Joachim Jessen Detlef Lerch
Der Zahltag
Roman
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des ...
88 downloads
886 Views
814KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Joachim Jessen Detlef Lerch
Der Zahltag
Roman
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
Der Zahltag Copyright © 1976 by Joachim Jessen und Detlef Lerch Bis zum bitteren Ende Copyright © 1983 by Joachim Jessen und Detlef Lerch Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: NDR/Tele Press Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Joachim Jessen und Detlev Lerch gelang mit ihrem Krimi-Erstling »Der Zahltag« gleich der große Wurf. Als Tatort-Folge 65 wurde die Romanvorlage mit Kommissar Heinz Brammer (Knut Hinz) in der Hauptrolle vom NDR verfilmt und am 15.08.1976 ausgestrahlt. Ein Kind wird gekidnappt und die Entführer fordern vom Vater nicht etwa Lösegeld, sondern einen Banküberfall. Der verzweifelte Vater begeht die Tat und lenkt die Polizei ohne sein Wissen von dem Entführer ab, der nur wenig später einige benachbarte Banken überfällt. Der Coup gelingt und der Täter kann entkommen… »Bis zum bitteren Ende« erzählt die tragische Geschichte zweier Brüder. Reinhardt stand immer im Schatten seines Bruders Burkhardt. Der eine – selbstbewußt und stark, der andere – weich und sensibel… Auch Reinhardts Frau Ingrid findet schnell heraus, wer von beiden der lebenstüchtigere ist und versucht, Reinhardt gegen Burkhardt auszutauschen. Doch das mißlingt auf tragische Art und Weise…
DER ZAHLTAG
1
Lirum, Larum, Löffelstiel… Die beiden Kinder sangen und hüpften auf einem Bein von einer Platte des Gehweges zur anderen. Es war brütend heiß. Das kleine Mädchen verabschiedete sich von ihrem Spielgefährten. Sie hüpfte ihrem Schatten nach, die lustigen blonden Rattenschwänze flogen rhythmisch hin und her. Die Brottasche schlug dabei gegen ihren Po. Ein großer Schatten bedeckte den ihren. Sie blickte hoch und sah in ein freundliches Gesicht. »Angelika?« Sie nickte. »Angelika Merten?« Sie nickte wieder. »Dein Papa schickt mich. Er muß noch eine Kleinigkeit für dich besorgen. Ich soll dich schon nach Hause bringen.« Die kleine Hand faßte nach der großen Hand. Der Mann lächelte, als er in Richtung Parkplatz ging. Das kleine Mädchen neben ihm begann wieder zu hüpfen. Die Brottasche schlug gegen ihren Po. Die Passanten lächelten. Wohl über das Wetter und über den freundlichen Mann mit dem hüpfenden Mädchen. Keiner achtete darauf, als der Mann und das kleine Mädchen in einen giftgrünen Volkswagen stiegen und losfuhren. Es war wirklich heiß in diesem Jahr. Eine Bombensaison. Lirum, Larum, Löffelstiel…
Edgar Merten ging vor der Buchhandlung auf und ab. Angelika war schon zehn Minuten überfällig. Demnächst muß Inge die Kleine vom Kindergarten abholen, wenn diese Trödelei überhandnehmen sollte. Vor knapp vierzehn Tagen ist Angelika fünf Jahre alt geworden. Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Ob sie schon alleine nach Hause gegangen ist? Ärgerlich schnippte er die Zigarette weg, steckte die Hände in die Hosentaschen, schaute noch einmal die Straße hinunter, aber Angelika war nicht zu sehen. Er wollte nicht länger warten. Schließlich hatte er nur eine Stunde Mittagspause und fünfzehn Minuten waren schon flöten. Sie wird schon vorgelaufen sein, sagte er sich und machte sich auf den Weg. Vor dem Hause spielte sie nicht. Sie wird bei Inge in der Küche sitzen und vom Kindergarten erzählen. Er öffnete die Gartentür, blickte über den von ihm gestern gemähten Rasen und schloß die Haustür auf. »Ist Engelchen schon da?« rief er in Richtung Küche und zog sich sein Jackett aus. »Nein. Wieso, hast du sie nicht mitgebracht?« Seine Frau kam auf ihn zu. »Ich hab’ ’ne Viertelstunde auf sie gewartet und dann dachte ich, sie wäre vorgelaufen, weil früher Schluß war im Kindergarten oder so.« »Na, setz dich hin. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Ich gehe zur Ecke und schaue nach ihr.« Die Haustür schlug zu, und er machte sich an die Schweinerippchen. Er wollte gerade ein Muster in den Schokoladenpudding ziehen, als das Telefon klingelte. Edgar Merten zog seine
langen Beine unter dem Tisch vor und ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Beim dritten Anschlag nahm er den Hörer auf und meldete sich. »Edgar Merten.« »Herr Merten, hören Sie genau zu, ich sage alles nur einmal. Wir haben Ihre Tochter entführt. Sie befindet sich…« Die Stimme klang irgendwie verzerrt. So als ob jemand ein Handtuch über die Sprechmuschel pressen würde. »Was? Hallo, wer spricht da?« »Seien Sie still. Sprechen Sie mit niemandem darüber. Vor allen Dingen keine Polizei, wenn Ihnen das Leben Ihrer Tochter etwas wert ist. Wir spaßen nicht. Seien Sie jetzt vernünftig und verhalten Sie sich so, als wäre nichts geschehen. Sie hören von uns. Wir rufen heute abend wieder an.« Es knackte. Die Leitung war tot. »Hallo! Hören Sie! Was ist los?« Merten schlug auf die Gabel. Nichts. Er fühlte sich leer. Achtlos ließ er den Hörer fallen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Die Haustür klappte. »Also, Edgar, ich verstehe das nicht. Angelika ist doch nicht… Edgar! Was ist mit dir? Ist dir nicht wohl?« »Sie kommt nicht. Sie kommt nicht.« Er weinte. »Angelika!« schrie die Frau. »Was ist mit ihr? Ist sie etwa…« »Sie ist entführt worden. Sie haben sie entführt.« Lautlos sackte die Frau zusammen. Edgar Merten schrie leise auf. »Inge! Inge! Komm zu dir!« Er schlug ihr mit der flachen Hand leicht ins Gesicht. Nach wenigen Sekunden öffnete sie die Augen. Sie lag auf dem Boden, ihr Kopf ruhte in seinem Schoß. »Oh, Edgar – sag, daß es nicht wahr ist. Sag, daß es ein widerlicher Scherz von dir war. Sag es!« schrie sie.
Er preßte ihr die Hand auf den Mund. »Sei ruhig. Es darf uns keiner hören.« Die Anspannung in ihrem Körper löste sich in einem Weinkrampf. Sie schüttelte sich und ihre Hände krallten sich in seine Schenkel. »Warum nur? Warum unser Engelchen?« »Ich weiß es nicht, Inge. Ich weiß es nicht. Wenn bei uns was zu holen wäre, ja dann. Aber mit meinem Gehalt als Verkaufsfahrer? Das muß ein Irrtum sein. Inge, das ist ein Irrtum! Die haben Angelika irrtümlich entführt. Die denken, wir sind reich.« »Edgar, wir müssen sofort zur Polizei gehen. Sie können doch noch nicht weit weg sein.« »Nein, auf keinen Fall zur Polizei. Damit bringen wir Angelika in größte Gefahr. Laß uns in Ruhe überlegen.« Er half seiner Frau beim Aufstehen. Beide gingen in die Küche. Sie rauchten. Nach einer langen, schweigsamen Minute meinte Edgar Merten: »Hör zu, ich muß bis ungefähr fünf Uhr noch Ware ausfahren. In dieser Zeit verläßt du nicht das Haus. Öffnest nicht, wenn es klingelt und nimmst auch das Telefon nicht ab. Wir müssen uns alles sehr genau überlegen. Hörst du, Inge?« »Ja.« »Wir werden beim Kindergarten anrufen und sagen, Angelika wäre krank geworden. Oder noch besser, deine Eltern hätten sie überraschend nach Lübeck geholt. Wir dürfen jetzt nichts falsch machen, bis wir genau wissen, was los ist.« Seine Frau starrte ins Leere. »Hörst du, was ich gesagt habe?« Er schüttelte sie. Inge Merten hob den Kopf und nickte. Er stand auf und zog seine Jacke über. »Ich geh’ jetzt.« Als er kurz nach fünf Uhr zurückkehrte, saß seine Frau noch immer am Küchentisch.
Er küßte sie auf die Stirn. Dann setzte er Wasser auf, um Kaffee zu kochen. »Es hat einmal an der Haustür geklingelt«, sagte sie tonlos. »Es waren Hie Nachbarskinder. Ich hörte sie lachen.« Sie begann wieder zu weinen. »Edgar, was wollen die von uns? Was wollen sie nur?« Edgar Merten nahm seine Frau in den Arm. Ihre Augen waren rot. Er streichelte ihr Haar. Die Kesselpfeife fing an zu flöten. Die Stunden vergingen, als müßten sie durch eine Eieruhr rinnen.
Kurz vor Mitternacht. An Schlafengehen war überhaupt nicht zu denken. Edgar Merten rauchte eine Zigarette nach der anderen und starrte ins Leere. Seine Frau weinte leise vor sich hin. Plötzlich schrillte das Telefon. In der Stille war es wie eine Detonation. Edgar Merten sprang auf. Dabei stieß er gegen den Couchtisch. Sein Kaffee schwappte über. Er riß den Hörer hoch. »Herr Merten?« Es war wieder die dumpfe verzerrte Stimme. »Wir haben heute nachmittag schon mal miteinander gesprochen. Ich hoffe, Sie haben sich an unsere Abmachung gehalten. Kein Sterbenswörtchen – zu niemand!« »Ja, ja! Genau, wie Sie sagten. Nur hören Sie, hier muß ein Irrtum vorliegen. Ich bin Verkaufsfahrer. Außer meinem Lohn habe ich nichts. Sie müssen sich geirrt haben!« Edgar Merten war außer Atem. »Nein, Herr Merten, machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Wir irren uns nie. Sie werden noch rechtzeitig erfahren, um was es geht. Ich habe eine Nachricht zu übermitteln. Hören Sie genau zu. Ich sage nichts zweimal!«
Merten biß sich auf die Unterlippe und schwieg. »Gehen Sie zum Strand. Jetzt gleich! Wir haben dort etwas für Sie hinterlegt. Ein Päckchen. Sie kennen den Ausguck für den Bademeister, unter dem großen Niveaball? Ja?« Die Stimme machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: »Turm 4 – kurz vor dem neuen Apartmenthaus auf der Landzunge. In dem Ausguckkorb liegt es. Um diese Zeit ist dort kein Mensch mehr. Haben Sie alles kapiert?« »Ja, schon. Aber ich verstehe nicht. Was für ein Päckchen? Was soll ich damit?« »Keine dummen Fragen! Holen Sie es ab, Sie werden schon sehen. Ich melde mich morgen abend wieder«, entgegnete die Stimme barsch. »Ja, ist klar«, Merten zögerte einen Moment. »Wie geht es Angelika? Kann ich sie wenigstens mal sprechen?« »Sie schläft jetzt. Es liegt ganz allein bei Ihnen, ob Sie Angelika wiedersehen. Nicht die Nerven verlieren. Und achten Sie auf Ihre Frau. Wir melden uns wieder.« Es knackte in der Leitung. Aufgelegt. Edgar Merten ließ den Hörer sinken. »Es ist kein Irrtum, Inge. Es ist kein Irrtum!«
2
Ich hatte meine Seriengeschichte über ›White-Collar-Crime‹ abgeschlossen. Die Serie gefiel dem Ressortleiter von ›Prisma‹, der Zeitschrift, für die ich bevorzugt schrieb. Auch die Leser hatten positiv reagiert. Allerdings paßte einigen gutbetuchten, gar nicht mal so unbekannten Herren, die Serie gar nicht. Vielmehr begannen diese Typen, Steinsammler in Lohn und Brot zu nehmen, die mir Geröll in den Weg legten. Ich wurde bedroht. Man versuchte mich durch anonyme Anrufe zu verunsichern. Einige Male durchstach ein Spaßvogel meine Autoreifen. In meine Wohnung wurde eingebrochen, hinterher war sie ein Schlachtfeld. Wer artig und unauffällig in diesem Land lebt, kann sich gar nicht vorstellen, was hinter der Bühne alles gespielt wird. Ab und zu wird mal eine Affäre hochgespielt, aber das ist nur die unrühmliche Spitze eines höchst unrühmlichen Eisberges. Die Arbeit und der auf mich ausgeübte Druck hatten mich ganz schön geschafft. Als ich den letzten Teil der Serie auf den Schreibtisch des Ressortchefs knallte, sah ich nicht gut aus. »Ein bißchen abgearbeitet, was Michael?« »Wieso, seh’ ich so aus?« »Ja, so siehst du aus.« Ralf Bechthold, der Serienchef von ›Prisma‹, war ein alter Freund von mir. Wir hatten unser Volontariat bei der gleichen Zeitung gemacht. Er war ein typischer Zeitungsmensch. Nicht so einer
mit Ledermantel, Kamera vorm Bauch, Bleistift hinterm Ohr und ewig fliegenden Rockschößen – wie man sich fälschlicherweise immer Zeitungsleute vorstellt. Er war kein Marktschreier. Aber er hatte Gespür. Er war nicht sensationslüstern, aber er wußte, wo die Sensationen waren. Als er mit fünfunddreißig den ersten Herzklabaster hatte und seine Frau massiv mit Scheidung drohte, da ging er vom täglichen Redaktionsgeschäft in die Serie. Aber hier schlug er neue Wege ein. Er kaufte nicht mehr ihm angebotene Serien auf, sondern er zog sich einen kleinen Autorenstall heran und gab Serien in Auftrag. Diese Entwicklung tat ›Prisma‹ gut. Sie war die zweitgrößte Illustrierte geworden. Beim Chefredakteur und beim Verleger hatte Ralf einen Stein im Brett, und diesen Stein konnte niemand verrücken. »Michael, hör zu, ich hab’ einen Auftrag für dich.« »O nein; bitte nicht!« »Doch, wir sind der Meinung, daß wir das Eisen schmieden müssen, solange es glüht. Es mehren sich die Anzeichen, daß die Mafia immer mehr Fuß faßt bei uns.« »Wer, bitte?« »Die Mafia, ich sagte es bereits.« »Aber sonst geht es dir gut, was? Ich denke, die sitzen in Amerika und machen in Sizilien Urlaub. Was wollen die denn im Sauerland?« »Mein lieber Freund, unser Land ist ein attraktiver Arbeitsplatz für Mafiosi. Ich nenne dir nur drei potentielle Arbeitsgebiete unserer Freunde. Rauschgift, illegale Einfuhr von Arbeitskräften und Schutzzölle.« »Das erstaunt mich – Padrino. Wirklich!«
»Aber bald weißt du mehr darüber, wenn du nämlich die auf sechs Teile geplante Serie fertiggestellt hast. Dann nenn’ ich dich den Paten. Ich verspreche.« Er bot mir eine Zigarette an und bat seine Sekretärin, uns einen Tee zu kochen. Der Tee schmeckte gut. Ich blickte auf den Schreibtisch, wo der letzte Teil der Serie fix und fertig lag. »Zufrieden?« »Ja«, nickte ich, »zufrieden.« Er lächelte: »Was hältst du von ein paar Tagen Heiligenhafen? Du weißt doch, Maria und ich haben uns da eine kleine Eigentumswohnung gekauft – für unsere alten Tage.« Er lächelte wieder. »Der Vorschlag kam übrigens von Maria. Sie läßt dich grüßen und du sollst dich mal wieder sehen lassen.« »Wo liegt denn das?« »Was liegt wo?« »Na, Heiligenhafen!« »An der Ostsee, vor Fehmarn.« »Und wie findet man das?« »Immer der Nase nach. Autobahn Lübeck – dann Richtung Puttgarden, irgendwann kommt dann Heiligenhafen. Hast du Lust?« »Ja.« Und so fuhr ich los. Immer der Nase nach. Und richtig, irgendwann kam dann Heiligenhafen. Das Fernsehprogramm war schon lange zu Ende. Der Apparat lief noch. Wie etwas höchst Interessantes starrte ich das leere Bild an. Mein Mund war wie Pappe. Die Zigaretten schmeckten schon lange nicht mehr. Ich löste mich aus der Umarmung des Sessels und schaltete das Gerät aus. Die Balkontür quietschte erbärmlich. Der Seewind fuhr mir ins Haar. Wie kleine
Hütchen erschienen die Strandkörbe. Die Promenade war genauso leer wie mein Kopf. »Weißt du was, Bruder? Du setzt jetzt brav Fuß vor Fuß. Spazierengehen nennt man das. Läßt dich ordentlich durchlüften. So was brauchst du jetzt.« An meinen Nachbarn denkend schloß ich leise die Wohnungstür. Der Fahrstuhl brachte mich auf die Erde zurück. Es war kurz nach Mitternacht. Das Rauschen des Meeres war angenehm. Das monotone Geräusch entsprach meinem Zustand. Die Läden an der Strandpromenade waren bis zur Halskrause mit Sonnenöl, Wasserbällen, Strandschuhen und Sonnenbrillen angefüllt. Hochsaison. Hochsaison. Ölige Menschen. In Massen. Erholung. Langsam mußte ich an den Rückweg denken. Mir wurde kalt. Ich verließ die gepflasterte Strandpromenade, watete durch den lockeren Sand zwischen den Strandkörben zurück. Schräg links vor mir hob sich ein riesiger dunkler Ballon gegen den Nachthimmel ab. Zwischen den Stangen, die den Reklameball hielten, führte eine schmale Leiter zu einem geflochtenen Ausguckkorb, der auf halber Höhe angebracht war. Das Mondlicht war hell genug, um die Buchstaben ›DLRG‹ auf dem Korb erkennen zu können. Ich stutzte und blieb unwillkürlich stehen. Erklomm da nicht jemand die Leiter? Ja, ich hatte mich nicht getäuscht. Der Mann hatte die oberste Sprosse erreicht und beugte sich mit dem Oberkörper in den Korb hinein. Komisch, sucht der was in dem Bademeisterausguck? Da kam er mit dem Oberkörper schon wieder hoch und machte sich an den Abstieg. In seiner linken Hand hielt er etwas – ein Päckchen, etwa so groß wie ein Schuhkarton. Ich konnte es jetzt genau erkennen.
Er hatte den Boden wieder erreicht und verschwand auf der anderen Seite der Düne. Ich lief geduckt auf die Düne zu und legte mich oben flach auf den Bauch, so daß ich die Strandpromenade übersehen konnte. Der Weg war durch die Straßenlaternen, die in einem Abstand von circa fünfzig Metern brannten, einigermaßen gut beleuchtet. Der Mann mit dem Päckchen ging zu einem Fahrrad, das auf der gegenüberliegenden Seite der Promenade an einer Parkbank lehnte. Er schaute sich nach allen Seiten um, so als ob er sich vergewissern wollte, daß ihn niemand beobachtete. Die Promenade war menschenleer. Er stellte das Päckchen auf dem Gepäckständer seines Fahrrades ab und machte sich an der Verschnürung zu schaffen. Ich hörte das Knistern von Packpapier, und dann sah ich den Gegenstand, den er auspackte. Der kurze Augenblick, in dem er das Ding herausnahm und es blitzartig im Karton wieder verschwinden ließ, genügte mir, um den mattglänzenden Lauf einer Pistole zu erkennen. Wieder schaute er sich ängstlich um, ehe er den Karton hastig verschnürte und auf dem Gepäckständer festklemmte. Dann riß er das Rad herum, schwang sich in den Sattel und strampelte in Richtung Stadt. Die Sache stank. Sehr sogar. Wer nachts versteckte Pistolen abholt, will bestimmt nicht auf Karnickeljagd gehen. Außerdem war Schonzeit. Ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun sollte. Ich mußte herausfinden, wer der Mann war und was er vorhatte. Dazu war erst einmal nötig, daß ich mich an seine Fersen heftete. Aber er durfte natürlich nichts davon merken. Die Straße zur Stadt führt in einem großen Bogen um einen Binnensee herum. Rechts der Binnensee, links die Ostsee und
dazwischen auf der schmalen Landzunge die Strandpromenade und die Straße – bis zur Stadt vielleicht zwei Kilometer. Zwei lange Kilometer, auf denen er mir nicht entwischen konnte. Ich spurtete zurück zum Apartmenthaus. Mein Wagen stand zum Glück in der richtigen Fahrtrichtung auf dem Parkplatz. Ich zwang mich dazu, in einem ganz normalen Tempo zu fahren. Schon nach einem Kilometer erfaßten die Lichtkegel meiner Scheinwerfer einen einsamen Radfahrer. Kein Zweifel, es war mein Mann. Der Schuhkarton auf seinem Gepäckträger schloß jede Verwechslungsmöglichkeit aus. Ich überholte ihn und fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Als ich mit ihm auf gleicher Höhe war, hatte ich einen kurzen Seitenblick riskiert. Er war ungefähr in meinem Alter, so um die Dreißig, und hatte dunkles, an den Schläfen schon reichlich spärliches Haar. Ich erreichte die Brücke, die die Landzunge mit dem Festland verbindet. Geradeaus geht es zum Marktplatz von Heiligenhafen, links liegt der Yachthafen und nach rechts führt die Straße auf der anderen Seite des Binnensees entlang zum ›Ferienpark Heiligenhafen‹, einer kolossalen, betonierten Urlaubspyramide mit Hunderten von Ferienwohnungen, einem Einkaufszentrum und einem Wellenschwimmbad. Ich zögerte. Für den Radfahrer war ich noch außer Sichtweite. Dank der Krümmung der Landzunge. Links vor dem Yachthafen befindet sich ein großer Parkplatz. Kurz entschlossen fuhr ich den Wagen in die vorderste Parkreihe. Ich stellte den Motor ab und löschte die Scheinwerfer. Von diesem Standort konnte ich die Kreuzung gut übersehen, ohne selbst aufzufallen. Es dauerte gerade eine halbe Zigarettenlänge, da tauchte das funzelige Licht einer Fahrradlampe in der Straßenbiegung auf.
Es kam schnell näher. Durch das geöffnete Seitenfenster meines Wagens konnte ich das singende Geräusch des Dynamos hören. An der Kreuzung bog der Mann rechts ab. Ich wartete ein paar Sekunden, dann startete ich den Motor und ließ den Wagen ohne Licht drei Meter vorrollen. So konnte ich die Straße besser einsehen. Es war keine Sekunde zu früh. Ich sah gerade noch das Rücklicht des Fahrrades in der dritten Querstraße links verschwinden. Scheinwerfer an, Gang rein und Gasgeben war eins. Der Wagen schoß los und ächzte in allen Fugen, als ich ihn über die Bordsteinkante auf die Straße springen ließ. Vor der dritten Querstraße drosselte ich das Tempo und ließ den Wagen langsam an der Einmündung vorbeirollen. Der Mann hatte das Fahrrad rechts an einem Vorgartenzaun abgestellt und nahm gerade das Päckchen vom Gepäckständer. Ich stellte den Wagen ab und spurtete zurück zur Straßenecke. Auf dem blauen Emailleschild stand Fischerstraße. Auf der linken Seite parkten Autos. Hinter einem Wagen geduckt, beobachtete ich ihn. Er öffnete das niedrige eiserne Gartentor. Es quietschte. Ehe er noch die Haustür erreicht hatte, öffnete sich diese. Im Rahmen der Tür, beleuchtet durch das Flurlicht, erschien eine Frau. Er drückte sich an ihr vorbei. Sie flüsterte etwas. Er schlug mit der Hand auf das Paket. Und schon schloß sich die Tür. Ich setzte mich erst einmal auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. Was sollte das alles? Was wollte der Mann mit der Pistole? Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht. Ich zündete mir eine weitere Zigarette an. Als die beiden im Hause verschwunden waren, ging nach wenigen Sekunden in einem anderen Raum das Licht an. Langsam wurde mir der Hintern
kalt. Ich ging in die Hocke. In diesem Moment erlosch drüben das Licht. Ich wartete noch ungefähr zehn Minuten, aber alles blieb ruhig. Ich ging auf meiner Seite die Straße hoch. Sicher ist sicher. Als ich außer Sichtweite des Hauses war, überquerte ich die Straße und ging zurück. An der Querseite überstieg ich den Zaun. Der Rasen verschluckte meine Schritte. An der Haustür angelangt, suchte ich nach einem Namensschild. Da war es. Ich riß ein Streichholz an. Auf einem weißen Emailleschild stand der Name E. Merten. Ich blies das Streichholz aus und tat es wieder in die Schachtel. Auf gleichem Wege verließ ich das Grundstück. Merten – ein ganz gewöhnlicher Name. Bloß, wie viele Merten gab es in Deutschland, die sich nachts eine Pistole besorgten. Wohl nicht allzu viele, nahm ich an. Aber besorgen ist eines und etwas damit unternehmen ein anderes. »Was tun?« sprach Zeus. »Nach Hause gehen und schlafen«, antwortete ich. »Ordentlich schlafen.« »Morgen ist auch noch ein Tag«, meinte Zeus.
3
Morpheus war dagegen, daß ich aufstand. Dennoch zog er den kürzeren. Ich duschte mich und zog mich leicht an. Jeans und ein blaues Polohemd, dazu saloppe Wildlederschuhe. Ich kochte mir zwei starke Tassen Kaffee, toastete mir Brot und aß mit gutem Appetit zwei weichgekochte Eier. Zum Nachtisch verspeiste ich eine halbe Tafel Schokolade. Während ich mir eine Zigarette anzündete, überdachte ich die Lage. Zur Polizei zu gehen, sah ich als sinnlos an. Jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Ich beschloß, mir erst einmal das Wohnhaus von Merten bei Tage zu betrachten.
Draußen war es wieder heiß. Das Innere meines Wagens kochte. Die Urlauber aalten sich in der Sonne. Mit heruntergezogenen Bikinihaltern versuchten die Frauen möglichst viel Haut zum Bräunen zu tragen. Die Männer bauten mit ihren Kindern Sandburgen, rauchten, lasen Zeitung oder schauten den vorbeigehenden Mädchen nach. Im Nu war ich durchgeschwitzt. Der Schweiß lief mir vom Nacken den ganzen Rücken hinunter. Ich stellte den Wagen am Yachthafen ab und ging die paar Schritte zur Fischerstraße. Es war ein rotes Backsteinhaus mit dem in der Gegend üblichen dänischen Treppendach. An der Mauer wucherte eine Heckenrose mit unzähligen rosa Blüten. Die Straße vor dem Haus war übersät mit abgefallenen Blütenblättern. Es sah fast aus wie Schnee. Das Haus war
klein, Platz für eine Familie. Der kleine Vorgarten war gepflegt. Es rührte sich nichts. Ich ging die Straße zweimal auf und ab, um alles in Ruhe zu betrachten. Dann schlenderte ich die Fischerstraße hoch ins Zentrum. Ich war unschlüssig. An der Ecke war eine Buchhandlung. So besorgte ich mir erst einmal eine Tageszeitung. Nichts Außergewöhnliches passiert. Sauregurkenzeit. Ein Prominenter hatte sich geräuspert, und die Zeitung fragte, ob es ein Skandal sei, denn der Prominente hatte sich in einem exklusiven Klub geräuspert und Ohrenzeugen behaupten, es wäre ein Räuspern mit starker Tendenz zum Rülpser gewesen. Ich las genauer. Gott sei Dank, der Prominente war immer noch nicht des Landes verwiesen. Ich werde die Redaktion anrufen, vielleicht kriegen sie ein Exklusivräuspern. Die rundliche Frau schrie auf, als ihr die Milchtüte aus der Armbeuge rutschte und am Boden zerplatzte. Ihre Schuhe waren schneeweiß. Sie stellte intelligenterweise ihre beiden Einkaufstaschen in die auslaufende Milch, um die Hände für die Säuberung ihres Rockes frei zu haben. Dabei schlug die eine Tasche um, und die Äpfel und die Pfirsiche rollten die leicht abschüssige Straße hinab. Ich lief dem Fallobst hinterher und sammelte es ein. »Wohnen Sie hier in der Nähe?« fragte ich, ihre Tasche füllend. »Ja, Fischerstraße 12.« »Dann werde ich mir erlauben, Ihnen behilflich zu sein«, sagte ich, schnappte mir die beiden Taschen und folgte ihr. Die Frau, ungefähr sechzig Jahre alt, war äußerst kräftig gebaut. Eine kleine Rasur der Oberlippe hätte bestimmt nicht geschadet.
Das Haus Nummer zwölf lag schräg gegenüber dem MertenHaus. Erst jetzt bemerkte ich, daß die linke Straßenseite die ungeraden Nummern beherbergte, während rechts gerade gezählt wurde. Das Wohnzimmer war gemütlich. Eine unheimlich bequeme Couch, mit Ohrensesseln zusammen um einen Tisch gerückt, der aus einem auf drei Beinen ruhenden Ruder nebst Glasplatte gefertigt war. Sie wollte mir unbedingt eine Tasse Kaffee kochen und bat mich, einen Augenblick auf sie zu warten. Ein großer Bauernschrank stand an der Querseite des Raumes. Genau vis-à-vis befand sich eine Anrichte, auf der viele Fotografien standen. Vergilbte und neuere. Es waren immer nur Männer auf Schiffen darauf abgebildet. »Das sind meine beiden Männer!« Sie bugsierte ein Tablett mit Tassen und einer Schale Topfkuchen auf den Tisch. »Rechts da, das ist mein Mann. Er schipperte vor Norwegen. Da er ist dann auch gefallen. Zwei Monate danach kam unser Sohn zur Welt.« Ich nickte. »Er fährt auf einem Öltanker.« Sie schenkte ein und bedachte mich reichlich mit Topfkuchen. »Wie lange sind Sie schon da?« »Gerade erst angekommen«, murmelte ich zwischen zwei Bissen. »Haben Sie sich schon eingemietet?« Blitzschnell überlegte ich. »Nein.« »Schade, ich hätte Ihnen gern das Zimmer meines Jungen angeboten, doch heute ist Dienstag – er kommt schon in einer Woche, und Sie wollen ja wohl richtig Urlaub machen.«
»Nein, ich bleibe höchstens vier, fünf Tage. Ich wollte mich nur ganz kurz etwas verschnaufen, bevor ich in den geschäftigen Alltag zurückkehre, denn ich habe in den letzten Wochen ein bißchen übertrieben mit der Arbeit.« Verständnisvoll glitt ihr Blick an mir hoch. »Ja, wenn Sie nur so kurz bleiben – dann geht es natürlich.« Ihre Stimme wurde geschäftstüchtig. »Es sind sonst immer Sommergäste im Haus. Fünfzehn Mark mit Frühstück. Nur diesen Sommer kommt mein Sohn, da kann ich nicht vermieten. Das letzte Mal war er vor sieben Monaten da.« »Ich muß mich wohl erst einmal vorstellen. Herder ist mein Name. Michael Herder.« »Pech.« »Wieso Pech?« »Herr Herder, mein Name ist Pech. Elfriede Pech.« »Sehr angenehm, Frau Pech.« Sie lächelte. »Nun will ich Ihnen das Zimmer zeigen.« Der Raum war einfach möbliert und man merkte sofort, daß der Bewohner nicht häufig zu Hause war. Persönliche Gegenstände waren nicht zu sehen, wenn man von einem Bücherregal mit ein paar Kriminalromanen und einer an die Wand gehefteten Schützenplatzrose nebst Lebkuchenherz absah. Der Raum hatte Bett, Schrank, Tisch und einen gemütlichen Sessel. Auf einem Stuhl an der Wand stand ein Radio. »Gefällt es Ihnen?« »O ja, genau das Richtige für mich.« Ich sah durch das Fenster, vor dem Dralongardinen hingen, genau die Haustür, durch die Merten verschwunden war. Mir konnte nichts mehr entgehen.
»Hier sind zwei Schlüssel.« Frau Pech hielt mir einen Bund mit zwei Schlüsseln hin. »Haustür- und Zimmerschlüssel.« Ich dankte ihr und ließ die Schlüssel in die Hosentasche gleiten. »Und, Herr Herder. Bitte, wenn es geht, keinen Damenbesuch. Sie verstehen doch!« Ich lächelte. »Natürlich. Ich bin verlobt«, log ich. Das beruhigte sie ungemein. Wenn es wirklich mal kniff, hatte ich ja schließlich noch das Apartment. Nicht wahr?
Mein Mittagessen nahm ich bei ›Käppen Plambeck‹ ein. Ich hatte mir meine Reisetasche aus dem Apartment geholt und sie dekorativ in mein neues Zimmer gestellt. Nachdem ich meine Scholle verzehrt und den obligaten Kaffee getrunken hatte, zahlte ich und ging zurück in die Sonne. Das Lokal lag direkt am Hafen. Alle Augenblicke kamen große, mit Menschen vollgepfropfte Reisebusse an. Es ging nur ein leichter Wind. Die Möwen schrien. Es roch nach Sonnenöl und Fisch. Langsam ging ich zu meinem neuen Quartier. Im Schaufenster der Buchhandlung hing die neue ›Prisma‹. Über die Titelseite lief ein gelber Streifen. ›Letzter Teil: White-Collar-Crime in Deutschland‹. Ich zahlte mein Exemplar. Ich mochte es, eine Zeitung zu kaufen und schon zu wissen, was drin steht. Man hat irgendwie das Gefühl, einen Vorsprung zu haben. Vor dem Merten-Haus stand ein Kastenwagen. Auf weißem Untergrund prangte ein leckeres Brot. In fetter roter Schrift stand da: ›Hermann-Brot – aus echtem Schrot und Korn‹. Ich fand das sehr sinnig.
Ich zog mir den Sessel ans Fenster, lüpfte ein wenig die Gardine und machte es mir bequem. Es dauerte nicht lange, da verließ Merten das Haus, stieg in den Wagen und fuhr los. Also war er für die Brotfirma tätig, als Auslieferer oder ähnliches. Unbedingt mußte ich mehr über ihn in Erfahrung bringen. Ich machte mich auf die Socken. Ich ging die Fischerstraße hoch, bog links ab. Auf dem Marktplatz war eine Telefonzelle. Ich wählte die Nummer der Hamburger Polizei. »Büro Kommissar Merck.« »Hier ist Herder, ich hätte gern Herrn Merck gesprochen.« »Der ist leider zu Tisch, aber er müßte eigentlich jeden Moment zurückkommen. Sollen wir Sie anrufen?« »Nein, das geht leider nicht, ich rufe in einer halben Stunde wieder an. Würden Sie ihm das bitte bestellen.« »Ja, gern. Auf Wiederhören.« Ich bestellte mir im gegenüberliegenden Straßencafé eine Limonade. Der Marktplatz von Heiligenhafen ist langgestreckt, fast oval. An der nördlichen Schmalseite liegt das Rathaus, ein massiver Backsteinbau mit Treppengiebel. Die übrigen Häuser um den Marktplatz herum sind eher klein, schmalbrüstig. In fast jedem Haus ein Geschäft, eine Bank oder ein Lokal. Aus allen Himmelsrichtungen münden schmale, holprige Kopfsteinpflasterstraßen auf den Platz. In der Mitte befindet sich eine grüne Insel – Rasen, Ziersträucher und ein paar Ruhebänke. Kleinstadtidylle. Typische mittelalterliche Hafenstadt. Der dänische Einfluß im Baustil läßt sich nicht verleugnen. Und alles wirkt noch echt. Nur die neuerbaute Kreissparkasse mit einer Fassade aus Glas und Beton, gegenüber vom Rathaus an der südlichen Schmalseite des Platzes, stört das Bild. Eigenartig, dachte ich, in den meisten alten Städten, die ich kenne, ist es ausgerechnet die Städtische Sparkasse, die das Stadtbild zerstört.
Obwohl schon Mittagszeit war und die meisten Geschäfte geschlossen waren, fluteten die Menschen nur so über den Platz. Ich zahlte und stand auf. An diesem Sommer liebte ich besonders die Verdammung des Büstenhalters. Ich mochte es, wenn die Brustwarzen den leichten Stoff der Sommerblusen hoben. Diesmal klappte die Verbindung sofort. »Michael?« »Ja, ich bin’s, ich rufe aus Heiligenhafen an.« »Wie kommst du denn da hin?« Thomas Merck und ich hatten uns bei meinen Recherchen für verschiedene Serien kennen- und schätzengelernt. Er war mir vor allen Dingen bei der ›White-Collar-Serie‹ sehr behilflich gewesen. »Ich spanne ein paar Tage aus. Aber ich habe hier etwas Merkwürdiges erlebt. Jedenfalls könnte es merkwürdig werden. Kannst du mir einen Gefallen tun?« »Sicher, solange es nicht…« »Nein, ich brauche ein paar Auskünfte. Ich möchte wissen, ob ihr etwas über einen gewissen E. Merten, wohnhaft in Heiligenhafen, Fischerstraße 27, habt.« »Also doch!« »Bitte, Thomas. Du kennst mich doch und weißt, daß ich auf keinen Fall…« »Ja, schon gut – ruf mich im Laufe des Abends zu Hause an. Du erreichst mich auf jeden Fall. Mein Sohn hat Geburtstag.« »Besorg ihm irgend etwas auf meine Rechnung, ich gebe es dir, sobald ich wieder in Hamburg bin.« »Mach’ ich, bis heute abend.« »Grüß alle.« Die Sonne stand hoch am Himmel. Ich ging zurück ins Lokal und bestellte mir einen Kaffee.
4
Als ich quer über den Marktplatz zum Rathaus schlenderte, war es genau fünf Minuten nach zwei. Die Luft in dem kleinen Lokal war stickig gewesen, und der heiße Kaffee hatte mir den Schweiß aus allen Poren getrieben. Der Platz flimmerte in der Mittagshitze. Er war jetzt menschenleer. Die unzähligen Urlauber, die am Vormittag die Straßen der kleinen Stadt mit wimmelndem Leben erfüllt hatten, lagen jetzt bestimmt dösend in den Strandkörben und verdauten das Mittagessen. Scholle mit Mayonnaisesalat oder ähnliches. Ich dachte unwillkürlich an Baden, Eislutschen, in der Sonne braten, an einen Flirt mit einem bronzebraunen Bikinimädchen – Urlaub! Ich blieb stehen und fragte mich, warum ich mir all das vorenthielt, weswegen ich hierhergekommen war. Jagte ich einem Phantom nach? Einer fixen Idee? Ließen mich meine überarbeiteten Nerven überall nur noch Verbrechen wittern? Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich wäre schnurstracks zum Strand gelaufen und hätte versucht, die ganze Geschichte zu vergessen. Aber meine Neugier war stärker. Berufskrankheiten kann man halt nicht nach eineinhalb Urlaubstagen ablegen. Der Pförtner im Rathaus wies mir den Weg zur Einwohnermeldestelle. Als ich die Amtsstube betrat, kniff ich die Augen zusammen. Die Sonne stand grell im Raum. An einem mächtigen, abgenutzten Schreibtisch saß ein Mädchen. Sie war in ein Aktenstück vertieft und hatte mein Hereinkommen offenbar nicht bemerkt. Langes,
kastanienbraunes Haar floß auf ihre Schultern. Herunterhängende Strähnen verdeckten ihr Profil. »Grüß Gott!« sagte ich und kam mir im selben Augenblick ziemlich blödsinnig vor. Sie hob den Kopf, blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und musterte mich mit erstaunt hochgezogenen Brauen. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln. Sie erhob sich und trat zu mir an den hölzernen Tresen. Für einen Moment konnte ich ihre aufregend langen Beine sehen. Sie trug keine Strümpfe. Nach den beiden kleinen Pucks zu urteilen, die sich in Brusthöhe durch das enganliegende gelbe Polohemd drückten, mangelte es auch ihr an einem BH. Ihr Gesicht war nicht schön, aber ungemein anziehend. Die hochliegenden Backenknochen gaben ihm eine Derbheit, die durch den vollen sinnlichen Mund wohltuend gemildert wurde. In ihren Augen blitzte ein verschmitztes Lächeln auf, als sie in breiter bayerischer Mundart antwortete: »Grüß di Goatt, wo pressiert’s?« Wir brachen beide in ein schallendes Gelächter aus. Das gab mir mein altes Selbstvertrauen zurück. »Also, was kann ich für Sie tun?« fragte sie nun ganz geschäftsmäßig. Der kurze Anflug von Vertrautheit war aus ihrer Stimme gewichen. »Ja. Ich habe ein etwas seltsames Anliegen. Ich lebe in Hamburg und bin seit gestern hier in Heiligenhafen, um ein paar Tage auszuspannen. Heute ist mir plötzlich eingefallen, daß ein alter Freund von mir hier wohnen soll. Ich habe ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen und der briefliche Kontakt ist auch abgerissen.« Sie unterbrach mich: »Sie wollen von mir also die Adresse wissen. Wie heißt denn Ihr Freund?« »Merten. Ewald Merten.«
»Wissen Sie, eigentlich darf ich solche Auskünfte nicht ohne weiteres geben. Wir haben da unsere Dienstvorschriften. Sie müssen mir schon ein berechtigtes Interesse nachweisen.« Die Art, wie sie das Wort Dienstvorschrift betonte, die unüberhörbare Ironie, die dabei mitschwang, machte sie mir noch sympathischer. Noch während sie das sagte, zog sie eine Schublade auf, die mit gelben Karteikarten vollgestopft war. »Merten, also. Moment mal… Meyer, Melzer, Mencke – hier! Merten! Ja, wir haben einen Merten. Das kann aber nicht Ihr Freund sein, der hier heißt Edgar.« Sie blickte auf. Ich brach wieder in schallendes Lachen aus. Das Mädchen musterte mich irritiert. Ihr Gesicht war ein großes weites Feld des Nichtverstehens. »Wissen Sie, wir haben den Edgar Merten in der Schule mal aus Versehen Ewald gerufen. Später nannten wir ihn dann nur noch so, weil er sich darüber fürchterlich ärgerte. Er fand Ewald noch greulicher als Edgar. Und jetzt ist es mir wieder so rausgerutscht.« »Ach so!« sagte sie. »Edgar Merten wohnt in der Fischerstraße Nummer 27.« »Ist er eigentlich mittlerweile verheiratet?« »Ja, seit fünfeinhalb Jahren. Seine Frau heißt Inge. Er hat auch eine Tochter, Angelika – sie ist fünf Jahre alt.« »Tja, dann besten Dank…« Ich stand unschlüssig am Tresen und fingerte verlegen an einem Kugelschreiber herum, der mit einer Kette auf der Platte befestigt war. Das Mädchen blickte mich fragend an. Verdammt noch mal, ich benahm mich wie ein Unterprimaner bei seinem ersten Rendezvous. Und ich hatte das fatale Gefühl, daß sie genau wußte, was in mir vorging. Ich überlegte fieberhaft, wie ich sie auf weltmännische Art zu
einer Verabredung bringen könnte. Sie gehörte bestimmt nicht zu der Sorte Mädchen, die sich durch dumme Sprüche ködern lassen. Mein Blick fiel auf ein Plastikschildchen, das auf dem Tresen stand und mir bisher entgangen war. ›Frl. Helmsdorf‹ stand dort zu lesen. »Ja, äh, ich möchte gern noch eine weitere Auskunft«, stotterte ich, »diesmal handelt es sich um eine Person, an der ich ein berechtigtes Interesse nachweisen kann«, fügte ich schnell hinzu. »Wo wohnt Fräulein Helmsdorf? Ich habe vor, sie heute abend zum Essen abzuholen.« Nun war’s heraus. Einer der dümmsten Sprüche, die ich mir je erlaubt habe. Sie würde mich sicher abblitzen lassen. Ich war mir ganz sicher. »Sie brauchen mich nicht abzuholen. Wir können uns hier vor dem Rathaus treffen. Um acht Uhr, ja?« Das sagte sie ganz natürlich, wie selbstverständlich und blickte mich offen an. »Zeigen Sie mir ein bißchen Heiligenhafen. Ich werde pünktlich zur Stelle sein.« Ich verließ das Rathaus wie in Trance. Da heißt es immer, man sei klüger, wenn man vom Rathaus kommt. Das Gegenteil war der Fall, zumindest, was das Mädchen betraf. Die Hitze draußen traf mich wie ein Hammer. Merten war jetzt mit seinem Brotwagen unterwegs. Thomas Merck konnte ich erst gegen Abend erreichen. Mir blieb also für die nächsten Stunden nichts zu tun übrig. Was hielt mich noch ab, nun endlich den normalen Touristen zu mimen? Nichts! Ich stiefelte zurück zu meinem Wagen, den ich am Yachthafen geparkt hatte. Das Hemd klebte mir am Körper.
Es kostete mich einige Überwindung, in den Wagen zu steigen, der wie ein Backofen aufgeheizt war. Aber es half nichts – meine Badeklamotten hatte ich im Apartment gelassen, und einen FKK-Strand gab’s nicht in Heiligenhafen. Ich mußte im warmen Sand eingeschlafen sein. Trotz der Fülle und des Lärms, den die schaufei- und eimerschwingenden Kinder veranstalteten. Das Bad in der kühlen Ostsee und der Schlaf hatten mich erfrischt. Von der See her war frischer Wind aufgekommen, der die brütende Hitze vertrieben hatte. Ich dachte an das Mädchen im Rathaus und versuchte, mir den heutigen Abend auszumalen. Ein Blick auf die Armbanduhr holte mich schnell wieder auf die Erde zurück. Verdammt, schon sieben! Ich mußte mich sputen. Auf der Fahrt zum Apartmenthaus sah ich eine Telefonzelle. Ich stoppte, ging hinein und wählte die Privatnummer von Kommissar Merck in Hamburg. »Ja, hier Merck.« Im Hintergrund waren lautes Kinderlachen und klappernde Geräusche zu hören. Der Kindergeburtstag war noch in vollem Gange. »Hallo, Thomas! Was hast du deinem Filius auf meine Rechnung besorgt?« »Ach, Michael! Ich habe deinen Anruf schon erwartet. Schwimmflossen und eine Taucherbrille – das hat sich Jens seit unserem Jugoslawien-Urlaub gewünscht. Er hat sich ein Loch in den Bauch gefreut!« Dann wurde seine Stimme plötzlich ernst: »Deinen E. Merten haben wir in der Kartei. Bewaffneter Raubüberfall auf eine Tankstelle. Das war allerdings vor fast zehn Jahren. Er hatte zwei Komplizen – üble Burschen. Der Richter hat es damals als Jugendsünde gewertet und dem schlechten Einfluß seiner
Freunde zugeschrieben. Er hat zweieinhalb Jahre abgesessen. Danach nichts mehr. Merten soll ein unbescholtenes Leben heute führen, arbeitet als Verkaufsfahrer.« »Interessant!« »Interessant, interessant«, äffte er mich nach. »Sag mal, was ist eigentlich los mit diesem Merten. Hast du einen Verdacht? Du fragst mich nach Dingen, die ich dir eigentlich gar nicht sagen darf und selber hüllst du dich in Schweigen. Das ist nicht fair.« »Thomas, ich habe ein klitzekleines Kartenhaus gebaut, nur auf Vermutungen. Wenn ich dir das erzähle, dann lachst du, und es fällt in sich zusammen. Ich muß erst noch mehr wissen. Vielleicht brauche ich noch deinen Rat, hab ein bißchen Geduld. Erzähl mir jetzt lieber noch etwas über die beiden Komplizen von damals.« »Okay, Michael, ist schon gut. Also paß auf: Die Komplizen hießen Walter Schümann und Hans-Peter Ebel. Beide waren schon vor dem Tankstellenüberfall straffällig geworden. Diebstähle und Betrügereien. Walter Schümann war bei der Sache der Kopf und Anführer. Er hat acht Jahre und sechs Monate gekriegt. Seit gut einem Jahr ist er wieder frei. Seinen gegenwärtigen Aufenthalt kennen wir nicht. Zuletzt war er in Düsseldorf ansässig. Hans-Peter Ebel sitzt noch. Er hat zwölf Jahre eingefangen, weil er auf den Tankwart geschossen hat. Der Mann wurde lebensgefährlich verletzt und ist nach vierzehn Tagen im Krankenhaus verstorben.« Merck machte eine kurze Pause. Vielleicht wollte er mich noch etwas auf die Folter spannen. Dann fuhr er fort: »Edgar Merten hat als Zeuge der Anklage ausgesagt und seine Komplizen schwer belastet. Dafür ist er am glimpflichsten von allen weggekommen. Von den drei Jahren, die man ihm aufgebrummt hat, hat er wegen guter Führung nur zweieinhalb Jahre absitzen müssen. Reicht dir das?«
»Ja, alles klar. Ich danke dir.« »Du, Michael…«, seine Stimme wurde eindringlich, »unternimm nichts auf eigene Faust. Hörst du?« »Ich sag’ schon Bescheid, wenn’s brennt. Verlaß dich drauf. Die Telefonnummer 110 hab’ ich im Kopf.« Ich klönte noch ein bißchen privat mit Thomas, trug ihm Glückwünsche für seinen Jungen auf, dann hängte ich ein. Im Apartment zog ich mir schnell ein frisches Hemd über, dazu leichte Leinenjeans. Als ich fünf Minuten später mit dem Wagen in Richtung Innenstadt fuhr, spielten sie im Radio gerade den neuesten Hit von Udo Lindenberg: ›Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt… ‹ Ich trommelte mit den Fingern den Rockrhythmus auf dem Lenkrad mit. Also dann!
5
Sie stand vor dem Rathaus. Sie lächelte, als sie mich im Wagen erkannte und deutete ein Nicken an. Ich stieg aus. »Wozu kommen Sie denn mit dem Wagen, wir sind doch nicht in Hamburg!« Ich war verblüfft. »Richtig, da will man Urlaub machen, setzt sich aber in gewohnter Weise ins Auto, selbst um kleinste Strecken zurückzulegen.« Ich mußte lachen. Irgendwie war der Bann gebrochen. Sie hakte mich unter. »Dann man los, Entdecker!« Die Jeans saßen knapp und gut. Unter der weiten indischen Bluse wieder kein BH. Ein Hauch von Parfüm kribbelte in meiner Nase. »Erstes Gebot für Entdeckungsfahrer ist vor Beginn der Expedition die Stärkung der Mannschaft.« Sie lächelte. »Ich schlage den ›Alten Salzspeicher‹ vor, denn…« »… denn ihr seid das Salz der Erde«, sie kniff mir in den Arm. »Wie sagte doch schon Fürchtegott Christian Fulda? Salz der Erde – ja, ja, das seid ihr Herren Poeten. Aber wird es nun dumm: Sagt mir, wie würzet das Salz.« Sie prustete aus vollem Halse los: »Es scheint mehr auf ein Literatencolloquium hinauszulaufen als auf eine Entdeckungsfahrt.« Der ›Alte Salzspeicher‹ war bis unter die Dachspitze voll. Ein schwitzender Ober bat, Schollen balancierend, um
Verständnis: »In einer halben Stunde sieht es ganz anders aus. Soll ich den Herrschaften einen Platz reservieren?« »Soll er«, echote ich. Sie nickte. Seinen Schollen folgend schwamm der Ober auf die Gäste zu. Diesmal hakte ich sie unter und schlug den Weg zum Yachthafen ein. »Wie heißen Sie eigentlich?« Ihre Augen waren eindrucksvoll. »Michael. Michael Herder.« Irgendwie empfand ich etwas Peinlichkeit. Die Situation erinnerte mich an meine Tanzstundenzeit. Verschwitzte Hände heimlich gerieben. Wirre Aufgeregtheit von erwachender Sexualität und Angst. »Ich heiße Gaby und werde dich Micha nennen«, ihr Blick kam hoch, »wenn du nichts dagegen hast«, schränkte sie ein. Für einen Moment spürte ich ihre Brust durch den dünnen Stoff. »Weißt du, irgendwie mag ich dich, deine Art.« Das Mädchen war unheimlich. Sie ging das ganze Kennenlernen mit einer solchen Natürlichkeit an, daß ich meine Zwangsjacke förmlich spürte. Sie war mir voraus, und sie spürte meine Verlegenheit und half: »Laß uns zurückgehen, Micha. Der Tisch wartet.« Und ich, der ich am Hafen irgend etwas Romantisches säuseln wollte, um sie einzulullen, stand da wie ein begossener Pudel. Ich schüttelte mich. Daß sich Situationen immer so schlagartig verändern müssen. Die Kerze auf dem Tisch erleuchtete ihr Gesicht. Ich bot ihr eine Zigarette an. »Nein, danke, ich finde Rauchen irgendwie albern.« »Darf ich?«
In diesem Moment brachte der Ober die Karten. Er sah merklich ruhiger aus. Der erste Ansturm der Gäste war vorbei. »Haben Sie auch eine Weinkarte?« »Selbstverständlich, mein Herr, ich bringe sie sofort.« Gaby blätterte in der Speisekarte. Ich beugte mich vor: »Iß das Fleisch, das da ist. Spare nicht!« Sie piekte mir mit ihrem kleinen Finger in die Hand: »Es wird schon wieder literarisch, nicht wahr? Aber gut. Ich nehme Filet ›Café de Paris‹, wie der Herr wünschen. Und lassen wir Brecht ruhen, sprechen wir von uns. Was machst du, wenn du nicht gerade in Heiligenhafen versuchst, die Einwohnermeldeämter zu stürmen?« »Ich arbeite für eine Zeitung, bin Journalist. In Hamburg.« »Und wo?« »Bei ›Prisma‹.« Der Ober nahm die Bestellung auf. Zweimal Filet ›Café de Paris‹ mit Pommes frites und Prinzeßbohnen und eine Flasche trockenen Chablis, Jahrgang 1970. »Weißt du, ich arbeite schon ziemlich lange für ›Prisma‹, ich war nur kurze Zeit im Tagesgeschäft. Schreiben lag mir schon immer. Ich schreibe für ›Prisma‹ jetzt Serien.« Langsam kam ich ins Erzählen. Ich kramte Sachen hervor, die sie unmöglich interessieren konnten. Als ich ihr gerade den Chefredakteur von ›Prisma‹ unter dem Mikroskop zeigte, kam unser Essen. Wir aßen schweigend. Ich bemerkte, wie sie mich ab und zu betrachtete. Ich bin wirklich kein sentimentaler Mensch. Ich habe mich noch nie… doch ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich mich verliebt hatte. »Micha, was denkt man eigentlich so, wenn man schreibt?« »Nicht viel. Man verfolgt einen roten Faden und versucht krampfhaft, ihn nicht zu verlieren.« »Und hat man Träume?«
»Ja, manchmal. Dann wirft man die Maschine an die Wand. Zerstückelt den Ressortchef oder…« »Oder was?« »Man träumt davon, etwas Großes zu schreiben.« Sie blickte mich an. »Und du?« fragte ich. »Wieso wurde ein Mädchen wie du in eine muffige deutsche Amtsstube verschlagen?« Sie erzählte von ihren Eltern und von dem Kaff irgendwo in Bayern, in dem sie aufgewachsen war. »Die einzigen vernünftigen Lehrstellen dort gab’s bei der Raiffeisenkasse oder bei der Gemeindeverwaltung. Ich habe damals mit meiner besten Freundin geknobelt. Sie ging zur Raiffeisenkasse und ich zur Verwaltung. Eigentlich war’s mir völlig egal, was ich machte. Nach der Lehre wollte ich sowieso abhauen und was ganz anderes machen. Nur was, das wußte ich noch nicht.« Später in München hatte sie dann das Abitur nachgeholt – in Abendkursen. Sie wollte Lehrerin werden. »Ich hab’ in Kiel einen Studienplatz bekommen. Bin jetzt im dritten Semester. Den Job hier im Rathaus mach’ ich als Urlaubsvertretung. Ganz gut, wenn man einen Beruf erlernt hat. So kann man in den Semesterferien ganz hübsch was verdienen. Und tot mach’ ich mich dabei auch nicht.« Wir bestellten noch eine Flasche Wein und dann noch eine, und dann bestellte ich meine Wünsche vom Nachmittag ab. Es war unpassend geworden. Als der Ober das zweite Mal mahnend auf die Uhr tippte, zahlten wir. Es war spät geworden. Merten und seine Pistole hatte ich völlig vergessen. Wir holten meinen Wagen, denn es war kalt geworden. Sie wohnte im oberen Teil der Stadt. Vor ihrer Tür hielt ich.
Als sie den Schlüssel in der Tasche suchte, fragte ich: »Sehen wir uns wieder?« »Ruf mich an. Die Nummer der Stadtverwaltung wirst du schon herauskriegen.« Sie schloß die Tür auf. »Gaby, das war mein erster richtiger Ferientag.« Sie lachte: »Gute Nacht, Micha!« Sie verschwand im Haus. Ich drehte mich um und ging zum Wagen. Auf einmal sah ich die Haustür wieder aufgehen, und Gaby kam auf den Wagen zu. Ich kurbelte die Scheibe runter: »Ja?« Sie beugte sich zu mir runter. Meine Nase begann wieder zu kribbeln. Sie sah mich an, und dann küßte sie mich. »Komm mit, Micha.« Wir lagen nackt auf dem Bett. Die Zigarette hatte ich mir verkniffen. Ich hatte mich in ihren Arm gekuschelt. Sie atmete gleichmäßig. Die Wohnung war ähnlich aufgeteilt wie das Apartment meines Ressortchefs. Ein Wohnzimmer, ein kleinerer Raum als Schlafzimmer, Flur mit Pantry und ein WC mit Duschecke. Die Kollegin, die in Urlaub war und von Gaby vertreten wurde, hatte ihr die Wohnung während ihrer Abwesenheit für wenig Geld überlassen. Im Wohnzimmer fiel mir sofort die originelle Lampe auf. Eine Glühbirne mit einer Waschmaschinentrommel als Schirm gab löchriges Licht. Als ich leicht gegen die Trommel tippte und sie damit in Bewegung setzte, begannen die Lichtpunkte, die durch die Löcher der Trommel fielen, einen kreisenden Tanz. Man wurde ganz ramdösig. Wenn man auf der leinenbezogenen Sitzlandschaft saß, hatte man im Rücken ein großes Fenster und blickte auf einen alten, sehr niedrigen
Schreibsekretär. Darüber hing ein Bücherregal. Den Hauptteil nahmen bekannte Romanautoren ein, dazwischen auch einige Kriminalromane. Gaby hatte ihre Bücher offenbar auch hier abgestellt. Ich erkannte eine Menge Pädagogikliteratur. Darunter auch der utopische Erziehungsroman von Rousseau ›Emile oder die Erziehung‹. Ich hatte das Buch aus dem Regal gezogen und darin geblättert. Als Gaby mir von hinten leicht die Arme um die Hüften legte, drehte ich ein wenig meinen Kopf und fragte: »Was interessiert dich so sehr an Pädagogik?« »Ich mag Menschen«, hatte sie lächelnd geantwortet. »Gaby?« Sie räkelte sich, gab aber keine Antwort. Ich hob den Kopf und betrachtete sie. Ihr Haar war wie ein Fächer hinter ihrem Kopf. Das Weiß des Kopfkissens schimmerte hindurch. Ihre Augen waren geschlossen. Aber nur so, als könnten sie sich jeden Moment öffnen. Ihr Mund war in Schlafstellung gegangen. Ich drehte mich zur Seite und nahm einen Schluck aus der Limonadenflasche, die auf dem Nachttisch stand. Die Kohlensäure prickelte angenehm im Mund. Mit dem Finger wischte ich den Abdruck, den die Flasche auf dem Holz hinterlassen hatte, weg. Ich starrte gegen das Weiß der Decke. Was machte Merten wohl jetzt? Was hatte er vor? Hatte er überhaupt etwas vor? Vermutlich. Wozu sonst die Pistole? Der Nachmittag am Strand, der Abend und die Nacht mit Gaby. Irgendwie war mir die Sache mit Merten aus dem Kopf gegangen. Aber die Nachricht von Thomas Merck! Merten hatte drei Jahre Haft für einen schweren Raubüberfall bekommen, brauchte aber nur zweieinhalb Jahre wegen guter
Führung abzusitzen. Er hatte sich fast acht Jahre nichts zuschulden kommen lassen, hatte geheiratet und nun eine kleine Tochter. Es paßte alles nicht zusammen. Und doch, da findet einer eine Pistole – kein alltäglicher Vorgang, und wenn man dann noch hört, daß die betreffende Person vorbestraft ist, ja dann… Irgendwie müssen sie ein Leben lang dafür bezahlen, dachte ich, wir Menschen können so schlecht vergessen. Gaby an meiner Seite war eingeschlafen. »Ich werde jetzt den Rest der Nacht in meinem neuen Zimmer verbringen«, sagte ich leise zu mir, »und am Morgen dann mit Frau Pech sprechen, die muß doch was über die Mertens wissen. Schließlich wohnt sie doch genau gegenüber.« Ich stand auf und ging nackt ins Wohnzimmer. Aus dem Schreibsekretär holte ich mir einen Zettel und schrieb Gaby eine Nachricht. Ich deckte Gaby zu und löschte das Licht. Den Zettel klemmte ich an den Spiegel im Bad. Im Hausflur zündete ich mir erst mal eine Zigarette an. Draußen war es noch kühl. Es wurde schon langsam hell, und es würde wieder heiß werden, ich spürte es.
6
Mittwochmorgen. Sieben Uhr. Mein kleiner Reisewecker riß mich unsanft aus dem Schlaf. Mit einem geradezu hundsgemeinen Pfeifton. Ich schwang meine Füße über den Bettrand und setzte sie vorsichtig auf den Boden. So blieb ich einen Moment benommen sitzen. Ich war noch hundemüde, schließlich war ich erst kurz nach drei in die Falle gekommen. Unter die Dusche! Das war der erste klare Gedanke, den ich fassen konnte. Ich warf mir ein Frottierhandtuch über die Schulter, schnappte mir meinen Kulturbeutel und tappte los in Richtung Bad. Im Treppenhaus stieg mir der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in die Nase. Ich hörte Frau Pech in der Küche mit Pütt und Pannen hantieren, und es ging mir schon ein klein wenig besser. Die Dusche tat wohl. Vorsichtig begann ich mit warmem Wasser, langsam wurde ich mutiger und nahm um einige Grade kälteres in Kauf. Meine Lebensgeister kamen einzeln zurück, aber sie kamen. Ich seifte mich von Kopf bis Fuß ein. Da fiel mir das Lied von gestern wieder ein und ich begann zu singen: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, ja das ist meine Welt und sonst gar nichts.« Dabei klatschte ich erst leicht mit der flachen Hand gegen meine Schenkel, dann immer stärker. Als die Sache schmerzhafter wurde, setzte ich meine Gesangsuntermalungen an den nassen Wandkacheln fort. Ich wölbte die Handflächen ein wenig und erzielte so einen schönen, lauten Klang. Der Rhythmus wurde wilder und mein Gesang verwegener. Die As in gar nichts begann ich immer länger zu ziehen.
»Ich kann halt lieben nur und sonst gaaaar nichts!« Der Krach, den ich im Badezimmer veranstaltete, rief Frau Pech auf den Plan. Sie pochte gegen die Tür und rief etwas Unverständliches. Ich drehte die Dusche ab. »Was sagten Sie, Frau Pech?« »Herr Herder, was möchten Sie zum Frühstück?« brüllte sie. Man konnte sie bestimmt noch drei Häuser weiter verstehen. »Getoastetes Weißbrot, Rührei, eine Scheibe Käse und viel Kaffee, wenn ich bitten darf!« »Möchten Sie das Frühstück aufs Zimmer?« Ich überlegte. Die Wohnstube lag auch zur Straße, man konnte durch das Fenster bequem Mertens Haus beobachten. Außerdem mußte meine Zimmerwirtin einiges über die Mertens wissen. In so einer kleinen Stadt kennt schließlich jeder jeden. Ich könnte also Frau Pech ein wenig aushorchen. »Ich komme lieber zu Ihnen runter!« rief ich. »In Gesellschaft frühstückt sich’s besser!« Mit geputzten Zähnen und frisch rasiert fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Das Ei stand schon auf dem Tisch und der Kaffee dampfte. Frau Pech machte sich noch in der Küche am Toaster zu schaffen. Ich setzte mich so an den Tisch, daß ich den gegenüberliegenden Hauseingang im Auge behalten konnte. Der Lieferwagen stand vor dem Haus, halb auf dem Bürgersteig geparkt. »Ihr Kaffee ist hervorragend!« lobte ich. Frau Pech kam herein, stellte einen Korb mit Toast und eine Platte Käse auf den Tisch und setzte sich. »Sie haben aber Glück mit dem Wetter dieses Jahr«, sagte sie. »Voriges Jahr hatten wir fast nur Regen. Die ganze Saison ist ins Wasser gefallen.« »Das war wohl ein ganz schöner Verlust für die Leute hier?« fragte ich.
»Sicher, für viele, die aufs Zimmervermieten angewiesen sind, ist die Rechnung nicht aufgegangen. Aber für die ist es ohnehin schwierig geworden in den letzten drei Jahren.« »Wegen der Apartmenthäuser, ja?« »Genau! Diese betonierten Ameisenhaufen – pah!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alles aus unseren Steuergroschen finanziert. Und verschandeln die ganze Gegend!« »Na, Ihnen kann’s doch schnuppe sein«, beruhigte ich sie. »Sie müssen doch nicht vermieten. Sie haben doch sicher eine ganz anständige Rente.« »Nein, ich muß nicht. Ich mach’s halt, damit ich etwas zu tun habe, wenn mein Junge monatelang auf großer Fahrt ist. Das Haus ist sonst so leer.« Gegenüber öffnete sich die Haustür. Merten kam heraus. Er trug einen weißen Kittel mit einem roten Schriftzug auf der linken Brusttasche. Offenbar das Emblem der Brotfirma. Mit wenigen Schritten hatte er das Vorgartentor erreicht und stieg in den Lieferwagen. Ich hörte den Anlasser röhren, und mit dem typischen, nagelnden Geräusch sprang der Diesel an. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Genau halb acht. Merten begann jetzt wohl seine übliche Tour. Irgendwie mußte ich das Gespräch auf ihn bringen. »Das hört sich ja so an, als ob Sie sonst immer alleine sind. Haben Sie denn keine Freunde – oder nette Nachbarn?« »Ach, wissen Sie, hier in der Straße sind fast alle berufstätig. Da gibt’s wenig Berührungspunkte. Aber mit den Kindern steh’ ich gut. Die kommen gern zu mir, weil ich immer etwas zu naschen da habe. Direkt hier gegenüber die Mertens, die haben eine kleine Tochter. Angelika heißt sie, die mag ich besonders gern. Früher, als sie noch ein Baby war, habe ich sie
tagsüber bei mir gehabt, weil Frau Merten arbeiten gehen mußte.« »Haben denn die Mertens keine Verwandten hier?« »Nein, sie sind kurz nachdem Angelika auf die Welt kam, hierhergezogen. Das war vor ungefähr fünf Jahren. Sie kannten keinen Menschen hier. Kamen aus Lübeck. Der Mann muß dort wohl arbeitslos gewesen sein. Sie kamen nach Heiligenhafen, weil er hier in der Fischkonservenfabrik als Lagerarbeiter anfangen konnte. Hab’ ich nie verstanden. Ein so tüchtiger und intelligenter Mensch!« »Eben ist da gegenüber doch ein Lieferwagen weggefahren, war das Herr Merten?« »Ja, das war er. Die Stellung hat er vor ungefähr zwei Jahren bekommen. Seitdem geht’s den Mertens finanziell besser, und die Frau kann bei ihrem Kind bleiben. Früher hat sie in der Brotfabrik, für die er jetzt ausfährt, gearbeitet. Ich habe ihnen damals angeboten, tagsüber auf die kleine Angelika aufzupassen. Das hab’ ich gern gemacht und auch nichts dafür genommen. Ich habe ja soviel Zeit und die Kleine ist so niedlich. Sie besucht mich noch fast jeden Nachmittag. Vormittags geht sie jetzt in den Kindergarten. Da ist sie unter Gleichaltrigen, das ist besser, als immer nur mit einer alten Frau zusammen zu sein.« Ich hörte aufmerksam zu. Jetzt nur nicht den Redefluß unterbrechen, dachte ich, die Sache läuft besser, als ich hoffen kann! »Das Kind ist ja so begabt! Am liebsten malt sie. Ich hab’ ’ne Menge Bilder aufgehoben, die sie hier bei mir gemalt hat. Ganz ungewöhnliche Bilder für eine Fünfjährige. Wollen Sie mal sehen?« »Gern!« Sie ging zur Kommode und holte einen Packen Papier aus der Schublade.
Als sie mir die Bilder gegeben hatte, legte ich sie auf meinen Schoß und betrachtete sie. Ich fand eigentlich nichts Ungewöhnliches daran. Sie waren eben so, wie Kinder so zeichnen, aber vielleicht täuschte ich mich auch, denn ich bin ja schließlich kein Bilderexperte. »Sehen Sie mal hier! Da war sie mit ihrem Vater auf einem Schützenfest. Ist das nicht süß?« »Ja.« Süß war ein bißchen übertrieben. Es waren viele bunte Kreise darauf. Sehr wahrscheinlich ein Karussell und ein Strichmensch, vielleicht Angelika selbst oder ihr Vater. »Ja, und jetzt ist sie bei Oma und Opa in Lübeck. Das kam sehr überraschend für mich, denn ich hatte sie zu einem Eis am Dienstag eingeladen, aber ihr Vater kam am Montagabend und sagte, daß sein Schwiegervater die Kleine bis Sonntag nach Lübeck geholt hat, weil dort jetzt ein Sommerfest ist. Na ja, das Eis kann man auch noch am kommenden Montag essen, nicht wahr?« »Sicher«, sagte ich, »da wird sie sich freuen. Erst die schönen Tage in Lübeck und dann gleich wieder eine Überraschung: das Eis mit Ihnen. Das ist doch was für Kinder. Immer was Neues.« Frau Pech lächelte, stand auf und legte die Bilder in die Schublade zurück. »Herr Herder, ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber es würde mich mal interessieren, was Sie beruflich machen. Erst hatte ich gedacht, Sie sind Lehrer, aber nachdem Sie…« Sie stockte. »Ja?« Sie errötete, ja tatsächlich, sie errötete leicht. »Nun, nachdem Sie heute morgen unter der Dusche so schön gesungen haben…« Sie führte den Satz nicht zu Ende, fügte aber dann hinzu: »Wissen Sie, ich kannte meine Lehrer nur als ernste Menschen. Ich habe meine Lehrer zwar nie unter der Dusche erlebt«, jetzt errötete sie noch ein wenig mehr, »aber
als ich Sie so singen hörte, dachte ich, nein – Lehrer ist Herr Herder nicht.« »Nein, bin ich auch nicht, Frau Pech. Ich bin Journalist. Ich schreibe in Hamburg für eine Zeitung namens ›Prisma‹.« Und dann ging es los. Sie eilte zu ihrem Fernseher und zog unter dem Tischchen, auf dem der Apparat stand, eine ältere ›Prisma‹-Nummer hervor. Zwischen Butter und Kaffee mußte ich ihr alles erklären. Wie eine Zeitung gemacht wird, ob alles stimmt, und natürlich, was ich geschrieben hatte. Unser Plaudern wurde immer angeregter. Ich blickte auf meine Armbanduhr. »Da haben wir aber lange geklönt, Frau Pech, es ist schon Viertel nach neun.« Ich stand auf. Das Gespräch hatte sich gelohnt. Ich hatte erfahren, daß die Tochter am gleichen Abend nach Lübeck gebracht worden war, an dem Herr Merten die Pistole abgeholt hatte. Das brauchte nichts miteinander zu tun zu haben. Aber wenn doch? Ich mußte dringend zwei Telefongespräche führen. Eins mit Thomas Merck in Hamburg und eins mit meinem alten Kameraden Norbert in Lübeck. »Ich muß ein paar Besorgungen in der Stadt machen, nachher geh’ ich zum Strand. Kann ich Ihnen was mitbringen aus der Stadt?« »Nein, danke, das ist nett gemeint, aber ich gehe lieber selbst. Ich brauche ein bißchen Bewegung, sonst roste ich noch ein.« »Tschüß, Frau Pech und vielen Dank! Das Frühstück war ausgezeichnet!« Sie lächelte geschmeichelt.
7
Das Gespräch mit Merck war schnell erledigt. Ich bat ihn um Namen und Adresse von Mertens Schwiegereltern. Sie wohnten in Lübeck, Am Wall 9, ihr Name war Bothmann. Kurz bevor er einhängte, schärfte mir Thomas Merck ein, nichts Unüberlegtes zu unternehmen. Ich versprach ihm hoch und heilig, ihn bald anzurufen und ihm über die Angelegenheit Genaueres zu berichten. Dann rief ich bei den Lübecker Nachrichten an und verlangte Norbert Kunze. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, später studierte er in Marburg Germanistik und Geschichte. Ursprünglich wollte er Lehrer werden, dann aber hatte er sein Herz für die Journaille entdeckt und umgesattelt. Nach kurzer Vermittlungszeit meldete er sich. »Kunze.« »Rugy«, das war sein Spitzname schon von der Schule her, »rate mal wer hier ist!« »Der Bundeskanzler natürlich.« »Du hast mich also erkannt?« »Fiel mir nicht allzu schwer, Michael. Bist du in Lübeck?« »Nein, aber fast um die Ecke, in Heiligenhafen.« Ich erklärte ein wenig die Umstände und kam dann auf den Kern meines Anrufs zu sprechen. »Kannst du mir einen großen Gefallen tun?« »Schieß los.« »Ich habe hier eine Sache beobachtet, die mir nicht ganz koscher vorkommt, und um klarzusehen, muß ich eine Kleinigkeit wissen.«
Ich bat ihn, bei Bothmanns unter irgendeinem Vorwand zu erfragen, ob das Enkelkind Angelika da wäre. »Und wie soll ich das machen?« »Erzähl ihnen meinetwegen, Angelika hätte in einem von deinem Käseblatt ausgeschriebenen Malwettbewerb einen Preis gewonnen.« Er versprach mir, sofort nach der Frühbesprechung vorbeizufahren, und ich sollte um zwölf Uhr zurückrufen. »Ach, Michael, und noch eins. Ich bin eigentlich gewohnt, nur vom Bundeskanzler aufwärts angerufen zu werden. Nimm das bitte zur Kenntnis!« Ich hängte ein. Im nahe gelegenen Blumenladen besorgte ich mir einen unaufdringlichen Blumenstrauß. Der Pförtner des Rathauses erkannte mich wieder und nickte mir zu. »Ich weiß, wo’s langgeht«, murmelte ich. Es schien mir, als lächelte er. Ich riß die Tür zu Gabys Büro auf und schnarrte: »Finden Sie nicht auch, daß in deutschen Amtsstuben…« Mir blieb der Satz im Halse stecken. Ein Mann, ungefähr fünfzig Jahre alt, der sich über den Tresen gelehnt hatte und mit Gaby sprach, drehte sich halb um und blickte mich strafend an. Schnell ließ ich den Blumenstrauß hinter meinem Rücken verschwinden. Gaby lächelte. Ich setzte mich auf die Besucherbank. »Wünschen Sie etwas?« fragte der Mann. »Ich… na ja… , also lassen Sie sich ruhig Zeit, ich hab’s nicht eilig.« »Der Herr ist ein Bekannter von mir.« »Ach so, na so eilig ist das nicht, Fräulein Helmsdorf, dann komme ich später noch mal wieder.« Sprach’s und entfernte sich. »Wer war denn das?«
»Das? Ach, das war nur der Bürgermeister von Heiligenhafen.« Wir lachten beide. Ich gab ihr über den Tresen hinweg einen Kuß. »Für dich, da es doch in deutschen Amtsstuben so kahl ist.« Ich reichte ihr den Blumenstrauß. »Wie du siehst, stimmt das nicht ganz.« Sie wies auf eine kleine Vase mit Blumen. »Von wem?« »Vom Bürgermeister.« »Uijeh, Konkurrenz?« »Nicht unbedingt, es sei denn, du verläßt mich häufiger nachts und ich treffe morgens nur einen Zettel an. Mit dem läßt es sich nämlich schlecht frühstücken. Der spricht nicht viel, der sagt immer dasselbe. Was war los, Micha?« »Ach, weißt du, es ist hier so eine kleine Sache vorgefallen, und die möchte ich gern klären. Ich möchte allerdings noch nicht darüber sprechen. Es hat aber nichts mit uns zu tun, wenn ich das anfügen darf.« »Darfst du, darfst du. Gehen wir zusammen essen, Micha?« »Feine Idee. Wann soll ich dich abholen, halb eins?« »Einverstanden! Du, und sei mir, nicht böse, ich hab’ noch ein wenig zu tun.« Sie wies auf einen hohen Stapel Akten. Dann küßte sie mich. Wenn jetzt der Bürgermeister gekommen wäre, dann hätte es keine Blumen mehr gegeben. Ich besorgte mir eine Tageszeitung, setzte mich ins Café und schlug mir die Zeit bis zwölf Uhr um die Ohren.
8
Die Telefonzelle war besetzt. Eine korpulente Frau mit unwahrscheinlich vielen Taschen blockierte sie. Ihre Gestik war hektisch. Endlich hatte sie ihr Gespräch beendet. Dann aber begann der Kampf mit der Schwingtür der Telefonzelle. Irgend etwas klemmte immer. Mal die rechte, mal die linke Tasche. Dann störte ihr Hinterteil. Endlich stand sie im Freien. Mit schweißnassem Gesicht bat sie um Entschuldigung. Die Zelle roch nach billigem Parfüm. »Lübecker Nachrichten.« »Ja, hier ist das Büro des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Ich hätte gern mal Ihren Herrn Redakteur Kunze gesprochen, ist das wohl möglich?« fragte ich honigsüß. »Oh, sicher, selbstverständlich! Ich verbinde.« Wie das arme Mädchen verwirrt war. Dieses – ich verbinde – sagte sie, als würde sie ihre Beine unter die Arme nehmen und Norbert persönlich benachrichtigen. Und richtig, da war er schon in der Leitung. »Michael, vielen Dank, jetzt werden die Damen in der Zentrale mich endlich für etwas Großes halten.« »Warst du da?« »Ja, aber Fehlanzeige – kein Kind. Und die Familie Bothmann ist in den Sommerferien.« »Dann haben sie die kleine Angelika mitgenommen.« »Nein, haben sie nicht. Du sagtest mir, die Schwiegereltern hätten sie am Montagabend geholt. Das können sie aber gar nicht, denn wie mir eine Nachbarin sagte, sind Bothmanns schon seit zwei Wochen verreist. Kapiert?«
»Ja.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Du mußt sofort hierhergekommen.« »Wie stellst du dir denn das vor? Ich hab’ noch eine kleine Nebenbeschäftigung!« »Ist mir egal. Vielleicht gibt’s was Exklusives für dich. Du kennst Heiligenhafen?« – »Ja, aber…« »Gut. Ich erwarte dich im ›Alten Salzspeicher‹. Es ist jetzt kurz nach zwölf und es sind circa fünfundsiebzig Kilometer. Gegen zwei kannst du gut da sein.« »Ich versuch’s.« »Nein, du mußt!« »Also gut.« Er hängte ein. Ich trat aus der Zelle und fühlte mich, als wäre ich einer Heimsaunatonne entstiegen. Ein alter Mann, der wohl vor der Zelle gewartet hatte, murmelte: »Unverschämtheit!« stieß mich zur Seite und verschwand in der Zelle.
Jetzt mußte ich mich aber beeilen. Ich lief die paar Schritte zum Rathaus rüber. Der Pförtner starrte mich entgeistert an, als ich an ihm vorbeiflitzte. Ich riß die Tür zu Gabys Zimmer auf. »Du, wir müssen in einer halben St…« Da stand schon wieder diese Type von vorhin. Der Bürgermeister lehnte sich weit, ich fand zu weit, über den Tresen und sprach mit Gaby. Er setzte sein ›Aha-schonwieder-Sie-Gesicht‹ auf, schwieg aber ansonsten. Diesmal war es mir egal. »Gaby, ich hole dich erst um eins ab, es ist mir etwas dazwischengekommen. Es geht doch?« Und zum Bürgermeister hin sprach ich artig ein »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung.«
Er nickte sprachlos. Gaby lächelte und sagte: »Sicher, das geht, Micha.« Bei Micha ging dem Bürgermeister ein Lichtlein auf. »Gut, dann bis gleich.« Als ich den Raum verließ, blickte ich noch kurz zum Bürgermeister rüber. Der dachte wohl an die Blumen oder sonst irgendwas. Als ich leise die Tür zu Frau Pechs Haus aufschloß, hörte ich sie in der Küche rumoren. Vorsichtig tastete ich mich den kleinen, halbdunklen Flur entlang. Dann kam der schwerere Teil. Fast wie ein Indianer schlich ich mich an der angelehnten Tür vorbei. Endlich hatte ich das Wohnzimmer erreicht. Frau Pech hatte es schon wieder in Ordnung gebracht. Zielstrebig ging ich auf die Anrichte zu und nahm aus der Schublade ein Bild, das Angelika gezeichnet hatte, heraus. Es zeigte ein Auto auf einer Wiese mit ein paar Menschen davor, es hatte mir beim morgendlichen Gespräch am besten gefallen. In diesem Moment klappte die Küchentür. Rasch schob ich die Lade zurück, schob das Bild unter mein Hemd und eilte auf das Sofa zu. In diesem Moment stand Frau Pech in der Tür. »Oh, mein Gott, Herr Herder! Haben Sie mich erschreckt!« »Entschuldigen Sie, Frau Pech, ähem… ich hatte mein Feuerzeug verloren, und da dachte ich, es wäre hier… und… es war auch hier. Zwischen die Couchritze ist es gerutscht.« Flink holte ich das Feuerzeug aus der Tasche und hielt es ihr demonstrativ unter die Nase. »Na, dann ist es ja gut… aber melden hätten Sie sich ja können. Ich hab’ mich so erschrocken!« »Ich hörte Stimmen aus der Küche. Ich dachte, Sie hätten Besuch.« Verschämt blickte sie mich an.
»Ich hab’ doch nur ein wenig gesungen, Herr Herder.« Schnell verabschiedete ich mich. Gaby wollte ich nicht noch einmal versetzen. Sie wartete im Schatten des Rathauseinganges. »Tut mir leid, daß ich so spät komme.« »Sag mal, was ist eigentlich? Ich denke, du machst Urlaub, dabei flitzt du hier durch die Gegend. Ich verstehe das nicht.« Ich legte ihr den Arm um die Schulter und schlug den Weg zum Restaurant ein. Auf dem Weg dorthin erklärte ich ihr in sehr groben Umrissen, daß ich etwas Merkwürdiges beobachtet hatte und nun einige Erkundigungen in dieser Sache machte. Als wir unser Essen bestellt hatten, fragte sie mit einemmal: »Was macht eigentlich dein Freund, dieser Merten, nach dem du dich erkundigt hast? Oder hat der was mit der Sache zu tun?« Es hatte eigentlich wenig Sinn, noch herumzudrucksen. Ich bat sie trotzdem, die Sache noch ein wenig hintenan zu stellen, bis ich etwas klarer sehen würde. Also sprachen wir von etwas anderem. Gegen Viertel vor zwei brachte ich sie ins Amt. Dem Pförtner stand der Mund offen, als ich sie im Angesicht des Rathauses ausdauernd küßte. Vielleicht stand hinter einer Gardine der Bürgermeister und warf etwas gegen die Wand, wer weiß? Ich versprach ihr, sie nachmittags anzurufen und ging. Schnell lief ich zur Fischerstraße und schaute nur kurz um die Ecke. Mertens Lieferwagen stand vor dem Haus.
Befriedigt zündete ich mir eine Zigarette an und machte mich auf den Weg zum ›Alten Salzspeicher‹.
Gerade hatte ich meinen Kaffee bekommen und den ersten Schluck getrunken, da stand unübersehbar Norbert Kunze im Raum. Ich machte mich bemerkbar und er kam auf mich zu. »Sag mal, was ist denn bloß los?« Ich erzählte in knappen Worten von dem Vorfall und kam dann gleich zu meinem Anliegen. Ich legte das Bild vor ihm auf den Tisch und sagte: »Hier hast du ein Bild von der kleinen Angelika. Damit marschierst du jetzt zu der Mutter und erzählst ihr, mit dem Bild hätte Angelika einen Preis im Malwettbewerb gewonnen und du möchtest ihre Tochter mal sprechen. Bin gespannt, was die Mutter sagt.« »Du machst mir wirklich Spaß. Immer wieder aufs neue bin ich stolz, dich meinen Freund nennen zu dürfen. Du hast stets so brillante Einfälle. Beneidenswert!« »Bist du fertig? Paß auf: du gehst geradeaus zum Yachthafen runter, dann links am Wasser entlang. Die Straße heißt ›Am Strande‹. Die dritte Straße links rein, das ist die Fischerstraße. Mertens Haus kannst du gar nicht verfehlen. Das vierte Haus auf der rechten Seite. Kleiner Vorgarten, Heckenrosen an der Hauswand. Nummer 27. Merten ist jetzt wieder mit seinem Brotwagen unterwegs, die Frau ist also allein zu Hause. Alles klar?« »Okay, in Gottes Namen! Gib das Kunstwerk schon her.« »Ich warte hier auf dich.«
9
Norbert Kunze brauchte zu Fuß keine fünf Minuten bis zur Fischerstraße 27. Über einem weißen Emailleschild mit dem Namen Merten befand sich ein runder Messingklingelknopf. Ding-dong. Es war einer von diesen modernen Gongs. Kunze hörte schnelle Schritte auf einem knarrenden Dielenfußboden. Die Haustür öffnete sich nur einen Spaltbreit, gerade so weit, wie es die Vorhängekette zuließ. In dem Spalt erschien das Gesicht einer jungen Frau. Sie mochte so um fünfundzwanzig Jahre alt sein. Ihr hellblondes Haar war nur sehr flüchtig frisiert, das Gesicht blaß, ohne Make-up, und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. »Frau Merten?« »Ja, was gibt’s?« »Mein Name ist Kunze. Norbert Kunze von den Lübecker Nachrichten. Ich hätte Sie gern einmal gesprochen. Darf ich reinkommen?« »Von der Zeitung? Wieso? Was wollen Sie von mir?« Ihre Stimme klang ängstlich, und sie machte nicht die geringsten Anstalten, die Kette von der Tür wegzunehmen. »Es geht um Ihre Tochter Angelika. Ist sie da?« »Um Angelika?« Ihre Stimme drohte zu versagen. »Ja, ich möchte die Kleine einmal sprechen. Sie hat den zweiten Preis in unserem Kindermalwettbewerb gewonnen.« Kunze angelte das Bild aus seiner Tasche und hielt es Frau Merten vor die Nase. »Das hat Engelchen gemalt, ja, das erkenne ich sofort.« Kunze hatte das Gefühl, daß sie jederzeit losheulen würde. »Was ist denn mit Ihnen, fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Nein, nein, es ist gar nichts. Ich bin nur ein bißchen aufgeregt. Wissen Sie, ich habe noch nie mit der Zeitung zu tun gehabt.« Sie riß sich offenbar zusammen und setzte ein verkrampftes Lächeln auf. Scheinbar wurde ihr erst jetzt bewußt, daß die Haustür immer noch mit der Kette gesichert war. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin ganz durcheinander. Kommen Sie doch bitte einen Augenblick herein.« Kunze musterte die Einrichtung, bevor er auf der Couch Platz nahm. Großer Wohnzimmerschrank mit Glasschiebetüren – Nußbaum furniert, ein rechteckiger Tisch mit einer bunten Decke und vier gepolsterte Stühle, dazu eine Sitzgarnitur in goldgelbem Synthetikcord und ein mächtiger Couchtisch mit einer imitierten grünen Marmorplatte. Über der Couch ein gerahmter Druck. ›Der Clown‹ von Büffet. Der Farbfernseher in der Ecke durfte nicht fehlen. Kleinbürgerliche Gemütlichkeit, vermutlich aus dem Versandhauskatalog. Frau Merten setzte sich Kunze gegenüber auf den Sessel, mit steifem Kreuz auf die vorderste Kante. Sie zeigte immer noch ein gekünsteltes Lächeln. »Es tut mir leid, Angelika ist nicht da. Was hat sie denn gewonnen? Ich wußte übrigens gar nicht, daß sie an einem Wettbewerb teilgenommen hat.« »Das ist über den Kindergarten gelaufen«, log Kunze schnell. »Die kleinen Preisträger wollen wir alle nach Lübeck einladen und ihnen zeigen, wie eine Zeitung gemacht wird. Nachmittags gibt’s dann eine Bootsfahrt, Kakao und Kuchen und für jeden eine Überraschung.« Innerlich verfluchte er seinen Freund Herder. Was war, wenn Frau Herder ihn beim Wort nahm? Wenn Michaels Vermutungen sich als pure Einbildung entpuppten? Hätte er bloß gesagt, der Preis bestünde in einer Laufpuppe, die weinen
und pinkeln kann, oder so was. Den Kindernachmittag würde er seinem Chef nie und nimmer verkaufen können. »Und deswegen sind Sie extra hierhergefahren? Wann soll denn das stattfinden?« »Den genauen Termin geben wir Ihnen noch rechtzeitig bekannt. Ich bin heute gekommen, um mich ein wenig mit Angelika zu unterhalten. Wir wollen die Gewinner nämlich in unserer Wochenendausgabe vorstellen. Wann kommt sie denn nach Hause?« »Sie kommt nicht nach Hause. Sie ist bei den Großeltern für ein paar Tage.« »Wo wohnen denn die Großeltern? Ich könnte ja dort vorbeifahren«, fragte Kunze scheinheilig. »Nein, nein! Das geht nicht!« stammelte Frau Merten hastig. »Die wohnen weit weg. In Stuttgart, ja, in Stuttgart.« Sie konnte schlecht lügen, jedenfalls schlechter als er selbst, dachte Kunze. »Tja, das ist Pech für mich. Aber Sie können mir doch sicher ein Foto von Angelika geben?« »Ja, natürlich.« Sie stand auf, zog eine Schublade des Wohnzimmerschranks auf und förderte einen flachen Pappkarton zutage. Nach kurzem Suchen entnahm sie dem Karton ein Foto und reichte es Kunze. »Geht das?« Kunze betrachtete es. Angelika mußte ein niedlicher Fratz sein. Sie hatte eine freche Stupsnase und hellblonde Haare, die zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden waren. Das Bild war offenbar von einem Fotografen gemacht worden. »Selbstverständlich, das Foto eignet sich prima zum Reproduzieren. Vielen Dank!« Frau Merten hatte sich nicht wieder hingesetzt. Sie wollte Kunze offenbar jetzt sehr schnell loswerden.
»Sie können mir das Foto ja dann mit der Post zurückschicken.« Während sie das sagte, griff sie zur Türklinke. Kunze beeilte sich, aufzustehen. »Nochmals vielen Dank. Sie hören dann noch von uns.« Damit verließ er das Haus. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß und er hörte noch, wie die Sicherheitskette rasselnd eingehängt wurde. Nach knapp einer halben Stunde sah ich Norbert quer durchs Lokal auf mich zukommen. Er wedelte sich mit einem Foto frische Luft zu. Schnaufend setzte er sich. »Du hattest recht, mein Lieber, an der Sache ist was faul, oberfaul!« Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Und?« »Na, immer mit der Ruhe und der Reihe nach – Herr Ober!« Norbert bestellte sich einen Kaffee und dazu einen Kognak. »Also – die Frau war unheimlich aufgeregt und zerfahren. Als ich von ihrer Tochter anfing, reagierte sie ängstlich. Sie hatte offensichtlich rotgeweinte Augen, und ich spürte, daß sie mich auf dem schnellsten Wege loswerden wollte.« Der Ober brachte Kaffee und Kognak, und Norbert nahm von beidem einen hastigen Schluck. »Sie wüßte nichts von einem Malwettbewerb, aber das Bild sei von Angelika, sie erkenne es. Ich sagte ihr, der Kindergarten hätte das Bild mit anderen zusammen eingeschickt. Dann erzählte sie mir, halte dich fest, mein Lieber, das Kind wäre bei den Großeltern in Stuttgart. Lübeck hat sie wohl nicht gesagt aus Angst, ich könnte um die Adresse bitten. Hier, sie gab mir dann auf meine Bitte hin dieses Bild von Angelika.«
Er legte das Foto auf den Tisch. Ich nahm es und betrachtete es. »Soll ich dir mal was sagen, Michael?« »Ich bitte darum.« »Du hast mir ja noch nicht erzählt, warum du hinter dem Merten her bist. Aber wenn du annimmst, daß er seine Tochter beiseite geschafft hat, könnte das stimmen.« Ich starrte ihn sprachlos an. »Wie meinst du das?« »Na, das, ist doch klar! Wenn die das Kind irgendwo hingebracht haben, in den Urlaub oder so, dann braucht die Frau nicht so zu lügen mit der Adresse. Außerdem braucht sie nicht zu weinen. Es sei denn, ihr Mann hat etwas vor – und zwar ohne ihre Einwilligung.«
10
Im Führerhaus des Lieferwagens war es bullig heiß. Die Ostseesonne knallte auf das Dach. Edgar Merten wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Kleider klebten ihm am Leib. Er hatte seine Tagestour beendet und war auf dem Weg nach Hause. Er war unkonzentriert gewesen. Ihm waren Abrechnungsfehler unterlaufen, er hatte falsche Waren angeliefert. Er war aggressiv. »Ist Ihnen nicht gut?« hatten vereinzelt Kunden gefragt und dann: »Ja, diese verfluchte Hitze macht uns allen zu schaffen.« Fluchend warf er die abgebrannte Zigarette aus dem Fenster, er hatte sich die Finger angebrannt. Der Aschenbecher quoll über, er hatte wieder angefangen, stark zu rauchen. War es richtig, nicht zur Polizei zu gehen? Konnten die ihm nicht viel besser helfen? Diese Fragen quälten ihn unablässig. Und Inge, hielt sie durch? Gerade letzte Woche war ein Mädchen entführt worden, Tochter wohlhabender Eltern. Die Eltern hatten einen Privatdetektiv engagiert und später dann die Polizei informiert. Sie hatten das Mädchen gefunden. Tot. In den Busch geworfen. Die Entführer hatten etwas spitzgekriegt und in einem Anflug von Panik das Kind umgebracht. Was sollte er bloß tun? Er hätte schreien können. Vor Wut. Vor Angst. Vor Verzweiflung. Warum er, warum ausgerechnet sein Kind? Die Leute, die er durch die Windschutzscheibe sah, ja die, die waren glücklich. Die liefen quirlig, bunt gekleidet und vergnügt in der Gegend herum. Und die kleinen Kinder. Immer
durchzuckte es ihn, wenn er ein Mädchen sah, das Angelika ähnelte. Einmal, da lief eins die Straße entlang und er dachte: Das, das ist Angelika, es wird alles wieder gut. Er hatte auf die Bremse getreten, der Hintermann konnte gerade einen Auffahrunfall vermeiden. Merten war aus dem Wagen gesprungen, hinter dem Mädchen hergelaufen. Aber je näher er kam, desto klarer wurde ihm, daß es nicht Angelika war. Er war zurückgeschlichen. Zwei Menschen, der Hintermann und ein Passant, hatten gewartet und auf ihn eingeredet. Er hatte ihnen nicht zugehört. Es war ihm so egal. Er war wieder ins Führerhaus geklettert und losgefahren. Einfach so, ohne sich um die beiden zu kümmern. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, sie hätten ihn doch nicht verstanden. Der Verkehr stockte. Zwischen den Autos schlängelten sich die Urlauber durch, um die andere Straßenseite zu erreichen. Was wollten die Entführer von ihm? Gestern abend das Gespräch, was hatte es zu bedeuten? »Sie werden sich eben Geld besorgen. Wir zeigen Ihnen den Weg, es ist ganz unproblematisch«, hatte der Mann gesagt. Und dann noch Angelika, ihre Stimme, so klein, so ängstlich. Ihr »Papi, hol mich doch nach Hause, ich will zu Mami.« Und dann wieder die Stimme, so eiskalt, so gemein: »Sie sehen, Herr Merten, es ist alles in Ordnung. Ihre Tochter lebt noch, und Sie werden sie auch wiedersehen, wenn Sie weiter so besonnen bleiben. Wir beobachten Sie, denken Sie immer daran. Ein falscher Schritt, und Ihre Tochter zahlt die Rechnung.« Und dann das Knacken. Man ruft noch etwas in den Hörer, aber es ist vergebens, es hört einen keiner, denn es hat ja schon geknackt. Und dann das Gesicht von Inge, ängstlich und fragend. Die Angst, die unbeschreibliche Angst.
Erst jetzt hörte Edgar Merten das Hupkonzert hinter sich. Er sah die lächelnden Gesichter der Passanten. Winkten sie ihm zu? Einer rief etwas. Aber der Verkehr rauschte so laut, daß er nur das Wort ›schlafen‹ verstand. Da begriff er: vor ihm die Straße war frei, der Stau hatte sich aufgelöst. Langsam reagierend legte er den Gang ein und fuhr los. Die Leute lachten ihm noch immer zu und winkten. Er schaute in den Rückspiegel, es hatte sich eine ganz schöne Schlange gebildet. Die Sonne blendete ihn für einen Moment, er zwinkerte. Mit der rechten Hand griff er zum Beifahrersitz und fingerte sich eine Zigarette aus der Packung. Als der Zigarettenanzünder rausklickte, bog er in die Fischerstraße ein. Vor dem Haus war nichts frei. Er stellte den Wagen etwas oberhalb ab, verschloß ihn sorgfältig und ging zum Haus.
Als er das Haus betrat, kam ihm Inge aufgeregt entgegen: »Du, es ist etwas passiert!« »Angelika, ist sie…?« »Nein, nein, etwas anderes! Komm in die Küche, ich erzähle es dir.« Er hängte seinen Kittel an die Garderobe und ging in die Küche. Es roch nach Kaffee. Inge trug ein leichtes Sommerkleid, das Sonnenlicht machte es durchsichtig. Er sah ihre Schenkel unter dem Stoff, und er hätte mit ihr geschlafen, sofort, wenn es nur nicht so verflucht unpassend gewesen wäre. Inge schenkte ihnen Kaffee ein. Edgar Merten nahm sich Milch und Zucker. »Da war heute einer da von den Lübecker Nachrichten. Der hatte ein gemaltes Bild von Angelika dabei und sagte, sie hätte im Kindermalwettbewerb den zweiten Preis gewonnen. Er wollte sie sprechen. Weil er aus Lübeck war, habe ich gesagt,
sie sei bei ihren Großeltern in Stuttgart und mache da Ferien. Wenn ich Lübeck gesagt hätte, wäre er womöglich da vorbeigefahren.« »Und weiter?« »Na, der Mann erzählte, daß der Malwettbewerb über die Kindergärten gelaufen sei. Ja, und dann, dann hat er mich nach einem Foto von Angelika gefragt, und ich habe ihm eins gegeben. Ich wollte, daß er geht. Ich konnte nicht mehr, ich hab’ richtig die Tränen unterdrückt.« Edgar Mertens Augen verengten sich. »Was hast du?« schrie er, »du hast dem ein Bild von Angelika gegeben? Bist du wahnsinnig? Der war doch gar nicht von der Zeitung! Das war einer der Entführer, die wollten uns testen! Und du, du verteilst freigebig Fotos!« Seine Frau fing an zu weinen. »Aber er hatte doch ein Bild, ein von Angelika gemaltes Bild. Ich halte das nicht mehr aus, hörst du, ich kann nicht mehr!« Edgar Merten fuhr ihr über das Haar. »Entschuldige, Inge, ich kann auch nicht mehr. Laß uns jetzt bloß nicht streiten, sonst ist alles verloren. Nehmen wir einmal an, die Sache stimmt. Selbst dann kann es gefährlich werden. Stell dir vor, die veröffentlichen morgen das Foto. Was sollen die Entführer davon halten? Die denken, das ist eine Falle oder sonstwas.« Edgar Merten sah seine Frau an. »Und an das Bild können die Entführer auch leicht drankommen. Die legen Engelchen Papier und Stifte hin. Du weißt ja, wie gerne sie malt, und schon haben die ihr Bild.« Die Frau blickte ihn ängstlich an: »Und nun, was soll nun werden?« »Ich rufe bei den Lübecker Nachrichten an, und wenn es tatsächlich diesen Reporter da gibt, wie hieß er eigentlich?« »Kunze.«
»Ja, wenn es diesen Kunze da gibt, dann verbiete ich ihm einfach die Veröffentlichung.« »Und wenn es da keinen Kunze gibt?« »Ja, dann können wir nur hoffen, daß es gutgeht.« Edgar Merten holte sich das Telefonbuch und schlug die Nummer der Lübecker Nachrichten nach. Bevor er zum Telefon ging, zündete er sich eine Zigarette an. Hoffentlich gibt es einen Kunze! dachte er, als er die Nummer wählte. »Lübecker Nachrichten.« »Ja, guten Tag, hier ist Merten. Könnte ich Ihren Herrn Kunze sprechen?« »Ich will sehen, ob er noch im Hause ist. Einen Moment, bitte.« Es knackte. Edgar Merten atmete auf. Er deckte mit der Hand die Muschel ab und sagte zu seiner Frau gewandt: »Es gibt einen Kunze. Hoffentlich ist das nicht nur ein blödsinniger Zufall.« »Kunze, Lübecker Nachrichten.« »Ja, guten Tag, hier spricht Merten.« »Herr Merten, was kann ich für Sie tun?« »Sie waren heute nachmittag bei uns, das heißt, bei meiner Frau. In Heiligenhafen. Es war wegen unserer Tochter Angelika…« »Ja, sie hat in unserem Malwettbewerb den zweiten Preis gewonnen, und wir bringen in unserer Wochenendausgabe einen Bericht darüber.« »Genau, darum geht es. Ich wünsche aus persönlichen Gründen nicht, daß ein Bild von Angelika in der Zeitung erscheint. Verstehen Sie, ich möchte nicht, daß Sie das Foto drucken.« »Herr Merten, ich höre natürlich, was Sie da sagen, aber ich verstehe es nicht. Schließlich ist es doch eine ganz harmlose
Sache, zudem noch eine nette Erinnerung für Ihre Tochter. Wer steht schon in der Zeitung? Aber, darf ich dann wenigstens fragen, warum Sie es nicht wünschen?« »Herr Kunze, bitte, ich möchte nicht darüber sprechen, es ist eine rein private Angelegenheit. Ich möchte Sie bitten, mir das Foto zurückzusenden, weil ich eine Veröffentlichung nicht wünsche. Haben Sie mich verstanden?« »Wie gesagt, verstehen tue ich es zwar nicht, aber ich respektiere Ihren Wunsch, zumal Sie ja der Erziehungsberechtigte sind. Ich werde Ihnen das Foto zurücksenden. Wir werden nichts veröffentlichen.« »Kann ich mich darauf verlassen?« »Ganz sicher. Auch wenn ich eine Veröffentlichung wollte, ich dürfte es jetzt nicht mehr. Sie können ganz beruhigt sein.« »Vielen Dank – Herr Kunze…« »Ja?« »Nein, es ist schon gut, vielen Dank nochmals. Auf Wiederhören.« Edgar Merten legte den Hörer auf die Gabel. Er fühlte sich auf einmal müde und zerschlagen. Es war, als löste sich der Druck der vergangenen Tage auf. Er lächelte seiner Frau zu und ging zurück in die Küche.
11
Es klopfte. »Herr Herder, Telefon für Sie!« »Ja, vielen Dank, Frau Pech.« Ich legte die Illustrierte, die ich gerade las, beiseite und drückte die halbgerauchte Zigarette im Ascher aus und ging zur Tür. Frau Pech verschwand wieder in der Küche. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt. Auf der Anrichte stand das Telefon, der Hörer lag daneben. Ich nahm ihn hoch. »Herder.« »Na, nun rat mal, wer mich eben angerufen hat?« »Norbert, du? Was weiß ich, wer dich anruft?« »Herr Merten persönlich.« »Was? Merten? Und was wollte er?« »Er verbot mir klipp und klar die Veröffentlichung des Fotos seiner Tochter Angelika.« »Und hat er gesagt warum?« »Nein, das heißt, er erzählte, es sei aus privaten Gründen. Zum Schluß war er so komisch. So, als wollte er noch etwas sagen, aber dann tat er’s doch nicht, sondern verabschiedete sich und legte auf.« »Was heißt, er wollte noch etwas sagen?« »Na, er bedankte sich, daß ich von der Veröffentlichung absah und sagte dann: ›Herr Kunze!‹ Ich fragte: ›Ja?‹ Aber er antwortete nur, fast wie zu sich selbst: ›Nein, ist schon gut.‹« »Und?« »Nichts und. Er hat sich dann verabschiedet. Ich hab’ ihm versprochen, das Foto zurückzuschicken. Also schick es mir zu, oder noch besser: Gib es bei der Anzeigenannahmestelle der Lübecker Nachrichten ab, dann holt es unser Fahrer. Wenn
du es gleich morgen früh hinbringst, dann habe ich es mittags. Alles klar?« »Alles klar, und vielen Dank. Ich melde mich wieder bei dir, sobald es geht.« »Will ich auch hoffen. Tschüß, mach’s gut.« Ich legte den Hörer auf und ging in mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin fing mich Frau Pech ab. »Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee, Herr Herder?« »Das wäre, ehrlich gesagt, ein wahrer Segen, Frau Pech.« »Setzen Sie sich ruhig in Ihr Zimmer, ich brühe gerade eine Kanne auf. Ich bringe Ihnen dann gleich den Kaffee.« Ich ließ mich in den Sessel plumpsen. Einen Kaffee konnte ich jetzt wirklich vertragen. Irgendwie war jetzt der letzte Zweifel bei mir ausgeräumt. Ein Vater, der die Veröffentlichung eines Fotos seiner Tochter in der Zeitung unterbindet? Anstatt stolz darauf zu sein, daß sie in einem Malwettbewerb gewonnen hat. So etwas gibt’s doch nicht. Es sei denn, es ist etwas im Gange. Und hier ist etwas im Gange! Da war ich mir ganz sicher, so sicher, wie Frau Pech gleich mit dem Kaffee kommen würde. Und richtig, da klopfte sie auch schon.
12
Inge Merten stand am Herd und kochte eine Tütensuppe. Ihr Mann saß rittlings auf einem Küchenstuhl. »Ich habe wenig Hunger.« Sie blickte ihn an. »Du rauchst sehr viel.« Er starrte aus dem Küchenfenster. »Was wird sie jetzt tun, ob sie große Angst hat? Sie versteht es doch nicht, sie ist doch noch so klein.« »Bitte, Edgar, hör auf. Quäl dich und mich nicht. Es wird gut werden, es wird gut werden.« Sie stieß die Worte hervor, als könne sie ihnen dann mehr Glauben schenken. Edgar Merten hämmerte mit der Faust gegen die Stuhllehne. »Diese Schweine! Wenn Angelika auch nur ein Haar gekrümmt wird, ich bringe sie um, ich bringe sie um!« Die Worte erstarben, er weinte, haltlos. Seine Frau nahm seinen Kopf in beide Hände und streichelte sein Haar. Sie preßte ihren Mund auf sein Haar. »Wein bitte nicht. Bitte, wein nicht!« Sie wischte mit ihrer Hand über seine Augen. Ihre Hand zitterte. »Sie wird wiederkommen, ich weiß es. Ganz gewiß.« Wie gefaßt sie ist, dachte er. Wie anders. Sicherlich, es war eine außergewöhnliche Situation, und solche Situationen verändern Menschen. Sie war verändert, er spürte es, nur hätte man ihn danach gefragt, er hätte es nicht beschreiben können. Die Worte hätten ihm gefehlt. Das Telefon klingelte.
Ihre Hand stockte. Für einen kurzen Moment blickten sie sich an. Inge Merten sah die Angst in seinen Augen und spürte die eigene. Edgar Merten sprang auf, stürzte zum Telefon und riß den Hörer hoch. »Merten.« »Guten Abend, Herr Merten. Ich soll Sie von Ihrer Tochter grüßen. Es geht ihr gut, sie schläft jetzt. Zur Zeit ist es noch ganz ungefährlich für sie. Und es bleibt natürlich auch so, wenn Sie sich weiterhin an unsere Anweisungen halten.« »Was soll ich tun? Sagen Sie es endlich!« »Sie werden uns Geld geben und bekommen dafür Ihre Tochter zurück. Eine ganz einfache und klare Sache.« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe keinen Pfennig – nur meinen Lohn…« »Dann werden Sie sich eben Geld besorgen.« »Und wie?« »An der Quelle. Sie haben doch eine Pistole von uns bekommen.« »Ich verstehe nicht. Was soll das heißen?« »Ganz einfach, Herr Merten. Sie überfallen eine Bank. Nur – der kleine Haken an der Sache ist, wir bekommen das Geld.« »Was soll ich? Eine Bank überfallen? Sie sind ja total übergeschnappt!« »Herr Merten, es bleibt Ihnen einfach keine andere Wahl. Sie wollen doch Ihre Tochter wiedersehen?« »Aber wie stellen Sie sich denn das vor?« »Wir haben einen genauen Plan für Sie. Sie haben ja schon die Pistole, jetzt brauchen Sie sich nur noch nach unseren Wünschen etwas auszustaffieren, und dann machen Sie es. Sehen Sie, wir helfen Ihnen ja.« »Warum machen Sie es denn nicht selbst?« »Wir haben die besseren Argumente.« »Und wenn ich mich weigere…?«
»Eine sehr dumme Frage. Nun werden Sie doch vernünftig, Herr Merten. Es liegt viel Geld bei den Banken. Es ist Monatsende und außerdem Hochsaison. Sie ziehen sich wie ein Urlauber an, und zwar Jeans, T-Shirt, Seglermütze und dann noch ein Halstuch, der Sinn ist Ihnen klar. Ist alles ganz einfach. Wir melden uns dann morgen wieder und geben Ihnen den genauen Zeitpunkt und die Bank an, die Sie überfallen werden. Und natürlich den Übergabeort des Geldes. Wenn alles klappt, ist Ihre Tochter schon bald wieder bei Ihnen.« »Aber ich kann doch nicht einfach…« »Doch, Sie können. Wenn Ihre Tochter wieder bei Ihnen ist, können Sie machen, was Sie wollen. Sie können zur Polizei gehen und die ganze Geschichte erzählen. Wir haben dann den nötigen Vorsprung.« »Die werden mir nicht glauben. Die denken, das ist ein Plan von mir.« »Herr Merten, es bleibt dabei. Denken Sie an Ihre Tochter. Denken Sie daran. Immer. Wir melden uns wieder.« Die Verbindung war unterbrochen. Edgar Merten rutschte der Hörer aus der schweißnassen Hand. Seine Frau stand hinter ihm. Er stützte sich auf sie. »Ich soll eine Bank überfallen, um an das Lösegeld zu kommen.« Mechanisch bewegten sie sich vom Telefon weg, als es erneut klingelte. Frau Merten nahm den Hörer auf. »Papi, Papi, warum kommst…« »Angelika, hier ist Mami.« Das Kind weinte. Da drückte jemand auf die Gabel, die Leitung war tot. »Es war Angelika«, sagte sie tonlos und begann zu weinen. »Du mußt tun, was sie wollen, Edgar.«
13
Ich war drauf und dran, zu Gaby zu fahren. Es war kurz vor acht. Der Krimi, den ich las, war zum Sterben langweilig. Genauso langweilig, wie die Beobachtung von Mertens Haus. Denn seit er von seiner Tour nach Hause gekommen war, hatte sich nichts gerührt. Frau Pechs Kaffee war köstlich gewesen, nur leider schon lange vertilgt. Zu ihr zu gehen, hatte ich keine Lust, womöglich hielt sie mich dann auf. Es hatte angefangen zu dämmern, aber Licht war noch nicht nötig. Es roch nach Tabak. Ich dachte über Norberts Anruf nach und blickte aus dem Fenster. Bei Mertens brannte das Flurlicht. Wollte er weg? Ich stemmte mich aus dem Sessel hoch und trat ans Fenster. Drüben öffnete sich die Haustür. Eine Frau kam heraus, gefolgt von Merten. Die Frau war Inge Merten. Ich erkannte sie nach Norberts Beschreibung wieder. Etwa 25 Jahre, blonde Haarsträhnen schauten unter einem Kopftuch hervor. Edgar Merten schloß die Tür ab, hakte seine Frau unter, und beide gingen die Fischerstraße hoch. In Richtung Zentrum. Ich holte meine Wildlederjacke aus dem Schrank und verließ ebenfalls das Haus. Die Mertens gingen ziemlich langsam. Einem Nachbarn, der vor seinem Haus saß, nickten sie zu. Am oberen Ende der Fischerstraße bogen sie links ab, sie wollten also zum Marktplatz. Die Schaufenster der Läden in der Bergstraße interessierten sie nicht. Kurz vor dem Marktplatz wechselten sie auf die
rechte Straßenseite über. Vor dem Schaufenster eines Spielwaren- und Andenkenladens am Markt blieben sie stehen. Aber die Auslage schien sie nicht besonders zu locken, vielmehr schauten sie immer in den Eingang hinein, als gäbe es da etwas Besonderes zu sehen. Dann gingen sie weiter. Als ich den Laden erreichte, sah ich das Besondere. In der halbdunklen Nische befanden sich zwei Eingangstüren. Die eine führte zum Spielwarengeschäft, die andere zur Volksbank. Die Tür der Volksbank bestand aus hellbraunem Holz, sie war mit einem Sicherheitsschloß versehen. Eigentlich etwas lächerlich für einen Bankeingang. War es das? Wollte Merten eine Bank berauben? Ich sah ihnen nach. Sie überquerten gerade die schmale Mühlenstraße. Zwischen Mühlenstraße und Thulboden liegt das neue Gebäude der Kreissparkasse. Auch hier blieben sie stehen, schauten sich das neue Gebäude an. Man hätte sie für Urlauber halten können, die an ihrem ersten Abend in Heiligenhafen ein wenig die Stadt kennenlernen wollen. Ich wechselte zu der grünen Verkehrsinsel in der Mitte des Platzes und setzte mich auf eine Bank. Sie unterhielten sich angeregt. Die Frau gestikulierte mit den Händen, zeigte zurück in Richtung Volksbank, wendete sich dann um und zeigte an der Kreissparkasse vorbei. Mein Blick folgte ihrer Hand. Die Neonbeleuchtung zeigte an, daß sich auch in dem rostfarbenen Gebäude an der gegenüberliegenden Ecke des Thulbodens eine Bank befand. Die Filiale der Handelsbank. Erst jetzt fiel mir auf, daß sich am Marktplatz drei Banken niedergelassen hatten. Edgar Merten legte den Arm um die Hüfte seiner Frau, sie überquerten den Thulboden. Sie verharrten einen Augenblick
vor der Handelsbank, und er versuchte, durch die Scheibe der Eingangstür zu sehen, indem er die Hände vor seine Augen zu einem Trichter formte. Dann gingen sie den Thulboden rauf. Ich zündete mir eine Zigarette an und folgte ihnen langsam. Der Thulboden ist eine enge Straße. Rechts und links sind Läden, Boutiquen, Gaststätten, eine Eisdiele und ein Kino. Parkende Autos machten die schmale Straße noch enger. Der Betrieb in den Lokalen war in vollem Gange. Die Türen waren weit geöffnet, um die allmählich kühler werdende Abendluft einzulassen. Ich hörte das Lachen der Gäste. Gesprächsfetzen fielen auf die Straße. Die Zapfer schwitzten. Die Mertens kümmerten sich um das alles nicht. Nun hatte auch die Frau ihren Arm um die Hüfte ihres Mannes gelegt. Von weitem sahen sie wie ein Liebespaar aus. Nur – Liebespaare kümmern sich gewöhnlich mehr um sich selbst als um anderer Leute Banken. Und da betrachteten sie schon wieder eine Bank. Ungefähr hundert Meter weiter den Thulboden hinunter biegt links eine kleine Straße ab. An der Ecke befindet sich die Spar- und Darlehnskasse. Edgar Merten schüttelte den Kopf und redete auf seine Frau ein. Mit seiner Hand machte er eine Bewegung wie »…aber da um die Ecke!« Seine Frau nickte. Sie drehten sich um und kamen nun auf mich zu. Inge Merten war ungefähr einen Meter siebzig groß und hatte ein hübsches Gesicht. Große Augen und volle Lippen. Immer mehr Haare hatten sich unter dem Kopftuch vorgewagt, das Strohblonde bildete einen guten Kontrast zu ihrem braunen Teint. Ihre Schultern waren vielleicht um einen Deut zu ausgeprägt. Ein leichter Sommerpulli umspannte ihre Brust und brachte den Schwung ihrer Hüfte gut zur Geltung.
Edgar Merten zog seine Frau zu sich heran, als wir uns auf dem schmalen Bürgersteig aneinander vorbeidrängelten. Für einen Moment sah ich in die beiden Gesichter. Zufrieden sahen sie nicht aus. Trotz der sonnengebräunten Haut wirkten sie blaß und abgespannt. Ich ging an ihnen vorbei bis zur Straßenecke. Und dann konnte ich seine Handbewegung verstehen, denn genau hinter der Spar- und Darlehnskasse befand sich die Polizeistation. Es wäre wirklich sträflich dumm, hier einen Überfall zu machen. Dann konnte man gleich versuchen, die Skatkasse der Polizei zu stehlen, das wäre genauso blödsinnig. Ich drehte mich um. Die Mertens gingen den gleichen Weg zurück. Ich folgte ihnen in großem Abstand. Sie überquerten den Marktplatz, blieben einen Moment stehen, schauten in die Runde und verschwanden dann in der Bergstraße. Brav wie ein Hündchen trottete ich hinterher. Sie bogen in die Fischerstraße ein, und nach wenigen Minuten waren sie in ihrem Haus verschwunden. »Ein wirklich schöner Spaziergang«, murmelte ich vor mich hin und zündete mir eine Zigarette an. Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich holte mein Auto und fuhr los. Etwas Erfreuliches sollte es wenigstens in meinem sich so traurig entwickelnden Urlauberdasein noch geben: Gaby.
14
Gaby hatte wohl schon auf mich gewartet und meinen Wagen kommen sehen. Bevor ich die Klinke der Haustür zu fassen bekam, wurde sie bereits von innen aufgerissen. Gaby rannte mich beinahe um. »Holla, holla! Immer langsam mit den jungen Pferden.« Sie war tagsüber offenbar doch nicht ausgelastet. Ihre Augen funkelten unternehmungslustig. »Hat der Herr schon Pläne für den heutigen Abend?« »Ja, schon…«, druckste ich, »aber du wirst wahrscheinlich nicht begeistert sein.« Auf der Fahrt zu ihr hatte ich mir die ganze Geschichte mit Merten, der Pistole und dem verschwundenen Kind noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es paßte alles noch nicht zusammen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Wer hat die Pistole am Strand hinterlegt? Warum wurde das Kind weggebracht und wohin? Fragen, auf die ich keine Antwort wußte. Ich mußte mich mit Thomas Merck unterhalten, ihm die Story von vorne bis hinten erzählen. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Aber ein anderer, dem man die Fakten hinlegt, der sieht die Zusammenhänge auf Anhieb. Ich war an diesem Punkt angelangt und hatte mir unterwegs vorgenommen, noch am gleichen Abend zu Thomas nach Hamburg zu fahren. »Gaby, es tut mir leid, ich muß nach Hamburg. Habe ein dringendes Gespräch zu führen. Hast du Telefon in der Wohnung?«
»Ist es wegen diesem Merten, dem du dauernd nachspionierst?« Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. »Ja, deswegen. Ich will mich mit einem Freund darüber unterhalten. Er ist bei der Polizei, Kriminalkommissar. Ich habe das sichere Gefühl, daß dieser Merten ein Verbrechen plant. Wahrscheinlich einen Banküberfall – hier in Heiligenhafen.« »Warum kümmerst du dich denn darum? Der Merten ist doch gar kein Schulfreund von dir, das hast du mir doch nur vorgeschwindelt, stimmt’s? Geh doch hier zur Polizei und melde, was du beobachtet hast. Ich will nicht, daß du dich in Gefahr begibst.« »Ich kann hier nicht zur Polizei gehen. Jetzt noch nicht. Dazu weiß ich viel zuwenig. Das meiste sind Vermutungen. Die Polizei kann ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch gar nichts Gesetzwidriges nachweisen. Außer vielleicht, daß er eine Waffe besitzt. Aber wer sagt mir, daß er nicht auch den dazugehörigen Waffenschein hat? Nein, so kommen wir nicht weiter. Auf diese Weise würde Merten nur gewarnt werden.« »Also gut, Sherlock Holmes, fahren wir nach Hamburg.« »Du kommst mit?« »Was dachtest du denn? Ich habe noch nichts gegessen. Und du als Hamburger wirst ja wohl ein paar schnuckelige Spezialitätenrestaurants in Hamburg kennen, oder? Das Gespräch mit deinem Freund und Helfer wird ja nicht ewig dauern.« Ich gab ihr einen lauten schmatzenden Kuß mitten auf die Stirn. »Ich freu’ mich, daß du nicht böse bist. Ißt du gerne italienisch?« »Ja, da könnt’ ich mich glatt reinsetzen. Aber wolltest du nicht telefonieren? In der Wohnung ist kein Telefon, aber um die Ecke ist eine Zelle.«
Ich wählte die Privatnummer von Thomas Merck und sagte ihm, daß ich in etwa eineinhalb Stunden bei ihm sein würde. Ich konnte förmlich hören, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Um diese Zeit war wenig Verkehr. Wir kamen zügig voran. Schon kurz nach neun Uhr parkte ich meinen Wagen in Alsterdorf vor dem Haus Herbergredder 10. Thomas Merck bewohnte ein altes kleines Haus, das so um die Jahrhundertwende erbaut sein mußte. Er hatte viel Mühe und Geld aufgewendet, um ein wahres Schmuckstück daraus zu machen. Der schokoladenbraune Außenanstrich kontrastierte gut zu den weißen Dachsparren und dem Balkongeländer. Durch die heruntergezogenen weißrotgestreiften Rollos vor dem Erkerfenster fiel ein anheimelndes Licht und ließ die Gemütlichkeit innen erahnen. Als ich gerade den Klingelknopf drücken wollte, versetzte mir Gaby einen Stoß in die Seite und deutete auf einen handbeschriebenen Zettel, der aus dem Briefkastenschlitz heraushing. Bitte nicht klingeln! Klopfen! stand dort zu lesen. Ich pochte vorsichtig an die Tür. Thomas öffnete und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Pst. Ich habe gerade meinen Jungen zu Bett gebracht. Kommt leise rein.« Im Wohnzimmer machte ich Thomas mit Gaby bekannt. Dann setzten wir uns in die mit Segeltuch gepolsterten Korbsessel. »Habt ihr schon etwas gegessen? Ich mach’ euch gerne ein paar Schnittchen fertig.« Ich lehnte dankend ab, schließlich hatten wir ja noch etwas vor heute abend. »Sag mal, Thomas, bist du Strohwitwer?« »Wieso? Ach so! Nein, Suzanne ist heute abend ins Theater gegangen, damit ihr Volksbühnenabo nicht verfällt.«
Er holte eine Flasche Kognak aus dem Regal. Diesmal lehnten wir nicht ab. »Tja, Michael, dann schieß mal los.« Ich erzählte ihm alles haarklein und ließ dabei kein Detail aus. Als ich fertig war, entstand eine schweigsame Pause. Gaby schaute Thomas erwartungsvoll an. Er hatte mich nicht einmal unterbrochen während meiner Schilderung. Nun dachte er nach. »Daß der Mann einen Banküberfall ausgerechnet in der Stadt durchführen sollte, in der er lebt, ist doch höchst unwahrscheinlich. In einer Kleinstadt, in der ihn vermutlich jeder kennt. Außerdem hat er sich acht Jahre lang nichts zuschulden kommen lassen. Er führt ein gutbürgerliches Leben, hat eine Frau und ein Kind, ist bei den Nachbarn als netter Mensch beliebt. Wo ist da das Motiv? Kriminelle Veranlagung? Das ist doch ausgemachter Blödsinn! Nein, da muß irgendwas anderes dahinterstecken.« Thomas Merck verfiel wieder ins Grübeln. »Er muß aber einen Komplizen haben«, warf ich ein. »Die Pistole kann nicht lange in dem Bademeisterausguck gelegen haben. Die muß am gleichen Abend dort hinterlegt worden sein. Es sei denn, der Bademeister ist der Komplize.« »Richtig! Ein Komplize ist im Spiel, aber wer ist der geheimnisvolle Unbekannte? Vielleicht auch jemand, der in Heiligenhafen ein unbescholtenes Kleinbürgerdasein fristet?« Da kam mir eine Idee. »Wie wär’s denn mit seinem früheren Kumpan, wie hieß er doch gleich? Ach ja, Walter Schümann. Du sagtest mir doch, Schümann sei wieder auf freiem Fuß.« »Den kannst du streichen. Kommt als Komplize nicht in Frage. Der hat doch eine Stinkwut auf Merten, weil er ihn in der Verhandlung so stark belastet hat. Der würde ihn lieber über den Haufen knallen, anstatt ihm noch eine Pistole zu besorgen.«
Gaby hatte aufmerksam zugehört und mischte sich jetzt plötzlich ein: »Vielleicht zwingt dieser Schümann Merten zum Mitmachen.« Thomas guckte sie verdutzt an. »Natürlich! Daß wir nicht darauf gekommen sind. Und da wird immer so abfällig von der weiblichen Logik geredet. Allerdings…« »Allerdings, was?« »Was hat er für ein Druckmittel in der Hand? So einfach zwingen kann er ihn ja wohl kaum. Merten brauchte ja nur zur Polizei zu gehen, wenn er nicht mitmachen will.« »Wer weiß«, warf ich ein, »möglicherweise ist Merten doch nicht so ein unbeschriebenes Blatt, wie er den Richter glauben machen konnte. Er kann doch ein paar Flecken auf der Weste haben, von denen die Polizei noch nichts weiß. Aber Schümann kennt sie. Er kann Mertens Biedermannimage mit einem Schlage zum Platzen bringen. Dann ist alles, was sich Merten in den letzten Jahren aufgebaut hat, umsonst gewesen. Ist das kein Druckmittel?« »Ja, so könnte es sein«, räumte Thomas ein. »Ich werde noch mal Mertens Vergangenheit genau durchforsten lassen. Und meinen Düsseldorfer Kollegen werde ich morgen bitten, sich um Walter Schümann zu kümmern. Wir müssen auf jeden Fall feststellen, wo er sich zur Zeit aufhält. Mehr können wir im Moment nicht tun.« »Und was ist mit dem Kind, Thomas?« »Dafür gibt’s eine Menge Erklärungen. Meine Version ist die folgende: Merten hat das Kind weggebracht, damit es ihn bei einer eventuell notwendig werdenden Flucht nicht behindert. Höchstwahrscheinlich befindet sich die Kleine schon an dem Ort, an dem sich Merten nach der Tat verstecken will. Vielleicht sogar im Ausland. Die dänische Grenze ist ja nicht weit weg von Heiligenhafen.«
Aus meinen Bruchstücken war eine schöne runde Theorie geworden. Thomas Merck blickte mich an. »Michael, wir haben bis jetzt als Freunde gesprochen, hier in meinen privaten Räumen und außerhalb der Dienstzeit. Und wir haben uns eine Theorie über ein Verbrechen zusammengebastelt. Aber eben nur eine Theorie. Ich muß dich jetzt als Polizeibeamter fragen: Willst du deine Beobachtungen offiziell zur Anzeige bringen? Ich mache dich darauf aufmerksam, daß wir hier in Hamburg nicht zuständig sind in dieser Angelegenheit. Ich müßte die Kollegen in Kiel informieren.« »Du hast recht, es ist bisher nur eine Theorie. Und ich habe dich bewußt als Freund und Privatmann aufgesucht. Polizeiliche Ermittlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden Merten nur warnen. Ich möchte auch nicht, daß die örtliche Polizeidienststelle eingeschaltet wird. Ich weiß, wie schwer es für einen Vorbestraften ist, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen. Wenn die Polizei Erkundungen über ihn einzieht, womöglich sogar in seinem Betrieb, kann er sehr schnell ins Gerede kommen. Es bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob er tatsächlich einen Überfall begeht.« Thomas Merck pflichtete mir bei. Er wollte aber auf jeden Fall versuchen, den gegenwärtigen Aufenthalt von Walter Schümann feststellen zu lassen. Mein Magen meldete unüberhörbar seine Rechte an. Gaby gab mir mit den Augen zu verstehen, daß auch sie einen mächtigen Hunger hatte. Wir verabschiedeten uns schnell von Thomas Merck, nicht ohne das Versprechen, daß wir uns gegenseitig auf dem laufenden halten wollten.
15
»Ich bin gespannt, wohin du mich jetzt führst«, sagte Gaby, als wir wieder im Wagen saßen. »Das darfst du auch. Du lernst nämlich gleich das beste italienische Restaurant nördlich der Alpen kennen.« Gaby wirkte etwas verunsichert. »Hör mal, Michael, ist das dein Ernst?« »Natürlich, in solchen Dingen spaße ich nicht.« »Naja…«, sie zögerte erneut. »Meinst du denn, ich bin richtig angezogen für so ein piekfeines Lokal?« »Genau richtig! Glaub mir.« Als wir das kleine unscheinbare Lokal in Eppendorf betraten, lachte Gaby hell auf. Die alten Holztische und Stühle, die wie selbstgestrichen wirkten, machten eher einen schäbigen Eindruck. »Du hast mich ganz schön angeschmiert!« Sie knuffte mich in die Rippen. »Gibt’s hier wenigstens eine anständige Pizza?« »Pst«, ich legte beschwörend den Zeigefinger auf meine Lippen. »Wenn Umberto hört, daß du ihn für einen Pizzabäcker hältst, schmeißt er uns gleich wieder raus.« »So streng sind hier die Bräuche?« »Nein – aber im Ernst, Umberto kocht wie Lukullus persönlich. Ich habe dir nichts vorgemacht. Wenn ich sage, daß ein Restaurant erstklassig ist, dann meine ich damit natürlich die Küche. Ledergebundene Speisekarten und ein Dutzend blasierte, trinkgeldgeile Ober machen die Klasse nicht aus. Aber du wirst ja sehen – beziehungsweise schmecken.« Und ich überzeugte sie, das heißt, Umberto überzeugte sie.
Wir hatten auf die Speisekarte verzichtet und Umberto gebeten, das zu bringen, was er heute empfehlen kann. Das halte ich bei ihm immer so. Einmal, weil ich seine handgeschriebene Tageskarte ohnehin nicht entziffern kann und zum anderen, weil es ihm ungeheuer schmeichelt. Wir vertilgten riesige Mengen Salat, dann Kaninchenbraten mit Maronen und gebackenen Fenchel. Dazu sein herrlich knuspriges, selbstgebackenes Brot. Und vor allem Wein. Roten Landwein von erfrischender Herbheit. Als wir schließlich beim Kaffee angelangt waren, schlug ich Gaby vor, in meiner Hamburger Wohnung zu übernachten. Ich konnte unmöglich noch mit dem Wagen zurück nach Heiligenhafen fahren. Der Wein zeigte schon erheblich seine Wirkung. Sie stimmte zu. »Aber unter einer Bedingung!« »Und die wäre?« »Wir müssen morgen früh um fünf aus den Federn. Ich muß pünktlich um halb acht im Rathaus sein.« »Schöner Urlaub!«
16
Im ganzen Haus war es ruhig. Edgar Merten tastete mit seiner rechten Hand nach Zigarettenpackung und Feuerzeug. Behutsam nahm er sich eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Im kurzen Schein des Feuerzeuges sah er auf die Uhr. Es war zwanzig nach eins. Er machte zwei, drei hastige Züge. Seine Frau atmete jetzt gleichmäßig, Sie hatten nicht schlafen können, hatten wortlos nebeneinander gelegen, Inge hatte nach seiner Hand gefaßt und beide wußten, daß sie das gleiche dachten. Die Müdigkeit kam langsam. Er hatte noch gehört, wie seine Frau aufstand und auch den anderen Fensterflügel weit öffnete. Der Schlaf war unruhig. Traumbilder huschten vorbei, er konnte sie nicht fassen, nicht erkennen. Er hatte gespürt, wie er sich unruhig hin und her warf. Er spürte das Unangenehme des Schweißes und war erwacht. Die Zigarette war halb heruntergeraucht. Er betrachtete die bei jedem Zug aufleuchtende Glut. Er sah sich in der Küche seiner Schwiegereltern sitzen. Inges Mutter lief aufgeregt umher. Morgens um sechs hatten die Wehen eingesetzt, und Inge hatte ihn gebeten, mit dem Sekundenzeiger seiner Armbanduhr den Abstand zwischen den Wehen zu messen. Sie waren schon gleich zu Beginn sehr regelmäßig gekommen, knapp eine Minute die Wehe, dann eine Pause von fünfzehn Minuten, später dann zehn und dann nur noch fünf Minuten Abstand. »Wir müssen gehen«, hatte Inge gesagt, »das Kind kommt.« Sie hatten sich angezogen und den Schwiegereltern Bescheid gegeben. Sie lebten damals noch bei ihnen.
Inges Mutter hatte erst einmal zu weinen begonnen, und ihr Vater hatte irgendeinen weisen Lebensspruch von sich gegeben. Er hatte sich zuerst gegen eine Heirat mit einem Vorbestraften gewehrt. Er konnte nicht begreifen, daß seine Tochter ›gerade so einem‹ nehmen mußte. Aber Inge war stärker gewesen, und als ihr Vater sah, daß sie gehen würde, hatte er eingelenkt. Ja, er hatte ihnen sogar angeboten, in der ersten Zeit in der Wohnung zu wohnen. Und als er feststellte, daß seine Tochter glücklich war und Edgar seine Chance schon lange wahrgenommen hatte, da war er versöhnlicher geworden, und als sich Angelika durch eine Rundung von Inges Bauch bemerkbar gemacht hatte, da hatte er sich endgültig abgefunden und war’s zufrieden gewesen. Seine Schwiegermutter, die in der Küche auf und ab lief, ohne etwas zu tun, hatte den Schnaps getrunken, den ihr Mann für den werdenden Vater auf den Tisch gestellt hatte. Edgar Merten erinnerte sich an werdende Väter, die er im Film gesehen hatte. Blumenstrauß und Kognak waren immer die unverzichtbaren Requisiten. Er hatte nur Angst gespürt. Angst, daß Inge etwas passieren könnte, das Kind kannte er ja noch nicht. Als dann das Telefon klingelte und der Arzt ihm zu seiner 3800 Gramm schweren und 52 Zentimeter langen Tochter Angelika gratuliert hatte, war er dankbar, einfach… »Edgar, hörst du denn nicht, das Telefon läutet!« Inge setzte sich im Bett auf. Tatsächlich, es läutete, aber es war nur leise zu hören, weil das Schlafzimmer hinter der Küche lag und die Tür wegen des Durchzuges geschlossen war. Edgar Merten sprang aus dem Bett, seine Frau knipste das Licht der Nachtlampe an. Sie fröstelte und zog das Nachthemd über ihrer Brust zusammen. Edgar Merten hatte den Apparat erreicht und nahm den Hörer auf: »Ja, Merten, wer…« »Papi, ich will nach Hause!«
»Angelika!« schrie er, »Kind!« Aber es hatte schon nach ihrem letzten Wort in der Leitung geknackt. »Diese Schweine, diese verdammten Schweine«, murmelte er und ballte die Fäuste. Seine Frau kam ihm schon in der Küche entgegen: »Haben sie Angelika wieder anrufen lassen?« »Ja, ich werde es tun. Sie sollen ihr Geld haben, aber dann hole ich sie mir. Gnade ihnen Gott!«
17
Kurz nach fünf weckte mich Gaby. Sie trug nur ihren Slip. Als sie mich küßte, berührte mich ihre Brust. »Wir müssen los, ich muß doch zum Dienst.« Ich marschierte ins Bad, der eiskalte Strahl der Dusche klopfte auch die letzten Zellen meines Hirns wach. Als ich frisch rasiert, gewaschen und mit geputzten Zähnen das Bad verließ, roch es nach frischem Kaffee. Gaby stand in meiner kleinen blaugestrichenen Küche und bereitete unser Frühstück. Mein Kühlschrank hatte nur wenig hergegeben: Marmelade, Honig und eingedoste Island-Krabben. Doch es war ausreichend Toast da, den Toaster hatte sie schon auf den Tisch gestellt. Wir frühstückten nackt, dann zogen wir uns schnell an. Ich stopfte schnell noch ein paar Hemden, frische Unterwäsche und Strümpfe in eine Tasche, dann waren wir startklar und verließen meine Wohnung. Auf der Treppe blieb Gaby vor mir stehen, schlang die Arme um meinen Hals und sagte: »Ich hab’ mich in dich verliebt!« Dann küßte sie mich. Als ich etwas erwidern wollte, rannte sie die Treppe runter. Dabei machten ihre Sommerlatschen einen Höllenspektakel, und ich sah meine Nachbarn aus ihren Betten purzeln. Aber was solls? Ich rannte wie ein Verrückter hinter ihr her. Unten angekommen, schloß ich rasch den Wagen auf, und wir ließen uns in die Polster fallen. Unsere Oberkörper hoben und senkten sich wie Blasebälge.
Ich startete den Wagen, und wir fuhren los. Wir verließen Hamburg, und kurz nach sieben setzte ich Gaby vor dem Heiligenhafener Rathaus ab. Als ich nach wenigen Minuten in die Fischerstraße einbog, kam mir Merten mit seinem Auslieferungswagen entgegen. Er begann also wie gewohnt seine Arbeit. Wenn er etwas vorhat, wann wird es er ausführen? Vielleicht morgen? Morgen ist Freitag – Wochenende. Außerdem geht der Monat zu Ende, und es ist Hochsaison. Zu dieser Zeit liegt bestimmt soviel Geld in den Kassen, wie sonst nie im Jahr. Ideale Voraussetzungen für einen Bankraub. Ich parkte den Wagen, schnappte meine Reisetasche und steuerte auf das Haus von Frau Pech zu, als diese schon die Tür öffnete: »Also, Herr Herder, Sie haben mir ja einen schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, Ihnen wäre was passiert!« Für eine Sekunde sah ich meine Mutter vor mir stehen und erinnerte mich der halblaut im Dunkel des Flures geführten Dispute, wenn ich zu spät nach Hause kam. »Frau Pech, entschuldigen Sie. Ich mußte gestern überraschend nach Hamburg, und es fehlte mir einfach die Zeit, Ihnen noch eine kleine Nachricht zukommen zu lassen. Tut mir leid, daß Sie sich Sorgen gemacht haben.« »Na, dann kommen Sie erst mal rein! Ich mach’ Kaffee.« »Das ist ein Wort!« Ich verschwand in meinem Zimmer, verstaute schnell die mitgebrachten Sachen und ging in ihr Wohnzimmer. Das zweite Frühstück tat gut. Ich erzählte Frau Pech eine nette Geschichte, warum ich nach Hamburg mußte, und sie war beruhigt. Ich schenkte mir noch einen Schluck Kaffee ein und zündete mir eine Zigarette an.
»Frau Pech, ich will mich noch ein bißchen aufs Ohr legen. Wecken Sie mich doch bitte um elf Uhr.« Sie versprach es. Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Das Laken war angenehm kühl, und ich schlief sofort ein.
18
Edgar Mertens Arbeitstag sah folgendermaßen aus: Morgens holte er zunächst die Backwaren, die er in Heiligenhafen und Umgebung ablieferte, von der Fabrik. Er belieferte am Vormittag die nähere Umgebung von Heiligenhafen und kurz vor der Mittagspause Heiligenhafen selbst, nachmittags dann die weitere Umgebung. Diese Anordnung der Tour war die beste gewesen. Heute aber änderte er die Tour ein wenig ab. Nachdem er die frische Ware geladen, vom Lagermeister die Kontrollzettel erhalten und alles mit seinem Auftragsbuch verglichen hatte, fuhr er nach Heiligenhafen zurück. Er parkte den Wagen auf dem Marktplatz, zog seinen Kittel aus und ging in das kürzlich neu eröffnete Kaufhaus Stolz. Dort erwarb er ein T-Shirt, dessen Vorderseite mit einem Anker verziert war und auf dessen Rückseite der Schriftzug ›Heiligenhafen‹ prangte. Eine blaue Seglermütze aus Jeansstoff und ein verwegen aussehendes blaues Halstuch. Mit einem Halstuch sollte er sich maskieren, das war ihm klar. Er würde es auch beim Betreten der Bank überstreifen oder jedenfalls so tun. Er war sicher, daß ihn einer der Entführer beobachten würde, wenn er den Überfall durchführte. In der Bank würde er aber ohne Halstuch auftreten. Die Leute sollten, ja sie mußten ihn erkennen. Gerade das war wichtig. Dies würde es ihm später erleichtern, seine Zwangslage zu erklären. Er mußte wenigstens versuchen, einigermaßen heil aus der Sache herauszukommen.
Nachdem er die Sachen in einer Plastiktüte verstaut hatte, kaufte er sich noch eine Schachtel Zigaretten, stieg ins Auto und begann seine Tour. Sein Gefühl sagte ihm, daß die Sache morgen steigen sollte.
19
Frau Pech weckte mich pünktlich um elf Uhr. Ich duschte noch einmal ausgiebig, diesmal allerdings ohne Gesang. Dann zog ich mir frische Kleidung an und verließ das Haus. In der Buchhandlung an der Ecke kaufte ich mir eine ›Frankfurter Rundschau‹ und die ›Lübecker Nachrichten‹. Ich zahlte mit einem Zwanzigmarkschein und hatte so ausreichend Geld für mein Telefongespräch mit Thomas Merck. Ich genoß es, langsam in Richtung Marktplatz zu schlendern. Es herrschte schon viel Betrieb. Ein Großteil der Urlauber, die in Apartments wohnten, verpflegten sich selbst. Sie kauften für ihre Familie ein. Hinzu kamen die Gäste, die nur ein bißchen durch das reizende Städtchen bummelten. Es war ein ganz schönes Gewühl. In einem solchen Gewimmel konnte ein Bankräuber ohne weiteres untertauchen. Die geschäftige Menge würde ihn verschlucken wie der berühmte Heuhaufen die Stecknadel. Falls Merten so etwas starten sollte, würde ich ihm die Suppe kräftig versalzen. Ich würde ihn morgen nicht aus den Augen lassen und zur Stelle sein, wenn er in einer der Banken verschwinden sollte. Dank der beiden Telefonzellen, von denen aus man den ganzen Marktplatz übersehen kann, würde ich rechtzeitig die Polizei benachrichtigen können. Auf sein überraschtes Gesicht war ich wirklich gespannt. Ich steuerte auf die Telefonzellen zu. Die linke war frei. Thomas war gleich an der Strippe: »Na, seid ihr gut zurückgekommen?«
»Ja, schon, nur sind wir erst heute früh gefahren, wir haben uns beim Italiener festgegessen. Hast du was in Erfahrung bringen können?« »Wenig, wenig, mein Lieber. Schümann ist in den letzten drei Wochen in Düsseldorf nicht gesehen worden. Im Mai hat er sich einen gebrauchten VW gekauft. Mehr is’ nich’.« »Das ist wirklich nicht viel. Und konntest du noch irgend etwas in der Vergangenheit von Edgar Merten ausgraben?« »Nein, der Bericht liegt noch nicht vor. Der kommt erst morgen, frühestens. Sonst Montag.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Sag mal, Michael, was hältst du eigentlich vom Heiraten?« »Wovon?« »Na, vom Heiraten. So nennt man das doch, wenn Mann und Frau sich auf ewig verbinden, oder liege ich da falsch?« »Ich weiß zwar nicht, wie du im Augenblick liegst, aber…« »Ich wollte damit ja nur sagen, daß ich die Gaby reizend fand…« »Ja, ich werde sie bei Gelegenheit fragen und dir dann Bescheid geben.« »Sag lieber der Polizei Bescheid, wenn’s dort losgeht!« »Ja, nur keine Sorge. Mach’s gut, grüß Frau und Kind. Ich rufe dich dann morgen früh wieder an.« Wir beendeten das Gespräch. In der Zelle war es stickig geworden, und der Zigarettenqualm biß mir in den Augen. Ich sog die frische Luft ein, ging die paar Schritte zum Straßencafé, bestellte mir eine Berliner Weiße und vertiefte mich in die Morgenzeitungen. Zwischendurch trank ich noch einen Kaffee, erhob mich gegen halb eins und ging zum Rathaus hinüber, um Gaby zum Mittagessen abzuholen. Der Pförtner stand im Schatten des Einganges und musterte mich. »Ganz schön heiß!« rief ich ihm zu. »Ja, bannig heiß heut!« kam es zurück.
Gerade als ich ihm eine Zigarette anbot, erschien Gaby im Eingang. Sie hakte sich bei mir ein, wir nickten dem Pförtner zu und gingen zum Mittagessen. In der ›Altdeutschen Bierstube‹ war es voll, ein Tonband spielte leichte Musik. Die wohlproportionierte Bedienung hinter dem Tresen begrüßte uns. Wir bestellten Omelette und Fischsuppe nach ›Geheimrezept der Chefin‹. Das Geheimnisvolle konnten wir nicht entdecken, doch schmeckte sie, mit einem Häubchen Schlagsahne versehen, sehr gut. Da wir nur noch an einem Tisch Platz gefunden hatten, an dem schon eine dreiköpfige Familie saß, fiel die Unterhaltung spärlich aus. Es war interessant zu sehen, wie der Vater sichtlich nervös wurde, als alle seine Versuche, den Sprößling bei Tisch zu halten, fehlschlugen. Er lächelte uns unsicher an, wurde aggressiv, bis er schließlich seinem Sohn das Eis als Nachtisch strich. Da war das Geschrei groß. Der Vater ließ sich auf einen Konkurrenzkampf ein. Als wir draußen in der Sonne standen, sagte Gaby: »Siehst du, das ist der große Fehler solcher Erziehung, die Eltern machen aus allem und jedem ein ›Er oder ich‹.« Wir setzten uns noch ein wenig in die Sonne. Ich rauchte eine Verdauungszigarette. Gabys Dienst begann wieder. Zum Dienstschluß würde ich sie abholen. Ich freute mich schon sehr. Gegen halb zwei schloß ich die Tür zu dem Haus von Frau Pech auf. Der Lieferwagen stand noch vor der Tür. Ich rief Frau Pech zu, daß ich es sei, und verschwand in meinem Zimmer. Schnell hatte ich meine Badesachen zusammen, aber ich wartete noch so lange, bis ich das Geräusch des abfahrenden Diesels hörte.
Ich wollte unbedingt im Meer schwimmen und mußte auch mal wieder in Bechtholds Apartment nach dem Rechten sehen. Ich gab mir selber Urlaub für ein bißchen Urlaub.
20
Als Edgar Merten seine Donnerstagstour beendet hatte und die Küche betrat, saß seine Frau, den Kopf in die Hände gestützt, am Küchentisch. Inge blickte hoch, und sie gaben sich einen flüchtigen Kuß. Er fuhr ihr mit der Hand über die Wange und stellte den Plastikbeutel mit den eingekauften Sachen auf den Tisch. »Hoffentlich ist es bald zu Ende«, sagte sie, »ich halte es nicht mehr aus.« »Es wird bald ein Ende haben. Ich glaube, daß es morgen stattfinden soll. Der Überfall, meine ich.« Er sah die Angst in ihren Augen. »Wenn alles vorbei ist, werden wir hier wegmüssen.« Sie sah ihn an. »Ja, das werden wir müssen. Es wird alles wieder hochgespült werden. Wir werden irgendwo neu anfangen. Aber was macht das schon.« Er zeigte ihr T-Shirt, Seglermütze und Halstuch und erklärte ihr, was er vorhatte, nachdem er die Bank betreten haben würde. »Viel mehr kann ich nicht tun. Hinterher gehen wir sofort zur Polizei, wenn Angelika wohlbehalten zurück ist.« Sie tranken Kaffee. Er rauchte, zog nervös an der Zigarette. Plötzlich stand er auf, ging ins Schlafzimmer und zog unter dem Bett den Karton mit der Pistole hervor. Er klappte den Deckel hoch, nahm die Pistole heraus, wog sie einen Moment in der Hand und ging dann zurück in die Küche. Dort nahm er vorsichtig das Magazin heraus, ließ die Patronen in seine Hand fallen und schob das leere Magazin in den Griff der Pistole zurück. Er stand auf und nahm sich aus
der Schublade des Küchenschranks eine kleine Papiertüte und ließ die Patronen einzeln hineinpurzeln. »Was auch passieren mag, die Patronen lasse ich lieber hier.« Sie nickte, und er öffnete die Glastür des Küchenschrankes und legte die Tüte in das oberste Fach. Sie schwiegen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Doch ihr ganzes Denken kreiste nur um einen Pol. Angelika.
Nur langsam kroch die Zeit voran. Die Dämmerung kam, doch sie machten kein Licht. Edgar Merten brühte noch einmal Kaffee auf. Sie warteten. Der Anruf ließ lange auf sich warten. Er kam erst um halb neun. Edgar Merten war sofort am Telefon. »Merten.« »Wir melden uns zum letzten Mal, Herr Merten. Ihrer Tochter geht es nach wie vor gut.« »Darf ich sie sprechen?« »Morgen, Herr Merten. Morgen werden Sie sie wiederhaben. Morgen ist es vorbei, doch erst nachdem Sie die Kleinigkeit für uns erledigt haben.« »Wie soll es laufen?« »Sie werden morgen um Punkt halb elf die Volksbank am Marktplatz überfallen…« »Die Volksbank? Aber warum denn gerade die? Sie ist doch die kleinste von allen und hat doch bestimmt am wenigsten in der Kasse.« »Sie hat genug Geld, und wir brauchen Geld. Ihr Vorteil ist, daß sie am ungesichertsten ist. Darüber sollten Sie sich auch freuen, Herr Merten. Sie hat nur einen Alarmknopf im Schalterraum, und zwar hinter der Kasse. Nur der Kassierer kann den Alarm auslösen. Will er das aber tun, muß er erst ein
paar Schritte zurücktreten. Sie können ihn leicht daran hindern.« »Und wo treffe ich Sie? Wo soll ich das Geld übergeben?« »Langsam, langsam! Eins nach dem andern. Sie melden sich morgen früh in Ihrer Firma krank. Dann verlassen Sie um Viertel nach zehn das Haus. Haben Sie die Klamotten besorgt? Jeans und T-Shirt?« »Ja.« »Gut. Das ziehen Sie an. Und vergessen Sie nicht das Halstuch! Das müssen Sie vors Gesicht ziehen, wenn Sie die Bank betreten. Und wenn ich Ihnen einen persönlichen Rat geben darf, Herr Merten, versuchen Sie keinen Trick. Verstanden? Wir beobachten Sie auf Schritt und Tritt.« »Ja, sicher. Glauben Sie denn im Ernst…« »Ich wollte es Ihnen nur noch einmal deutlich machen. Sie gehen dann zur Kasse und verlangen von dem Kassierer das Geld. Schieben Sie ihm eine Tasche… Sagen Sie mal, haben Sie eine Leinentasche oder etwas Ähnliches?« »Ja, wir haben eine gelbe Leinentasche.« »Gut, dann nehmen Sie die mit. Sie reichen sie dem Kassierer, er füllt sie mit dem Geld. Sie verlassen dann schnell die Bank. Freitags herrscht um diese Zeit reger Betrieb auf dem Marktplatz, so können Sie gut untertauchen. Sie gehen zum Hafen. Wenn Sie das Hafengelände erreichen, nach rechts, dann immer geradeaus an den Fischerbuden vorbei. Sie gehen bis zum Speicher, gehen um ihn herum, auf der gegenüberliegenden Längsseite steht ein Streukasten. Das Schloß ist aufgebrochen. Dort hinterlegen Sie das Geld. Im Kasten. Alles mitbekommen?« »Und Angelika? Was ist mit ihr?« »Sie verlassen auf dem schnellsten Weg das Hafengelände und gehen nach Hause. Es muß alles sehr schnell gehen. Eine Stunde, nachdem Sie zu Hause sind, kommt Angelika. Und sie
können sich darauf verlassen, daß sie kommt. Wiederholen Sie!« »Was soll ich wiederholen?« »Alles, was ich Ihnen gesagt habe.« Edgar Merten wiederholte alles, die Stimme am anderen Ende unterbrach ihn nicht. Seine Frau stand hinter ihm und hörte alles mit. Als Merten fertig war, legte der Entführer ohne ein weiteres Wort auf. Unschlüssig hielt Merten den Hörer in der Hand, schüttelte den Kopf. Seine Frau nahm ihm den Hörer ab und legte ihn auf die Gabel. Auf dem Weg zur Küche drehte sich Edgar Merten auf einmal um, ging zurück zum Telefon und wählte eine Nummer. »Guten Abend, Frau Wehrhahn, hier ist Merten. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung. Dürfte ich vielleicht kurz Ihren Mann sprechen?« Für einen Moment war es still. »Guten Abend, Herr Wehrhahn. Entschuldigen Sie bitte den späten Anruf, aber ich habe mir heute eine starke Mandelentzündung zugezogen. Ich kann kaum schlucken und habe leichtes Fieber.« Er sprach mit gepreßter Stimme. »Ich kann die Tour morgen nicht fahren.« Der Mann am Ende sagte etwas, Merten nickte mit dem Kopf und sagte zwischendurch immer wieder »ja« und »hmmh«. Dann verabschiedete er sich und legte auf. Seine Frau sah ihn fragend an. »Sie schicken morgen früh einen anderen Fahrer. Ich übergebe ihm die Schlüssel und die Papiere. Der Wagen steht ja vorm Haus.«
Nachdem ich meine Runde im Meer geschwommen und das Apartment inspiziert hatte, fuhr ich in die Stadt und holte Gaby ab. Sie wartete schon vor dem Rathaus, und wir fuhren gleich zu ihrer Wohnung. Wir kochten uns Kaffee. Und weil Gaby sehr abgespannt war, machten wir es uns auf dem Bett bequem. Gegen sieben bereitete ich ein paar Schnitten mit Wurst und Käse, dazu eine Fleischbrühe. Während ich mir im Fernsehen die Abendnachrichten ansah, schlief Gaby ein. Nach den Nachrichten kam irgend so ein dämliches Volksstück. Ich schaltete den Apparat aus und betrachtete eine Weile die schlafende Gaby. Ich mochte sie nicht wecken. Lustlos nahm ich ein paar Bücher vom Regal und blätterte darin herum. Dann schrieb ich Gaby einen Zettel und machte mich auf den Heimweg.
21
Bei Edgar Merten wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Er lag im Dunkel des Schlafzimmers, die Augen an die Decke geheftet. Inge hatte zwei Schlaftabletten genommen. Unruhig warf sie sich im geschluckten Schlaf hin und her. Wie ein Film lief der morgige Tag an ihm vorbei. Der Überfall, die Übergabe, Angelika. Auf diesen Moment wartete er. Angelika. Nur darum ging es. Sie wird wieder da sein. Es schien ihm, als lebe er nur noch dafür, sie wohlbehalten zurückzubekommen. Alles andere hatte kein Gewicht mehr, war gleichgültig, zählte nicht. Es mußte glücken. Es mußte. Er durfte keinen Fehler machen und er würde keinen Fehler machen. Sie werden ihr verfluchtes Geld bekommen. Er nickte. Vergangenheit mischte sich mit Gegenwart und Zukunft. Wer mochten die Entführer sein? Er dachte an Schümann und Ebel. Doch das alles war schon so lange vorbei. Zehn Jahre. Wie hätten sie auch erfahren sollen, wo er lebt? Gut, Schümann hatte Wut auf ihn, aber trotzdem… Er wischte den Gedanken weg. Inge murmelte irgend etwas im Schlaf. Er beugte sich über sie, spürte ihren Atem. Geräuschlos schob er sein Kissen zurecht. Er spürte keine große Aufregung mehr in sich. Es wird alles gut werden, beruhigte er sich. Sie wird heil zurückkommen. Aber was wird hinterher sein? Was kommt dann? Übermorgen?
Und die vielen Tage danach? Fängt dann nicht vielleicht alles erst an? Wird es wieder so werden können wie früher? Irgendwo zwischen den Fragen und Antworten lag der Schlaf. Traumlos.
22
Mein Reisewecker war unerbittlich. Er heulte wie wild. Ich schlug nach ihm, und er fiel polternd zu Boden, wo er verstummte. Halb sieben. Ich schnappte mein Waschzeug und ging ins Bad. Frau Pech rumorte schon in der Küche. Ich war ausgeschlafen und duschte deshalb nur kurz. Als ich das Wohnzimmer betrat, war der Tisch schon gedeckt. Ich setzte mich auf meinen alten Platz, so daß ich das Haus von Merten im Blickwinkel hatte. Nichts rührte sich. Es war jetzt sieben. Gaby war wohl schon auf dem Weg zum Amt. Frau Pech betrat den Raum. In der rechten Hand hielt sie die Kaffeekanne, in der linken balancierte sie Milch- und Zuckertopf. Ich sprang auf, um ihr behilflich zu sein. »Guten Morgen, Frau Pech.« »Guten Morgen, Herr Herder. Haben Sie gut geschlafen?« »Ja, danke, ausgezeichnet. Ich fühle mich wie neugeboren. Wollen Sie nicht mit mir Kaffee trinken?« »Oh, vielen Dank, Herr Herder, aber ich habe schon. Ich muß nämlich heute morgen zum Arzt. Meine Bandscheibe macht wieder Schwierigkeiten. Der Arzt öffnet sehr früh. Obwohl er seine Sprechstunde erst um halb neun beginnt, ist das Wartezimmer um halb acht schon voll.« »Ja, das ist ein Greuel mit den Ärzten.« Ich schnitt mir ein frisches Brötchen auf und bestrich es mit Butter und Erdbeermarmelade. Frau Pech bat mich, alles so stehenzulassen, sie würde es, wenn sie zurückkäme, in
Ordnung bringen. Dann entschwand sie. Kurz darauf hörte ich die Haustür zufallen. Es war alles ruhig. Das Frühstück schmeckte ausgezeichnet. Als ich mir meine erste Zigarette anzündete, sah ich, wie drüben ein weißbekittelter Mann die kleine Gartentür vor Mertens Haus öffnete, auf das Haus zuging und die Klingel drückte. Ich rutschte näher an das Fenster. Beinahe hätte ich mit der Glut meiner Zigarette die Gardine angesengt. Merten öffnete selbst. Er trug einen Bademantel und hatte einen dicken Wollschal um seinen Hals geschlungen. Der Mann war offenbar ein Kollege von Merten. Er trug den gleichen weißen Kittel mit dem roten Firmenemblem, den auch Merten bei seinen Auslieferungen getragen hatte. Ich konnte sehen, wie Merten mit dem Mann sprach und sich dabei an den Hals faßte. Dann übergab er seinem Kollegen etwas, und sie verabschiedeten sich. Der Mann drehte sich um, und Merten schloß die Haustür. Der Mann ging die Straße hoch, und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Sehen konnte ich aber, wie sich an dem unten gelegenen Fenster von Mertens Haus die Gardine bewegte. Frau Mertens Kopf konnte ich erkennen. Dann hörte ich den anspringenden Motor des Lieferwagens, und wenige Sekunden später rauschte er an mir vorbei die Straße hinunter. Die Gardine schwang zurück, und der Kopf verschwand. Unten hörte ich den Wagen um die Ecke biegen. Dann war alles wieder ruhig. Ich ließ mich zurücksinken und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Merten fuhr heute seine Tour nicht. Also war es jetzt soweit. Wie ein Ölgötze saß ich auf der Couch von Frau Pech und starrte zu dem Haus hinüber. Die Zeit floß träge, aber ich wartete. Der Kaffee war ausgetrunken, und meine Zigaretten gingen zur Neige. Ich stand auf und öffnete eine Schachtel, die
auf Frau Pechs Anrichte stand. Drinnen lag eine Packung Zigaretten. Sie würde eine neue von mir bekommen. Kurz nach zehn öffnete sich dann drüben die Tür, und tatsächlich: Merten kam heraus. Er wirkte gar nicht mehr krank, vielmehr sah er so aus, als ob er sich einen hübschen freien Tag machen wollte. Er trug Jeans und ein T-Shirt, auf das ein großer Anker gedruckt war. In der rechten Hand baumelte eine gelbe Leinentasche. Langsam ging er die Fischerstraße hoch. Ich lief aus dem Wohnzimmer, holte meine Wildlederjacke und stürmte aus dem Haus. Oben an der Ecke ging Merten links rum, also in Richtung Marktplatz. Die Sonne stand hoch am Himmel, deshalb war es auch nicht weiter ungewöhnlich, als er in Höhe des Fischgeschäftes auf einmal stoppte und aus seiner Tasche ein Halstuch und eine Seglermütze holte. Er stülpte sich die Mütze auf den Kopf, so daß das Mützenschild tief in sein Gesicht ragte und band sich das Tuch locker um den Hals. Um uns herum war dichtes Gedränge. So konnte ich ihm ziemlich dicht auf den Fersen bleiben, ohne Gefahr zu laufen, ihm aufzufallen. Merten ging weiter. Meine Armbanduhr zeigte wenige Minuten vor halb elf. Von der Straßenecke bis zum Marktplatz waren es vielleicht fünfzig bis sechzig Meter. Die Straße war ziemlich schmal und wurde zum Marktplatz hin noch enger. Merten wechselte auf die rechte Straßenseite über, ich blieb links. Auf dem schmalen Bürgersteig hatte ein Supermarkt seine Obstauslage nach draußen gestellt. Hier standen Frauen und Männer und warteten darauf, bedient zu werden. Vom Marktplatz her bog ein Lastwagen in die Bergstraße ein. In
entgegengesetzter Richtung fuhren in ununterbrochener Kette Personenwagen. Im Nu entstand ein Stau. Vor dem Supermarkt herrschte starkes Gedränge. Für einen Moment verlor ich Merten aus den Augen. Ich zwängte mich rücksichtslos durch die Menschengruppe. Eine korpulente Frau zischte hinter mir her: »Unverschämtheit!« und ein junger, kräftig aussehender Mann ließ es sich nicht nehmen, mich sehr unsanft anzurempeln. Ich geriet etwas ins Schlingern, aber ich war durch. Vor mir öffnete sich die schmale Straße zum Marktplatz. Merten stand vor dem Eingang der Volksbank. Er blickte sich um. Wartete er auf jemanden? Dann schritt er langsam auf den Eingang zu. Die Tür zur Bank stand offen. Er verharrte im Eingang und blickte erneut um sich. Plötzlich zog er blitzschnell das Halstuch vor sein Gesicht und verschwand in dem kleinen Schalterraum. Der Tür versetzte er einen hastigen Fußtritt, daß sie zufiel. Es war soweit! Merten überfiel die Volksbank!
Ich spurtete quer über den Platz auf die Telefonzellen zu. Ein Autofahrer trat voll auf die Bremse. Wütend schimpfte er hinter der Scheibe. Beide Zellen waren besetzt. In der ersten Zelle eine ältere Dame, in der anderen ein Mann. Instinktiv wendete ich mich der zweiten Zelle zu. Der Mann war groß und hager. Er trug einen hellblauen Popelineanzug. Seine schwarzen Haare reichten bis auf die Schultern. Er warf gerade Münzen in den Fernsprecher und begann zu wählen.
Während ich noch zögerte und überlegte, ob ich ihn kurzerhand aus der Zelle ziehen sollte, registrierte ich halb im Unterbewußtsein, welche Nummer er wählte. Zweimal kurz die Eins, dann eine Null. Er sprach hastig ein paar Worte, hängte wieder ein und verließ die Zelle. Alles ging sehr schnell, und ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Kaum hatte der Mann die Zelle freigemacht, sprang ich hinein, warf zwei Groschen in den Schlitz und wählte die Nummer des Überfallkommandos – eins, eins, null. »Polizeistation Heiligenhafen, Wachtmeister Becker.« »Überfall auf die Volksbank! Kommen Sie schnell!« schrie ich in die Muschel. »Ja, wir sind schon unterwegs. Wurden eben schon mal angerufen. Wie ist Ihr Name?« Walter Schümann! Der große Hagere muß Walter Schümann sein, zuckte es durch mein Gehirn. »Wie bitte? Wie war der Name? Hallo…!« Achtlos hängte ich den Hörer ein. Warum hatte Schümann selbst die Polizei angerufen? Rache? Ja, Rache, das war’s! Er hat den Überfall mit Merten zusammen geplant, um ihn bei dieser Gelegenheit in die Pfanne zu hauen. Ich starrte durch die Scheibe der Telefonzelle, meine Augen suchten verzweifelt den Mann im hellblauen Anzug in dem lebhaften Treiben auf dem Marktplatz. Da! Er stand seelenruhig am Straßenrand und schaute zur Volksbank rüber. Und ich sah noch etwas! Ein grüner VW-Bus der Polizei kam den Thulboden heruntergejagt, hinter ihm ein grüner Kombi. Das Blaulicht wirbelte. Kein Martinshorn. Die Autos wurden von ihren Fahrern an die Seite gelenkt. Schon an der
Einmündung zum Marktplatz sprang der Beifahrer aus dem Bus. Im Laufen zog er seine Dienstpistole aus dem Halfter. Die Menschen stoben auseinander, als der Fahrer den Polizeiwagen auf den Bürgersteig fuhr. Ich verließ die Zelle und beobachtete das wirre Schauspiel. »Überfall! Überfall!« schrie eine grelle Frauenstimme. Wie eine Lawine schob sich die Masse der Neugierigen auf den Tatort zu. Autofahrer stiegen aus, ließen ihre Wagen stehen oder stellten sich in die Türen der Autos und gafften. Die Menge war gierig. Die Läden leerten sich, von überall her strömten Menschen. Erschreckte, lachende und aufgeregte Gesichter schoben sich an mir vorbei. Plötzlich fiel ein Schuß. Durch die Menge ging ein Aufschrei. Der Polizist kam langsam rückwärts aus dem Eingang der Bank, die Waffe noch im Anschlag. Hatte er Merten erschossen?
23
Edgar Merten war ganz ruhig, als er das Haus verließ. Er ging die Fischerstraße hoch und ließ die gelbe Leinentasche in seiner Hand hin und her schaukeln. Ein harmloses Bild – ein Mann geht für seine Frau zum Einkaufen. Ein Nachbar, der sich gerade an seinem Auto zu schaffen machte, grüßte freundlich herüber. Merten erwiderte den Gruß und ging zügig weiter. Er erreichte die Bergstraße und bog links ein. Vor dem Fischgeschäft holte er die Mütze und das Halstuch aus der Tasche, zog sich die Mütze ins Gesicht und band das Tuch um. Sicher beobachten sie mich schon, dachte er. Sicher. Die Drängelei auf dem Bürgersteig, das wilde Hupen der Autos irritierten ihn nicht mehr. Ihm war jetzt alles egal. In einer Stunde würde es vorbei sein. Zurück konnte er nicht mehr. Er dachte an seine Frau. Für sie war es jetzt viel schlimmer. Sie saß in der Küche und mußte warten. Er fühlte mit seinen Fingern nach seiner Handfläche. Sie war knochentrocken. Vor der Volksbank blieb er stehen und schaute sich um. Ob er die Entführer erkennen würde? Jeder konnte es sein. Die beiden Männer, die sich an der Straßenecke angeregt unterhielten. Oder dort drüben im Straßencafé, dort saßen einige junge Leute und schauten gelangweilt herüber. Merten ging auf den Eingang der Bank zu und nestelte dabei an seinem Halstuch herum. Im Schatten des Eingangs zog er das Tuch vor sein Gesicht. Sie sollten sehen, daß er sich genau an die Anweisungen hielt. Er machte zwei schnelle Schritte nach vorn, gab der Tür einen Stoß, daß sie hinter ihm zufiel,
und riß sofort das Halstuch wieder herunter. Er hatte die Hand vor das Tuch gehalten. Ein unbeteiligter Beobachter mußte annehmen, daß er sich nur den Schweiß abgewischt hatte. Noch hatte niemand etwas bemerkt. In dem kleinen Kassenraum befanden sich nur zwei Kunden und drei Angestellte. Eine alte Dame und ein junges Mädchen standen am Schalter, über dem ein Schild mit der Aufschrift ›Sparkonten‹ hing. Der Schalterbeamte redete auf die alte Dame ein. Im Hintergrund klapperte ein Mädchen auf einer Buchungsmaschine herum. Der Kassierer blickte Merten freundlich entgegen. Er kannte ihn vom Sehen. Merten hatte hier schon öfters Geld für seine Firma eingezahlt. Merten ging langsam auf die Kasse zu. Seine rechte Hand verschwand in der Leinentasche. »Was kann ich für Sie tun?« Der Kassierer beugte sich vor. Ein ungläubiges Staunen glitt über sein Gesicht, als Merten die Pistole zog und sie auf seine Brust richtete. Schweigend schob er die Tasche über den Tresen auf den Kassierer zu. »Geld. Alles! Los, machen Sie schon!« Seine Stimme klang ihm unwirklich und fremd. Mit zittrigen Händen griff der Mann nach der Tasche und bewegte sich langsam rückwärts. »Lassen Sie die Alarmklingel in Ruhe, bitte!« In diesem Moment blickte die alte Frau zur Seite und sah die Pistole. Ein gurgelndes, fragendes »Überfall?!« kam von ihren Lippen. Sie drohte zusammenzusinken, aber instinktiv griffen der Angestellte und das junge Mädchen zu und stützten die alte Frau. Verwunderung stand in ihren Gesichtern. Edgar Merten spürte den kritischen Moment. Mit einer Bewegung der Pistole trieb er den Kassierer zur Eile.
»Bitte, bleiben Sie ruhig. Ich garantiere Ihnen, niemand kommt zu Schaden. Ich bin in einer ausweglosen Lage. Ich muß das hier tun. Aber ich werde alles erklären. Später. Bitte, glauben Sie mir.« Seine Stimme zitterte. Der Mann vom Sparschalter bewegte sich auf Merten zu. »Machen Sie doch keinen Unsinn!« »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind. Hände auf den Schreibtisch. Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, herrschte Merten den Mann an. Verängstigt hob der Angestellte die Hände. »Beeilen Sie sich! Ist unten noch Bargeld?« »Nein, nein, bestimmt nicht.« Hastig pfropfte der Kassierer Bündel um Bündel in die gelbe Leinentasche. Durch den Spalt der Eingangstür hörte Merten Unruhe von draußen hereindringen. Er wurde nervös. Ihm nicht verständliche Rufe drangen in den Schalterraum. Auf einmal wurde die Eingangstür aufgestoßen, und ein junger Polizist stand mit gezogener Pistole im Raum. »Waffe weg! Polizei!« Edgar Merten hechtete zur Seite, auf das junge Mädchen zu. Im Sprung fühlte er einen brennenden Schmerz im Arm, erst dann hörte er den Knall des Schusses. Etwas Warmes lief ihm den Arm runter. Das junge Mädchen schrie auf, als er sie an der Schulter herumriß. Durch seine abrupte Bewegung ließ das Mädchen die alte Frau los. Wie ein Baby, das seine ersten Gehversuche macht, stand die Frau wankend vor dem Tresen, dann schlug sie auf den Boden. Ihre Hände glitten am Holz des Tresens haltsuchend entlang. Es gab ein quietschendes Geräusch. Edgar Merten schob das Mädchen vor seine Brust. Ihre Augen waren voller Angst.
Fassungslos starrte der Polizist zu Merten rüber. Langsam ließ er die Pistole sinken. Der Geruch von Pulver hing beißend im Raum. Der Uniformierte ging einen Schritt zurück. Ehe Merten noch etwas rufen konnte, zog der Polizist blitzschnell die Türe zu. Merten hörte das Geräusch genagelter Schuhe und dann den Ruf: »Der Kerl hat ’ne Geisel genommen!« Merten schaute in die angstverzerrten Gesichter. Sein Arm schmerzte. Er lockerte den Griff, mit dem er das Mädchen festhielt. »Machen Sie mir das Halstuch los und verbinden Sie meinen Arm.« Sie nickte. Angelika, dachte er. Angelika. Es wird alles gut werden. Sie müssen mich gehen lassen. Sie müssen. Ich werde ihnen alles erklären.
24
Der Schuß hatte noch mehr Menschen auf den Platz gelockt. Ganz Heiligenhafen schien auf den Beinen zu sein, der Markt war schwarz von Menschen. Sie standen auf den Bänken und in den Eingängen der Geschäfte, zertrampelten die Blumenbeete der Grünanlage. Sämtliche Fenster der umliegenden Häuser waren plötzlich bevölkert. Ich blickte zum Rathaus hinüber und konnte in einem der Fenster Gaby erkennen. Auf einmal hörte ich das Wort »Geisel!« Es flog durch die Reihen wie ein Lauffeuer: »Der Gangster hat eine Geisel genommen!« Also lebte Edgar Merten. War er vielleicht nur angeschossen? Oder hatte er selbst geschossen? Aber das war jetzt egal, er saß wie die Maus in der Falle. Ich mußte den Mann im Popelineanzug im Auge behalten. Das war jetzt wichtiger. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß ich Walter Schümann vor mir hatte. Der große Hagere löste sich aus der Reihe der Gaffer und schlängelte sich durch die Menge. Wollte er den Marktplatz verlassen? Ich hielt mich in sicherem Abstand hinter ihm. Von der Volksbank her hörte ich das wütende Geschrei der Polizei: »Zurücktreten! Bitte, meine Herrschaften, machen Sie Platz. Zurück! Los! Das ist hier doch keine Vorstellung, verdammt noch mal!« Schümann bewegte sich in Richtung Thulboden.
Von dort her drängten immer mehr Menschen in den Platz hinein. Ich mußte mit beiden Armen gegen den Menschenstrom rudern, um Schümann nicht zu verlieren. Die Angestellten der Kreissparkasse standen diskutierend draußen auf der Straße. Der Mann im hellblauen Anzug bewegte sich unauffällig zwischen Grüppchen hindurch und betrat die Schalterhalle der Kreissparkasse. Er zog einen Plastikbeutel aus der Tasche und entfaltete ihn. Ich gesellte mich zu der Gruppe, die nahe an der breiten gläsernen Eingangstür stand und beobachtete den Mann, wie er auf die Kasse zuging.
Walter Schümann war mit sich zufrieden. Auf die Menschen konnte man sich verlassen. Draußen lief sein Schauspiel ab und das Publikum war dankbar und begeistert. Er spürte so etwas wie Übermut, als er durch den handbreiten Spalt der Glasverkleidung auf den Magen des grenzenlos überraschten Kassierers zielte. Der blickte sich hilfesuchend um. Keiner seiner Kollegen war mehr im Schalterraum, alle standen auf der Straße und verfolgten gebannt das Schauspiel. Schümann schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Nichts geht mehr, mein Freund. Nichts.« Schweigend nahm der Mann in der Kasse die ihm dargebotene Plastiktüte und füllte sie. Geldbündel folgte auf Geldbündel. Und wie er es immer gemacht hatte, zählte er auch diesmal mit. Knapp 116000 Mark verstaute er in der Tüte. Er gab Schümann den Beutel.
Dieser zog in aller Seelenruhe ein Stück Papier aus der Tasche und deckte damit das Geld ab. »Nimm dich zusammen, wenn ich rausgehe!« Er wedelte mit der Pistole. Der Kassierer nickte. Ich sah ihn, wie er langsam, den Rücken zum Ausgang, herauskam. Niemand außer mir beachtete ihn. Der Plastikbeutel war prall gefüllt. Als Schümann sich an der Tür umdrehte, wendete ich mich wieder den Diskutierenden zu. Mir war klar, daß der Volksbank-Überfall nur zur Ablenkung inszeniert wurde. In der allgemeinen Verwirrung konnte Mertens Komplize in Seelenruhe die Kreissparkasse erleichtern. Und hier hatte bestimmt mehr Geld gelegen. Aber warum gab sich Merten für die Rolle des Lockvogels her? Warum ließ er sich einkreisen wie ein Tier? Plötzlich fielen mir Gabys Worte wieder ein: Schümann hat ein Druckmittel gegen Merten in der Hand. Und ich kannte jetzt das Druckmittel. Angelika Merten. Der letzte Stein war da und paßte genau ins Puzzlespiel. Ich hätte mich ohrfeigen können, daß ich darauf nicht früher gekommen war. Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte ich. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken herunterlief. Der Mann war auf einmal unheimlich schnell. Er drängte sich durch die Menschen, die am Rande des Geschehens nicht ganz so dichtgedrängt standen. Im Laufen riß er eine zweite Plastiktüte aus der Jackettasche und schlug sie auseinander. Er hatte Angelika in seiner Gewalt, das war mir nun klar. Nur, wie viele Komplizen besaß er? Ich konnte jetzt nichts unternehmen. Ich durfte das Kind nicht gefährden. Die Leute kümmerten sich nicht um uns. Die Sicht zur Kreissparkasse war durch die Schaulustigen versperrt. Wie die
Halme eines Roggenfeldes, durch das man gerade gegangen war, schlossen sich die Menschen hinter uns wieder zusammen. »Überfall! Überfall!« hörte ich die sich überschlagende Stimme des Kassierers rufen. Gelächter kam auf. Irgendjemand schrie: »Wissen wir schon.« Ein anderer rief. »Guten Morgen! Ausgeschlafen?« Nun kreischten die Leute vor Vergnügen. Die Rufe des Kassierers gingen im Gelächter unter. Aber der Mann gab nicht auf. Und dann begriffen die Menschen: Wie ein Mann bewegten sich die Umstehenden nun auf die Stimme zu, die immer noch »Überfall, Überfall!« schrie. Schümann hatte den Thulboden überquert und steuerte auf die Handelsbank zu. Vom Überfallgeschrei gelockt, stürzten die Leute von dem rotverputzten Bankgebäude weg auf die Kreissparkasse zu. Und dann wiederholte sich das gleiche Spiel. Der Hagere verschwand in der Handelsbank. Nach wenigen Minuten war auch die zweite Tüte randvoll. Ohne nach rechts und links zu blicken, tauchte der Mann im Getümmel unter. Unbemerkt. Mich hatte er gar nicht wahrgenommen und dabei war ich doch dicht hinter ihm. Ich stellte mir vor, was gleich los sein würde, wenn auch der Handelsbank-Kassierer das Geschehen durch Überfallrufe bereichern würde. Und unwillkürlich mußte ich lachen.
25
Heiligenhafen hat fünf Polizisten. Der Dienstälteste lag mit Magenverstimmung im Bett, die anderen schoben Dienst. Obwohl Hochsaison war, gab es nicht viel zu tun. Die Urlauber waren verträgliche Leute. Keine Schlägereien, und an Ärgeres brauchte man in Heiligenhafen gar nicht zu denken. Die meiste Arbeit während der Saison hatten sie mit Ladendiebstählen. Als Wachtmeister Gerd Becker das erste Telefongespräch entgegennahm, das ihm den Überfall meldete, da glaubte er noch an einen dummen Scherz. Als dann aber, wenige Sekunden danach, der zweite Anruf eintraf, da war er entgeistert. Sofort schickte er Musmann und Kröger, die im Wachraum eine Zigarette rauchten, mit ihrem Überfallwagen Hafen 1 los. Über Funk schickte er Lattmann, der mit dem Streifenwagen Hafen 2 unterwegs war, hinterher. Das war doch nicht möglich. Er drückte auf die Funktaste. »Hier Zentrale. Hafen 1 und Hafen 2, bitte melden. Was ist los? Bitte kommen.« Die Taste schnappte hoch. »Hier Hafen 1. Wir fahren zum Marktplatz.« Becker hörte das Geräusch des fahrenden Wagens. »Zentrale bitte kommen.« »Hier Zentrale. An Hafen 1 und 2, ich bleibe auf Empfang.« Gerd Becker lehnte sich zurück. Über Funk hörte er das Zuschlagen einer Autotür. Für eine Sekunde schwollen Stimmengewirr und Straßenlärm an. Kröger, der Fahrer von Hafen 1, schrie: »Geht doch zur Seite, ihr verdammten Arschlöcher. Verfluchtes Gaffervolk.«
Becker drückte auf die Taste. »Hafen 1, bitte melden.« Kröger antwortete. »Hier ist ja kein Durchkommen mehr. Dieses verdammte Pack steht überall. Musmann ist in die Bank gelaufen.« Dann überschlugen sich die Ereignisse. Becker hörte den Schuß über Funk. Er schrie: »Bitte kommen, meldet euch doch!« Für einen Moment herrschte totale Verwirrung. Niemand wußte, was geschehen war. War der Gangster angeschossen oder tot? Was war mit Musmann? Wer hatte überhaupt geschossen? Da gellte Krögers Stimme durch den Äther: »Musmann erscheint an der Tür. Er ist anscheinend in Ordnung.« Dann kam Musmanns Ruf: »Der Kerl hat ’ne Geisel genommen!« Gerd Becker war wie vor den Kopf geschlagen. Eine Geisel? Das gab es doch gar nicht! Über Funk hörte er Schreie und Rufe der Passanten, spürte das totale Chaos. Kröger meldete sich wieder: »Gerd, fordere sofort Verstärkung an. Ruf in Kiel an, die müssen das Mobile Einsatzkommando schicken. Wir haben die Sache hier schon nicht mehr im Griff. Die Leute sind außer Rand und Band. Das hier ist der reine Wahnsinn.« Seine Stimme schnappte über. Wachtmeister Becker ließ das Gerät auf Empfang und wählte die Kieler Nummer. »Landespolizei Kiel.« »Hier Polizeistation Heiligenhafen, Wachtmeister Becker. Erbitten Hilfe durch das mobile Einsatzkommando. Bewaffneter Überfall auf die Volksbank. Der Täter hat sich Geiseln genommen.« Becker erklärte dem Kieler Kollegen
hastig die Lage. Er hörte, wie dieser schon während des Gesprächs Kommandos gab. »Habt ihr einen Landeplatz?« »Was?« Becker war entgeistert. »Für die Hubschrauber. Mann Gottes, oder denkt ihr, wir kommen mit dem Wagen von Kiel runter?« »Wir haben den großen Parkplatz am Yachthafen.« »Ist der frei?« »Nee.« »Mensch, was soll denn das? Könnt ihr den wenigstens in einer Viertelstunde frei bekommen?« »Wie sollen wir denn das schaffen? Wir sind doch nur vier Mann. Aber links vor dem Parkplatz, da geht es. Da könnt ihr landen.« »Okay. Stellt Leute von der freiwilligen Feuerwehr dahin, ich will nicht, daß die Leute an die Hubschrauber rankommen.« »Was sollen wir denn jetzt machen? So was hatten wir doch noch nie hier.« »Versucht alles hinauszuzögern. Nehmt mit dem Mann Kontakt auf. Holt euren Bürgermeister und den Pfarrer, ist mir egal, wen noch, nur haltet den Mann hin. Fragt nach seinen Forderungen.« Der Kieler Polizeimann gab Becker noch einige Ratschläge, dann verabschiedete er sich. Becker rief den Chef der Feuerwehr an, aber die waren schon von Kröger herbeizitiert worden. Den Bürgermeister benachrichtigte er erst gar nicht, denn das Rathaus lag ja gleich vis-à-vis der Volksbank. Gerade wollte er Hafen 1 und 2 rufen, als die Alarmklingel der Kreissparkasse losging. »Was soll denn das?« schrie er sich selbst an. Musmann meldete sich über Funk: »Im Augenblick ist es in der Bank ruhig. Hast du mit Kiel gesprochen?«
»Mensch, was ist in der Kreissparkasse los? Die geben hier Überfallalarm. Die spinnen doch komplett.« Er riß den Hörer hoch und wählte die Nummer der Kreissparkasse. Sofort war der Filialleiter an der Strippe. »Wir sind ausgeraubt worden.« »Was? Das darf doch nicht wahr sein!« »Wir haben doch Alarm gegeben. Warum kommt denn keiner?« »Warum keiner kommt? Mann, Sie sind köstlich. Gucken Sie mal aus dem Fenster, dann wissen Sie, warum keiner kommt.« »Was soll ich denn jetzt nur machen?« jammerte der Sparkassenleiter. »Das kann mich den Kopf kosten. Da hat einer in der Verwirrung die Chance genutzt, 0 Gott!« In diesem Moment schrillte bei Becker die Alarmglocke wieder. Die Lampe der Handelsbank blinkte. »Jetzt ist alles aus! Ich hab’ das dumme Gefühl, daß uns da einige Leute ganz systematisch aufs Kreuz legen. Das muß ’ne ganze Bande sein.« »Ich verstehe nicht«, sagte der Sparkassenleiter irritiert. »Soeben ist auch die Handelsbank überfallen worden!« Gerd Becker knallte den Hörer auf die Gabel. »Den ganzen Scheiß hinschmeißen und nach Hause gehen, das wär was«, murmelte er. Der Funk knackte. Musmann rief die Zentrale. »Was soll denn mit der Kreissparkasse sein? Da drüben ist irgendein Tumult, aber wir kriegen hier nichts mit.« »Das ist ja zum Kotzen. Kreissparkasse und Handelsbank haben Überfallalarm gegeben. Ist die Feuerwehr schon da?« »Ja, die sind eben gekommen. Kröger ist mit dem Bürgermeister im Rathaus.« »Verfluchter Mist, schick Lattmann zur Handelsbank und Kreissparkasse rüber!«
»Aber den brauchen wir doch hier.« »Was soll ich denn machen? Die haben Alarm gegeben. Wir müssen da rüber. Lattmann soll dann gleich wiederkommen. Es hat ja doch keinen Sinn.«
26
Walter Schümann erreichte die Schlamerstraße. Aufgeregt, mit roten und hektischen Gesichtern und erwartungsvoll aufgerissenen Augen standen die Schaulustigen auch hier noch dichtgedrängt. Nur mit Mühe konnte ich Schümann folgen. Die gaffende Meute reagierte unwillig. Die Sonne gleißte in den Autodächern, die Schlamerstraße war in einen Parkplatz umfunktioniert worden. Die Polizei war im Augenblick nicht in der Lage, den Marktplatz und seine Zufahrtsstraßen zu räumen. Allmählich lichteten sich die Zuschauerreihen. Schümann schlängelte sich durch die kreuz und quer abgestellten Autos. Zu meinem Glück schaute er sich nicht um. Eine etwaige Verfolgung schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Er fühlte sich sehr sicher. Die kostbaren Plastikbeutel schlenkerten, als er die Straße ›Am Strande‹ überquerte und auf den großen Parkplatz zuging. Mein Wagen stand etwa in Höhe der Fischerstraße. Und weil ich nicht wußte, welche Richtung Schümann nun einschlagen würde, blieb ich erst einmal stehen. Gleich in der ersten Reihe des Parkplatzes stand ein giftgrüner VW mit Düsseldorfer Kennzeichen. Der Mann öffnete die Tür, klappte den Fahrersitz vor und verstaute die Tüten auf dem Boden des Fonds. Ich rannte zu meinem Wagen. Beinah hätte ich eine alte Frau, die an dem ganzen Geschehen wohl nicht sonderlich interessiert war, und mit einem vollgepackten Fahrrad stadtauswärts radelte zu Fall gebracht. Im letzten Moment
warnte mich das rostige Geratsche ihrer Fahrradklingel. Dann hatte ich endlich meinen Wagen erreicht. Wollte Schümann die Stadt verlassen, mußte er an mir vorbeikommen. Ich ließ den Motor an, im selben Augenblick rauschte er auch schon an mir vorüber. Ohne Schwierigkeiten konnte er in die Straße einbiegen. Ich ließ einige Sekunden verstreichen, dann setzte ich ihm nach. Er schlug den Weg zum Ferienpark ein.
27
Edgar Merten hatte Angst. Was war passiert? Wer hatte die Polizei verständigt? Er verstand das alles nicht. Mit einem Wink der Pistole dirigierte er die alte Frau, die sich inzwischen wieder hochgerappelt hatte, und die beiden Männer zu der Angestellten an der Buchungsmaschine. Das Mädchen behielt er bei sich. Sein Arm begann zu schmerzen. In der Wunde pochte es. Deutlich spürte er in ihr seinen Pulsschlag. Die Stille im Schalterraum zerrte an seinen Nerven. Nur von draußen drangen vereinzelt Rufe und Schreie herein. Was sollte er tun? Er konnte die Bank nicht verlassen. Da halfen die Geiseln im Augenblick gar nichts. Warten, bis die Polizei Kontakt aufnahm. »Haben Sie Zigaretten?« Das junge Mädchen neben ihm zuckte zusammen, nickte und begann in ihrer Handtasche zu wühlen. »Zünden Sie mir eine an!« Nein, er mußte handeln. Sicher hatten die Entführer schon von dem Debakel gehört. Ganz Heiligenhafen wußte bestimmt schon Bescheid. Mit jeder Minute wuchs die Gefahr für Angelika. Er wußte, daß er etwas unternehmen mußte. Edgar Merten fühlte sich erschöpft. Der Schweiß lief ihm über das ganze Gesicht, die Wunde brannte immer schmerzhafter. »Sie, Sie und Sie«, seine Pistole zog eine Linie zwischen dem Schalterbeamten, dem Kassierer und der alten Frau, »kommen Sie hierher!« Das Mädchen reichte ihm die Zigarette. Er
rauchte in hastigen Zügen. Das Mädchen neben ihm neigte leicht den Kopf und beobachtete ihn. »Ich werde Sie jetzt rauslassen, die beiden Mädchen bleiben bei mir.« Ungläubiges Staunen und unverhohlene Freude darüber, der furchtbaren Situation entrinnen zu können, stand in den Gesichtern der Angesprochenen. Der Kassierer befeuchtete mit der Zunge seine trockenen Lippen. Keiner fragte nach den beiden jungen Frauen. »Sie werden rausgehen und den Polizisten sagen, daß sie den Marktplatz räumen, mir einen vollgetankten Fluchtwagen hinstellen und mir eine halbe Stunde Vorsprung geben sollen. Die beiden Mädchen werden mich begleiten. Haben Sie mich verstanden?« Die drei nickten, als hätte jemand an einem unsichtbaren Faden gezogen. »Los, gehen Sie!« Die Pistole wies den Weg zur Tür. »Und… und sagen Sie der Polizei, mit mir ist nicht zu spaßen!« Die beiden Männer hakten die alte Frau, deren Gesicht deutlich von der Anspannung gezeichnet war, unter und gingen zum Ausgang. »Vergessen Sie nicht, die Tür sofort hinter sich zu schließen!« Edgar Merten schnippte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Als er den Fuß wegzog, sah er den kleinen Brandfleck.
28
Die Menschen auf dem Marktplatz waren geduldig. Sie warteten. Die Spannung stieg von Minute zu Minute, wie auf einem Barometer ablesbar. Wann würde wieder etwas passieren? Was käme als nächstes? Gerüchte und Vermutungen wurden geboren und gleich darauf durch noch wildere abgelöst und begraben. Natürlich war auch die Spezies Mensch vertreten, die alles Übel dieser Welt – und speziell natürlich diesen Vorfall – der allgemeinen Verwahrlosung und dem Fehlen einer starken Hand zuschrieb. Vor der Volksbank entstanden Geschiebe und Gedrängel. Rufe und Flüche wurden laut. Die Hintenstehenden reckten die Köpfe und stellten sich auf die Zehenspitzen. Ein junger Mann ließ einen Jungen auf seine Schulter steigen, der die Umstehenden mit den neuesten Informationen versorgte. »Da kommt Polizei! Die haben wohl Verstärkung erhalten… die drängen die Leute immer weiter zurück… hoffentlich räumen die nicht den ganzen Platz, es wäre schade.« Aus der Umgebung Heiligenhafens waren nun die ersten Polizisten eingetroffen, um ihre total überraschten Kollegen zu entlasten. Sie hatten ihre Wagen weit vor dem Tatort abgestellt, es war unmöglich, durchzukommen. Auch im Rücken der Schaulustigen setzte Bewegung ein. Feuerwehrleute hatten damit begonnen, einen Zufahrtsweg zum Marktplatz, die Brückstraße, zu räumen. Irgend jemand brüllte durch ein Megaphon: »Bitte räumen Sie die Straße! Machen Sie die Zufahrtswege für die Polizei
frei. Fahren Sie Ihre Kraftfahrzeuge weg. Dieser Aufforderung ist unverzüglich Folge zu leisten.« Vereinzelt kamen Menschen den Anordnungen nach und entfernten sich oder suchten jedenfalls nach einem Platz, von dem sie das Geschehen weiterhin verfolgen konnten, ohne den Beamten hinderlich zu sein. Der Polizist Musmann saß im VW-Bus und fragte den mittlerweile völlig verzweifelten Wachtmeister Becker über Funk, wann denn nun endlich die Kieler Kollegen einträfen. Gerade wollte der Wachtmeister in der Zentrale antworten, als jemand schrie: »Bitte nicht schießen! Nicht schießen! Er hat uns laufenlassen. Wir haben eine Nachricht!« Musmanns Kopf ruckte hoch. Durch die schmutzige Seitenscheibe des Polizeifahrzeugs sah er in Richtung Volksbank. In der Tür standen zwei Männer, in ihrer Mitte hielten sie eine alte Frau, die sich an die Arme ihrer Begleiter klammerte, als würde sie ertrinken, wenn sie den Halt verlöre. Musmann sprang aus dem Wagen und rannte geduckt auf die drei zu. »Los, kommen Sie! Zum Wagen!« Er schnappte sich die alte Frau, faßte sie unter die Achseln, schob sie vor sich her – eigentlich trug er sie schon – und drückte sie schnaufend in den Bus. Die beiden Männer redeten aufgeregt auf ihn ein: »Wir sind Angestellte der Bank, die Dame ist eine Kundin.« Der Kassierer schöpfte nach Luft. »Darf ich?« er wies auf ein Päckchen Zigaretten. Musmann gab ihm Feuer. »Was ist mit der Nachricht?« »Es sind noch zwei junge Mädchen drin. Unsere Kontoristin und eine Kundin. Er sagt, Sie sollen unverzüglich den Marktplatz räumen, ihm einen vollgetankten Fluchtwagen
hinstellen; und eine halbe Stunde Vorsprung will er haben. Die Mädchen will er mitnehmen.« Der Kassierer beugte sich vor und starrte Musmann ins Gesicht. »Er hat fast 45 000 Mark in der Tasche. Mit dem Mann ist nicht zu spaßen. Das hat er selber gesagt, das sollen wir Ihnen bestellen, mit dem ist nicht zu spaßen.« Musmann schaute die drei an. »Sonst noch was?« Der andere Angestellte nickte. »Ja, er ist verletzt, am Arm. Der Polizist hat ihn getroffen. Waren Sie das nicht?« Musmann nickte. »Hätten ihm ins Herz schießen müssen, diesem Verbrecher, diesem Halunken.« Die alte Frau lief rot an. »Genau ins Herz, dann wäre er weg.« Musmann riß ein Megaphon von der Halterung und stürzte nach draußen. Er drückte die weiße Taste auf ›SPEAK‹, und seine Stimme hallte gegen das Bankgebäude: »Hören Sie mich? Wir haben Ihre Nachricht erhalten. Wir beginnen mit der Räumung des Platzes.« In diesem Moment füllte sich die Luft mit dem Zirpen rotierender Hubschrauberblätter. Ein Polizeihubschrauber zog dicht über dem Marktplatz eine Schleife und drehte dann in Richtung See ab. Die letzten Worte waren in dem Lärm untergegangen. Als er verebbte, wiederholte Musmann: »Wir haben Ihre Nachricht erhalten. Wir räumen den Platz.«
29
Ich folgte dem Volkswagen. Schümann fuhr seinen Wagen links am Ferienpark vorbei und stellte ihn auf der Rückseite des riesigen Gebäudekomplexes auf dem Parkplatz ab. Zur Hochsaison entstand hier eine wahre Autohalde. Aber er hatte noch eine Lücke erspäht. Im Schrittempo fuhr ich vorbei. Er stieg aus, überquerte den Fahrstreifen und tauchte in meinem Rückspiegel auf. Dann verschwand er in einem der unzähligen Eingänge. Er würde wiederkommen, denn er hatte die Geldtüten im Wagen gelassen. In der Kehre, in der die Busstation liegt, wendete ich und fuhr zurück. Über mir hörte ich plötzlich ein lautes Brummen und Zirpen. Drei grüne Polizeihubschrauber flogen in Richtung Heiligenhafen. Die Verstärkung war da. Was sollte ich tun? Ich merkte, daß ich keinen richtigen Plan hatte. Ich stellte meinen Wagen so, daß ich Schümann die Ausfahrt versperrte. Das Zuschlagen der Tür kam von den Wänden der Wohnanlage als Echo zurück. Ich schloß den Kofferraum meines Wagens auf. Erst machte ich mir am Reserverad zu schaffen, ich wollte eine Reparatur vortäuschen, dann knotete ich das Werkzeugbündel auf. Meine Handfläche wurde feucht. Durch die Armbeuge hatte ich den Eingang, durch den Schümann verschwunden war, im Visier. Nichts rührte sich. Mein Hemd klebte mir schweißnaß am Rücken. Da öffnete sich die Eingangstür. Ein Mann kam heraus und blickte um sich.
Es war nicht Schümann. Der Mann trug eine braune Cordhose und ein kariertes Hemd. Seine Haare waren dunkelblond und kurz geschnitten, in seiner rechten Hand baumelte eine Reisetasche. Er drehte sich wieder zur geöffneten Tür um und zog ein Kind aus dem Halbdunkel des Eingangs. Es war ein Mädchen und hatte hellblonde Haare, die zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden waren. Angelika Merten! Kein Zweifel, ich erkannte sie nach dem Foto, das Norbert Kunze mir gegeben hatte, sofort wieder. Sie lebte. Schümann hatte sie die ganzen Tage in dem riesigen Apartmenthaus festgehalten. Einen besseren Ort, um ein Kind zu verstecken, als diesen riesigen von Kindergeschrei angefüllten Ameisenhaufen, gab es gar nicht. Der Mann gab dem Kind einen Klaps auf den Po und sagte halb heruntergebeugt etwas zu ihm. Das kleine Mädchen zögerte einen Augenblick, dann rannte es los. Auch der Mann im karierten Hemd setzte sich in Bewegung. Er kam genau auf mich zu. Er war groß und hager, und sein Gang kam mir irgendwie bekannt vor. Sollte das vielleicht doch… Ja, natürlich! Jetzt erkannte ich auch sein Gesicht wieder. Walter Schümann hatte die Kleider gewechselt. Die langen schwarzen Haare mußten eine Perücke gewesen sein. Ein genialer Plan. Bestimmt war seine Beschreibung schon über sämtliche Polizeifernschreiber in Schleswig-Holstein getickert. Hellblauer Popelineanzug, schwarzes, schulterlanges Haar. Die Ausfallstraßen wurden vermutlich schon kontrolliert. Mein Hirn arbeitete fieberhaft, während ich mich wieder tief in den Kofferraum meines Wagens beugte und in meiner
Werkzeugtasche herumfuhrwerkte. Den großen verstellbaren Schraubenschlüssel wog ich in meiner rechten Hand und wechselte ihn dann in die linke. Und wieder zurück. Ich hörte das Scharren seiner Schuhe. Er stand hinter mir, ich spürte seinen Atem. »Würden Sie bitte ein Stück…« Ich drehte mich um. Er sah den Schraubenschlüssel viel zu spät. Ich traf ihn genau in der Beuge zwischen Hals und Schulter. Für einen Moment sah ich das Erstaunen in seinem Gesicht, dann rutschte er an mir vorbei und schlug auf den Boden. Ich riß ihn an den Achseln hoch, legte seinen Oberkörper in den Kofferraum und schob den Rest nach. Dann schlug ich die Klappe zu. Auf der kurzen Fahrt nach Heiligenhafen würde er mir schon nicht ersticken. Das Mädchen! Ich drehte mich um. Sie lief auf die Straße zu, eine Brottasche in ihrer Hand. Ich rannte hinter ihr her. Was sollte ich sagen? Sie blickte mich aus großen Augen an, als ich sie auf den Arm nahm, über ihr Haar strich und sagte: »Es ist alles gut, Angelika. Ich bringe dich zu deinen Eltern.« Ihre Augen waren ausdruckslos.
30
Als die Hubschrauber des Mobilen Einsatzkommandos landeten, hatten die Männer von der Feuerwehr und einige schnell dazu beorderte Stadtbedienstete den Platz abgesperrt. Sie drängten die Schaulustigen an den äußersten Rand zurück, als die Männer vom MEK die Hubschrauber verließen und in geduckter Haltung unter den auskreisenden Rotorblättern her auf einen bereitstehenden VW-Bus zuliefen. Ihre langen, mit aufgesetzten Zielfernrohren versehenen Gewehre hielten sie in den Händen. Der Kies des Platzes knirschte unter den genagelten Stiefeln. Im Bus erklärte Lattmann seinen Kieler Kollegen den neuesten Stand. Er sprach in hastigen, kurzen Sätzen. Der Leiter des Kommandos, Major Drossart, sah ihn an. »Das mit der Räumung des Platzes habt ihr richtig gemacht. Dadurch gewinnen wir wertvolle Zeit.« »Es wird schnell gehen, jetzt haben wir genug Leute von der Feuerwehr und den umliegenden Polizeistationen. Aber zuerst, als es anfing… Es war furchtbar, wir wußten nicht, wo uns der Kopf stand.« Lattmann seufzte. »Dann los!« Der VW-Bus setzte sich in Bewegung. Mit kreisendem Blaulicht fuhren sie die Brückstraße hoch. Polizeimajor Drossart legte die Hand auf Lattmanns Schulter. »Sie sagten, das Rathaus liegt genau gegenüber?« Lattmann nickte. »Dann werden wir uns da einnisten. Es spricht wohl nichts dagegen?«
Lattmann verneinte, indem er den Kopf schüttelte. Drossart wandte sich an seine Leute. »Der wird sein blaues Wunder erleben.« Lattmann sah die offenen Münder der am Straßenrand lauernden Menschen vorbeihuschen. Mit radierenden Reifen brachte er den Bus zum Stehen. Die Männer vom MEK hasteten aus dem Wagen und liefen über den Marktplatz. Mit knappen Anweisungen verteilte Drossart sechs seiner Männer rund um das Bankgebäude. Unter ihren Bleiwesten mußten sie ganz schön schwitzen. Die Läufe der Gewehre richteten sich auf den Eingang der Bank. Der Spielzeugladen nebenan war schon lange geräumt worden. Merten hatte keine Chance. Auf dem Platz war es auf einmal totenstill. Nur die Schritte von Drossart, seinem Assistenten und Lattmann waren zu hören, als sie auf das Rathaus zu rannten. Gerade als sie den ersten Stock erreichten, öffnete sich eine Tür, und Kröger kam heraus. »Kommen Sie hierher. Wir haben uns in der Bürgermeisterstube breitgemacht.« Er begrüßte mit einem angedeuteten Nicken seine Kollegen und führte Drossart zum Schreibtisch, hinter dem mit bleichem Gesicht der Bürgermeister hockte. »Das hier ist der Leiter der Kieler Spezialtruppe, die sich solcher Fälle annimmt. Unsere Sorgen sind vorbei, oder jedenfalls um einen guten Zentner leichter geworden.« Drossart hörte Kröger schweigend zu. Der Bürgermeister musterte ihn und fragte mit brüchiger Stimme: »Was gedenken Sie jetzt zu tun?« »Gegenfrage. Haben Sie schon mit dem Bankräuber gesprochen?« »Nein, das heißt einmal über Megaphon… aber direkt noch nicht.«
»Na, dann werden wir das einmal nachholen. Wir werden eine telefonische Verbindung aufnehmen. Ich möchte mit dem Herrn sprechen. Ich muß seine Stimme hören, dann kann ich mir ein Bild machen. Ich muß wissen, wie er spricht, wie er sich am Telefon gibt… Dann haben wir es leichter.« »Was leichter?« Kröger blickte in Drossarts kantiges Gesicht, das begrenzt schien durch die schmalen Striche, die Mund und Augenpartie bildeten. Der MEK-Mann kümmerte sich nicht um die Frage, statt dessen bohrte er seinem Assistenten den Finger in die Brust. »Dann man los!« Drossarts Mann drehte sich auf den Hacken um und verließ den Raum. Seine Schritte verklangen im Flur. Dann erscholl die Stimme des Mannes über den Marktplatz: »Hier spricht die Polizei! Hier spricht die Polizei! Wir wollen mit Ihnen telefonischen Kontakt aufnehmen. Bitte melden Sie sich, wenn das Telefon klingelt.« Dann war wieder Stille. Kröger zündete sich gerade mit einem Seitenblick auf Drossart eine Zigarre an, als dessen Mann wieder in den Raum trat. Der Bürgermeister lehnte sich vor, wobei sein Stuhl erbärmlich quietschte und langte nach dem Telefon. Er nahm den Hörer ab und begann zu wählen. Drossarts behaarte Hand klatschte auf die Gabel. »Der hat keine Zeit. Aber wir doch.« Und als wundere er sich über die Hast, schüttelte er den Kopf. Kröger fiel fast die Zigarre aus der Hand. »Aber der hat doch die beiden Mädchen! Der hat doch Geiseln, wenn er die…« »Umlegt? Doch nicht wegen fünf Minuten. Der will doch raus. Und raus kommt er nur mit lebenden Mädchen. Glauben Sie etwa, der schießt, wenn er überhaupt schießt, schon in der
Bank? Wenn er das tut, kann er gleich sein Testament machen.« Die Stille lastete im Raum. Der Qualm bildete Schwaden. Lattmann räusperte sich. »Was haben Sie denn genau vor? Ich meine, wie soll es weitergehen, wenn der Mann rauskommt?« Drossart sah ihn an. »Genau kann ich Ihnen das noch nicht sagen. Erst muß ich ihn gesprochen haben, wie gesagt. Aber jetzt etwas anderes: Herr Lattmann, Sie sagten, während der Mann in der Volksbank saß, sind zwei andere Banken ausgeraubt worden. Wer hat das Ihrer Meinung nach getan?« »Sein Komplize! Das ist doch klar.« »Glauben Sie? Ein Mann geht in eine Bank, läßt sich einkellern, bis sein Kumpel die anderen Banken alle gemacht hat und abgehauen ist?« »Naja, beide Kassierer haben den Mann beschrieben. Es handelt sich einwandfrei um ein und dieselbe Person. Verstehen Sie, auch wenn man annehmen würde, irgendeiner hätte kaltblütig den Überraschungsmoment der totalen Verwirrung ausgenutzt, dann ist doch mehr als unwahrscheinlich, daß er gleich zweimal zuschlägt. Nein, die Sache war geplant.« »Wenn das so wäre, dann hätten wir einen ganz Harten vor uns, aber hier stimmt irgend etwas nicht…« Drossart wendete sich zu den Männern im Raum um. »Nehmen wir einmal an, da hätte ein Plan bestanden. Warum hat dann sein Komplize zweimal angerufen? Hält doppelt wirklich besser?« »Aber«, rief Kröger, »haben Sie hier nicht vergessen, daß ein Kunde, der zufällig zum Zeitpunkt des Überfalls die Volksbank betrat, den Gangster gesehen und uns benachrichtigt haben könnte?«
»Dann hätte er doch ruhig seinen Namen nennen können, oder?« »Vielleicht war er zu aufgeregt«, warf der Bürgermeister ein. »Wäre ’ne Möglichkeit«, knurrte Drossart, »aber dann würde er sich doch wenigstens jetzt melden.« Die Männer nickten. Das war nicht von der Hand zu weisen. Drossart blickte auf seine Armbanduhr. »Na, dann wollen wir mal.« Sieben Minuten waren vergangen. Er angelte sich das Telefon, ergriff den Hörer und stellte den Apparat so, daß der Bürgermeister die Wählscheibe vor sich hatte. »Wählen Sie bitte.« Das Freizeichen klang nur einmal auf, dann hatte Drossart seine Verbindung. »Hier spricht Polizeimajor Drossart. Sind Sie…« Eine gehetzte Stimme schrie: »Hören Sie, ich habe hier zwei Mädchen… Warum lassen Sie sich so verflucht viel Zeit?« Drossart schob die Hand über die Muschel. »Doch nicht ganz so hart.« »Was haben Sie gesagt?« Der MEK-Mann überging die Frage. »Der Marktplatz ist geräumt. Der Fluchtwagen muß jeden Moment kommen. Aber vorher wäre noch etwas anderes zu klären.« »Was?« »Kommen Sie raus!« Drossart schnauzte richtig ins Telefon. »Sie haben doch gar keine Chance. Lassen Sie sofort die beiden Mädchen frei.« »Nein – es geht nicht.« »Hören Sie, Sie haben Geiseln. Deren Sicherheit geht vor. Sie sollen auch Ihren Vorsprung haben. Doch wann lassen Sie die Mädchen frei?«
»Sobald es geht, verstehen Sie. Ich garantiere Ihnen, daß den beiden Mädchen nichts passiert. Ich halte mein Wort. Ich lasse sie auf dem schnellsten Wege frei. Sie müssen mir glauben.« In diesem Moment schlug die Tür zum Bürgermeisterzimmer auf, ein Feuerwehrmann stand im Türrahmen und brüllte: »Der Wagen ist da! Für den Mann in der Bank.« Drossart war zu überrascht, um die Sprechmuschel abzudecken. Sein Assistent wurde krebsrot im Gesicht und schrie: »Schnauze!« Aber da war es schon zu spät. Der Mann am anderen Ende des Telefons atmete erleichtert auf. »Dann ist ja alles klar. Fahren Sie den Wagen vor. Rufen Sie mich dann an. Aber beeilen Sie sich. Denken Sie an die Mädchen.« Der Mann hatte aufgelegt, und wie etwas, das nicht mehr zu ihm gehörte, hielt Drossart den Hörer in der Hand. Er drehte sich langsam um. Der Feuerwehrmann stand immer noch in der Tür. »Sagen Sie mal, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Die Linien von Augen und Mund zogen sich noch mehr zusammen. »Gehen Sie doch gleich auf den Marktplatz und brüllen Sie von da aus. Dann ersparen Sie sich die Treppen.« Der Mann in der Tür stammelte: »Ich… ich…« Doch Drossart unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ach, seien Sie doch ruhig.« Er wandte sich an seinen Assistenten: »Ab jetzt noch zehn Minuten. Wir schauen uns unten noch einmal alles an, ob die Leute gut postiert sind, du verstehst. Dann gehst du hoch und rufst an. Ich bleibe unten. Dann wollen wir doch mal sehen.« Er ging zur Tür. Der Feuerwehrmann wich ängstlich zur Seite.
Der Bürgermeister hob sich halb von seinem Stuhl und sprach den Rücken von Drossart an: »Könnten Sie mir vielleicht sagen, was nun läuft?« Drossart drehte sich halb um. »Wir lassen ihn jetzt kommen. Aber nicht so weit, wie er sich das wünscht.«
31
Das Mädchen saß auf dem Rücksitz und starrte meinen Rücken an. Ihre kleine Hand umklammerte den Lederriemen ihrer Brottasche. Ich beobachtete sie im Innenspiegel. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste ich in Richtung Innenstadt. Der Binnensee lag ruhig und glänzte wie Silberfolie in der Mittagssonne. Die wenigen Spaziergänger sahen mir kopfschüttelnd nach. Je näher ich dem Zentrum kam, desto mehr füllten sich Gehsteige und Fahrbahnen. Der obere Teil der Straße ›Am Strande‹ sah wie ein kleines Heerlager aus. Überall waren grüne Mannschaftswagen der Polizei abgestellt, es wimmelte auf einmal von Uniformierten. Links auf dem Parkplatz vor dem Yachthafen sah ich die Hubschrauber, die mich vorhin überflogen hatten, überdimensionalen Hornissen gleich, die sich ermattet von einem langen Flug in der gleißenden Mittagshitze ausruhen mußten. Es war unmöglich, durchzukommen. Sowohl die Fischer- als auch die Schlamerstraße, an denen ich im Schrittempo vorbeifuhr, waren total von den Schaulustigen und ihren Autos verstopft. Hatte die Polizei das Geschehen immer noch nicht in den Griff bekommen? Also überlegte ich es mir anders. Wenn hier kein Durchkommen war, dann mußte ich eben zur Polizeistation am Thulboden fahren. Ich brachte meinen Wagen erneut auf Touren, bremste jedoch sofort wieder ab. Die Brückstraße war geräumt. Straßensperren waren errichtet worden, vor denen drei Polizisten auf und ab
gingen. Langsam ließ ich meinen Wagen vor der Sperre ausrollen. Einer der Polizisten starrte mich mit offenem Mund an, langsam setzte er sich in Bewegung, und als ich ausstieg, hatte er mich erreicht: »Hier können Sie nicht durch. Wissen Sie denn nicht, was hier los ist?« »Doch, natürlich, ich muß sogar durch!« Seine Augen wurden kugelrund, und für einen Moment fürchtete ich, sie würden ihm aus der Halterung rutschen. »Was müssen Sie? Hier durch? Sind Sie von der Polizei?« »Nein, aber… ich weiß… warum der Mann da in der Bank ist… verstehen Sie! Der ist nicht freiwillig drin!« Erst jetzt wurde mir klar, wie dämlich ich auf den Polizisten wirken mußte. »Warum der in der Bank ist, kann ich Ihnen auch sagen. Der hat sie nämlich ausgenommen. Und freiwillig, nee, das ist er bestimmt nicht mehr, denn wir hocken ja davor.« »Verstehen Sie doch! Der Mann ist gezwungen worden!« »Ach, reden Sie doch keinen Quatsch! Machen Sie, daß Sie hier fortkommen! Jeden Moment kann es hier losgehen! Die haben den Wagen schon vorge…« »Is’ was?« Einer seiner Kollegen näherte sich uns. »Hören Sie! Sie müssen…«, begann ich, doch mein erster Gesprächspartner fuhr mir in die Parade. »Der Mann hier behauptet, er wisse, warum der Kerl in der Bank hockt. Beziehungsweise will er angeblich wissen, daß der angeblich gezwungen worden ist…« »Gezwungen?« echote sein Kollege und kratzte sich am Kopf. »Ja, gezwungen«, hakte ich ein, »und zwar von einem Mann, der kurz danach die Kreissparkasse und die Handelsbank überfallen hat, das war…«
»Und wie hat er das gemacht? Gezwungen, meine ich.« Der Polizist, der dazugekommen war, blickte mich lauernd an. »Er hat seine Tochter entführt, die…« »Er hat was?« mein erster Gesprächspartner schaute mich selten dämlich an. »Aber er hat doch mit keinem Wort davon gesprochen.« »Er glaubt doch immer noch, sie sei in Gefahr, aber ich habe Angelika Merten bei mir im Wagen. Wenn Sie das ihrem Vater sagen, läßt der sofort die Geiseln laufen und kommt raus.« »Wen haben Sie im Wagen?« Ich drehte mich um und wies auf das Mädchen, das teilnahmslos in meinem Wagen hockte, die Brottasche fest umklammernd. »Da ist sie! Ihr Vater heißt Edgar Merten, wohnt hier in der Fischerstraße und hockt jetzt in der Bank, weil der Entführer von ihm verlangte, die Volksbank zu überfallen, um das Lösegeld zu besorgen. Aber das war nur ein Trick!« »Na klar, das war ein Trick. Ist doch klar.« Der Polizist mit den kugelrunden Augen nickte seinem Kollegen verständnisvoll zu. »Und gleich holt der den Entführer aus dem Kofferraum.« Ich starrte ihn verdutzt an. Jetzt hatte ich die Nase voll. Ich langte in das Handschuhfach meines Wagens und fischte die Pistole heraus, die ich Schümann abgenommen hatte, bevor ich ihn im Kofferraum verstaute. Die Augen des Polizisten wurden noch runder, und grenzenloses Erstaunen stand in seinem Gesicht geschrieben, als ich ihm die Waffe in die Faust drückte und ihn am Revers um den Wagen herumzerrte. Der dritte Kollege kam auf uns zugerannt. Ich ließ den Kofferraumdeckel hochschnappen. Walter Schümann war wieder zu sich gekommen und richtete sich langsam mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
»Genügt das?« Der Polizist kam aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus, sein Mund öffnete sich mechanisch wie bei einem Karpfen, der nach Luft schnappt. Seine Kollegen begriffen schneller. Sie zerrten Schümann heraus und nahmen ihn mit sicherem Griff in die Mitte. Ich griff nach dem Funksprechgerät, das dem Polizisten von der Schulter baumelte und hielt es ihm dicht vors Gesicht. »Und jetzt sagen Sie Ihrem Chef Bescheid. Sagen Sie ihm, sie sollen den Mann auf keinen Fall aus der Bank herauslassen! Verstehen Sie das?« Er nickte und sprach dann aufgeregt auf den unsichtbaren Partner ein. In seinem Gerät knackte es, und dann antwortete eine rauschige Stimme: »Schicken Sie den Mann hoch!« Die drei starrten mich an. Der Beamte mit den kugelrunden Augen schien darauf zu warten, daß ich jetzt irgendwelche Flügel ausbreiten und gen Marktplatz fliegen würde. Ihn konnte nichts mehr überraschen. Als ich den Kofferraum zuschlug, schob ein Polizist die Barrieren auseinander und winkte. Ich fuhr an und raste die menschenleere Brückstraße hoch. Die Schaulustigen waren weit zurückgedrängt. Thulboden, Mühlen-, Berg- und Schlamerstraße waren schwarz vor Menschen, aber der Marktplatz war frei. Allerdings waren die Fenster der umliegenden Häuser bevölkert. Vor dem Rathaus standen die meisten Uniformierten. Hier brachte ich meinen Wagen zum Stehen. Angelika sagte noch immer keinen Ton. Vor der Volksbank stand ein blauer, viertüriger Opel-Rekord. Die Tür meines Wagens wurde aufgerissen. Ein Mann mit schmalem Gesicht sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist los, was haben Sie da eben von sich gegeben?« Ich berührte ihn leicht, als ich ausstieg. Er wich zurück.
Ich klappte die Lehne meines Sitzes vor und zog Angelika aus dem Wagen. »Ach bin Major Drossart, ich leite den Einsatz. Nun reden Sie schon!« »Können wir nicht irgendwohin gehen?« unterbrach ich ihn und wies auf das Kind. »Los, kommen Sie!« Er ging auf das Rathaus zu, ich nahm das Mädchen auf den Arm. Als ich an dem Pförtner vorbeikam, der in seiner Kabine hockte, nickte ich ihm zu, und er antwortete mit einem ›Nunverstehe-ich-gar-nichts-mehr-Blick‹. Auf der Treppe begann ich, dem Polizisten kurz den Hergang zu erzählen. Als ich bei meinem Telefongespräch angekommen war, unterbrach er mich: »Dann waren Sie das also, das paßt.« Er tippte einem Polizisten auf die Schulter: »Los, rennen Sie zu der Frau und bringen Sie sie hierher!« Der Angesprochene raste die Treppe hinunter. Als wir das Zimmer betraten, erkannte ich sofort den Bürgermeister. Er musterte mich überrascht. »Verstehen Sie«, ich blickte Drossart an, »wenn Sie dem Vater sagen, daß seine Tochter hier bei Ihnen ist und er nichts mehr zu befürchten hat, dann kommt er raus, dann…« »Also gut.« Der Mann griff das Telefon. »Wählen Sie!« Gehorsam betätigte der Bürgermeister die Wählscheibe. Die Männer im Raum betrachteten mich wie ein Fabeltier. Das Freizeichen war kaum angeklungen, als Merten schon abnahm. »Warum ver…« »Herr Merten…« Am anderen Ende wurde es still, er war zu überrascht. Er atmete schwer, als er sagte: »Woher wissen Sie meinen Namen?«
Doch der Polizist unterbrach ihn: »Ich weiß noch mehr! Vor allen Dingen weiß ich jetzt, warum Sie in der Bank sind!« Am anderen Ende hörte man einen Zischlaut. Drossart blickte mich an, als er fortfuhr: »Ihre Tochter Angelika ist hier bei uns! In Sicher…« Es war, als hätte eine Bombe am anderen Ende eingeschlagen. »Was?« schrie Merten, »das glaube ich nicht!« »Doch, Herr Merten, sie ist…« »Lassen Sie mich mit ihr sprechen!« Drossart winkte mich mit dem Kind an das Telefon. »Sag etwas, Angelika, dein Vater ist am Telefon. Er will dich sprechen.« Teilnahmslos starrte das kleine Mädchen auf den Hörer. Ihre kleine Hand krampfte sich um den Lederriemen, der Schock saß zu tief. Der Polizist fuhr ihr mit der Hand über das Haar: »Sag etwas.« Auf einmal klang Mertens Stimme aus dem Hörer: »Angelika! Kind… bist du da, Engelchen…?« Das Mädchen griff nach dem Hörer und rief: »Papi!« Am anderen Ende hörte man einen leisen Aufschrei: »Ich komme raus! Es ist alles vorbei!« Merten unterbrach die Leitung. Und dann brach im Raum die Hölle los, alles stürzte zur Tür und die Treppe runter. Im Nu waren Angelika und ich allein. Ich ging zum Fenster, setzte sie auf die Fensterbank und zündete mir eine Zigarette an. Unter mir lag der Marktplatz. Noch war alles ruhig. Die Scharfschützen, rings um die Bank verteilt, hatten ihre Gewehre auf den Eingang gerichtet. Dann schrie irgendjemand: »Sie kommen!« Und gleich darauf erschienen zwei junge Mädchen. Sie schauten sich unsicher um, als sie sich langsam auf den Gehsteig zu bewegten. Sofort sprangen zwei Polizisten auf die
beiden zu und rissen sie aus der Schußlinie. Dann war es wieder ruhig. Plötzlich hörte ich einen metallenen Klang. Etwas, schepperte über den Gehsteig und kam zum Stillstand. Die Pistole. Gleich darauf erschien Merten. Den einen Arm hatte er weit über den Kopf erhoben, der andere hing schlaff an seiner Seite. Ich hob Angelika hoch und ging aus dem Raum, nach unten.
32
Der Rest des Tages war eine Tortour. Schümann hatten sie schon verhaftet und abtransportiert, als ich mit dem Kind vor dem Rathaus auftauchte. Merten, seine Tochter und ich wurden in einen der bereitstehenden Polizeiwagen verfrachtet. Frau Merten saß schon im Wagen. Mit Blaulicht wurden wir zum Landeplatz der Hubschrauber gebracht, und dann flogen wir sofort weiter nach Kiel. Dort angekommen, wurden wir gleich ausgiebig verhört. Ein Polizeiarzt kümmerte sich sofort um das Mädchen. Es wurde zur Untersuchung in ein Krankenhaus gebracht, aber das war nicht mehr schlimm für sie, denn ihre Mutter war bei ihr. Merten erzählte sofort alles, und mit meinen Ergänzungen war das Puzzle rasch vollständig. Und so machte es auch schon nichts mehr aus, daß Walter Schümann eisern schwieg.
Kurz nach zwei brachte ein Abschleppwagen Schümanns grünen VW aus Heiligenhafen. Ein Polizist nahm ihm die Wagenschlüssel ab und holte, nachdem die Fingerabdrücke gesichert worden waren, die Geldtüten aus dem VW. Schümann stand die ganze Zeit stumm wie ein Fisch dabei. Kurz vor vier kam dann endlich ein wacher Kopf auf die Idee, uns etwas zu essen zu bringen. Ich aß mit großem Appetit. Ein Polizist kam in den Raum und fragte: »Hat es Ihnen geschmeckt?« »Ja, danke, aber jetzt brauche ich unbedingt einen Kaffee!«
Der Uniformierte nickte. Ich wies auf das Telefon: »Kann man von hier nach außerhalb telefonieren?« »Ja, Sie müssen eine Null vorweg wählen.« Ich griff mir den Apparat und rief Norbert Kunze in Lübeck an. »So, hier kommt deine Exklusivgeschichte, exklusiver geht’s nimmer!« »Das ist ja wunderbar!« jubelte er. »Bis jetzt ist nämlich nur eine klitzekleine Pressenotiz draußen… wo hab’ ich sie nur?« Er raschelte demonstrativ mit Papier. »Sie ist bestimmt so klein, daß sie vom Tisch gerutscht ist.« Er lachte: »Los, Junge, fang an!« Haarklein berichtete ich ihm alles. Er unterbrach mich nur durch gelegentliches Schniefen. Als ich geendet hatte, pfiff er laut: »Erstklassig, dafür bekommst du einen Kuß!« »Jetzt liegt aber wohl Kakao und Kuchen drin!« »Für dich?« Er war verdutzt. »Nein, für die kleine Angelika Merten. Wenn schon kein zweiter Preis, dann wenigstens das. Sie hat es verdient!« »In Ordnung, in Ordnung! Ich mache alles, was du willst.« »Na gut, Norbert. Dann schreib mal schön deine Geschichte, und wenn dein Verleger dich dafür im Nacken krault, dann denk an mich!« Ich legte auf. Der Beamte brachte meinen Kaffee und verschwand dann wieder. Ich schenkte mir ein und trank genüßlich. Thomas Merck hatte meinen Anruf schon erwartet. Er war etwas bedrückt, daß wir bei unserem Gespräch in Hamburg die naheliegende Lösung nicht erkannt hatten. »Erzähl es nur niemandem«, sagte er, als wir uns verabschiedeten. Ich blickte auf meine Armbanduhr, es war kurz nach vier. Gaby hatte schon Dienstschluß, sofern an diesem Nachmittag überhaupt noch etwas gearbeitet worden war. Also unterließ
ich es, sie anzurufen. Ich stand auf, öffnete das Fenster, um den Rauch, der schwer im Raum hing, abziehen zu lassen. Dann fing ich an, das Zimmer zu durchschreiten. Kaum hatte ich damit begonnen, da öffnete sich die Tür und Drossart stand im Raum. »Herr Herder«, er kam auf mich zu, »wir sind eigentlich soweit klar, jedenfalls, was Sie betrifft. Merten bleibt natürlich erst einmal hier, das heißt, er wird…« Ich nickte. »Hat er viel zu erwarten?« Er sah mich an: »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten, so was war wohl noch nicht da. Jedenfalls, übergesetzlicher Notstand war es nicht!« »Na, wir werden ja sehen.« Ich trank den letzten Schluck aus der Kaffeetasse. »Kann ich jetzt gehen?« »Haben Sie keine Lust, mit auf die für achtzehn Uhr anberaumte Pressekonferenz zu kommen?« »O nein, vielen Dank. Aber dazu habe ich wirklich keine Lust. Wissen Sie…« »Ja, ich kann Sie schon verstehen! Wo sind Sie zu erreichen?« »Heiligenhafen, Steinwarder, Apartment C – 6 – 6.« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und notierte sich die Adresse. Als ich rausging und er mir an der Tür den Vortritt ließ, sagte er: »Wir fahren Sie zurück, der Wagen wartet unten. Und noch eins: Sollten Sie irgendwann noch einmal in eine ähnliche Situation kommen, dann benachrichtigen Sie rechtzeitig die Polizei. Das ist einfacher für Sie und für uns!« Ich drückte mich an ihm vorbei, dachte an Merck und sagte nichts. Als ich vor die Tür trat und die frische Luft einsog, mußte ich lächeln. Der Polizist, der gegen den Wagen gelehnt auf mich wartete, musterte mich: »Zufrieden, he?«
Ich setzte mich in das Auto und murmelte: »Zufrieden.«
33
Der Polizeiwagen setzte mich am Yachthafen ab. Ich eilte die Brückstraße in Richtung Marktplatz hoch. Überall standen Grüppchen von Menschen und diskutierten. Der Marktplatz war wieder Marktplatz. Als ich meinen Wagen bestieg, klemmte hinter dem Scheibenwischer ein Strafzettel. Der Wagen war ordnungsgemäß abgestellt, nur die Parkuhr erlaubte kein Parken mehr. Ich nickte befriedigt. Wenigstens funktionierte die Polizei wieder. Das war immerhin auch schon was. Irgend jemand erkannte mich und rief etwas, was ich nicht verstand. Schnell legte ich den Gang ein und rauschte ab. Endlich stand ich vor Gabys Haus. Als ich die Wohnung aufschloß, hörte ich das Rauschen der Dusche. Ich klopfte an die Tür und rief mit lauter Stimme: »Hören Sie mal, Fräulein, nun duschen Sie mal nicht so ausgiebig, bei mir kommt alles durch die Decke!« Der Wasserstrahl wurde abgestellt. »Hallo, ist da jemand?« Ich wiederholte meine Beschwerde. »Das tut mir wirklich leid, das habe ich…« Die Tür wurde aufgerissen, und eine züchtig mit einem Handtuch bedeckte Gaby stand vor mir. Sie riß die Augen auf. »Ich wunderte mich doch gleich, wieso…« »Hallo, Nachbarin!« »Hallo. Held des Tages!« Sie ließ das Handtuch fallen und watschelte zurück unter die Brause. Ich zog mich aus und stellte mich dazu. Später saßen wir im Wohnzimmer und aßen zu Abend.
»Wie lange mußt du eigentlich noch die Bewohner von Heiligenhafen in deiner Kartei verwalten?« »Noch eine Woche, die nächste nämlich«, sagte sie kauend. »Und dann?« »Dann mach’ ich Urlaub!« »Nein, meine Liebe, wir machen Urlaub.« Sie blickte mich an. »Gut!« »Wie wär’s zur Abwechslung mal mit den Bergen?« fragte ich, als wir den Tisch abräumten. »Ich weiß was Besseres. Kannst du segeln?« »Ja, ein bißchen, aber ich habe noch keinen Schein.« »Aber ich! Wir chartern uns ein Boot, und dann gondeln wir die Küste auf und ab, auch mal nach Dänemark rüber. Na, was hältst du davon?« »Ich bin begeistert!« »Siehst du, und damit wir einen kleinen Vorgeschmack kriegen, gehen wir noch ein bißchen spazieren und schauen nach, ob das Wasser nicht doch Balken hat.« Von der Telefonzelle an der Ecke aus telefonierte ich noch schnell mit Bechthold und berichtete ihm, was sich ereignet hatte. Doch er wußte es schon durch die Tagesschau. Nur meinen Anteil kannte er noch nicht. Er stellte mir das Apartment auch weiterhin zur Verfügung und verabschiedete sich dann mit Grüßen an das unbekannte Mädchen. Er weiß immer, was Trumpf ist. Dann machten wir uns auf den Weg. Ich zeigte ihr auf der Strandpromenade die Stelle, wo ich Merten beobachtet hatte. Genau gegenüber dem Apartmenthaus, am Strand, grub ein Mann ein Loch neben dem Strandkorb, in dem tagsüber der Vermieter der Tretboote saß und seine Geschäfte mit den Feriengästen machte.
Der Mann stand im Abenddunkel und hob sich gegen das Meer ab. Er grub wie ein Wilder und schnaufte. Ich blieb stehen und schaute ihm interessiert zu. Gaby kniff mich in den Arm. »Komm bloß weiter, sonst gräbt er noch ’ne Leiche aus!« Ich fing schallend an zu lachen. Der Arme fuhr erschrocken hoch und starrte uns unsicher nach, als Gaby mich wegzog.
BIS ZUM BITTEREN ENDE
TEIL I
Ich bin nicht ich; du bist nicht er, nicht sie; sie sind nicht sie. Evelyn Waugh Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt. Mark Twain
1 Und dann war plötzlich der Gedanke in seinem Kopf. Ich fahre jetzt nicht mehr weiter meine Tour, sondern ich fahre nach Hause, zu Ingrid. Es ist höchste Zeit, daß wir uns aussprechen. So jedenfalls hat es keinen Sinn mehr. Liebe ich sie eigentlich noch, liebt sie mich eigentlich noch? Seltsam, daß ich so etwas denke, ich war mir doch immer so sicher, daß es bei uns nie so werden würde, und jetzt ist es… Wie ist es nur soweit gekommen? Nein, nicht auf einmal, sondern schleichend, langsam. Machte es sich zuerst bemerkbar, als man bei einem Streit in Kauf nahm, dem anderen richtig weh zu tun, ihn zu treffen? Als man nicht mehr so schnell zu einer Versöhnung bereit war und schon länger warten mußte, bis sich ein wenig Zärtlichkeit für den anderen wieder einstellte. War es so bei mir? Oder versuche ich es mir jetzt nur einzureden? War es so auch bei Ingrid? Oder nur bei mir?
Reinhardt Zerber nahm die rechte Hand vom Steuer und wischte sich über die Stirn, kleine Schweißtröpfchen perlten auf ihr. Die Sonne knallte heiß durch die Windschutzscheibe. Hochsommer. Erst jetzt hörte er das Hupen hinter sich. Er fuhr auf der Überholspur und hatte bei seinen Gedanken langsam und unbewußt das Tempo zurückgenommen. Er betätigte den Blinker und scherte nach rechts. Als der andere an ihm vorbeizischte, sah er nur, wie der den Kopf schüttelte. Ingrid. Die ewigen Streitereien. Die kurzlebigen Versöhnungen. Dieses irrsinnige Festhalten, dieses schon verbissene, erneute Einstellen aufeinander. Lag das Kind nicht schon längst unrettbar im Brunnen? Zu sagen jedenfalls haben wir uns nicht mehr viel, dachte Reinhardt Zerber. Wir sind füreinander Dinge, die man durch irgendeine Verpflichtung mit sich herumzuschleppen hat. O mein Gott, was sind das nur für Gedanken? Und mit Erschrecken stellte er fest, daß er eigentlich ganz kühl war und keinerlei Schmerz spürte. Raststätte. Noch 500 Meter. Wieder betätigte er den Blinker. Er brachte seinen Wagen vor dem flachen Gebäude zum Stehen und stieg aus. Es war heiß. Menschen eilten hin und her, zur Toilette oder zum Kiosk, um Erfrischungen zu holen. Eis, kalte Getränke oder vielleicht irgendwelchen Naschkram. Ein junges Mädchen stieß ihn an. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie sah ihn an. »Macht nichts. Ist ja nichts passiert.« Sie setzte sich wieder in Bewegung und balancierte gut fünf auf Pappen gelegte Würstchen vor sich her. Dabei fuhr sie mit ihrer Zunge über ihre Oberlippe. Wieselflink. Reinhardt Zerber stieg ein leichter Geruch von Wurst, Senf, Parfüm und Schweiß in die Nase.
Auf der Toilette stank es widerlich, die Duftsteine in der Rinne hatten sich bis auf wenige Bröckchen aufgebröselt. Der an die Kacheln geklebte Autobahnfink blickte aus ratlosen Augen auf den Schmutz herunter. Aufgeweichtes Toilettenpapier lag am Boden, achtlos weggeworfene Papierschachteln vom Seifenautomat schwirrten durch den Raum. An die Decke über der Pinkelrinne hatte ein Spaßvogel in dicken schwarzen Lettern geschrieben: Du pinkelst dir gerade auf die Schuhe. Reinhardt Zerber mußte lachen. Jeder der hereinkam und sich an die Rinne stellte, schaute ganz unbeteiligt auf die Wand vor sich, nur nicht zum Nachbarn sehen, dann glitt sein Blick und schon hatten ihn die Lettern. Reinhardt Zerber spülte sich die Hände ab, wenigstens das kalte Wasser war erfrischend, und er befeuchtete seine Schläfen. Dann ging er in die Cafeteria, schnappte sich ein Tablett und ließ sich ein Kännchen Kaffee geben. An der Kasse zahlte er artig. Im hinteren Teil des Restaurants erwischte er noch einen freien Tisch und setzte sich. Er goß sich Kaffee ein, verrührte Milch und Zucker, dann zündete er sich eine Zigarette an. Draußen flirrte die Hitze. Bei solcher Hitze haben wir uns kennengelernt, Ingrid und ich. Wir sind dann miteinander gegangen, ja, so nannten wir das. Miteinander gehen. Warte mal, das war vor achtzehn Jahren. Genau, ich kenne Ingrid jetzt achtzehn Jahre. Das ist ja mein halbes Leben. Mein halbes Leben. Reinhardt Zerber schüttelte ungläubig den Kopf. Mein halbes Leben. Ein Mensch. Zwei Menschen. Der Kaffee schmeckte nur warm. Er sah auf. Auch hier Getriebe. Undefinierbare Essengerüche. Monotone Geräusche. Stimmengewirr. Hier und da mal ein lautes Wort. Ein Befehl an Kinder. Oder ein Ruf an Mitreisende, daß man einen freien Tisch gefunden hat.
Und von draußen das ununterbrochene Rauschen des Verkehrs. Reinhardt Zerber verzichtete darauf, auch noch die zweite Tasse Kaffee zu trinken, er fühlte, wie ein wenig Schweiß seinen Rücken herunterlief. Der Wagen hatte die Hitze gestaut, und er wartete etwas, um nicht sofort einsteigen zu müssen. Dann stieg er ein. Zu Ingrid also, dachte er, und startete den Motor.
2 Ingrid Zerber betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Ihre Hand fuhr über ihren flachen Bauch und stoppte am Gummi ihres knappen Slips. Sie hatte kleine, feste Brüste, rosa Knospen und kleiner Hof. Mädchenhaft. Traumhaft. Sie hauchte sich zufrieden ein Küßchen zu, verließ das Badezimmer und lief ins Schlafzimmer. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte ihr an, daß sie noch gut fünf Minuten Zeit hatte. Sie öffnete ihre Parfümflasche und rieb erst etwas hinter die Ohren, an den Nacken und dann an den Brustansatz. Sie zog ein frisches T-Shirt über den Kopf, keinen BH darunter, und schlüpfte in ihre Jeans. Die Frisur war schnell gerichtet. Hoffentlich brachte Burkhardt etwas Zeit mit, sie mußte jetzt endlich mit ihm sprechen. So ging es nicht mehr weiter. Sie haßte diesen Zustand. Ihr Mann hing ihr zum Hals heraus, sie hatte keine Lust mehr, mit ihm zu leben. Und Burkhardt mußte dafür Verständnis haben und hatte es doch auch, schon manchmal hatten sie ein bißchen darüber gesprochen. Schließlich liebten sie sich doch. Und außerdem war Reinhardt sein Bruder. Pech für sie, sie hatte den falschen geheiratet. Aber was Pech ist, muß ja nicht immer Pech
bleiben. Sie lächelte. Zwei Brüder und so unterschiedlich. Mußte man vor Burkhardt Angst haben? Vielleicht. Nein, sie schüttelte den Kopf. Sicherlich, er war viel härter und wohl auch rücksichtsloser, er fragte nicht viel und hatte immer einen fordernden Unterton in seiner Stimme. So als müsse sich alle Welt ihm fügen, ihm gehorchen. Und dagegen Reinhardt. Zaudernd und zögernd, zwei Schritte zurück und dann erst einen Schritt zögerlich vor. Schon diese leise Stimme konnte sie rasend machen. Dieses Betuliche an seiner Art, es machte sie verrückt. Nein, er forderte nicht. Er hatte keinerlei Ansprüche. Nur wenn sie sich gestritten hatten, dann konnte er verstockt bleiben. Dann schaffte er es manchmal, nicht der nachgebende Teil zu sein. Nach einiger Zeit fiel es ihr leicht nachzugeben, sie hatte dann ihre Wut an ihm ausgelassen und damit war es dann auch vorbei. Selbst im Nachgeben bin ich noch stärker als er, dachte sie. Nein, wir passen nicht zusammen. Aber Burkhardt und ich. Pech gehabt mit dem einen Bruder, dafür Glück mit dem anderen Bruder. Sie lächelte, als es an der Tür klingelte. Sie sagten nichts, als sie sich an der Tür gegenüberstanden. Schnell trat er in die Wohnung und ebenso schnell schloß sie die Tür. Dann küßten sie sich, Burkhardt Zerber packte seine Schwägerin am Nacken und riß sie zu sich hin, und ihre Hände fuhren unter sein Jackett. Beide stöhnten leise. Dann ließen sie voneinander ab. Er sah sie an: »Na, schon gewartet?« »Ja, und du?« Er lachte leise auf. »Na klar.« Dann zog er sein Jackett aus und hängte es an einen der dafür vorgesehenen Haken. Sie stand dicht neben ihm.
Er griff ihr an die Brüste. Sie girrte und näherte sich seinem Mund. Ihre Zunge schnellte vor und fuhr leicht über seine Lippen. Dann entwand sie sich ihm. »Komm, laß uns erst etwas trinken.« Wieder schnellte seine Hand vor, aber sie war schon außer Reichweite und betrat das Wohnzimmer. »Campari Orange?« Sie sah ihn an. »Ja, ausgezeichnet. Diese Hitze.« Er ließ sich in einen Sessel fallen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Leise klirrte Eis in die Gläser. »Übrigens, ich habe mich entschieden. Ich werde Reinhardt verlassen.« Sie drehte sich um und sah ihn an, die beiden Gläser in ihren Händen zitterten nicht. »Du willst, was…?« Halb kam Burkhardt Zerber aus dem Sessel heraus. Er starrte seine Schwägerin und Geliebte an. »Ich will und werde deinen Bruder und meinen Mann, Herrn Reinhardt Zerber, verlassen.« »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil er mich langweilt und weil ich mit dir leben will. Verstehst du? Ich will mit dir leben, weil ich dich liebe. Deinen Bruder liebe ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn überhaupt jemals geliebt habe. Verstanden?« »Du bist verrückt.« Burkhardt Zerber ließ sich zurück in den Sessel fallen. »Nein, bin ich nicht.« Ingrid Zerber stellte die beiden Gläser auf den Tisch. Die Kühle des Eises hatte das Glas beschlagen. »Nein, ich bin nicht verrückt. Ich will nur etwas.« »Und was willst du, wenn ich fragen darf?« »Dich.« »Du bist also doch verrückt.« »Ich liebe dich.«
»Wie schön und wie einfach. Du willst mich, natürlich, warum auch nicht.?« Burkhardt Zerber mischte in seine Stimme Hohn, und als er sah, daß Ingrid zusammenzuckte, setzte er nach: »Wunderbar, Ingrid, vielen Dank für deine Liebe. Welch ein herrliches und unkompliziertes Geschenk. Ach, Ingrid, komm laß uns doch…« »Liebst du mich nicht?« Burkhardt Zerber sah sie an. »Ich hab’ dich gern.« »Ach so, du hast mich nur gern…« »Nur gern, nur gern«, äffte er sie nach. »Ist das nichts? Das ist doch dasselbe.« Er versuchte ihr seine Hand auf den Schenkel zu legen. Sie wischte die Hand weg: »Das ist nicht dasselbe, und deshalb sagst du es auch so. Nein, das ist nichts. Im Bett hast du mir etwas anderes zugestöhnt. Von deiner frigiden Bettina hast du mir erzählt und davon, daß du mich, ja, nur mich liebst, daß du mich willst. Jeden Tag, den Reinhardt nicht da war, bist du gekommen, und wie hinderlich waren dir Jackett und Hose. Kaum in der Tür warst du…« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, ihre Schultern zuckten. »Ingrid, nun hör…« Seine Hand faßte ihre Schulter. »Laß mich in Ruhe.« Sie stand auf und hatte sich schon wieder in der Gewalt. Sie trank den letzten Rest aus ihrem Glas und ging an die Bar, um sich ein zweites Getränk zu mixen. »Können wir nicht alles in Ruhe besprechen, so jedenfalls geht das nicht.« Burkhardt Zerber war aus dem Sessel hochgekommen und näherte sich der Bar. Ihre Stimme war fest, als sie sagte: »Natürlich können wir alles in Ruhe besprechen. Aber das ändert nichts an meinem Entschluß.«
»Reinhardt zu verlassen?« fragte er. »Und mit dir zu leben«, fügte sie hinzu. Er spürte, daß er hilflos und wütend zugleich wurde. Ja, davor hatte er sich gefürchtet, eigentlich hatte er immer gewußt, daß es einmal zu einer solchen Situation kommen würde. Zerber sah zu seiner Schwägerin hin, die sich an der Bar einen zweiten Drink mixte. Sie war schön, verführerisch. Ihr Arm war leicht abgewinkelt, und so konnte er den Brustansatz erahnen. Und er hatte Lust auf sie. »Warum, Ingrid, muß das denn alles so kompliziert werden…?« »Warum?« antwortete sie leise. »Es ist doch gar nicht kompliziert. Du verläßt Bettina und ich Reinhardt. Ganz einfach.« Sie nickte sich selbst Bestätigung zu, lachte leise auf und drehte sich dann langsam um. Mit leicht wiegendem Unterkörper ging sie auf ihn zu und setzte sich auf die Lehne des Sessels, stellte das Glas ab. Ihre Hand glitt zu seinem Nacken und streichelte seinen Haaransatz. Ihr leicht geöffneter Mund näherte sich seinem Ohr, und sie hauchte ihm einen zarten Kuß in die Muschel. Burkhardt Zerber saß ganz ruhig und genoß ihre Zärtlichkeit. »Es ist doch gar nicht kompliziert, Liebster, wirklich nicht. Es sei denn, du machst es kompliziert. Sicher, etwas Krach wird es geben. Aber schließlich sind wir zwei zusammen, und das wiegt doch alles andere auf?« Sie ließ die Frage offen und zog mit dem Zeigefinger eine Linie auf seinem Schenkel vom Knie zum Unterleib. Sehr behutsam. Burkhardt Zerber sog Luft ein und schob seinen Unterleib etwas im Sessel vor. Ingrid Zerber rollte sich von der Lehne und lag mit einem Mal auf Burkhardt Zerber. Sie kuschelte ihren Kopf in den Raum zwischen Hals und Schulter
und preßte ihren Unterleib gegen den seinen. Sie spürte die Bewegung in seiner Hose. Seine Hand legte sich schwer auf ihren Hintern und begann ihn zu streicheln. »Ja, ja, fester«, sagte sie, und ihre Hand bewegte sich gleichmäßig zu seiner Hüfte hinunter. Sie hob ihren Kopf, sah für den Bruchteil einer Sekunde Zerber in die Augen, dann küßte sie ihn. Seine Hand schlüpfte unter ihr T-Shirt, sie stöhnte. Ingrid Zerber ließ sich aus dem Sessel rutschen und zog ihn mit sich. Er lag jetzt auf ihr und preßte sich an sie. »Zieh mich aus.« Sie rollte sich zur Seite und führte die Hand ihres Geliebten zu ihrer Hose. »Du bist gut, du bist so unheimlich gut. Ich liebe dich.« Burkhardt Zerber öffnete die Jeans seiner Schwägerin und fuhr mit der Hand in ihre Hose. »Weiter. Mach weiter.« Sie leckte sich mit ihrer Zunge über die Lippen und atmete schwer aus. Ihre Brust hob und senkte sich schneller unter seinen Liebkosungen. Sie drückte ihren Unterleib auffordernd nach oben, um so den Druck seiner Hand zu verstärken. Dann rollte sie sich zur Seite und war jetzt über ihm. Sie hockte auf ihm, und wie um Hilflosigkeit zu signalisieren, ließ er seine Hände auf dem Teppich liegen, blickte sie an und schloß die Augen. »Ich ergebe mich«, sagte er leise, »aber du darfst nicht aufhören.« »Ich höre nie auf. Was ich beginne, das führe ich auch zu Ende«, antwortete sie, »immer führe ich es zu Ende.« Sie öffnete die Schnalle seines Gürtels und zog ihm die Hose aus. Sein Unterkörper verfiel in leicht kreisende Bewegungen. Er konnte nicht ruhig bleiben. Ingrid Zerber schleuderte die Hose in den Raum und zog sich selbst das T-Shirt aus. Ihre Brüste
sprangen hervor. Seine Hände zuckten hoch, aber sie wehrte sie ab. »Hände weg. Jetzt bin ich dran.« Er legte die Hände wieder auf den Teppich zurück. Behutsam öffnete sie die Knöpfe seines Oberhemdes und zog es halb über seine Oberarme. Seine Bewegungsfreiheit wurde dadurch eingeschränkt. Kräftig fuhr sie mit ihren Händen über seine Brust, die sich vor Erregung hob und senkte. Langsam glitt sie auf ihn zu, jetzt berührten ihre Brustwarzen leicht seinen Oberkörper. Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen, aber als er leicht die Lippen öffnete, um ihre Zunge einzulassen, da hatte sie sich schon wieder aufgerichtet. Sie kniete sich über ihn und begann ihm den Slip herunterzuziehen. Für einen kurzen Augenblick sah sie auf die Stelle, die eben noch verdeckt gewesen war, dann senkte sie ihren Kopf darüber.
3 Richtig kühl wurde es im Wagen nicht. Die Hitze und die Schwüle waren zu beherrschend. Reinhardt Zerber hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, als seien seine Poren verklebt. Er fühlte sich schmutzig und total verschwitzt, und für einen Moment überlegte er, ob er nicht am nächstbesten Gewässer anhalten und sich in die hoffentlich erfrischenden Fluten werfen sollte. Das lange Band der Autobahn zog sich ermüdend und ohne Ende in die Landschaft hinein, die gleißende Sonne spiegelte einem auf dem Teer Wasserlachen vor. Die Musik aus dem Radio war monoton, und das launige Gerede des Moderators hatte mit der Zeit an Reiz verloren. Im Mund hatte er, vom reichlichen Zigarettenkonsum, einen schalen Geschmack. Vom
Nebensitz griff er sich das Päckchen Kaugummi, das er an der Autobahnraststätte gekauft hatte. Aber viel Linderung brachte es auch nicht. Er schaltete das Autoradio aus. Reinhardt Zerber spürte, daß er müde wurde. Es war noch nicht einmal eine halbe Stunde her, daß er den Kaffee getrunken hatte. Mit der Hand fuhr er sich übers Gesicht, so als könne er damit die Müdigkeit fortwischen. Dann waren seine Gedanken wieder bei seiner Frau. Fühlte er wirklich keinen Schmerz, wenn er daran dachte, daß ihre Beziehung vielleicht zu Ende war? Er überlegte, und es wurde ihm bewußt, wie schwer es ihm fiel, seine unterschiedlichen, widersprüchlichen Gefühle zu ordnen. Natürlich hatte er Ingrid geliebt, und er liebte sie doch auch heute noch. Oder nicht? Doch, er liebte sie noch, aber ganz anders. Er haßte und er liebte sie zugleich. Daß seine Frau ihm etwas bedeutete, war nicht von der Hand zu weisen. Aber seine Selbstachtung litt jetzt unter dieser Liebe. Denn er hatte das Gefühl, daß sie seine Person nicht achtete. Sie griff beständig an, um ihn zu verletzen. Ja, das war es. Sie verletzte ihn und trat sein Selbstwertgefühl, sie signalisierte ihm, daß er so, wie er ist, nichts für sie ist. Beständig machte sie ihm schmerzhaft bewußt, daß sie ihn anders haben wollte, daß er sich gemäß ihrer Vorstellungen von ihm zu ändern habe. Sie wollte sich einen Mann nach einem Bild in ihrem Kopf erschaffen, und er war nur das notwendige Rohmaterial zu ihrer Arbeit, der Rohstoff, der nun einmal leider unerläßlich war. Seine Gedanken gefielen ihm, denn hier lag irgendwo die Wahrheit für ihn. Hier war das Dilemma ihrer Beziehung zu suchen. Er wollte nicht verändert werden, nicht etwa weil er sich für vollkommen hielt. Nein, das war es bestimmt nicht. Er wollte nur unangetastet bleiben, endlich unangetastet bleiben. Er wollte nicht immer irgendwelche Erwartungen erfüllen müssen, die irgendwelche Menschen an ihn stellten. Für ihn
war sein Leben eine Abfolge von Erwartungen, die es zu erfüllen galt. Sein Leben stand unter dem Druck von Zielen, die andere ihm vorgegeben hatten und vorgaben. Seine Eltern, seine Geschwister – er hatte eine ältere Schwester und einen älteren Bruder – seine Lehrer, seine Lehrherren und nicht zuletzt Ingrid. So war es für ihn und nicht anders. So erfuhr er es täglich und so hatte er es in der Vergangenheit erfahren. Und Ingrid, seine Frau, der Mensch, der ihn lieben sollte, reihte sich nahtlos in die Gruppe der ewigen Forderer ein. Und so kam auch seine Enttäuschung zustande, seine Enttäuschung darüber, daß seine Frau auch zu dieser Gruppe gehörte und nicht zu ihm hielt. Ihn nicht verstand, ihn nicht nahm, wie er war. Aber Reinhardt Zerber war nicht selbstbewußt genug, um diese Forderungen, die beständig an ihn gestellt wurden, zu ignorieren, abzustreifen wie etwas, was ihn nicht wirklich treffen konnte. Nein, diese Forderungen waren es, die ihn in einen Zustand permanenter Unsicherheit versetzten, die starke Selbstzweifel in ihm hervorriefen. Warum konnte er denn das nicht erfüllen, was die anderen von ihm verlangten? Ja, warum forderten die anderen überhaupt etwas von ihm? Lag es nicht vielleicht doch daran, daß er einfach nicht genug war? Daß er nicht ausreichte, so wie ein Stück Band, das zu kurz war, um ein Paket bestimmter Größe damit zu schnüren? An das Band knotete man ein anderes an, damit es ausreichte. Und Reinhardt Zerber mußte eben verändert werden, damit er endlich ausreichend war. War da nicht doch etwas daran? Gaben sich die Menschen nicht Mühe mit ihm? Sie hätten ihn doch auch links liegen lassen können. Ja, das hätten sie doch tun können. Die Eltern, die Geschwister, die Chefs und nicht zuletzt Ingrid. Burkhardt, sein Bruder kam ihm in den Sinn. Mit ihm war es anders gewesen, an ihm hatte niemand herumgekrittelt.
Burkhardt sprang hart mit seinen Eltern, den ›Alten‹ wie er sie nannte, um. Er war rüde mit seinem Vater, dessen Fehler er unerbittlich und voller Hohn aufdeckte, und er war gefühllos mit seiner Mutter, wenn er ihre Sorge um ihn spürte. Dennoch, irgendwie schienen seine Eltern mit Burkhardt durch irgendein geheimes Band verbunden gewesen zu sein. Ein Band, das es zwischen Reinhardt und seinen Eltern nie gegeben hatte. Reinhardt Zerber zündete sich eine Zigarette an und inhalierte kräftig. Seine Eltern. Sein Bruder. Was war da nur gewesen, was sie trotz der Frontenstellung eigentlich fest zusammenhalten ließ? Vielleicht, nein ganz bestimmt lag es in der harten Persönlichkeit der drei verborgen. Wie war das doch gleich gewesen? Damals als er die Eltern bei einem Gespräch belauscht hatte. Damals, als er nicht schlafen konnte und sich noch einmal aufs Klo schlich. Er war am Wohnzimmer vorbeigekommen, sein Vater und seine Mutter saßen in der Couchecke und sprachen miteinander. Und er hörte seine Mutter sagen: »Der Burkhardt, der geht seinen Weg schon, der setzt sich durch. Aber der Reinhardt, er ist so weich.« »Ja, ja«, hatte der Vater eingeworfen, »da zeichnet sich so gar keine Kontur ab.« Er wußte nicht, was das war, ›Kontur‹, aber eines wußte er, so recht zufrieden waren seine Eltern mit ihm nicht. Und so hatte er sich vorgenommen, sich noch mehr Mühe zu geben. Wenn Burkhardt wieder einmal frech und gemein zu seiner Mutter war, dann wollte er sie nicht nur trösten, sondern er nahm sich vor, dazwischenzugehen und sich zur Not auch mit seinem Bruder auf einen Faustkampf einzulassen. Natürlich würde er unterliegen, sein Bruder war im Kampf nicht zimperlich, nein, er kämpfte sogar brutal, und natürlich würde er, Reinhardt, weinen müssen von den Schlägen seines
Bruders. Aber das bedeutete ihm dann nichts, er wollte seine Mutter verteidigen und endlich, endlich würde sie stolz auf ihn sein. Auf den kleinen Reinhardt, bei dem sich noch keine ›Kontur‹ abzeichnete, der aber seine Mutter gegen den großen, frechen Sohn verteidigte. Reinhardt Zerber drückte seine Zigarette aus, und er spürte, wie sich eine merkwürdige Erregung durch seinen Kopf und seinen Körper schlich. War er sich auf der Spur? Automatisch bediente er das Lenkrad, gab mit dem rechten Fuß mehr oder weniger Gas, gerade wie erforderlich, und seine Augen waren auf die Fahrbahn gerichtet, nichts entging ihnen, aber innerlich war er weit entfernt. Bilder aus der Vergangenheit durchzogen sein Gehirn, ungeordnet zwar, aber ein jedes voller Bedeutung für ihn und die Fragen, die er sich gerade stellte und zu beantworten versuchte. Er sah sich zu Hause im Bett liegen, in dem Zimmer, das er mit seinem Bruder teilte. Er hatte die Hände zum Gebet gefaltet und voller Inbrunst rief er Gott an. Er flehte ihn an, eine Ausnahme zu machen und seine Eltern ewig leben zu lassen. Ja, da lag er, der kleine Reinhardt Zerber und bat Gott um diesen Gefallen. Und als ihm bewußt wurde, daß vielleicht ein solches einfaches Gebet für eine so große Bitte nicht ausreichte, da bot der kleine Reinhardt Zerber Gott sein eigenes kleines Leben als Tauschobjekt an. Über sein Bitten und Flehen, über das Angebot eines Kuhhandels mit Gott, war der mögliche Tod seiner Eltern zu einer tatsächlichen Bedrohung geworden. Und Reinhardt Zerber hatte unbemerkt zu weinen angefangen, zu groß war die Trauer in ihm, und zu gewiß auch die Erkenntnis in ihm, die sie ihm an jenem Tag im Religionsunterricht in den Kopf und in das Herz gepflanzt hatten, daß nämlich jegliches Leben mit dem Tode enden würde.
Seine Eltern. Tot. Was war das da für ein Trost, daß sie bei Gott sein würden? Nein, das war kein Trost. Was sollten sie denn bei Gott? Hier auf der Erde mußten sie doch sein. Bei ihm, bei Reinhardt, der sie so unendlich liebte. Ja, er liebte seine Eltern, so sehr sogar, daß er sein eigenes Leben anbot. Er meinte es ernst, als er Gott diesen Handel vorschlug. So ernst, wie es nur ein Junge von neun Jahren ernst meinen kann. Und dann war auf einmal sein Bruder da und riß ihm die Decke weg. »Warum heulst du denn?« Reinhardt erkannte nur schemenhaft die Umrisse seines Bruders. Es gelang ihm nicht, seine Angst und seine Trauer herunterzuschlucken, als er antwortete: »Ich heul’ doch gar nicht.« »Was ist das denn, du Pattkopp, was du da machst. Lachst dich wohl tot?« Das Licht ging an, und die Eltern standen im Raum. »Könnt ihr denn keine Ruhe geben?« Das war die vorwurfsvolle Stimme der Mutter. »Bei der Heulerei kann ja kein Mensch schlafen«, maulte Burkhardt zurück. »Warum heult er denn?« fragte sein Vater. »Weiß ich doch nicht, ich hab’ ihm nichts getan.« Sein Bruder ging ins Bett zurück. Reinhardt, der die ganze Zeit über die Augen geschlossen gehalten hatte, öffnete sie nun und sah seine Mutter über sich gebeugt. »Was hast du denn?« fragte sie. »Ach, der hat nur schlecht geträumt, komm, laß uns wieder ins Bett gehen. Der ist ja gar nicht richtig wach.« Das war die Stimme seines Vaters, der gleich darauf das Licht löschte. Die Mutter brummelte irgend etwas und verließ den Raum.
»Und jetzt herrscht hier Ruhe«, sagte der Vater, als er die Zimmertür wieder schloß. Reinhardt Zerber blickte auf seine Armbanduhr, noch gut eine Stunde, dann würde er zu Hause sein. Bei Ingrid.
4 Ingrid und Burkhardt lagen nebeneinander auf dem Teppich und sprachen kein Wort. Sie wartete darauf, daß er irgend etwas sagen würde, damit sie das Thema mit der Trennung von ihrem Mann wieder anbringen könnte. Er lag auf dem Teppich und starrte an die Decke. Ihm war unbehaglich zumute, am liebsten wäre er einfach aufgestanden und gegangen. Die Frau, die da neben ihm lag, war ihm gleichgültig. Er spürte es überdeutlich, sie bedeutete ihm nichts. Er hatte sich geholt, was er haben wollte und was er bei seiner Frau nicht bekam. Das war alles. Und warum konnte es dabei nicht bleiben? Warum mußte Ingrid jetzt auf einmal die Liebe ins Spiel bringen? Er war so fest davon überzeugt gewesen, daß es Ingrid auch nur um den Sex ging, als ihr Verhältnis seinerzeit begann. Aber, was heißt es schon, von etwas überzeugt sein? Nein, die Tatsache war, daß er darüber nicht nachgedacht hatte. Wenn er jetzt den Beginn ihres Verhältnisses Revue passieren ließ, dann war es doch so gewesen, daß sie beide sehr zielgerichtet vorgegangen waren. Mit Blicken, mit zuerst unverfänglichen Berührungen, einfach so. In der Rückerinnerung kam es ihm nun so vor, als habe er von Ingrid nur das gefordert, was sie auch von ihm gefordert hatte, und beide hatten es sich genommen, ganz egoistisch, ohne an den anderen dabei zu denken. Und das bißchen Liebesgestammel,
das gehörte doch einfach dazu, heizte die jeweilige Situation nur ein bißchen an. Liebe zu Ingrid? Erwartete sie das tatsächlich? Sie mußte doch wissen, daß er nicht der Typ dafür war. Sie wollte doch genau so wie er etwas vom Leben haben, ein bißchen Vergnügen und unkompliziertes Zusammensein. War das nichts? Hatte sie denn mit seinem Bruder nicht schon genug Probleme am Hals, so wie er mit seiner Frau? Mußte sie jetzt wirklich damit anfangen, neue Probleme zu schaffen? So sinnlos. Wie stellte sie sich das überhaupt vor? Natürlich liebte er seine Frau nicht, hatte er sie überhaupt jemals geliebt? So richtig jedenfalls nicht, er war immer kühl geblieben, hatte einen klaren Kopf behalten. Natürlich hatte er das Für und Wider genau abgewogen, als er sich dazu entschloß, die Tochter seines Chefs und Arbeitgebers zu heiraten. Er hatte sich damals ganz bewußt auf die Rampe gesetzt und sich mit der Rakete ›Heirat‹ nach oben katapultieren lassen. Und es hatte gut geklappt. Am Abend der Heirat hatte ihn sein Schwiegervater zum Geschäftsführer der Firmengruppe ernannt. Und er? Ja, er war nach der Ernennung an der Hochzeitstafel aufgestanden und hatte sich mit gemessenen und bescheidenen Worten für das Vertrauen bedankt und dann im nächsten Moment die Ernennung zurückgewiesen. Für einen Moment herrschte eisige Stille, als er dann aber von seinen Motiven der Ablehnung zu sprechen begann, schlug die Reserviertheit der Gäste in offene Sympathie für ihn um. Die Hochzeitsgäste waren überzeugt von ihm, da stand ein junger Mann vor ihnen, bescheiden und höflich. Und dieser junge Mann ließ sich nichts schenken, auch nicht von seinem reichen Schwiegervater. Dieser junge Mann, der da so überlegt sprach, der würde es noch weit bringen. Vor allen Dingen sein Schwiegervater, er glühte mit einem Mal vor Überzeugung von seinem Schwiegersohn. Geschickt
hatte es Burkhardt Zerber geschafft, daß es nicht wie ein Affront gegen seinen Schwiegervater aussah. Sondern getreu dem Motto ›hier steh’ ich, ich kann nicht anders‹ hatte er sich den Gästen als einer präsentiert, der, einem strengen Gesetz gehorchend nicht anders handeln konnte, obgleich er für die Aufgabe, für die man ihn ausgesucht hatte, bestens geeignet war. Es war alles wie am Schnürchen gelaufen. Genau so hatte Burkhardt es haben wollen. Hunderte Male hatte er sich diesen Schachzug überlegt, immer wieder hatte er ihn gedanklich durchgespielt. Immer und immer wieder. Er hatte doch gewußt, was sich abspielen würde, sobald die Verwandten und Bekannten, die Arbeitskollegen und Freunde von seinen Absichten, Bettina Schröder zu heiraten, hören würden. Gleich ob er sie nun liebte oder nicht, ein Teil würde ihn als Mitgiftjäger sehen. Und weil er einer war, wollte er sie eben glauben machen, daß er keiner war. Und diese Aufgabe hatte er vorzüglich gelöst. Burkhardt Zerber nahm sich eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und ließ langsam den Rauch aus seiner Nase entweichen. Er mußte lächeln, er drehte sich auf die Seite, so konnte er Ingrid besser sehen. Er war wieder obenauf, als er sagte: »Ingrid, nun laß uns das doch bloß nicht komplizieren. Es ist doch alles bestens in Ordnung so. Es macht doch unheimlich viel Spaß.« »Wie meinst du das denn?« fragte sie und starrte ihn an. »Na, genau so, wie ich es sage. Laß uns so weitermachen wie bisher. So und nicht anders ist es doch schon.« »Natürlich, natürlich«, Ingrids Stimme war voller Hohn, »natürlich machen wir einfach so weiter. Es macht ja soviel Spaß. Warum das wohl ändern, was?« »So habe ich das nicht gemeint…«
»Du bist ein Lügner, eben hast du es noch gesagt…« »Schrei doch nicht so. Ich meine doch nur. Wir haben jeder für uns genug Probleme. Warum denn noch mehr? Wir genügen uns doch, wozu denn die anderen alarmieren.« Burkhardt Zerber war ein wenig unwohl bei den Worten ›wir genügen uns doch‹, aber er entschied sich dafür, so weiter zu argumentieren, auch wenn dadurch vielleicht wieder ein falscher Zungenschlag ins Gespräch kam. Er scheute sich noch davor, Ingrid ganz hart entgegenzutreten. Sie waren beide mittlerweile aufgestanden. Er begann sich langsam anzukleiden, immer stärker fühlte er den Wunsch, abhauen zu können. Ingrid trat dicht an ihn heran und versuchte ihm in die Augen zu blicken. Als es ihr nicht gelang, weil er ihrem Blick auswich, sagte sie: »Du bist vielleicht deinem Bruder doch ähnlicher, als ich dachte. Du bist genauso ein Feigling wie er, nur was durch Reinhardts Angst und Schüchternheit gleich offen auf der Hand liegt, das verdeckst du durch superforsches Auftreten, ja durch eine gewisse Brutalität. Burkhardt, ich glaube, du hast ganz furchtbar Angst.« In Burkhardt Zerber schoß eine Welle der Wut hoch, Ingrid hatte bei ihm ins Schwarze getroffen, er fühlte sich ertappt. Und weil das so war, reagierte er viel heftiger, als er eigentlich wollte. »Du spinnst ja, wovor soll ich denn Angst haben. Und weil ich so wie Reinhardt bin, deshalb bist du wohl auch zu mir gekommen. Hast dich wohl in unsere Familie verknallt. Nur Pech für dich, daß mein Vater schon tot ist, sonst hättest du…« »Du Schwein, du jämmerliches Schwein. Ich habe dich wohl verführt, du Unschuldsbübchen, aber ist es nicht eigentlich so, daß du mit deiner Frau Bettina…« »Laß Bettina aus dem Spiel!« »Ach, wie fürsorglich. Hab’ ich ja gar nicht geahnt.«
»Du weißt genau, wie ich es meine. Nun sei doch mal vernünftig.« »Vielen Dank für den Tip. Danke schön. Aber du brauchst nicht weiterzureden, denn ich glaube, ich weiß, was du mit Vernunft meinst, nämlich deine Sichtweise der Angelegenheit. Aber, mein Lieber, damit kommst du bei mir nicht weiter.« Burkhardt Zerber hatte sich mittlerweile vollständig angekleidet und stand etwas unbeholfen vor der noch nackten Ingrid. »Komm, zieh dir was über.« »Warum denn, ist doch heiß genug. So brauchst du nicht vom Thema abzulenken. Vor kurzem konnte ich mich doch nicht schnell genug ausziehen für dich. Jetzt hast du gehabt, was du wolltest, nicht? Das Schäferstündchen ist vorbei, jetzt muß Burkhardt aber zurück in sein Büro und den Chef spielen. Und schließlich könnte ja auch Bettina anrufen und fragen, wo denn ihr Liebling ist…« »Du sollst meine Frau aus dem Spiel lassen«, schrie er und wollte sie bei den Schultern packen, aber sie wich zurück. »Rühr mich nicht an, sage ich dir…« »Und ich warne dich zum letzten Mal, laß Bettina aus dem Spiel.« »Du warnst mich? Du warnst mich? Ist das dein Ernst? Mach dich bloß nicht lächerlich. Du, ich sag’ dir was: Wenn hier einer Warnungen ausspricht, dann bin ich das. Hast du mich verstanden?« »Wie meinst du das denn?« Wieder ging er einen Schritt auf sie zu. »Na komm, nun sag schon, wie meinst du das denn?« »So, wie ich es gesagt habe, so habe ich es gemeint. Ich laß mich doch von dir nicht verführen. Du meinst wohl, weil du bei deiner blöden Bettina nicht zum Schuß kommst, hast du mich fürs Grobe…«
Burkhardt sprang auf sie zu, und Ingrid war zu überrascht, als daß sie hätte ausweichen können. Er packte sie und schleuderte sie auf die Couch, dann baute er sich vor ihr auf: »Ich habe dich gewarnt…« In ihren Augen war Angst, aber dennoch blickte sie ihn starr an und unterbrach ihn: »Du hast mich nicht zu warnen, du – du… Wenn du meinst, du bist so toll, dann führ’ ich dir mal vor, wie toll du wirklich bist. Ein Anruf bei Bettina, was meinst du wohl, was dann passiert? Oder vielleicht lade ich ja auch mal deinen verehrten Herrn Schwiegerpapa zu einem Plauderstündchen ein. Na, was meinst du, was dann passiert?« Für einen Moment war es Burkhardt Zerber, als hätte ihm irgendeiner ganz plaziert und mit voller Wucht in den Magen gehauen. Ein Bild war in seinem Kopf: Ingrid saß mit seinem Schwiegervater in einem Café und erzählte alles. Es war, noch, nur ein Bild, aber was für eine Sprengkraft hatte es. Alles, aber wirklich alles würde in die Luft fliegen. Er sah sich in seinem Chefsessel durch die Luft fliegen, und unten standen sie alle, seine Schwiegereltern, die Kollegen und natürlich Bettina. Und sie würden ihm winken, zum Abschied. Nur – es wäre ein Abschied ohne Wiederkehr. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor allen Dingen auch bei Bettina, was man auch gegen sie sagen konnte, eines konnte man ihr nicht streitig machen: Konsequenz und Härte. Vor allem beim Thema Seitensprung, und dann auch noch mit der Schwägerin. Nein, da würde es keine Diskussion geben. Und seine Schwiegermutter, die ihm, wie er schon seit längerer Zeit vermutete, wohl nicht mehr so recht über den Weg traute. Nein, alles was er war, das war er nur durch die Schröders. Und sie würden es ihm gnadenlos unter den Füßen wegziehen.
Zerber sah auf seine Geliebte, er holte aus und schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht. Der Schlag holte sie von der Couch, und sie rutschte auf den Teppich. Sie lag jetzt vor ihm auf dem Boden. Ingrid hatte die Hand, die auf sie zusauste, erst im allerletzten Moment gesehen, viel zu spät, um noch zu schreien. Ein widerliches, dumpfes Pochen war in ihrem Kopf, und der nur langsam zurückgehende Schmerz machte sie ganz benommen. Sie versuchte sich an der Couch hochzuziehen, aber es mißlang. Ihre Hand zuckte zu der Stelle, wo Burkhardts Schlag sie getroffen hatte. Aber die kleine Berührung der Finger verstärkte das Pochen nur. Ihre Hand schwebte für einen Moment in der Luft, dann ließ sie den Arm sinken, und die Hand fiel kraftlos auf das linke Knie. Sie versuchte den Mund zu öffnen, um etwas zu sagen, aber ihr entrang sich nur ein Röcheln. Burkhardt Zerber schwieg, sie hörte nur sein tiefes Atmen. Wieder versuchte sie Worte zu formen, aber der stechende Schmerz ließ sie einhalten. Sie hob leicht den Kopf, um Burkhardt ansehen zu können. Es gelang ihr. Als sie seine Augen sah, wurde ihr bewußt, daß sie weinte. Irgend etwas war in seinem Blick, das sie für einen Moment überlegen ließ, ob es nicht besser wäre zu schweigen. Aber sie entschied sich dagegen. Sie wollte nicht aufgeben, die Situation war zwar jetzt verfahren, aber das würde sich ändern. Burkhardt mußte nur erkennen, daß sie kämpfen würde, daß sie nicht so leicht aufgeben würde. Und dann waren endlich die Worte da. »Das hilft dir nicht. Ganz im Gegenteil, Burkhardt. Ganz im Gegenteil. Damit bringst du mich nicht zum Schweigen, da müßtest du dann doch noch…« Burkhardt Zerber beugte sich zu ihr hinunter.
»Du meinst, ich müßte weitergehen, um dich zum Schweigen zu bringen? Ja, meinst du das? Dann hör mir mal ganz genau zu, ich sage das nämlich nur einmal. Ich werde weitergehen, wenn du mich erpressen willst. Wie weit ich gehen werde, kannst du dir in aller Ruhe überlegen, denn ich haue jetzt ab. Im übrigen habe ich vor, nicht mehr hierherzukommen, es sei denn…« »Es sei denn?« Ingrid Zerber blickte ihren Schwager an. »Es sei denn, du hältst deinen Mund nicht, dann komme ich noch einmal vorbei.« Burkhardt Zerber stellte sich wieder aufrecht hin, drehte sich um, und dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Sie hörte die Wohnungstür zuschlagen.
TEIL II
Was ich jetzt für mein Erlebnis halte, gehört vielleicht in Wirklichkeit meinem jüngeren Bruder… Schon immer hatte ich eine gewisse Neigung, ihm sein Eigentum wegzunehmen – Bonbons, Spielsachen oder die bunten Steine und Schneckenhäuser, die wir aus dem Garten ins Haus schleppten; denn ich war älter und größer als er – so mußte er sich’s wohl gefallen lassen. Klaus Mann Ich zeige dir, was keines von beidem: nicht Schatten des Morgens, der hinter dir schreitet, noch Schatten des Abends, entgegen sich breitend… Ich zeig’ dir das Grauen in der Handvoll Staub. T. S. Eliot
5 Die Brüder sahen sich nicht. Als Burkhardt seinen Wagen vor dem Hause, in dem sein Bruder und seine Schwägerin lebten, bestieg, war Reinhardt noch drei Straßenzüge von seiner Wohnung entfernt. Reinhardt Zerber schloß die Tür auf und rief in die Wohnung hinein: »Ingrid?« Aber er erhielt keine Antwort, so ging er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Selters und trank. Er schloß den Kühlschrank und ging mit der
Seltersflasche in das Badezimmer, drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf und hielt seinen Kopf unter den einigermaßen kühlen und erfrischenden Wasserstrahl. Reinhardt Zerber rubbelte sich das Gesicht mit dem Frotteetuch trocken und verließ das Badezimmer. Als er das Wohnzimmer betrat und seine Frau zusammengesunken auf der Couch hocken sah, blieb er überrascht stehen. »Du bist ja doch da.« Seine Frau antwortete nicht und hob auch nicht den Kopf. Reinhardt Zerber stellte die Flasche auf einem der Beistelltische ab und ging zur Couch hin. »Ist dir was, Ingrid?« Wieder erhielt er keine Antwort. Er hob die Hand und wollte seiner Frau über das Haar fahren. »Laß mich in Ruhe. Hörst du, laß mich in Ruhe.« »Ich hab’ dir doch nichts getan. Was ist denn überhaupt los. Ich versteh’ nicht…« »Nein, du verstehst nichts. Das ist aber nichts Neues. Das weiß ich schon länger. Und getan hast du mir nichts, mir hat übrigens noch nie jemand etwas zuleide getan.« Das sollte ironisch klingen, aber es klang eher kläglich. Ingrid Zerber spürte es, sie nahm den Kopf hoch und sah ihren Mann. »Nein, du hast mir nie etwas getan, Reinhardt.« Er sah ihre geschwollene linke Gesichtshälfte. »Was ist denn das. Was ist passiert?« »Was soll schon passiert sein…« »Aber dein Gesicht, es ist doch geschwollen…« »Na und?« »Ingrid, bist du gestürzt? Hast du, hast du getrunken?« Ingrid Zerber erhob sich schwerfällig und ließ dabei ein abfälliges Lachen hören.
»Getrunken. Aber eigentlich ein guter Gedanke.« Leicht schwankend stand Ingrid Zerber vor ihrem Mann. »Ein wirklich guter Gedanke.« Sie griff nach ihrem Glas, das auf dem Couchtisch stand und ging zur Bar hinüber. Ihr Mann folgte ihr und wollte sie am Arm festhalten, als sie es spürte, blieb sie stehen und schrie ihn an. »Faß mich nicht an. Faß mich nicht an. Mich faßt keiner ungestraft an, wenn ich nicht will. Auch du nicht.« »Aber Ingrid, was…« »Aber Ingrid«, äffte sie ihn nach, »nichts mehr mit ›aber Ingrid‹, es hat sich ausgeingridt.« Sie knallte ihr Glas auf das Holz vor der Bar, griff sich die Campari-Flasche und schüttete sich ein halbes Glas voll, dann mixte sie Orangensaft hinein. Sie drehte sich halb um und sah ihren Mann an. »Solltest dir auch was zu trinken nehmen, würde dir guttun. Was machst du überhaupt hier?« »Ich wollte mit dir reden.« »Wolltest? Jetzt nicht mehr?« »Doch, aber mich interessiert, was hier los war.« »Geht dich aber nichts an.« »Geht mich nichts an?« »Worüber?« »Was, worüber…?« »Worüber du mit mir sprechen willst, will ich wissen!« »Über uns.« »Ach, wie spannend.« Ingrid Zerber ging zu einem Sessel hinüber und nahm vorsichtig Platz. »Warum bist du nackt?« »Weil es eine Affenhitze ist. Oder hast du das noch nicht bemerkt?«
»Doch schon, nur…« »Warum fragst du denn?« »Also gut, dann frage ich eben nicht.« »Ist auch besser so. Fragst ja auch sonst nicht nach mir.« Reinhardt Zerber fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, er hatte vollkommen die Orientierung verloren. Mühsam versuchte er sein Denken zu strukturieren, aber jedesmal wenn er einen Ansatz gefunden zu haben glaubte und etwas äußerte, dann fuhr ihm Ingrid in die Parade. »Ingrid, du willst mir also nicht sagen, was hier vorgefallen ist?« »Nein, verdammt noch mal, ich will dir nicht sagen, was hier passiert ist, weil hier nämlich nichts passiert ist.« »Ach so…« »Ja, ach so.« »Und nun?« Reinhardt Zerber sah seine Frau an, aufmerksam, so als könne sie vielleicht irgendeine aufschlußreiche Bewegung machen, eine unbewußte Geste zum Beispiel, die ein Anzeichen liefern würde für das, was er nicht erfahren sollte. »Was und nun?« Die Stimme von Ingrid Zerber hatte etwas Aufsässiges an sich, so als käme es ihr darauf an, ihren Mann in Wut zu bringen. Dabei war eigentlich das Gegenteil der Fall. Durch das Auftauchen ihres Mannes war sie vollkommen überrascht. Der für sie nicht vorhersehbare Ausgang des Streites mit Burkhardt hatte sie hilflos gemacht. Sie war sich über ein weiteres Vorgehen vollkommen im unklaren. Das Erscheinen ihres Mannes warf also weitere Probleme auf, wo doch die vorherigen noch nicht einmal gelöst waren. Und so hatte sie sich vorgenommen, ihrem Mann gegenüber hinhaltend zu taktieren. Ganz einfach, um Zeit zu gewinnen.
»Ist ja schon gut, Ingrid. Was sollen wir uns auch unterhalten. Es ist doch alles bestens so. Du sitzt hier nackt im Wohnzimmer mit einer geschwollenen Wange. Und warum? Eben weil es eine Affenhitze ist. Es ist also gut, und ich habe es verstanden. Bitte entschuldige, daß ich gefragt habe. Aber du weißt ja, ich war schon immer etwas langsam…« »Ja, das weiß ich, und so gesehen ist es wirklich nichts Neues. Aber schön ist es, daß du es einsiehst.« »Ich bemühe mich ja auch.« »Zu spät.« »Das ist schon der zweite geheimnisvolle Satz, den du von dir gibst. Aber keine Sorge, ich frage dich jetzt nicht mehr. Du siehst, ich lerne tatsächlich.« »Der zweite geheimnisvolle Satz, den ich sage? Welches war denn der erste?« »Willst du es tatsächlich wissen?« »Ja, sonst würde ich ja nicht fragen. Oder?« »Na, ich frage ja auch nach Dingen und erhalte keine Antwort…« »Sehr lustig.« »Nicht lustig, aber wahr.« »Sagst du es mir denn nun?« »Ja. Vorhin sagtest du, ›es hat sich ausgeingridt‹, und natürlich wäre es für mich schon interessant zu wissen, was damit gemeint ist, aber…« »Aber…?« »… eigentlich kann ich es mir auch denken. Ich glaube nicht, daß du mir mit diesem Satz ein wirkliches Rätsel aufgibst.« Reinhardt Zerber versuchte, Spott in seine Stimme zu legen, aber es gelang ihm nicht sehr überzeugend. Zu nah war er doch am Thema. »Und was denkst du dazu, Reinhardt?«
»Ich denke, es geht um das Thema, um unser Thema, auf das ich dich ansprechen wollte. Deshalb bin ich so unerwartet für dich hier aufgetaucht. Es drängte mich dazu.« Es war diese Formulierung ›es drängte mich‹, die Ingrid Zerber bewies, wie wichtig dieses Thema für ihren Mann war und wie er sich nur mühsam beherrschen konnte. »Um unser Thema, Reinhardt? Was meinst du damit? Was ist denn unser Thema?« »Du fragst ernsthaft? Nein, du fragst nicht ernsthaft. Du willst verletzen, Ingrid. Du zielst beständig auf mich, du willst mich treffen. Selbst jetzt, in diesem Moment, wo ich vor dir stehe, und sage, daß ich mit dir sprechen wollte, da rührst du dich keinen Schritt, sondern schießt weiterhin deine Pfeile ab. Und weil ich hier nicht in diesem Raum als Zielscheibe herumstehen will, gehe ich wohl besser.« »Und wohin willst du gehen?« »Warum fragst du, es interessiert dich ja doch nicht.« »Ich werde doch wohl noch wissen dürfen…« »Wo dein Mann hingeht. Ach, Ingrid, mach dich doch nicht lächerlich.« Reinhardt Zerber überlegte, ob er noch Wäsche brauchte, aber nein, von seiner Reise her hatte er noch alles Notwendige im Wagen. Er würde sich ein paar Bücher nehmen und natürlich den Schlüssel für ihr Wochenendhaus in Oldau, in der Nähe von Celle. Denn er hatte sich dazu entschlossen, dorthin zu fahren, weil er sich dort wohl fühlte. Und weil er beim Durchstreifen des Waldes, in dem das Wochenendhaus lag, bei den Spaziergängen an der Aller zur Ruhe, zum Nachdenken kommen würde. Ruhe brauchte er, und Nachdenken wollte er. Reinhardt Zerber ging zur Bücherwand hinüber, seine Augen entzifferten die Beschriftungen auf den Rücken der Bücher, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die Zeilen schwammen vor seinen Augen, und für einen kurzen Moment
befürchtete er, einfach umzufallen. Er spürte mit einem Mal, wie erschöpft er war. Es war ihm, als rasten die Gedanken durch sein Hirn, aber da war dennoch kein einziger klarer Gedanke, den er hätte fassen können, den er bis zu einem Endpunkt hätte weiterdenken können. Nein, es waren alles nur Gedankenfetzen, die ihn da bestürmten. Vergangenheit mischte sich mit der Gegenwart, Erinnerungen kamen hoch, Szenen entstiegen dem Erinnerungsvermögen, Ingrid und er zu Besuch bei seinen Eltern, damals, als keiner ahnen konnte, daß sie sich zwei Wochen später das Leben nahmen, gemeinsam. Bei der Obduktion stellten die Ärzte fest, daß seine Mutter Krebs hatte. Waren sie deshalb in den Freitod gegangen? Und Vater mit? Aber schon war die Szene ausgeblendet, und abrupt schloß sich eine andere an. Burkhardt und er hatten sich geschlagen. Warum? Das Erinnerungsvermögen gab den Grund nicht frei. Aber Burkhardt hatte ihn auf die Nase getroffen, die Tränen standen ihm in den Augen, und die Nase, schmerzte höllisch. Und er war voller Wut. Dann war da der Spaten. Er hatte ihn schon gefaßt und schlug zu. Zum Glück traf der Spaten seinen Bruder mit der breiten Seite an den Kopf, sonst hätte er vielleicht dem Bruder den Kopf gespalten. Aber, wie Burkhardt zur Seite flog, wie er zwei, drei, vier Schritte zur Seite flog und dann einfach umfiel. Wie war das möglich? Warum war Burkhardt, der starke, große Bruder gefällt worden? Und dann? War da nicht noch irgend etwas mit Vaters Gesicht, das urplötzlich, Burkhardt lag noch am Boden, vor ihm auftauchte. Hatte er nicht Angst vor Vaters Augen gehabt, die immer näher kamen? Und war da nicht auch noch Mutters Stimme gewesen? Zu spät. Die Erinnerung ging so schnell weg, wie sie gekommen war. Reinhardt Zerber lehnte sich gegen die Bücherwand, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Er sah hoch und blickte seine Frau an:
»Das ist unser Thema. Ich wollte dich lieben, immer. Denn ich bin ein Mensch, der ohne Menschen nicht sein kann, obwohl er es möchte.« »Du mich lieben, Reinhardt. Du mich lieben.« Ingrid Zerber schrie zu ihrem Mann hinüber. »Wie du mich schon berührst. Mit einem Finger fährst du über meinen Körper, fühlst mich nicht. Bist nicht nah. Du mich lieben.« »Ich meine es aber anders, Ingrid.« »Ja, natürlich, du meinst es anders. Du meinst immer Dinge, die es nicht gibt. Liebe ist auch Nähe, so und so, aber auch körperliche Liebe. Und so, wie du immer nur geschwiegen hast, so war auch deine Nähe, kühl und abweisend. Du und lieben. Du bist unfähig. Ein Versager noch dazu. Was du als vornehme Zurückhaltung ausgibst, ist nichts anderes als Unfähigkeit. Ich weiß nicht, was du dir selbst vormachst, wie du dich siehst. Wie auch immer, du lügst dir beständig etwas vor. Und ich kann dir auch sagen, warum du dir etwas vormachst, weil dein herausragendstes Merkmal deine Erfolglosigkeit ist. Auf jedem Gebiet.« Ich muß jetzt gehen, dachte Reinhardt Zerber. Er betrachtete seine Hände, gut, daß er die Fingernägel kurz geschnitten hatte, das gab den Händen ein kräftiges Aussehen, denn eigentlich waren sie sehr schmal. »Du sagst ja gar nichts. Du sagst nicht ein Wort.« Seine Frau schrie auch diese Worte, sie schob den Kopf nach vorn, angriffslustig, aber dennoch wirkte es nicht so, denn ihre Brüste vollzogen die Bewegung nach, und so sah es eher so aus, als wolle sie ein aufgespanntes Zielband als erste durchreißen. »Dein Schweigen trifft mich nicht mehr. Es ist wirkungslos.« Ingrid Zerber näherte sich ihrem Mann. »Ich denke.«
»Natürlich, du denkst. Darauf hätte ich nun wirklich von allein kommen müssen. Ein Wort von dir bekommt ja nicht jeder zu hören. O mein Gott, wenn du dich da stehen sehen könntest. So verletzlich und klein, alles, aber auch alles richtet sich gegen dich. Du, du machst alles richtig, und jedes Unglück dieser Welt richtet sich gegen dich. Aber du stehst nur so da, die Wirklichkeit ist eine andere. Auf deiner Suche nach irgend etwas, ignorierst du beständig das, was da ist. In deiner Nähe, in deiner verfluchten Nähe, da fühle ich mich nicht selbst. Wenn du mich umarmst, dann friere ich.« An dem, was ich da sage, dachte Ingrid Zerber, da muß doch etwas richtig sein, sonst würde ich es doch nicht sagen. So vieles ging ihr durch den Kopf, und wie häufig hatte sie manches von dem, was sie jetzt ihrem Mann entgegenschrie, schon gedacht. Sie sah zu ihrem Mann, und es erfaßte sie die Wut darüber, daß sie mit diesem Mann viele Jahre verbracht hatte. Wie hatte sie ihn nur heiraten können? Wie er da jetzt, genau in diesem Moment, stand, an die Bücherwand gelehnt, zerbrechlich und erschöpft wirkend, mit diesem Gesichtsausdruck von totaler Überforderung. Habe ich ihn mir denn damals überhaupt nicht angeschaut, als wir uns kennenlernten? Ihre Wut steigerte sich, und sie spürte ganz stark den Wunsch in sich, auf Reinhardt zuzustürzen, um dann mit Fäusten auf ihn einzuprügeln, damit er sich wenigstens bewegte. Nur ein Stückchen. Reinhardt Zerber fühlte sich mit einem Mal erleichtert. Die Sache war also an ihrem Ende angelangt. So ging also seine Ehe zu Ende. In der letzten Zeit hatte er häufiger darüber nachgedacht, wie wohl der Konflikt zwischen Ingrid und ihm ausgetragen werden würde. Ihm wurde bewußt, wie häufig er doch schon eine Trennung gedanklich durchgespielt hatte. Mit einem Mal war es ihm, als stände er neben sich und betrachtete sich. War da kein Gran Zärtlichkeit mehr? Er schüttelte den
Kopf, die Gedanken störten ihn. Nein, es war gut, daß es so gekommen war. Es war gut, daß Ingrid ihm so überdeutlich gesagt hatte, daß sie ihn nicht liebte. Und das war es doch, was seine Empfindungen zu seiner Frau abgetötet hatte, das Spüren, daß sie ihn verachtete. Er war nicht so, wie seine Frau ihn in ihren Vorwürfen zeichnete. Reinhardt Zerber gab sich einen Ruck, er griff sich wahllos zwei Bücher aus dem Regal. Den Schlüssel für das Wochenendhaus trug er an seinem Schlüsselbund. Dann stieß er sich von der Bücherwand ab, ging durch das Wohnzimmer auf den Wohnungsflur zu. Er bewegt sich ja, dachte Ingrid Zerber. Sie sah ihn auf den Flur zugehen und schrie. »Und was ist jetzt?« »Das war’s denn wohl, Ingrid.« Und in diesem Moment wußte er, daß es ihm Spaß machte, trotz allem, die Worte so kühl auszusprechen. Sie wußte nicht, warum sie auf ihn zusprang, als sie sah, daß er seine Hand nach der Türklinke der Wohnungstür ausstreckte und ihm zuzischte: »So gehst du nicht. So nicht.« Und er wußte nicht, warum es ihm Spaß machte, sie an den Schultern zu packen und wegzuschleudern. Daß sie mit dem Kopf gegen die Heizung schlug und ganz langsam zu Boden rutschte, sah er, nur er kümmerte sich nicht darum. Denn da hatte er bereits die Wohnungstür geöffnet und zog sie hinter sich zu. Er ging die Treppen hinab. Im Hausflur begegnete ihm niemand. Er verließ das Haus und stieg in den Wagen, der jetzt wieder von der Hitze geladen war. Er konnte seine rechte Hand nicht ruhig halten, als er sich eine Zigarette aus der Packung zog. Ingrid, dachte er, ob sie sich sehr weh getan hat? Egal. Sie hatte es nicht anders verdient. Ihm war es egal.
Er machte sich selbst gefühllos, er befahl sich, gefühllos an seine Frau zu denken. War sie denn nun eigentlich betrunken gewesen? Reinhardt Zerber war sich unschlüssig. Zumindest paßte es ins Bild, oder noch besser: Es ergab ein Bild. Ihre Aggressivität gegen ihn, die ja immer vorhanden war, hatte sich durch den Genuß von Alkohol potenziert. Wie auch immer, er wollte mit diesem Kapitel seines Lebens abschließen. Es war ihm, als würde ihm erst jetzt richtig bewußt, wie er die letzte Zeit bei diesen Verhältnissen unter Druck gestanden hatte. Es hatte ihm schon immer Schwierigkeiten bereitet, mit persönlichen Problemen wirklich fertig zu werden. Er brauchte lange dazu. Sehr lange. Er mußte alles ordnen, es mußte alles passen, er mußte sich ein Bild, ein negatives natürlich, zusammenbasteln, damit er mit den unangenehmen Dingen schneller und nachhaltiger fertig werden konnte. Und vor allen Dingen, er mußte sich selbst in dieses Spiel integrieren können, er mußte versuchen, daß er sich für sein Verhalten vor sich selbst rechtfertigen konnte. Und so war er sehr froh darüber, daß seine Frau ihm mit einer so ungeheuren Wucht, mit soviel aufgestautem Haß entgegentrat. Das ließ ihn den Konflikt viel leichter ertragen und durchstehen. Ja, er mußte seiner Frau dankbar sein, daß sie sich durch ihren Angriff selbst so ins Unrecht gesetzt hatte, daß es ihm leicht fiel, so kühl zu reagieren. Reinhardt Zerber drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Er hatte die Schnellstraße, die aus der Stadt hinausführte, erreicht. Er versuchte sich zu entspannen. Wenigstens für eine kurze Zeit wollte er nicht an den Vorfall denken. In Oldau, im Wochenendhaus, würde er sowieso noch mehr als ihm guttat über seine Lage grübeln.
6 Burkhardt Zerber saß in seinem Büro und hatte seine Ellenbogen auf seinen edlen Schreibtisch gestützt, die Hände bargen sein Gesicht. Als er sein Büro erreicht hatte, war alles in Ordnung gewesen. Seine Sekretärin blickte kaum auf, als er die Räume betrat. Weder seine Frau, noch sein Schwiegervater hatten nach ihm gefragt. So hatte er sein Büro betreten, sich hinter den Schreibtisch gesetzt und zu grübeln angefangen. Schon auf der Rückfahrt war ihm unwohl geworden, die ganze Geschichte mit Ingrid hatte sich so anders entwickelt. Was so problemlos gewesen war, hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. Was Vergnügen sein sollte, war zur Bedrohung geworden. Warum nur hatte er ein Verhältnis mit seiner Schwägerin begonnen? War er verrückt gewesen? Ausgerechnet mit seiner Schwägerin. Nein, er war nicht verrückt. Es hatte sich so ergeben, und es war zu Beginn auch gut gewesen. Die Grenzen waren für beide sehr genau abgesteckt gewesen. Sie wußten beide, was möglich war, was sein durfte, und was unmöglich war und nicht sein durfte. Das, was jetzt zur Gefahr geworden war, das schien zuerst um beide ein engmaschiges Sicherheitsnetz zu knüpfen, weil sich beide der Situation, dieser besonderen Konstellation sehr bewußt waren. Und nun? Ja, und nun? Nun galt das alles nicht mehr. Burkhardt Zerber richtete sich auf. Was sollte er jetzt tun? Alles auf sich beruhen lassen? Toter Mann spielen? Er merkte, daß ihn die Unruhe immer mehr erfaßte. Konnte er dieses Risiko eingehen? Schon einmal hatte die Geschichte eine Eigendynamik entwickelt, die er nicht für möglich gehalten, an
die er nicht gedacht hatte. Und wenn das jetzt wieder der Fall war? Was ist, wenn Ingrid jetzt durchdreht und einen Skandal produziert? Eine Frage, die sich nur allzu leicht beantworten lieg. Aus. Schluß. Rien ne va plus. Er wäre ruiniert. Da wäre keine Chance mehr. Nein, nicht eine einzige. Da konnte er ganz sicher sein. Und wenn er nach Hause käme, in das schöne, großzügige Haus, das nicht ihm, sondern seiner Frau gehörte, dann ständen seine Koffer schon auf dem Bürgersteig. Und es hätte auch keinen Sinn, zu klingeln oder gar mit seinem eigenen Schlüssel das Haus zu betreten. Seine Frau und seine Kinder hätten bestimmt das Haus schon verlassen, wären auf dem Weg nach Sylt, in das schöne Haus der Schröders in Kampen, um den verdienten Sommerurlaub etwas früher anzutreten. Vielleicht säße sein Schwiegervater im Haus, um ihn um die Hausschlüssel zu bitten. Nein, das alles konnte er sich schenken, wenn es raus war. Da wäre jedes weitere Wort unsinnig. So gut kannte er die Schröders, da machte er sich keine Illusionen. Selbst wenn Bettina in einem kleinen, versteckten Winkel ihres Herzens zum Verzeihen bereit wäre, selbst dann würde sie sich ohne zu zögern dem Ehrenkodex der Familie diskussionslos unterordnen. Bestand denn überhaupt die Möglichkeit, daß es im Herzen von seiner Frau einen solchen versteckten Winkel gab? Burkhardt Zerber zweifelte eigentlich daran, denn Bettina war genauso aus Schröderholz geschnitzt wie die anderen. Was sollte er also tun? Immer stärker wurde in ihm die Gewißheit, daß es keinen Sinn hatte, alles so laufen zu lassen, in der vagen Hoffnung, es würde sich in Wohlgefallen auflösen. Nein, er durfte die Sache nicht laufen lassen. Er mußte noch einmal vernünftig mit Ingrid reden. Mußte ihr klarmachen, daß es keine Chance für
sie beide gab. So und auch so nicht. Daß es besser war, das Verhältnis zu vergessen, einen Strich, einen endgültigen Strich zu ziehen. Die Angelegenheit mußte vom Tisch. Dabei war es egal, ob sich Ingrid von seinem Bruder trennte oder nicht, das war wirklich gleich und würde niemanden interessieren. Sollte sie doch tun, was sie für notwendig hielt, nur die Verbindung, das Verhältnis zwischen ihnen beiden mußte beendet werden. Und das nicht irgendwann, sondern sofort. Unbedingt sofort. Burkhardt Zerber stand auf und packte Zigaretten und Feuerzeug ein. Er verließ den Raum und betrat sein Vorzimmer. »Ich muß noch einmal kurz weg«, sagte er zu seiner Sekretärin, »in einer knappen Stunde bin ich zurück.« Seine Mitarbeiterin nickte nur.
7 Ein großer Gong schlug im Kopf von Ingrid Zerber an. Immer und immer wieder und mit wuchtigen Schlägen. Sie öffnete die Augen, und selbst das Halbdunkel, das im Flur herrschte, tat ihren Augen weh. Mit ihrer rechten Hand tastete sie ihren Kopf ab, aber schon die leiseste Berührung bereitete ihr Schmerzen. Ganz langsam wich die Benommenheit. Reinhardt war also weg. Gut so. Es mußte ja so kommen. Ihre Beziehung war beendet. Alles weitere würde sich finden. Und Burkhardt? Sie hörte ein Geräusch. »Ingrid, mach auf!« Rief sie jemand? Wieder tastete sie ihren Kopf ab, wieder durchzuckte sie der Schmerz. »Ingrid, mach auf.« Sie öffnete weit ihre Augen. Nein, da stand niemand im Flur, der sie rief. Sie war doch allein in der Wohnung.
»Ingrid, hörst du mich? Mach auf. Ich muß mit dir reden. Bitte.« Die Stimme kannte sie doch? Sie versuchte leicht ihren Kopf zu bewegen. Vielleicht stand jemand im Wohnzimmer und rief sie. Es tat schon nicht mehr so weh, den Kopf zu bewegen. Aber auch da war niemand, der sie rief. »Ingrid, bitte! Ingrid, mach auf!« Die Tür. Natürlich, von da kam der Ruf. Jemand rief sie. Es war jemand an der Tür. Ingrid Zerber krabbelte auf allen vieren zur Tür, öffnete und krabbelte wieder zur Wand zurück. Sie war erschöpft. Langsam öffnete sich die Tür. Aus dem hellen Treppenhaus fiel Sonnenlicht in den dunklen Flur. Ingrid wußte sofort, daß es Burkhardt war, der ihre Wohnung betrat. Schnell wurde die Wohnungstür geschlossen. Er stand jetzt im Flur und sah zum Wohnzimmer hin. »Ingrid?« Sie antwortete nicht. »Ingrid?« Burkhardt Zerber machte ein paar zögernde Schritte. Noch immer rührte sich Ingrid nicht. Jetzt war Burkhardt Zerber schon beinah an ihr vorbei. »Ingrid, wo steckst du?« »Hier.« Sein Kopf flog herum. »Was machst du denn da auf dem Boden.« »Ich lehne hier.« »Warum?« Ingrid Zerber antwortete nicht. »Reinhardt war hier? Ich habe ihn wegfahren sehen.« Burkhardt Zerber hatte die Frage zögernd gestellt, denn ihm saß noch der Schreck in den Gliedern. Als er um die Ecke bog, sah er wie sich sein Bruder, den Wagen erkannte er sofort, in
den Verkehr einfädelte und wegfuhr. Wenn ich nun ein wenig früher gekommen wäre, war es ihm durch den Kopf geschossen, dann wären wir uns begegnet. Der zweite Schreck kam dann sofort hinterher. Was wäre gewesen, wenn sein Bruder Ingrid und ihn in der Wohnung überrascht hätte? »Schade, Burkhardt, daß du nicht etwas früher gekommen bist, dann hätten wir schön zusammen sprechen können. Du, dein Bruder und ich.« »Was soll das heißen?« »Na, nichts. Ich meine, es wäre doch vielleicht ganz lustig geworden.« »Hast du mit Reinhardt über uns gesprochen?« Ingrid Zerber antwortete nicht. Burkhardt Zerber kniete sich vor seine Schwägerin hin und packte sie an den Schultern. »Hast du mit Reinhardt über mich…?« »Au, du tust mir weh. Laß mich in Ruhe!« »Hast du mit…?« »Du sollst mich in Ruhe lassen!« Burkhardt Zerber ließ sie los. »Ingrid, hast du mit meinem Bruder über uns gesprochen?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Du, ich…« Wieder packte er seine Schwägerin bei den Schultern. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz und stöhnte auf. »Burkhardt, du tust mir entsetzlich weh. Ich habe höllische Schmerzen.« »Von meinem Schlag?« »Dein Bruder ist genauso ein Schwein wie…« »Reinhardt hat dich geschlagen? Das glaube ich nicht.« »Glaub doch, was du willst.« »Warum hat er dich geschlagen? Hast du also doch mit ihm…«
»Glaub, was du willst.« »Ingrid, bitte…« »Was, Ingrid bitte?« »Laß vernünftig mit dir reden. Bitte.« Trotz der Schmerzen lachte sie verächtlich auf: »Vernünftig reden! Mit den sauberen Herren Zerber, was? Nein, nein, ich laß mir von dir nichts mehr vorschreiben. Verstehst du das? Ich mach’ jetzt, was ich will…« »Und was ist das?« »Wirst du schon sehen. Warte die Zeit ab.« »Ingrid…« »Ja, bitte?« »Hast du mit meinem Bruder über uns geredet?« »Das geht dich einen verdammten Scheißdreck an.« Ingrid Zerber brüllte es heraus. Burkhardt Zerber riß die Hände hoch, faßte ihren Kopf mit der linken Hand und preßte ihr mit der rechten Hand den Mund zu. »Sei ruhig! Sei ruhig, verdammt noch mal.« Er zischte ihr die Worte ins Ohr. Ingrid schlug mit den Beinen auf den Boden. Er hörte sie wimmern. Er setzte sich auf ihre Beine, damit sie nicht mehr treten konnte. »Bist du ruhig. Bist du jetzt ruhig.« Fast bittend flüsterte er die Worte ins Ohr. Ihre Augen sahen ihn haßerfüllt an, aber sie nickte. Burkhardt Zerber nahm die Hand von ihrem Mund. Pfeifend sog sie Luft ein. Eine Zeitlang hörte man nichts, außer dem mühsamen Luftholen. »Wenn du wieder so schreist, dann halte ich dir den Mund wieder zu.« »Verschwinde, Burkhardt. Aber ganz schnell.« »Nein…« »Verlaß sofort meine Wohnung…«
»Nein, es gibt noch viel zu besprechen. Ich muß erst mit dir reden.« »Verschwinde…« »Nein, ich sag’ dir doch, Ingrid, ich will erst mit dir reden.« »Über was?« »Über uns…« »Nein, danke. Es gibt nichts mehr zu reden.« »Doch, Ingrid, es muß noch eine ganze Menge gesagt werden. Und vorher gehe ich nicht. Verstehst du. Erst sprechen wir miteinander.« Ingrid Zerber versuchte sich aufzurichten, aber ihr Schwager ließ sie nicht hochkommen. »Du bleibst hier. Erst reden wir miteinander.« Sie schwieg. »Was willst du tun, Ingrid? Und hast du mit Reinhardt über uns gesprochen? Das alles sind Fragen, die du mir beantworten mußt. Bevor ich nicht eine Antwort auf diese Fragen habe, gehe ich nicht.« »Nein.« »Was heißt nein?« »Ich lasse mich nicht zwingen.« »Hör zu, Ingrid. Ich warne dich. Reize mich nicht. Du beantwortest mir die Fragen. Sofort. Sonst…« »Sonst…?« »Sonst wirst du dein blaues Wunder erleben, du verrückte Kuh.« »Daß ich nicht lache.« »Hast du meinem Bruder etwas erzählt? Ja oder nein?« »Warte doch die Zeit ab.« »Ingrid! Was willst du tun?« »Warte doch die Zeit ab.« »Ingrid…« »Burkhardt…«
»Du bist ja total verrückt. Du weißt ja gar nicht, was du tust. Was soll das? Was habe ich dir getan, verflucht noch mal. Beantworte mir jetzt meine Fragen.« »Nein!« Sie hatte wieder ihre Stimme erhoben. »Du sollst ruhig sein und nicht so schreien. Es müssen uns ja nicht die Nachbarn hören.« »So. Warum denn nicht? Ich hab’ nichts zu verbergen. Das hier ist meine Wohnung, und ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Und ich habe auch nichts zu verbergen. Du etwa…?« »Ingrid…« »Ach ja, ich vergaß, du hast ja etwas zu verbergen. Natürlich, die heilige Familie Schröder überwacht dich, du bist unter Kontrolle. Was für ein fürchterliches Pech für dich. Aber nicht für mich…« »Ingrid, du…« Obgleich es ihr weh tat, warf sie den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. »Ja, Burkhardt, jetzt bist du in einer blöden Lage. Vielleicht habe ich Reinhardt alles erzählt, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht mache ich einen Skandal, vielleicht auch nicht. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Aber du verschwindest jetzt sofort aus meiner Wohnung. Sofort, verstehst du?« Die letzten drei Worte wurde sie wieder sehr laut. Blitzschnell setzte sich Burkhardt Zerber wieder auf ihre Beine und schlug ihr die linke Hand auf den Mund. Ingrid Zerber stöhnte auf. Sie versuchte ihm in, die Hand zu beißen. Aber immer stärker preßte er den Mund zu, seine Finger verkrallten sich in ihre Wangen. Er sah den Messingleuchter auf der Garderobenkonsole. Schon griff sich seine rechte Hand den Leuchter. Die Kerze rutschte aus der Halterung und fiel zu Boden.
Burkhardt Zerber schlug zu. Dreimal, viermal. Auf den Kopf. Schon bei dem zweiten Schlag fühlte er, wie Ingrids Körper schlaff wurde und zur Seite rutschen wollte. Warmes Blut lief über seine linke Hand. Er zog sie weg. Aus ihrem Mund kam ein Röcheln. Wieder schlug er zu. Machtvoll. Dann war Stille. Er preßte seinen Mund fest zusammen, er hatte Angst, zu laut zu atmen. Burkhardt Zerber stand auf. Seine linke Hand war voll Blut, seine rechte hielt den Kerzenleuchter. Er dachte nichts, als er die schreckliche Wunde, die er geschlagen hatte, an ihrem Kopf sah. Er sah das Blut aus dem Kopf sickern und dachte nichts. So stand er einige Zeit. Dann machte er sich ganz automatisch an die Arbeit. Er arbeitete wie ein Besessener. Er reinigte sich in der Küche, dann den Kerzenleuchter. Mit einem scharfen Scheuermittel putzte er danach das Spülbecken. Im Wohnzimmer fand er noch das Glas, aus dem er getrunken hatte und wusch auch dieses ab. Burkhardt Zerber vernichtete Spuren, wo immer er sie vermutete. Dann verließ er die Wohnung. Die Kerze und den Kerzenhalter nahm er mit.
8 Verhältnismäßig schnell war die Dämmerung hereingebrochen. Der grelle Tag hatte sich verabschiedet, es war, als wäre die beginnende Dunkelheit wie eine Glashaube über das Land gestülpt worden, der Lärm und die Geräusche des Lebens drangen nur noch gedämpft an die Ohren der Menschen. Und zu der Ruhe hatte sich die Trägheit gesellt, die Menschen und die Tiere, so schien es Reinhardt Zerber, bewegten sich in einem eigenartigen, einem fremden, also nicht zu ihnen
gehörenden Rhythmus fort, es schien, als seien sie ferngesteuert. Er lenkte seinen Wagen auf der Umgehungsstraße an Oldau vorbei, um gut vier Kilometer nach der Ortschaft nach rechts abzubiegen, in eine kleine Asphaltstraße. Nach knapp zwei Kilometern bog er nach links ab; dort im Wald, abgeschieden und einsam, lag sein Wochenendhaus. Er fuhr den Wagen hinter das Haus, stieg aus und sog die Luft in sich hinein. Seinen Reisekoffer, die Lebensmittel, die er unterwegs gekauft hatte, alles schleppte er ins Haus. Er inspizierte die Räume, alles war noch beim alten, und er spürte die Ruhe, die langsam von ihm Besitz ergriff. Alle Fenster riß er auf. Die frische, würzige Luft vertrieb den abgestandenen Geruch aus den Räumen. Dann brühte er sich einen Kaffee auf, setzte sich an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an. Wie lange war er nicht hier gewesen? Drei, vier Monate? Mindestens. Er versuchte sich zu erinnern, aber das Datum fiel ihm nicht ein. Daß er ohne Ingrid das letzte Mal dagewesen war, das wußte er noch. Aber der Aufenthalt war nur kurz gewesen. Er glaubte sich erinnern zu können, daß es auf einer Geschäftsreise gewesen war. Reinhardt Zerber schüttelte den Kopf. Der Kaffee tat ihm gut, und er schenkte sich eine zweite Tasse ein. Ingrid. Was sie jetzt wohl machte? In diesem Moment? Er versuchte sich das Gesicht seiner Frau vorzustellen, aber seltsamerweise gelang es ihm nur unvollkommen, seine Gedanken wurden immer wieder abgelenkt. Nein, er bereute es nicht, gegangen zu sein. Er war froh, daß er nicht eingelenkt hatte. Und er erinnerte sich daran, daß es ihm gutgetan hatte, seine Frau wegzustoßen, seine Frau taumeln und gegen die Heizung schlagen zu sehen. Sie hatte es verdient, und für ihn war es wichtig gewesen, nicht einzulenken. Er stand auf und legte sich im Schlafraum angezogen auf das Bett. Im Raum
war es dunkel, und ganz langsam gewöhnten sich seine Augen daran. Er sah die Umrisse des Schrankes, sah die wuchtige alte Bauerntruhe, in der sie das Bettzeug verstauten. Durch das geöffnete Fenster drangen die für ihn wieder ungewohnten Geräusche des Waldes. Und ganz in der Ferne, so schien es ihm, hörte er das Pfeifen der auf der Landstraße entlangsausenden Autos. Als ihn fröstelte, stand er auf und holte sich aus der Truhe das Bettzeug. Auf den Nachttisch stellte er sich einen Aschenbecher. Die Glut der Zigarette gab für Minuten einen matten Schein. Und wenn ich doch anders reagiert hätte, fragte er sich? Und wenn ich mich nur um Ingrid gekümmert hätte, wäre das nicht gerechter gewesen? Was weiß ich denn tatsächlich von ihr? Was weiß ich denn von ihren Ängsten, von ihren Sorgen, was weiß ich denn wirklich davon, wie es in ihr aussieht, was sie dazu treibt, so zu handeln? Aber weiter führten ihn diese Gedanken nicht. Immer wieder schoben sich vor seine Fragen die Erlebnisse mit seiner Frau und die wirklichen Erfahrungen, die er mit ihr gemacht hatte. Und diese Erinnerungen waren es, die ihm die Luft nahmen, die selbst im nachhinein noch die ungeheure Kraft besaßen, ihn in Wut zu bringen und ihn immer und immer wieder davon überzeugten, daß er richtig gehandelt hatte, daß er seine Frau haßte und schon lange nicht mehr liebte.
9 Burkhardt Zerber hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, nun war er wieder an seinem Schreibtisch und versuchte sich auf die Tagespost zu konzentrieren. Aber es gelang ihm nicht. Mechanisch nahm er einen Brief auf, las die ersten Zeilen, las
sie nochmals und dann noch einmal und legte den Brief beiseite. Er hatte nichts vom Inhalt der Schreiben verstanden, seine Gedanken waren weit, weit fort. Die Tür öffnete sich, und seine Sekretärin brachte das kleine Tablett mit dem Morgenkaffee. »Ich hoffe, er ist nicht zu stark geworden…« Für einen Moment blieb seine Mitarbeiterin am Schreibtisch stehen, dann, als sie keine Antwort erhielt, verließ sie den Raum. Erst zehn Minuten später fiel sein Blick auf den Kaffee, er schenkte sich ein. Das Getränk war lauwarm. Ich muß mich zusammenreißen, dachte er. So geht es nicht. Ich habe noch nicht einmal bemerkt, daß mir der Kaffee gebracht wurde. Er stand auf und öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Vielen Dank für den Kaffee, ich habe es überhaupt nicht bemerkt. Ich bin nämlich ein bißchen groggy, ich konnte in der Nacht einfach nicht schlafen. Selbst das Schäfchenzählen half nicht…« »Ja, Herr Zerber, die Hitze ist unerträglich. Es ist ein gefährliches Wetter, meiner Mutter geht es zur Zeit sehr schlecht, sie hat es mit dem Herzen. Wenn das mit der Hitze so weitergeht, sterben die alten Leute wie die Fliegen…« »Gute Besserung für Ihre Mutter und vielen Dank für den Kaffee.« Er drehte sich um und betrat sein Büro, jetzt eine lange Unterhaltung war das letzte, was er sich wünschte. Beim zweiten Durchgang ging es mit der Post etwas besser, er versah die verschiedenen Briefe mit Notizen, und gegen zehn Uhr ließ er seine Sekretärin zum Diktat kommen. »Herr Zerber, dürfte ich schon jetzt in die Mittagspause gehen und mir ein, zwei Stunden frei nehmen? Ich muß nach meiner Mutter sehen. Sie wissen ja, die Hitze.«
Er war froh darüber, daß er allein im Büro sitzen konnte, und bat seine Mitarbeiterin, sich nur Zeit zu nehmen. Die Luft im Büro war stickig, so stand er auf und öffnete das Fenster. Aber das brachte nicht viel. Die Straße schien von der Hitze zu brodeln, und die Abgase der Autos brachten nun auch nicht gerade eine Erfrischung. Burkhardt Zerber sah die Menschen geschäftig hin und her eilen und für einen Moment kam ihm die Erkenntnis, daß er nicht dazugehörte. Er fühlte sich ausgeschlossen. Was ihm so zusetzte, war, daß er nicht wußte, ob in der Zwischenzeit Ingrid schon entdeckt worden war, daß er nicht wußte, was sein Bruder machte. Und mit einem Mal war er wild entschlossen, sich die Geschichte nicht aus den Fingern gleiten zu lassen, sondern, ganz im Gegenteil, sie zu steuern. Er mußte die Fäden des Spiels weiterhin in den Händen halten, er hatte den Eröffnungszug gemacht und nun ging es darum, die Übersicht zu behalten. Der Mord würde sowieso entdeckt werden, also kam es doch darauf an, daß er wußte, wann er entdeckt werden würde, damit er für sich seine weiteren Schritte vorausdenken konnte. Natürlich würde die Polizei die Angehörigen der Familie vernehmen, also auch ihn, und dann war es doch unbestreitbar von Vorteil, zu wissen, wann es soweit war… Er nahm seine Zigaretten vom Schreibtisch und verließ sein Büro. Auf der Straße prallte die Hitze auf ihn, er zog sein Jackett aus und ließ sich mit dem Strom der Passanten in Richtung Hauptbahnhof treiben. Vor dem Denkmal des Ernst August hockte ein Fähnlein Punker, einer sprach ihn auf Geld an, und er gab ihm tatsächlich eine Mark. Eine ältere Frau, die das sah, schüttelte den Kopf und rief etwas, was er nicht verstand. Etwas rechts standen mehrere Telefonhäuschen, dorthin ging Burkhardt Zerber. Er mußte warten, denn alle Kabinen waren besetzt. Endlich war er dran. Die Luft in dem Häuschen war
unerträglich. Da er die Tür nicht offenstehen lassen konnte, war er sofort durchgeschwitzt. Er sah sich um, mittlerweile hatten sich schon wieder Menschen vor den Kabinen aufgestellt, die darauf warteten, telefonieren zu können. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und fischte zwei Groschen aus seiner Hosentasche. Dann preßte er sich dicht gegen den Telefonapparat, damit niemand von außen sehen konnte, welche Nummer er wählte und rief die Polizei an. Er teilte dem diensthabenden Beamten mit verstellter Stimme mit, daß in der Werner-von-Siemens-Straße 23, zweiter Stock links bei Zerber etwas passiert sein müsse, sie sollten schnell nachsehen. Dann hängte er ein, wischte sich nochmals den Schweiß von der Stirn und verließ die Zelle. Als er zu seinem Büro zurückging, fühlte er sich wohler, wie von einem Druck befreit. Jetzt kam die Angelegenheit in Schwung, und das war gut so, denn er war der unsichtbare Dirigent. »Da komme ich durch«, murmelte er sich zu.
10 Die Luft im Büro war stickig. Kommissar Christian Bergmeyer schob mißmutig die Akte, in der er gerade gelesen hatte, zurück und stand auf. Er ging zum Fenster und öffnete beide Flügel. Eine Welle von Hitze schlug ihm entgegen. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Die erhoffte Linderung trat nicht ein. Kein Windhauch regte sich. Die Sommerhitze lag wie eine drückende Last über der Stadt. Er sah über die Baumwipfel hinweg hinüber zum Maschsee. Die Luft über dem Wasser flimmerte. Schemenhaft und eigenartig verzerrt erkannte er vereinzelte Segelboote und Surfbretter auf dem See. Sie dümpelten langsam vor sich hin, die Segel hingen
schlaff an den Masten. Christian Bergmeyer zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf die Fensterbrüstung und starrte gedankenverloren in den tiefblauen Himmel. Er dachte an Andrea. Heute morgen war die erste Postkarte von ihr eingetroffen. Azurblaues Meer – fast das gleiche Blau, das der Himmel über Hannover jetzt zeigte –, weißer Sand in der Bucht vor den schroffen Felsen und die kleinen weißen Häuser mit den blaßroten Ziegeldächern, die sich an den Hang schmiegen. Griechenland! Andrea war begeistert, man konnte es aus den wenigen Zeilen herauslesen. Sie war gut angekommen, Wetter, Hotel, Strand – alles prima, tausend Küsse, Brief folgt. Was sie jetzt wohl gerade machte? Bestimmt liegt sie jetzt unter einem Sonnenschirm am Strand und liest. Oder sie sitzt auf der schattigen Terrasse einer kleinen Taverne, ißt Salat und gegrillten Fisch und trinkt dazu einen eiskalten Weißwein. Ob sie schon Urlaubsbekanntschaften geschlossen hat? Christian Bergmeyer fühlte eine starke Sehnsucht in sich aufsteigen und ein klein wenig Eifersucht, die er schnell zu unterdrücken versuchte. Er sah auf seine Armbanduhr. Halb eins. Zeit zum Mittagessen. Er dachte wieder an die Szene, die eben vor seinem geistigen Auge gestanden hatte, an die schattige Terrasse, an Salat mit Oliven und Schafskäse, an herben griechischen Wein, und er stellte sich dagegen die triste Kantine des Polizeipräsidiums vor mit ihren abgestandenen Essensgerüchen. Er schnippte die Zigarettenkippe aus dem Fenster und beschloß, heute nicht in der Kantine zu essen. Lieber wollte er einen kleinen Spaziergang unter den Alleebäumen am Maschseeufer machen und in dem Café am Bootsanleger einen kleinen Imbiß nehmen. Vielleicht einen Croque Monsieur oder einen Hot dog. Bergmeyer stieß sich von der Fensterbank ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er schloß einen Fensterflügel und
lehnte den anderen nur an, dann wandte er sich zum Gehen. Als er die Tür fast erreicht hatte, klingelte das Telefon. Bergmeyer hielt inne und sandte einen verärgerten Blick zur Zimmerdecke. »Muß das sein?« Er ging zum Schreibtisch zurück und hob den Hörer auf. Sein Abteilungschef, Kriminalrat Strücker, war dran. »Wie sieht’s aus, Herr Bergmeyer, haben Sie Zeit? Ich hab’ einen dringenden Fall für Sie.« »Ich wollte gerade meine Mittagspause nehmen, aber was soll’s… Natürlich hab’ ich Zeit. Was gibt’s denn?« »In einer Wohnung in der Werner-von-Siemens-Straße liegt eine tote Frau. Offensichtlich erschlagen. Die Zentrale hat vor etwa vierzig Minuten einen anonymen Anruf erhalten. Sie haben gleich einen Streifenwagen hingeschickt. Eben haben sich die Beamten über Funk gemeldet. Sie haben die Wohnungstür aufgebrochen und im Flur die Leiche gefunden. Können Sie gleich losfahren?« »Ja, ja, kann ich. Wie ist die genaue Adresse? Warten Sie bitte einen Moment, ich will’s mir aufschreiben.« Bergmeyer klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter ein und fischte sich Zettel und Bleistift aus der Schreibtischschublade. »So, ich bin soweit.« »Werner-von-Siemens-Straße 23, zweiter Stock links, bei Zerber.« »Okay, hab’ ich. Ein anonymer Anruf war da, sagten Sie, was hat der Anrufer gesagt?« »Nicht viel. Auch nichts von einer Toten. Deshalb ist zunächst auch nur rein routinemäßig ein Streifenwagen hingeschickt worden. Es hätte sich ja auch genausogut um eine der üblichen Enten handeln können. Der Anrufer hat nur gesagt, wir sollten schnell zur Werner-von-Siemens-Straße 23 kommen, in der Wohnung Zerber wäre etwas passiert. Dann hat er eingehängt.«
»Es war ein Mann, ja?« »Die Stimme klang etwas verzerrt, der Anruf kam wahrscheinlich aus einer öffentlichen Telefonzelle. Jedenfalls hat der Beamte, der das Gespräch angenommen hat, die Stimme als männlich bezeichnet.« »Vielleicht war’s Amanda Lear…« »Wer, bitte?« »Ach, nichts. Sollte ’n Witz sein. Aber ich kann selbst nicht drüber lachen.« »Über Ihre Art von Humor konnte ich noch nie lachen, Herr Bergmeyer. Aber lassen wir das jetzt. Wen nehmen Sie mit?« »Inspektor Weißgerber natürlich, wen sonst? Herr Bunge ist ja nicht da, der sonnt sich auf Bornholm. Was ist mit der Spurensicherung? Ist der Onkel Doktor schon unterwegs?« »Ja, Dr. Baumann ist benachrichtigt. Er fährt auch gleich los. Und die Leute von der Spurensicherung ebenfalls.« »Also, dann… Wiederhören, Herr Strücker.« Bergmeyer legte auf, zog sich seine Jacke über und ging hinüber in Inspektor Weißgerbers Büro. Das Büro war leer. Er fragte ein paar Kollegen, die ihm auf dem Flur begegneten, und schließlich fand er Weißgerber in der Kantine. »Mahlzeit, Willy.« Er setzte sich auf den freien Stuhl gegenüber und starrte auf Weißgerbers Teller. Bratwurst mit Rotkohl und Salzkartoffeln. »Kannst du bei dieser Hitze so was essen?« »Mahlzeit, Christian. Klar, das macht mir nichts aus. Ißt du nichts?« Bergmeyer schüttelte den Kopf. »Wir müssen los. Hau rein, Kollege, oder laß es stehen. Hauptsache, es geht schnell.« Kauend fragte Willy Weißgerber: »Wo brennt’s denn?« »Du mußt irgendwas verwechseln. Wir sind bei der Polizei, nicht bei der Feuerwehr.«
Inspektor Weißgerber verzog sein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Oh, Mann. Das war wieder ’n echter Bergmeyer. Wie halten eigentlich andere Leute deine ewigen Kalauer aus?« Bergmeyer zuckte mit den Achseln und grinste, dann wurde sein Gesicht plötzlich wieder ernst. Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Sie haben eine tote Frau in ihrer Wohnung gefunden. Vermutlich Mord. Komm.« Weißgerber säbelte noch ein großes Stück von seiner Bratwurst, häufelte Rotkohl darauf und schob sich den Bissen mit einem bedauernden Blick auf den halbvollen Teller in den Mund. Dann stand auch er auf. »Okay, ich bin soweit.« Das Haus Nummer 23 in der Werner-von-Siemens-Straße fanden sie ohne langes Suchen. Christian Bergmeyer, der den Wagen fuhr, hatte schon beim Einbiegen in die Straße den grün-weißen Streifenwagen entdeckt, der unübersehbar an der Bordsteinkante vor dem Haus abgestellt war. Als er seinen Wagen in eine Lücke einparkte, erkannte er vor sich auch den grauen VW-Bus mit dem Amtskennzeichen. Die Leute von der Spurensicherung waren also auch schon eingetroffen. Das Haus war ein Bau aus den fünfziger oder sechziger Jahren, drei Stockwerke hoch und mit einem ausgebauten Dachgeschoß. Die Fassade war ziemlich schmucklos, der ehemals rosafarbene Verputz wirkte schmutzig und grau, lediglich die buntgestrichenen Balkongitter gaben ein wenig Kontrast. Der Vorgarten wirkte dagegen gepflegt, der Rasen war kurz geschnitten, von Rosenbeeten eingefaßt, und die niedrige Buchenhecke war frisch gestutzt. Bergmeyer und Weißgerber gingen über den Plattenweg zur Haustür und suchten auf dem Klingelbrett den Namen Zerber. Es waren acht Klingelknöpfe und acht Namen untereinander. ›Zerber‹ stand auf dem vierten Schild von oben. Der Kommissar drückte den Knopf, und nach
kurzer Zeit ertönte das Summen des elektrischen Türöffners. Sie stießen die Haustüre auf und gingen nach oben. »Ach, Sie sind’s.« Oberinspektor Hauschild von der Abteilung Spurensicherung erwartete sie auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerks. Sie schüttelten sich zur Begrüßung die Hände. Hauschild deutete auf die linke Wohnungstür, die nur angelehnt war. »Gehen Sie vorsichtig hinein. Die Tote liegt gleich vorne im Flur. Wir haben noch nichts verändert.« Kommissar Bergmeyer drückte langsam und behutsam die Türe auf und ging hinein, Weißgerber und Hauschild folgten ihm. Es war ein schmaler, langer Flur, von dem vier Türen abgingen. Die tote Frau lag gleich links neben dem Eingang. Hätte Bergmeyer die Türe weiter aufgestoßen, dann wäre sie gegen die Füße der Toten geschlagen. Sie war nackt, bis auf einen schmalen Slip. Ihr Körper lag eigenartig verdreht halb auf der Seite, halb auf dem Bauch, die Beine etwas angewinkelt, die Arme weggespreizt. Es war ein junger, straffer Körper mit festen, kleinen Brüsten, aber obwohl er sonnengebräunt war, wirkte er eigentümlich wächsern. Das mochte auch an dem gelblichen Licht der Deckenlampe liegen, die den fensterlosen Flur nur recht spärlich beleuchtete. Das Gesicht der Frau war nicht zu erkennen, üppiges, leicht gewelltes, dunkelblondes Haar verdeckte die Züge. Auf den ersten Blick war keine äußere Verletzung zu erkennen, doch dann sah Christian Bergmeyer das schmale, verkrustete Band geronnenen Blutes, das sich vom Haaransatz im Nacken über den Hals hinschlängelte und in der Beuge zwischen dem Halsansatz und der rechten Schulter verschwand. Er kniete neben dem leblosen Körper nieder, strich behutsam die nach vorne fallenden Haare beiseite und versuchte, den Kopf etwas
zu drehen, um das Gesicht zu erkennen. Doch der Kopf ließ sich kaum bewegen. »Die Leichenstarre ist schon eingetreten«, sagte Hauschild. »Sie muß hier schon länger liegen. Mindestens seit gestern. Man sieht’s auch an dem eingetrockneten Blut.« Bergmeyer erhob sich. »Sie hat einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen?« »Ja. Einen ziemlich schweren sogar. Die Schädeldecke ist eingeschlagen. Man kann es so nicht sehen, weil sie so dichte Haare hat.« »Wissen Sie schon, wer die Frau ist? Ist es die Wohnungsinhaberin?« »Ja, es ist Ingrid Zerber.« Hauschild drehte sich um und nahm von der kleinen Kommode unter der Flurgarderobe eine Handtasche. »Ihre Handtasche lag hier.« »Personalausweis und Führerschein sind da drin. Es handelt sich bei der Toten eindeutig um Ingrid Zerber, geborene Cramer, neunundzwanzig Jahre alt, verheiratet, keine Kinder.« »Wieso keine Kinder? So was steht doch nicht im Ausweis?« »Nein, aber wir haben die Wohnung schon ein wenig untersucht, ein Kinderzimmer ist nicht vorhanden.« Die Türglocke unterbrach sie. Fast gleichzeitig wurden zwei Zimmertüren aufgerissen und die beiden Mitarbeiter von Hauschild, die damit beschäftigt waren, das Wohnzimmer und das Schlafzimmer zu untersuchen, erschienen mit fragenden Gesichtern im Rahmen. Durch die geöffnete Wohnzimmertür konnte Bergmeyer die uniformierten Streifenpolizisten sehen, die dort auf der Couch saßen und warteten. »Das wird der Arzt sein«, sagte Hauschild und drückte auf den elektrischen Haustüröffner. »Laßt euch nicht stören.« »Okay«, meinte Bergmeyer, »wir stehen hier im Moment auch nur im Weg rum. Wir unterhalten uns nachher, wenn ihr mit eurer Arbeit fertig seid.« Er gab den beiden Männern von
der Spurensicherung, die er flüchtig kannte, die Hand und zog dann Inspektor Weißgerber mit ins Wohnzimmer. »Komm, Willy. Wir kümmern uns erst einmal um die beiden Kollegen, die die Tote gefunden haben. Die wollen hier bestimmt keine Wurzeln schlagen.« Sie stellten sich den Uniformierten vor und nahmen ihnen gegenüber in den Sesseln Platz. Hauptwachtmeister Sisolewsky, der Ältere von beiden, erstattete Bericht. Sie hatten über Funk den Einsatzbefehl erhalten, das war um fünf vor zwölf. Zehn Minuten später waren sie vor Ort, aber auf ihr Klingeln hatte ihnen niemand geöffnet. Sie hatten daraufhin bei ›Harms‹ geklingelt – das sind die Mieter in der gegenüberliegenden Wohnung – und sind so ins Haus gelangt. Die Wohnungstür bei ›Zerber‹ war verschlossen und nichts hatte sich dahinter gerührt. Nach mehrmaligem Klingeln, Klopfen und Rufen hatten sie dann die Tür aufgebrochen und waren im dunklen Flur beinahe über die Leiche gestolpert. Das war alles. »Haben Sie mit den Leuten von gegenüber über die Zerbers gesprochen? Haben die irgendwas bemerkt?« wollte Bergmeyer wissen. Hauptwachtmeister Sisolewsky schüttelte seinen Kopf. »Nein, Herr und Frau Harms hatten nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Aber das will nichts heißen. Die beiden sind Rentner und schon ein bißchen schwerhörig. Wir haben lediglich erfahren, daß Frau Zerber die Woche über meistens alleine in der Wohnung ist, weil der Mann als Vertreter unterwegs ist. Und da habe ich es für richtig gehalten, die Wohnungstür aufzubrechen.« »Das war ja auch richtig«, sagte Willy Weißgerber trocken. Christian Bergmeyer nickte. »Okay, vielen Dank, Sie können jetzt gehen. Ihren schriftlichen Bericht schicken Sie mir dann rüber ins Präsidium, ja? Zu welchem Revier gehören Sie?«
»Revierwache Welfenplatz. Der Bericht kommt morgen.« »Was hältst du von der Sache, Willy?« fragte Bergmeyer seinen Inspektor, nachdem die Uniformierten gegangen waren, und bot ihm eine Zigarette an. Weißgerber nahm die Zigarette und zuckte mit den Schultern. Er gab dem Kommissar Feuer, zündete seine eigene Zigarette an und sagte dann: »Tja, was soll ich sagen? Auf den ersten Blick sieht’s wie die Tat eines Liebhabers aus. Der Mann auf Reisen, die Frau nackt…« »Ja, ja, du hast recht. Genau dasselbe habe ich auch gedacht.« Bergmeyer blies nachdenklich den Rauch aus. »Aber was soll’s? Warten wir erstmal ab, was der Arzt sagt und was Hauschilds Leute finden.« Weißgerber lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Eigentlich haben wir noch Mittagspause, Christian. Also laß uns noch ein bißchen entspannen, bis die soweit sind, und dann beginnt unsere Ochsentour.« »Ich denke, du fragst gerne Leute aus?« Weißgerber winkte verächtlich ab. »Nicht so gerne, wenn es darum geht, andere Hausbewohner nach den intimsten Dingen eines Opfers auszuquetschen.«
11 »So, wir sind soweit.« Oberinspektor Hauschild betrat das Wohnzimmer, hinter ihm folgte Dr. Baumann, der Amtsarzt. Hauschilds Mitarbeiter blieben draußen im Flur stehen und vertraten sich die Beine. »Darf ich den benutzen?« fragte Dr. Baumann und deutete auf den Telefonapparat. »Klar«, antwortete Hauschild, »die Fingerabdrücke haben wir schon genommen.«
Dr. Baumann rief beim gerichtsmedizinischen Institut an und bat darum, die Leiche zur Autopsie abzuholen. Dann setzte er sich zu Bergmeyer und Weißgerber in die Couchecke. »Nun!« fragte Christian Bergmeyer. »Doppelter Schädelbasisbruch, Tod durch Blutstau im Gehirn. Ein kräftiger Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. Sonst keine äußeren Verletzungen, keinerlei Spuren eines Kampfes. Der Tod ist vor etwa zwanzig Stunden eingetreten. Genaueres sage ich Ihnen morgen«, antwortete der Arzt lapidar. »Die Tatwaffe haben wir nicht gefunden«, fügte Hauschild hinzu. »Der Täter muß sie mitgenommen haben. Es kann ein Rohr, ein Knüppel oder ein schwerer Kerzenleuchter gewesen sein.« Er zögerte einen Augenblick. »Für letzteres spricht einiges. Auf der Kommode im Flur kann man anhand der dünnen Staubschicht genau erkennen, daß dort etwas mit einem achteckigen Fuß gestanden hat. Es steht nicht mehr da und ist auch in der ganzen Wohnung nicht zu finden. Ich vermute: ein metallener Kerzenständer.« Kommissar Bergmeyer nickte. »Was ist Ihnen sonst an möglichen Spuren aufgefallen?« »Die Wohnungstür war in Ordnung, bevor sie von den Kollegen aufgebrochen wurde. Das bedeutet, Frau Zerber hat ihrem Mörder geöffnet, oder er hatte sogar einen Schlüssel. Sie muß ihn wohl sehr gut gekannt haben, denn sie hat ihn nackt empfangen – oder sie hat sich ausgezogen, als er da war. Jedenfalls wurden ihr die Kleider nicht gewaltsam vom Körper gerissen.« Bergmeyer sah zu Dr. Baumann hinüber. »Können Sie feststellen, ob die Frau kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte?« »Selbstverständlich. Das gehört zu den Routineuntersuchungen.«
Der Kommissar wandte sich wieder Hauschild zu. »Bitte, berichten Sie weiter.« »Ja, sonst ist eigentlich nichts besonderes. Vielleicht bis auf die Tatsache, daß da drüben auf der Hausbar nur ein benutztes Glas stand. Ein zweites haben wir in der Küche gefunden, fein säuberlich abgewaschen. Es sieht so aus, als ob der Täter sehr gewissenhaft seine Spuren verwischt hat. Vermutlich werden wir mit den Fingerabdrücken nicht sehr viel Glück haben.« »Was ist mit dem Ehemann? Gibt’s Hinweise auf ihn?« »Ja, natürlich. Die Anzüge im Schrank, die Socken, die Schuhe… Ich hab’ gehört, er ist Vertreter und die ganze Woche über auf Achse. Das paßt absolut ins Bild. Im Bad fehlt seine Zahnbürste, das Rasierzeug…« »Könnte natürlich auch bedeuten, daß er auf der Flucht ist«, sinnierte Inspektor Weißgerber. »Sicher, der Ehemann kommt als möglicher Täter auf jeden Fall in Frage«, stimmte Bergmeyer zu. »Aber für den Fall, daß er irgendwo nichtsahnend seine Geschäftsbesuche macht, sollten wir versuchen herauszubekommen, wo er sich jetzt befinden könnte. Wissen Sie, welche Firma er vertritt?« Hauschild nickte, drehte sich um und ging zu einem Regal, das über dem Schreibtisch angebracht war. Er kam mit einem Aktenordner zurück. »Hier. Das sind seine Geschäftsunterlagen. Korrespondenz, Provisionsabrechnungen, Angebote und so weiter. Ich hab’ das vorhin schon mal durchgeblättert. Er ist Textilvertreter. Gardinen und Dekostoffe. Für eine schwedische Firma, warten Sie mal…« Er schlug den Ordner auf und blätterte darin. »Hier: Firma Öklund & Erikson in Boras.« »Geben Sie mal her, bitte.« Weißgerber stand auf und nahm Hauschild den Aktenordner aus der Hand. »Sind noch mehr Akten da?«
»Ja, das da ist nur der laufende Jahrgang. Oben im Regal stehen noch fünf oder sechs ältere Ordner.« Weißgerber legte die Akten auf den Tisch, ging hinüber zum Regal und kam mit beiden Armen voller Ordner zurück. »Die müssen wir alle gründlich durchsehen, Christian.« Christian Bergmeyer sah ihn fragend an. »Ich weiß, daß Vertreter ihre Kunden immer in einem bestimmten Rhythmus besuchen. Sie haben ein bestimmtes Gebiet und legen sich bestimmte Reiserouten zurecht, die sich Jahr für Jahr wiederholen. Vielleicht läßt sich seine Tour aus den Unterlagen rekonstruieren, und wir können so feststellen, wo er sich zur Zeit befindet.« »Du hast recht.« Bergmeyer nickte anerkennend. »Also dann mal an die Arbeit.« »Na, denn viel Erfolg.« Oberinspektor Hauschild verabschiedete sich. Inzwischen war auch der Leichentransportwagen eingetroffen, die tote Ingrid Zerber wurde hinuntergebracht, und Dr. Baumann verließ ebenfalls die Wohnung. Bergmeyer und Weißgerber blieben alleine zurück und machten sich über Reinhardt Zerbers Geschäftsunterlagen her. »Zuerst müssen wir seinen Vertrag mit der schwedischen Firma suchen. Da drin muß ja stehen, welches Gebiet er insgesamt bereist.« »Richtig.« Bergmeyer griff zu dem ältesten der Ordner, der auf dem Rücken mit der Jahreszahl ›1975‹ gekennzeichnet war. »Und der Vertrag muß ja ganz am Anfang liegen.« Er blätterte die Schriftstücke durch und fand schließlich, was er suchte. Es war ein Vertrag über die Generalvertretung in den Bundesländern Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein.
»Immerhin«, stöhnte er, »klein ist das Gebiet, in dem wir ihn suchen müssen, ja nicht gerade. Irgendwo zwischen Flensburg und Göttingen, Helmstedt und Osnabrück…« »So schlimm wird’s schon nicht werden«, meinte Weißgerber. »Paß mal auf, wir sehen erst einmal die letzten beiden vollständigen Jahrgänge durch. Die Kopien seiner Bestellzettel sortieren wir nach Daten, und dann werden wir schon sehen, ob die zeitliche Reihenfolge der Städte, die er besucht, in den beiden letzten Jahren dieselbe war. Und wenn dem so ist, dann wird’s in diesem Jahr nicht viel anders sein.« Bergmeyer nahm sich die Akte von 1980 vor, Weißgerber die von 1981. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie die Bestellscheine, die alphabetisch nach Kunden abgelegt waren, in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Bergmeyer las die Daten und die Städte seines Stapels der Reihe nach laut vor, und Weißgerber verglich damit die Reihenfolge seiner Zettel. Es gab einige Abweichungen, aber im großen und ganzen ergaben sich in beiden Jahren der gleiche Besuchsrhythmus und fast identische Reiserouten. »Na, bitte!« Inspektor Weißgerber legte seinen Zettelpacken beiseite und nahm sich die Akte des laufenden Jahres wieder vor. »Mal sehen, wo er zuletzt war.« Er blätterte schnell die abgelegten Bestellscheine durch und nahm alle Zettel heraus, die ein Datum aus der vergangenen Woche trugen. Insgesamt fand er neunzehn Kopien von Kunden aus den Städten Braunschweig, Wolfenbüttel, Goslar, Bad Harzburg und Clausthal-Zellerfeld. »Aha, er hatte letzte Woche also seine Harz-Tour, dann ist er diese Woche… mal sehen…« Weißgerber ging noch einmal die Zettel von 1981 durch und fand nach kurzer Zeit, was er suchte. »Hier! Letztes Jahr kam nach dem Harz eine Woche Ostfriesland dran. Erst Oldenburg, dann Leer, Emden, Aurich und schließlich Wilhelmshaven.«
»Gut, dann wollen wir mal ein paar Telefonate führen.« Bergmeyer ließ sich von seinem Kollegen die entsprechenden Bestellscheine aus dem Vorjahr geben, sie waren alle mit den Stempeln der auftraggebenden Firmen versehen. Viele der Stempel beinhalteten auch die Telefonnummern. Bergmeyer stellte fest, daß Reinhardt Zerber alle Oldenburger Kunden an einem Tage erledigt hatte, an einem Montag. Der Dienstag tauchte dann auf den Bestellungen aus Leer und Emden auf, Mittwoch noch einmal Emden und auch Aurich. Heute war Mittwoch. Bergmeyer rief zunächst bei einem großen Tapetenund Gardinengeschäft in Oldenburg an, verlangte den Einkäufer für Stoffe und fragte ihn, ob Herr Zerber vorgestern bei ihm gewesen sei. Der Einkäufer bestätigte dies. Dann wählte er eine Nummer in Leer und erhielt die gleiche Antwort. Doch schon der nächste Anruf bei einem anderen Gardinengeschäft in Leer brachte ein Ergebnis, das Bergmeyer in seinem Verdacht bestärkte. Er erfuhr, daß sich Herr Zerber für den Nachmittag des Vortages telefonisch angemeldet hatte – schon vor gut acht Tagen, wie er es immer zu tun pflegte –, daß er aber nicht erschienen sei. Er habe bisher auch noch nicht angerufen und um einen neuen Termin gebeten. Bergmeyer bedankte sich und legte auf. »Da haben wir’s!« Er nickte dem Inspektor anerkennend zu. »Deine Vermutung scheint hinzuhauen, Willy. Er war gestern nachmittag angemeldet und ist nicht erschienen. Bei einem anderen Kunden in Leer hat er seinen Termin am Vormittag wahrgenommen. Sieht ganz so aus, als hätte er dann seine Reise abgebrochen.« Weißgerber zog seine Stirn in nachdenkliche Falten. »Vielleicht auch nur unterbrochen. Ruf lieber noch ein paar Geschäfte an. Sicher ist sicher.« Bergmeyer griff wieder zum Hörer und rief zwei weitere Geschäfte an, eines in Leer und eines in Emden. In beiden
Fällen war Reinhardt Zerber nicht erschienen, obwohl er sich angemeldet hatte. »Jetzt mach’ ich noch einen Versuch.« Christian Bergmeyer wählte eine Nummer in Aurich. Das Tapetenhaus Gebrüder Menzel meldete sich, und er verlangte den Einkäufer, einen Herrn Matthiesen, wie man ihm sagte. »Guten Tag, Herr Matthiesen. Mein Name ist Bergmeyer. Ich muß dringend Herrn Zerber, den Vertreter von Öklund & Erikson, in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Er muß sich heute in Ihrer Gegend aufhalten. Kann es sein, daß er gerade bei Ihnen ist oder daß Sie ihn heute erwarten?« »Oh, da haben Sie im Moment leider Pech. Er ist noch nicht da, aber ich erwarte ihn in Kürze. Er hat sich für zwei Uhr angesagt.« Bergmeyer sah auf seine Armbanduhr. Es war fünf Minuten vor zwei. »Geben Sie mir Ihre Nummer, Herr Bergmeyer. Herr Zerber kann Sie ja gleich anrufen, wenn er hier auftaucht. Ich werde es ihm ausrichten.« Bergmeyer zögerte, dann sagte er: »Vielen Dank, das ist nett von Ihnen. Aber ich rufe lieber selbst noch einmal an. Vielleicht in zehn oder zwanzig Minuten?« »Bitte, ganz wie Sie wollen.« »Ist Herr Zerber für gewöhnlich pünktlich, wenn er sich für eine bestimmte Uhrzeit angemeldet hat?« »Sehr pünktlich sogar. Das schätze ich an ihm. So sind nicht alle Vertreter.« »Okay, dann ruf’ ich nachher noch mal an. Vielen Dank.« Bergmeyer bot seinem Inspektor eine Zigarette an und zündete sich selbst auch eine an. Er lehnte sich zurück, zog den Rauch tief ein und ließ ihn langsam durch die Nase wieder entweichen.
»Du glaubst doch nicht etwa, daß Zerber da gleich auftaucht?« fragte Weißgerber. »Der ist über alle Berge. Wir sollten lieber gleich die Fahndung anleiern, meinst du nicht?« »Doch, doch, davon geh’ ich auch aus. Aber was soll’s? Die Tat ist schon gestern geschehen, also kommt es jetzt auf zehn Minuten auch nicht mehr an.« »Da hast du recht.« Sie rauchten schweigend. Nach der zweiten Zigarette griff der Kommissar wieder zum Telefon. Es waren zwölf Minuten vergangen. Reinhardt Zerber war nicht im Tapetenhaus Melzer erschienen. »Das verstehe ich gar nicht. Sonst ist er immer so pünktlich!« sagte Herr Matthiesen, der Einkäufer. Bergmeyer gab ihm seine Telefonnummer im Präsidium. »Falls er doch noch kommen sollte, dann bitten Sie ihn, mich anzurufen. Aber erst nach vier Uhr, vorher bin ich nicht mehr zu erreichen.« Herr Matthiesen versprach es. »So!« Christian Bergmeyer legte den Hörer auf die Gabel und stand auf. »Dann wollen wir mal, Willy. Für die Fahndung brauchen wir eine Beschreibung des Mannes, am besten ein Foto, seine Automarke und das Kennzeichen. Da wird sich in der Wohnung ja wohl was finden lassen.« Sie durchstöberten das Fotoalbum der Zerbers und weitere Aktenordner, und nach kurzer Zeit hatten sie ein brauchbares Foto neueren Datums und die Versicherungsunterlagen des Wagens gefunden. Weißgerber gab die Daten ans Präsidium durch und bat darum, daß ein Kollege schnell vorbeikommen sollte, um das Foto abzuholen. Die Großfahndung lief an. »Moment noch«, rief Bergmeyer dazwischen, »leg noch nicht auf, Willy. Laß dich mit Kriminalrat Strücker verbinden, ich muß ihn noch kurz sprechen.« Er schilderte seinem Vorgesetzten den bisherigen Stand der Ermittlungen und bat ihn zum Schluß: »Sagen Sie bitte der Presse nichts von dem dringenden Tatverdacht gegen den Ehemann, und auch nichts
von dem anonymen Anruf. Eine kurze Notiz mit dem abgekürzten Namen der Ermordeten genügt.« »Ich verstehe. Geht klar.« »Und was machen wir jetzt?« Der Kommissar sah seinen Mitarbeiter fragend an. »Das Gescheiteste wird es doch sein, wenn wir uns noch ein bißchen in der Wohnung umsehen. Die Fotoalben nochmals flöhen und so weiter, damit wir sehen, ob es so etwas Ähnliches gibt, wie Familie… na du weißt, was ich meine.« »Gescheit, gescheit. Recht hast du, dann man los. An die Arbeit.« Und so wühlten sich Willy Weißgerber und Christian Bergmeyer durch die Papiere und nach gut eineinhalb Stunden wußten sie schon eine ganze Menge über die Zerbers. Seine und auch ihre Eltern waren tot, wobei man um der Genauigkeit willen schon sagen mußte, daß Ingrid Zerber ein uneheliches Kind war. Der Vater unbekannt, die Mutter schon vor Jahren gestorben. Aber einen Bruder gab es noch, Burkhardt Zerber, er lebte in der gleichen Stadt. Offensichtlich war er gut betucht, denn die Fotos, die sich im Familienalbum fanden, zumindest die aus der letzten Zeit, strahlten satten Wohlstand aus. Aufnahmen von der Richtfestfeier des Hauses, Fotografien von den Taufen der Kinder, mit einem neuen Wagen. »Ihn werden wir benachrichtigen müssen«, sagte Christian Bergmeyer und tippte dabei mit dem Finger auf den jungen Mann, der, an seinem Wagen lehnend, selbstbewußt in die Kamera schaute. »Natürlich, natürlich. Wie teilen wir die Arbeit auf?« Willy Weißgerber nuckelte an seiner Zigarette. »Du hier im Haus und ich zum Bruder?« »Von mir aus.« Aus dem Telefonbuch suchte sich der Kommissar die Telefonnummer von Burkhardt Zerber heraus. Als er dort
anrief, hörte er von einer Aufwartefrau, daß der Herr in der Firma und die junge Frau mit den Kindern unterwegs sei. Er ließ sich die Anschrift der Firma geben, dann beendete er das Gespräch. »Na, sieh mal einer an. Der Bruder Zerber arbeitet bei den Schröder-Werken, da muß er ja wohl einen guten Posten haben, ich meine wenn von dort her sein Geld kommt, Auto, Haus und so…« »Warum auch nicht, Christian. Muß ja nicht jeder so blöd sein, wie wir und für den lieben Vater Staat die Drecksarbeit für einen Hungerlohn zu machen.« »Na, na…« »Entschuldige, ist ja richtig. Du verdienst ja mehr als ich…« Sie verließen die Wohnung, versiegelten sie und verabschiedeten sich voneinander. Als Christian Bergineyer die Treppe hinunterging, hörte er, wie sein Kollege an der gegenüberliegenden Wohnung klingelte.
12 »Bitte hier entlang, Herr Kommissar. Herr Zerber erwartet Sie in seinem Büro.« Herr Kommissar – wie sich das anhörte. Unbewußt schüttelte er sich. »Nennen Sie mich ruhig beim Namen. Bergmeyer ist er.« »Wie Sie wünschen, Herr – äh – Bergmeyer.« Es war ein elegantes Büro, in das er geführt wurde. Holz und Leder, ein entsprechender Duft hing in der Luft. Geld. »Guten Tag.«
Der junge Mann stand von seinem sehr schönen Schreibtischsessel auf und umrundete einen eleganten, aber nicht aufdringlichen und nicht protzigen Schreibtisch. Sie schüttelten sich die Hände. »Was kann ich für Sie tun, Herr.« »Bergmeyer.« »Vielen Dank. Ich weiß, wie Sie heißen. Sie haben sich doch schließlich in meinem Sekretariat angemeldet, und meine Mitarbeiterin hat mir Ihren Namen mitgeteilt.« Christian Bergmeyer räusperte sich, ihm war es unangenehm zumute. »Also was kann ich… Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Nehmen Sie erst einmal Platz. Kaffee oder vielleicht etwas Kaltes?« »Kaffee wäre mir schon recht.« Der Chef bestellte bei seiner Mitarbeiterin Kaffee und nahm dann mit seinem Besuch zusammen Platz in der ebenfalls ausgesucht geschmackvollen Besprechungsecke. Christian Bergmeyer fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Wie freundlich wurde er hier empfangen, und gleich würde er dem Mann gegenüber mitteilen müssen, daß seine Schwägerin ermordet worden war. Und es war nicht ausgeschlossen, daß es der Ehemann getan hatte, also der eigene Bruder. »Was kann ich für Sie tun, Herr Bergmeyer?« Er sah Burkhardt Zerber fest an und antwortete: »Vielleicht eine ganze Menge. Aber zuerst muß ich Ihnen eine sehr traurige Mitteilung machen, Ihre Schwägerin ist tot.« Bergmeyer sah, wie durch den Mann ein Ruck ging. »Und mein Bruder…?« »Wie kommen Sie auf Ihren Bruder?« »Ich meine, saß er auch mit im Auto…«
»Oh, Verzeihung, bitte entschuldigen Sie vielmals, Herr Zerber. Es ist mir außerordentlich peinlich, aber ich habe mich natürlich schlecht ausgedrückt. Ihre Schwägerin ist tot, sie ist ermordet worden…« »Ermordet…?« Die Tür ging auf, und der Kaffee wurde gebracht. Es dauerte seine Zeit, bis er serviert war. In dieser Zeit wurde nicht gesprochen, zumindest nichts Wesentliches. Es ging nur um die Zutaten zum Kaffee, um Milch und Zucker. Als die Sekretärin das Zimmer verlassen hatte, wiederholte Burkhardt Zerber seine Frage: »Ermordet…? Ingrid…? Ich verstehe…« »Lassen Sie mich erzählen, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten.« Und dann erzählte Christian Bergmeyer Burkhardt Zerber alles über den Fall, und er endete mit der Frage: »Wissen Sie, wo sich Ihr Bruder zur Zeit aufhält?« »Genau kann ich Ihnen das nicht sagen, aber er ist auf seiner Tour. Anhand seiner Reisepapiere aus dem letzten Jahr müßte seine Fahrt zu rekonstruieren sein.« »Das haben wir bereits gemacht, aber es scheint so, als habe Ihr Bruder seine Fahrt abgebrochen, zumindest aber unterbrochen. Wir haben den Weg verfolgt, ein paar Termine, exakt gesagt, Termine von gestern und heute hat er nicht mehr wahrgenommen.« »Oh, mein Gott… ich meine, es wird seine natürliche Erklärung finden. Reinhardt. Sie verdächtigen ihn?« »Bei solchen Fällen ist der Ehemann immer die Nummer eins unter den Verdächtigen oder der Liebhaber.« Nur mühsam konnte sich der Mann beherrschen: »Liebhaber? Hatte Ingrid einen…« »Nein, natürlich… das heißt, wir wissen es nicht. Ich habe das nur eben so dahergesagt. Verstehen Sie, aus der Erfahrung
mit solchen Fällen heraus. In der überwiegenden Zahl solcher Verbrechen spielen Ehestreitigkeiten oder Eifersucht die Hauptrolle bei den Motiven. Wo könnte sich Ihr Bruder sonst noch aufhalten?« »Ich wüßte nicht, wo. Freunde in anderen Städten hat er nicht. Er ist eigentlich kein besonders geselliger Mensch. Sie haben ein Wochenendhaus. Aber da…« »Wo denn?« »Bei Oldau. Ein kleiner Ort an der Aller. Wenig entfernt von Bergen-Belsen.« »Wir werden alles überprüfen müssen. Also auch das Wochenendhaus. Können Sie mir den Weg beschreiben?« Burkhardt Zerber fertigte eine kleine Skizze, als er sie beendet hatte, sagte er: »Nein, es ist unvorstellbar, daß Reinhardt etwas damit zu tun hat. Ich kenne meinen Bruder doch. Niemals. Nein, ganz bestimmt nicht. Und warum auch? Ingrid wird ihm bestimmt keinen Grund gegeben haben, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Natürlich haben sie sich mal in der Wolle gehabt, aber bestimmt hätte mein Bruder mit mir gesprochen, wenn es ernsthafte Schwierigkeiten gegeben hätte.« »Haben Sie engen Umgang mit Ihrem Bruder?« »Ach, na ja, wie man es so nimmt. Sicherlich sind wir nicht unzertrennlich, aber wir haben uns noch etwas zu sagen. Wir treffen uns so manches Mal…« »Wie häufig im Jahr? Was schätzen Sie?« »So drei- bis viermal. Die Geburtstage und ähnliches. Er ist ja auch viel unterwegs, und wir haben, es ist nun mal nicht zu leugnen, verschiedene Lebensweisen. Sie wissen, das ich der Juniorchef der Schröder-Werke bin…?« »Nein, das wußte ich nicht.« »Ich habe das einzige Kind der Schröders geheiratet.« »Ach so…«
»Noch etwas Kaffee? Eine Zigarette, Herr Bergmeyer?« »Zu beidem sage ich gerne ja.« Sie tranken den Kaffee und rauchten die Zigaretten und unterhielten sich noch über die verschiedensten Dinge. Als Christian Bergmeyer Burkhardt Zerber verließ, war er sich nicht im klaren darüber, ob ihm der Besuch wirklich etwas gebracht hatte.
13 Als er im Büro ankam, wartete Willy Weißgerber schon ungeduldig auf ihn. »Es wird schon dunkel, Christian. Warum kommst du so spät nach Hause?« »Weil es so spannend war mit dem lieben Bruder Zerber.« »Hast du was?« »Ehrlich gesagt, Willy, nein. Natürlich ’ne ganze Menge Hintergrundmaterial, aber nichts von dem Kaliber, daß der Fall hopp-hopp-hopp als gelöst gelten kann. Es sei denn, der Ehemann…« »Das wäre langweilig…« »Hat die Fahndung schon…?« »Nein, mein Guter, hat sie nicht.« »Und wie war es bei dir. Hast du etwas zu Tage gefördert?« »Sieht wie nach einer Totalpleite aus. Keiner im Haus wußte was von den Zerbers, nur Allgemeinkrimskrams. Sind ruhige Hausgenossen, offensichtlich. Die Frau von gegenüber, die Harms, die will schon mal so etwas wie einen Streit vernommen haben. ›Aber Herr Kommissar, damit will ich nichts gesagt haben. Ganz bestimmt nicht. Und vielleicht kam der Streit ja auch aus einer anderen Etage, Herr Kommissar. So genau weiß ich das natürlich nicht mehr. Jedenfalls die letzten
Tage habe ich nichts gehört, Herr Kommissar. Und mein Mann auch nicht. Nicht Werner? Ja, Luise. Und überhaupt sind die Zerbers nette Leute. Nicht Werner? Ja, Luise. Aber heutzutage ist man ja in seiner eigenen Wohnung nicht mehr sicher. Nicht Werner? Ja, Luise.‹« Nachdem Willy Weißgerber so ausgiebig die Nachbarin Luise Harms imitiert hatte, lehnte er sich erschöpft zurück. »Na, Willy, da hattest du eine echt dankbare Aufgabe zu erfüllen. Ich glaube, du hast sie meisterhaft gemeistert.« »Meisterhaft gemeistert. Du müßtest dich mal reden hören. Schauerlich. Da jammert’s einen.« »Hat irgendeiner der Hausbewohner zugegeben, die Polizei informiert zu haben?« »Nein, natürlich nicht.« »Hätte er ja auch einfacher haben können. Hätte nur seinen Namen schon beim Anruf nennen müssen…« »Eben, du Schlaukopf. Hat er aber nicht.« »Hast du schon was von den Medizinmännern gehört?« »Liegt dort auf dem Tisch.« »Was Besonderes? Hatte sie vorher Geschlechtsverkehr?« »Kann sein…« »Was heißt das?« »Vielleicht ja. Vielleicht nein.« »Wie…?« »Man hat keine direkten Spuren gefunden. Keinen Samen also. Nur Gleitmittel.« »Was…?« »Gleitmittel, mein Lieber. Noch nie was davon gehört? Sind dir Präservative ein Begriff…« »Danke, schon verstanden.« »Schon. Meinst du wirklich schon?«
»Du redest wirr, Willy. Deshalb darfst du jetzt nach Hause gehen. Und für morgen habe ich eine schöne Überraschung für dich…« »So? Was denn?« »Komm man brav ins Büro. Und dann nach unserer großen Besprechung mit den ganzen Kollegen und dem lieben Kriminalrat Strücker, gehen wir in die Kantine, stärken uns und dann geht die Post ab nach…« »Wohin?« »Das wird erst morgen verraten.« »Na denn gute Nacht Marie.« Die beiden Kollegen machten Feierabend.
14 Reinhardt Zerber fühlte sich wohl, als er erwachte. Diese zweite Nacht in Oldau hatte ihm wirkliche Ruhe gebracht. Die Nacht nach seiner Ankunft hatte er fast überhaupt nicht geschlafen und den darauffolgenden Tag hatte er im Hause verbracht. Aber jetzt, nach dieser zweiten Nacht fühlte er sich wohl. Sofort beim Erwachen hatte er gewußt, daß es ein guter Tag werden mußte. Er fühlte, daß sein Pessimismus über Nacht verschwunden war. Er war sich mit einem Mal sicher, ja absolut sicher, daß alles gut werden würde. Er streckte und wälzte sich im Bett vor Wohlbehagen. Diesen Tag wollte er genießen, und er nahm sich auch vor, alles noch einmal in Ruhe zu durchdenken, positiv zu durchdenken. Von draußen drang ein diffuses Morgenlicht in das Schlafzimmer des Hauses hinein, er blickte auf seine Armbanduhr und sah, daß es erst vier Uhr morgens war. Wie lange war es her, daß er so früh erwacht war. Er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht einmal als Kind? In irgendeinem
Urlaub? Als er womöglich krank war? Nein, beim besten Willen, er konnte sich nicht erinnern. Und das verstärkte seine gute Laune noch mehr. Es war ihm, als sei er zur Besinnung gekommen, als hätte er das tägliche Einerlei zum Stoppen gebracht. So war es doch gut gewesen, Ingrid so zu verlassen. Hier draußen war er zur Ruhe gekommen. Hier hatte er die Möglichkeit, alles gründlich zu durchdenken. Und dieser Morgen war auch so eine neue Erfahrung, die er im Alltagseinerlei nicht hätte machen können. Und so war es auch bei seinen Auseinandersetzungen mit Ingrid gewesen, immer die gleichen Abläufe, immer die gleichen Anschuldigungen, immer die gleichen Reden und Gegenreden. »Wir haben uns eben nur im Kreis gedreht«, sagte er zu sich selbst, »wir haben uns gar nicht die Möglichkeit gegeben, einmal alles von einer anderen Warte aus zu bedenken.« Dies war der Tag, wo er alles noch einmal durchdenken würde. Er schwang die Beine aus dem Bett und tappte ins Badezimmer. Ausgiebig gestaltete er seine Morgentoilette. Unter der Brause sang er sogar, und als er zum Abschluß sich mit eiskaltem Wasser abduschte, war er davon überzeugt, daß seine Schwierigkeiten eigentlich gar keine Schwierigkeiten waren. Ein einigermaßen gutwilliger Mensch mußte sie leicht aus dem Wege räumen können. Und er war wieder gutwillig geworden. Das Frühstück wurde zum zweiten Höhepunkt des jungen Tages, als er sich die erste Zigarette anzündete, kam ihm die Idee, einen Morgenspaziergang zu machen. Er schloß das Haus ab und streifte durch den Wald. Gerade als er die kleine Asphaltstraße überqueren wollte, sah er in einiger Entfernung ein kleines Licht auf sich zutanzen. Warum er es tat, wußte er eigentlich auch nicht, aber er ging zurück in den Wald und verbarg sich hinter einem dicken Baumstamm. Nach einem kleinen Moment drang das Surren eines Dynamos an sein Ohr,
und er wußte, daß das Licht zu einem Fahrradfahrer gehören mußte, der sich ihm näherte. Und richtig, einige Sekunden später radelte ein alter Mann an ihm vorbei. Reinhardt Zerber kannte ihn. Es war der Vater des Bauern, von dem er das Land, auf das er das Wochenendhaus gebaut hatte, gekauft hatte. Er beglückwünschte sich dazu, daß er der Begegnung aus dem Wege gegangen war, denn bestimmt hätte ihn der alte Mann mit einem morgendlichen Klönschnack aufgehalten. Und trotz der guten Stimmung, dazu hatte er keine Lust. Nach gut zwei Stunden kehrte er ins Haus zurück. Er räumte etwas auf, wusch das Geschirr ab und entschloß sich dann, in die nahe gelegene Kreisstadt zu fahren, um noch einige Dinge einzukaufen. Als er in der Kreisstadt eintraf, öffneten gerade die ersten Läden. Reinhardt Zerber fühlte sich den Menschen, die ihn unausgeschlafen und mit von der Nacht zerknitterten Gesichtern bedienten, überlegen. Was hatte er für einen wunderbaren Morgen verlebt. Fünf Stunden war er schon auf den Beinen und fühlte sich frisch und wohl. Als er sich die benötigten Dinge zusammengekauft hatte, besorgte er sich noch eine Tageszeitung und Zigaretten und kehrte dann in einem kleinen, sympathisch wirkenden Café zum zweiten Frühstück ein. Nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, blickte er sich um. Nur wenige Leute frühstückten in einer kleinen Stadt wohl außer Haus. Rechts in der Ecke lungerten vier Schüler herum und spielten Karten. Ein älterer, glatzköpfiger Mann, wohl ein Rentner und Witwer, mummelte gedankenverloren sein Frühstück in sich hinein, er sah nicht so aus, als hätte er noch viel Freude am Leben. Ganz anders war das bei dem jungen Liebespaar, das am Ende des Raumes sich ein verschwiegenes Plätzchen gesucht hatte. Sie hielten sich bei den Händen und ließen den Kaffee und die Frühstückseier kalt werden. Aus reiner Neugier schlug Reinhardt Zerber noch
einmal die Karte auf und richtig, zu dem Café gehörte ein ›Hotel garni‹. Ob das junge Paar hier vielleicht seine erste gemeinsame Nacht verbracht hatte? Als die Bedienung, adrett mit weißem Schürzchen und weißem Häubchen bekleidet, sein Frühstück brachte, lächelte er noch immer. So lächelte auch das junge Mädchen, als sie servierte. Mit gutem Appetit nahm er das zweite Frühstück ein, danach zündete er sich eine Zigarette an und schlug die Zeitung auf. Interessiert las er verschiedene Berichte, und so dauerte es gut zehn Minuten, bis er auf die Meldung stieß, die seine Welt mit ungeheurer Wucht in Stücke hieb. Es war nur eine kleine Meldung, in der stand, daß eine Ingrid Z. tot in ihrer Wohnung in der Werner-von-Siemens-Straße in Hannover aufgefunden wurde, vermutlich getötet durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Schlag auf den Hinterkopf. Reinhardt Zerber sah, wie seine Frau, von ihm gestoßen, zurücktaumelte, gegen die Heizung schlug. Abrupt stand er auf, das Geschirr schepperte, als er beim Aufstehen mit dem Knie gegen den Tischrand stieß. Auf der Toilette erbrach er sich. Er hatte seine Frau getötet. Er, er war ein Mörder. Das Gesicht, daß ihn aus dem Spiegel heraus anstarrte, war kalkweiß. »Geht es Ihnen nicht gut, mein Herr?« Die Bedienung stand neben seinem Tisch, als er zurückkehrte. »Doch, doch. Ich möchte zahlen.« Er bemerkte, wie ihn der Rentner interessiert anstarrte. Die Schüler und das Liebespaar waren schon wieder mit sich selbst beschäftigt. Aber der Rentner hatte endlich seine Ablenkung. Hastig zahlte Reinhardt und nahm die Morgenzeitung mit. Als er die Tür gerade erreicht hatte, ließ ihn die Stimme des Rentners innehalten. »Wollen Sie die anderen Sachen hier stehen lassen…?«
Die Einkaufstüte, durchfuhr es ihn, er hatte sie unter dem Tisch stehen lassen. »Oh, ja, vielen Dank. Ich hätte sie vergessen…« Reinhardt Zerber drehte sich um und ging zu dem Tischchen zurück. Er versuchte sich zu beherrschen, so gut es ging. Unverwandt und voll unverhohlener Neugier musterte ihn der Rentner. Er nahm die Plastiktüte auf, drehte sich um und sagte zu dem alten Mann: »Vielen, vielen Dank. Ich hätte sie glatt vergessen…« »Das sagten Sie bereits schon einmal, junger Mann. Ich glaube es Ihnen.« Jetzt erst drehte der Mann sein Gesicht weg und schenkte sich Kaffee nach. Ohne ein weiteres Wort verließ Reinhardt Zerber das Café und eilte zu seinem Wagen. Benommen fuhr er sich über das Gesicht, dann startete er den Motor und fuhr ziellos aus der Stadt. Er war ein Mörder. Nein, er war kein Mörder. Er hatte doch seine Frau nicht umbringen wollen. Er hatte noch nicht einmal vorgehabt, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Es hatte sich doch so ergeben. Sie war es doch, die auf ihn zugestürmt war, die ihn zu halten versucht hatte. Gut, sie hatten einen Streit gehabt, und er wollte die Wohnung verlassen, seine Frau aber wollte ihn daran hindern… Und die Polizei, wie würde sie den Fall sehen. Wie wollte er beweisen, daß es ein Unglücksfall war. Niemand hatte ihn gesehen, das war der rettende Gedanke. Niemand wußte, daß er in der Wohnung gewesen war. Offiziell war er auf Reisen. Nein, er würde sich ruhig verhalten. Das war besser so, denn immer klarer wurde es ihm, er war nicht ohne Schuld. Wie war das doch noch gewesen, er hatte sie zurückgestoßen, und in seiner Wut hatte er sie gern zurückgestoßen, so war es
gewesen, es war ihm gleichgültig gewesen, ob sie sich dabei weh tat oder nicht. Und wenn einem etwas gleichgültig ist, dann nimmt man es in Kauf… Das war es, das war die grausige Wahrheit. In seiner Wut und in seiner Enttäuschung war er gewalttätig gewesen. Noch zwei Stunden fuhr er ziellos umher, holte sich bei zwei weit voneinander entfernt liegenden Banken Geld, warum er das tat, hätte er nicht beantworten können. Erst am frühen Nachmittag kehrte er zum Wochenendhaus zurück. Er fuhr den Wagen einige hundert Meter vorher in den Wald und schlich zum Haus. Nein, niemand wartete auf ihn. Er holte den Wagen und parkte ihn hinter dem Haus. Als er das Haus betrat und die gekauften Sachen verstaute, wurde ihm bewußt, daß er sich schon wie ein Verbrecher benahm. Nachdem er die Arbeit getan hatte, setzte er sich an den kleinen Küchentisch, stützte die Arme auf und legte seinen Kopf in die Hände. Was sollte er nun machen? Wie sollte er sich verhalten? War es richtig, noch ein, zwei Tage im Wochenendhaus zu bleiben, dann nach Hause zurückkehren und alles Weitere dann auf sich zukommen lassen? War es denn nicht viel besser, zur Polizei zu gehen und sich…? Er schüttelte den Kopf. Warum denke ich schon, ich sollte mich stellen? Wie komme ich darauf? Ich wollte doch Ingrid nicht töten? Oder etwa doch? Die Verwirrung schnürte ihm die Luft ab, er glaubte ersticken zu müssen. Es war doch ein Unglücksfall. Das mußte man ihm doch glauben. Aber konnte man es ihm denn überhaupt glauben? Wie würde er denn vor der Polizei dastehen, wenn sie ihn fragten, warum er nach dem Stoß fluchtartig die Wohnung verlassen hatte? Nein, das konnte er nicht erklären. Oder besser gesagt, er konnte es schon erklären, aber niemand würde es ihm glauben. Seine Erklärung würde ihn doch in den Augen der Polizei eher noch
mehr in Schuld verstricken. Die Ehefrau so heftig und brutal zurückschleudern, daß sie gegen die Heizung knallt und dann seelenruhig die eigene Wohnung verlassen, weil man mit der Ehefrau nicht mehr diskutieren will. »Eine seltsame Auffassung von Diskussion haben Sie ja, Herr Zerber, das muß ich sagen«, hörte er schon den vernehmenden Beamten höhnisch rufen, »war es nicht doch eher so, Herr Zerber, daß Sie mit Ihrer Frau eine tätliche Auseinandersetzung hatten, sie zurückschleuderten – gegen die Heizung. Und als Sie bemerkten, was Sie angerichtet hatten, da ließen Sie Ihre Frau schwer verletzt liegen und flohen? War es nicht so, Herr Zerber?« »Nein. Nein. So war es ganz bestimmt nicht«, hörte er sich in die ungläubigen Gesichter der Polizisten schreien, »vielleicht habe ich meine Frau etwas zur Seite geschubst, was dann passierte, das kann ich nicht wissen, weil ich die Wohnung verließ…« »Einfach so?« »Ja, einfach so. Ich meine natürlich, nicht einfach so, sondern ich wollte mit meiner Frau nicht mehr reden, sie hielt mich fest…« »Ach, Ihre Frau hielt Sie fest? Also hatten Sie Angst vor Ihrer Frau und haben aus Notwehr gehandelt?« »Nein, natürlich nicht… Ich…« »Herr Zerber, nun seien Sie doch nicht verstockt, nun sagen Sie uns doch bitte die Wahrheit. Sie werden sich auch ganz bestimmt viel besser hinterher fühlen. War es denn nicht so, daß Sie Streit mit Ihrer Frau hatten, daß sich der Haß immer mehr bei Ihnen auflud, daß Sie vor Wut nicht mehr ein noch aus wußten, bis Sie auf einmal Ihre Frau angriffen und sie er…?« »Nein. Nein. Nein«, würde er schreien, und keiner würde es ihm glauben.
Immer tiefer verstieg sich Reinhardt Zerber in diese Gedanken. Immer einsichtiger wurde ihm, daß es für ihn unmöglich war zu beweisen, daß er seine Frau nicht hatte umbringen wollen. Sie würden es ihm nicht glauben, nein, sie konnten es ihm auch nicht glauben. Es gab keine Zeugen, seine Frau war tot, und da sollten sie ausgerechnet ihm Glauben schenken? Warum sollte die Polizei das wohl tun? Nicht einmal ihm fiel dafür ein stichhaltiger Grund ein. Das Telefon klingelte. Er schreckte hoch und glaubte, er habe sich verhört. Aber da schlug es schon wieder an. Und dann noch einmal. Wer konnte das sein? Sollte er an den Apparat gehen? Das Telefon gab keine Ruhe, es klingelte immer weiter. Wußte der Anrufer, daß er da war? Er hob ab. »Ja, bitte?« Es war ein seltsames Scheuern in der Leitung, so als ob der Teilnehmer am anderen Ende etwas an der Sprechmuschel rieb, dann meldete sich eine verzerrte Stimme. »Herr Zerber, ich wollte Ihnen nur sagen, daß die Polizei Sie besuchen kommen will. Ich schätze, in gut einer Stunde wird sie da sein.« »Hallo, wer spricht denn da?« »Das ist doch uninteressant, Herr Zerber. Wichtig ist nur, daß Sie wissen, die Polizei kommt. Vielen Dank.« Und dann war da ein Knacken in der Leitung und es gab keinen Zweifel darüber, daß der Anrufer eingehängt hatte. Trotzdem behielt Reinhardt Zerber noch eine Weile den Telefonhörer am Ohr. Endlich hängte auch er ein. Benommen fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, mit einem Mal begannen seine Schläfen wie wild zu pochen. Er preßte seine Hände an die Stellen, wo es so teuflisch schmerzte, aber es half nichts. Benommen ließ er sich wieder auf den Küchenstuhl sinken. Die Stimme. Die Stimme da am Telefon, sie kam ihm
so bekannt vor. Obwohl der Anrufer sich bemüht hatte, seine Stimme zu verstellen, glaubte Reinhardt Zerber die Stimme des Anrufers erkannt zu haben. Es war die Stimme seines Bruders. Er war sich sicher. Ja, er war sich sogar absolut sicher. Nur, warum sollte sein Bruder hier anrufen? Woher wußte sein Bruder überhaupt, daß er hier war? Natürlich war bekannt, daß er jede seiner freien Minuten am liebsten im Wochenendhaus verbrachte, aber… Ich werde schon gesucht, natürlich, die Polizei sucht mich. Ingrids Tod war ja entdeckt, also geht die Polizei nach dem Mörder auf die Suche. Verhöre, die Hausbewohner, die Familie werden befragt. Wer könnte der Mörder sein? Waren sie also doch schon auf ihn gekommen? Ob ihn vielleicht doch ein Hausbewohner, ein Nachbar gesehen hatte? So mußte es gewesen sein. Und der Bruder, vielleicht hatte er durch die Polizei davon gehört und glaubte nun, dem eigenen Bruder helfen zu müssen. Wie sagte man doch noch, Blutsbande sind stärker als die dicksten Taue? Oder so ähnlich? Und mit einem Mal kam so etwas wie Ruhe über Reinhardt Zerber, er dachte an seinen Bruder, der ihn warnen, ihm helfen wollte, und er spürte dadurch so etwas wie Hoffnung in sich. Und genauso plötzlich, wie ihm der Schmerz in die Schläfen gefahren war, verschwand er auch wieder. Reinhardt Zerber stand auf und begann das kleine Haus in Ordnung zu bringen. Er wusch das benutzte Geschirr ab, packte den Müll in eine Plastiktüte, nahm seine Sachen aus den Schränken und stopfte sie in seinen Koffer, räumte alles weg, was herumlag, verstaute sein Bettzeug in der Truhe und zog das Bett ab. Er arbeitete überlegt und schnell, und als er das Haus verließ, machte es einen unbewohnten Eindruck. Er fuhr den Wagen vor, packte alles in den Kofferraum und versteckte den Wagen etwa zwei Kilometer entfernt im Wald. Dann schlich er sich zum Haus zurück. Auf dem Steinweg, der zum
Haus führte gab es natürlich keine Reifenabdrücke vom Wagen, nur hinter dem Haus, wo es ungepflastert war. Er vernichtete die Reifenspuren gründlich mit einem Ast und wunderte sich darüber, an was er alles dachte. Dann verbarg er sich in sicherer Entfernung im Wald und beobachtete das Haus. Der Anrufer hatte sich nicht getäuscht. Die Polizei kam. Und selbst die Zeit stimmte in etwa. Zuerst hörte er das näher kommende Motorengeräusch, und dann sah er einen Zivilwagen, einen Audi mit hannoverschem Kennzeichen und auffälliger Funkantenne, auf das Haus zufahren. Zwei Beamte stiegen aus, gingen auf das Haus zu und klopften an die Eingangstür. Als sich nichts rührte, umkreisten sie das Haus, sahen durch jedes Fenster, sprachen miteinander und sahen wieder durch jedes Fenster. Reinhardt Zerber konnte von dem, was da gesprochen wurde, nichts verstehen. Nur einmal glaubte er den Namen ›Willi‹ verstanden zu haben, mehr aber auch nicht. Dann stiegen die Männer wieder in ihren Wagen. Der ganze Spuk hatte vielleicht zehn Minuten gedauert, mehr nicht. Der Wagen entfernte sich, und dann verklang auch das Motorengeräusch. Reinhardt Zerber blieb noch über eine Stunde in seinem Versteck, dann ging er quer durch den Wald zur Straße. Aber auch da wartete kein Polizeiauto, da war keine Gefahr mehr. Er entschloß sich dazu, seinen Wagen im Versteck zu lassen und holte sich nur ein paar wichtige Sachen. Als er dann wieder am Küchentisch saß, den Kopf in die Hände gestützt, wußte er, daß er am Abend kein Licht machen würde, daß er die Eingangstür abgeschlossen lassen würde und wenn nötig, durch das Küchenfenster in den Wald hinein zu fliehen. Das alles wußte er, ansonsten war er ratloser als je zuvor.
TEIL III
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit, Klingt ein Lied mir immerdar; O wie liegt so weit, o wie liegt so weit, Was mein einst war! Friedrich Rückert Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein. Ferdinand Jakob Raimund
15 Nein, Burkhardt Zerber erschrak nicht bei seinen Gedanken. Zu sehr war er in ihnen schon eingesponnen, zu heftig hatte er sich in den letzten Tagen und Stunden nur um einen einzigen Punkt gedreht, immer und immer wieder, schadlos aus dieser Situation herauszukommen. Er wußte, was er wollte. Vor allen Dingen wollte er keinen Fehler machen. Und dazu mußte er wissen, was die anderen wissen und was sie vorhatten. Die Untersuchung hatte er in Gang gebracht, und deshalb mußte er jetzt dafür sorgen, daß alles den Gang nahm, den er wollte. Aber es gab da einen Punkt, einen entscheidenden Punkt, über den er keine Gewißheit hatte. Wußte sein Bruder von dem Verhältnis mit Ingrid? Es war diese Frage, die in den letzten
Stunden übermächtig von ihm Besitz ergriffen hatte, sie zermarterte sein Gehirn und ließ ihm keine Ruhe. Die geschäftliche Besprechung, die er gerade mit Ach und Krach zu Ende gebracht hatte, hatte ihn viel Energie gekostet. Nur unter äußerster innerer Anstrengung war es ihm gelungen, sich einigermaßen auf das Hin und Her der Verhandlung zu konzentrieren. Und es war mehr als einmal vorgekommen, daß seine Gesprächspartner eine Frage wiederholen mußten, weil er den Anschluß verpaßt hatte. Und es schien ihm auch so, daß diese merkten, daß er nicht konzentriert war und seine Gedanken weit, weit weg waren. Nach der Verhandlung hatte er sich schnell verabschiedet und war zu seinem Wagen gelaufen, nur um endlich mit seinen Gedanken allein sein zu können, und hatte sich auf den Rückweg zu seinem Büro gemacht. Aber dann, in der Stadt hatte er sich dazu entschlossen, doch noch nicht ins Büro zurückzufahren. So fuhr er schon einige Zeit ziellos durch die Stadt. Fuhr einmal links und einmal rechts herum, gerade so wie es sich ergab. Wußte Reinhardt von seinem Verhältnis mit Ingrid? Burkhardt Zerber war sich darüber vollkommen im klaren, daß von dieser Frage alles abhing. War es nicht so, daß Reinhardt, wenn er es von Ingrid erfahren hätte, sich sogleich wutentbrannt bei ihm hätte melden müssen, um Rechenschaft zu verlangen, aber statt dessen war er ins Wochenendhaus gefahren. Ja, das war es. Der Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß, elektrisierte ihn. Ja, so mußte es sein. Bei kühler Überlegung gab es keine andere Möglichkeit. Reinhardt hat mit seiner Frau eine Auseinandersetzung über ihre Ehe und sie sagt ihm, daß sie sich trennen will. Und er, Reinhardt, zieht sich ins Wochenendhaus zurück. Natürlich, so mußte es sein, das paßte haargenau zu Reinhardt. Warum sollte Ingrid ihrem Mann
auch von ihrem Verhältnis mit dem Schwager erzählen? Es gab doch keinen Grund dafür, zumindest zu dem Zeitpunkt nicht. Wenn sie vorgehabt hatte, ihn, Burkhardt, damit unter Druck zu setzen, dann würde sie doch ihren Trumpf nicht gleich aus der Hand geben und ihrem Mann alles erzählen. Dann wäre doch das Spiel gelaufen gewesen, sie hätte ihre Rache nicht richtig auskosten können, aber vor allen Dingen war sie sich bestimmt bewußt gewesen, daß sie damit auch die kleinste Chance zerstört hätte, mit ihm zusammenleben zu können. Burkhardt Zerber fühlte sich mit einem Mal befreit, der Ring, der sich in den letzten Stunden fest um seine Brust gepreßt hatte, begann sich langsam zu lösen. Jetzt gab es endlich wieder eine feste Plattform, eine Plattform, von der aus er bestens agieren konnte. Weit über den anderen stehend, mit dem Überblick auf das ganze Geschehen, konnte er zu seinen neuen Zügen ansetzen, die die Angelegenheit weiter in die Richtung brachte, die er wollte. Alle tappten im Dunkel, und er hielt das Licht. Das Bild begeisterte ihn, und er war es, der einmal hier und einmal dort einen kurzen Lichtschein aufflammen ließ, damit die anderen das sehen konnten, was sie sehen sollten. Burkhardt Zerber parkte seinen Wagen und schlenderte zu einem Café, er bestellte sich ein Kännchen Kaffee und einen Cognac. Als die Getränke kamen, und er die ersten Schlucke genommen hatte, da wurde ihm bewußt, daß dieser Kaffee und dieser Cognac das erste waren, was er wieder genoß. Seit dem Mord hatte er keine Ruhe gehabt, sein Denken war vollkommen aus den Fugen geraten, und er war sich immer klarer darüber geworden, daß er, wenn er sich nicht selbst zur Ruhe bringen könnte, wenn er es nicht schaffte, seine Gedanken in Ordnung zu bringen, die größte Gefahr für sich selbst darstellte.
Und sein Kopf hatte erstklassige Arbeit geleistet. O ja, das hatte er. Er hatte es geschafft, die widerlichen Bilder vom Kerzenleuchter, der auf Ingrids Kopf niedersauste, wegzudrücken. Er hatte es geschafft, das Blut, Ingrids Blut, wegzuwischen. Ja, sein Kopf hatte ganze Arbeit geleistet und begonnen, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Und wesentlich war es nicht, die Tat, an der es nichts mehr zu ändern gab, zu bejammern, sondern aus der Situation ungeschoren herauszukommen. Und auch da leistete der Kopf von Burkhardt Zerber erstklassige Arbeit, so wie ein Maler, der auf der jungfräulichen Leinwand die ersten Pinselstriche zieht, die dann irgendwann zusammen mit den vielen anderen das Bild ergeben, so entwarf er erst zart, dann immer kräftiger für Burkhardt Zerber das geeignete Bild des Mörders: sein eigener Bruder. Es fügte sich alles zusammen, wunderbar leicht und einfach. Und immer wieder durchdacht, ließ sich doch keine undichte Stelle entdecken. Nein, sein Bruder war der geeignete Mörder. War es nicht so, daß er mit seiner Frau eine Auseinandersetzung gehabt hatte und sie sogar geschlagen hatte? Lag sie nicht, als ihr Geliebter zum zweiten Mal kam, ganz benommen am Boden? Und war es nicht so, daß ihr Mann sich nach der Auseinandersetzung im Wochenendhaus vergraben hatte? Ja, so war es. Und damit hatte die Geschichte das Zeug dazu, zu einem Ehedrama mit tödlichem Ausgang ausgebaut zu werden. Denn schließlich wußte niemand etwas von der Rolle, die Burkhardt Zerber in diesem Stück spielte. Er war im Programmzettel nicht ausgedruckt, und niemand wußte von ihm. Und jetzt, wo der erste Akt des Dramas schon über die Bühne gegangen war, da brauchte man ihn nicht mehr, und er konnte sich auf den unsichtbaren Posten des Regisseurs zurückziehen. Präzise knüpfte sein Kopf ein Fädchen nach
dem anderen zusammen und so entstand langsam ein Netz, das ihn halten würde. Burkhardt Zerber bestellte sich einen zweiten Cognac und blinzelte in die grelle Sonne. Jetzt kam es nur auf ihn an, jeder Schritt mußte sorgfältig bedacht sein, mußte der beste aller möglichen sein. Und sein Bruder? Der würde schon mitspielen. Der mußte doch mitspielen. Steckte er nicht eigentlich schon so in der Falle? Hatte er nicht einfach eine Geschäftsreise vorzeitig beendet, um sich mit seiner Frau auszusprechen? Darauf würde die Polizei doch sehr schnell stoßen, und ist es nicht sowieso so, daß der Ehemann zuerst verdächtigt wird? Wenn die Polizei ihn erst einmal in der Mangel hatte, würde sich dann nicht bei allen diesen Ungereimtheiten die Figur seines Bruders fast schon automatisch als Mörder anbieten? Als er seinen Bruder anonym vor dem Besuch der Kripo warnte, hatte er es nur getan, um Zeit zu gewinnen. Jetzt allerdings erwies sich aus einem ganz anderen Grunde, wie gut der Warnanruf in das Konzept paßte. Würde die Kripo seinen Bruder erwischen, dann würde auch irgendwann zur Sprache kommen, daß er sich vor der Polizei versteckt hatte. Und diese weitere Ungereimtheit würde ihn noch ein Stückchen tiefer in den Abgrund ziehen, wäre ein weiteres Teilchen in dem Belastungspuzzle. Aus diesem Gespinst von Halbwahrheiten – würde sich sein Bruder daraus befreien können? Nein, denn er hatte doch selbst fleißig an diesem Gespinst mitgewebt. Warum war er denn abgehauen, als die Polizei zum Wochenendhaus kam? Doch nur, weil er glaubte, etwas, nämlich sich, verbergen zu müssen. Weil er sich schuldig fühlte? Konnte es nicht so sein, daß nicht nur die Polizei ihn verdächtigte, sondern er sich auch selbst? Bei diesem Gedanken war es Burkhardt Zerber, dort in diesem Café bei Cognac und Kaffee, als hätte er den Stein des
Weisen gefunden. Er kam sich wie ein Schiffbrüchiger vor, dem auf dem weiten Meer auf einmal ein intaktes, leeres, mit Süßwasser und Lebensmitteln ausgerüstetes Schlauchboot entgegenkommt. Es war doch möglich, daß Reinhardt davon überzeugt war, Ingrid sei durch seine Schläge gestorben. Wie auch immer, das lag doch so unheimlich nahe. Reinhardt wußte nichts von der Liebschaft seiner Frau mit seinem eigenen Bruder, ja, da ergab sich ein Bild. Und auf einmal wußte Burkhardt Zerber, was er zu tun hatte. Er würde zu seinem Bruder, dem Mörder, fahren, mit ihm sprechen und ihm das unter Brüdern Selbstverständlichste von der Welt anbieten, seine Hilfe. Ja, er würde seinem Bruder, dem Mörder, helfen, vor der Polizei zu fliehen.
16 Hatte diese zweite Befragung im Hause der Zerbers überhaupt Sinn? Bisher hatte Christian Bergmeyer nichts Neues in Erfahrung bringen können. Die alte Harms hatte genauso dumm herumgeredet, wie es Weißgerber vorgemacht hatte, und auch die anderen Mieter waren nicht ergiebig. Jetzt blieb nur noch die Frau Bechtle im Parterre rechts übrig, vielleicht wußte sie ja etwas. Er klingelte, und sofort wurde die Tür geöffnet, die Frau sagte allerdings nicht etwa ›ja, bitte?‹ sondern: »Sie sind von der Polizei, nicht?« »Ja, woher wissen Sie…« »Ich hab’ Sie mit Ihrem Wagen kommen sehen, der hat ja so eine ungewöhnlich lange Antenne. Funk, nicht…?« »Ja, Funk.« »Und dann natürlich das Nummernschild. So etwas fällt auf.« »Ja, das fällt auf.«
»Dann kommen Sie mal rein, junger Mann.« Die alte Frau machte den Weg frei, und Christian Bergmeyer betrat die Wohnung. Es war dunkel und es roch muffig, nach Mottenpulver und abgestandenem Essen. »Kommen Sie in die Stube.« Das, was die Frau ›Stube‹ nannte, war bis auf den letzten Fleck mit alten Möbeln vollgestellt. Breite wuchtige Sessel, ein riesiger Tisch vor einem riesigen Sofa. Dazu eine riesige Anrichte mit einem uralten, riesigen Radio. Alles, was in dem Zimmer stand, war gut zwei Nummern zu groß für eine Wohnung solchen Zuschnitts. Dafür war die Frau etwas kleiner, im Alter und in Ehren geschrumpft. Mit einem lauten Seufzer ließ sie sich in einen der Sessel plumpsen. »Nehmen Sie Platz.« »Vielen Dank«, antwortete Christian Bergmeyer und ließ sich ebenfalls in einen der riesigen Sessel plumpsen. Verflucht bequem saß man allerdings in diesen vorsintflutlichen Dingern. »Ja, das ist noch bequemes Sitzen, junger Mann. Meinen Sie nicht auch?« »Bestimmt. Das muß ich sagen. Wirklich bequem.« »Und hübsch. Das Auge gewöhnt sich daran. Aber die Menschen von heute haben keinen Blick mehr für die wirklich schönen Dinge. Hier, in diesen Möbeln«, sie schlug heftig mit der Hand gegen die Armlehne, »da steckt noch Arbeit drin und Liebe. Vor allen Dingen Liebe. Schauen Sie sich mal die heutigen Möbel an, da steckt noch nicht einmal mehr Holz drin. Geschweige denn Arbeit und Liebe.« »Ja, das mag wohl stimmen.« »Aber sicher sind Sie nicht deswegen gekommen«, die alte Frau gab einen kichernden Laut von sich. »Nein, eigentlich…«
»Lassen Sie es gut sein. Ich weiß schon Bescheid. Bevor Sie mir aber die gleichen Fragen stellen, wie Ihr Kollege, beantworten Sie mir eine Frage.« »Sehr gerne.« »Was passiert mit einem Menschen, der im Zusammenhang mit einer Straftat etwas beobachtet hat, und es nicht berichtet.« »Nun, wer Tatsachen für sich behält und nicht an die Polizei…« »Kann derjenige bestraft werden?« »Natürlich. Unter Umständen sogar kräftig.« »So, so. Und wenn man glaubt etwas beobachtet zu haben, was sich später allerdings als nicht ganz zutreffend erweist…« »In einem solchen Falle käme es darauf an…« »Könnte man da bestraft werden…« »Nur, wenn derjenige vorsätzlich, also bewußt, falsche Informationen weitergibt.« »So, so. So ist das also. Na ja, also gut – der Schwager kam zu häufig zu Frau Zerber.« »Was, wer?« »Ich sagte, der Bruder von Herrn Zerber, also der Schwager von Frau Zerber, kam zu häufig zu Besuch. Jedenfalls häufiger als schicklich, wenn der Ehemann nicht im Hause ist.« »Donnerwetter. Sie meinen also…« »Ich meine nichts. Ich habe eine Beobachtung gemacht. Das, was ich beobachten mußte, finde ich nach dem, wie ich erzogen wurde, nicht in Ordnung…« »Ich verstehe… Warum haben Sie das nicht schon meinem Kollegen erzählt?« »Ja, mein Gott. Wie stellen Sie sich das vor. Der kommt hier rein, erzählt mir von einem Mord hier im Hause, unter dem Dach, wo ich lebe und will mich befragen. In meinem Kopf hat es sich nur so gedreht, es war wie bei einer Karussellfahrt. Für mich war das ein Schock, das mußte ich erst verarbeiten. Wenn
Sie jetzt nicht gekommen wären, dann hätte ich bestimmt bei der Polizei angerufen und um einen nochmaligen Besuch gebeten. Das erübrigt sich ja jetzt.« In aller Ruhe sprach Christian Bergmeyer die Beobachtung mit der Frau Bechtle durch, dann kniffte er seinen Notizzettel und steckte ihn in die Tasche. »Heute im Laufe des Tages, oder am morgigen Tag schicke ich Ihnen einen Beamten vorbei. Bitte, erzählen Sie ihm das alles noch einmal ganz ausführlich. Er wird es zu Protokoll nehmen.« »Ihr Kollege soll ruhig kommen, junger Mann, ich habe nichts zu verbergen.« Mit diesen Worten verabschiedete sie ihn und schloß die Tür. Draußen am Wagen sah er auf die Uhr und erschrak, er mußte zurück ins Präsidium, denn in einer knappen Viertelstunde begann die routinemäßige Pressekonferenz, und Kriminalrat Strücker konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn seine leitenden Mitarbeiter und die ermittelnden Kommissare nicht anwesend waren. Als er den Konferenzraum betrat, kümmerte sich niemand um ihn. Strücker und auch Weißgerber waren noch nicht anwesend. Die Journalisten hatten sich in kleine Grüppchen aufgeteilt und debattierten. Wohl aber über Politik, denn so ein aufregendes Pflaster ist Hannover nicht. Christian Bergmeyer ging zu seinem angestammten Stuhl, die Sekretärin hatte offensichtlich die getippte Pressenotiz schon gebracht, denn ein Haufen fotokopierter Blätter lag bereits an seinem Platz. Er legte seine Zigaretten und das Feuerzeug dazu, nahm aus der Jackentasche den Zettel mit den Notizen, die er sich bei Frau Bechtle gemacht, und legte ihn, schön geglättet, auf den Stapel Papiere. Er wollte ihn gleich Strücker zeigen, damit der sah, daß sich doch etwas in dem Fall tat.
Daraufhin verließ er wieder den Raum, um die Toilette aufzusuchen. Als er in den Konferenzsaal zurückkehrte, sah er Weißgerber und Strücker. Sie standen an seinem Platz und unterhielten sich mit einigen Zeitungsleuten. Der Reporter Kai Werner saß auf Bergmeyers Platz und ließ lässig die Beine über die Armlehne baumeln. Die Pressekonferenz begann und endete routinemäßig, es gab keine besonderen Vorfälle. Auf die Idee, daß der Reporter Kai Werner aufmerksam seine Aufzeichnungen zur Aussage von Frau Bechtle gelesen hatte, kam Christian Bergmeyer nicht. Es wurde ihm noch nicht einmal bewußt, als die Zeitung am nächsten Morgen mit der Schlagzeile ›Kam der Schwager zu oft?‹ aufmachte. Erst viel später erfuhr Christian Bergmeyer von Frau Bechtle, daß ja sogar zwei Leute dagewesen wären, um das Protokoll aufzunehmen. Der eine war besonders nett, denn er zahlte ihr sogar ein Informationshonorar von einhundert Mark. Aber die richtige Bombe, die platzte erst am nächsten Morgen. Als Christian Bergmeyer sein Büro betrat, blickte ihn Weißgerber lächelnd an: »Christian, Christian, du mußt ein glücklicher Mensch sein.« »Warum.?« »Weil die Menschen sich nach dir sehnen und deine Gegenwart wollen.« »Was…?« »Hast du denn schon die Morgenzeitung gelesen?« »Nein… sollte ich?« »Natürlich.« »Wo ist sie?« »Hier.« Willy Weißgerber warf seinem Kollegen das zusammengefaltete Blatt zu, als Bergmeyer die Schlagzeile las, da pfiff er durch die Zähne und sagte:
»Au, du meine Fresse. Der Junge hat gut gearbeitet und die alte Bechtle… hat ihm also auch alles erzählt.« »Nun ist das Kind im Brunnen, Christian.« »Nein, wieso?« »Na, Strücker tobt sich dumm und dämlich, weil du die Information weitergegeben hast…« »Hab’ ich nicht, der Alte hat ja einen an der Waffel. Das kann der sich doch an den fünf Fingern einer Hand abzählen, daß ich so eine Zeugenaussage nicht gleich brühwarm an die Presse weitergebe. So was Blödes überhaupt nur zu denken, mein Gott, was gehört…« »Christian, versündige dich nicht.« »Hast recht, Willy. Soll ich zu Strücker kommen?« »Nein, später. Er ist jetzt außer Haus.« »Aber ein anderer Herr wartet sehnsüchtig auf dich, um aus dir Hackfleisch zu machen.« »Wer denn?« »Burkhardt Zerber…« »Ach ja, natürlich. Da hätte ich auch von allein drauf kommen können. Und nun?« »Er ist in seinem Büro, hat schon zweimal hier angerufen und gepöbelt…« »Dann fahr’ ich doch gleich mal hin. Wollte mich sowieso mit dem Herrn unterhalten. Warum nicht gleich, nicht, Willy?« »Mach man, wenn er wieder anruft, sage ich ihm, du seist unterwegs. Dann kann er sich wenigstens schon warm laufen.« »Sei’s drum, Willy, mach’s gut, bis später.«
Und wieder war es das gleiche Spiel. Die Sekretärin holte ihn am Fahrstuhl im dritten Stock ab und führte ihn ins Büro von Burkhardt Zerber. Allerdings, die Begrüßung – sowohl von der Sekretärin als auch vom Juniorchef der Schröder-Werke – war
frostig, und es wurde auch nicht liebenswert danach gefragt, ob vielleicht Kaffee gereicht werden solle. Kaum hatte er das Zimmer betreten, da war die Mitarbeiterin auch schon verschwunden und hatte lautlos die Tür hinter sich geschlossen. »Das werden Sie bereuen, Herr Bergmeyer.« Burkhardt Zerber stand da mit geballten Fäusten, die er auf die Schreibtischplatte stützte, und sah ihm entgegen. »Was werde ich bereuen?« »Daß Sie diese infame Lüge in die Zeitung gesetzt haben.« Mit der rechten Faust hieb er nun auf die Platte, und der Kommissar erkannte, daß der Mann vor sich die Morgenzeitung liegen hatte. »Ich habe nichts in die Zeitung setzen lassen…« »Wer denn? Wenn ich fragen darf?« »Ich weiß es nicht.« »Natürlich. Natürlich, das wissen Sie nicht. Aber damit kommen Sie bei mir nicht durch. Ich… ich… werde Sie fertig…« »Ist das eine Drohung?« Langsam hatte Christian Bergmeyer das aufgeblasene Gehabe satt, er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und machte es sich in einem der Sessel bequem. Er nahm dabei bewußt in Kauf, daß Burkhardt Zerber auf ihn herabsah, allerdings schaute er dafür in eine andere Richtung, so daß er nicht zu dem Mann aufschauen mußte. Und es klappte, Burkhardt Zerber kam um den Schreibtisch herum und setzte sich ebenfalls, dadurch reduzierte er sich auf ein erträgliches Maß. »Nein, drohen tue ich Ihnen nicht. Aber ich lasse auch nicht ungeschoren solche Dinge mit mir tun. Und wenn es in diesem Land noch ein Recht gibt, dann…«
»Sicher gibt es bei uns ein Recht. Aber darüber wollen wir doch jetzt bestimmt nicht diskutieren? Oder? Was haben Sie denn wirklich auf dem Herzen?« »Also, das ist doch…« Burkhardt Zerber blieb regelrecht die Luft weg. »Sie haben da etwas über mich in die Zeitung…« »Ich sage Ihnen jetzt zum zweiten und letzten Mal daß diese Information nicht von mir ist. Nehmen Sie das gefälligst zur Kenntnis. Wenn Sie es nicht tun, dann gehe ich.« Der Mann sah ihn aus wuterfüllten Augen an: »Woher ist sie?« »Viel wichtiger erscheint mir die Frage, welchen Wahrheitsgehalt die Information hat?« »Keinen. Absolut keinen. Sie ist infam, ist Lüge und zerstörerisch…« »Wie?« »Dazu müßten Sie die Familie kennen, in die ich hineingeheiratet habe…« »Ich kann es mir denken.« »Nichts können Sie sich denken, sonst würde in Ihrem Hause nicht zu schluderig mit Verleumdungen umgegangen werden…« »Hören Sie auf, sich so aufzublasen…« »Was…?« »Ja, Sie haben richtig gehört, und nun hören Sie weiter gut zu. Richtig ist, daß wir auch im Besitz dieser Information sind, aber der Informant muß sie auch an die Presse weitergegeben haben. Bedauerlich, aber nicht mehr zu ändern. Interessant ist also nur, ob Sie tatsächlich zu häufig bei Ihrer Schwägerin waren?« »Nein, niemals. Ich kann das beweisen.« »So, wie denn? Ihre Schwägerin ist tot und Ihr Bruder soll ja nicht zugegen gewesen sein. Also?« »Sie… Sie…«
»Wie wollen Sie es beweisen?« »Ich bin glücklich verheiratet…« »Ob das ausreicht?« »Ja, verdammt noch mal…« »Ihre Familie scheint nicht davon überzeugt zu sein?« »Wie… wie kommen Sie darauf?« »Sie sagten doch vorhin…« »Lassen Sie das meine Sorge sein. Es geht Sie nichts an.« »Bitte, wenn Sie meinen. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich jetzt gehe. Mir scheint, es wird sich kein neuer Gesichtspunkt ergeben. Denn Sie bleiben doch dabei, daß Sie Ihre Schwägerin nicht zu häufig besucht haben, wenn Ihr Bruder unterwegs war?« »Ich habe meine Schwägerin nicht einmal ohne meinen Bruder getroffen.« »Können wir das so zu Protokoll nehmen, Herr Zerber?« »Ja, das können Sie. Aber nehmen Sie auch zu Protokoll, daß diese Verleumdung ein böses Nachspiel haben wird.« »Für wen?« »Guten Tag, Herr Bergmeyer.«
»Wann kommst du wieder zurück?« Bettina Zerber sah ihren Mann Burkhardt an und räumte dabei weiter den Abendbrottisch ab. Sie hatte die Kinder schon ins Bad geschickt, damit sie sich bettfertig machten. Sie kamen ihren Pflichten nur langsam, dabei aber um so lautstarker nach. »Es hat keinen Sinn auf mich zu warten, Bettina, das kann Stunden dauern, vielleicht bin ich auch erst um Mitternacht zurück.« Burkhardt Zerber drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und hievte sich aus der Eßbank hervor. Er gab seiner Frau einen flüchtigen Abschiedskuß und verließ die Küche. Sie hörte ihn noch kurz ein paar Worte mit den
Kindern wechseln, dann wie die Haustür ins Schloß fiel und dann das Knirschen seiner Schritte auf dem Kiesweg, als er zur Garage ging. Der Wagen sprang an, und Burkhardt Zerber fuhr vom Grundstück. Auf der Straße hielt er den Wagen an, stieg aus und schloß das schmiedeeiserne Tor. Es ist doch mindestens schon vier Wochen her, daß ich im ›Nachtviertel‹ war, dachte er und lenkte den Wagen in die entsprechende Richtung. Allerdings wollte er heute abend nicht zocken, wie so manches liebe Mal, sondern er wollte etwas kaufen, was man nur im ›Nachtviertel‹ kaufen konnte und selbst da nur mit entsprechender Empfehlung. Burkhardt Zerber zockte gerne mal einen aus, ohne dem Spiel verfallen zu sein. Aber das Spiel entsprach seiner Mentalität, des Alles oder Nichts, und außerdem tat ihm die Atmosphäre des ›Nachtviertel‹ gut. Dort, so war es ihm, brauchte er sich nicht zu verstellen, man nahm ihn so, wie er sich gab, man hatte keinerlei Erwartungen an ihn, man fragte ihn nach nichts. Und vielleicht war es auch gerade das, was ihn am ›Nachtviertel‹ so fesselte, daß keine Fragen gestellt wurden, den Menschen wurde dort die Anonymität gelassen. Wer kam, der kam. Und wer ging, der ging. Keine Frage nach dem Woher und keine Frage nach dem Wohin. Er parkte seinen Wagen in einer Seitenstraße und machte sich auf zum Diabolo. Am Tisch saßen Doc, der Wiener-Peter, zwei Touristen, die offensichtlich Geld ließen und der Chef des Ladens. Burkhardt Zerber sagte: »Hallo«, und blieb am Tisch stehen. Die drei, die er kannte, nickten ihm zu. Die Touristen antworteten artig. Der Chef warf Karten, zündete sich eine Zigarette an, nippte an seinem Bitter Lemon und sagte: »Auch einen Wurf, der Herr?« »Nein danke, ich wollte nur mal Doc kurz sprechen.« »Doc hat sicherlich Zeit für Freunde, nicht wahr, Doc?«
Der Chef zwinkerte Burkhardt zu und Doc schälte sich aus dem Sessel. »Gehen wir an die Bar, Burkhardt?« »Wenn du willst.« »Natürlich will ich.« Die beiden gingen rüber zur Bar, die im hinteren Teil des Lokals lag, etwas mit gedämpften Licht versehen paßte sie, wie die berühmte Faust aufs Auge, zu einer Spielhölle. Sie gaben ihre Bestellung auf und nachdem sie den ersten Schluck genommen hatten, fragte Doc: »Na, was ist?« »Ich hab’ gehört, es gibt hier einen Dr. Samson und bei ihm kann man gute graue oder grüne Wertarbeit kaufen?« »Was man hier nicht alles so hört.« »Stimmt’s oder stimmt’s nicht.« »Na, also…« »Brauchst du sie?« »Nein, ich nicht. Es ist für einen Freund…« »Und braucht er grau oder grün?« »Grün.« »Das wird aber ein teurer Spaß.« »Ich weiß, daß das nicht umsonst ist, Doc.« »Ist die Sache heiß?« »Nein, nicht sehr. Es ist eher eine Vorsichtsmaßnahme…« »Ich hoffe nicht, Burkhardt, daß du mich anflunkerst. Ich habe nämlich keine Lust, wenn so ’ne Kiste platzt, daß mir der Samson den Kopf abreißt. Der kennt, wie man so hört, eine ganze Menge Haie, die ihm nur zu gern einmal einen Gefallen tun.« »Bestimmt nicht, Doc, ich führ’ dich nicht vor. Aber es ist mir verdammt wichtig.« »Dr. Samson sitzt um diese Zeit im Cadillac, einem Café drüben an der…« »Ich kenne es…«
»Wenn du reinkommst in den Laden, sitzt er meistens rechts hinten. Du erkennst ihn sofort daran, daß er nicht in den Laden paßt, mit all den Edelnutten und ihren Mackern. Er ist ein feiner alter Herr, sehr zart, mit einer Goldrandbrille. Und beherzige bloß eines, wenn einer bei ihm sitzt, dann geh um Himmels willen nicht an den Tisch. Setz dich in die Nähe. Verstanden?« »Ja, natürlich. Du kannst dich auf mich verlassen.« »Das mach’ ich auch, Junge. Und sag ihm, daß du von mir geschickt wurdest.« »Was wird es kosten, Doc?« »Das, was es kostet.« »Was…?« »Wie ich es eben sagte, Burkhardt, es kostet genau das, was es kostet.« »Du meinst, ich muß den Preis akzeptieren, den Dr. Samson will.« »Jawohl, das mußt du. Und komm bloß nicht auf die verrückte Idee und fang das Handeln an. Wenn du das willst, dann kannst du gleich hierbleiben. Dann kannst du dir den Weg sparen.« »Aber ich kann doch nicht…« »Natürlich kannst du. Er tut dir doch einen Gefallen. Oder glaubst du, daß er auf dein Geld angewiesen ist? Glaubst du das wirklich?« Burkhardt Zerber schüttelte den Kopf. »Mensch, Junge. Wenn du zu Dr. Samson gehst, und der hört dich tatsächlich an, dann kannst du schon glücklich sein. Und wenn er dir einen grünen Lappen macht, dann solltest du auf Knien vor Dankbarkeit rutschen. Vergiß es und bleib hier, wenn du feilschen willst.« »Nein, schon gut. Ich versteh’ schon.«
»Nein, danke. Das kann ich nicht zahlen. Das kannst du zu Dr. Samson immer sagen. Aber sage es nur, wenn du es auch wirklich nicht zahlen kannst, nur dann. Klar?« »Klar. In Ordnung.« Sie saßen noch gut zehn Minuten zusammen, sprachen belangloses Zeug und tranken ihre Gläser aus. Dann verabschiedete sich Burkhardt Zerber und machte sich auf den Weg zum Cadillac. Er erkannte Dr. Samson sofort, er paßte wirklich nicht in dieses Lokal, daß wohl ein echter Zuhältertreff war. Der alte Mann wechselte gerade ein paar Worte mit dem Kellner. So ging er quer durch das Lokal und betrat die Toilette. Er wusch sich die Hände, und nachdem er sie einigermaßen unter dem Heißluftgerät getrocknet hatte, kehrte er zurück. Jetzt war der alte Mann wieder allein. Burkhardt Zerber ging auf den Tisch zu, und als er angekommen war, hob Dr. Samson leicht den Kopf und lächelte ihn an: »Bitte…?« »Herr Dr. Samson, könnte ich Sie vielleicht einen Moment sprechen…« »Mein Herr, auch wenn es nicht so aussieht, so bin ich doch sehr beschäftigt, ich denke gerade über etwas sehr Wichtiges für mich nach, aber vielleicht bringen Sie ja Grüße von einem Freund, von dem ich lange nichts gehört habe…?« »Ich… ich soll Sie von Doc grüßen.« »Na, sehen Sie, ich ahnte es doch. Mein alter Freund Doc, ein lieber Kerl. Wie geht es ihm?« Burkhardt Zerber empfand es als ein bißchen lächerlich, wie sich der alte Mann nach Doc erkundigte, der ja nur vier Straßen weiter im Diabolo saß. Aber bereitwillig spielte er die Posse mit. »Es geht ihm gut, glaube ich wenigstens.« »Nehmen Sie doch Platzjunger Mann. Lassen Sie uns doch ein wenig miteinander sprechen.«
Dr. Samson blickte Burkhardt Zerber durch seine Goldrandbrille durchdringend an, dennoch lächelten seine Augen dabei, und um seine Mundwinkel spielte doch tatsächlich ein begütigendes Lächeln. Der alte Herr ließ es sich überhaupt nicht anmerken, daß ihm der Mann, der da eben an seinen Tisch herangetreten war, völlig unbekannt war. Er nahm seine Kaffeetasse hoch und trank einen Schluck, dann fragte er: »Sicherlich trinken Sie doch einen Kaffee mit mir?« »Sehr gern. Vielen Dank.« Der alte Mann wedelte einmal seine Hand kurz durch die Luft und schon stand der Ober am Tisch. »Zwei Kaffee, Gregor.« »Gern. Etwas dazu?« »Nein danke.« »Sehr wohl.« Der Ober verschwand genauso schnell wie er gekommen war. »So, so, mein alter Freund Doc schickt Sie also…« »Ja, ich…« »Sie müssen jetzt nichts sagen, junger Mann. Wirklich nicht. Auch wenn es Ihnen vielleicht etwas unglaublich vorkommt, ich weiß schon, was Sie wollen. Oder um ehrlich zu sein, ich weiß fast alles. Sehen Sie, Doc und ich kennen uns schon, warten Sie mal, ja tatsächlich, wir kennen uns über dreißig Jahre, und da habe ich eine Art Gespür dafür, was für Leute er zu mir schickt. Grau oder grün?« »Wie bitte… Entschuldigung… grün natürlich.« »Natürlich ist es nicht, nur häufiger wird er verlangt.« Burkhardt Zerber schwieg. »Gut, ich mache Ihnen einen Reisepaß, weil Sie von Doc geschickt worden sind…« »Vielen Dank…«
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken, es ist nicht umsonst. Für einen Mann oder eine Frau. Alter und Größe. Farbe der Augen, das alles und noch ein bißchen mehr muß ich von Ihnen wissen.« »Ich habe einen Umschlag vorbereitet mit einem Foto und allen Angaben.« »Legen Sie ihn auf den Tisch. Er ist also nicht für Sie.« »Nein, für einen Freund.« »Ein guter Freund.« »Ja.« »Sie vertrauen ihm.« »Ja, wie meinem Bruder.« »Das will nichts besagen. Aber gut denn. Wann soll er fertig sein?« »Es ist schon eilig…« »Morgen um 16 Uhr dreißig muß er abgeholt werden. Gertigstr. 9. Da ist unten, eine Treppe tief, ein alter Laden. Da muß Ihr Freund hinkommen. Die Tür ist offen. Kann er das?« »Ja, bestimmt.« »Sie zahlen?« »Ja.« »Fünftausend. Vier sofort. Eintausend beim Abholen.« »In Ordnung.« Burkhardt Zerber lehnte sich zurück, dann holte er aus seiner Tasche den Umschlag und tat das Geld zu dem Foto und den Angaben. Den Umschlag legte er auf den Tisch. Dr. Samson sah ihn an und lächelte, nahm das Kuvert und steckte es, ohne hineinzusehen, in seine Jackettasche. Burkhardt Zerber wußte nicht, ob er das Richtige tat, als er vom Tisch aufstand. Er rückte seinen Stuhl heran und nickte dem allen Herrn zu. »Haben Sie vielen Dank. Oh, da hätte ich beinah noch etwas vergessen. Können Sie mir schon den Namen sagen, ich muß noch ein Flugticket buchen.«
»Ich glaube, Peter Kretschmar ist ein guter Name.« »Kann ich das Ticket morgen im Laufe des Vormittags zur Gertigstraße bringen?« »Ja. An der Tür ist ein Briefkastenschlitz, werfen Sie es dort hinein. Ich händige es dann zusammen mit dem Paß aus.« »Dann nochmals vielen Dank und ›Auf Wiedersehen‹.« »Auf Wiedersehen, junger Mann. Sie haben noch nicht einmal Ihren Kaffee getrunken.« »Oh, entschuldigen Sie, ich war… Vor allen Dingen habe ich noch nicht gezahlt.« Dr. Samson hob abwehrend die Hand und lächelte: »Sie waren mein Gast.« Im Wagen zündete er sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in sich hinein. Erst jetzt spürte er, wie anstrengend das Gespräch mit diesem seltsamen Kauz von Paßfälscher für ihn gewesen war. Die ganze Zeit über hatte er angespannt auf die Worte des alten Mannes gelauscht, um nur nichts Falsches zu antworten. Und die ganze Zeit über hatte er gedacht, daß er diesem Dr. Samson bestimmt nicht gewachsen wäre. Aber zum Glück war jetzt alles klar, und die Sache war so verlaufen, wie es sich Burkhardt Zerber gewünscht hatte. Er startete den Wagen und fuhr durch die Abenddämmerung in Richtung Autobahn. Reinhardt würde Augen machen, wenn er da auf einmal im Wochenendhaus auftauchte. Und er war sich sicher, daß sich sein Bruder überrumpeln lassen würde. Wenn es sich tatsächlich alles so verhielt, wie er es sich überlegt hatte, dann konnte es überhaupt nicht schiefgehen. Er schaltete das Radio ein und summte die Melodie mit. Es würde schon dunkel sein, wenn er Oldau erreichte. Er entschloß sich, mit dem Wagen nicht bis ans Haus zu fahren. Man konnte ja nie wissen, und es war unsinnig, Reinhardt kopfscheu zu machen. Wer weiß, wie er reagierte, wenn da auf einmal ein Auto in der Nacht aufs Haus zugefahren kam. Burkhardt Zerber überlegte, ob sein
Bruder vielleicht schon nicht mehr in Oldau war. Aber wo sollte er hin. Er wurde von der Polizei gesucht, und da wäre es doch blanker Unsinn, wenn man durch die Gegend kutschieren würde. Die Möglichkeit entdeckt zu werden, war doch um ein Vielfaches größer, als wenn man sich irgendwo einbuddelte und toter Käfer spielte. Nein, da war er sich sicher, sein Bruder war in Oldau. Nur über die Verfassung, in der sich Reinhardt befand, ließ sich gut spekulieren. Burkhardt Zerber war fest davon überzeugt, daß sein Bruder den Strohhalm, den er ihm reichte, begierig ergreifen würde. Das war doch die einzige Rettungsmöglichkeit für ihn, denn schließlich hatte er sich nicht bei der Polizei gemeldet und seine Unschuld beteuert. Sondern er hatte seine Geschäftsreise abgebrochen und war unauffindbar. Nichts sprach für ihn. Alles sprach gegen ihn. Als er in den kleinen Waldweg einfuhr, ließ er den Wagen ausrollen und schaltete das Licht aus. Dann stapfte er durch das Dunkel des Waldes, überquerte die Straße und näherte sich dem Haus. Im ersten Moment war er verblüfft, daß im Haus kein Licht brannte, aber dann kam ihm der Gedanke, daß das nicht unbedingt bedeuten mußte, daß sein Bruder sich hier nicht mehr versteckt hielt. Und er sollte schon gleich erfahren, daß seine Überlegung richtig gewesen war. Er näherte sich dem Haus nicht gerade leise, und als er an die Haustür kam, knallte die Spitze seines Schuhs gegen die Holzfüllung, und es gab einen dumpfen Laut. Burkhardt Zerber klopfte aber nicht, sondern entschloß sich dazu, das Haus erst einmal zu umrunden. Als er aber zu der Rückseite des Hauses kam, da hörte er, wie die Fensterflügel aufgerissen wurden und gegen die Hauswand schlugen. Dann war da ein Scheuern, zweifelsohne kam es von Schuhen, die an der Hauswand entlangrutschten. Er sprang geradezu um die Ecke des Hauses und sah einen Schatten, der gerade im Wald verschwinden wollte.
»Reinhardt?« Die Wirkung des Wortes war wie die eines Schusses, der Schatten hielt im Laufen inne, nur sackte er nicht zusammen. »Du…?« »Ja, ich bin’s.« »Warum bist du gekommen…?« »Um dir zu helfen.« Stille, dann: »Mir ist nicht mehr zu helfen.« »So, und warum nicht?« »Du kannst ja wohl eins und eins zusammenzählen, Burkhardt?« »Das kann ich, und weil ich es kann, bin ich hier.« Burkhardt Zerber wußte, daß er alle seine Fragen nicht mehr zu stellen brauchte, das alles, seine Sorgen, seine Gedanken, konnte er beruhigt vergessen. Die Reaktion seines Bruders konnte nicht eindeutiger sein. Der Schatten löste sich vom Waldrand, Reinhardt Zerber ging auf seinen Bruder zu: »Und du… du willst mir helfen?« »Ja, natürlich will ich das. Deshalb bin ich hier.« »Und wie? Wie willst du mir helfen?« »Müssen wir das hier draußen besprechen?« »Nein, natürlich nicht. Komm mit ins Haus.« Reinhardt Zerber fingerte den Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Haustür: »Laß mich vorgehen. Ich will kein Licht machen.« »In Ordnung.« In der Küche zündete Reinhardt dann doch eine Kerze an. Das Licht flackerte und gab dem Raum und den Gesichtern etwas Gespenstisches. »Soll ich uns einen Kaffee kochen?« »Bitte, wir werden doch länger zu sprechen haben. Oder?«
»Mhm…« Burkhardt Zerber setzte sich, während sein Bruder den Kessel mit Wasser füllte, das Kaffeemehl aus dem Schrank nahm und Tassen auf den Tisch stellte. Als er die Vorbereitungen erledigt hatte, stellte er sich neben seinen Bruder und legte ihm zögernd die Hand auf die Schulter. »Hab vielen Dank. Der Anruf…« »Du weißt…?« »Ich habe deine Stimme sofort erkannt. Ja, sofort. Ich war sicher, verstehst du. Absolut sicher.« »Dann hätte ich mir den Zirkus mit dem Verstellen also sparen können?« »Ja, das hättest du.« »Reinhardt, um Himmels willen, warum hast du es getan?« »Ich… ich hab’ es nicht getan… ich.« »Was?« »Ich war es nicht und ich war es doch. Ich weiß nicht… wie ich es erklären soll. Ich wollte sie nicht umbringen. Nie, ganz bestimmt nicht. Auch… auch wenn man so etwas vielleicht mal denkt.« »Dann hast du es also im Affekt getan, ich meine, du bist durchgedreht?« »Nein, nein. So war es nicht. Ich wollte gehen… ich meine, wir, also Ingrid und ich, wir hatten uns ausgesprochen oder jedenfalls miteinander gesprochen, und wir wollten uns trennen, ich meine scheiden lassen, verstehst du. Sie sagte, ich sei nichts für sie, sie beschimpfte mich. Und da… da wollte ich gehen, die Wohnung verlassen, weil ich es satt hatte. Nach hier wollte ich fahren, um noch einmal alles zu überdenken. Und als ich die Wohnung verlassen wollte, da drehte sie mit einem Mal durch und wollte mich festhalten, mich zurückhalten. Und da hab’ ich sie zurückgeschleudert. Irgendwie wütend war ich schon auf sie, ich hab’ sie da von mir weggeschleudert, damit
ich gehen konnte. Und da ist sie zurückgeflogen, und dann muß sie mit dem Kopf gegen die Heizung…« Reinhardt Zerber schluchzte auf. In diesem Moment, als er davon sprach, klappte seine mühsam aufrechterhaltene Fassung zusammen. »Oh… mein Gott. Ich habe es nicht gesehen, ich war da schon die Treppen runter, als sie gegen die Heizung flog. Ich weiß es nicht mehr so genau…« »Das stimmt doch nicht, Reinhardt. War es wirklich so…?« »Ja, es war so. Doch, doch. Immer und immer wieder bin ich diese furchtbare Szene durchgegangen. Es war so, ich wollte es nicht und ich habe es auch nicht…« »Ingrid hatte mir einige Tage zuvor ihr Herz ausgeschüttet. Sie…« »Was?« »Sie rief mich ein paar Tage zuvor im Büro an. Sie war ganz durcheinander, sie weinte, obwohl sie versuchte, sich im Gespräch zu beherrschen. Aber sie war fertig, verstehst du, Reinhardt, sie war fix und fertig und kreuzunglücklich. Sie sagte, sie könne nicht mehr mit dir leben, du seist so… so seltsam, ja, das sagte sie, so seltsam und unheimlich. Immerzu würdest du nur vor dich hinschweigen und dumpf brüten. Sie sagte, sie habe Angst vor dir.« »Angst…?« »Ja, aber wohl nicht in dem Sinne, daß du ihr etwas tun könntest, das nicht, sondern wohl mehr so im Sinne von unheimlich.« »Aber ich… ich war…« »Reinhardt, ich glaube dir, daß du es nicht warst.« »Wirklich…?« »Ja…« »Du sagst es nur… sagst du es nicht nur so?«
»Nein, ich gebe ja zu, daß ich hierherfuhr und überzeugt war, daß du… aber wenn du…« »Und warum bist du da, wenn du so etwas…« »Ich bin dein Bruder…« »Auch dann noch…« »Es mag blöd klingen, aber vielleicht erst dann, Reinhardt. So im Leben, hat man sich nicht immer was zu sagen, aber wenn es ernst…« »Du glaubst mir also doch nicht!« Reinhardt Zerber schrie es zu seinem Bruder, das flackernde Licht der Kerze machte die Szene immer unwirklicher. »Ich weiß doch nicht, was ich glauben soll. Und ist es nicht vollkommen unerheblich, was ich glaube, davon hängt doch für dich nichts ab. Was die Polizei glaubt, das ist doch…« »Du hast recht, entschuldige bitte.« »Es gibt doch für mich keinen Grund, dir nicht zu glauben. Wenn du es mir so sagst, dann ist es in Ordnung. Aber die anderen…« »Wie willst du mir helfen…« »Gott sei Dank, endlich wirst du vernünftig.« »Also wie?« »Ich habe was gemacht, Reinhardt.« »Ich verstehe nicht…« »Weil ich glaubte, du hättest es getan, da habe ich mir eine Flucht überlegt.« »Ich werde doch schon bei der ersten Kontrolle festgenommen…« »Nicht mit einem neuen Paß.« »Mit was…?« »Ich habe dir einen neuen Reisepaß gekauft. Morgen abend ist er fertig, du kannst ihn abholen und bekommst ein Flugticket dazu.«
»Einen Reisepaß hast du mir gekauft? Wie… ich verstehe nicht… wo bekommt man so was?« »Ist das nicht gleich? Hauptsache, du hast einen. Und es ist erstklassige Wertarbeit. Darauf kannst du dich verlassen.« »Und du meinst, ich sollte fliehen?« »Hast du es nicht schon getan…?« »Ja, nur…« »Ich meine, es ist besser, wenn du erst einmal abhaust. Ich denke nach Paris, von da nach Marseille und dann mußt du weitersehen. Und ich muß sehen, ob ich hier etwas machen kann…« Sie tranken ihren Kaffee und zündeten sich Zigaretten an, für einige Zeit sprachen sie nicht. Dann sagte Reinhardt Zerber zu seinem Bruder: »Es ist so furchtbar, verstehst du? Daß etwas so enden kann, ich meine, wir haben uns zum Schluß nicht mehr verstanden, wirklich nicht, nur, es lag doch nicht an mir. Oder doch? Natürlich bestimmt auch an mir, es ist dumm so zu tun, als wäre es nur der andere gewesen, der alles zerstört hat. Nur…« »Warum quälst du dich, versuch wenigstens nach vorn…« »Versuchen… versuchen. Wie denn? Kannst du mir sagen, wie man das macht? Nein, das kannst du nicht! Oder?« »Nein, Reinhardt. Nein, das kann ich natürlich nicht.« Die Brüder schwiegen wieder. »Entschuldige, Burkhardt, es ist so ungerecht, daß ich gerade dich…« »Vergiß es.« Dann sprachen sie noch lange über einzelne Punkte. Burkhardt Zerber erklärte seinem Bruder ganz genau, wie er sich zu verhalten habe, wo er Paß und Flugticket abholen mußte. Er gab ihm noch einen Umschlag mit 5000 Mark. Als Reinhardt Zerber das viele Geld in seiner Hand fühlte, sagte er:
»Das kann ich nicht annehmen. Du bist verrückt.« »Du nimmst es.« »Jeden Pfennig zahle ich dir zurück. Wirklich.« »Ja, Reinhardt, jeden Pfennig. Ich weiß es. Mach’s gut, Bruderherz.« Als sie sich verabschiedeten, umarmten sie sich.
18 »Dieser Brief wurde von dem Herrn geschrieben, der sich in Dich verliebt hat.« Der letzte Satz, endlich hatte er den Brief an Andrea geschrieben. Christian Bergmeyer wartete ab, bis die Tinte getrocknet war, dann faltete er den Brief und steckte ihn in das schon vorbereitete Kuvert. Wie lange schon hatte er keinen Brief mehr mit der Hand geschrieben? Er konnte sich nicht erinnern. Die Uhr zeigte ihm, daß er los mußte. Zwar hatte er den Kollegen gesagt, daß er heute später zum Dienst käme, dennoch wollte er ja auch noch einiges vorher erledigen. Die Vormittagssonne knallte schon wieder ins Wohnzimmer, offensichtlich war sie bemüht, jeden Tag einen neuen Hitzerekord aufzustellen. Nachdem er den Brief bei der Post aufgegeben hatte, fuhr er in Richtung ›Nachtviertel‹. Ein Betrunkener lallte ihn an, als er den Wagen abschloß, es kümmerte ihn aber nicht. Christian Bergmeyer sah sich kurz um, bevor er den Durchgang zu dem Hinterhaus betrat, wo der ›Wiener Peter‹ sein Domizil hatte. Aber niemand beobachtete ihn, am Vormittag war im ›Nachtviertel‹ nichts los. Er kämpfte sich die drei Stiegen rauf, im Hausflur roch es muffig. Dieser ›Wiener Peter‹ arbeitete schon seit vielen Jahren als V-Mann für die Kripo, Bergmeyer hatte ihn von seinem
Vorgänger übernommen. Der Mann leistete gute Arbeit, allerdings mußten sie ihn nicht besonders häufig in Anspruch nehmen, denn schließlich lebten sie ja nicht in Chicago. Dennoch war es gut, einen Spitzel zu haben. Schon oft hatte er einem Fall eine andere, eine bessere Richtung gegeben. Christian Bergmeyer klopfte. Nichts rührte sich hinter der Tür. Dreimal mußte er noch klopfen, bevor sich in der Wohnung etwas tat. Endlich öffnete sich die Tür: »Sie? Was ist denn los?« »Ich will mit Ihnen reden.« »Hab’ mir schon gedacht, daß Sie nicht zum Tanzen gekommen sind.« »So frühmorgens schon so lustig?« »Kommen Sie rein…« Die Tür schwang ganz auf, und der Wiener Peter ließ den Kommissar eintreten. »Tut mir leid, daß es so aussieht, bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.« »Bei mir sieht’s nicht anders aus…« »Sehr charmant, Herr Kommissar. Kaffee?« »Da sag’ ich nicht nein.« »Dann setzen Sie sich mal hin.« Christian Bergmeyer fegte ein paar Sachen aus dem Sessel, der ihm am bequemsten schien. Als der Mann mit dem Kaffee aus der Küche kam, fragte er ihn: »Na, wie geht das Geschäft?« »Müde. Alles tot, toter, am totesten. Es tut sich reine weg nichts.« »Nichts?« »Nichts.« »Ach, kommen Sie, Peter, etwas ist doch immer los.« Der V-Mann goß einen Kaffee ein und sagte: »Interessieren Sie sich denn für etwas Spezielles?«
»Sie wissen doch, Mord ist mein Geschäft…« »Kann ich aber nicht mit dienen.« »Lesen Sie Zeitung?« »Wenig.« »Sollten Sie aber…« »Was Besonderes?« »Mord zum Beispiel.« »Hier im Viertel?« »Nein.« »Na, sehen Sie. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Wer ist es denn?« »Die Frau eines Vertreters.« »Und da kommen Sie zu mir?« »Zu wem soll ich sonst gehen?« »Vielleicht zum Verband der Handelsvertreter…« »Der Kaffee ist gut…« »Danke…« »Schon mal den Namen Zerber gehört?« »Kann sein…« »Was soll das heißen?« »Kann sein heißt ›kann sein‹.« »Ja oder nein.« »Eher nein… Heißt Ihr Handlungsreisender so?« »Ja, und seine tote Frau auch.« »Dann ganz bestimmt noch nie gehört.« »Sicher?« »Ja.« »Noch ’n Schuß Kaffee?« »Oh, ja bitte. Aber warum hätte es denn auch ›ja‹ sein können?« »Ach, nichts weiter. Ich kenn’ ein reiches Bürschchen, zockt gern einmal einen aus. Der hat, glaub’ ich, einen ähnlichen Namen. Kann allerdings auch ein Irrtum sein.«
»Und was ist mit dem?« »Nichts, was soll mit dem sein?« »Wie kommen Sie denn gerade auf ihn?« »Weil er zufällig gestern mal wieder im Diabolo auftauchte.« »Zum zocken…« »Nicht gerade.« »Was denn?« »Kann Sie doch nicht interessieren…« »Mich interessiert alles.« »Er brauchte ’ne Adresse.« »Wollte er zum Arzt?« »Glaub’ ich nicht.« »Na, wohin denn. Nun lassen Sie sich bitte nicht alles einzeln aus der Nase ziehen…« »Er brauchte wohl einen Paß.« »Muß er da nicht zum Ordnungsamt gehen?« »Eigentlich schon…« »Wer gibt die denn sonst noch so aus, ich meine außer dem Ordnungsamt?« »Weiß ich nicht, ehrlich!« »Geschenkt.« Christian Bergmeyer trank seinen Kaffee aus und sagte: »Was wissen Sie denn von dem Mann, der einen Paß braucht und manchmal zockt, sonst noch?« »Nichts…« »Adresse?« »Nein.« »Vorname?« »Wir nennen ihn beim Spiel Burkhardt, so hat er sich vorgestellt.« »Ach, schau mal einer an.« »Hilft Ihnen das etwa weiter?« »Weiß nicht.«
»Der Handelsvertreter?« »Nein, ganz bestimmt nicht. Der hat einen anderen Namen. Sonst noch was?« »Nichts. Ganz bestimmt. Mehr weiß ich nicht.« »Einen Paß wollte der also haben…« »Glaube ich jedenfalls. Hab’ so was gehört. Kann mich natürlich auch verhört haben.« »Natürlich. Und wobei könnten Sie sich sonst noch verhört haben?« »Ehrlich, bei nichts.« »Es kann auch mal Ärger geben…« »Diese Drohungen sind lächerlich, Herr Kommissar. Das können Sie ruhig weglassen.« »Gut.« Christian Bergmeyer stand auf. Auch der Wiener Peter erhob sich vom alten Sofa. »Wenn ich noch was höre, rufe ich Sie an.« »Gemacht.« Sie gaben sich die Hand. Als Christian Bergmeyer aus dem Haus trat, blendete ihn die Sonne so stark, daß er für einen Moment lang nichts sah. Er schloß die Augen und stand regelrecht benommen in der gleißenden Sonne. Sieh mal einer an, dachte er, ob das ein Zufall ist. Er bestieg sein Auto und fuhr ins Büro. Willy Weißgerber glotzte dumpf in den Raum, als sein Chef das Büro betrat. »Nicht bewegen, Willy, sonst wachst du auf.« »Oh, mein Gott. Das hat mir gerade noch gefehlt.« »Das…?« »Du…« »Ach so. Gibt’s was Neues?« »Ja…« »Was?«
»Nichts…« »Wenigstens etwas.« »Find’ ich auch, Christian.« Willy Weißgerber erhob sich, reckte und streckte sich und gähnte ungeniert dabei. »Der Dienst schafft einen.« »Ich glaub’s dir.« Christian Bergmeyer schilderte seinem Kollegen schnell und in wenigen Worten, was er bei dem V-Mann erfahren hatte. »Und nun…« »Weiß noch nicht, da bin ich noch nicht klar…« »Dann laß uns beim Essen weiter darüber reden.« »Sag bloß, es ist schon wieder soweit?« »Was soll denn das heißen? Du bist ja auch eben erst gekommen, unsereins…« »Schon gut, Willy, auf denn.« Sie hatten keine Lust zur Arbeit, so tranken sie nach dem Essen in der Kantine eine Tasse Kaffee nach der anderen. Es war dann ein Telefonanruf, der dem Spiel ein Ende machte. Ein junger Revierbeamter war auf dem Weg zu Bergmeyers Büro. Ein anonymer Anruf war entgegengenommen worden. Der junge Beamte saß schon im Büro, als Bergmeyer und Weißgerber die Tür aufrissen, und er war furchtbar aufgeregt. »Das war die gleiche Stimme… ich schwöre es, Herr Bergmeyer.« Der Kommissar verstand sofort, was der junge Kollege meinte und antwortete: »Dann haben Sie beide Anrufe angenommen? Wie denn das?« »Weil ich Tagdienst habe, und ich sitze nun mal am Telefon.« »Da kann man nichts machen. Na, unser Glück.«
»Deshalb komme ich ja auch gleich hierher, weil mir sofort klar war, daß das zu Ihrem Fall gehören muß, wegen der Stimme, meine ich…« »Und was hat er gesagt?« »Wir sollten einmal den Flug 20 Uhr 30 nach Paris unter die Lupe nehmen, ganz besonders den Passagier Peter Kretschmar, da würden wir dann schon unser blaues Wunder erleben…« »Na, sieh’ mal einer da. Peter Kretschmar? Kenn’ ich nicht. Du, Willy?« »Ne, kenn’ ich auch nicht. Aber wieso…?« Christian Bergmeyer sagte Weißgerber, was er nicht wissen konnte und sagte zum Schluß: »Und in der bisherigen Untersuchung ist mir der Name Kretschmar nicht untergekommen, noch nicht einmal ähnlich klingend.« Die beiden fragten den Beamten noch weiter aus, aber es kam nichts Weiteres zu Tage. Als Weißgerber den Besucher zur Tür geleitet und sie hinter ihm geschlossen hatte, drehte er sich um und sagte: »Komm, laß uns ein wenig grübeln.« Genau zwei Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt stieg Reinhardt Zerber aus seinem Wagen, in dem er schon eine gute Viertelstunde gewartet hatte, und ging zur Gertigstraße Nummer 9 hinüber. Die Beschreibung, die ihm sein Bruder geliefert hatte, war einwandfrei gewesen. Er fand sich bestens zurecht. Die Tür war nicht abgeschlossen und öffnete sich lautlos, als er die Klinke herunterdrückte. Ein dicker Vorhang mußte noch beiseite geschoben werden, erst dann war der Blick freigegeben in den kleinen Laden. Etwas weiter hinten, mit dem Rücken zu Reinhardt Zerber, saß ein älterer Mann, er beugte sich beim Schein einer Lampe über seinen Arbeitstisch. Seine Hände schienen irgend etwas zu bearbeiten. Reinhardt Zerber bemerkte, daß der gesamte Laden verdunkelt war, wohl
auch kein Wunder, denn bei der Ware, die hier hergestellt wurde, konnte man Zuschauer nicht gebrauchen. »Sie sind sehr pünktlich, Herr Kretschmar. Das mag ich.« Für eine Sekunde war Reinhardt Zerber verblüfft, aber dann begriff er und murmelte nur kurz eine Begrüßung. »Setzen Sie sich für einen Moment an das kleine Tischchen dort rechts, ich bin gleich soweit, ich erzeuge gerade für Ihr Papier etwas Patina, wenn Sie verstehen. Auf dem Tisch liegt auch noch ein Umschlag, den Ihr Beschützer für Sie hier abgab, außerdem können Sie mir meine letzte Rate dort hinlegen.« Der alte Mann räusperte sich und war schon wieder in seine Arbeit vertieft, als sich Reinhardt Zerber an den Tisch setzte. Nachdem er den für ihn bestimmten Umschlag an sich genommen hatte und den Umschlag für den Paßfälscher hingelegt hatte, nahm er sich eine der dort liegenden Zeitungen. Die Überschrift auf der Titelseite traf ihn wie der Schlag eines Hammers. ›Kam der Schwager zu oft?‹ Er las den Bericht mit fliegender Geschwindigkeit, und er spürte schmerzhaft, wie sein Brustkorb zusammengepreßt wurde. Sein Bruder bei Ingrid? Wenn er seine Reisen durchs Land machte und die Kunden besuchte? Sie hatte nie etwas darüber erzählt. Wieso war Burkhardt zu… Welch naive Frage. Und daß sie so uninteressiert aneinander waren, wenn andere dabei waren? Es drehte sich im Kopf von Reinhardt Zerber. Und Ingrid. Wieso stand in der Zeitung, ihr sei der Schädel eingeschlagen worden. Natürlich, wenn ein Mensch gegen die Heizung knallt… Ob ein Mediziner bei einer Untersuchung feststellen konnte… »So Herr Kretschmar, hier ist Ihr Paß. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
Benommen stand Reinhardt Zerber auf, nahm den Paß. »Ich habe Ihnen zu danken.« »Nein, meine Arbeit ist bezahlt worden. Damit ist alles abgegolten.« Der Mann lächelte und deutete eine Verbeugung an. »Dürfte ich die Zeitung vielleicht mitnehmen?« »Selbstverständlich, mein Herr. Nur, denken Sie daran, es wird zuviel gelogen auf dieser Welt, insbesondere in den Zeitungen.« »Ja«, für eine Sekunde war sich Reinhardt Zerber unschlüssig, wie er sich verhalten sollte, dann hob er seine rechte Hand, um sich von dem Mann mit Handschlag zu verabschieden und sagte: »Dann nochmals vielen Dank und auf Wiedersehen.« Der Mann übersah die ihm hingestreckte Hand, trat einen Schritt zurück und sagte: »Ich wünsche Ihnen viel Glück. Adieu.«
Draußen, schon wieder im Wagen sitzend, kostete es Reinhardt Zerber minutenlange Anstrengung, das Zittern, das ihn befallen hatte, unter Kontrolle zu bringen. Als er wieder ruhiger war, lehnte er seinen Kopf erschöpft gegen das Lenkrad, und das Bild von seinem Bruder ließ sich nicht auslöschen, selbst nicht, als er die Augen aufriß.
20 »Willy Weißgerber, ich aber sage dir, es ist ein herrlicher Scheißfall, den wir zu bearbeiten haben.« »Ja…« »Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«
»Nein.« »Und warum nicht?« »Weil du schon alles gesagt hast, was dazu gesagt werden kann.« »Ich werde den Verdacht nicht los, daß du mir bloß ein wenig schmeicheln willst, weil ich dein Vorgesetzter bin…« »Genauso ist es…« »Du willst mir also nicht helfen…?« »Das habe ich nicht gesagt, aber wir haben ja unbekannte Helfer genug, ob es meiner Hilfe dann überhaupt dabei bedarf?« »Du meinst unseren anonymen Telefonierer…?« »Genau den. Den, der immer so freundlich ist, uns anzurufen, wenn sich was Neues tut.« »Willy, ich glaube, dieser Fall ist nicht zu lösen, so mit herkömmlichen Mitteln…« »Wie meinst du das?« »Wir haben verhört. Wir suchen Reinhardt Zerber, wenn wir ihn hätten, wären wir bestimmt ein Stückchen näher an der Wahrheit, aber ob das die Lösung wäre…?« »Wie kommst du darauf?« »Gefühle.« »Die können allerdings trügerisch sein.« »Natürlich können Gefühle täuschen! Nur was soll es, dieser Fall kommt mir eher wie ein Drama vor, das auf vorgezeichneten Bahnen läuft und seinen Endpunkt von ganz allein erreicht. Es gibt doch keine echten Außenbeziehungen in diesem Fall, jedenfalls habe ich noch keine entdecken können.« »Was meinst du damit – Außenbeziehungen?« »Na, was soll ich sagen: Raub, Erpressung, dunkle Geschäfte eben.« »Das ist korrekt. Nur, wie soll es weitergehen?«
»Wir können doch nur das Naheliegende tun…« »Der anonyme Anrufer also…?« »Ja, genau. Hin zum Flughafen und die Passagiere überprüfen. Aber unauffällig. Vorher rufst du die Fluggesellschaften an und erkundigst dich nach…« »Geschenkt. Das brauchst du mir nicht extra zu sagen…« »Sieh mal einer an, du denkst ja mit.« »Verrat es nur nicht unserem Oberchef, sonst werde ich noch befördert.« »Da kannst du dich auf mich verlassen. Kein Sterbenswörtchen wird über meine Lippen kommen.« »Vielen Dank. Und was wirst du tun, in der Zwischenzeit? Willst du dich ein bißchen aufs Ohr legen?« »Tss, tss. Dazu habe ich keine Zeit. Ich werde ein bißchen denken.« »Nein! Wie geht denn das?« »Laß es, koch lieber Kaffee. Es reicht doch aus, daß du das einigermaßen beherrschst. Löse dich davon, alles können zu wollen.« »Ich denke mir, ich werde jetzt die Fluggesellschaften anrufen, mir zwei Kollegen schnappen und mich zum Flughafen begeben. Irgendwann melde ich mich dann rechtzeitig bei dir. Und außerdem denke ich mir, daß du dir deinen Kaffee selbst kochen kannst.« »Siehst du, ich habe dir gesagt, du sollst das mit dem Denken bleiben lassen. Weil nichts Gescheites dabei herauskommt. Schau dir nur die Bescherung deines Denkens an…« »Wieso ich? Die Bescherung ist doch für dich.« Willy Weißgerber stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Christian Bergmeyer erhob sich ebenfalls, nahm den Aluminiumpott, ging zum Waschbecken und ließ Wasser hineinlaufen.
Mit einer dampfenden Tasse Kaffee setzte er sich an seinen Schreibtisch und legte die Beine auf die polierte Platte. Behutsam nahm er ein, zwei Schlückchen zu sich. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Zweimal hatte sich ein anonymer Anrufer in den Fall eingeschaltet, und auch jetzt beim zweiten Mal würde sich der Hinweis als außerordentlich wichtig herausstellen. Davon konnte man mit tödlicher Sicherheit ausgehen. Mit tödlicher Sicherheit… Christian Bergmeyer sah sich direkt bei dieser Wortkombination schmunzeln. Was wohl Kriminalrat Strücker zu solchen Kombinationen sagen würde? Bestimmt würde er sie ignorieren, statt dessen nur nörgelig darauf hinweisen, daß der Fall stagniere. Recht hatte er, nur was sollte es? Reinhardt Zerber war nicht aufzutreiben, die Fahndung lief auf Hochtouren und dieser Burkhardt Zerber, bis jetzt war ihm nichts am Zeuge zu flicken. Natürlich die Aussage des V-Mannes, nur was sollte es. Er selbst gab sich untadelig wie ein Konfirmand, allerdings war er streitlustiger als ein solcher. Ob es Strücker kaltlassen würde, daß der Schröder-Clan in den Fall verwickelt war…? Christian Bergmeyer spürte, daß ihm die Augen zufielen, und tatsächlich nickte er für zehn Minuten ein. Als er durch irgendein Geräusch aufgeschreckt, aufstehen wollte, trugen ihn seine Beine nicht, sie knickten ein, und er schlug lang hin. Für den Bruchteil einer Minute loderte Todesangst in ihm auf, dann wurde ihm bewußt, daß sich das Blut in seinen Beinen, die er ja auf den Schreibtisch gelegt hatte, gestaut haben mußte. Auf dem Boden liegend wartete er, bis das Blut wieder normal zirkulierte, dann stand er auf und verließ den Raum, um Willy Weißgerber zu suchen.
21 Burkhardt Zerber stand an der Ausfahrt von seinem Haus und ließ langsam seine Hand sinken. Nur die Kinder hatten zum Abschied gewunken. Seine Frau fuhr den Wagen, und seine Schwiegermutter hockte mit verbissenem Gesicht auf dem Beifahrersitz. Kurz nachdem der Kommissar Bergmeyer sein Büro am Morgen verlassen hatte, klingelte das Telefon, und sein Schwiegervater hatte ihn kurz und schmerzlos informiert: »Wir haben beschlossen, daß Bettina heute nachmittag mit den Kindern und Mutter nach Sylt fährt. Sei zum Abschied da.« ›Wir haben beschlossen‹ wir, wir, wir, nein, er gehörte nicht dazu. Zwar war es seine Frau, waren es seine Kinder, aber er wurde nicht gefragt. Für einen Moment war er versucht scharf zu erwidern, aber dann ließ er es. Aus einer Position der Schwäche heraus noch kämpfen und dann noch mit seinem Schwiegervater, nein – das hatte keinen Sinn. Der alte Schröder hatte ohne ein weiteres Wort den Hörer aufgeknallt, und Burkhardt war schmerzlich bewußt gewesen, daß sein Schwiegervater bestimmt keinen Gedanken daran verschwendet hatte, daß er sich gegen die Entscheidung auflehnen würde. Und natürlich hatte er wie immer richtig kalkuliert.
Burkhardt Zerber ging zurück ins Haus. Die Stille legte sich drückend auf ihn. Es war da keine Ablenkung, in seinem Kopf kreisten die Gedanken. Sie ließen ihn nicht in Ruhe. Er ging zur Bar rüber und goß sich vierfingerbreit Whisky in ein Glas, Eis tat er nicht dazu. Er nahm einen großen Schluck und dachte gerade an Reinhardt, als es klingelte.
Kaum hatte er die Tür einen Spalt nur geöffnet, als kräftig von außen dagegen gedrückt wurde, er kam ins Taumeln, etwas Whisky schwappte aus seinem Glas auf die Hemdmanschette: »Was soll denn…« »Da bin ich.« Reinhardt Zerber war schnell ins Haus geschlüpft und hatte die Hausfür bereits wieder abgeschlossen. »Du…?« »Ja, ich. Wundert es dich?« »Wir hatten abgesprochen, daß wir uns nicht mehr sehen. Du… du mußt außerdem zum Flugplatz.« »Du weißt doch genau, die Maschine geht noch nicht. Aber es hat sich was Entscheidendes geändert. Deshalb muß ich mit dir sprechen.« »Geändert… Willst du nicht mehr fliegen?« »Doch, natürlich…« »Dein Auto, wo hast du es? Du wirst gesucht.« »Nur keine Angst. Ich habe ein bißchen was gelernt in den letzten Tagen. Mach du dir nur keine Sorgen.« »Dann komm rein. Willst du auch etwas trinken?« Burkhardt Zerber hatte sich wieder gefangen, er legte seinem Bruder den Arm um die Schulter, um ihn in die Wohnhalle zu führen. »Nimm deinen Arm weg, Burkhardt.« »So? Naja, wie du meinst.« »Ich meine es so.« In der Wohnhalle dann, nahm Reinhardt Zerber die Zeitung aus seiner Jackettasche und warf sie seinem Bruder vor die Füße: »Was hat das zu bedeuten?« »Ach, das meinst du.« »Ja, das meine ich.«
»Eine üble Schmiererei, eine Verleumdung. Ich habe schon entsprechende Schritte…« »Kein Wort davon ist wahr, Burkhardt?« »Ich bin dein Bruder.« »Ja, das bist du.« »Du glaubst doch nicht etwa…?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« »Verlaß dich auf mich. Wer hat dir denn geholfen?« »Kann ich mich auf dich verlassen? Als ich hierherfuhr, ist mir klargeworden, daß du ein Schwein bist.« »Reinhardt…« »In der Zeitung steht, daß Ingrid der Schädel eingeschlagen worden ist. Eingeschlagen worden ist…« »Zeitungsleute schreiben sich so…« »Ich habe Ingrid aber nicht geschlagen.« »Wenn ein Mensch mit voller Wucht mit dem Kopf gegen einen Heizungskörper knallt, dann…« »Woher weißt du das bloß alles so genau?« »Du hast es mir erzählt.« »Habe ich von voller Wucht gesprochen. Nein, das habe ich nicht.« »Ist doch egal. Deine Frau ist tot, verdammt noch mal. Und sie starb – Unglücksfall hin, Unglücksfall her – durch dein Zutun…« »Nein…!« »Nein? Was soll das heißen?« »Vielleicht ist sie gar nicht verunglückt, sondern regelrecht ermordet worden.« »Willst du damit sagen, daß du sie…« »Nein, du!« »Wahnsinn. Kompletter Wahnsinn!«
Burkhardt Zerber versuchte zu lachen, aber es klang nicht überzeugend: »Warum wohl sollte ich deine Frau umbringen? Was?« »Ich weiß es nicht, noch nicht. Aber vielleicht können wir es uns ja gemeinsam mal überlegen? Weißt du, als ich an dem Tag nach Hause kam, da hockte Ingrid auf dem Sofa, nackt bis auf den Slip und ihre Wange war geschwollen, geschwollen wie nach einem Schlag ins Gesicht…« »Ach, da hab’ ich sie wohl auch schon geschlagen, was?« »Kann doch sein. Ich war es jedenfalls nicht.« »Und wenn sie gestolpert ist, und wenn sie hinschlug?« »Wenn. Wenn. Wenn. Ist sie aber nicht, zumindest wenn es so gewesen wäre, dann hätte sie es mir erzählt. Statt dessen machte sie es recht geheimnisvoll…« »Ach so, nur weil dir deine Frau nicht erzählte, warum sie eine geschwollene Wange hatte, muß sie jemand geschlagen haben und dann später sogar noch ermordet haben. Schlüssig, wirklich schlüssig.« »Ja, schlüssig ist es, und langsam finde ich sogar Gefallen daran, weil es nämlich einen Sinn ergibt.« »So, welchen denn?« »Na, du hast sie häufig besucht, warst ihr Liebhaber. Und dann ist irgend etwas vorgefallen…« Burkhardt Zerber stellte sein Glas ab und sah seinen Bruder höhnisch an: »Irgend etwas ist vorgefallen, tolle Theorie. Nur weit kommst du damit nicht, du, du… Memme. Du stehst ja noch nicht einmal zu deiner Tat.« »Nein, Burkhardt, es ist nicht meine Tat. Jetzt erst verstehe ich alles, weil ich mich schuldig fühlte, mich abfinden wollte, habe ich nicht nachgedacht. Als ich damals mit Ingrid sprach, an dem Nachmittag, da war sie sehr, sehr seltsam und sprach mit großer Wut. Als ich nur ihren Arm berühren wollte, da
schrie sie: ›Faß mich nicht an. Mich faßt keiner ungestraft an, wenn ich das nicht will. Auch du nicht.‹ Ja, das sagte sie. Ich konnte mir nicht erklären, was das zu bedeuten hat, das ›ungestraft‹ und das ›auch du nicht‹? Und deshalb ist mir dieser Satz auch so im Gedächtnis geblieben. Irgend jemand hatte sie also angefaßt und derjenige würde nicht ungestraft davonkommen. Wie findest du das, Burkhardt?« »Lächerlich.« »Ich finde es überhaupt nicht lächerlich. Weil du nämlich derjenige bist, um den es da geht. In der Zeitung…« »Diese verfluchte Zeitungsgeschichte ist doch erstunken und erlogen, da will mich doch jemand fertigmachen…« »So, wer denn?« »Geschäftsfreunde oder irgendwelche Neider.« »Für so wichtig hältst du dich tatsächlich, du Erbschleicher?« »Nimm dich in acht, nur weil du mit deiner Frau nicht zurechtkamst und sie ermordet hast, versuchst du…« Reinhardt Zerber fühlte, wie eine große Ruhe über ihn kam. Jetzt sah er mit einem Mal das ganze Bild, das, was sich zuerst nur schemenhaft abgezeichnet hatte. Auf der Fahrt vom Paßfälscher zu des Bruders Haus, hatte es sich gefügt, war es ein ganzes Bild geworden. »Jetzt sind wir beim wirklichen Thema, Burkhardt. Wir sind Brüder, und du hast mir manches genommen, warum, weiß ich nicht und ich weiß auch nicht, warum du zum Liebhaber meiner Frau geworden bist. Aber eines weiß ich jetzt, sie wollte wohl nicht mehr nach deiner Pfeife tanzen und hat dir gedroht, und da… da hast du sie aus dem Weg geräumt. Es war für dich Glück und später dann Pech, daß ich auf der Bildfläche erschien. Ich, dein zweites Opfer.« »Nein, so war es nicht. Du bist wahnsinnig. Es war alles ganz anders. Reinhardt, soll ich dir erklären, wie es sich zugetragen hat?«
Burkhardt Zerber ging zur Bar und goß sich erneut Whisky ins Glas. Dabei nahm er aus einer der oberen Schubladen einen Revolver. Der Hahn knackte, als er ihn spannte. Er drehte sich um und richtete die Waffe auf seinen Bruder. »Jetzt erzähle ich dir einmal, wie sich alles zugetragen hat. Ja, ich war der Liebhaber deiner Frau. Sie konnte dich nämlich nicht ab, sie liebte dich schon lange nicht mehr. Sie hatte dich satt. Bis obenhin. Aber leider kamst du dahinter, daß wir dir Hörner aufgesteckt hatten. Und dann hast du deine Frau umgebracht, aus Eifersucht, aus verletzter Eitelkeit, was weiß ich? Aber deine Rache war nicht vollständig, auch der Liebhaber sollte dran glauben, ich, dein eigener Bruder. Den du ja schon einmal ermorden wolltest. Damals, du erinnerst dich, als wir Kinder waren und du mit dem Spaten auf mich einschlugest. Weil du es nicht ertragen konntest, daß die Eltern mich mehr liebten als dich. Ja, damals, war dein Weg als Brudermörder schon vorgezeichnet. Und heute, heute wolltest du endlich den eigenen Bruder töten, aber zum Glück habe ich einen Revolver und werde mich schützen, nur bei mir ist es nicht Mord, sondern Notwehr…« Burkhardt Zerber war nur für einen Moment unaufmerksam, da sprang ihn sein Bruder an. Und sie kämpften mit der gleichen Wut und Verbissenheit, wie in Kindertagen. Burkhardt Zerber wußte schon, bevor er den Knall hörte, daß sich ein Schuß gelöst und ihn getroffen hatte. Er spürte den Geschmack von Blut im Mund, fühlte sich von einem gewaltigen Strudel fortgerissen und starb in den Armen seines Bruders. Es dauerte lange, bis Reinhardt begriff, daß sein Bruder tot war. Als er es begriffen hatte, murmelte er immer wieder: »Hab keine Angst, ich halte dich.«
So fand ihn Christian Bergmeyer, der mit Weißgerber abgesprochen hatte, daß er auf dem Weg zum Flughafen bei Burkhardt Zerber reinschauen würde. In den Schröder-Werken hatte man ihm nämlich gesagt, der Junior-Chef sei zu Hause, weil seine Familie nach Sylt fahre.