu diesem Mysterium, zu unserem eigenen Selbst. Wenn wir meditieren, ohne Forderungen an den gegenwärtigen Augenblick zu stellen, ohne auf den nächsten Augenblick zu warten, ohne etwas erreichen zu wollen was immer dieses »Etwas« ist -, wenn wir nicht darauf warten, erleuchtet zu werden und Liebe, Frieden oder einen ruhigen Geist zu finden, und wenn wir aufhören, irgendetwas von uns selbst zu verlangen, dann eröffnet sich uns das Heilige, und das einfach nur, weil es nicht gefordert wird. Die echte, heilige Beziehung zu diesem Augenblick erblüht, wenn wir ihn nicht anders haben wollen, als er ist. Dann erblüht ihre Schönheit. Aber wenn wir auch nur die kleinste Kleinigkeit vom gegenwärtigen Augenblick verlangen, entgeht uns die Schönheit. Unsere Ansprüche an ihn entstellen das, was wir in uns selbst sehen und erfahren können. Der Verstand denkt, Erleuchtung zu erlangen und frei zu sein hieße, aller unangenehmen Erfahrungen ledig zu sein, aber das stimmt nicht. Das Göttliche würde sich nicht selbst verunglimpfen, indem es etwas verwirft. Das wäre so, als würdest du dir einen Arm abschneiden. Aber wenn du diese unangenehmen Gefühle oder Erfahrungen
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als göttliches Mysterium oder Mysterium deiner selbst erfahren kannst, werden sie total transformiert. Sieh die Ganzheit dessen, was tatsächlich da ist, die Qualität des Zeitlosen, wie es sich in allen Erfahrungen entfaltet. Dann weitet sich dein Sinn für das Heilige, Bewusste in dem, was du bist, über die einfach nur angenehmen Erfahrungen hinaus zum vollen Spektrum der Erfahrung. Du beginnst unmittelbar wahrzunehmen, dass jede Manifestation, was es auch sei, das Aufblühen des Göttlichen ist. Wenn Verwirrung herrscht, ist es Gott, der in Verwirrung gerät. Wenn Klarheit herrscht, ist es Gott, der klar ist. Als Nächstes wirst du in der Lage sein, Gott im Müll zu erkennen, im Abfall, der in die Gosse geworfen wurde, im Obdachlosen, der sich sechs Monate nicht gewaschen hat. Du siehst allmählich überall die gleiche Heiligkeit, die gleiche innige Dharma-Beziehung des Mysteriums zu sich selbst. Und so geht es weiter, du dringst immer tiefer in neue Bereiche ein. Während du die Heiligkeit in allen Dingen wahrnimmst, weißt du, dass du nicht bist, was du dachtest. Du bist ein lebendiges, erleuchtetes Mysterium, das weder berührt noch gesehen werden kann. Ist das eingesehen, kannst du in einer heiligen Beziehung sein. Ist es dir nicht bewusst und versuchst du, deine Beziehung zu einer heiligen zu machen, dann willst du nur deiner Vorstellung von einer heiligen Beziehung entsprechen, und das ist nichts anderes als Gewalt. Es mag zwar zu einem guten Zweck und in guter Absicht geschehen, aber wenn du aus einer Beziehung eine heilige Beziehung machen willst, ist dir das Wesentliche entgangen. Dann ist
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dir entgangen, dass sie schon heilig ist. Wenn du einsiehst, dass eine Beziehung bereits heilig ist, heißt das: Du erkennst, dass sie eine Manifestation des Mysteriums ist. Trotz der Erkenntnis, dass alles heilig ist, verlierst du nicht die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen. Du kannst sehen, wo in einer Beziehung vielleicht Unehrlichkeit herrscht, wo die Beziehung nicht vollkommen integer ist, wo es ihr an Innigkeit mangelt oder sie sich auf Bilder, Vorstellungen, Projektionen und Erwartungshaltungen gründet. Dass du sie als heilig erkennst, heißt nicht, dass du nicht vielleicht auch manches daran siehst, was lächerlich ist. Eins schließt das andere nicht aus. Gott macht auch komische Dinge. In einer Beziehung so zu bleiben, wie du bist (also einfach das Licht wacher Bewusstheit zu bleiben), ist die größte Herausforderung, der sich ein Mensch stellen kann. Alles in dir, was du ausgeklammert oder übersehen hast, ist dann wie ein kleiner Knopf, auf dem ein »Drück-mich«-Sticker klebt - und zieht magisch Finger an. Das ist das Schöne an der Heiligkeit. Was verdrängt oder unbewusst ist, hat einen kleinen »Drück-mich«-Knopf, der es ins Bewusstsein rückt. Da! Er ist gedrückt worden. Dong! Schuld. Wow! Jetzt werden die Schuldgefühle bewusst. Damit bietet sich dir eine Gelegenheit. Aber normalerweise verdrängen wir alles so schnell wie möglich wieder ins Unbewusste. Dann müssen wir uns nicht eingestehen: »Gerade hat sich die Schuld gemeldet. Du meine Güte, hat die lange in mir geschlummert! Als sei sie einprogrammiert. Wie interessant! Was ist das eigentlich?« Stattdessen vertiefen sich die Leute lieber in die Psychologie dieses
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Schuldgefühls und grübeln endlos darüber nach oder philosophieren darüber. Was ist es denn wirklich? Wie ist es, Schuld zu empfinden? Durch die Frage »Was ist das?« kann es von Bewusstsein durchdrungen werden. Dann siehst du, dass möglicherweise Schuld da ist, dass sie dir aber jetzt bewusst ist. Wenn du etwas mit der Schuld anzufangen versuchst, zum Beispiel, sie loszuwerden, hörst du ihr nicht richtig zu. Das Licht wacher Bewusstheit selbst ist die stärkste transformative Kraft, und durch die Bereitschaft, die eigene Unbewusstheit bewusst werden zu lassen, findet ein zutiefst alchemistischer Prozess statt. Sobald der kleine Knopf gedrückt wird, steigt etwas Unbewusstes auf, und dann ist es an dir, bewusst zu bleiben. Das ist alles: Bleib einfach bewusst. Bleib einfach bewusst und lass die Alchemie geschehen. Mach nichts »Spirituelles«, indem du zum Beispiel fünfzig Schritte Abstand nimmst und dann den fernen Beobachter spielst. Das ist zwar besser, als dich darin zu verlieren, aber es ist doch auch eine Art von Unbewusstheit, denn es zeigt eine Vermeidungshaltung, ein Wegschauen von dem, was ist. Bewusstheit ist einfach da. Sie muss nicht rückwärts, nach oben, unten oder hinten gerichtet werden, um sich frei zu machen von dem, was aufsteigt. Sie ist schon frei. Sie braucht keinen Rückzieher zu machen. Nur das kleine Ich denkt, es müsste sich davonmachen und flüchten. Und auch das kann bewusst gemacht werden: »Aha, das kleine Ich versucht es auf die spirituelle Tour und will vor etwas zurückweichen. Jetzt ist also der Knopf gedrückt.« So kommt es zu Bewusstsein.
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Wache Bewusstheit schreckt vor nichts zurück, will nichts erklären, nichts festhalten und nichts loswerden. Wache Bewusstheit, der Raum gegeben wird, ist eine tiefe Zuneigung und Liebe zu dem, was ist. Die Liebe stürzt sich immer in den gegenwärtigen Augenblick, ins Hier und Jetzt, sie gibt sich vollkommen dem Jetzt hin. Eine solche Beziehung ist von Einfachheit und Demut und großer Innigkeit geprägt. Dann begegnest du einem anderen Menschen auf völlig andere Weise. Die meisten Beziehungen beginnen als unbewusste Beziehungen. Wenn eine solche Beziehung vom Licht des wachen Bewusstseins erleuchtet wird, tritt das Unbewusste darin zutage. Wichtig ist, es nicht zu spiritualisieren, wenn es offenbar wird. Manche Leute wollen ihrer Beziehung eine spirituelle Note geben, statt sie bewusst zu machen. Sie wollen sie in eine spirituelle Fantasie verwandeln, in der ihr Partner all ihre spirituellen Erwartungen davon erfüllt, wie eine Beziehung sein könnte. Sie glauben zu wissen, wie die Beziehung beschaffen sein müsste, wie es sein könnte, wohin sie führen sollte. Wenn du davon ablässt, kehrst du zu etwas sehr Innigem, Unschuldigem zurück, wo du endlich willens bist, bei der Wahrheit zu bleiben, dich nicht zu verstecken und das Bewusstsein nicht zu irgendeiner geplanten Beziehung zu zwingen, sondern einfach die Entfaltung der Beziehung zuzulassen. Dann weißt du nie, wie sich der jeweilige Augenblick gestalten wird - wie Bewusstsein, Wachheit und Liebe in Erscheinung treten wollen. Das kann sicher eine ebenso durchschlagende Wirkung auf eine Beziehung haben, wie sie die Wahrheit auf dich hat. Wenn sich die Wahr-
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heit in dir entfaltet, zeigt sich zwischen ihr und dem, was noch in dir ist und sich an die Unwahrheit klammert, ein scharfer Kontrast. Und wenn in einer Beziehung wache Bewusstheit ihre Wirkung entfaltet und sich ausbreitet, nur weil du sie nicht mehr daran hinderst, prallen Wahrheit und Unwahrheit aufeinander, und dann erkennst du ihre Unvereinbarkeit. Auch in diesem Fall wird ein Knopf gedrückt - nicht nur mein Knopf oder dein Knopf sondern jetzt ein dritter Knopf, nämlich »unser Knopf«. In einer jeden Beziehung gibt es »unseren Knopf«, denn sobald zwei zusammenkommen, entsteht etwas, dass »unser« genannt wird. Drückt einer von uns oder jemand anderes »unseren Knopf«, macht es in der Beziehung »Pling!«, weil »unser Knopf« gerade gedrückt wurde. Dieses »Unser« hat seine eigenen Knöpfe und ein eigenes Unbewusstes, das aus der Verbindung der beiden einzelnen »Ich«-Knöpfe entsteht. Indem wir Bewusstwerdung zulassen, hören wir auf, aus unseren Ängsten heraus zu reagieren. Stell dir vor, nichts von dem, was du tust, wäre mehr auf ein Gefühl der Angst und Unsicherheit gegründet. Es ist sehr aufschlussreich, uns mit Blick auf unsere Beziehungen einmal zu fragen, was geschehen würde, wenn unser Handeln nicht mehr durch Angst oder Unsicherheit bestimmt würde. Für die meisten Menschen wäre das eine Revolution. Je intimer eine Beziehung ist, umso revolutionärer wäre es. Wenn nichts aus Angst oder Unsicherheit geschieht, entsteht eine völlig andere Situation. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Wahrheit durchschlagende Wirkung auf eine Beziehung haben kann, allerdings auch eine durchaus positive.
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Mir fällt auf, dass viele Menschen, die zu einer tiefen, grundlegenden Erkenntnis der Wahrheit gekommen sind, damit überfordert sind, in einer Beziehung das zu sein, was sie wirklich sind - aus Unsicherheit oder Angst davor, wie es aufgenommen werden oder was es auslösen könnte. Es kann dich zutiefst verunsichern, nicht zu wissen, was geschehen wird, wenn du einige Bereiche deines Lebens nicht länger verleugnest, in denen du vorher die Wahrheit verleugnet hast. Nur allzu oft schrecken die Leute, statt sich der Unsicherheit und Angst zu stellen, davor zurück. So wird dieser Aspekt der Beziehung ein isolierter, abgetrennter Teil des Lebens, der nicht vom Bewusstsein durchdrungen werden darf. Wie jeder weiß, fällt es mit zunehmender Bewusstwerdung sowohl kurz- als auch langfristig immer schwerer, diese Trennung aufrechtzuerhalten. Wenn du vollkommen bewusst bist, kannst du überhaupt nicht mehr von einer Getrenntheit ausgehen. Es ist also total unmöglich, voll erwacht zu sein, ohne dass sich diese wache Bewusstheit auf alles erstreckt. Wenn du nicht überall voll erwacht bist, heißt das, dass du noch nicht voll und ganz der geworden bist, der du bist. Bei einiger spiritueller Erfahrung fühlst du dich vielleicht insgeheim jemandem überlegen, weil er (oder sie) angeblich keine solche Erfahrung vorweisen kann. Sobald du das tust, findet keine echte Begegnung statt. Wie aber kannst du dem Unbewussten auf eine unschuldige Art beikommen und jemandem Auge in Auge gegenübertreten, statt dich ihm (oder ihr) überlegen zu fühlen? Wir lernen etwas über die Dharma-Beziehung, wenn wir den Vögeln draußen lauschen und die Qualität unseres Lauschens so
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wie die Art und Weise beobachten, in der wir den Klang in uns aufnehmen, uns von ihm berühren lassen und eins mit ihm werden. Indem wir das tun, werden wir bewusster. Dadurch können wir mehr über die Dharma-Beziehung lernen als aus hundert Büchern. Bei Retreats im Sonoma Zen-Center, wo es sehr still war, pflegten wir ab 4.30 Uhr in der Frühe zu sitzen. Zu dieser Morgenstunde war es wunderbar ruhig und friedlich. Das erste Licht der noch nicht über den Horizont gestiegenen Sonne sorgte für eine sanfte Helligkeit, und man hatte das erstaunliche Gefühl, als wache die ganze Welt auf, das ganze eigene Selbst. Ein herrliches Gefühl. Gegen 6.30 Uhr morgens wachten allmählich die Nachbarn gegenüber dem Zen-Center auf. Sie hatten andere Vorstellungen vom Tagesbeginn. So spielten sie jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe Led Zeppelin bei voller Lautstärke. Dabei kann man gut die Dharma-Beziehung üben. Es ist leicht, sich bei Vogelgesang, bei wunderbaren und erfreulichen Manifestationen des Göttlichen, des eigenen wahren Wesens bewusst zu sein - bis Jimmy Page mit voller Power die ersten Akkorde anschlägt. Und da ist sie. Die Frage an dich selbst: »Was ist das? Und welche Beziehung habe ich dazu?« Ich fand heraus, dass es sich nur um ein weiteres Geräusch handelte, und das war vollkommen in Ordnung. Und es war schön, denn es vertiefte meinen Sinn für das Spirituelle. Es war einfach nur, was ist. Gott, der vorgab, ein Rockstar zu sein. Gott war eben nicht nur all die angenehmen, lichten Augenblicke voller Stille und Gelassenheit. Damit wird jede falsche Vorstellung von Spiritu-
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alität zerstört: »Na schön, du willst Gott schauen? Hier ist Gott - in seiner Totalität. Nicht nur der Teil, den du gern sehen willst, sondern alles.« In mindestens einem der über das Jahr verteilten Retreats kam am letzten Tag ein besonderer Kick hinzu: Statt wie sonst gegen 22 Uhr zu Bett zu gehen, saßen wir bis 23.30 Uhr dreimal eine halbe Stunde mit jeweils zehn Minuten Gehmeditation dazwischen und schließlich von Mitternacht bis vier Uhr früh durch, ohne aufzustehen. Für den Fall, dass du glaubst, bei einem Retreat Nirvana erlangt zu haben und ein spiritueller Überflieger zu sein, weil du wirklich toll gesessen und dich wirklich gut gefühlt hast vergiss es! Nach fünf Tagen oder einer Woche macht dich diese letzte Nacht völlig fertig. Niemand fühlt sich hinterher stark und erhaben. Das kann zu Beginn eines Retreats vorkommen, aber nie am Ende. Diese Art des Sitzens war nicht wirklich notwendig, aber nach vielen Retreats fing ich an, ihren Sinn zu erkennen. Welch ein wunderbares Geschenk, nicht in abgehobener, starker geistiger Verfassung daraus hervorzugehen und zu denken: »Wie gut und gelassen ich doch das ganze Retreat durchgestanden habe! Welch ein Geschenk, in aller Unschuld zurechtgestutzt zu werden!« Nach einer Weile war es keineswegs mehr niederschmetternd. Es war einfach ein Gefühl wie: »Oh, da sind wir ja wieder, fünfzig Leute in einem Raum, und nach vier Stunden unablässigen Sitzens versuchen wir alle nur noch, durchzuhalten. Erleuchtete und Unerleuchtete gleichermaßen versuchen, durchzuhalten.« Das Gefühl größter Anstrengung und jede hohe oder weniger hohe spirituelle Vorstellung von
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mir selbst brachen einfach zusammen. Es war so köstlich, so schön und so heilig, zuzusehen, wie bei diesem Zusammenbruch die Fassade bröckelte. Und es gab uns die Chance, das Einssein überall zu sehen, in jeder Erfahrung und nicht in irgendeiner Vorstellung davon, wie es sein müsste. Wenn die Vorstellung zusammenbricht, bekommt die Wirklichkeit des Heiligen Gelegenheit, sich zu entfalten. Und das wirklich Heilige ist viel schöner, als man sich vorstellen kann - nicht so dramatisch, aber einfach viel schöner. Die Dharma-Beziehung ist eine reale Beziehung; Das Schöne liegt im Wirklichen. Es liegt nicht in der Vorstellung von einer spirituellen Beziehung begründet, sondern in deren Wirklichkeit.
22 Ewiges Jetzt Nimm dir einen Augenblick Zeit und sieh nach, ob du wirklich hier bist. Ehe es richtig und falsch gibt, sind wir einfach hier. Ehe es gut oder schlecht oder wertlos gibt und ehe es Sünder oder Heilige gibt, sind wir einfach hier. Sei einfach hier, wo Stille herrscht wo die Stille innen tanzt. Genau hier, ehe es Wissen oder Nichtwissen gibt. Sei einfach hier, wo alle Standpunkte in einem Punkt verschmelzen und auch der eine Punkt verschwindet. Sieh doch, ob du nicht gleich jetzt hier sein kannst, wo du das Ewige berührst und das ewige Leben und Sterben jeden Augenblick empfindest. Einfach hier sein ehe du ein Experte warst, ehe du ein Anfänger warst.
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Einfach hier sein, wo du bist, was du immer sein wirst, wo du dem nie etwas hinzufügen und nie etwas wegnehmen wirst. Sei hier, wo du nichts wünschst und wo du nichts bist. Im Hier, das unaussprechlich ist. Wo wir nur als Mysterium dem Mysterium begegnen oder überhaupt nichts begegnen. Sei hier, wo du dich selbst findest, indem du dich nicht findest. An diesem Platz, wo die Stille ohrenbetäubend ist und die Ruhe zu schnell ist, um sie zu fangen. Sei hier, wo du bist, was du sein willst, und sein willst, was du bist, und alles abfällt in strahlende Leere. Es gibt eine wunderbare Geschichte von einem jungen Mann, der in ein Kloster eintreten will - ein Mensch voller Saft und Kraft und begierig, Erleuchtung zu erlangen, am besten schon gestern. Er fragt den Abt: »Wie lange brauche ich, bis ich erleuchtet bin?« Der Abt antwortet: »Etwa zehn Jahre.« Da sagt der junge Mann: »Zehn Jahre? Warum denn zehn Jahre?« Der Abt erwidert: »Oh, in deinem Fall eher zwanzig Jahre.« Der junge Mann hakt nach: »Wieso sagst du jetzt zwanzig Jahre?« Und der Abt antwortet: »Oh, ich habe mich geirrt... dreißig Jahre.«
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Wenn du wirklich zur Einsicht gekommen bist, weißt du, dass allein schon die Frage dir zehn Jahre einträgt. Mit dem Gedanken: »Wann bin ich endlich frei?« wird Zeit ins Dasein geboren. Und nach dieser Geburt der Zeit musst du nun denken: »Wahrscheinlich dauert es noch mindestens zehn Jahre, vielleicht auch ewig.« Wohin könntest du gehen, um hier anzukommen? Jeder Schritt trägt dich woandershin. Das ist eine Überraschung für den Verstand, denn er hat beim Gedanken an Freiheit oder Erleuchtung immer die Vorstellung, dass sich etwas ansammelt, dabei ist natürlich gar nichts da, was sich ansammeln könnte. Es kommt darauf an, zu erkennen, wer du bist und was du immer gewesen bist. Diese Erkenntnis liegt außerhalb der Zeit, denn du kommst entweder jetzt oder nie dazu. Sobald deine Vorstellung von Erleuchtung dich an die Zeit bindet, geht es immer um den nächsten Augenblick. Vielleicht machst du ja eine tiefe spirituelle Erfahrung, aber du fragst sofort: »Wie lange werde ich mir diese Erfahrung wohl bewahren können?« Solange du weiter diese Frage stellst, bleibst du zeitgebunden. Wenn du immer noch an Zeit interessiert bist und mit der Zeit spirituell etwas ansammeln willst, wirst du eine zeitgebundene Erfahrung machen. Dein Verstand agiert so, als sei das, was du suchst, nicht schon hier und jetzt präsent. Das Jetzt liegt außerhalb der Zeit. Es gibt keine Zeit, und das Paradoxe ist, dass du nur deshalb das Ewige nicht siehst, weil dein Denken in der Zeit festsitzt. Du verpasst also, was tatsächlich da ist. Kennst du das Gefühl, dass du eigentlich gar nicht hier
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sein willst, sondern lieber eine wunderbare Erfahrung machen würdest, die ewig bestehen bliebe? Das denken viele, aber sprechen es kaum jemals aus, wenn der Lehrer sagt: »Sei jetzt hier.« Innerlich hast du das Empfinden: »Ich bin ja hier, aber ich bin ungern hier. Ich will dort sein, wo die Erleuchtung ist.« Wenn du einen wirklich guten Lehrer hast, wird er dir sagen, dass du dich irrst, dass du nie hier warst. Du bist immer der Zeit verhaftet gewesen; deshalb bist du nie hier aufgekreuzt. Dein Körper war hier, aber alles andere von dir war sonst wo. Dein Leib ist durch so etwas wie »dein Leben« gewandert, während dein Kopf durch so etwas wie »deine Fantasievorstellung vom Leben« bzw. »deine bedeutende Story vom Leben« gewandert ist. Du bist in einer Interpretation des Lebens hängengeblieben, bist also nie wirklich hier gewesen. Hier ist das Gelobte Land. Das Ewige ist hier. Ist dir je aufgefallen, dass du nie von hier fortgegangen bist, außer im Kopf? Wenn du dich an die Vergangenheit erinnerst, bist du nicht wirklich in der Vergangenheit. Dein Erinnern geschieht hier. Wenn du an die Zukunft denkst, läuft diese Zukunftsprojektion ausschließlich hier ab. Und wenn du in der Zukunft ankommst, ist sie hier. Dann ist sie nicht länger Zukunft. Um hier zu sein, brauchst du bloß aufzugeben, wer du zu sein glaubst, sonst nichts. Und dann wird dir klar: »Ich bin ja hier!« Hier glaubst du nicht mehr an Gedanken. Jedesmal, wenn du hier ankommst, bist du nichts. Strahlendes Nichts. Absolut und ewig nichts. Leere, die wach und bewusst ist. Leere, die voll ist. Leere, die alles ist.
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Du willst bloß alles Mögliche, weil du nicht weißt, wer du bist. Doch sobald du wieder zu dir selbst findest, zu dieser leeren Bewusstheit, erkennst du, dass du dir nichts mehr wünschst, weil du bist, was du dir wünschst. Die Freiheit, die du entdeckst, ist nicht so wie: »Ich habe Erleuchtung erlangt.« Vielmehr ist es die Freiheit: »O Gott, hier ist ja niemand, der erleuchtet werden könnte. Also ist auch niemand da, der unerleuchtet sein könnte.« Das ist das Licht. Nur das erdachte »Ich« denkt, es brauchte Erleuchtung, Befreiung oder Emanzipation. Es bildet sich ein, Gott finden oder einen Ferrari haben zu müssen - was im Grunde das Gleiche ist. Aber in dem Augenblick, in dem du das erdachte Ich durchschaust und erkennst, dass es nur eine Denkblase ist, weißt du, dass niemand da ist, der erleuchtet sein könnte. Ich, ich, ich. Ich denke dies. Ich denke das. Ich bin etwas wert. Ich hab's. Ich hab's nicht. Ich bin erleuchtet. Ich hab's vermasselt - das alles sind Denkinhalte. Es gibt niemanden, der Erleuchtung erlangen könnte, und niemanden, der sie wieder verlieren könnte. Die ganze Sache ist reine Fiktion. Hast du nicht schon mal das Gefühl gehabt, dass dein Leben einer Fernsehserie gleicht? Einem Fortsetzungsroman, wo jede Folge eine abgeschlossene Geschichte zu sein scheint, bis du feststellst, dass schon die Fortsetzung auf dich wartet, und kaum ist die zu Ende, ist wieder eine neue Folge da. Du findest aber nie den Autor darin. Der zeigt sich nie und bleibt immer außerhalb der Story. Genauso verhält es sich mit dem Denken. Nach vielen Fortsetzungen der Geschichte sagt dein kleines Selbstbild
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im Kopf: »Ich muss erleuchtet werden. Ich muss den Ursprung finden. Ich muss Gott finden. Ich muss Befreiung erlangen. Ich muss über Leben und Tod hinauskommen.« An irgendeinem Punkt aber wird dir klar: »Ach, das ist ja alles ein Teil der Geschichte!«, und du fragst dich: »Wer bin ich denn nun ohne diese Geschichte?« Du legst das Buch mit dem Titel »Mein Leben« beiseite. Du erkennst, dass keine Geschichte und kein Ich da ist. Das Ich ist deine Erfindung. Die ganze Geschichte entspringt spontan dem Nichts, dem Geist, der sich daran erfreut. Sie existiert für dich, damit du sie liest - und ein wenig lachst, ein wenig weinst, Höhen und Tiefen erfährst, Leben lebst, Tode stirbst, Freunde und Feinde hast -, ohne die Geschichte je ernst zu nehmen. Spirituelle Erfahrungen sind ein interessanter Teil der Handlung. Sie kommen in den meisten spirituellen Romanen mit dem Titel »Mein Leben« vor. Die Hauptfigur macht Erfahrungen, kommt der Erleuchtung näher und entfernt sich davon, kommt in den siebten Himmel und wird wieder daraus vertrieben. Kapitel 22: »Eine unglaubliche Erkenntnis!« Kapitel 23: »Die Erkenntnis ist wieder futsch.« Und so geht es weiter. Du arbeitest dich zu drei Vierteln durch die Fortsetzungsfolgen (bist also schon eine fortgeschrittene Seele, stimmt's?), und jetzt spielst du schon eine spirituelle Rolle. In den ersten Folgen warst du noch ein einfacher, prosaischer Mensch. Aber du hast dich weiterentwickelt, um nach weiteren Folgen zu den gereiften Seelen zu zählen und zum spirituellen Sucher zu werden. Du musst unbedingt irgendwo ankommen. Das ist doch das Anliegen des Ichs, nicht wahr? Es hält in
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seiner Geschichte nach der Freiheit Ausschau, bis es endlich merkt, dass die Person, die Freiheit sucht, auch nur eine Romanfigur ist. Jetzt erhebt sich plötzlich die Frage: »Was bin ich? Wer bin ich ohne eine Geschichte?« Dann ist die Story jäh zu Ende, und der Verstand weiß keine Antwort, denn die wäre ebenfalls wieder Erfindung. Sie ergäbe das nächste Kapitel. Doch wenn du aus der Geschichte heraustrittst, sind keine Worte mehr da. Du bist raus aus der Story. Jenseits der Story gibt es nur Bewusstheit. Aber keine Sorge. Die Geschichte geht weiter. Sie geht weiter, auch ohne das Ich. Die Bewegung geht weiter. Wenn du in die Stille des ewigen Jetzt eintrittst, indem du das fiktive Ich fahrenlässt, siehst du, dass die Wirklichkeit, die Erleuchtung oder Gott wie eine Flamme ist. Sie ist lebendig, ständig in Bewegung und in einem immerwährenden Tanz begriffen - die Flamme ist immer da. Aber sie wandelt sich unaufhörlich. Nichts an der Flamme ist beständig, statisch oder stabil. Wenn es so wäre, wäre sie tot. Die Wirklichkeit ist lebendig, sie ist stets in Bewegung wie die lodernde Flamme. Die Wahrheit ist eine kontinuierliche Bewegung. Diese Agilität, diese Lebendigkeit der Wahrheit ist konstant. Sie lässt nie nach. Sie ist zeitlos. Die Unbeständigkeit ist das einzig Kontinuierliche, das einzig Dauerhafte. Die totale Stille des Seins stellt sich erst ein, wenn sich absolut kein Widerstand gegen Bewegung, Unbeständigkeit und Wandel mehr regt. Sobald jeder Widerstand aufhört, ist vollkommene Stille da, eine lebendige, vitale Stille. Eine absolute Stille, die jedoch zugleich unaufhör-
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liche Bewegung ist. Sie erscheint vollkommen still und bewegungslos, weil kein Widerstand da ist. Stell dir vor, du säßest in einem Zug, der mit 200 Stundenkilometern über die Schienen rast. Aber dieser Zug bietet dem Wind keinerlei Widerstand, und es fehlt auch jede Art von Reibung zwischen Schienen und Rädern oder Waggons und Federn, sodass du nicht das leiseste Zittern spüren kannst. Obwohl du sehr schnell fährst, ist es im Zuginnern absolut still, und du hast das Empfinden, gar nicht in Bewegung zu sein. Genauso ist die Stille des Seins. Was wir Beständigkeit nennen, ist unaufhörliche, reibungslose Bewegung. Dafür einen Sinn zu entwickeln ist überaus wichtig, ob du es verstehst oder nicht, denn sonst gehst du womöglich zu einem Retreat und verpasst die Hauptsache. Vielleicht erlebst du eine gewisse Stille und die mit einer solchen Erfahrung verbundene Schönheit, Einsicht und Freiheit. Aber du hältst sie für etwas Statisches, das du dieses Mal vielleicht endlich mit nach Hause nehmen kannst, und wenn du dann nach Hause kommst und die Hände öffnest, merkst du, dass diese Stille etwas Totes ist. Darin gleicht sie einer Flamme: Sobald du die Flamme mit den Händen umschließt, erlischt sie. Wenn das Lebendige dieses Augenblicks widerstandslos erfahren wird, herrscht vollkommene Stille und zugleich vollkommene Lebendigkeit, aber du kannst sie nicht ergreifen, weil das Ergreifen selbst auch wieder eine Bewegung der Flamme ist. Sie kann sich nicht selbst ergreifen. Sie kann nur sie selbst sein. Die Metapher der Flamme hält noch viel mehr für dich
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bereit. Wenn du die Spitze der Flamme betrachtest, die äußerste Spitze, siehst du, dass sie züngelt und herumtanzt und dabei Licht spendet. Du kannst nur die Lichtquelle sehen, während das Licht selbst unsichtbar bleibt. Das Licht ist wie die Flamme der Wahrheit, von der Einsicht, Erkenntnis und Erwachen ausgehen. Das Herz dieser Flamme in unserem Innern züngelt ebenfalls, aber nicht so wild wie an der Spitze, sondern mehr wie die Wellen des Ozeans. Hier im Herzen gibt es etwas Tieferes als Einsicht und Erkenntnis. Hier ist Erfahrung, bevor Einsicht daraus wird. Dieses flammende, wogende Herz ist mit sich selbst vereint. So sehr, dass es sich nicht einmal auf irgendeine Erkenntnis zubewegt, sondern sich einfach nur an dieser Einheit und der Süße, der wunderbaren Liebe erfreut. Aber tiefer noch, am Grunde des Herzens, liegt die Basis der Flamme. Hast du je ein flammendes Holzscheit betrachtet? Ich habe einmal abends am Lagerfeuer ein brennendes Holzscheit beobachtet, und ich konnte nicht sehen, wo sich Flamme und Scheit berührten. Entweder war eine Lücke zwischen Scheit und Flamme, oder die Flamme war so klar und farblos, dass sie nicht zu sehen war. Einen solchen tiefen Grund gibt es im Herzen, da, wo Leere herrscht. Sie besteht vorher, ehe die Wahrheit lebendig wird, ehe sie ins Dasein lodert. Und hier sinkt auch die Einheit des Herzens in den Urgrund des Seins, der so einfach ist. Es ist »die stille Wüste, in die Unterschiedenheit nie hineinlugte«, wie Meister Eckhart sagt, wo selbst das Einssein keinen Sinn ergibt, wo der einsichtsvolle Geist zur Ruhe gekommen und das Herz still
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geworden ist und nur noch ein Ruhen im Urgrund des Seins da ist. Die Flamme der Wahrheit ist also die ganze Flamme mit allem, was dazugehört: das Ungestüme, das Herz und der einfache, schlichte Urgrund.
23 Treue Wenn du das wahre Selbst verwirklichst, nimm diese Erfahrung nicht auf die leichte Schulter, denn sobald du der Wahrheit nicht mehr treu bleibst, verfällst du wieder in Isolation. Wenn du die Freiheit nicht nur kosten, sondern sein willst, musst du der Wahrheit absolut treu sein, musst du dich für immer mit dieser Treue vermählen. Wenn die Freiheit eine lebendige, laufende Erfahrung für dich sein soll, muss der menschliche Teil in dir der Wahrheit die Treue halten und sich verpflichten, diese Wahrheit zu leben. Um frei zu sein, muss sich der menschliche Anteil auf ewig der Wahrheit verschreiben. Ich werde immer wieder von Leuten gefragt: »Wann ist das denn endlich alles vorbei?«, weil sie anscheinend unter Freiheit verstehen, dass sie nicht unbedingt jeden Augenblick bewusst zu würdigen brauchen, dass sie keine Kraft aufbieten und nicht den mindesten Einsatz bringen müssen, und da lautet die Antwort natürlich: »Nie.« Das heißt nicht, dass du dich nie entspannen dürftest, sondern nur, dass du es mit Dankbarkeit tun solltest. Wir können uns entspannen und dennoch weitherzig, ansprechbar und wirklich präsent sein. Wenn wir das sind, hat das tiefgreifende Auswirkungen auf die Entfaltung von Beziehungen.
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Was uns zur lebendigen Freiheit führt, ist weniger anhaltende Aufmerksamkeit als anhaltende Dankbarkeit. Wir dürfen nie und nimmer aufhören, dankbar zu sein. Sobald du der Wahrheit die Treue brichst, wirfst du dich selbst aus dem Freiheitsraum der Wahrheit hinaus. Sobald dir irgendetwas - Macht, Lob, Personen, Orte, Dinge, äußerliche Liebe, Achtung, Anerkennung - wichtiger wird als die Wahrheit, beginnst du zu leiden und empfindest dich als von allem getrennt. In der Wahrheit ist nur Raum für die Wahrheit. Dies bedeutet, dass nur dort Raum dafür da ist, die Wahrheit zu erkennen, die Wahrheit zu wählen und die Wahrheit zu lieben. Sich strikt zur Wahrheit zu bekennen heißt, sich von Augenblick zu Augenblick dafür zu entscheiden. Wenn du darauf wartest, dass du irgendwann frei wirst, weil die Entscheidung dafür automatisch fällt oder dir abgenommen wird, entziehst du dich bloß der Verantwortung für diese Freiheit - die Freiheit, zwischen der Wahrheit und einer bequemen Geschichte zu wählen. Das unbedingte Festhalten an der Wahrheit ist nichts, was leicht genommen werden darf. Oder wie es der dritte Zen-Patriarch ausdrückt: Einmal die Wahrheit verfehlt, und Himmel und Erde sind unendlich weit getrennt. Wenn etwas Ablenkendes geschieht und dir einen Augenblick lang klar wird, dass du dich in einer Art Trance befindest und flüchtige Erscheinungen erlebst, du aber trotzdem so tust, als sei es real, dann fallen Himmel und Erde weit auseinander. Doch der Himmel öffnet sich wieder, sobald du dich dafür entscheidest, die Wahrheit zu sagen, und zu der Einsicht kommst: »Ach ja, das sind ja nur flüchtige Erscheinungen
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oder Wut oder Langeweile«, indem du die Dinge einfach benennst, ohne etwas daran ändern zu wollen. Es genügt nicht, Gelübde zu halten, nur um der Gelübde willen. In diesem Fall bricht man das heiligste Gelübde überhaupt: das Gelübde, weiten Herzens zu lieben und sich aus tiefstem Herzen hinzugeben. Gehe keine dürre Verpflichtung ein, an einer vorgestellten oder theoretischen Wahrheit festzuhalten. Das wäre so, als würdest du dich im Sessel zurücklehnen und zu deinem Partner sagen: »Ich kann dich nicht mehr richtig lieben, aber wir bleiben zusammen, weil ich es dir zugesagt habe.« So wird das Gelübde gebrochen; den Buchstaben irgendeines Gesetzes wird zwar Genüge getan, aber es fehlen die wahre Bedeutung, das Herz, die Liebe, die Innigkeit und die Verletzlichkeit. Es genügt nicht, etwas routinemäßig zu tun; Herz und Wesen müssen dabei sein. Fühle diesen Augenblick, sieh ihn mit der Bereitschaft an, ihn tief zu erleben, ob er gut oder schlecht oder weder das eine noch das andere ist. Sei emotional und empfindungsmäßig voll gegenwärtig, hier und jetzt, verletzlich und mit ganzem Herzen. Sei einfach präsent. Lebe nicht aus deinem konditionierten Denken, sondern aus der unkonditionierten Wahrheit heraus. Die Wahrheit liebt. Sie urteilt nicht. Sie hält ein großes Schwert in Händen und unterscheidet unbarmherzig, was wahr und was falsch ist, aber sie ist nicht nachtragend. Wenn du der Wahrheit deiner selbst nicht treu bleibst, leidest du. Ohne Strenge gibt es kein Lernen. Die Wahrheit päppelt dich nicht. Lebe wahrheitsgetreu, oder du leidest. So einfach ist das.
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Wenn du tatsächlich zur Wahrheit erwachst, wirst du einsehen, dass du unter allen Umständen und bei allen Erfahrungen stets geliebt worden bist. Wie wunderbar, dass sich ein Faden der Liebe durch jeden einzelnen Augenblick zieht. Es hat nie ein Opfer gegeben, nicht einen Augenblick lang. Und selbst wenn es schmerzhaft zu sein schien, hat dich das scharfe Schwert doch nur zur Erkenntnis der Wahrheit treiben wollen. Sich damit abzufinden ist schwer, denn dadurch wird uns auch noch das letzte Quäntchen unseres Opfertums geraubt. Die Wahrheit kann in vielerlei Gestalt, in angenehmer wie unangenehmer, ins Dasein tanzen. Hinter jeder Erfahrung steht die Liebe. Die Verpflichtung, auf allen Seinsebenen voll gegenwärtig zu sein, schließt die Lücke zwischen dir und dem, was geschieht, die Lücke zwischen dir und der Erfahrung. Kwong Roshi hat oft gesagt: »Schließ die Lücke, auch wenn du nur ein kleines Stück weit kommst, aber schließ die Lücke.« Dann öffnet sich dir alles. Schließ die Lücke zwischen dem, was ist, und dem, was es deinen Wünschen nach sein soll, zwischen dem, was sich selbst darstellt, und dem, was sich deinen Wünschen nach darstellen soll. Durch diese Lücke in der Beurteilung empfindest du dich als getrennt. Du musst dich voll und ganz für das entscheiden, was ist, und dich mit deinem ganzen Sein und Wesen darauf einlassen. Sehr wichtig ist allerdings die Einsicht, dass du die Lücke nicht durch eine Willensanstrengung schließen kannst, sondern nur durch Bereitwilligkeit. Wenn du dich bemühst, sie zu schließen, wird sie immer größer. Doch wenn du dich bereitwillig dem hingibst, was ist, schließt
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sie sich ganz von selbst. Sobald die Lücke zwischen dem Ich und der Wahrheit des Augenblicks geschlossen ist, offenbart sich die Wahrheit als ungeteilte Gegenwart, als dein eigenes Selbst. Das meine ich, wenn ich sage, dass du dich auf das Leben, auf den Augenblick, auf die Fülle dessen, was ist, einlassen sollst. Damit muss aber keine Auflösung in der Transzendenz verbunden sein. Sie kann es sein, falls du es wünschst, aber davon rede ich im Moment nicht. Überlass dich lieber der Verletzlichkeit und der Unschuld. Es ist so, wie wenn du dich mit jemandem unterhältst und auf einmal der magische Augenblick eintritt, dass ihr euch vollkommen aufeinander einlasst und euch in eurer Verletzlichkeit zeigt. Das ist reine Magie. Die Lücke kann auf verschiedenste Art geschlossen werden. Eine Möglichkeit, die Lücke zu schließen und zur Ruhe zu kommen, ist die Meditation, das Sitzen in der Stille. Wenn sich der Körper auf eine Geistesregung hin bewegt, stört er die Stille. Aber wenn er entspannt und ruhig ist, folgt das Denken ihm allmählich, und dann schließt sich die Lücke. Dann kann die Stille des Augenblicks aufleuchten. Mach dir bewusst, was Bewegung verursacht. Es ist nur das Denken, das sich im Körper manifestiert. Sei immer ein wenig wagemutig und immer ein wenig verletzlich. Sei verletzlich genug, um wach zu bleiben und den kühlen Hauch zu spüren, der das Feuer des Herzens entfacht. Wahre Macht ist die Macht der Liebe, die leidenschaftlich etwas Tiefinneres zum Ausdruck bringt. Sie entspringt dem Herzen, der Überfülle, und nicht dem Bemühen, ein
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Bedürfnis zu erfüllen. Du kannst diesen Funken der Liebe und des Lebens überall im Dasein spüren. Du fühlst ihn in der Luft, in der Form einer Blume, eines Blattes oder deines eigenen Körpers. Du kannst ihn nicht festnageln. Er ist Leben, und Leben geht über Lebendigsein hinaus. Gedanken sterben, Körper sterben, Überzeugungen sterben, aber Leben bleibt. Leben, Gott oder Liebe manifestieren sich auf mannigfaltige Weise - als Weisheit, Klarheit oder Feuer, das dich verbrennt, sodass du dich endlich in Bewegung setzt, loslässt und zur Wirklichkeit erwachst. Wenn ich nicht beim Satsang bin, bin ich ein ziemlich stiller Mensch. Erwachtheit kann eine Herzenssache sein, ein Spiel oder auch die tiefste Stille, die du dir vorstellen kannst. Gemeinsam ist all diesen Formen die Fülle der Leere. Wenn wir wirklich da sind, ist Fülle da. Selbst in der Leere, in der Stille und dem Nichts herrscht Fülle. Du bist der Dharma. Du bist das Leben. Blume und Baum sind nichts als Leben. Und Leben bleibt nie auf bestimmte Ausdrucksformen beschränkt. Es wartet mit immer neuen Varianten auf und ist ständig im Werden begriffen. Es kommt aus dem Nichts, wie eine Blume, die gestern noch nicht da war und heute plötzlich in Erscheinung tritt. Leben kommt in einer Blume, einem Menschen, einer Erkenntnis oder im Verlust der Erkenntnis zum Ausdruck. Aber es ist nicht auf seine Ausdrucksformen beschränkt. Wenn die ganze Welt zusammenbräche, gäbe es nicht weniger Leben, sondern nur weniger Manifestationen. Das Leben wäre immer noch da. Du wärst immer noch da. Wir machen uns so viele Gedanken darum, dabei wäre das Leben auch dann noch da, wenn die Welt zusam-
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menbräche. Ramana Maharshi sagte auf dem Sterbebett zu seinen besorgten Schülern: »Sie sagen, ich ginge, aber wohin könnte ich gehen?« Die Blume stirbt, aber dem Leben geht es weiter gut. Ausdrucksformen gehen, Einsichten gehen, Persönlichkeiten wandeln sich, Überzeugungen wandeln sich. Du bleibst.
Interview mit Adyashanti Tami Simon
Anfang 2004 hörte ich von einem neuen »Post-ZenLehrer« reden, der die Fähigkeit hätte, den Leuten mit ungewöhnlicher hellwacher Klarheit und zugleich voller Mitgefühl und Humor aus ihrer Verwirrung im Hinblick auf das spirituelle Erwachen herauszuhelfen. Da ich von Natur aus skeptisch bin, beschloss ich, einige Zeit bei Adyashanti zu verbringen und ihn aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. Bei zwei verschiedenen Malen erhielt ich Gelegenheit, ihn fast vier Stunden lang zu interviewen (gerade so lange, wie ich seinen Blick aushalten konnte, ohne das Gefühl zu haben, der Kopf würde mir zerspringen). Interessanterweise fühlte ich mich nach jedem Interview reich beschenkt durch seine Gegenwart, als hätte die Sonne seines erwachten Geistes mich voll beschienen und die Auflösung bestimmter einschränkender Energiemuster bei mir angeregt. Mit herzlicher Dankbarkeit gebe ich hier gern Auszüge aus unseren Gesprächen wieder. Tami Simon (TS): Adya, ich möchte über etwas Bestimmtes mit dir reden und hoffe, dass es dir nichts ausmacht. Ich möchte nämlich über dich reden: über Adyashanti, den Mann, die Person, den Menschen.
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Adya(shanti): lacht TS: Nicht über deine Gedanken. Adya: Na schön. TS: Nachdem ich dein Buch gelesen hatte, fragte ich mich: Wer ist dieser Typ? Hat er sich von einem fremden Planeten hergebeamt? Oder ist er tatsächlich von Eltern geboren worden? Adya: Aha. TS: Ich würde gerne ein wenig von deiner Lebensgeschichte erfahren. Wie war deine Familie? War sie religiös? Was hast du als Kind gemacht? Adya: Also gut. Ich bin in eine wirklich großartige Familie geboren worden, wie ich später - aber zum Teil wohl auch schon damals - herausfand. Ich hatte gute Eltern und zwei Schwestern, eine ältere und eine jüngere. Aus meiner Kindheit ist mir vor allem in Erinnerung, dass ich außergewöhnlich glücklich war. Jemand fragte meinen Vater einmal, was ihm aus meiner Kindheit besonders im Gedächtnis geblieben sei, und er sagte: »Er hat immer gelächelt.« Und daran erinnere ich mich auch noch. Wie jeder andere habe ich aber auch schwierige Zeiten erlebt. Ich habe genauso wie andere Dummheiten gemacht und bin in Schwierigkeiten geraten. Bisweilen war es hart. Aber rückblickend kann ich wohl sagen, dass ich recht glücklich aufgewachsen bin. Ich kam lächelnd an, und fast meine ganze Kindheit war vom Lächeln geprägt. Ich würde nicht sagen, dass ich in einer besonders religiösen Familie aufgewachsen bin, obwohl Religiosität und Spiritualität auf seltsame Weise dazugehörten.
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Einer meiner Großväter war sehr religiös. Bei Familientreffen (die oft stattfanden, weil alle meine Verwandten - Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen - im Umkreis von einer halben Fahrstunde von uns entfernt wohnten) kam das Gespräch ziemlich oft auf Spiritualität und Religion. Als Kind beteiligte ich mich zwar nicht viel an diesen Gesprächen, aber ich hörte fasziniert zu. Zum Beispiel waren all meine Lieblings-filme religiöser Art: große spirituelle Epen mit Charlton Heston wie Ben Hur oder Die Zehn Gebote. Es gab also schon früh einen gewissen Hang zu Spiritualität und Religion, aber nicht allzu offenkundig. Auch hatte ich während meiner Kindheit und Jugend gelegentlich so etwas wie mystische Erlebnisse. Allerdings habe ich sie damals nie als etwas Mystisches oder Besonderes angesehen, nicht einmal als ungewöhnlich. TS: Was waren das denn für mystische Erlebnisse? Adya: Na ja, zum Beispiel erschien nachts ein weißes Licht am Fußende meines Bettes. TS: Wie eine Kugel aus weißem Licht? Adya: Ja, eine Kugel aus weißem Licht am Fußende meines Bettes. Wie die meisten Kinder fand ich daran nichts ungewöhnlich. Ich dachte bloß: »Aha, heute Nacht hat mich die Kugel aus weißem Licht besucht.« Und das war immer irgendwie spannend und toll. Ich hatte alle möglichen Erlebnisse dieser Art, als ich heranwuchs. Manchmal verschmolz ich beim Blick in Schrank oder Kommode mit dem Holz und wurde selbst zur Schublade. Das hatte damals einen eigenen, angenehmen Reiz für mich, aber es kam mir nicht un-
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gewöhnlich vor, denn es war einfach Teil meines Erlebens. Als Teenager, in den unteren Klassen der Highschool, hatte ich dann Erlebnisse, über die ich mit niemandem sprach, und ich nannte den Tag, an dem ich ein solches Erlebnis hatte, »einen jener Tage«. An »einem jener Tage« wachte ich zum Beispiel am Morgen auf und hatte ein Gefühl, als sei alles eins. Und an einem anderen »jener Tage« hatte ich das Empfinden, als schaue etwas Fremdes aus meinen Augen, etwas zutiefst Geheimnisvolles, Uraltes und Ewiges. Ich merkte, dass ich ein bisschen aufpassen musste, wenn ich an »einem jener Tage« zur Schule ging, weil das, was mit meinen Augen in die Welt sah, immer von ganz Nahem und ganz genau hinsehen wollte. Ich musste darauf achten, mir die Leute nicht zu genau anzusehen, denn das, was geschah, hatte eine gewisse Macht, wie man vielleicht sagen könnte. Wenn ich anderen etwas zu lange in die Augen blickte, waren sie schockiert. Dann wussten sie nicht mehr, was sie tun sollten. Sie hatten nur ein Gefühl, als ginge etwas Unnormales vor sich, und schauten lieber weg. Meist konnte man ihnen an den Augen ansehen, dass sie Angst hatten, als ginge etwas vor sich, was sie nicht verstanden. Ich wollte die Leute nicht aus der Fassung bringen, deshalb vermied ich solche Begegnungen nach Möglichkeit. Dieser Zustand, in dem ich mit dem Gefühl herumlief, dass alles eine völlig andere Qualität hatte, und ich irgendwie eins war mit allem, zeitlos und ewig, dauerte meist ein bis drei Tage, dann war es
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vorbei. Einen »jener Tage« hatte ich drei, vier, fünfmal im Jahr. TS: Hast du nie mit deinen Eltern darüber geredet? Adya: Nein. TS: Auch nicht mit Lehrern oder sonst jemandem? Adya: Nein, ich habe nie darüber geredet. Das erste Erlebnis - und das stärkste überhaupt - hatte ich, als ich noch zur Grundschule ging. Ich war draußen auf dem asphaltierten Teil des Schulhofs mit den Kletterbalken, wo ich gern spielte. Ich blieb genau da stehen, wo der Rasen anfing, und schaute den Kindern zu, die auf dem grünen Gelände herumtollten. Auf einmal war es so, als würde dieses Kind in mir vollkommen beiseite gedrängt und etwas Unendliches durch mich hindurchschauen. Und der Gedanke kam mir in den Sinn... oder irgendwo war der Gedanke: Wir haben das Kind beiseite gedrängt. Ich befand mich am äußersten Rand des Bewusstseins, vollkommen abgedrängt. Und es war, als würde ich mit diesen Augen schauen... ich kann das heute nur so beschreiben, dass es so war, als schaute ich mit den Augen der Ewigkeit. Etwas schaute, etwas Uraltes, das doch zugleich sehr jung und unschuldig wirkte. Und ich schaute hin, und als Erstes wurde mir bewusst, dass niemand auf dem ganzen Schulgelände - weder Lehrer noch Kinder - die Dinge auf diese Art sahen. Und ich selbst hatte die Dinge auch noch nie so gesehen. Ich war fassungslos. Es machte mir nicht direkt Angst, aber ich war doch völlig außer mir. Eine ganze Weile blieb es so, fast den ganzen Tag. TS: Und du warst fünf oder sechs Jahre alt?
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Adya: Ich glaube, ich war in der dritten Klasse, also eher acht oder neun, schätze ich. TS: Und wie erklärst du dir deine Erlebnisse an einem »jener Tage« heute? Adya: Heute? Ich würde sagen, es war ein Vorgeschmack. Ein Vorgeschmack von etwas, das kommen sollte und eingetreten ist, von etwas, das viel dauerhafter sein würde. Es war wie ein kleiner Vorgeschmack, ein Vorgeschmack vom Erwachen, wie ein flüchtiger Einblick in gewisse Aspekte des Erwachens. TS: Ich wusste ja, dass du ein ungewöhnlicher Mensch bist, Adya, aber du bist der erste Mensch, den ich in dieser Welt der Spiritualität je kennengelernt habe, der eine glückliche Kindheit hatte. Adya: Das ist mir auch aufgefallen. Und es wundert mich. TS: Die meisten Leute, von denen ich weiß, dass sie sich zur Spiritualität hingezogen fühlen, sagen etwas in der Art von: »Als Kind bin ich von niemandem verstanden worden.« Soll heißen: »Ich gehörte nicht dazu; ich war ein Außenseiter.« Adya: Stimmt. Nun, ich wusste ja schon, dass ich nicht dazugehörte, und es hat mir nie Kopfzerbrechen gemacht. Ich wusste, dass ich mich von anderen Kindern ein bisschen unterschied. So war ich nun einmal. Ich war in gewissem Sinne ein Einzelgänger. Aber ich habe auch auf dem Schulhof gespielt und hatte immer einige Freunde. Ich hatte schon das Gefühl, dass bei mir von Anfang an etwas irgendwie anders war - nicht speziell, sondern nur anders. Aus unerfindlichen Gründen habe ich das nie als Mangel ausgelegt, wahrscheinlich dank
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meiner Eltern. In den ersten Klassen stellte es sich heraus, dass ich Legastheniker war. Ich glaube, heute würde man es eher Konzentrationsschwäche nennen. TS: Und warum? Adya: Weil ich mich nicht gut konzentrieren konnte. Außerdem hatte ich eine Menge Energie. Selbst ohne diese Diagnose hätte ich meine Erfahrungen nicht als Problem, etwas Anormales oder so was angesehen, das medikamentös oder sonst wie behandelt werden müsste, und das tue ich bis heute nicht. Ich war einfach ein Kind mit viel Energie. Und ich war Legastheniker. Ich sah Zahlen und Buchstaben verkehrt herum, und bei bestimmten Rechen- oder Leseaufgaben musste ich in eine andere Klasse und bekam Sonderunterricht. Rückschauend finde ich es erstaunlich, dass ich dadurch weder gestört wurde noch mich isoliert fühlte oder Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den anderen Kindern hatte. Es scheint fast unglaubhaft, dass ich keine Probleme damit hatte. Aber meine Mutter hatte ein tolles Mantra parat - sie pflegte immer zu sagen: »Ja, du bist anders.« Oder: »Ja, du bist sonderbar.« Denn sie war selbst auf wundervolle Weise sonderbar. Sie hatte viel Sinn für Humor. Wir alberten immer herum. Beide Eltern und überhaupt die ganze Familie, alle hatten viel Sinn für Humor. Und so lautete ihr Mantra: »Wir sind einfach wundervoll. Du bist sonderbar. Ich bin sonderbar. Und sonderbar sein ist absolut wundervoll, einfach fantastisch. Freu dich darüber!« Ich habe das als Kind einfach irgendwie angenommen. Es geglaubt. Nicht dass ich sonderbar für besser gehalten hätte. Es war ein-
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fach wunderbar, toll. Ich glaube, ich hatte wirklich Glück. Obgleich ich allerlei Erfahrungen gemacht und manches erlebt habe, wodurch ich mich zurückgesetzt, isoliert und so was hätte fühlen können, habe ich es nie so interpretiert. Ich dachte einfach, es gehört zu mir. TS: Was hat den Ausschlag gegeben und dich dazu motiviert, dich auf die spirituelle Suche zu machen? Adya: Das war eine merkwürdige Sache. Eines Tages, ich weiß nicht einmal mehr, wo, las ich etwas über Erleuchtung. Ich glaube, es war in einem Zen-Buch. Wie ich daran gekommen bin, weiß ich nicht mehr. TS: Wie alt warst du da? Adya: Ungefähr 19. Als ich das las, ging in mir etwas an wie eine Glühlampe. Es faszinierte mich. Ich dachte, was mag das sein? Mein Interesse war geweckt. Die Ermutigung, diesem Interesse auch nachzugehen, kam von einer Urgroßtante, die ausgeprägte übersinnliche Fähigkeiten hatte und in der Familie für alle möglichen Marotten bekannt war. Inzwischen ist mir klar, dass sie spirituell sehr wach war. Ich erinnere mich noch, wie sie ins Zimmer kam und ihre Augen aussahen, als würden sie brennen. Sie war damals in den Neunzigern und kannte sich in »Astralreisen« aus. Sie konnte ihren Körper verlassen und überallhin, und die Leute waren immer total geschockt, weil sie genau Bescheid wusste, was bei jedem ablief, und sagen konnte, wann jemand sterben würde oder wer gerade gestorben war. Sie sagte zum Beispiel: »Wollt ihr nicht Soundso anrufen? Er liegt nämlich im Sterben.« So hat sie lernen müssen, den Mund zu halten.
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TS: Klar. Adya: Ihre übersinnlichen Fähigkeiten hielt sie lieber verborgen. Aber eines Tages hat sie meiner Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erzählt. Wie dem auch sei, dieses Astralreisen klang, als könnte es Spaß machen, und es fiel zeitlich mit meinem neu erwachten Interesse an Erleuchtung zusammen. Also erstand ich ein Buch über Astralreisen. Darin waren Anleitungsschritte aufgeführt. Unter anderem sollte man sich zehn Minuten in Meditation versenken und danach den weiteren Schritten folgen. Na ja, mit dem Astralreisen ging es vollkommen schief. Ich war wie eine Rakete, die nie vom Boden abhob. Aber als ich mich das erste Mal zehn Minuten zum Meditieren gesetzt hatte, war ich fasziniert. Ich wusste nicht genau, wovon, aber ich rührte da an etwas, an einen Erfahrungsbereich, der mich wirklich faszinierte. Die Astralprojektion war schnell vergessen; stattdessen hatte ich das Gefühl, dass die Meditation etwas wahrhaft Bedeutendes für mich bereithielt. Ich begann also zu meditieren, und ich las außerdem weitere Bücher zum Thema. Nach wenigen Wochen geschah es, dass ich eines Morgens »erwachte« und mir darüber klar war, dass das Leben, das ich meins genannt hatte, nicht mehr meins war. Ich wusste einfach: »Dieses Leben ist nicht meins« - und das hatte etwas mit Erleuchtung zu tun. Wie es auch weitergehen und wohin es mich auch führen mochte, ich hatte keine Wahl mehr. Ein Wechsel vollzog sich, denn statt etwas nebenbei zu verfolgen, nahm es mich auf einmal ganz gefangen.
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Ich spürte intuitiv, dass es die Kontrolle über mich hatte. Es übernahm die Führung, und so sollte es mein Leben lang bleiben. Es war schon ein bisschen beängstigend, klar, aber zugleich total spannend. Dieser Augenblick war der Wendepunkt in meinem Leben. Jener Morgen. Es war keine Entscheidung von mir. Und es war auch kein Versuch meinerseits, dem Leiden zu entgehen. TS: Der 19jährige Stephen Gray war also nicht am Rande existenzieller Verzweiflung? Adya: Na ja, vielleicht ein bisschen. Die Geschichte, die man von sich erzählt, ist ja meistens etwas einseitig. Es gab durchaus schwierige Zeiten in meinem Leben schlimme Brüche und Augenblicke, die sehr, sehr schwer waren -, das will ich gar nicht bestreiten. Ich will auch nicht bestreiten, dass diese schwierigen Momente eine Rolle bei meiner Suche nach Erleuchtung gespielt haben. Ich kann nur sagen, dass mich von Anfang an interessiert hat, was Erleuchtung mit der Wahrheit oder der höchsten Wirklichkeit zu tun hat. Das war es, was mich antrieb. Ich wachte eines Morgens auf und dachte, dass nichts in meinem Leben mehr einen Sinn hatte, es sei denn, ich fand heraus, worum es hier ging. TS: Bist du zum College gegangen? Adya: Ja, ich bin erst eine Zeitlang aufs College gegangen und habe dann fünf oder sechs Jahre an unserem Community College weiterstudiert. TS: Was hast du denn studiert? Adya: Alles Mögliche. Direkt nach der Highschool hatte ich vor, Psychotherapeut zu werden. Ich hatte damals
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eine Menge Bücher über Psychotherapie gelesen, ich glaube, ein paar hundert. Interessanterweise hatte ich während meiner Grundschulzeit kaum etwas gelesen, wenn ich damit durchkam. Doch sobald mich dieser Erleuchtungstick packte, verschlang ich förmlich Bücher, die mich interessierten. Ich wollte Psychologe werden, aber nach meiner ersten Psychologievorlesung dachte ich, aha, jetzt weiß ich, worum es hier geht - das ist aber nicht das, was mich interessiert. Dann verfiel ich auf Soziologie und nahm an ein paar Soziologievorlesungen teil, und sofort war mir klar, dass auch das nicht das Richtige war. Schließlich schrieb ich mich für östliche Religionen ein, was der Sache schon näher kam, merkte aber bald, dass es auch das nicht war. Ich wollte weder Religionswissenschaftler noch Experte für religiöse Fragen sein. Und so verbummelte ich die ersten fünf, sechs Jahre meiner Collegezeit. Aus irgendeinem Grund war ich richtig gut in Philosophie, aber ich hatte schnell heraus, dass auch das nicht das Wahre war. Keiner von den Typen dort kam auf die Wahrheit zu sprechen, nach der ich suchte. Das war mir klar. So war ich zwar auf dem College, aber ich war doch nicht richtig da. Irgendwie wartete ich auf eine Art Berufung, und gleichzeitig suchte ich nach einer Antwort auf das, was in meinem Innern vorging. Und das fand ich nicht. Schließlich brach ich mein Collegestudium einfach ab. Mit 24 hörte ich auf, zum College zu gehen. Ich arbeitete in Fahrradläden und ging ganz in der Suche nach Erleuchtung auf. TS: Und wie hast du das gemacht?
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Adya: Ich habe schon mit ungefähr zwanzig Jahren meine Lehrerin gefunden. TS: Willst du uns erzählen, wie? Adya: Ich habe ihren Namen in einem Buch von Ram Dass gefunden, in Reise des Erwachens. Hinten im Buch waren spirituelle Zentren aufgelistet. Damals, vor 25 Jahren, reichte ein Anhang von etwa 50 Seiten für fast alle spirituellen Zentren der Vereinigten Staaten. Jetzt würden sie wahrscheinlich mehrere Bände füllen. Ich war am Zen interessiert und sah, dass es ein Zentrum in Los Gatos gab, nur zehn Minuten von da entfernt, wo ich wohnte, und dachte, du liebe Güte, ist ja kaum zu glauben, dass in Los Gatos jemand Zen unterrichtet. Meine Lehrerin Arvis Justi hatte keine Ahnung, dass sie in dem Buch war, denn sie machte keine Reklame für sich. Irgendwie war sie da hineingeraten. Als ich zu der angegebenen Adresse ging, erwartete ich, einen großen Zentempel oder so was vorzufinden, aber ich fand nur ein normales Haus mit einem Schild, dass man zur Hintertür kommen sollte. An der Glasschiebetür hinten begrüßte mich eine ältere Dame mit den Worten: »Komm rein.« So machte ich die Bekanntschaft meiner Lehrerin. Sie lehrte völlig unauffällig bei sich zu Hause. TS: Woher wusstest du, dass sie die richtige Lehrerin für dich war? Adya: Das ist auch wieder so eine merkwürdige Sache meine Spiritualität hat sich nie auf Lehrer konzentriert. Ich habe sehr nüchtern nach einem Lehrer gesucht, wie jemand, der Mathematik studieren möchte, nach einem
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guten Mathematiklehrer sucht. Mein Interesse galt der Erleuchtung, und ein spiritueller Lehrer sollte mir helfen, das zu finden, was ich suchte. Ich wollte niemanden verehren. Und es war auch kein Gedanke daran, dass jemand sich für mich einsetzen sollte. Das interessierte mich nicht. Allerdings war ich ein wenig enttäuscht, denn ich war zwanzig Jahre alt und hatte romantische Vorstellungen von Zen - von Roben, einem echten Tempel und dergleichen. Und da stand ich nun vor dieser kleinen Frau in einem ganz normalen Wohnviertel, zehn Minuten von da entfernt, wo ich aufgewachsen war! Wir meditierten in ihrem Wohnzimmer. Äußerlich war nichts daran besonders beeindruckend. Und doch bin ich aus irgendeinem Grund immer wieder dorthin gegangen, wieder und wieder. Mit der Zeit wurde mir klar, dass sie meine Lehrerin war. Ich habe noch andere Zentren besucht, überwiegend Lehrer, zu denen sie mich hinschickte, um an längeren Retreats teilzunehmen. Unter anderem hat sie mich zum Sonoma Mountain Zen Center geschickt, wo ich an langen Retreats teilnahm, denn sie selbst leitete keine solchen Retreats. Ich war also ungefähr sechs oder sieben Jahre bei Jakusho Kwong Roshi und nahm jedes Jahr an seinen Retreats teil. Die langen Retreats entfalteten ihre stärkste Wirkung, indem sie mir die Augen dafür öffneten, dass ich zu all den Wahrheiten, auf die in diesem ZenZentrum hingewiesen wurde, auch im Haus der alten Dame in meiner unmittelbaren Nachbarschaft Zugang hatte. Und das war ein echter Schock für mich, denn sie
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war so normal, machte nichts von sich her und spielte nicht den Lehrer oder so was. Das sah ich plötzlich. Und es verblüffte mich. Danach hatte ich kein Bedürfnis mehr, woandershin zu gehen. TS: Glaubst du, dass sie eine Erleuchtete war? Adya: Das musst du sie schon selbst fragen. TS: Lebt sie denn noch? Adya: Ja. Sie kommt jeden Freitag in unser Büro. Vielleicht triffst du sie dort. Sie etikettiert die Tapes in unserem Sangha. TS: Tatsächlich? Adya: Kein Scherz. Sie lehrt nicht mehr. Sie hat ein paar Monate, nachdem sie mich gebeten hat, zu lehren, damit aufgehört. Sie hat nicht bewusst mit dem Lehren aufgehört. Es war einfach irgendwie... zu Ende. TS: Warum sagst du, ich soll sie fragen, ob sie erleuchtet ist oder nicht? Adya: Weil ich nicht gern über das Erleuchtet- oder Unerleuchtetsein von anderen Menschen spreche. Und damals war es, so komisch das klingt, nicht besonders relevant für mich. TS: Das ist wirklich komisch. Adya: Ja. Ich weiß. Aus der Rückschau klingt es auch für mich komisch. Wenn ich an dem Punkt, wo ich jetzt bin, nach einem Lehrer Ausschau halten würde, wäre es außerordentlich wichtig für mich. Ich will nicht behaupten, dass es mir überhaupt nicht im Sinn lag, aber ich war eher daran interessiert - ganz einfach -, ob mir diese Person auf dem Weg weiterhelfen konnte. War sie weit genug vorangeschritten? Das war wirklich alles,
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was mich interessierte. Und ich sah klar, dass sie mir auf dem Weg weiterhelfen konnte. Sie war eindeutig erheblich weiter fortgeschritten als ich. TS: Und jetzt etikettiert sie Tapes? Adya: Ja. Ungefähr ein Jahr, nachdem sie mich gebeten hat, zu lehren, und selbst mit dem Lehren aufhörte, wurde bei ihr ein etwa golfballgroßer Tumor hinter einem Auge entdeckt. Und bei der operativen Entfernung dieses Tumors - das ist ja bekanntlich ein sehr heikler Eingriff - hat sie die Bewegungskontrolle über eine Körperseite verloren, außerdem hat es sich verheerend auf ihr Gedächtnis und einen Teil ihrer kognitiven Fähigkeiten ausgewirkt. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich davon wieder erholt hat - bis sie wieder Autofahren konnte und all das. Sie hat immer noch Erinnerungsschwierigkeiten. Ich sage ihr aber immer, dass ihr Gedächtnis etwa so ist wie meins, sodass sie sich nicht zu beklagen braucht. Seit ungefähr acht Jahren ist sie jetzt rekonvaleszent, und das ist mir eine wirkliche Lehre gewesen - mitzubekommen, wie sie die Lehrerrolle aufgab, als sie die Zeit dafür für gekommen hielt. Es war eine Lektion in echter Demut. Da ist jemand, der dreißig Jahre seines Lebens mit Lehren verbracht hat - in kleinem Rahmen, aber dennoch in Erfüllung dieser Rolle -, und jetzt kommt sie ins Büro, um Tapes zu etikettieren, weil sie weiterhin dem Dharma dienen will. Welch ein tolles Beispiel dafür, was es heißt, nicht an einer Rolle festzuhalten und sich nicht darum zu kümmern, wie man gesehen und beurteilt wird! Dem nicht entsprechen zu
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müssen, aber trotzdem alles anzunehmen, was geschieht. Sie lehrt mich immer noch, bis zum heutigen Tag. Sie lehrt mich, indem sie mir etwas zeigt, wozu meines Erachtens nur sehr wenige in der Lage sind. Sie kann tatsächlich ihre Rolle aufgeben und das Nächstliegende tun, ob es bekannt ist oder unbekannt, verborgen oder offenkundig. Das ist eine wirkliche Lehre für mich. TS: Okay. Zurück zum zwanzigjährigen Adya. Du jobbst also in einem Fahrradladen. Du meditierst. Du nimmst an einigen Retreats teil. Adya: Ich hatte mir einen kleinen Zendo hinten im Garten gebaut, meditierte zwei bis vier Stunden täglich, verschlang Hunderte von Büchern, schrieb viel und führte genau Tagebuch. Ich ging das Spirituelle von jeder Seite an, die mir vernünftig erschien. Mit Anfang zwanzig hatte ich ein ganz anderes Umfeld als jetzt. Ich hatte keine richtigen Freunde. Ich kannte niemanden meines Alters, der an diesen Dingen interessiert gewesen wäre. Ich sprach auch kaum mit jemandem darüber. Die meisten Übenden waren viel älter als ich, ich war also ziemlich allein. TS: Und dann trat irgendwann eine Wende ein? Adya: Die erste Veränderung vollzog sich, als ich 25 war. Ich war beim Üben in männlich-aggressiver Form an meine Grenzen gegangen - ich strengte mich ungeheuer an und war finster entschlossen, die Pforten der Erleuchtung zu erstürmen, denn diese Vorgehensweise war mir geläufig. Ich war immer sportlich und habe Radrennen gefahren. Und ich war Legastheniker. Ich
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lernte, was ich wissen wollte und musste, indem ich alle anderen in der Leistung übertraf. So, dachte ich, würde es auch bei spirituellen Dingen funktionieren. Und Zen begünstigt diese Einstellung ja durchaus: alle anderen im Meditieren zu übertreffen. Das scheint Zen unabsichtlich zu fördern. Daher habe ich mir das Äußerste abverlangt und bin sechs bis acht Monate lang zu Fuß zur Arbeit nach Palo Alto gegangen, immer mit der Frage im Kopf: »Was ist dies? Was ist dies? Was ist dies? Was ist wahr?« Ich war fest davon überzeugt, eines Tages verrückt zu werden, weil meines Erachtens kein Mensch eine solche innere Intensität über einen so langen Zeitraum aufrechterhalten konnte. Ich rechnete fest damit, eines Tages im Irrenhaus zu landen, denn ich war dabei, mich psychisch an meine Grenzen zu treiben. Beziehungsweise getrieben zu werden. Eines Tages saß ich in meinem Zimmer, als mich eine Welle von Intensität überflutete, und ich dachte, ich muss herausfinden, was wahr ist, und zwar jetzt sofort. Ich ging also in meinen Zendo, setzte mich zum Meditieren und strengte mich unglaublich an, um mein Denken zu beruhigen und einen Durchbruch zu erreichen. Ich wusste nicht einmal, wohin. Innerhalb einer Minute war es so, als würden sich sämtliche Bemühungen der letzten fünf Jahre auf etwa eine Minute konzentrieren. Da wurde mir plötzlich klar: Ich kann das nicht. Ich kann es nicht. Und sobald ich sagte: »Ich kann das nicht«, spürte ich, wie sich alles entspannte. Und als sich alles entspannte, gab es - anders kann ich es nicht beschreiben - eine innere Explosion. Es war, als hätte mich je-
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mand an eine Steckdose angeschlossen. Eine ungeheure Explosion fand in meinem Innern statt, mein Herz klopfte immer schneller, das Atmen wurde immer mühsamer, und ich dachte, ich müsste sterben, weil mein Herz schneller schlug, als ich es je erlebt hatte. Als Sportler war mir vertraut, wie sich mein Maximumpuls anfühlte. Aber jetzt war ich weit, weit darüber hinaus. Ich dachte wirklich, mein Herz würde bersten. An irgendeinem Punkt schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass diese Energie, was immer es war, mich umbringen würde. Ich hatte das Gefühl, das nicht mehr lange aushalten zu können. Und mein nächster Gedanke war, na schön, wenn das nötig ist, um herauszufinden, was wahr ist, dann bin ich bereit, jetzt zu sterben. Das war kein Mut und kein Machogehabe, sondern einfach Fakt. Einfach so: Ich bin bereit zu sterben. Basta. Das war's. Und sobald ich mir das sagte, in aller Aufrichtigkeit, verflüchtigte sich die Energie. Plötzlich war ich draußen im Raum... ich wurde einfach selbst zum Raum. Es gab nur noch Raum. Unendlichen Raum. Und in dem Raum konnte ich so etwas fühlen, als würden Einsichten heruntergeladen, aber das ging so schnell, dass ich nicht feststellen konnte, worum es sich handelte. Es war, als würden hundert Einsichten pro Sekunde übertragen. Als würde ein Computerprogramm in einen PC geladen. Ich spürte, wie etwas so schnell in mich heruntergeladen wurde, dass ich nichts im Einzelnen begreifen konnte, sondern nur das Aufblitzen von Einsichten mitbekam. Ich saß also da als Raum und bekam diese Einsichten in mein
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System geladen, und so ging es eine Weile, ich weiß nicht, wie lange, eine ganze Weile. Und dann hörte es auf, und irgendwann war klar, dass ich von meinem Kissen aufstehen musste, und ich tat, was ich immer tat: Ich stand auf, schaute zu der kleinen Buddhafigur auf meinem Altar und verbeugte mich vor ihr. Kaum verbeugte ich mich, musste ich laut lachen. Ich habe so ausgelassen gelacht wie noch nie. Das Witzigste war, dass ich dachte: »Du kleiner Mistfink«, womit ich den Buddha meinte, »jetzt habe ich dich fünf Jahre lang gejagt.« Und in dem Augenblick wusste ich, wem ich nachgejagt war. Es fiel mir ein. Und ich wollte es nicht glauben. Es war so wie: »Da bin ich doch tatsächlich dem hinterhergejagt, was ich längst bin.« Darüber musste ich furchtbar lachen. Und dann bin ich nach draußen gegangen. Das war das erste Erwachen. Das Merkwürdige ist, dass mir draußen, mitten in dieser ungeheuren Bewusstwerdung voller Glückseligkeit, Freude und Erlösung, eine leise Stimme, die ich von da an immer gehört habe, zuraunte: »Das war's aber noch nicht. Mach weiter.« Und ich dachte: Verflucht nochmal, darf ich nicht mal ein bisschen schwelgen? Nicht mal einen kurzen Augenblick? Aber die leise Stimme sagte: »Das war's noch nicht. Mach weiter.« Und ich wusste, dass es stimmte. Irgendwie wusste ich, dass die Stimme nicht das Erlebte schmälern wollte. Sie sagte nicht: »Dies hat keinen Wert, es ist nicht wahr, es hat keine Bedeutung für dich.« Sondern sie sagte: »Es gibt mehr zu erfahren. Das war noch nicht alles. Du
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hast zwar einen bedeutenden Teil erlebt, aber du solltest weitergehen. Bleib nicht hier stehen.« Aber in dem Augenblick hat sich alles verändert. In dem Augenblick hat sich meine spirituelle Sucher-Energie - dieses verzweifelte Getriebensein - für immer in Luft aufgelöst. Es ergab keinen Sinn mehr, sich abzurackern, um etwas zu erlangen, was ich längst hatte, oder etwas zu werden, was ich längst war, wie ich jetzt sicher wusste. TS: Wie würdest du diese Erfahrung nennen? Als junger Mensch hattest du den einen oder anderen »Vorgeschmack«; und dies, wie würdest du dies nennen? Adya: Ich würde es als Erwachen bezeichnen. TS: Okay. Adya: Aber ich verstand nicht, wozu ich erwacht war. Mir war nur klar, dass ich das war, was ich suchte. Ich wusste: Ich bin, was ich suche. Ich bin diese Wahrheit. Und sofort erhob sich die nächste Frage: Und was ist das? Ich bin das. Ich weiß, dass ich das bin. Aber ich weiß nicht, was das ist. Das war der Teil, den ich nicht wusste. Es war ein Erwachen, aber ein unvollständiges. Es war Teil des Bildes, vielleicht sogar ein großer Teil, aber es warf gleich darauf die nächste Frage auf: Was ist denn das? Und das war meine nächste Frage. Ich meditierte weiterhin viel. Äußerlich machte ich das Gleiche wie vorher, weil ich wusste, dass noch mehr auf mich wartete, und die Meditation meine Art war, es zu erforschen. Aber von da an fand das meiste, was sich spirituell tat, nicht auf dem Sitzkissen statt. Das meiste von dem, was in den darauffolgenden fünf oder sechs
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Jahren passierte, ereignete sich in meinem Alltagsleben. Ich war Sportler, und ich identifizierte mich stark mit meinem Sportlertum. So habe ich selbst nach diesem ersten Erwachen noch weitertrainiert, obwohl ich gar keine Rennen mehr fuhr, und bin Rad gefahren, als sei ich Radrennfahrer und Leistungssportler. Dann begann ich mich zu fragen: Warum mache ich das eigentlich? Warum trainiere ich, als sei ich ein Weltklassesportler, wenn ich es gar nicht bin? Mir dämmerte, dass es die Reste eines bestimmten Selbstbildes waren. Es war ein sehr gutes Selbstbild, könnte man sagen, denn es stand nicht nur für physische Fitness, sondern auch für alles, was sich mit dem Bild eines hochkarätigen Sportlers verbindet. TS: Man ist ein cooler Typ. Adya: Ja, ein cooler Typ. Man gehört physisch irgendwie zur Elite. Und obwohl ich mich im Lebensalltag nicht so verhielt, als fühlte ich mich anderen überlegen, war ich als Sportler sicher anderen voraus. Selbst als mir bewusst wurde, dass ich einfach nur mein altes Selbstbild pflegte, konnte ich nicht damit aufhören. Dann erkrankte ich mit etwa 26 Jahren an etwas, das niemand diagnostizieren konnte. Es fesselte mich ungefähr sechs Monate ans Bett. Etliche Funktionen waren in Unordnung, und mir ging es einfach schlecht. Ich war ständig krank, sechs Monate lang hatte ich eins nach dem anderen. Nach einem halben Jahr Krankheit ist natürlich nicht mehr viel von einem Sportler übrig. Und es war wunderbar, als mein Körper endlich den Sportler abgelegt hatte, denn es ist schwer, ein Elite-
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Sportler zu sein, wenn man schwach wie ein Kätzchen ist. Ich fand es wirklich toll. Es tat unendlich gut, von dieser Persona befreit zu sein. Es war unglaublich befreiend. Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen, dass die Story damit zu Ende war. Aber ein Jahr später, als ich wieder gesund war, wachte ich eines Tages auf und fing wieder an zu trainieren, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich fing einfach wieder von vorne an. Ich merkte es erst, als ich schon mittendrin war, und da dachte ich, jetzt mache ich's wieder genauso. Und ich wusste, was das heißt. Es hing mit diesem Selbstbild zusammen, mit dieser Persona. Ich hätte gerne einfach aufgehört, als es mir klar wurde, aber ich war noch nicht reif. Also wurde ich erneut krank, auch wieder für sechs Monate, nur noch schwerer. Ich hatte eine Nebenhöhleninfektion, bekam eine Lungenentzündung und Mononukleose. Das räumte endlich mit dem Selbstbild auf. Sobald ich die Persona durch die Krankheit los war, war auch das Verlangen, sie wieder hochzupäppeln, nicht mehr da. Das ist in meinen Augen spirituelle Entfaltung. Da wird man sein Selbstbild nicht beim Meditieren los... sondern sozusagen auf die harte Tour. Eine höhere Intelligenz übernimmt die Leitung und führt jeden von uns durch das hindurch, was erforderlich ist, um uns zum Loslassen zu bewegen. Zu jener Zeit befand ich mich außerdem gerade in einer vollkommen lächerlichen Beziehung, die sehr ungesund war. Diese Beziehung brachte alle ungelösten Schattenseiten ans Tageslicht. Man verliebt sich ja mit
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all seinen Schwächen, und so kommt das Schlimmste zum Vorschein. In meinem Fall förderte die Beziehung verschiedene Rollen zutage, zum Beispiel den Helfer, und das war natürlich eine totale Katastrophe. Zum Glück ging die Beziehung nach einiger Zeit zu Ende, aber sie glich meinen Erkrankungen - sie quetschte all die Bilder, all die Personen aus mir heraus, die zu sein ich mir angewöhnt hatte - den guten Menschen, den netten Kerl, den Helfer, etwas von der Art. Sie wurden aus mir herausgezerrt und kamen mir nun falsch und unecht vor, und der einzige Grund, warum ich mich ihrer bedient hatte, war die Angst gewesen, nicht ohne sie auskommen zu können. Wer wäre ich denn ohne sie gewesen? Ich wurde regelrecht aufgerieben zwischen den Erkrankungen und der Beziehung. Stück für Stück wurde die Falschheit aus mir herausgerissen. Und als das erledigt war, fühlte ich mich ziemlich frei. Es war herrlich. Ich war wieder in der Leere und mir wieder bewusst, wie ich auf einfache, menschliche Weise freier Raum sein konnte. Ich konnte einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen, ohne das Gefühl zu haben, jemand Bestimmtes zu sein oder als jemand Bestimmtes auftreten zu müssen. Der Wunsch, in einer bestimmten Weise gesehen zu werden, war mir aus Körper und Geist ausgetrieben worden. Und das war weder leicht gewesen noch lustig, aber das Endergebnis war schlichtweg fantastisch. Rückblickend kann ich wohl sagen, dass es mich auf das vorbereitete, was ich mein »endgültiges Erwachen« nennen würde. Dieses vollkommen klare
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Erwachen folgte den Austreibungen fast auf dem Fuße. Genau genommen fand es erst einige Monate später statt, nämlich kurz nach meiner Heirat mit Annie. Ich war 33 Jahre alt, frisch verheiratet und hatte eben eine richtige Berufslaufbahn eingeschlagen. Ich ging bei meinem Vater in die Lehre, in seinem Unternehmen, hatte also eine echte Karriere vor mir. Dadurch kam ich auch aus dem alten Geleise heraus, mein Leben einzig auf eine innere Form der Spiritualität auszurichten, wie ich es bisher immer getan hatte. Lange Zeit hatte ich mein ganzes Leben irgendwie in einer Warteschleife verbracht. Und dann, im Alter von etwa 33 Jahren, wurde mir klar, dass diese Schleife möglicherweise nie zum Abschluss kommen würde und ich besser daran täte, wieder mit dem Leben anzufangen. Also habe ich geheiratet und einen richtigen Job angenommen. Inzwischen betrachte ich die Bereitwilligkeit, mit der ich mich wieder auf das Leben eingelassen habe, als wichtigen Teil meiner spirituellen Entwicklung. Ein paar Monate nach Annies und meiner Hochzeit - noch dazu am St-Patrick's Day, was komisch ist, weil wir beide aus durch und durch irischen Familien stammen - kam es zum zweiten Erwachen. TS: Was meinst du, könnte die Heirat für die notwendige Stabilität gesorgt haben? Adya: Sehr scharfsichtig. Ja. Ich weiß es nicht hundertprozentig, aber ich habe seitdem selbst immer gedacht, dass bis dahin irgendetwas gefehlt haben muss, so etwas wie Stabilität. Ich hatte endlich eine berufliche Laufbahn eingeschlagen, mit der ich genügend Geld zum
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Leben verdiente, und war mit einem wunderbaren Menschen verheiratet. An diesem Punkt kam ich zu einer entscheidenden Erkenntnis. Als ich Annie kennenlernte und wir heirateten, wusste ich, dass dies mehr war, als ich je in einer Beziehung für möglich gehalten hätte. Ich hätte mir niemals eine Beziehung von dieser Qualität träumen lassen. So war es und so ist es. Und diese Erkenntnis spielte eine wichtige Rolle, denn eines Morgens wachte ich auf und sagte mir: »Diese Beziehung ist besser als alles, was ich mir in meinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können, und trotzdem genügt mir das nicht.« Nicht dass die Beziehung anders hätte sein müssen, nein. Aber obgleich sie vollkommen befriedigend war, dachte ich: »Das hat mich auch nicht zur Vollendung gebracht, es hat mich nicht an den Punkt in meinem Innern geführt, wohin es mich immer gezogen hat.« Diese Einsicht war ein Schock für mich. Man konnte offenbar sehr glücklich leben, seinen Weg gehen und relativ frei von Leiden sein und trotzdem zu der Einsicht kommen, dass das alles nicht reicht. Es berührt diesen inneren Raum nicht einmal. Aber es gab endlich Stabilität in meinem Leben, und ich glaube, dadurch konnte sich ein spontanes Loslassen anbahnen. Denn in menschlicher Hinsicht gab es noch einiges zum Loslassen. TS: Kannst du uns beschreiben, was geschehen ist? Adya: Es war ganz einfach, und es fing eigentlich schon an, bevor es anfing. In der Nacht vorher, kurz vor dem Einschlafen, saß ich noch auf der Bettkante, da schoss
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mir ein Gedanke durch den Kopf. Es war kein besonders wichtiger Gedanke, keine große Erkenntnis. Er war ganz schlicht und hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, woran ich generell gerade dachte. Mir ging der Gedanke im Kopf herum: »Ich bin bereit.« Ich nahm ihn zur Kenntnis; vielleicht fünf Sekunden lang nahm ich ihn zur Kenntnis. Dann schlief ich in dem schlichten, einfachen Gefühl ein, »bereit« zu sein. Nicht dass mein Geist oder mein Ego gesagt hätte: »Ich bin bereit, das Tor zu erstürmen.« Es gab nur diesen unschuldigen, schlichten Augenblick, wie ein Geschenk. Nur den einen Gedanken: »Ich bin bereit.« Ich dachte mir nichts weiter dabei. Ich schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Ich nahm ihn einfach nur zur Kenntnis. Und schlief ein. Am nächsten Tag stand ich früh auf, weil ich meine Lehrerin besuchen wollte und vor einem solchen Besuch immer eine Weile zu meditieren pflegte. Ich dachte an nichts Besonderes und setzte mich hin. Nach dreißig Sekunden hörte ich einen Vogel, ein kurzes Zwitschern. Und eine Frage, die ich noch nie gehört hatte und beim Üben noch nie gestellt hatte, erhob sich, nicht vom Kopf her, sondern eher vom Bauch her. Eine Frage erhob sich spontan, und sie lautete: »Wer hört diesen Ton?« Und sobald sich diese Frage stellte, stand alles Kopf bzw. fiel an seinen Platz. In dem Augenblick waren Vogel, Ton und Hören eins. Sie wurden im Wortsinne als exakt gleich erfahren... das Hören war ebenso wenig noch ich wie der Ton und der Vogel und alles andere. Es geschah urplötzlich, es ging sehr schnell, und alles war eins.
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Was mir als Nächstes auffiel, war irgendein Gedanke. Er war so fern. Ich wusste nicht einmal, worum es bei dem Gedanken ging. Aber es war ein Gedanke da, und dann die Erkenntnis, dass nicht ich das bin. Dass es ein Gedanke ist. Das, was erwacht und wach war, hatte auch nicht das Mindeste mit diesem Gedanken zu tun. Er ergab sich einfach. Beides war vollkommen voneinander getrennt. Es war keinerlei Identität mit dem Gedanken verbunden. Nach ein paar Minuten stand ich auf. Und hatte tatsächlich diese Vorstellungen, wie man sie mit fünf Jahren hat, im Kopf. Sehr merkwürdig. Ich dachte, mal sehen, ob ich der Ofen bin. Ich trabte vom Wohn- zum Küchenbereich, und siehe da, der Ofen war es. Dann trabte ich zum Badezimmer und schaute mir die Toilette an, weil ich etwas gänzlich Unspirituelles betrachten wollte, und verflucht nochmal, auch das Klo war es. Ich öffnete die Schlafzimmertür, spähte hinein, sah meine schlafende Frau Annie und dachte: Sie ist es. Sie ist es, und es ist das Gleiche. Ich wanderte in unserem kleinen 50-Quadratmeter-Häuschen umher, in dem wir seit sechseinhalb Jahren wohnten, schaute mich darin um, und alles war es, alles war dasselbe. Da stand ich also im Häuschen, und interessanterweise völlig emotionslos. Ohne jedes »Yippie!« oder »Mein Gott!« Nichts von alledem. Alles wurde vollkommen klar gesehen und auch nicht mit irgendwelchen Erfahrungszuständen verwechselt, denn es gab keinen solchen Zustand. Dann ging ich ein paar Schritte durchs Wohnzimmer, das ja nur ein paar Schritte groß war. Bei diesen Schritten erwachte das Bewusstsein voll.
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Es ist schwer zu beschreiben, aber es war völlig getrennt vom Körper, ganz und gar. Und an diesem Punkt sah ich eine Kette von Bildern und wusste sofort - das heißt, dieses Erwachte wusste sofort -, dass ich an diese Bilder, die man als Inkarnationen bezeichnen könnte, gefesselt gewesen war. Ich hatte gedacht, das wäre ich. Ich hatte in den Bildern geschlafen, und es war vollkommen klar, dass dies jetzt davon getrennt war. Dies war nicht mehr daran gefesselt. Es war nicht mehr auf eine jener Formen einschließlich der derzeitigen beschränkt. Und ich sah, dass die derzeitige Form kein bisschen bedeutender oder realer war als eine frühere Form. Da war nur noch diese Erwachtheit, einzig sie selbst. Keine Form, keine Gestalt, keine Farbe, kein Nichts. Nicht irgendwo, sondern überall. Und in dem Augenblick war ein Wissen da, dass diese Erwachtheit zwar alles war, dass sie aber auch noch darüber hinausging. Denn sollte sich dieses Etwas vollkommen auflösen, sollten alle Formen und alles, was ich sah, verschwinden, würde dies dennoch nicht weniger werden, absolut nicht. Es konnte nicht abnehmen. So etwa war das Erwachen. Dazu gesellte sich noch das Gefühl, größer zu sein, außerhalb des Körpers, und dass der Körper ein inneres Element dieser Wachheit, dieses reinen Geistes war. Der Körper war darin und nicht ich im Körper. Und dann kam diese Erwachtheit oder Bewusstheit auch wieder in den Körper zurück. Sie war zwar noch außerhalb, aber jetzt war sie zugleich innen und außen. Sie blieb nicht einfach draußen, sondern ergriff wieder Be-
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sitz, nur ergriff sie diesmal ohne Verwirrung, ohne jede Identifikation Besitz. Es war so, wie wenn man sich morgens ankleidet - man zieht einfach etwas an. Man hält sich nicht für seine Kleidung; die ist nur etwas, das man trägt. Es war sonnenklar, dass diese Form, diese bestimmte Persönlichkeit, diese vormals als Stephen Gray bekannte Person bloß die Kleidung war: Es war seine gegenwärtige Inkarnation, das, was er tragen und wodurch er funktionieren sollte. Schön war die Freude, die jetzt aufkam. Eine große Freude an der Kleidung, an der Inkarnation. Mit der Person stellte sich eine solche Intimität und kindliche Freude ein! Fast wie bei einem kleinen Mädchen, das ein Aschenputtelkleid anzieht und bei einem Blick in den Spiegel findet: »Wow, ist das cool!« Und es war nur dieses Erstaunen über die Form da. Dann tat ich noch einen letzten Schritt, und es war, als sei es der erste Schritt meines Lebens. Es war ein Gefühl, als wäre ich gerade aus dem Mutterleib gekommen. Als sei ich ein Kind, das eben zum ersten Mal in seinem Leben den Fuß auf die Erde gesetzt hat. Und ich schaute tatsächlich auf meine Füße und ging immerfort im Kreis herum, weil es solch ein Wunder war - das Gefühl des Fußes auf dem Boden, das Gehen und das Gefühl, dass es ein Wunder ist, die Füße auf den Boden zu stellen, ein absolutes Wunder. Und jeder Schritt war der erste. Alles war neu, und alles weckte ein Gefühl von Nähe, von Staunen und Dankbarkeit. All diese Dinge geschahen kurz hintereinander. Das Erwachen aus der Form heraus, die Inbesitznahme der
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Form, das Einssein mit der Form und die dankbare Erkenntnis, nicht die Form zu sein. Es war, als sei alles gut. Ich brauchte nicht außerhalb des Körpers zu bleiben; ich brauchte nicht außerhalb von irgendetwas zu sein, denn alles war dieses Eine. Damals wusste ich nur, dass es ein Wunder ist: dieses Leben, dieser Körper. Das ist der Himmel, so kaputt es ist, so albern es ist, so wunderbar und schrecklich es ist. Und es ist wirklich ein Witz - da geht man an Gottes Hand und sucht nach Gott. So war es. Es war im Grunde ganz einfach. Sehr, sehr einfach. Was es auch noch mit sich brachte, war die Freude am Gewöhnlichen. Es musste nicht länger etwas Außergewöhnliches passieren - es mussten sich keine außergewöhnlichen Erfahrungen mehr einstellen, denn das Gewöhnliche machte genügend Freude. Ob ich über spirituelle Dinge und die so genannte Wahrheit redete oder über Fußball und den letzten Lebensmitteleinkauf, spielte plötzlich keine Rolle mehr. Und bis heute sage ich den Leuten immer - obwohl sie es mir oft nicht abnehmen: »Für mich sind Satsang und eine beliebige Unterhaltung in etwa das Gleiche.« Das Gewöhnliche befriedigt total. Natürlich ist es sehr befriedigend, das Erwachen von jemandem mitzuerleben oder auch nur mitzubekommen, wie er oder sie sich ein bisschen wandelt. Das ist so etwas wie ein Highlight, aber es überwiegt doch die Liebe zum Gewöhnlichen, und das ist für mich mit das Schönste - dass in meinem Leben nichts Außergewöhnliches mehr geschehen muss. Allein schon das Dasein ist eine Art Wunder.
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TS: Adya, du nennst dies das »endgültige Erwachen«. Was wäre, wenn du in den kommenden Jahrzehnten noch weitere Erleuchtungserlebnisse hättest, die dir noch tiefere Dimensionen der Erkenntnis erschließen würden? Hältst du das für möglich? Adya: Ich bin froh, dass du darauf zu sprechen kommst. Ich nenne es aus einem bestimmten Grund »endgültig«. Wenn ich »endgültig« sage, meine ich nicht unbedingt, dass kein weiteres Erwachen mehr stattfinden könnte. Natürlich kann das geschehen. Wer weiß das schon! Nicht wahr? Man kann ja nie wissen. Schließlich haben wir es mit dem Unendlichen zu tun. Was ich mit »endgültig« meine, ist, dass ich bei diesem Erwachen vollkommen klar erkannte, was ich bin. Es wurde ohne jegliche Emotion in einem vollkommen reinen Bewusstsein erkannt. Es erforderte keine Energie. Es löste kein Hochgefühl aus. Wenn ich »endgültig« sage, meine ich, dass ich klar sah. Es war nichts mehr da, was gesucht werden musste; es war keine Frage mehr da, die eine spirituelle Antwort erfordert hätte. Ich nenne es »endgültig«, weil ich es wie eine Demarkationslinie, einen Punkt empfand, wohin mich ein bestimmtes Leben, eine bestimmte Reise geführt hatte, und kaum war ich darüber hinaus, war nichts mehr so wie vorher. Die Reise, auf die ich mich begeben hatte, war offensichtlich und eindeutig beendet. Sie war vorbei. Und sie würde nie wieder neu anfangen. Das ist für mich »endgültig«. Heißt das, es gäbe sonst nichts mehr zu sehen? Es gibt immer noch etwas zu sehen.
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TS: Du hast gesagt, dass dir bei deinem ersten Erwachen mit 25 Jahren bewusst geworden ist, dass du nach dir selbst gesucht hattest, dass aber immer noch eine Frage offenblieb, nämlich: »Was ist dies?« Adya: Was ist dies? Ach ja. TS: Was hast du denn nun bei deinem endgültigen Erwachen herausgefunden? Adya: Das ist eine gute Frage (lacht). Ich will ja mein Bestes tun, aber diese Frage lässt sich unmöglich beantworten. TS: Du stellst die Frage gar nicht mehr? Adya: Nein, das Komische ist, dass die Antwort auf diese Frage die ist, dass die Frage verschwindet. Das ist die Antwort auf die Frage. Und nicht, dass du eine gute Antwort erhältst, die du in die Tasche stecken könntest. TS: Man könnte nicht Liebe, Weisheit oder so was sagen? Adya: Nein, nein. Es liegt viel tiefer als Liebe und Weisheit. Es ist da, wo Liebe und Weisheit entspringen. Es ist paradox, aber je besser wir uns selbst kennen, je besser wir erkennen, was wir sind, umso besser erkennen wir, dass das, was wir sind, seinem Wesen nach nicht erkannt werden kann. Du und ich, wir sind also das Unbekannte, und da das Unbekannte unbekannt ist, kann es nicht erkannt werden, und zwar nicht aus Unvermögen, sondern weil das Unbekannte per Definition unbekannt ist. Im Buddhismus wird es Leere, Nirvana oder Shunyata genannt. In manchen Sekten des Judaismus galt es traditionell als Häresie, den Namen Gottes auch nur in irgendeiner Form zu erwähnen. Ich glaube,
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Vorschriften dieser Art sind durch diese paradoxe Erfahrung entstanden - dass du erkennst, was du bist, und zugleich erkennst, dass dies ein Mysterium bleibt. Siehst du, wir können es nicht benennen. Wir können nichts über das reine Potenzial sagen. Es gibt da nichts zu erkennen. Erkennen können wir nur, wenn sich das Potenzial manifestiert hat und etwas geworden ist. Doch bis dahin ist es reines Potenzial. Es ist reine Leere oder reine Intelligenz oder wie immer du es nennen willst. Das ist für mich das Paradoxe - ich weiß inzwischen, was ich bin, aber ich weiß jetzt auch, dass ich das bin, was nie gewusst werden kann, denn so ist es nun einmal seinem Wesen nach. Das Komische daran ist, dass du fast wieder da herauskommst, wo du angefangen hast. Du beginnst damit, dass du nicht weißt, wer du bist oder was die letzte Wirklichkeit ist. Der Unterschied ist nur, dass du am Ende weißt, dass du das bist, was nicht gewusst werden kann. Das Mysterium wird seiner selbst bewusst. Es erwacht in sich selbst. Es erkennt sich selbst; es ist das »ICH BIN«, wie es in der Bibel heißt. Aber du bekommst keine Definition, nur das »ICH BIN«. Das ist das Mysterium, das sich selbst erklärt. Das ist alles. TS: Eine der interessanten Geschichten, die ich von dir gehört habe, ist die, dass du deiner Zen-Lehrerin erst drei Monate später von deinem zweiten Erwachen erzählt hast. Das hat mich gewundert. Adya: Ich sah keine Veranlassung dafür. Es fühlte sich so vollkommen an. In gewissem Sinne war es außergewöhnlich, aber zugleich auch ganz gewöhnlich. Ich hat-
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te nicht das Gefühl, gleich losrennen und es jemandem erzählen zu müssen. Ich hatte nicht das Empfinden, als brauchte ich eine Bestätigung. Ich musste ihm kein Gehör verschaffen. Ich brauchte niemanden, um es zu verstehen. All diese psychologischen Bedürfnisse waren weggefallen. Und nach drei Monaten habe ich es nur deshalb meiner Lehrerin erzählt, weil ich darüber nachgesonnen hatte und dachte, oh, das ist es, wovon sie 15 Jahre lang geredet hat und warum sie so viel Herz und Mitgefühl an meine Entwicklung verwendet. Ich dachte, es könnte eine Freude für sie sein, es zu erfahren. Daher kam der Impuls, es ihr zu erzählen. Aber es fehlte jedes kleinste Verlangen, und das ist eines der sicheren Merkmale. Du hast kein Bedürfnis, es jemandem zu erzählen oder dir den Rücken tätscheln zu lassen. TS: Du hast erwähnt, dass du in einem bestimmten Lebensabschnitt Unmengen Bücher gelesen hast. Waren Bücher dabei, die tatsächlich etwas bei dir bewirkt haben? Adya: Ja! Das erste Buch ist eins, auf das du bestimmt nie kommen würdest, und es interessiert mich jetzt auch gar nicht mehr. Aber damals machte es einen starken Eindruck auf mich. Ich habe dieses Buch mit 24 Jahren gelesen, kurz vor meinem ersten Erwachen. Es war die Autobiographie der heiligen Teresa von Avila. TS: Interessant. Adya: Wahrhaftig! Denn ich war ja Buddhist, und der Buddhismus ist nichttheistisch. Und doch fand ich mich unwiderstehlich zur christlichen Mystik hingezogen, und eins der ersten Bücher, das ich las, war ihre Auto-
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biographie. Ich war in einem Buchladen, schlug das Buch auf und war schon nach zwei Seiten Hals über Kopf und bis über beide Ohren verliebt. Ich verliebte mich in diese Heilige, von der ich noch nie gehört hatte. Das war mir völlig unbegreiflich. Aber es war etwas sehr, sehr Starkes. Ich habe ihre Autobiographie förmlich verschlungen und anschließend noch fünf, sechs, sieben Bücher über sie und ihr Leben gelesen... zwei Jahre lang, in Kombination mit Tonnen von Büchern über die christliche Mystik. Aber ihr Buch hat mir die Tür geöffnet, und erst rückblickend habe ich erkannt, worum es da ging und was mir meine Beschäftigung mit der christlichen Mystik überhaupt einbrachte. Sie hat mir geholfen, mein Herz zu öffnen. Das hat meine Zen-Praxis nicht direkt geschafft; ich brauchte etwas, das mir half, mich emotional weit, weit zu öffnen, und dazu war Zen ein bisschen zu trocken. Und so fand ich natürlich, was nötig war, nämlich dieses Buch. Es hat mich emotional wirklich weit geöffnet. Es war das perfekte Mittel zum perfekten Zeitpunkt. Ein wirklich wichtiges Buch für mich. Das zweite Buch, das für mich von herausragender Bedeutung war, ist Ich bin von Nisargadatta Maharaj. Mit 33 Jahren hatte ich ein paar Auszüge daraus gelesen, aber es sagte mir nicht viel. Nach dem Erwachen las ich es, und es war die klarste Beschreibung meines eigenen Erlebens, die ich vorher oder nachher je gelesen habe. Es war, als hätte j emand meine Erfahrung in Worte gefasst. Als sei sie in diesem Buch widergespiegelt, und ich betrachtete sozusagen mein Spiegelbild. Das war
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ein wirklich entscheidendes Buch, nicht so sehr für meine Suche, sondern mehr als Spiegelbild meiner selbst. Ich will noch etwas sagen, was zwar nicht ganz zum Thema gehört, aber auch etwas mit dem Lesen zu tun hat. Obgleich ich in meinen Vorträgen - wie viele spirituelle Lehrer - immer darauf hinweise, dass man das Erwachen nicht mit dem Verstand begreifen kann und irgendwann das Bücherlesen hinter sich lassen muss, darf ich wohl mit Blick auf meine eigenen zurückliegenden Erfahrungen sagen, dass ich die Wahrheit zwar nicht durch Bücher verwirklichen konnte, weil das unmöglich ist, dass aber das Lesen doch eine ungemein wichtige Rolle bei mir gespielt hat. Es war allerdings ein zweischneidiges Schwert. Bisweilen waren all die Vorstellungen, Ideen und miteinander konkurrierenden Konzepte hinderlich, aber trotzdem ist das Lesen ein sehr wichtiger Bestandteil meiner Reise zu mir selbst gewesen. Ich habe manchmal mithilfe von Büchern meinen Geist leeren können. Bücher haben mir gelegentlich in gewissen Dingen Klarheit verschafft. So gesehen, wird die intellektuelle Seite der Spiritualität die oft aus gutem Grund herabgesetzt wird - zuweilen auch unterbewertet. Zwar ist die Wahrheit nicht in Büchern zu finden, aber Bücher eröffnen uns manchmal die Möglichkeit, im Kopf gewisse Verbindungen herzustellen... und im Herzen. Manchmal tragen Bücher entscheidend zu einer Öffnung bei. Darum glaube ich, dass der Intellekt sofern er nicht die Herrschaft an sich reißt und es nur noch um Verstandesdinge geht - durchaus sein Teil zum
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spirituellen Erwachen beitragen kann. Wenn man zur rechten Zeit das richtige Buch liest, kann dadurch ein Erkenntnisfunke aufblitzen. Dann hat es weitgehend den gleichen Effekt wie ein Lehrer. Wir sitzen hier in einem Zimmer und reden miteinander, nicht wahr? Dabei geht es um intellektuelle Inhalte, aber eigentlich versuchen wir, beim Zuhörer eine tiefere Weisheit zu entzünden. Und das vermag ein Buch ebenso wie das Zusammensein mit einem Lehrer. Du liest einen Satz, und schon zündet es bei dir. Nicht im Verstand, sondern auf der Ebene tieferer Einsicht. Du weißt, dass es eine tiefere Einsicht ist, weil dein ganzer Körper dabei mitschwingt. All deine Sinne und Muskeln sind beteiligt. Auf diese Weise können Worte wirklich von Nutzen sein, indem sie die Lebendigkeit in uns entzünden. Irgendetwas in uns sagt dann vielleicht: »Ach ja, das weiß ich. Ich hatte nur vergessen, dass ich es weiß.« Worte fördern manchmal etwas aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein. TS: Meinst du, dass beim Lesen eine Art Übertragung stattfinden kann? Adya: Ja, absolut. Alles, was wir tun, dient der Übertragung und zeugt von der Präsenz dessen, wer wir sind. Wir brauchen nicht einmal in physischem Kontakt mit jemandem zu sein. Die Dinge selbst geben etwas von der Person weiter, die mit ihnen zu tun hatte. Ein Buch übermittelt das Bewusstsein oder die Präsenz seines Autors. Wenn du sensibel genug bist, kann es spannend werden. Sobald du dafür sensibilisiert bist, kannst du in jedem Buch die Präsenz des Autors spüren. In spiritu-
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ellen Büchern, unspirituellen Zeitungsartikeln, in allem. Du kannst den Bewusstseinszustand des Autors spüren, und das kann natürlich eine starke spirituelle Wirkung haben. Worte und Bücher können so etwas übermitteln. Darum hat meines Erachtens ein Buch wie Ich bin eine solche Macht. Sie liegt nicht nur in den Worten. Sie gibt das Wesen wieder, das diese Worte äußert. Darum werden Menschen davon gefesselt. Alle Worte, die in dem Buch vorkommen, sind schon einmal gesagt worden, es liegt also eindeutig nicht an den Worten, sondern an dem, der diese Worte äußert. TS: Wenn Menschen in deiner Gegenwart sind oder eines deiner Bücher lesen und spüren, dass eine Übertragung stattfindet, was geschieht dann deiner Meinung nach? Adya: Es findet eine Begegnung statt; das ist die eigentliche Übertragung. Leere begegnet Leere. TS: Verwandelt das den Schüler unweigerlich? Adya: Wie kann ich das am besten sagen? Es ist das kraftvollste Element der Lehre, so könnte man es vielleicht ausdrücken. Ich sage es nur zögernd, weil die Leute sich in diesem Fall gern so verhalten, als täte der Lehrer alles für sie. Was nicht stimmt. Der Lehrer kann ein Feuer entzünden, aber er kann den Weg nicht für dich gehen. Die Übertragung wirkt besonders kraftvoll bei denen, die einen Widerhall des Gesagten in sich spüren. Wenn es bei ihnen seinen Widerhall findet, wird ein Potenzial freigesetzt. Sobald das Potenzial zur Verfügung steht, müssen sie selbst die Verantwortung für das übernehmen, was geschieht. Sitz nicht einfach herum und warte auf den Lehrer
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oder darauf, dass du vom Lehrer die Übertragung erhältst, denn dadurch entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Und sobald jemand psychisch oder emotional in Abhängigkeit gerät, wird die Wirkung einer Übertragung enorm verringert. Sie wird quasi auf der Stelle abgetötet, so, als würde Feuer mit Wasser gelöscht. Wir müssen die Verantwortung für unsere Transformation selbst tragen, denn ein Lehrer kann auf gar keinen Fall alles für uns tun. Wir müssen selbst aktiv werden. Wir müssen unsere eigenen Augen gebrauchen. In der Präsenz von jemandem zu weilen mag zwar spontan ein Feuer bei dir entzünden, aber du selbst musst dieses Feuer in Gang setzen.
Weitere Informationen
Weitere Informationen über Veranstaltungen mit Adyashanti sowie eine komplette Liste seiner Bücher, Videos und Audioaufhahmen sind auf seiner Website zu finden: www. adyashanti. org Auf Englisch sind auch folgende Bücher erschienen: The Impact of Awakening My Secret Is Silence