Tattoo Version: v1.0
Vorgeschichte Die Landschaft glich einem gewaltigen Friedhof. Böiger Wind trieb dürres Gestrüpp ü...
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Tattoo Version: v1.0
Vorgeschichte Die Landschaft glich einem gewaltigen Friedhof. Böiger Wind trieb dürres Gestrüpp über rotverkrus teten Boden. Die grabsteinartigen Hügel warfen das Bild eines fremden Planeten mitten auf der Erde. In den Hügeln summte und tickte Leben, das un ermüdlich schien und an ein milliardenfach aufge spaltenes Gehirn erinnerte. In diesem bizarren Sze nario bewegten sich Gestalten, manche auf ihre Art nicht weniger bizarr, nicht weniger fremdartig …
Was bisher geschah Eine magische Pest wütet in Sydney! Als Lilith den Verursacher tötet, einen Tasmanischen Teufel, bleibt eine Nachwirkung: Die Gefühlswelt der Befallenen hat sich ins Gegenteil verkehrt. Auch bei Beth. Das macht Landru sich zunutze; er verbündet sich mit ihr gegen die nichtsahnende Lilith. Auf der Suche nach einem Gegenmittel erfährt Lilith von dem finnischen Seuchenexperten Frans Stålheim. Sie bricht auf, um ihm den Tasmanischen Teufel zu bringen. In Lappland erreicht sie ein mysteriöser Anruf: Ihr ehemali ger Gefährte Duncan Luther, vor Monaten in Indien von Vampiren ermordet, meldet sich aus Mauretanien! Er weiß weder von seinem Tod, noch wie er nach Afrika gelangte. Indem sich Lilith eilig auf den Weg macht, verpaßt sie die An kunft Landrus, der Stålheim bei der Suche nach dem Gegenserum »helfen« will. In Mauretanien trifft sie auf eine Werwolf-Sippe unter der Führung von Landrus Freundin Nona und auf den Zauberer El Nabhai. Überraschend ein fach kann Lilith Duncan befreien – denn damit handelt sie genau nach Landrus Plan. Doch El Nabhai ist eifersüchtig und will Landrus Pläne vereiteln, indem er Lilith beseitigen läßt. Nona tötet ihn mit Hilfe eines seiner magischen Tü cher. Lilith erhält von Stålheim das Serum, welches Landru aber zuvor manipuliert hat. Sie und Duncan kehren damit nach Sydney zurück und verabreichen es Beth. Duncan weiß nun zwar, daß er tot war, fühlt sich aber lebendig und als Herr seiner selbst. Lilith kostet sein Blut; es schmeckt fad, aber nicht wie das ei nes Toten. Doch nach dem Biß verschwinden – von Lilith unbemerkt – Dun cans Schatten und Spiegelbild! Als Lilith das Serum ins Hospital bringt, muß sie erfahren, daß die ersten Kranken bereits genesen sind – die Auswirkungen der Pest sind zeitlich be grenzt! Beths Gefühlswelt ist dagegen nach wie vor auf den Kopf gestellt. Sie wirft Lilith und Duncan hinaus. Ein weiterer Schicksalsschlag: Die SydneyVampire lassen auf dem Grundstück, wo Lilith geboren wurde, ein Hochhaus errichten, dessen Fundament mit Weihwasser angerührt wurde. So zieht sie mit Duncan in das Haus des inzwischen toten Virgil Codd …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Duncan Luther – ehemaliger Priesteranwärter mit bewegter Vergangenheit. Er lernt Lilith kennen, verliebt sich in sie, wird in Indien von Vampiren getötet und taucht plötzlich und ohne Erinnerung wieder auf. Beth MacKinsay – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Beth kennt Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvam pirin verliebt. Dies wurde jedoch durch die Nachwirkungen der magischen Pest mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vam pir bedingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampir keim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – an ders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Alex Pauwee stolperte. Er fiel mit dem Gesicht in eine Pfütze feins ten Sandes und spuckte, bis das Knirschen zwischen seinen Zähnen nachließ. Ungelenk richtete er sich wieder auf, klopfte sich den Staub von den Hosen und fluchte leise. Solche Zurückhaltung hätte er sich sparen können. Die Kompaß termiten, die hier hausten, waren nicht nur blind, sondern auch taub. Weder das Licht des neben der Kamera aufgebauten Spezial scheinwerfers noch Geräusche schreckten die Insekten aus ihrer dis ziplinierten Plackerei. Pauwee überprüfte sorgfältig den von ihm präparierten, keilförmi gen Hügel. Die Schmalseiten maßen knapp einen Meter, die Längs seiten jeweils gut das Doppelte. Der Turm mit dem Nest verjüngte sich an der Spitze zu einer beilscharfen Kante. Etwa im oberen Drittel dieses Baus hatte Pauwee in greller Hitze ein Stück aus der Wandung herausgeschnitten und durch eine Glas scheibe ersetzt. Die Gesamtstabilität des Turms war davon nie in Frage gestellt worden. Nun zog er behutsam jene Folie ab, die die Tageshitze ferngehalten hatte. Pauwee war aufgeregter als bei der Verabredung mit einer schö nen Frau. Wissensdurst und Erfindungsreichtum hatten ihn zu die ser ungewöhnlichen Aktion getrieben. Er wollte erforschen, wie die Termiten mit der Klimaveränderung fertig wurden, die auch den Menschen vor immer schwerer wiegende Probleme stellte. Das zu rückliegende Dürrejahr mußte Folgen für die Staatengebilde in den Hügeln haben. Vielleicht, dachte Pauwee, ohne sich der Naivität dieses Wunsches bewußt zu werden, vielleicht konnte man von genialen Baumeistern dieser fragilen Konstruktionen sogar etwas lernen. Pauwee war in der Gegend südlich um Darwin aufgewachsen,
und die Kompaßtermiten hatten ihn von Kindesbeinen an fasziniert. Es machte ihn traurig zu sehen, wie sich ihr Lebensraum immer ra dikaler zum Schlechten hin wandelte. Die Bauten hier sahen aus, als wären sie vor einer Ewigkeit errichtet worden – und gut für eine weitere solche Spanne, die sich menschlichen Denkschablonen ent zog. Über kurz oder lang würde sich dies jedoch als tragischer Irrtum entlarven … Pauwee kehrte zu seiner windsicher verankerten Kamera zurück, justierte nach und schaltete dann den wärmefreien Scheinwerfer eine Stufe höher. Über Zoom sprang ihm das Nest förmlich entge gen. Ein kompliziertes Gewirr aus Gängen und Hohlräumen. Überall war Bewegung. Auch am unteren Bildausschnitt, wo sich aus dem spröden Materi al des Turms plötzlich etwas nach oben schob, was in dem Termi tenstaat nichts zu suchen hatte. Etwas unheimlich Banales, und doch reichte es aus, Pauwees Herz mehrere Takte überspringen und den Atem in seinen Lungen wie eine Flüssigkeit gerinnen zu lassen. Hinter der Glasscheibe im keilförmigen Turm, noch unterhalb des wimmelnden Herzens, ragte eine Hand empor – zweifellos eine menschliche Hand! Und sie schien Pauwee im nächsten Moment freundlich zuzuwin ken …
* Pauwees Hände krampften sich um das Kamerastativ. Er glaubte sterben zu müssen. Ein heißes Brennen quälte sich durch seinen
Brustraum, und die vermeintlich flüssige Luft in seinen Lungen schien zu Gletschern zu erstarren. Die Hand war immer noch da. Nur das Winken hatte aufgehört. Pauwees Auge klebte immer noch am Okular des Camcorders. Er versuchte die Hände vom Stativ und das Auge von der Kamera zu lösen. Beides mißlang. Kein Muskel gehorchte ihm. Die bräunliche Hand spreizte sich zu einer gichtgekrümmten Klaue und bohrte sich höher. Das Nest zerbröselte. Die Termiten taumelten desorientiert durcheinander, und Pauwee meinte, den lautlosen Schrei des Volkes wie ein unmögliches Echo in seinem Schädel hallen zu hören. Das Ergebnis hochkomplizierter Arbeit zerbrach binnen weniger Augenblicke, und doch war dies nur der Auftakt zu weit größerem Schrecken. Viel mehr als diese Klaue schob sich von unten aus der Basis des Hügels empor. Etwas … richtete sich zu seiner vollen Größe auf … Endlich gelang es Pauwee, die unerklärliche Lähmung abzuschüt teln. Er stieß sich von der Kamera ab und überließ sich völlig seinen Instinkten, die nur noch eines kannten: das Verlangen nach heilloser Flucht. Das dunkle Feld mit den bizarren »Grabsteinen« nahm ihn auf. Der Scheinwerferkegel wurde zum Inbegriff des Grauens, das nun versuchte, sich der letzten »Fesseln« zu entledigen. Erstickte Laute krochen aus Pauwees Brust. Er stolperte durch die Nacht. Hinter ihm brannte das kalte Licht, in dessen Abglanz er sich zu orientieren versuchte. Er wußte, daß er die immer stärker um sich
greifende Panik eindämmen mußte. Aber dieses Wissen war unnütz, weil sein Körper tat, was er wollte … Ein explosionsartiges Geräusch ließ ihn stocken. Sein Blick flog zu rück. Zu dem Fanal in der Nacht, in dessen Zentrum der Termiten turm stand. Gestanden hatte. Jetzt war er zerborsten, dem Erdboden gleichgemacht, und die Trümmer gebaren etwas, das sich in die Lüfte erhob – und Pauwee mit heiser-triumphalem Schrei folgte. Schwingen peitschten den Wind, entfachten einen noch stärkeren Sturm. Zugleich schwoll das Tosen in Pauwees Ohren an, und er dachte: Ein Fliegender Hund …? Es war seine Passion, sich in Australiens Fauna auszukennen. Aber dieses spukhafte, an Entsetzen kaum zu überbietende Gesche hen verdeutlichte ihm sofort, daß er es mit keinem der fledermaus ähnlichen Tiere zu tun haben konnte … Und dann verstummte der Flügelschlag urplötzlich. Der Schatten am Himmel verschwand. Pauwee schrie auf und rannte weiter. Er wußte, er hatte Unmögli ches gesehen und wurde nun von Unmöglichem verfolgt. Er ließ sich nicht täuschen. Er zweifelte nicht an der Tücke dieser … Kreatur. Auch wenn er sie nur kurz gesehen hatte. Eine menschliche Hand, wisperte es in seinem Verstand. Und dann dieses Tier? Nichts paßte zusammen! Alles war Trug und Irreführung! Seine Lungen pfiffen. Der böse fauchende Wind zerrte an Pauwees krausem Haar, und obwohl es ein warmer Wind war, der aus dem Zentrum des Kontinents kam, fror der Flüchtende, während es in den umliegenden Türmen zunehmend lauter tickte.
Hinter jeder Erhebung schien plötzlich die Möglichkeit weiterer Schocks zu lauern. Pauwees Körper war von Gänsehaut überzogen. Und dann bäumte sich auch noch unter seinen Schuhen der ver krustete Boden auf. Faltete sich um seine Knöchel wie die stählernen Bügel einer zuschnappenden Falle. Pauwees Lauf wurde abrupt gebremst. Mit der Stirn prallte er ge gen den nächstliegenden mürben Hügel und durchbrach seine äuße re Hülle. Dunkelheit. Scharren und Schaben an den Ohren. Und ein leises, scharfes, verhöhnendes Flüstern. Etwas griff von dort drinnen nach ihm. Unwiderstehlich. Durch bohrte seine Augen und krallte sich unbarmherzig in seinen bluten den Höhlen fest. Fest! Pauwees Pech war, daß nicht einmal dieser Schmerz reichte, ihn sofort die Besinnung verlieren zu lassen. Er bekam vieles mit, was ihm das Sterben nicht erleichterte. Er schrie. Er brüllte. Ein Alptraum an Gerüchen wehte ihm ins Ge sicht. Und dann zerfetzte ihn etwas unterhalb des schreienden Mun des. Durchtrennte die Haut. Beseitigte jedes Hindernis zu dem, wo nach ihn dürstete …
* »Hat es dir gefallen?« »Sehr.« »Dies ist unsere letzte Nacht«, sagte Tattoo.
Die Vampirin zerquetschte, nachdem ihr Begleiter das Genick des Toten gebrochen und ihm das Gesicht auf den Rücken gedreht hatte, eine Termite zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Flüssigkeit, die dem Insekt entwich, schien ihr interessant genug, sie an die Lippen zu führen und daran zu kosten. Ihr Mienenspiel verriet jedoch über deutlich, was sie von solchem »Blute« hielt. »Ich werde dich vermissen.« Sie redete zu dem zermalmten Insekt, aber sie meinte ihn. »Du wirst immer bei mir sein. Wo immer ich bin.« Nirea lächelte nachsichtig. In ihren Augen spiegelte sich wenig Hang zu menschlicher Romantik und damit verbundener Schwäche. Was sie mit Tattoo verband, war nie über das Oberflächliche einer Begierde hinausgegangen. Im Grunde schien sie sogar erleichtert, daß er sich nun zum Weiterziehen entschlossen hatte. Ein Mann wie er hätte auf Dauer nur geschadet. »Du bist nicht sehr wohlgelitten in der Familie«, sagte er, als erahnte er ihre geheimsten Gedanken beim Blick in ihre onyxfarbe nen Augen. »Wußtest du das?« »Natürlich.« »Und es ängstigt dich nicht?« Sie lachte – rauh und gewaltig, offenbar bereits bedauernd, daß sie sich den Geschmack des Menschenblutes verdorben hatte. »Weshalb sollte es mich ängstigen? Du überschätzt die Strömungen, die du wahrgenommen zu haben glaubst. Du bist ein Nomade. Dir fehlen die Wurzeln, sonst wüßtest du, daß eine Sippe gewisse Reibungsflä chen braucht. Sie nützen dem Zusammenhalt.« Ihre Worte fanden keinen erkennbaren Widerhall in seinem Ge sicht. Doch sein Mund schimmerte weiter wie die ewige Versu chung. Um das Thema zu beenden, löste er den Knoten, der ihr Kleid zusammenhielt. Es fiel zu Boden.
»Du bist schön«, sagte er und neckte ihre Brüste mit den Zähnen. »Ich bin zufrieden«, erwiderte sie kühl, was ihm sichtlich mißfiel. »War das Vergnügen, das ich für dich arrangierte, so wenig anre gend?« »Du hast dir große Mühe gegeben, aber ein Abschied bleibt ein Abschied«, heuchelte sie. »Ich habe diese Jagd zelebriert für dich. Schade, daß du es nicht an erkennst …« Sie packte ihn. »Du redest und redest!« Ihre Hand grub sich in sein dichtes, metallglänzendes Haar und bog seinen Kopf nach hinten. Sie wußte, was sie wollte – und wie sie es wollte. Nur so gefiel es ihr. Dieses Gefühl der Überlegenheit durf te ihr kein Mann nehmen. Sie schälte ihm die Kleidung vom Leib. Seine Haut war dunkler als die der meisten, die Nirea kannte. Sie spürte seine Unrast fast kör perlich. Seine Unfähigkeit, längere Zeit an einem Ort zu verweilen. Es war ihr gleich. Er ging auf sie ein, nur das zählte. Er ließ sich beugen. Er … Dunkle Laute einer Sprache, die Nirea nicht verstand, rollten über seine Zunge. Noch während sich seine offene Hand, scheinbar ein gebunden in Ekstase, um ihre Kehle legte, riß unerwartet der Zau ber, von dem die Vampirin sich hatte forttragen lassen. Es durchfuhr sie heiß. Etwas, das nicht sein durfte, eigentlich nicht sein konnte, geschah. Sie versuchte sich unter ihm aufzurichten. Er lag, von einem Arm gestützt, mit dem anderen nach ihrer Kehle tastend, über ihr. Er blickte stumm. Abwartend. Das herbe Kitzeln an Nireas Kehle unterbrach weitere ihrer Ge danken.
Tattoos Hand wurde zur Falle. »Hör auf!« krächzte sie. Wieder leckte etwas rauh und verlangend über ihren Kehlkopf. Wäre es seine Zunge gewesen, hätte sie es genossen. Nireas Arme stemmten sich gegen die Brust ihres Liebhabers. Auch dort war er tätowiert. Gesicht reihte sich an Gesicht … Nirea war entschlossen, dieses üble Spiel, das er mit ihr trieb, zu beenden. Sie sammelte ihre Kräfte. Doch jäher Schmerz sprengte die Konzentration. Seine Haut schien nun zu pulsieren. Die Bewegun gen, die dort rollten, erinnerten an eine Folie, die jemand stramm über ein Stück bewegtes Meer gespannt hatte … ICH VERLIERE DEN VERSTAND! Er ließ es nicht zu. Schneller als der Wahnsinn war die Hand an ihrer Kehle. Tattoo tötete das Oberhaupt der Darwin-Sippe. Und zu den Trophäen auf seiner Haut gesellte sich unsterblich eine weitere hinzu …
* Gegenwart, Sydney Er wartete, bis die Arbeiter gegangen waren. Kalt lächelnd sog er die Dämmerung in seine Lungen. Sein Brustkorb schwoll. Das alte Linnen, das ihn seit den ersten Tagen seiner Wanderschaft kleidete, rieb über die unsichtbaren Male. Das stimmlose Flüstern seiner Begleiter konnte lästig werden, denn es verstummte nie. Weder bei Tag noch bei Nacht. Manchmal
war es leise, manchmal laut. Aber immer war es Qual. Die Qual an derer … Er durchwanderte die Baustelle. Den Keller mied er aus gebote nem Anlaß. Dennoch wurde er rasch fündig. »Da!« Es war Achade, die Nimmermüde, die den Abdruck unter vielen fand. Er lobte und streichelte sie dafür mit dem scharfen Nagel seines Zeigefingers. Achade schwoll an. Ihre Augen suchten das Licht, das sie nie wieder finden würden. Auch die anderen griffen nun die entdeckte Fährte auf. »Welch eine Spur!« begeisterte sich Kaedmon, der Schwärmer. Sie verließen den Rohbau in der Paddington Street. Mit geschlossenen Augen bewegten sie sich durch Sydneys Stra ßen, die ganze lange Nacht hindurch, bis sie das Ziel erreichten.
* Ein Park … Helion lachte. Er war ein Kookaburra, ein »Lachender Hans«. Kollernde Laute hackten in die Stille der Nacht. Helion saß in einem dichten Strauch. Das entblätterte Liebespaar in seiner Nähe hielt kurz inne. Dann stimmte die Minderjährige (ge schätzte süße Sechzehn) in Helions Gelächter ein. Kookaburras waren beliebt, putzige Vögel, die immer mal wieder uneingeladen zu einem Picknick erschienen, um sich einen Happen
zu stiebitzen. Auch Helion war zu einem Happen aufgelegt. Er hörte auf zu la chen und ließ die Maske fallen. »Wo mag er stecken?« hörte er das Mädchen fragen, das im Mond licht nicht mehr erkennen konnte als ihren Freund, der seine Hand in ihrem Höschen hatte. »Laß doch den blöden Vogel!« Der Junge war etwas älter als sie – zumindest machte es den Anschein. »Komm wieder runter. Mach schon …« Ihr aufgerichteter Oberkörper sank zurück. Sie trug noch die Blu se, aber die war aufgeknöpft. Darunter trug sie nichts. Sie war gut entwickelt für ihr Alter. Der Junge auch. Und das wollte er ihr offenbar beweisen. Helion sah den unbeholfenen Versuchen eine Weile zu, dann ge nügte es ihm. Er erhob sich von seinem Beobachtungsplatz und lan dete auf dem Boden. Als das nächste Mal Gelächter aufbrandete, fuhren die beiden Halbwüchsigen auseinander. Schemenhaft sahen sie die hochaufge richtete Gestalt, die sich unmittelbar vor ihnen erhob. »Aber, aber«, tadelte Helion. »Wissen eure Eltern, was ihr hier treibt?« »Arschloch!« Der Junge kam auf die Beine. Drohend reckte er die Fäuste. »Elender Spanner, verschwinde!« Hinter ihm stand zitternd seine Freundin auf. Helion nahm die Angst des gutgewachsenen Mädchens gierig in sich auf. »Das ist doch Kinderkram, was ihr hier treibt …« Das Mädchen gab einen erstickten Laut von sich. Sie zerrte am Arm des Jungen und versuchte ihn dazu zu bewegen, mit ihr weg zulaufen. Aber das ließ dessen Stolz glücklicherweise nicht zu.
Nun ja, weit gekommen wären sie ohnehin nicht. »Kinderkram«, echote er. »Kriegst selbst keinen mehr hoch, Gruf tie, wie. Geilst dich beim Zusehen auf, ja?« Er steigerte sich in Rage. Jähzorn lag ihm im Blut. Prima, dachte Helion, als hätte er das große Los gezogen. »Kinder kram«, bestätigte er. »Wie heißt du?« »Billy.« »Und deine kleine Freundin?« »Estelle.« »Estelle? Oh, welch ein Name …!« »Billy!« Sie zog heftiger an ihm. »Hör auf, dich mit ihm zu unter halten! Was ist los? Komm doch endlich …!« Billy stand wie angewurzelt. Seine Fäuste waren immer noch ge ballt. Aber irgendwo auf dem langen Weg zwischen Hirn und Fäus ten schien seine Entschlossenheit geronnen zu sein. »Du könntest mir einen Gefallen tun, Billy.« »Welchen?« Schon an der Stimme mußte Estelle allmählich erkennen, daß ihr Freund in der Klemme steckte. Andererseits war das, was geschah, so abwegig, daß sie den Grund einfach nicht durchschaute. »Halt sie für mich fest. Sie soll ruhig schreien. Hier draußen ist au ßer uns drei tollen Typen weit und breit niemand. Und – offenge standen – ich mag ihr Temperament.« Estelle erstarrte. Ihre Hände krallten sich immer noch um Billys Arm. Doch dann ließ sie los. Sie versuchte sich abzuwenden. Weg zurennen. Billy war schneller. Er packte sie. »Gut so. Die Arme auf den Rücken. Stell dich hinter sie. Die Bluse laß ruhig offen …«
»Bil-ly …!« Der Junge gehorchte aufs Wort. Helion manipulierte ihn nach Be lieben. Estelle konnte strampeln, so viel sie wollte, gegen Billys Kraft kam sie nicht an. Daß sie nach ihm trat und ihn auch traf, störte Helion nicht. Dicht vor ihr blieb er stehen. Seine messerscharfen Nägel liebkosten die Stelle, die es ihm angetan hatte, und brachten sie endlich zur Aufga be. »Tun Sie mir nichts – bitte … Billy, du verdammtes Arschloch! … Ich mache, was Sie wollen, aber bitte: Tun Sie mir nichts …!« »Wie könnte ich?« Helion war sich sicher, daß sie nie auf den Gedanken gekommen wäre, was er wirklich von ihr wollte. Sie besaß so viel davon. Er beschloß, sie nicht zu töten. Sie war jung. Sie sollte ihr Leben noch etwas genießen. »Wann ist dein Geburtstag?« »In … drei … Wochen …« »Wie alt wirst du?« »Sieb-zehn …« Helion lobte sich für seine gute Schätzung. »Wir sollten uns öfter sehen, Estelle, meinst du nicht auch?« Sie preßte die Lippen zusammen. Er wußte, daß sie ihm im Mo ment alles versprochen hätte. Sie hatte Todesangst. Das Verhalten ih res Freundes machte sie völlig fertig. Sie nickte. »Lieb.« Helions Mund glitt an ihrem vorbei. Tiefer. Er bohrte die Zähne in ihre zuckende Ader und weidete sich an ihrem vitalen Blut. Sie schrie und fing wieder an, um sich schlagen zu wollen. Bil
ly hielt sie eisern fest. Zur Belohnung durfte er auch von ihr kosten. Als Helion sie verließ, lagen sie wie schlafend im Gras. Wenn die Morgensonne sie weckte, würden die Male an Estelles Hals gut verheilt sein. Estelle … Helion war entzückt von diesem Namen. Als er in den geheimen Treffpunkt der Vampire zurückkehrte, wurde er von Hora in Empfang genommen. »Ich habe einen Auftrag für dich …« Hora erklärte präzise, was er von ihm erwartete. Helion gehorchte.
* Zur gleichen Zeit Die dunkle Residenz einer Kreatur … Er war hungrig. Er durchstreifte Räume, deren Kargheit eine ganz eigenartige Atmosphäre schuf. Es beunruhigte ihn, daß er sich in diesen Wänden wohlfühlte. Duncan Luther blieb in der offenen Tür zu einem weiteren, ihm unbekannten Zimmer der Villa stehen. Er rechnete damit, irgendwo auf ein schreckliches Geheimnis zu stoßen. Lilith hatte das Haus zwar durchsucht, aber auch ihr konnte etwas entgangen sein. Es war immer noch möglich, daß Virgil Codds einstiges Heim nur schein bar menschliche Bedürfnisse widerspiegelte. Denn Codd war kein Mensch mehr gewesen, als er als Vasall der Vampire im Polizei-
Hauptquartier von Sydney tätig gewesen war. Als Polizeichef. Wie lange war das her? Nicht länger als ein Fingerschnippen. Für mich, dachte der blonde Mann mit Rückgrat. Es war zwar ge flickt, dieses Rückgrat, aber immerhin hatte er es wieder. Irgend je mand hatte ihn vom Tod ins Leben zurückgeworfen! Soweit, dies zu glauben, war er inzwischen. Er war in Neu-Delhi gestorben, von ei nem indischen Vampir ermordet. Und dann …? Es war, als hätte er monatelang geschlafen. Erwacht war er in Mauretanien. Ein alter Araber, an den er kaum noch Erinnerung be saß, hatte ihn zu einer Oase in der Nähe der Stadt Bir el Khza’im ge bracht. Dort hatte Duncan wieder geschlafen. Wirre Träume hatten ihn gequält. Dann war Lilith plötzlich dagewesen. Und nun waren sie beide, nach einem kurzen Abstecher nach Skandinavien, wieder hier in Sydney angelangt. Wo auch nichts mehr war, wie Duncan es kannte. Wo ihre gemeinsame Freundin Beth MacKinsay plötzlich alles verabscheute, was sie vorher ge mocht hatte. Freunde inklusive … Er drückte den Schalter. Seine Augen gewöhnten sich an das Zwielicht. Und mehr wurde ihnen in Codds Residenz auch nirgends geboten. Duncan hatte noch nie zuvor geschwärzte Glühbirnen gesehen. Als Gag in Studenten buden war schon mal »Rotlicht« angesagt. Aber Codd war es kaum je um kuschelige Knutschorgien gegangen. Codd ist tot. Endgültig. Das hatte Lilith berichtet, deren Diener Codd in der letzten Phase seiner Existenz gewesen war. Genug!
Duncan betrat den Raum. Er versuchte die Bedeutung eines Zim mers herauszufinden, dessen Wände, Boden und Decke komplett ge kachelt waren. In der Mitte des Raumes fiel der Boden allseitig ab und mündete in einen großen Abfluß, der von einem Gitterrost gesi chert wurde. Oben an der Decke hing eine ganze Batterie von Dü sen. Codds Dusche? Duncan Luther suchte vergeblich nach Armaturen. Es gab keine. Jedenfalls nicht hier. Die Wände wiesen nicht die kleinste Uneben heit auf. Und auch die Tür, durch die er getreten war, besaß als Be sonderheit eine metallisch glänzende Verkleidung. Innen. Von drau ßen betrachtet sah man dasselbe edle Holzfurnier wie an allen ande ren Türen der Villa. Schulterzuckend räumte Luther das Feld. Erst draußen auf dem Korridor entdeckte er zufällig, was er zuvor vergeblich gesucht hat te: eine Dreharmatur. Wenn Codd die Dusche nicht selbst benutzte, mußten seine Gäste über lange Arme verfügen. Sehr lange Arme. Auch Duncan sehnte sich plötzlich nach einem reinigenden Regen. Kurz nachdem sie aus der Paddington Street hierher gekommen wa ren und sich bei Codd eingenistet hatten, war Lilith noch einmal ge gangen, um ihre Kräfte aufzufrischen. Es gab für sie nur einen Weg, dies zu erreichen … Duncan war geblieben. Er hatte sich – obwohl ebenfalls verausgabt von den Vorkommnis sen – einigermaßen gut gefühlt. Doch kaum war Lilith weg gewe sen, hatte sich sein Dilemma wieder zu Wort gemeldet. Es war Selbsttäuschung gewesen, zu glauben, alles sei wieder in Ordnung. Zwei Tatsachen sprachen dagegen. Andere Indizien konnte man dehnen und nach dem eigenen Wunsch interpretieren – aber dies
nicht: Er hatte Spiegelbild und Schatten verloren. Kaum war Lilith gegangen, hatte er in Codds Heim nach etwas ge sucht, womit er überprüfen konnte, ob dies immer noch galt. Einen Spiegel hatte er nicht gefunden. Aber im Fensterglas, hinter dem die Jalousien geschlossen waren, konnte man undeutlich Teile der Ein richtung widergespiegelt sehen. Man mußte nur genau hinsehen. Auch dort, wo Duncan stand, schien der Raum leer. Lilith wußte nichts von dem Verlust, der ihn mit einem Vampir oder einer Dienerkreatur gleichsetzte. Seit sie ihn gebissen hatte. Zu vor war alles in Ordnung gewesen. Dennoch: Sein Herz schlug im mer noch. Sein Körper war immer noch warm … Die wiedererwachende Qual würgte in seiner Kehle. Es ging über sein Begreifen. Wenn Lilith davon erfuhr, war es aus. Sie wartete nur darauf, daß sie einen Makel an seiner wundersamen Auferste hung fand … Das Rumoren in seinen Gedärmen erinnerte Duncan, daß ihn ur sprünglich der Hunger durch die Räume getrieben hatte. Einen Kühlschrank hatte er noch immer nicht gefunden. Nicht einmal eine Küche. Mittlerweile begann er sich damit abzufinden, daß es beides hier nicht gab. Auch Codd war vampirischer Tradition verpflichtet ge wesen. Der Keim hatte ihn zum Sklaven eines Saftes gemacht, der Ekel in Duncan weckte. Er schüttelte sich. Auch Lilith schien keine Alternative zu diesem »Lebensmittel« zu besitzen. Duncan gab sich einen Ruck. Er drehte an der völlig unsinnig plat zierten Armatur. Von drinnen drang gedämpftes Rauschen zu ihm. Entschieden begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Hose und Schuhe folgten. Den Verband um seinen Arm, wo ihn Beth’ Messerstich ge
troffen hatte, blickte er wie etwas schon halb Vergessenes an. Tat sächlich tat die genähte Wunde keine Spur mehr weh. Er löste die Pflaster, die die Binde hielten, und wickelte die Bahnen ab. Verblüfft starrte er auf die vernarbte, binnen Stunden völlig verheilte Wunde. Schlechtes Heilfleisch, hatte der Arzt, der ihm geholfen hatte, noch diagnostiziert. Doch davon konnte keine Rede mehr sein! Das Fleisch eines Toten würde nie so schnell verheilen, dachte Duncan, als müßte er jede Gelegenheit nutzen, sich selbst den Makel eines Untoten zu nehmen. Noch einmal gab er sich einen Ruck. Achtlos ließ er die Binde fal len. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ätzender Geruch entgegen. Und dann machte er einen Fehler. Er wich nicht sofort zurück auf den Gang, sondern machte noch einen unentschlossenen weiteren Schritt. Die losgelassene Tür schnappte hinter ihm zurück ins Schloß. Ein paar Spritzer, mit Sicherheit kein Wasser, trafen seine Haut und hinterließen schwarze Punkte. Säure! Duncan drückte sich gegen die Fliesen neben der Tür. In die schmale Lücke, wohin der nächstgelegene Strahl nicht reichte. Er zerrte am Knauf. Die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Er fing an zu schreien.
* Lilith kehrte von einem Streifzug zurück, der ihr Erleichterung ver schafft hatte. Sie war – den Umständen entsprechend – wieder rela tiv optimistisch gestimmt. Doch dieser Optimismus hing am seide
nen Faden. In der Villa, in die sie zurückkehrte, wartete jemand, der es ihr schwermachte, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Sie trat durch die Hintertür, und schon im nächsten Moment hörte sie das Ge schrei. Es klang nicht nach Duncan – aber wer sonst hätte es sein sollen? »Miger … Mét kal arag kal mavet ar-tila’ut … Mag’il …!« Liliths Hirn wandelte die fremdartigen Begriffe um, ohne daß sie bewußt etwas dazu beitragen mußte. Diese Gabe, jede Sprache der Welt zu verstehen, war ihr quasi in die Wiege gelegt worden. Es war Duncans Stimme – und seine Schreie beschworen Tod und Sterben herauf! Sie eilte die Treppe nach oben. Anhaltendes Gebrüll erleichterte ihre Orientierung. Kurz darauf stand sie vor einer Tür, gegen die je mand verzweifelt mit den Fäusten klopfte. Als sie die Hand auf die Klinke legte, erwartete sie auf Widerstand zu stoßen. Aber die Tür ließ sich mit geringstem Kraftaufwand problemlos öffnen. Duncan, der dahinter stand, konnte gerade noch ausweichen, um nicht vom Schwung tiefer in die dahinterliegende Kammer gestoßen zu werden. Sein Schrei brach ab. Entsetzen lähmte seinen Atem. Und dann begriff Lilith. Ihre Hand schoß vor. Sie packte ihn beim Schopf – und zerrte ihn daran zu sich hinaus auf den Flur. Sofort fing er wieder an zu brüllen. Hinter ihm dampfte es, und auch an ihm selbst wölkten Dämpfe. Überall dort, wo ihn Spritzer getroffen hatten, sah die Haut wie mit Kohlenstaub überzogen aus. »Säure!« keuchte er. Nur dieses eine Wort. Die Schmerzen, die er ausstand, mußten
höllisch sein. Dennoch ging er zu einer Stelle an der Wand, wo eine chromglänzende Armatur herausragte, und drehte daran. Das leise Rauschen jenseits der Wand verstummte. »Was hattest du da drin zu suchen?« Er schwieg. Ihr Blick fiel auf die genähte Wunde an seinem Arm. Die verheilte Wunde. »Welche … Sprache war das, die du eben benutzt hast?« fragte sie. Er folgte ihrem Blick. Offenbar machte ihn die fortgeschrittene Ge nesung selbst verlegen. Und auch die mit den Spritzern verbunde nen Schmerzen schien er bereits kaum noch bewußt wahrzuneh men. »Sprache?« echote er. »Du hast geschrien – aber mit fremder Zunge.« Er schien nicht zu verstehen. Vielleicht mangelte es aber auch ein fach am verstehen wollen. »Uruk«, sagte Lilith, während ihr Blick über seine nackte Haut glitt. »Uruk?« Er bückte sich nach den abgelegten Kleidern. Dabei gab er den Blick auf seinen Rücken preis. Auch dort gab es – ähnlich der am Arm – eine Zickzacknaht. Auch von dieser – obwohl tödlichen – Wunde zeugte nur noch oberflächliches Narbengewebe. »Mesopotamien«, erinnerte sie ihn an das, was er ebenfalls verges sen zu haben vorgab. Als sie in Europa den Weiterflug nach Australien buchten, hatte Duncan statt Sydney Uruk in Mesopotamien als Ziel genannt. Da nach, zur Rede gestellt, hatte er jedoch nichts davon wissen wollen. »Du hast dich während deines Theologiestudiums doch auch mit Bibelforschung beschäftigt.« Lilith sah ihm zu, wie er sich ankleide te. Vollständig. Ab und zu biß er auf die Zähne, wenn Stoff über
jene Stellen rieb, die eigentlich medizinische Versorgung gebraucht hätten. Aber er hörte, tief in Gedanken, nicht auf, bis er als letztes auch die Schuhe übergestreift hatte. »Das ist richtig.« »Beherrschst du alte Sprachen?« fragte sie. »Ich meine wirklich alte?« Er nickte. »Ein paar Brocken Hebräisch. Im großen und ganzen habe ich mich aber immer mit meinen Lateinkenntnissen durchge mogelt … Warum?« Lilith zögerte. Bislang war sie noch auf keine Sprache gestoßen, die sie nicht wenigstens soweit beherrschte, um den Sinn hinge streuter Sätze zu verstehen. Ihr Dilemma aber war, daß sie nicht au tomatisch sagen konnte: Dies ist Hebräisch! Oder: Dies ist Nepale sisch! Sie war einfach noch zu unerfahren, um jeder Sprache, die ihre Zunge formte, auch den ihr zustehenden Namen zu geben. Vielleicht beging sie einen Fehler, aber sie legte das Thema bei. »Vergessen wir es. Fragen wir uns statt dessen lieber, was Codd mit einer Säuredusche bezweckt hat.« »Spuren beseitigen.« Duncans spontane Antwort bezeugte, daß er für sich persönlich längst Schlüsse aus der Beinahe-Katastrophe ge zogen hatte. Lilith öffnete noch einmal die Tür zu der Kammer. Sie nickte und konnte sich dabei eines abscheulichen Gefühls nicht erwehren. Sie hatte Codd erst kennengelernt, als er von einer »ErlöserFrucht« Leben und Menschlichkeit zurückerhalten hatte. Aber wie jedes getötete und durch den Keim auferstandene Vampiropfer – wie jede Dienerkreatur – hatten ihn davor Triebe geleitet, die durch nichts zu beschönigen oder zu entschuldigen waren. Nicht sein Durst nach Blut war aus ihrer Sicht verwerflich. Dieses Verlangen teilte auch Lilith und konnte es nicht verleugnen. Aber es
kam immer auf die Art und Weise an, mit der man sich seine Nah rung verschaffte. Kreaturen gaben keinen Keim weiter. Ebenfalls verfügten sie nach Liliths Wissensstand über keinerlei magische oder auch nur sugges tive Fähigkeiten. Vielleicht tranken sie deshalb nicht einfach eine ausreichende Menge Blutes und ließen ihre Spender am Leben. Kreaturen mordeten. Ihre Herren, die Vampire, mochten da und dort differenzieren. Sie mochten sich bevorzugte Opfer erwählen, die sie immer wieder be suchten und eine Zeitlang an sich fesselten, ehe sie sie irgendwann töteten, um sie zu getreuen Dienern zu machen – oder durch Ge nickbruch verhinderten, daß etwas entstand, das gleichfalls der Sucht nach Blut verfiel. Den Vampiren mußte selbst am meisten daran gelegen sein, daß es zu keiner »Dienerschwemme« kam. Die Folge wäre Chaos gewesen. Zustände, wie sie jetzt schon in einigen Slums und Gettos rund um den Erdball vorzufinden waren. Wo niemand nach Menschen fragte, verschwanden sie um so schneller. Global gesehen wären solche Zu stände aber auch für die Alte Rasse eine Katastrophe gewesen. »Und nun?« fragte Duncan. Er trat von einem Fuß auf den ande ren und signalisierte, daß er diese Etage verlassen wollte. Sie gingen zurück ins Erdgeschoß. »Es ist bereits Tag«, machte Lilith klar. In tiefster Nacht waren sie gewaltsam hier eingedrungen. »Falls du dich nicht noch etwas aufs Ohr legen willst, sollten wir uns jetzt um deinen Hunger kümmern. Oder willst du künftig in Askese leben?« »Nein«, sagte er, und es lag sicher nicht allein an den Reflexen, die das verhüllte Licht in Codds Villa schuf, daß sich bei diesen Worten Tragik um seine Lippen zu schmiegen schien. »Ich will nur leben …«
* Als sie Codds Villa verließen, wirkten sie wie ein junges, harmoni sches Paar. Sie gingen Hand in Hand. Aber Duncans Blicke schweif ten immer wieder hoch zum Himmel, und er flehte, daß die Wolken, die das Antlitz der Sonne verbargen, Bestand haben würden. Er brauchte Schatten, um den Verlust des eigenen zu verbergen. »Haben wir genügend Geld?« fragte er. »Wir werden dich über die Runden bringen«, versprach sie. Er ertrug ihren Spott. Ihre Blicke kreuzten sich. Duncan hatte das Gefühl, sein Herz müßte zerspringen. Sie hätte nicht so schön sein müssen. Er war sicher, daß sie sich gar nicht bewußt war, was ihr bloßer Anblick anzurichten vermochte. Die hoch angesetzten Wangenknochen waren Eye-Catcher erster Güte, und die jadegrünen Augen sprühten vor Exotik. Eine wilde schwarze Haarmähne unterstrich die Blässe der Haut. Dies und die klaren Züge suggerierten Anmut, Schutzbedürftigkeit. Zumindest letzteres jedoch täuschte. Duncan kannte Liliths dunkle Seite. Das knielange Kleid, das aus den grünschillernden Schuppen ei nes Fisches – nicht minder exotisch wie seine Trägerin – zusammen gesetzt schien, täuschte ebenfalls. Dieses »Kleid« lebte. Es war ein Symbiont mit Mimikryfähigkeiten – und eine Waffe. Wann er zur Waffe wurde, bestimmte mehr und mehr der Symbiont selbst. Sie sind einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, dachte Duncan. Und bedauerte, daß er keine solch enge Bindung, ganz gleich zu wem, besaß. Verrückt. Er wußte, daß Lilith unter der Zwangssymbiose litt, die nur der
Tod beenden konnte. Ihr Tod – oder der des Symbionten … Sie gingen zu Fuß durch das Gewirr der Straßen. Die Stadt trug herbstliche Farben. Duncan spürte Hunger, aber keinen Appetit. Junk Food genügte ihm völlig. Zwei Burger, die wie eingeweichtes Pappmaché schmeckten, sättigten ihn bereits. Dennoch zwang er sich dazu, mit Lilith einen Supermarkt aufzusuchen, durch den sie mit leuchtenden Augen wie ein Kind lief. Das Gewimmel von Men schen und das schier unüberschaubare Warenangebot ließen sie kaum zu Atem kommen. Duncan begriff einmal mehr, wie sehr sich seine Begleiterin von einer normalen Frau ihres – optischen – Alters unterschied. Es gab unendlich viel, was sie nicht einmal aus ihren Träumen kannte. Banale Dinge wie ein Supermarkt zählten dazu. Immer wieder mußte er sie von Regalen losreißen, in denen hun dert unterschiedlich verpackte Varianten desselben Produkts feilge boten wurden. Für Duncan war Markenvielfalt eine Selbstverständlichkeit. Lilith griff sich nur an den Kopf. Ein kühner Vergleich geisterte durch Duncans Hirn: Für Lilith war die ganze Welt ein Supermarkt, in dem das einzige Produkt, das sie zum Leben brauchte, in milliardenfacher Verpackung – eine anders als die andere – zu haben war. Kein Grund, hochnäsig zu werden, Mylady, dachte er. Nicht ganz bei der Sache, schob er den Einkaufswagen durch das Labyrinth. Ab und zu griff er in die Regale. Aber mehr und mehr stieg die Sehnsucht, diesem Trubel wieder zu entkommen. »Genug«, sagte er resolut. »Ich bin versorgt.« Lilith hielt ihm ein Bündel Scheine hin, aus dem er sich bediente. An der Kasse ging es schnell. Die Waren glitten über den BarcodeLeser. Lilith wühlte in einer offenen Kühltruhe und kratzte ihre In itialen in die reifüberzogene Innenwandung.
Duncan ließ sie gewähren. Nach Hause, dachte er. Selbst dies war Lüge. Ein echtes Zuhause gab es nicht mehr. Weder für ihn noch für Lilith. In Codds Villa war alles beim alten, als sie ankamen. Lilith half beim Auspacken der Einkaufstüte. »Ein Buch?« fragte sie plötzlich. Es klang irritiert. Duncan starrte zu dem Bildband, den sie hochhielt. Er konnte sich nicht erinnern, ihn erworben zu haben. Noch weniger hätte er ge wußt, wofür. »Das alte Persien«, versuchte Lilith ihm auf die Sprünge zu helfen. »Was, um alles in der Welt, fasziniert dich ausgerechnet an Persien …?« Er verkrampfte. Ich weiß es nicht. »Hat es dir die Sprache verschla gen?« »Bitte … Ich weiß es nicht …!«
* Moskowitz walkte die Zigarre zwischen seinen dicklichen Fingern. Ab und zu hielt er sie unter den nicht minder ausgeprägten Riech kolben und konnte nicht mehr verstehen, daß er tagelang die aller größte Abneigung gegen die handgerollten »Torpedos« gehabt hat te. Das war vorbei. Als er heute morgen aufgewacht war, hatte er wie aus einem in Jahren antrainierten Reflex in die Nachttischlade gegriffen und sich nicht geekelt vor dem, was sich dort fast wie von selbst in seine Hand gelegt hatte.
Nun paffte er, was das Zeug hielt. Und kam ins Grübeln. Er erinnerte sich ganz genau an sein Zerwürfnis mit Macbeth. Nur der Grund wollte ihm nicht mehr einfallen. Zeit für ein klärendes Gespräch, dachte der Fotograf des Sydney Mor ning Herald. Beth’ Schreibtisch in der Redaktion war die erste Adresse, die er an diesem Tag aufsuchte. Moe Marxx warf ihm einen undefinierba ren Blick aus seinem Glaskasten zu, vertiefte sich aber sofort wieder in der Postmappe. Auch Beth war da. Sie hatte ihren Typ total verändert. Trug Brille statt täglich wech selnder Haftschalen, und statt dem frechblonden Kurzhaar, das so gut zu ihr gepaßt hatte, unterstrich nun eine lackschwarz gefärbte Pagenfrisur die Strenge, die auch in ihrem Wesen Einzug gehalten hatte. Moskowitz erinnerte sich kopfschüttelnd, daß ihm dieses Outfit gestern noch gefallen hatte – obwohl er sonst fast kein gutes »Haar« mehr an seiner einstigen Lieblingskollegin gelassen hatte. »Hallo!« sagte er. Hinter ihrem Computer verschanzt, sah sie auf. Ihr Mund, zum Gegenhallo geöffnet, schloß sich wieder. Mehr als eine zerquetschte Mißfallenskundgebung war ihr nicht entschlüpft. Moskowitz balancierte seinen Allerwertesten auf die Schreibtisch kante und bot Beth eine unbefeuchtete Zigarre an. »Wir sollten re den.« Sie akzeptierte keine Friedenspfeife. »Lassen Sie mich in Ruhe. Sie sehen doch, ich habe zu arbeiten.« Moskowitz überlegte erneut, was er ihr angetan haben könnte. Ihre letzte Co-Arbeit fiel noch in die Zeit der Rattenplage. Sydney
war von grauen Nagern förmlich überschwemmt worden. Bis heute wußte niemand genau, wo die Heerscharen hergekommen und wo hin sie wieder verschwunden waren. Die Erinnerung an damals war getrübt. Moskowitz schob es auf die Nikotinablagerungen in seinen Gefäßen. »Sagen Sie mir, was schiefgelaufen ist«, forderte er geradeheraus. Ihre Finger schwebten eine Weile regungslos über der Tastatur ih res Notebooks. »Schiefgelaufen?« »Mit uns beiden.« Wenn Häßliche Grimassen schnitten, war das eine Sache. Aber wenn hübsche Menschen wie Macbeth dies taten, hinterließ es blei bende Schäden. Beim Betrachter. Moskowitz zuckte vor der Bösartigkeit, die plötzlich in Beth’ Ge sicht stand, regelrecht zurück. Sie brauchte nichts mehr zu sagen. Selbst mehr sprach- denn wortlos stand er auf, drehte sich um und verließ das Büro. Mit Freundschaften, philosophierte er deprimiert, ist es wie mit einer wirklich guten Zigarre. Man sollte sie aufbewahren. Sich erhalten. Nie an zünden, immer nur ansehen. Oder beschnuppern. Ist sie erst einmal ver raucht, gibt sie dir keine Macht der Welt mehr zurück …
* Lilith verließ Codds Villa mit Einbruch der Dunkelheit – und mit festen Vorsätzen. Der eine betraf Duncan, der andere Beth. Um Duncan wollte sie sich kümmern, sobald mit Beth wieder alles im Lot war. Daß etwas mit ihm nicht stimmte, stand außer Frage. Ungeklärt indes war, was es war.
Was ihre (Ex-)Freundin anging, zählte sie die Stunden, bis auch sie endlich zur »Normalität« zurückfand, die Dr. Hemsfield angekün digt hatte. Beth und ihr Kollege Moskowitz waren die von der Wondjina-Pest »Letztinfizierten«. Fast alle Opfer der Persönlich keitsveränderung waren bei Liliths Ankunft aus Europa ohne ihr Wissen bereits genesen gewesen. Beth nicht. Beth hatte das von Frans Stålheim entwickelte Serum erhalten – und nicht darauf ange sprochen. Stålheims Versuch, die Folgen des Infekts medikamentös zu überwinden, durfte als auf ganzer Linie gescheitert betrachtet werden. Geduld war gefragt. Wie jedes andere Opfer würde auch Beth von allein gesunden … Aber Lilith wurde das scheußliche Gefühl nicht los, daß dies vielleicht ein Trugschluß war. Mit ungewissen Ängsten dachte sie an den Moment zurück, als sie Beth das Medikament inji ziert hatte. Mit Gewalt. Freiwillig hätte sie es nicht angenommen … Lilith brauchte fast eine Stunde, um die Strecke von Codds Villa zu Beth’ Apartment zurückzulegen. Der dortige Empfang bot keinen Grund zu Optimismus. Wir müssen draußen bleiben, stand auf dem grellroten Schild an der Wohnungstür. Der ursprünglich abgebildete Hund war von einem nicht sehr begnadeten Künstler durch die Karikatur einer Fleder maus ersetzt worden. Ha-ha-ha, dachte Lilith – und klingelte. Sie hörte die jenseits der Tür nahenden Schritte nur, weil sie ange strengt darauf achtete. Aber auch das Spionauge im oberen Drittel der Tür war neu, und daß niemand öffnete, kam nicht von ungefähr. »Mach auf!« sagte sie. »Ich weiß, daß du da bist!« Stille. Dann erneut Schritte, die sich diesmal entfernten.
Lilith wußte, warum. Beth fürchtete, sie könnte sie zwingen, auf zumachen. Lilith hatte noch nie versucht, ihre hypnotischen Kräfte durch Barrieren hindurch zu entfalten. Aber offenbar wollte Beth nicht einmal riskieren, daß es möglich war. Ihr Verhalten beantwortete aber auch so Liliths Frage. Es hatte sich noch nichts getan. Nichts Positives. Beth’ Zustand war unverändert. Allmählich wurde es kritisch. Lilith verzichtete auf fruchtlose Monologe durch ein Türblatt. Sie suchte die Wohnung von Moskowitz auf, wo sie schon einmal – zu sammen mit Beth – gewesen war. Moskowitz hatte keinen Türspion, und er öffnete. »Ja?« Er kannte sie nicht mehr. Lilith hatte ihm damals jede Erinnerung an ihre Zusammenkunft nehmen müssen. Jetzt vergeudete sie keine Zeit. Sie schlüpfte zu ihm in die Wohnung und unterzog ihn einem hypnotischen Verhör. »Was halten Sie von Ihrem Chef?« »Ich komme mit ihm aus.« »Und Beth MacKinsay?« »Sie versteht ihren Job. Ich mag sie. Aber …« »Aber?« »Sie mag mich nicht mehr …« Lilith ging ins Detail. Was sie erfuhr, genügte, um sicher zu sein, daß Moskowitz seit heute morgen wieder der Alte war. Er erinnerte sich selbst daran, »anders« gewesen zu sein. Den Grund dafür wuß te er ebenso wenig wie den für die erneute Veränderung. Als Lilith sich von ihm verabschiedete, waren ihre Sorgen nicht kleiner geworden. Moskowitz hatte wie alle inzwischen Genesenen reagiert. Nur bei Beth verschleppte sich die Normalisierung.
Warum? Wie zur Antwort pochten plötzlich die Worte von Dr. Hemsfield in ihren Schläfen: Stålheims Serum einzusetzen wäre immer mit einem Wagnis verbunden gewesen …
Vignette Duncans Verhalten wurde immer mysteriöser – jedoch ohne daß eine akute Gefahr von ihm auszugehen schien. Da Lilith keinen Schlaf fand, faßte sie seine »Aussetzer« noch einmal zusammen: In Finnland hatte es begonnen. Am Check-in des Flughafens von Ivalo hatte Duncan auf die Frage der Schalterbeamtin nicht Sydney, sondern Uruk als Ziel angegeben. Während der verhinderten »Säure-Dusche« hatte er in einer sehr alten Sprache gesprochen, die er offenbar nie erlernt hatte. Und bei ihrem Einkauf hatte er ein Buch über ein Land erworben, das zu biblischer Zeit kulturelles Zentrum und Wiege der Mensch heit gewesen sein sollte …! Lilith hatte sich informiert. Im Anschluß an den Besuch bei Mos kowitz war sie in die nächste größere Buchhandlung gegangen und hatte sich tiefschürfende Informationen über das alte Persien und das frühere Mesopotamien besorgt. Dieses Material lag jetzt vor ihr auf dem Tisch. Was in Duncan vorging, wußte sie damit aber immer noch nicht. In keinem der Fälle konnte er auch nur annähernd erklären, was ihn zu seinen Äußerungen und Handlungen bewogen hatte. Lilith fühlte wieder, wie fremd sie einander geworden waren. Wie unüberbrückbar die Kluft zwischen ihnen bereits geworden war. Ein Toter war zurückgekehrt – lebendig. Das allein setzte Grenzen, schuf Distanz. Ich hätte seinem Ruf nie folgen dürfen. Und dann? Die Ungewißheit hätte sie nie wieder ruhen lassen. Aber was bezweckte Landru mit ihm? Ihr Erzfeind hatte Duncan zurück in Liliths Hände gespielt. Das allein outete Duncan bereits als Gefahr. Als brisante Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen
konnte! Je differenzierter Lilith nachdachte und abwägte, desto sicherer wurde sie, daß der wiederbelebte tote Freund sie einerseits verwir ren und zu Fehlern verleiten – und andererseits ausspionieren sollte. Landru hatte richtig spekuliert, daß sie einen ehemaligen Mitstrei ter nicht einfach fallen lassen würde. Er zog ihre menschliche Seite mit ein in sein Kalkül. Und dann – mitten im Durchblättern einer der Broschüren, die sie mitgebracht hatte – überfiel sie die Erkenntnis. Sie glaubte Landru plötzlich ganz zu durchschauen: Es ist seine Revanche! Die Revanche dafür, was ihm Creanna einst an tat! Duncan spielt dieselbe Rolle wie damals meine Mutter im Auftrag der Kelchdiebin …!* Über die Identität der Kelchdiebin wußte Landru offenbar immer noch nicht das Geringste. Aber er wußte, wie Creannas Verrat an ihm vorberei tet worden war. Zuerst hatte sie sich in sein Vertrauen eingeschlichen und dann – als er verriet, eine heiße Spur des Kelchs entdeckt zu haben – hatte sie versucht, ihn mit dem Symbionten zu vernichten … Dasselbe wird Duncan tun, dachte sie. Er braucht keinen Symbionten dazu. Es gibt simplere Wege. Sobald ich den Kelch gefunden habe, wird er sein wahres Gesicht zeigen … Es gab nur den Ausweg, sich von ihm zu trennen! Schleunigst! Natürlich hatte Landru auch diese Möglichkeit bedacht – und ver mutlich als nicht sehr wahrscheinlich eingestuft. Sie konnte Duncan nicht im Stich lassen. Selbst wenn er sich noch merkwürdiger verhalten hätte. Falls Beth sich nicht bald besann, war er ihr einziger Verbündeter. Neue Freunde ließen sich nicht an *siehe VAMPIRA 15: »Ich, Creanna«
jeder Ecke finden. Lilith klappte die Broschüre zu und lehnte sich zurück. Als sie das Licht löschte, war es weit nach Mitternacht. Bis sie endlich Schlaf fand, verging mindestens eine Stunde. Sie lauschte einer Uhr, die ir gendwo verborgen tickte, ließ ihre Gedanken schweifen und fragte sich, welches Verhältnis Codd zum Phänomen der Zeit gehabt ha ben mochte. Ob es je mehr als das rein mechanische Ticken eines Uhrwerks für ihn gewesen war …? Später wurde sie dann von düsteren Träumen heimgesucht. Ge sichter, die sie eigentlich längst vergessen hatte, tauchten plötzlich aus Abgründen empor. Nicht alle trugen Namen, aber sie hatten ei nes gemeinsam: Lilith hatte irgendwann, als sich ihre Wege kreuz ten, von ihrem Blut getrunken: Nick, der Taxifahrer, Leroy, der Mör der, das Trio Halbwüchsiger in Esben Storms Laden … Ich müßte sie alle töten! Selbst im Schlaf wurde sie aufgespürt von jener grausam-drängen den Stimme, die lange geschwiegen hatte. Lilith erzitterte. Aber sie wachte erst auf, als der Tod bereits neben ihr im Zimmer stand.
* Duncan konnte nicht schlafen. Er hatte das Gefühl, überall in diesem Haus Moder zu riechen. Und er war nicht einmal sicher, ob dieser Geruch wirklich vom Haus … oder von ihm selbst kam. Die innere Unruhe zwang ihn – trotz leidiger Erfahrungen –, er neut herumzugeistern. Dabei verhielt er sich annähernd lautlos und mied die Räume, in denen er Lilith vermutete.
Als ein schwaches Geräusch irgendwo im Haus erklang, deutete er es auf naheliegende Weise. Sie wandert auch hier herum, dachte er und zog sich in die nächste Nische zurück, denn er wollte ihr jetzt nicht begegnen. Sehr leise näherten sich Schritte. Sehr langsam dämmerte es Dun can, daß sie nicht Lilith gehörten. Er unterdrückte den Schrei, der in seinen Hals drängte. Vor ihm knarrte eine Tür, und von irgendwoher kam ein anderes, undefinier bares Geräusch. Wir sind entdeckt! Schrei, Narr! Warne sie! Aber er brachte den Laut nicht aus der Kehle. Und dann wäre auch jeder Schrei zu spät gekommen …
* Sie schlug die Augen auf. Im Schlaf hatte sie sich gedreht. Ihr Gesicht zeigte zur Rücklehne der Couch. Dennoch wußte sie sofort, daß sie in tödlicher Gefahr schwebte. Entschlossen schnellte sie vom Polster hoch und ließ sich neben dem Möbel zu Boden fallen. Im nächsten Moment erfüllte ein Schrei aus Wut und Enttäu schung den Raum. Liliths Augen drängten die Dunkelheit zurück. Fahlrote Schleier trübten den Blick der Vampirin, die – der Not gehorchend – ihre menschliche Komponente verdrängte. Sie sah den Eindringling dort, wo sie sich gerade noch befunden hatte. Das fehlende Licht behinderte ihn so wenig wie sie selbst. Er orientierte sich sofort um. Sein Körper hatte sich in etwas verwan delt, das urtümliche Stärke und alptraumhafte Erscheinung in ei
nem war. Sein raubtierhafter Blick suchte das entflohene Opfer. Der Angriff geriet aus unerfindlichem Anlaß ins Stocken. Liliths Gedanken irrten zu Duncan. Ihr wurde die teuflische Du plizität der Ereignisse bewußt: Damals in Indien hatte sie sich auch in ihrem Hotelzimmer gegen Angehörige der Delhi-Sippe behaup ten müssen, während einige Etagen darüber ihr Freund von einem einzelnen Vampir brutal hingerichtet worden war … Damals. Lilith verkrampfte. Sie versuchte, die aufkommenden Gefühle und Erinnerungen zurückzudrängen und sich zu erheben. Plötzlich trat ein zweiter Vampir aus seiner Deckung. Der Symbiont erkannte das volle Ausmaß der Gefahr. Blitzschnell dehnte er sich wie ein lebender Schild über die noch freien Hautstel len, mit Ausnahme ihres Kopfes. Eng. Nur diese Enge ermöglichte es, ihn in diesem Moment richtig zu fühlen. Körperwarm und fast schwerelos schmiegte er sich an sie. Währenddessen spielte sich vor ihren Augen Unglaubliches ab. Aus dem erwarteten Angriff gegen sie wurde … ja, was? Ein Schrei ließ die Wände erzittern. Zwei Vampire wälzten sich über den Boden und kämpften im nächsten Moment kompromißlos gegeneinander! Liliths Wissen um den Kodex machte das, was sich ihren Augen bot, geradezu unbegreiflich. Er verstümmelt ihn, dachte Lilith halb schockiert, halb fasziniert. Der Vampir, der die Gesetze der Vampire mit Füßen trat, trug nor male Straßenkleidung. Und hautfarbene Handschuhe, die als solche nicht sofort erkennbar wären. Doch als er mit der Linken ins Gesicht seines Widersachers stieß und ihm die geballte Faust in den offenen
Rachen rammte, sah Lilith deutlich den ledernen Überzug, der seine Hände schützte. Schwarzes Blut besudelte die Kämpfenden, und als der Kodexbre cher die Faust zurückzog, umklammerte er ein blutiges Etwas – die Zunge seines Gegners! Diese Verstümmelung war nur der Auftakt zu noch gräßlicheren Attacken, deren Brutalität Lilith geradezu in die Zuschauerrolle zwang. Schnell klärte sich, wer lebend aus dieser Auseinandersetzung her vorgehen würde: der Vampir mit den Handschuhen und dem Aller weltsgesicht. Als das Genick des Unterlegenen hörbar brach, war sein Gesicht nur noch eine unkenntliche Masse. Und noch bevor der bekannte Zerfallsprozeß einsetzte, fetzte der Sieger seinem Opfer alle Kleider vom Leib. Er enthüllte etwas, was Lilith noch bei keinem der Alten Rasse gesehen hatte. Tätowierungen. Die Haut des Besiegten war übersät mit farbig punktierten Por träts. »Trophäen!« bellte es Lilith entgegen. »Sieh sie dir gründlich an. Fast könnte man sie schön nennen, oder?« Lilith hörte die Stimme, aber sie begriff das Gehörte kaum. Ge bannt starrte sie dennoch auf das wahrhaftige Kunstwerk, das sich in diesem Moment selbst zu zerstören begann. Überall in der Haut des Toten bildeten sich Klüfte, aus denen schwefelgelber Rauch stieg. Der Leichnam des Vampirs knisterte. Unwirkliche Blitze züngelten darüber hinweg, gespeist von Energien, die aus dem Körper stiegen. Ein Leib, der jetzt wie eine krumige Ackerscholle zu zerfallen be gann, bis sich nur noch feinste, kaltleuchtende Partikel auf dem Bo
den des Zimmers häuften. Gleichzeitig ging mit dem zweiten Vampir eine faszinierende Wandlung vor. Sein Gesicht veränderte sich, nahm andere Züge an! Lilith zwang ihren eigenen Körper, sich in Bewegung zu setzen. Und im nächsten Moment schon fächerten aus dem Symbionten haarfeine Fäden und geisterten als tanzende Medusen auf den sieg reichen Vampir zu. »Das würde ich mir überlegen! Immerhin habe ich dir das Leben gerettet!« sagte er ruhig. Lilith nickte. »Danke!« Sie machte einen Schritt nach vorn. Die hauchdünnen Tentakel fanden ihr Ziel. »Ich möchte deinem … Begleiter wirklich nicht schaden, aber wenn du mich zwingst …« Gelassen sprach er große Worte aus. Zweifellos kannte er die Kräfte und Vorlieben des Symbionten nicht. Es war schwer, sich der eigentümlichen Faszination seines jetzigen Gesichts zu entziehen. Daß ein Vampir sein Aussehen so perfekt und nach Belieben zu modellieren vermochte, war Lilith neu. »Wer bist du?« »Dein Freund …« Während der Symbiont sein übliches Ritual einleitete, schwankte die Stimme des Vampirs nicht einmal. Dafür schien das Mimikry kleid Probleme zu bekommen. Es scheiterte bereits bei dem Ver such, sich ins Fleisch des Unbekannten zu bohren. »Wir sollten hier nicht länger bleiben«, fügte der Fremde seinen Worten hinzu. »Warum?« »Der Todesimpuls«, sagte er. »In kürzester Frist wird die Sippe wissen, was hier geschah. Es erscheint mir wenig ratsam, auf sie zu warten …«
Düsteres Licht flammte plötzlich auf. Duncan stand in der Tür, die Hand noch am Schalter. »Was – geht hier vor?« fragte er rauh. Of fenbar hatte er einen Teil ihrer Unterhaltung mitverfolgt, und nun sah er die vergeblichen Versuche des Symbionten, sich mit schwar zem Vampirblut zu verköstigen. »Wer ist das?« fragte der Vampir. »Wer bist du?« Lilith ignorierte Duncans Frage. Sie hatte nur noch Augen für den Kodexbrecher. »Feyn«, antwortete dieser jetzt ohne Zögern. »Ich bin Feyn. Wir stehen auf derselben Seite. Und nun nimm das verdammte Biest von mir, oder du wirst seinen Verlust beklagen …« Er blufft! Tat er das? In diesem Moment schnellten die Ausläufer des Symbionten zu Li lith zurück. Sie wußte immer weniger, was sie davon halten sollte. »Wer bist du, Feyn?« fragte sie. »Weshalb sollte ich einem wie dir trauen?« »Weil ich es mir verdient habe«, gab er zurück. Lächeln und Antwort waren entwaffnend in ihrem Charme. Lilith ahnte, daß sie einen Fehler beging. Dennoch siegte die Neu gierde. »Okay. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Du hast einiges zu er klären, Feyn …« Ihr Blick fand Duncan, und sie war erschüttert von dem harten Kontrast, den diese beiden Männer bildeten. »Tun wir, was er sagt: Verschwinden wir!«
*
Sie war Fluchten gewöhnt. Aber diese hier war von Anfang an anders, und das lag an Feyn, der die Initiative an sich riß. Die Entschlossenheit, die unter dem Durchschnittsgesicht zum Vorschein gekommen war, beeindruckte Lilith wider Willen. Es war gegen Logik und Vernunft, sich einem Vampir anzuvertrauen. Aber was er getan hatte, war ebenfalls ohne Beispiel und sprach zunächst einmal für ihn. Zudem bedeutete das Scheitern des Symbionten, daß Lilith ihn würde eigenhändig umbringen, wenn sich ihr Mißtrauen bewahrheitete. Davor hatte sie keine Angst – aber nach allem, was geschehen war, wußte sie, daß es nicht einfach werden würde … Feyn führte sie von Codds Domizil weg. Er hielt ein Taxi an und befahl dem Fahrer, sie aus Sydney heraus nach Maroubra zu brin gen, in die Nähe des Flughafens. Auf Liliths Frage, was sie dort erwartete, sagte er ausweichend: »Wir müssen eine möglichst große Strecke zwischen uns und die Verfolger bringen. Alles andere ist im Moment zweitrangig. Wir werden etwas Passendes finden.« Das klang, als hätte er tatsächlich kein bestimmtes Ziel im Auge. Die kommenden Stunden bestätigten dies. In Maroubra, wenige Meilen außerhalb der City, gelangten sie zu einer kleinen Pension, die der Fahrer ihnen »empfahl«. Dort stiegen sie ab wie … Wie Urlauber, dachte Lilith und konnte sich der Unwirklichkeit dessen, was sie mit sich geschehen ließ, kaum noch erwehren. Duncan bestand darauf, ein eigenes Zimmer zu bekommen. Feyn arrangierte es. Feyn arrangierte es auch, daß er mit nur einem weiteren Schlüssel zurückkehrte. Ehe Lilith sich zweimal umschaute, hatte sich Duncan
schon in Richtung Treppe verabschiedet. »Angst vor mir?« deutete Feyn ihr Zögern, wie es ihm gerade ge fiel. Sie nahm ihm den Schlüssel ab und las die Zahl auf dem Anhän ger, die Aufschluß über die Zimmernummer gab. »Es ist ein Doppelzimmer«, erklärte Feyn. »Es gibt uns Gelegen heit, bestehende Mißverständnisse auszuräumen. Darauf wartest du doch …?«
* Noch bevor sich die Tür hinter ihnen schloß, fiel es Lilith wie Schup pen von den Augen. Sie sagte Feyn auf den Kopf zu, daß er Duncan seines freien Wil lens beraubt hatte. Zu ungewöhnlich war dessen Apathie selbst für jemanden, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war. Obwohl Feyn den Vorwurf nicht offen zugab, war sein Lächeln be redt genug. Auch konnte Lilith nicht leugnen, daß sein ganzes Auf treten überaus attraktiv auf sie wirkte. Fraglich blieb jedoch, ob nicht auch dies nur Make-up war. Noch hatte er nicht Liliths Vertrauen. Und doch bist du mit ihm gegangen, dachte sie selbstkritisch. Er stand mitten in dem kleinen, spartanisch eingerichteten Zim mer, in dem es nur das breite Bett, einen Schrank, einen kleinen Tisch, zwei Stühle und – als einzigen »Luxus« – einen ziemlich mit genommen wirkenden Fernseher gab. Er dominierte diese Umgebung so mühelos, wie er einen prunk vollen Palast mit seiner Gegenwart hätte verblassen lassen.
Lilith fühlte sich unwohl und zugleich angezogen von seiner Prä senz. Wie in der ersten Zeit nach ihrem Erwachen kam sie sich plötzlich wieder nichtig und bar einer eigenständigen Persönlichkeit vor. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Überhaupt nicht. »Fang an«, sagte sie. »Ich höre zu. Danach wirst du sehen, ob die ses Zimmer Platz genug für uns beide bietet.« Seine Haut irritierte sie. Sie war sonnenverwöhnter als üblich. Selbst die indischen Vampire hatten sich durch einen unmerklich helleren Teint von den dortigen Menschen unterschieden. Wo stand Feyns Wiege? Wo war er als Kind geraubt, rituell getötet und zum Vampir gemacht worden? »Wo soll ich anfangen?« Hier zu stehen, schien ihm zu gefallen. Er hatte sich nicht ein einziges Mal richtig umgesehen, als dürfte er Li lith keinen Moment aus den Augen lassen. »Ich will deine Geschichte wissen … Und den Grund, weshalb du einen ›Bruder‹ getötet hast.« »Einen Bruder?« Er stieß verächtlich die Luft aus den Lungen. Sein kantiges, ausdrucksstarkes Gesicht schien kurz aufzuleuchten. Aber es waren nur die Augen, deren Glanz sich unter dem Aufwallen der Gefühle änderte. »Wir sind keine ›Brüder‹ …!« »Was dann?« »Feinde.« »Was weißt du über mich?« »Wenig.« »Nenn mir das Wenige!« »Horas Sippe ist hinter dir her.« »Hora ist tot.«
»Dieser Hora war quicklebendig, als ich bei ihm vorsprach …« Er berichtete launig vom neuen Oberhaupt der Sippe, eigentlich Herak, der aber den Namen seines Vorgängers Hora übernommen hatte, als könnte er damit auch dessen Verdienste einheimsen. »Zu welcher Sippe gehörst du?« fragte Lilith, als Feyn eine Pause einlegte. »Zu keiner.« »Was wolltest du dann bei diesem Herak?« »Eine Weile unterschlüpfen. Und ihn vielleicht …« »Vielleicht?« »Irgendwann töten«, sagte er schlicht. Lilith klatschte ärgerlich in die Hände. »Das soll ich glauben?« »Versuch es.« »Warum sollte ich?« »Wir beide«, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu, »sind uns ähnlicher, als du denkst. Unsere Schicksale weisen große Gemein samkeiten auf …« »Bleib stehen!« Er blieb stehen. »Du klingst, als wüßtest du mehr über mich als ich selbst.« »Wäre das abwegig? Schon als ich das erste Mal von dir hörte, spürte ich unsere Verwandtschaft. Ich kam nach Sydney, um dich zu bestärken, unverdrossen weiterzumachen in deinem so aussichtslos scheinenden Kampf. Die Sippe schien mir eine gute Anlaufstelle. Sie ließen mich spüren, daß ich nicht zu ihnen gehöre. Dennoch fand ich dort deine Spur.« »Wie?« »Gerade als ich ankam, hatten sie einen Killer engagiert. Einen
Kopfgeldjäger und Trophäensammler. Ich belauschte eine seiner Verhandlungen mit dem neuen Hora. Man hatte deinen Aufent haltsort in der Villa lokalisiert, schien sich aber zu scheuen, erneute Verluste in Kauf zu nehmen. Du mußt dir schon gehörigen Respekt unter ihnen verschafft haben …!« Lilith glaubte immer weniger, was sie hörte. »Das klingt wie ein Märchen!« hielt sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. »Woher sollte die Sippe meinen Aufenthaltsort gekannt haben?« »Hast du dich nicht gewundert, daß in deinem Versteck, das – wie ich hörte – seit Monaten verlassen stand, immer noch alles funktio nierte: Strom, Wasser, Licht …?« Achselzuckend räumte sie ein: »Es war – ungewöhnlich …« Er verzog das Gesicht. »Nach allem, was man sich von dir erzählt, hätte ich mehr Verstand erwartet!« Er wollte sie kränken. Provozieren. Es gelang ihm. »Die Vampire hatten dieses Haus nie völlig aufgegeben. Es war Absicht, alle Funktionen aufrechtzuerhalten. Als die erste Lampe darin anging, waren sie informiert, daß jemand ›eingezogen‹ war. Daraufhin wurde ein Sippenmitglied als Späher ausgesandt, der dich endgültig erkannte. Sein Name war Helion. Ich wiederum folg te dem Kopfgeldjäger …« Liliths Zweifel wichen nicht. »Es gibt das GESETZ. Und es gibt den Kodex, daß kein Vampir einen anderen töten darf. Du brichst beides offenbar ohne den geringsten Skrupel!« Unbeirrt entgegnete er: »Einer muß es tun …« »Du mußt schon etwas mehr von dir preisgeben«, ließ auch sie sich nicht beirren, »wenn dir wirklich an meinem Vertrauen liegt. Lüfte dein Geheimnis!«
Wieder machte er einen Schritt auf sie zu. Und dann sagte Feyn et was Elektrisierendes. Von den magischen Worten das Magischste. »Hast du je von einem Ort gehört, der sich Beinn Dearg nennt …?« Lilith war außerstande, auch nur mit dem Kopf zu nicken. Sie stand nur da und wartete darauf, von den hervorbrechenden Erin nerungen erstickt zu werden.
* Er war allein. Er starrte auf die Tür zum Nebenraum, als gäbe es dahinter etwas, das ihn rief. Duncan Luther sträubte sich. Er wußte, was dort wartete. Aber er war nicht in der Verfassung, es zu ertragen. Auf dem Bett liegend, schweiften seine Gedanken zu Lilith. Und zu diesem Feyn. Erstaunlicherweise hegte er weder Vorbehalte noch Groll gegen den Vampir. Nicht einmal die Kraft, sich über dieses Fehlen von Mißtrauen zu wundern, brachte er auf. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Er redete wirr – und erinnerte sich kurz darauf schon nicht mehr daran. Er erwarb Dinge, ohne erklären zu können, warum. Mesopotamien … Uruk … Das alte Persien … Sinnlos, darüber nachzudenken. Sinnlos, sich zu quälen. Er erhob sich. Es kam ihm kaum in den Sinn, daß er im Begriff stand, das zu tun, was er gerade noch völlig für sich ausgeschlossen hatte.
Er ging zur Tür. Er trat in den Nebenraum, wo eine enge Hygiene zelle untergebracht war. Und ein Spiegel. Dessen geschliffenes Glas zog ihn an wie ein Magnet. Duncan wehrte sich dagegen, aber er konnte nicht gewinnen. Er war viel zu schwach. Der Spiegel hing wie die Illusion eines Fensters an der Wand. Er gab der Enge eine Tiefe, die nicht vorhanden war. Duncan trat vor dieses »Fenster«. Und sah das Licht. Erst war es klein wie ein Nadelstich, irgendwo weit hinter dem Glas, das noch immer nicht sein Spiegelbild zeigte. Doch es wurde rasend schnell größer. In Sekundenbruchteilen füllte es die ganze Fläche aus. Duncan kniff geblendet die Lider zusammen, doch die gleißende Helligkeit drang mühelos hindurch. Es war kein normales Licht. Duncan spürte mit allen ihm verblie benen Sinnen, daß etwas – jemand? – darin lebte! Und sprach! Er lauschte der Stimme in seinem Kopf. Wie das Licht den Spiegel, füllte plötzlich auch ihn ein einziges Wort aus: »Komm!«
* Das schottische Hochland. Die zerfallene Abtei von Beinn Dearg. Die »gute Vampirin« Fee …
Erinnerungsblitze, die Liliths Hirn durchzuckten. Die bloße Erwähnung Beinn Deargs genügte, um Feyn in einem völlig anderen Licht als bisher sehen zu müssen. »Was hast du mit diesem Ort zu tun?« fragte sie heiser. Seine Augen glitzerten. Er vermerkte die winzigen Hinweise, die ihre wachsende Erregung verrieten. Es war ihr egal. In diesem Moment achtete sie nicht auf Mechanis men, die ihre wahren Gefühle zu verbergen halfen. Er lächelte – und erwiderte das, was sie bereits wußte. Weil es kei ne andere Erklärung gab. Zumindest keine, auf die sie selbst gekom men wäre. »Ich wurde dort geboren.« Es klang nicht sehr besonders in dem Ton, den er wählte. Aber er war sich der Wirkung seiner Worte vollkommen bewußt. Die Lebensgeschichten von Fee und Creanna spülten in Lilith hoch. Fee, die ebenfalls in Beinn Dearg »geboren«, gefangengehalten und gequält worden war. Aus ihrem Mund hatte Lilith erstmals von der Existenz dieses Ortes gehört, der auch im Leben ihrer Mutter Creanna eine entscheidende Rolle gespielt hatte.* In Beinn Dearg war Creanna eine gleißende Lichtgestalt erschie nen. Dort hatte sie von ihrer Bestimmung erfahren, ein lebendiges Kind zu gebären. Das war jedoch zu einem Zeitpunkt gewesen, als diejenige, die Fee schuf, die Abtei längst aufgegeben hatte. »Wann?« fragte Lilith. »Wann wurdest du dort geboren? Wie alt bist du?« »Wenn ich dir dies sagte, würdest du mich am Ende meiner Unrei fe wegen verschmähen …«, kokettierte er. »Wie alt?« *siehe VAMPIRA 12: »Freaks«
»Runde hundertdreißig Jahre – wenn meine Rechnung stimmt.« Diesmal bezähmte Lilith ihre Emotionen. Feyns Eröffnung wäre sensationell gewesen, wenn Lilith vor ihm nicht schon Fee begegnet wäre. Denn auch Fee war deutlich nach dem Raub des Lilienkelchs vor knapp 268 Jahren gezeugt worden. Und ohne den Kelch konnte es keinen vampirischen Nachwuchs geben! »Dann wurdest auch du von der Diebin geschaffen …« »Diebin?« »Was hast du in Beinn Dearg erlebt? Wurdest du dort … eingeker kert?« Feyns Blick schien sich nach innen zu richten. Als jagte er schnell an einer unsichtbaren Kette seine Lebensjahre zurück zu den Anfän gen und frischte auf diese Weise verblassende Erinnerungen auf. »Ich denke, ja«, sagte er schließlich. »Mußtest du – Prüfungen absolvieren?« »Auch das.« »Und bist du je einer Vampirin mit kupferroter Haarmähne begeg net, die sich vorzugsweise in Leder schirrte?« »Sie ist meine Mutter.« Lilith hatte das Gefühl, in einen Strudel gezogen zu werden. Sie kämpfte gegen die saugende Kraft an. Zitternd stand sie da. Feyns Gesicht, an dem sich ihr Blick festzuhalten versuchte, verschwamm. Schwindel griff nach ihr. Sie blieb nur stehen, weil er plötzlich bei ihr war und sie sacht stützte. »Deine … Mutter …«, wiederholte sie. »Wie ist … ihr Name?« »Das weiß ich nicht.« Lilith straffte sich ruckartig. Die an ihr zerrenden Kräfte wichen. »Du nennst sie Mutter und kennst nicht einmal ihren Namen?« Noch während sie sprach, erinnerte sie sich, daß Creanna nicht an
ders gewesen war. Feyn und sie besaßen, wenn Liliths Schlußfolge rungen stimmten, dieselbe Schöpferin. Creanna war von der namen losen Kelchdiebin in Llandrinwyth gezeugt worden – Feyn in der Abtei von Beinn Dearg. Schon Fees Bericht war zu entnehmen gewesen, daß sie nicht die einzige Eingekerkerte, das einzige Experiment auf Beinn Dearg gewe sen war. Im Gewölbe der Abtei gab es damals Vorrichtungen für viele Gefangenen. Fee war entkommen, weil die »schwefeläugige Vampirin« sie fälschlich für tot gehalten hatte. »Wie bist du entkommen?« fragte sie. Nur Feyns Augen verrieten, daß die Erinnerungen an damals auch ihn aufwühlten. »Sie verlieh mir besondere Gaben. Ich mußte ihr nicht entkommen. Sie gab mich eines Tages frei …« Liliths Mißtrauen fand neue Nahrung. Ungläubig fragte sie: »Sie ließ dich einfach ziehen? Mit welcher Begründung?« »Ich sollte gehen und töten.« »Wen?« »Vampire.« Lilith mühte sich, nichts von dem, was sie gehört hatte, zu verges sen oder durcheinander zu bringen. Feyn – Fee. War die Ähnlichkeit beider Namen Zufall, oder erlaubte sie Rück schlüsse auf den Namen derer, die sie mit dem Kelch geschaffen hatte? Bei den Vampir-Sippen war es offenbar Usus, Angehörige derselben Familie mit dem gleichen Initial zu versehen. Aber Creanna paßte nicht in dieses Muster. Tatsächlich nicht? Die Umstände von Creannas Geburt unterschieden sich schon auf den ersten Blick kraß von Fees und Feyns Entstehung …
Lilith verwarf den Gedanken, der sie – selbst wenn er stimmte – nicht weiterbrachte. Es war unmöglich, aus einem Anfangsbuchsta ben Rückschlüsse auf den Namen der Kelchdiebin zu ziehen. Zumindest so lange, bis irgendwann irgendwo ein Name auf tauchte, der in dieses Muster paßte …
* Seine Hände krampften sich um den Rand des Waschbeckens, als das Licht schon längst erloschen war. Das Licht! Dieses zärtlich-entsetzliche Licht! Ein schwacher Wider schein geisterte noch immer über seine Netzhäute. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Brennen, das es in ihm entzündet hatte. Als würden zwei gewaltige Kräfte gegeneinander reiben und sich nicht um die Hülle scheren, die sie beide beherbergte. Schmerzerfüllt richtete Duncan sich auf, riß den Spiegel von der Aufhängung an den Wandfliesen und zertrümmerte ihn über dem Becken. Der Scherbenregen kümmerte ihn so wenig wie der laute Knall. Seine Sinne – nicht nur die Augen – waren geblendet von der Macht des Lichts. Ganz schwach nur, als gehöre dieser Körper gar nicht zu ihm, spürte er einen anderen, realen Schmerz, der von seinem Hals aus ging. Von den längst verheilten Wunden, aus denen Lilith getrun ken hatte. Er preßte Daumen und Zeigefinger an den Hals. Dort pochte sein Herz, wie bei einem lebendigen Menschen. Aber auch das half nicht zu vergessen.
* Es war, als würde ein Damm brechen. Feyns Nähe sensibilisierte Lilith geradezu überfallartig für die tie fe Einsamkeit dieses Mannes. Und für ihre eigene. Es ist wahr, dachte sie beklommen – vielleicht in einem letzten Ver such, sich gegen das zu wehren, was der gewonnenen Einsicht fol gen mußte. Wir sind uns in vielem ähnlich. Und wir dienen offenbar derselben Sache … Aber warum hatte sie dann nicht früher von ihm erfahren? Warum hatte das HAUS ihn verschwiegen? Ihn und Fee …? »Ich verstehe deine Verwirrung«, sagte er. Seine Hände hielten sie weiter fest. »Was – ist das?« Ein ungewisser Schmerz breitete sich von dort aus, wo er sie mit behandschuhten Fingern festhielt. Sie löste sich von ihm und wollte nach seiner Hand greifen, aber er wehrte ab. »Warum trägst du Handschuhe?« fragte sie. »Es sind Erinnerungsstücke.« »An wen oder von wem?« »Von ihr. Sie gab sie mir damals, ehe sie mich verstieß.« »Verstieß? So hast du es empfunden?« »Ich spreche nicht gern darüber.« Sie forschte in seinem Gesicht. Wieder glaubte sie, von seiner Me lancholie mitgerissen zu werden. »Ich kann es dir nicht ersparen.« Sehr ernst pflichtete er bei: »Wir müssen beide wissen, mit wem wir es zu tun haben. Sonst machte es keinen Sinn.« »Wovon redest du?«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich sehe, wie unglücklich du bist.« Lilith schnürte es die Kehle zu. Sie wollte widersprechen. Ihre Ge danken wirbelten durcheinander. Feyn … Die Abtei von Beinn Dearg … »Worin bestehen deine besonderen Fähigkeiten?« fragte sie. »Du hast es gesehen. Ich kann mein Aussehen beliebig verändern. Und ich bin stark genug, es selbst mit gedungenen Killern aufzu nehmen.« Lilith nickte. »Du erhieltest den Auftrag, Vampire zu töten. Kennst du den Sinn dieses Befehls?« Er verneinte. »Und das hat dich nie belastet?« Seine Augen schienen sich mit brodelnder Finsternis zu füllen. »Reden wir von dir«, wich er aus. Sie schüttelte den Kopf. Er mußte ihre Konfusion spüren und bedrängte sie deshalb nicht weiter. Er fragte nur: »Wie könnte ich dein wirkliches Vertrauen er langen? Ich merke, daß dich immer noch Zweifel an meiner Aufrich tigkeit plagen.« »Wundert dich das?« »Nein. Aber ich will es ändern. Unbedingt. Ich bin sicher, es würde uns beiden helfen.« Lilith unterdrückte die Frage, was genau er sich davon versprach. Sie ahnte es längst. »Du kennst den neuen Treffpunkt der Sippe. Du warst dort. Führe mich hin«, verlangte sie. »Ich könnte mir vorstellen, daß dies ein gu ter Anfang wäre …« Wovon? fragten seine Augen.
Ihre eigenen versagten – noch – die Antwort darauf.
* Virgil Codd war gestorben, bevor er sein Wissen über den neuen Unterschlupf der Vampire von Sydney an Lilith hatte weitergeben können. Nun sprang Feyn in die Bresche. Feyn, der Geheimniskrämer. Er hatte viel geredet, aber wenig verraten. Mehr als ein Zipfel der wahren Rätsel um seine Herkunft war nicht gelüftet. Fee hatte sich damals auskunftsfreudiger gezeigt. Und offener. Aber auch sie hatte dafür Zeit gebraucht, und dieselbe Chance mußte dem Vampir ein geräumt werden, der sich nicht scheute, Vampire zu töten … Lilith ließ sich von ihm führen. Ehe sie die kleine Pension verlas sen hatten, war ein kurzes Gespräch mit Duncan unumgänglich ge worden. Lilith hatte ihn nur ansehen müssen, um zu begreifen, daß der wiedergekehrte Freund auf eine neue Krise zusteuerte. Sie wuß te schon jetzt, daß sie ihm nicht würde beistehen können. Sie hatte es nicht einmal fertiggebracht, ihn darauf anzusprechen. Wie ein verängstigter, abgemagerter Straßenköter hatte er auf sie gewirkt. »Geh nur«, war seine einzige Reaktion auf ihre Absicht gewesen, mit Feyn zu gehen. »Du wartest hier?« »Wo sollte ich hingehen?« Er hatte über dem aufgeschlagenen Buch über das alte Persien ge kauert. »Ist dir inzwischen klar geworden, was dich daran fasziniert?« »Nein.« Am Ende war sie froh gewesen, seine Gesellschaft mit der Feyns
zu vertauschen. Und nun erreichten sie im zweifelhaften Schutz der Dunkelheit je nen Bezirk, in dem der neue geheime Treffpunkt der Sippe liegen sollte. »Ein Industriegebiet«, sagte Lilith verblüfft. Der Wagen, den Feyn »gechartert« hatte, fuhr langsamer. Rechts und links zogen kleinere Firmen vorbei. Alle umzäunt. Alle finster. Feyn befahl der Fahrerin zu halten. Die hübsche Frau gehorchte unverzüglich. An einer roten Ampel waren sie zugestiegen, ohne Aussicht, ir gendwo schnell ein Taxi zu bekommen. Lilith hatte sich passiv ver halten. Sie war in die Rolle einer Beobachterin geschlüpft, und es in teressierte sie, wie sich Feyn in den kleinen Dingen des Alltags verhielt. Der Ort, an dem sie sich jetzt befanden, lag sechs Meilen von Ma roubra entfernt. Es gab einen Expressway-Anschluß. Der aufgegebene Sippen-Unterschlupf hatte unter einem entweih ten Friedhof gelegen. Etwas Vergleichbares würden sie hier nicht finden, und im nachhinein wunderte sich Lilith, daß sie etwas Der artiges erwartet hatte. »Den Rest Weg gehen wir zu Fuß«, entschied Feyn. Zu der Besitze rin des Wagens sagte er: »Du wartest hier, mein Täubchen. Ich wer de dich fürstlich entlohnen …« Während sich ein leeres Lächeln auf das Gesicht der Frau zauber te, kam Lilith der beunruhigende Gedanke, daß es mit Feyns Keim eine ähnliche Bewandtnis haben könnte wie bei Fee, deren Biß das Leben ihrer Opfer verlängerte. »Worauf wartest du?« fragte er, bereits von außerhalb des Wa gens. Lilith stieg aus. Wolken jagten am Himmel. Es war stürmisch.
Aber außer dem Wind war kein Geräusch zu hören. Um diese Zeit wurde offenbar nirgendwo gearbeitet. Alle Maschinen standen still. »Klug gewählt, das muß man ihm lassen«, lobte Feyn das neue Oberhaupt, das Lilith bislang nur vom Hörensagen kannte. Sie ent fernten sich vom Wagen. »Müssen wir nicht vorsichtiger sein?« fragte sie. »Gibt es keine Posten?« »Nur im Zentrum. Hier genügt es vollkommen, wenn wir den Himmel im Auge behalten.« Lilith wollte sich keine Blöße geben. Deshalb hakte sie nicht nach. Außerdem konnte sie sich ausmalen, was er damit meinte. Minuten später erreichten sie den weitläufigen, von hohen Zäunen geschützten Gebäudekomplex, der – wie alles ringsum – in tiefe Dunkelheit gehüllt war. Hinter keinem Fenster brannte Licht. Wozu auch? dachte sie. Sie blieb dicht am Zaun und ein gutes Stück vom nächsten Tor entfernt stehen. »Hier ist es?« »Du siehst nur die Spitze des Eisbergs.« Ihr Blick haftete an dem riesigen Schild, das die Fassade schmück te und das von einer Aura düsterer Magie umwoben schien. SALEM ENTERPRISES
* »Wenn du dich umsehen willst, mußt du es allein tun. Mir ist das Pflaster zu heiß. Die Übermacht hier ist zu gewaltig. Und inzwi schen weiß man vermutlich, daß mein Verschwinden mit deinem Entkommen zusammenhängt …« Lilith glaubte nicht, daß Angst der wirkliche Grund war, weshalb
Feyn darauf bestand, am Zaun zu warten. Es paßte einfach nicht. Es paßte nicht zu dem, was er über sich er zählt hatte. Lilith sah ihn an und fürchtete sich plötzlich vor ihren eigenen Ge fühlen. Wieso empfand sie Sympathie für dieses Wesen, das zu hun dert Prozent aus dem Stoff ihrer Feinde geschaffen war? Weil sie auch seine Feinde sind – weil er attraktiv ist – und weil er dir geholfen hat …! Sie schob die Einsprengsel ihres Unterbewußtseins beiseite. »Ist das dein Ernst?« »Ich denke nicht, daß dies eine gute Zeit ist, deine verständliche Neugierde zu befriedigen. Du solltest bei Tag wiederkommen.« »Ich habe nicht vor, ins Zentrum des Treffpunkts vorzudringen«, stellte sie klar. »Mich interessiert die Firma. Und dafür ist es eine verdammt gute Zeit, schätze ich.« Feyn wartete mit unbewegter Miene, daß sie ihm ihr Interesse an Salem Enterprises näher erläuterte. In diesem Moment näherte sich Fahrzeuggeräusch. Lilith und Feyn handelten synchron. Derselbe Gedanke leitete sie, als sie in ein Gebüsch zwischen Straße und Zaun tauchten. Ohne Beleuchtung rollte der Van heran – einer von jenen, die Dun can in der Paddington Street beobachtet hatte. Keine Frage, wer hin ter dem Steuer saß. Der Transporter kam aus derselben Richtung wie Lilith und Feyn die Straße herauf. Möglicherweise hatten die Insassen den Pkw be merkt, der weiter hinten am Fahrbahnrand parkte … »Was weißt du über die Sicherheitsmaßnahmen auf dem Gelände?« flüsterte Lilith. Wieder spürte sie Feyns Nähe mit einer Intensität, die ihr die Nackenhärchen aufrichtete.
Etwas war dran an diesem Vampir. Etwas … Ungeheuerliches. Er verstand es nicht nur, mit Magie umzugehen – er kannte seine Wir kung auch auf intimeren Gebieten. Lilith hatte das Gefühl, daß er fortwährend nur sie beobachtete und nicht den Van, der achtlos an dem Gesträuch vorbeifuhr. »Menschen!« sagte er verächtlich. Es dauerte, bis Lilith begriff, daß dies ein Teil der Antwort auf ihre gestellte Frage war, denn er fuhr fort: »Sie bedienen sich eines Wachdienstes aus unterworfenen Menschen. Keine Keimträger!« Die wenigen Worte genügten, daß Lilith sich erneut fragte, wie Feyns Verhältnis zu den Menschen geartet sein mochte. Sie hatte es vorhin schon herauszufinden versucht. Aber seine »Höflichkeit« ge genüber der Unbekannten, die sie hierher chauffiert hatte, konnte ebensogut Zynismus gewesen sein. Auch wenn Vampire Feyns Feinde waren, mußten Menschen nicht unbedingt seine Freunde sein – nicht, wenn man eine »Mutter« wie er besaß! Die Schwefeläugige! Die Diebin des Kelchs! Schloß sich wirklich ein Kreis? War Feyn der ersehnte Schlüssel zu lange ersehnten Antworten? Lilith schüttelte den Kopf. »Was ist?« »Nichts.« Sie beobachtete, wie der Van fast am Ende der überblick baren Straßenfortführung durch ein Tor fuhr, das sich automatisch geöffnet hatte – und ebenso wieder hinter ihm schloß. »Ich gehe jetzt. Du kannst mitkommen, warten oder – gehen.« Sein Blick verriet, daß er seine Meinung noch nicht geändert hatte. »Ich warte.« Lilith ging.
* Gab es magische Fallen? Warnvorrichtungen außer jenen gut sicht bar montierten Überwachungskameras auf den Zaunpfosten? Feyn hatte dies verneint. Kurz hatte Lilith gezögert, sich in seinem Beisein in ein Tier zu transformieren, dem die hohen, mit Stacheldraht gesicherten Zäune nichts ausmachten. Doch dann war sie über ihren Schatten gesprun gen, und nun trieb sie ihren verwandelten Körper mit harten Schlä gen durch die Lüfte. Aus der Vogelperspektive wirkte die Aufteilung der miteinander verbundenen Gebäudetrakte nicht mehr so willkürlich wie von der Straße aus vermutet. Der Komplex hatte die Form eines Kreuzes. Es mochte Zufall sein oder Absicht, jedenfalls empfand Lilith keinerlei Bedrohung durch die Nähe dieser Struktur. Dennoch beeilte sie sich, jenseits des Zaunes wieder festen Boden unter die Füße zu bekom men. Den Bereich, der ins »Innerste« der Sippe führte, mied sie weit läufig. Daß Salem Enterprises und die Vampire eng miteinander ver flochten waren, hatte sie schon vor diesem Besuch gewußt. Dennoch hätte sie kaum spekuliert, daß der Firmensitz auch identisch mit dem neuen Sitz der Sippe war. Der Zugang zum Versammlungsort lag an der »Spitze« des Kreu zes. Lilith jedoch landete am unteren Ende des Komplexes auf ei nem mit feinen Steinen aufgefüllten Flachdach. Die Rückverwand lung machte keine Probleme, und das Knirschen ihrer Sohlen war angesichts dieses Untergrunds einfach unvermeidlich. Es störte sie nur anfangs. Zu unwahrscheinlich war es, daß dieses Geräusch in luftiger Höhe von jemandem gehört wurde. Von wem auch? Das Gebäude, auf dem sie sich bewegte, war finster wie jedes andere in
der Umgebung. Niemand arbeitete im Dunkeln – nicht einmal Krea turen. Es wäre unsinnig gewesen. Fahle Röte begleitete Liliths Weg zur nächsten Dachluke. Als sie sie anzuheben versuchte, stellte sie fest, daß die Luke von innen ver riegelt war. Aber es kostete kaum Anstrengung, diese Sperre ge waltsam zu sprengen. Auch die Lärmentwicklung war kaum größer als das bisherige Schrittgeräusch. Während sie die Leitertreppe hinter der Luke hinabstieg, versuch te sie in Kontakt mit ihrem Symbionten zu treten. Wie er die Fleder mausflüge mitmachte, blieb sein Geheimnis. Während einer Trans formation hatte Lilith bislang keine Zeit gefunden, sich damit zu be fassen. Ihn auf solche Weise loszuwerden, wäre jedoch zu simpel ge wesen, hatte er ihr doch – wie jedem Träger vor ihr – geschworen, sie erst zu verlassen, wenn irgendwann ihr Tod kurz bevorstehen würde. Lilith hatte dieses Danaergeschenk ihrer Mutter mehr als einmal verflucht – und war ebenso oft zwischenzeitlich froh darüber gewe sen. Wirklich versagt hatte es erst zweimal: bei Landru (der Grund hatte sich inzwischen durch Einsicht in Creannas Werdegang ge klärt) und nun bei Feyn. Das zu akzeptieren fiel ihr seltsamerweise bei Landru leichter. Ihn hatte Lilith nie als »normalen« Gegner empfunden. Ihm hatte immer der Ruch des Besonderen und Mächtigen angehaftet. Aber Feyn … Wie mächtig war jemand, der aus den Machenschaften der Kelchräuberin hervorgegangen war? Und welchen mysteriösen Zweck hatten ihre Experimente verfolgt, die irgendwann in der Zeit spanne von 1850 bis 1880 in der Abtei von Beinn Dearg stattfanden? Als Creanna 1881 dort ankam, war die Ruine verlassen gewesen. Wie lange bereits, hatte sie nicht herausgefunden. Und doch hatte
sie dort von einer körperlosen Entität ihre Bestimmung erhalten … Lilith erreichte den Boden der Kammer, in der Instandhaltungsund Säuberungsgerät herumstand. Die Beobachtung, die sie hier machte, brachte die schweifenden Gedanken zur Räson. Licht fiel durch den Türritz! Sofort erstarrte sie. Hatte man den Einbruch doch bemerkt? War schon jemand unterwegs, sie gebührend in Empfang zu nehmen …? Eine Weile verhielt sie sich still und abwartend, jederzeit bereit, über die Leiter zurück nach oben zu fliehen, falls ein Schatten das Licht von jenseits der Tür unterbrechen sollte. Als nichts dergleichen geschah, schüttelte sie die Starre ab. Die Tür war unverschlossen, der Korridor dahinter taghell erleuchtet, aber verlassen. Verwundert sah sie, daß der Gang an der Außenfassade entlangführte und von mehreren Fenstern unterbrochen wurde. Noch einmal vergewisserte sie sich, daß niemand in der Nähe war, dann trat sie vor die nächstliegende Scheibe und spähte hinaus in die Nacht. Kein Licht streute ins Freie. Obwohl sie es nicht gleichzeitig von draußen überprüfen konnte, war sie nach dieser Beobachtung si cher, daß das Licht hier schon die ganze Zeit brannte. Hier – überall … Als sie sich weiterbewegte, hörte und fühlte sie ein schwaches Dröhnen. Es kam aus dem Boden, aus einem darunterliegenden Stockwerk. Drei Etagen hatte Lilith zählen können. Sie wandte sich zur Treppe am Ende des Korridors. Es gab auch einen Lift, aber nach dem, was sie von Feyn über die Überwachung von Codds Villa erfahren hatte, schloß sie nicht aus, daß der Betrieb jedes Aufzugs kontrolliert wurde. Als sie die Stufen abwärts stieg, wurde das Dröhnen lauter. Sie
spürte es in ihren Füßen, und es war unangenehm. Gleichzeitig wurde Lilith bewußt, wie wenig konkret ihre Vorstellungen über die Branche war, in der sich die Deckfirma der Vampire verdingte. Das im Bau befindliche Hochhaus dort, wo sich einst Liliths Ge burtshaus erhoben hatte, ging auf ihr Konto. Ein Schild verwies In teressenten für die entstehenden Wohnungen an Salem Enterprises. Vielleicht deshalb hatte Lilith gedacht, es handele sich um eine Im mobilien- oder Baufirma. Doch schon die Außenansicht des Gelän des hatte Zweifel aufkommen lassen. Und hier drinnen … Die Gänge und das Treppenhaus waren nicht nur sauber, sondern fast schon steril zu nennen. Und dieses Dröhnen erinnerte an eine überlaute Klimaanlage oder eine Zentrifuge. Lilith verzichtete auf die Aufstellung weiterer fruchtloser Hypo thesen. Sie verzichtete auf einen Blick in ein Zwischenstockwerk. Der Lärm, dessen war sie sich inzwischen sicher, kam von ganz un ten. Und das bedeutete – wieder einmal – Keller. Wenig später endete der durchgehende Treppenverlauf vor einer Metalltür. Lilith zögerte nicht, sie einen Spalt breit zu öffnen. Der Lärm nahm schlagartig zu, aber sie registrierte es kaum, weil ihr Blick gefesselt an den Dingen hing, die Salem Enterprises eine neue, eine noch bedrohlichere Dimension verliehen …
* Mehrere Tote schwammen in aufrechtstehenden, meterhohen Glas zylindern. Jede Leiche hatte ihren eigenen Behälter. Male an den Hälsen verrieten, wem sie zum Opfer gefallen waren. Aber diese Male sagten nichts darüber aus, warum sie wie zu medizinischen
Studien konserviert worden waren. Sie bewiesen nur eins: Hinter den Mauern von Salem Enterprises war mehr im Gange als die Pla nung und Überwachung obskurer Bauobjekte! Zwischen den Zylindern bewegten sich Menschen in bläulichen Kitteln und Plastikhäubchen, wie Chirurgen sie trugen. Schatten tanzten unter der Grelle des Lichts, das den weiträumigen Keller er hellte. Im Mittelpunkt zwischen den Zylindern erhob sich eine Art Druckkessel aus chromblitzendem Material. »Bullaugen« aus dick gepanzertem Glas hielten dem Innendruck stand und ermöglichten in Kopfhöhe von mehreren Seiten Einblicke in das Innere des Behäl ters, der nicht mit den Zylindern verbunden war. Seine Versorgung erfolgte aus armdicken Zuleitungen aus dem metallischen Boden, die ihm gleichzeitig Stabilität verliehen. Die umliegenden Wände waren gepflastert mit digitalen Instru mentenfeldern, deren Funktion Lilith nicht einmal im Ansatz durch schaute. Ihr fehlten Vergleichswerte. Was sich hier unten vor ihren Augen abspielte, war völliges Neuland. Sie entdeckte weder Kreatur noch Vampir unter den Anwesenden. Es waren ausnahmslos Men schen, deren nicht immer exakte Gestik allerdings nahelegte, daß sie einer umfassenden Gehirnwäsche unterzogen waren. Wie die »Sol daten«, die Hora ihr auf den Hals gehetzt hatte …* Lilith überlegte, ob sie es wagen sollte, in das Labor einzudringen. Aber die hohe Zahl der Beschäftigten riet ihr ab. Einem oder zwei hätte sie vielleicht ihren Willen aufzwingen können – ungeachtet der damit verbundenen Gesundheitsgefahren für die Betroffenen. Ande rerseits lag ihr nichts an einer Erhöhung der Entdeckungsgefahr. Sie war unvorbereitet. Sie hatte nicht einmal geahnt, womit sie hier kon frontiert werden würde. Sie war sicher, daß dies nicht der einzige Ort auf dem Gelände war, wo unbekannte Aktivitäten stattfanden. Möglicherweise barg jeder Trakt ein solches … Labor? *siehe VAMPIRA 20: »Das zweite Leben«
Auch nach Minuten war sie dem Tun der Versammelten nicht auf die Spur gekommen. Sie ließen die Leichen so gut wie unbehelligt. Alle Konzentration galt dem Druckbehälter, und was sich darin ab spielte, vermochte Lilith von ihrem Platz aus nicht zu beurteilen. Nach weiteren Minuten entschied sie sich zum Rückzug. Dank Feyn kannte sie nun den Unterschlupf der Sippe. Wenn sie das Ge lände bei Tag im Auge behielt, gelang es ihr vielleicht, einen der hier Arbeitenden unbemerkt in ihre Gewalt zu bekommen und zu befra gen … Lautlos schloß sie die Tür, die nie im Blickpunkt der Beschäftigten gestanden hatte. Aber auch der Lift war während der Zeit von nie mandem benutzt worden. Sie schienen relativ selbständig und iso liert zu arbeiten. Verschlossene Türen brauchte es nicht, weil diese Marionetten nicht einmal an Flucht denken konnten. Lilith fröstelte kurz, ehe sie wieder die Treppe nach oben stieg. Niemand hielt sie auf, und obwohl es sie interessiert hätte, was sich in den jeweiligen anderen Etagen befand, beschloß sie, dies ein an deres Mal herauszufinden und lieber schleunigst zu Feyn zurückzu kehren. Möglicherweise wußte er bereits, was hier getrieben wurde. Möglicherweise wartete er nur darauf, gefragt zu werden … Alles ging gut, bis sie die Kammer betrat, von der aus sie durch das Dach gestiegen war. Noch ehe sie die Tür richtig auf hatte, spür te sie die Ausstrahlung dessen, der hier auf sie lauerte. Er mußte auch ihre spüren, wie sein Ausruf der Verblüffung ver riet. Lilith erfaßte die Situation in Sekundenbruchteilen. Unter welchen Umständen auch immer: Offenbar war die gewaltsam geöffnete Dachluke entdeckt worden! Doch der Vampir hatte daraus noch nicht die Schlüsse gezogen, die ihn zum Alarmschlagen bewogen hätten.
Er erkennt mich, dachte Lilith. Aber er hat nicht mit mir gerechnet. Sie handelte augenblicklich und wußte, daß es darauf ankam, ob der Symbiont spurte oder nicht. Sie hätte den Vampir wahrschein lich auch mit eigenen Kräften töten können. Aber dann hätte sich nicht mehr kaschieren lassen, wer hier eingestiegen war. Und genau dies rechnete sie sich momentan noch als Trumpfkarte aus. Nicht töten! dachte sie und hoffte, daß der starke Wunsch seinen Adressaten erreichte. Nicht – Der Vampir hatte sie erkannt. Lilith war der Sippe nicht mehr un bekannt, seit sie vor ihren Augen Hora und mehrere andere Mitglie der vernichtet hatte. Er stürzte sich auf sie. Bestie prallte auf Bestie, denn auch Lilith er laubte sich keine Beschränkung. Da reagierte der Symbiont. Das hautenge Catsuit schien zu zerfa sern. Streifen unterschiedlicher Breite lösten sich wie Peitschensträn ge und schlugen ins Gesicht sowie um Brust, Arme und Beine des Wesens, in dem sich Kraft und Stärke aus grauer Vorzeit bündelten. Was ihm widerfuhr, war jedoch noch größere Kraft, noch vernich tendere Stärke … NICHT TÖTEN! Am verzweifelten Röcheln des Vampirs glaubte Lilith zu erkennen, daß sich der Symbiont zwar einmischte, aber nicht zügelte – vielleicht gar nicht zügeln konnte. Nicht töten! war ein ungewöhnlicher Befehl. Dann schöpfte sie Hoffnung, obwohl das weitere Geschehen von befremdlicher Bizarrheit war. Der Symbiont fesselte ihren Gegner nicht nur, er bohrte ihm einige seiner Medusenfäden direkt in den Schädel. Und dann – Es war Lilith, die aufschrie, weil sich Ausläufer des Mimikrykleids auch in ihren Nacken bohrten!
Einmal mehr wurde sich Lilith des Schattens bewußt, der ihr Le ben ständig begleitete. Der Symbiont war immer da. Er war nicht ihr Freund, sondern reiner Zweckpartner. Im Grunde war er ihr sogar überlegen. Er handelte, wie es ihm beliebte – oder wie es in den un durchschaubaren Plan paßte, dem er folgte. Und nun unterwarf er seinen »Wirt«, während er auch Lilith lenk te, wie schon einmal im Haus der Fridays … Lilith versuchte sich aufzulehnen. Der Vampir versuchte es. Beide scheiterten sie. Es war, als würden Fäden vom Nacken aus direkt in Liliths Schä del getrieben. Ihr Schrei verstummte. Was nun folgte, geschah lautlos. Niemand beobachtete es. Niemand konnte unter dem gespenstischen Ein druck verzweifeln. Die Streifen zogen den Vampir an Liliths Rücken. Wie ein lebloses Bündel wurde er an der Frau im zerrissenen Catsuit festgezurrt. Und dann begann Lilith die Sprossen der Leiter zu erklimmen, den Feind huckepack, den Symbionten mehr als symbolisch im Nacken. Schmerz durchtobte sie. Keine winzigen, scharfen, widerborstigen Zähne, sondern glühend heiße Eisen schienen sich durch ihr Fleisch zu bohren. Daß sie nicht schreien konnte, machte alles nur noch schlimmer. Nur unwesentlich anders mußte es dem Vampir ergehen. Sie erreichten das Dach. Die kühle Nachtluft. Ziehende Wolken verbargen die Sterne. Bedeutungslos. Es ging weiter. Ohne Pause. Ohne Erholung. Ein Impuls zwang Lilith und ihrem Gefangenen auf, sich zu trans formieren. Sie sah nicht, zu was er wurde – aber sie erhob sich auf ledrigen Schwingen und stieß nach oben, entfernte sich peitschend
in die Richtung, aus der sie gekommen war, als sie auch nicht frei gewesen, sich aber frei gefühlt hatte. Es entpuppte sich jedoch als Irrtum, daß sie in Feyns Nähe landen würde. Daß die Marter dort endete. Sie flog weiter. Mindestens zwei, drei Meilen. Ein kleiner Wald streifen war das Ziel des Symbionten. Er landete dort. Er entschied, wann er sich aus Lilith zurückzog. Nur aus ihr …
* Am liebsten hätte sie sich das Ungeheuer vom Leib gerissen. Aber das hätte es nicht geduldet. Wahrscheinlich gab es Wege, daß der Träger den Symbionten vernichtete – aber nur wenn er bereit war, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Soweit war Lilith nicht. Soweit würde sie – hoffentlich – nie sein. Benommen vom »Nachschmerz« starrte sie ins Unterholz zwi schen den Bäumen. Der Vampir war nicht mehr auf ihren Rücken geschnallt – er lag dort. Er strampelte und schlug um sich. Ihn hielten die Medusenfäden immer noch durchbohrt. Aber Liliths Hoffnung, ihn über das Ge schehen bei Salem Enterprises aushorchen zu können, endete schon wenige Momente später. Der Symbiont ignorierte ihren Wunsch. Er legte jegliche Skrupel ab und zog zeitrafferartig das schwarze Blut aus den Gefäßen des Vampirs. Gleichermaßen setzte auch der Zerfall des Entführten ein. Die Ohnmacht ließ Lilith die Fäuste ballen. Neben ihr setzte Feyn auf. Auch er beherrschte die volle Bandbreite vampirischer Metamorphose – nicht nur den Gesichterwechsel.
»Was war los?« fragte er. »Ich sah dich und bin dir gefolgt!« »Wie hast du mich erkannt?« fragte Lilith beklommen. Er lächelte und schwieg. Der Schmerz in ihrem Nervengeflecht verpuffte. Vergeblich such ten ihre Augen nach verbliebenen Überresten des Vampirs. Feyns Blicke schienen sie zu finden. »Ein nicht zu verachtendes Kerlchen«, sagte er. »Wer?« »Das Biest, das dich schmückt. Du kannst mir später erzählen, was geschehen ist. Tatsache ist, daß dieser Todesimpuls schnurstracks hierher führt. Üben wir uns also wieder einmal im kontrollierten Rückzug …« »Darin scheinst du wahrer Meister zu sein.« »Ich bin Überlebenskünstler«, korrigierte er. »Überleben funktio niert nur, wenn man nicht überall und ständig den Helden heraus hängen läßt.« »Danke für den Tip.« Er lächelte gönnerhaft. »Du könntest noch wesentlich mehr an meinem Erfahrungsschatz teilhaben … Aber jetzt komm!« »Was ist mit der Frau, die uns chauffierte?« »Um die habe ich mich bereits gekümmert.« Lilith hätte zu gern erfahren, was er darunter verstand. Aber un terhalb der dahinziehenden Wolken fliegende Schatten signalisier ten, daß dafür keine Zeit mehr blieb. Sie kamen. Die wahren Herren dieser Stadt.
*
»Das war knapp!« Feyn sah es anders. »Sie bleiben immer noch unter ihren Möglich keiten. Allmählich ahne ich, warum wir dazu beitragen sollen, sie zu vernichten. Sie sind ein Irrtum der Natur. Ihre Macht, die sie über die Menschen erhebt, hat sie träge und behäbig gemacht. Aber sie würden das Feld niemals freiwillig räumen …« Seine Art, über seinesgleichen zu urteilen, befremdete Lilith noch immer. Plötzlich hatte sie kein Verlangen mehr, auf das gemeinsame Zimmer zurückzukehren. Sie wollte nach Duncan sehen. Ein Gefühl sagte ihr, daß sie sich nicht länger um die Verantwortung, was ihn anging, drücken konnte. Er brauchte sie. Als sie ihn am Abend ver ließ, hatte er wie ein Mann auf sie gewirkt, dem der Arzt gerade bei gebracht hatte, daß er unheilbar krank war. »Wohin gehst du?« fragte Feyn, als sie sich noch einmal von der Zimmertür abwandte. »Ich schaue noch bei Duncan vorbei.« »Warum?« Sie hatte nicht die Absicht, sich auf eine Diskussion einzulassen. Sie mußte sich nicht rechtfertigen. Nicht vor Feyn. Er blieb zurück, als sie den Gang entlang und weiter ging. Sie war erleichtert, daß er ihr nicht folgte. Duncan öffnete nicht auf ihr Klopfen. Da die Tür unverschlossen war, trat sie ein. Das Zimmer war klein. Auch ohne Licht sah sie, daß es außerdem leer war. Jedenfalls, was ihn anging. Auch die winzige Zelle, die ein Badezimmer ersetzte, war verlas sen. Betroffen kehrte Lilith auf den Korridor zurück. In der Pension
war es still wie in einem Grab. Der schläfrige Nachtportier hatte sie bei ihrer Rückkehr kaum wahrgenommen, was natürlich auch an der Behandlung lag, die sie ihm hatte angedeihen lassen. Obwohl Lilith nicht glaubte, daß Duncan sich nur irgendwo die Beine vertrat, suchte sie die Rezeption auf und befragte den alten Mann hinter der Rezeption. »Er ging vor einer Stunde«, verriet er. »Allein?« Lilith glaubte, Ameisen unter der Haut zu spüren. Sie hatte die ganze Zeit geahnt, daß etwas mit Duncan geschehen wür de. Aber sie hatte immer darauf gewartet, daß er versuchte, etwas gegen sie zu unternehmen. Daß er einfach ging, war in ihrer Vorstel lung nicht vorgesehen. »Ging er – allein?« »Nein.« Noch brennender wurde das Prickeln. »Wer war bei ihm?« »Sein Fernseher.« Ihr Kopf ruckte hoch. Sie fühlte sich veralbert. Aber dem Alten auf dem Stuhl hinter der Verbretterung war es ernst. Auf ihre Nachfrage wiederholte er seine Aussage unverändert. Er konnte nicht lügen. Er stand unter Hypnose. Es war noch verrückter, als es klang. Sich Duncan vorzustellen, wie er, den Zimmerfernseher unter den Arm geklemmt, das Hotel verließ, war Komik ohne eine Spur Humor. »Schon zurück?« fragte Feyn in anzüglichem Ton, als sie bei ihm auftauchte. Offenbar hatte er sie nicht so schnell erwartet. Sie erzählte, was sie erfahren hatte. Es konnte kaum ein Fehler sein, Feyn einzuweihen. »Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, wie du zu dieser Fi
gur gekommen bist«, reagierte der Vampir. »Sie ist deiner nicht würdig.« Lilith verübelte ihm die Arroganz. Zugleich konnte sie nicht leug nen, daß irgendwo ein Kern Wahrheit in seiner Äußerung steckte. Sie blinzelte irritiert über diese Einsicht. »Er war schon einmal weg«, sagte sie nachdenklich. »Lange?« »Monate.« »Dafür muß er gute Gründe gehabt haben.« »Sehr gute.« »Welche.« »Er war tot.« Dies beeindruckte offenbar selbst Feyn, der sich anschließend mit der größten Selbstverständlichkeit entkleidete. Und doch – durchaus zu Liliths Verblüffung – nichts von ihr wollte …
* Die Situation war neu. Noch nie hatte ein männlicher Körper mehr Anziehungskraft auf Lilith ausgeübt, und noch nie war die Hemmschwelle, ihn auch nur zu berühren, größer gewesen. Sie hegte den Verdacht, daß er sie verwirren wollte. Es gehörte zu seinem Spiel, das in dem Moment begonnen hatte, als er sich ihr of fenbarte … Aber nicht einmal das wußte sie sicher. Er hatte nicht mehr nachgefragt, was sie im Trakt der Salem Enter prises erlebt hatte. Rücklings, die Hände auf dem muskulösen
Bauch gefaltet, lag er mit geschlossenen Augen neben ihr. Alles an ihm war entspannt. Alles. Dennoch wußte sie, daß er nicht schlief. »Welchen Zweck verbindet Herak mit dieser Scheinfirma – weißt du es?« »Hora«, verbesserte er sie, ohne daß es kleinlich wirkte. »Nein, ich habe keine Ahnung. Wäre es wichtig für dich, es zu erfahren?« »Alles ist wichtig.« Das Catsuit an ihrem Leib sah aus wie neu. Al les, was der Symbiont Lilith und seinem Opfer angetan hatte, wirkte irreal angesichts dessen, wie er sich nun wieder präsentierte. »Hast du schon nachgedacht?« fragte Feyn. Er hielt die Augen ge schlossen. Warum hätte er sie auch öffnen sollen? »Worüber?« »Über uns.« »Ich fürchte, ich habe andere Probleme.« »Welche?« »Es sind meine Probleme.« »Würdest du sie zu unseren machen, wären sie lösbarer.« »Das bezweifele ich.« »Riskiere einen Versuch.« Nein. Sie war nicht bereit, mehr als das Gesagte über Duncan of fenzulegen. Oder über Beth, auf deren Heilung sie auf glühenden Kohlen wartete. Oder … Konnte sie ihm trauen? Einem Geschöpf des Kelchs? Einer Schöp fung der Schwefeläugigen? Er tat einiges, um sie zu überzeugen. »Ziehst du diese Handschuhe nie aus?«
»Doch.« »Wann?« »Finde es heraus …« Sie wußte, was diese Antwort bedeutete. Und er wußte, daß sie es sich denken konnte. Dieses Selbstbewußtsein war Überheblichkeit pur – und weckte ihren Zorn. »Darauf kannst du lange warten!« »Du weißt nicht, was dir entgeht.« »Vielleicht … Aber jetzt erzähl mir mehr von damals. Ich muß dich näher kennenlernen, bevor …« »Bevor?« »Ich überhaupt über uns nachzudenken beginne.« »Du denkst schon jetzt viel zuviel – das ist dein wirkliches Pro blem.« Ihr Blick wanderte über ihn hinweg. Seine Nacktheit störte sie zu nehmend, obwohl sein unverhülltes Geschlecht in diesem Zustand die geringste Anziehung und das geringste Ärgernis darstellte. »Gib zu, daß du mich begehrst.« Es war, als wollte er das Gegenteil provozieren. Lilith drehte den Spieß um. »Natürlich. Aber ich lasse dich zap peln. Du kannst nicht verheimlichen, daß du mich willst.« »Sehe ich so aus?« »Deine unbestrittene Stärke liegt in der Verstellung.« Er lachte. Zum erstenmal schien genau das, was sie gerade beim Namen ge nannt hatte, von ihm abzufallen. Er schnellte hoch, blieb aufrecht sit zen und drehte ihr sein Gesicht zu. Immer noch lächelnd senkten sich seine Blicke in ihre. »Warum wehrst du dich?«
»Weil ich klaren Kopf behalten will.« Genau den zu behalten fiel ihr fortschreitend schwerer. »Dann bist du selbst schuld. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Gefährtin wie dich. Zusammen könnten wir unsere Bestim mungen selbst in die Hand –« »Hör auf!« Er sank zurück. Entspannte sich und schloß die Augen. Lilith fühlte sich, obwohl sie neben ihm lag, wieder allein.
* Als es klopfte, war es fast Mittag. Feyn war vor einer Stunde gegangen. »Keine Sorge, ich komme wieder«, hatte er versprochen, und es war zu befürchten, daß er sich daran hielt. Lilith vermutete zunächst, daß er es war, deshalb reagierte sie nicht. Erst nach mehrmaligem Klopfen stand sie auf und öffnete. »Duncan! Verdammt, wo kommst du her?« Er zuckte zusammen. »Hör auf zu schreien. Muß ich erst dich oder ihn um Erlaubnis fragen, bevor ich mir die Beine vertrete?« Sie zog ihn ins Zimmer und schloß die Tür. »Was hast du mit dem Fernseher gemacht?« »Dem Fernseher?« Es war wie immer. Er log nicht. Er spielte nicht den Unschuldsen gel. Er wußte ganz einfach von nichts. »Willst du leugnen, den kleinen Fernseher aus deinem Zimmer ge nommen und damit die Pension verlassen zu haben?« »Was du sagst, ist absurd! Warum, in Dreiteufelsnamen, sollte ich
–« »Das will ich von dir wissen!« »Sinnlos …« Er wandte sich zum Gehen. »Ich kam, um dich um einen Gefallen zu bitten. Nicht, um mich schon wieder wegen etwas, das ich nicht getan habe, beschuldigen zu lassen. Aber mit dir ist nicht mehr zu reden. Es hat begonnen, als dieser Feyn zu uns stieß – merkst du das überhaupt? Nicht ich, du benimmst dich merkwür dig!« Sie nahm ihn bei der Hand. Seine Gegenwehr ließ sie nicht gelten, sondern zog ihn hinaus auf den Flur und weiter zu seinem Zimmer. »Was siehst du?« Ihre Geste war unmißverständlich. »Der Fernseher ist weg«, sagte er, riß sich los und fügte trotzig hinzu: »Ich wüßte immer noch nicht, was ich damit zu tun hätte. Es war nicht abgeschlossen. Jeder kann ihn genommen haben …« »Der Portier hat dich gesehen.« »Dann lügt er.« »Du müßtest dich hören! Wo, zur Hölle, warst du?« »Nur spazieren. Eine Kleinigkeit besorgen …« »Was?« Er zeigte zum Tisch. Eine Faltkarte und verschiedene Reiseführer stapelten sich dort. Es war beinahe unnötig, die Titel zu lesen. Lilith wußte schon vorher, welche Gegend sie betrafen. »Irak«, las sie dennoch. »Allmählich habe ich den Verdacht, du willst mich zum Trottel machen! Sag endlich, was das soll!« »Es – interessiert mich. Ist das verboten?« »Nicht, wenn es dich tatsächlich interessiert. Warum werde ich dann aber dieses beschissene Gefühl nicht los, daß es nur eine Aus rede von dir ist …?« »Weiß ich nicht!«
Sie zwang sich, nicht noch ausfälliger zu werden. »Um was für einen Gefallen wolltest du mich bitten?« Mürrisch zog er die Schultern hoch. »Nur etwas Geld.« Sie zeigte zum Tisch. »Um dir noch mehr davon zu besorgen?« »Das ist meine Sache.« »Vielleicht.« Sie ließ ihn einfach stehen. »Ich habe eine Stinkwut auf dich! Warte, bis sie verraucht ist. Dann frag noch mal …« Er sah nicht aus, als fände er das fair. Aber sie konnte, sie wollte es nicht ändern. Auf dem Weg zurück in das Zimmer, das sie mit Feyn belegte, ge stand sie sich etwas ein, was das künftige Zusammenleben mit Dun can nicht nur kompliziert, sondern fast unmöglich machte: Sie konnte nichts mehr mit ihm anfangen. Er war nur noch eine Last. Das, was eine Beziehung erst ermöglichte, fand er vielleicht noch bei ihr – aber sie nicht mehr bei ihm. Die Geister schieden sich längst nicht mehr daran, ob er lebte oder in einem unnatürlichen, unbegreiflichen Zustand schwebte. Er hatte sich in den Monaten, die sie sich aus den Augen verloren hatten, nicht weiterentwickelt. Das war die Crux! An Lilith war diese Spanne nicht spurlos vorübergegangen, manchmal schien es ihr sogar, als existierte immer noch die Bindung zum verschwundenen Hort, in dem sie herangereift war. Dessen Einfluß schien sie überall zu finden. Die Uhr tickt weiter, bezweifelte sie nicht mehr, was sie anfänglich in Frage gestellt hatte. Sie holte die verlorenen zwei Jahre im Schoß des HAUSES auf – täglich! In fünfzehn Monaten würde sich zeigen, ob sie recht hatte oder nicht. Dann war die Hundertjahres-Frist verstrichen. Ein Datum des Schreckens, wenn sie ehrlich war. Niemand sagte ihr, was dann sein
würde. Wie sie dann sein würde. Sie zweifelte kaum noch, daß man im Kampf gegen die Vampire etwas Vollkommenes hatte schaffen wol len. Dieser Gedanke machte ihr Angst. Es war nur natürlich, daß sie ihn immer wieder weit von sich drängte. Aber irgendwann würde es keine Ausflüchte mehr geben …
* Noch ein Rückkehrer … »Wo warst du?« fragte Lilith. »Mich stärken«, entgegnete Feyn. »Tötest du, um an Blut zu gelangen?« »Du nicht?« »Nein.« »Das beruhigt. Ich auch nicht.« Obwohl sie sich einbildete, Lüge und Wahrheit unterscheiden zu können, hinterließ die Antwort einen schalen Beigeschmack. »Über trägst du einen Keim?« »Ich habe mich nie darum gekümmert …« Zumindest dieses Bekenntnis schien ungelogen. »Meine Schroffheit von gestern tut mir leid«, erklärte er unvermit telt. »Ich bin noch nie jemandem begegnet, der mir wirklich etwas bedeutet. Wie sollte ich also damit umgehen können?« Er stand am Fenster, dessen Läden geschlossen waren, obwohl draußen lichter Tag herrschte. Sein markantes Gesicht (das er nun
schon beibehielt, seit sie zusammen waren) wirkte ernst und gefaßt. Er nahm sich ganz zurück. Die lauten hatte er gegen leise, bedächti ge Töne vertauscht, und damit lag er richtig. Lilith ließ ihn weiterre den, ohne ihn spitzzüngig zu unterbrechen. »Ich werde versuchen, dir zu helfen«, schloß er. »Wobei?« »Das erfährst du, wenn ich zurück bin.« »Ganz ohne Geheimnis geht bei dir nichts, oder?« Er schüttelte den Kopf – eine Geste, die in ihrer kopierten Mensch lichkeit immer noch wie ein Anachronismus wirkte. »Ich versuche mich zu ändern. Aber vielleicht solltest auch du überlegen, wie es mit deiner Geheimniskrämerei aussieht. Was ich von dir weiß, weiß ich nicht von dir.« Mit diesem seltsamen Wortspiel ging er. Lilith hielt ihn nicht auf, aber sie nahm sich vor, seinen Ratschlag zu bedenken. Sie wußte selbst nicht, warum es ihr so schwerfiel, ihn als Verbündeten zu akzeptieren. Wenige Minuten nach Feyn verließ auch sie die Pension. Ohne Duncan zu informieren. Wenn er sich Eskapaden erlaubte, konnte sie dies auch. Zumal sie sich nicht vorzuwerfen hatte, daß sie es ei gensüchtig tat. Um sich mehr Klarheit über Salem Enterprises zu verschaffen, wählte sie den gefahrlosesten und direktesten Weg, der ihr dazu einfiel. Das altehrwürdige Redaktionsgebäude des Sydney Morning He rald kannte sie bereits aus persönlicher Erfahrung. Genauso verhielt es sich mit Moe Marxx, dem spindeldürren, erzkonservativen Chef redakteur des Blattes, bei dem auch Beth fest angestellt war. »Sie haben sich in der Tür geirrt …«
Er erkannte sie nicht mehr. Aber er würde sie kennenlernen. Zur Hege seines Kurzzeitgedächtnisses war später noch Zeit. Lilith überzeugte ihn, daß er ihr helfen mußte. Schnell und diskret. Er wurde freundlicher und bot ihr einen Platz an. Dann setzte er einen findigen Mitarbeiter auf Liliths Problem an. »Möchten Sie etwas trinken?« »Nicht von Ihnen, danke.« Lilith drehte den Kopf. Das Großraum büro lag offen vor ihr. Sie hatte Beth bei ihrer Ankunft nicht entde cken können, und auch jetzt war der Platz, an dem sie sonst arbeite te, verwaist. »Hat sich Beth MacKinsay heute schon hier blicken lassen?« Marxx verzog das Gesicht. Nicht einmal die Hypnose gönnte ihm Unbeschwertheit, was sein Verhältnis zu untergebenen Mitarbeitern anging. »Das hat sie.« Lilith sah eine Chance, sich über das aktuelle Befinden ihrer Freundin zu erkundigen, ohne sie eigens aufsuchen zu müssen. Feyns Auftauchen hatte alles ein bißchen durcheinandergewirbelt. »Wie verhielt sie sich?« Marxx blickte fragend. »War sie irgendwie … verändert?« »Sie ist schon die ganze Zeit verdreht im Kopf«, knurrte er hem mungslos ehrlich. »Ich konnte sie, als sie mich noch haßte, nicht aus stehen. Aber diese Scheißfreundlichkeit, mit der sie mir neuerdings begegnet, ist mir noch viel mehr zuwider …!« Lilith schluckte. »Wann haben Sie sie zuletzt ›scheißfreundlich‹ er lebt?« »Vor einer knappen Stunde«, zerbiß er die Auskunft zwischen den Zähnen. Also unverändert. Immer noch unverändert. Mittlerweile dürfte sie die
einzige sein, die die Wende noch nicht geschafft hat … Sie faßte einen Entschluß, den sie bisher hinausgeschoben hatte. »Können Sie mir, während wir auf die Recherche warten, eine Tele fonverbindung herstellen?« »Wohin immer Sie wollen.« Das Prädikat, das er Beth verliehen hatte, paßte auch auf ihn. Scheißfreundlich. »Nach Europa. Muonio, Lappland. Der Anschlußpartner heißt Frans Stålheim.« Moe Marxx gab es weiter an die interne Vermittlung. Wenig später kam die Verbindung – trotz des beachtlichen Zeitunterschiedes – zustande. Lilith brauchte nicht einmal den Namen zu nennen. Stålheim schaltete schon, als er ihre Stimme hörte. In jeder Hinsicht. »Probleme?« fragte er, als litte er schon eine Weile unter Ahnun gen. »Ich fürchte, das ist untertrieben.« »Erzähle. Ich weiß bereits von Hemsfield, daß seine Patienten auch ohne Verabreichung des Serums genesen sind. Aber es geht nicht um Hemsfields Patienten, nicht wahr? Wem hast du das Serum ver abreicht?« »Bist du Hellseher?« »Wäre ich es, wüßte ich, was ich falsch gemacht habe.« »Und warum denkst du, einen Fehler begangen zu haben?« »Hemsfield erzählte mir von deinem Besuch sehr ausführlich. Selbst er hat gemerkt, daß du etwas verbirgst. Oder jemanden. Es ist uns immer klar gewesen, daß es eine Dunkelziffer von Erkrankun gen gegeben haben muß. Ich bin mittlerweile sicher, daß dein Enga gement für das Serum nur private Gründe haben kann …«
Sie war beeindruckt. Aber es hielt nicht an. Es war keine Zeit da für. »Ich vergebe mir nichts, wenn ich das bestätige.« »Ein … Freund?« »Eine Freundin.« »Du hast ihr das Serum ohne ärztliche Aufsicht gespritzt?« »Ja.« »Wem noch?« »Sonst niemandem.« Das entrang ihm einen Seufzer der Erleichterung. Aus seiner Sicht mochte dazu Grund bestehen – aus ihrer nicht. »Wie war ihre Reaktion darauf?« fragte er. »Sie schlief ein – wie du es vorhersagtest. Ich dachte, sie würde ge sund wieder aufwachen.« »Aber das tat sie nicht.« »Nein.« »Vielleicht braucht es nur etwas länger …« »Alle, die das Serum nicht bekamen, sind wieder die alten«, unter brach sie ihn. »Auch derjenige, der zeitgleich mit meiner Freundin infiziert wurde. Laut Hemsfields Theorie dauert der Selbstzerfall des Erregers in jedem Organismus gleich lang. Meine Freundin müßte demnach längst geheilt sein. Dem ist nicht so. Es sieht im Ge genteil so aus, als würde das Serum ihre Genesung verhindern …« »Das ist kaum vorstellbar«, sagte er rauh. »Aber ich werde Nach tests durchführen. Dein Verdacht läßt mir ohnehin keine Ruhe mehr. Ich habe das Serum hier. Ich werde sofort anfangen.« »Ich hoffe, du findest den Fehler.« Sie legte auf. Moe Marxx starrte unbeteiligt. Kurz darauf erschien sein Mitarbeiter, den er auf die Salem Enter
prises angesetzt hatte. »Darf ich erfahren, warum Sie die Firma interessiert?« wandte er sich an seinen Chef. »Nein«, antwortete Marxx ungnädig und pflückte ihm das Papier aus der Hand. »Danke. Ich rufe Sie, wenn ich noch Fragen habe.« Er war es gewohnt, unverstanden zu sein. Als sie wieder unter sich waren, las Moe Marxx in schulmeisterli chem Ton vom Blatt ab: »Salem Enterprises. Institut für Biogenetik. Wurde vor einem Vierteljahr von staatlicher in private Hand über tragen …« Er rasselte eine Serie von Vorstandsmitgliedern herunter, die Lilith allesamt nichts sagten. Das Interessanteste hatte er schon gleich zu Anfang verraten: Institut für Biogenetik. »Weiß man, womit sich das Unternehmen vornehmlich befaßt?« »Pflanzenschutzmittelresistente Züchtungen.« »Darf ich?« Lilith stand auf und streckte die Hand aus. Er überreichte ihr den Zettel, und sie gab ihm seine Unschuld zu rück. Verwundert fragte sich Frauenhasser Marxx wenig später, wer das schwarzmähnige Supergirl war, das durch die Reihen seiner Re dakteure auf den Lift zuschritt. Aber er ging der Frage nicht nach. Er machte weiter, wie immer. »Salem Enterprises?« blaffte er später einen Mitarbeiter an, der es lediglich wagte, dezent anzufragen, ob er mit den Informationen über die Firma zufrieden gewesen sei. »Ich soll das veranlaßt haben? Was interessiert mich irgendeine verdammte Klitsche …?«
* »Du solltest dich von ihm trennen. Ganz schnell. Es ist mir rätsel haft, wie du ihn erträgst und mir nicht einmal eine Chance gibst! Er
verbirgt etwas. Man kann ihm nicht trauen – und noch weniger mit ihm anfangen!« Die Frage, wen Feyn denunzierte, als Lilith in die Pension zurück kehrte, stellte sich nicht. »Was ist passiert?« fragte sie. »Wo ist er?« »Er war kurz hier. Lamentierte, er könne so nicht weitermachen. Bat mich, zu verschwinden und dich in Ruhe zu lassen. Dann wollte er hier auf dich warten. Das war vor etwa zwei Stunden. Als er nicht davon abzubringen war, verließ ich das Haus. Ich sagte schon, ich mag ihn nicht. Als ich vor ein paar Minuten zurückkehrte, war er nicht mehr da.« »Ist er auf seinem Zimmer?« »Sieh selbst nach. Oder besser: Laß es. Wir sollten hier verschwin den. Wir beide. Außerdem …« »Außerdem?« »… habe ich Neuigkeiten für dich, die dich interessieren werden.« Bevor Lilith darauf einging, überprüfte sie einen Verdacht, der ihr bei Feyns Schilderung gekommen war. Er bewahrheitete sich – und noch etwas anderes fiel ihr auf. »Jetzt ist unser Fernseher auch noch verschwunden!« Offenbar war der Verlust dieses Stücks Inventar Feyn noch gar nicht aufgefallen. »Da gibt es wohl nicht viele Möglichkeiten, wer ihn genommen hat«, schlußfolgerte er. Lilith zog eine Schublade auf. »Er hat auch alles Bargeld, das ich in der Kommode aufbewahrte, mitgenommen …«, sagte sie. »Allmäh lich fürchte ich wirklich um seinen Verstand. Es würde mich nicht wundern, wenn er nachher reumütig und mit einem Haufen nutzlo ser Einkäufe zurückkäme!« »Schieß ihn in den Wind!«
»Das kann ich nicht.« »Er wird dir die Treue nicht danken.« »Woher willst du das wissen?« »Mein Gefühl sagt es – und deines auch. Du solltest endlich darauf hören.« »Reden wir von deiner Neuigkeit. Wovon handelt sie?« »Von Salem Enterprises. Ich habe mich etwas für dich schlau ge macht, und ich kann sagen, es hat sich gelohnt …«
* »Der neue Hora«, begann Feyn seine sensationelle Eröffnung, »ist gewiefter, als wir glaubten. Von Ehrgeiz zerfressen, plant er offen bar, in die Offensive zu gehen. Der gedungene Killer auf dich war nur ein Mosaiksteinchen, mit dem er sich den Respekt der ganzen Rasse erwerben will.« »Rede nicht um den heißen Brei. Was hast du wie herausgefunden?« Mit keinem Wort gab sie zu erkennen, was sie be reits über Salem Enterprises wußte. »Ich besuchte das Industriegebiet noch einmal bei Tageslicht – und hatte, obwohl überall in den umliegenden Unternehmen hektische Betriebsamkeit herrschte, Glück.« »Glück?« »Ich habe mir einen von ihnen geschnappt.« Feyns Augen leuchte ten stolz. »Einen der Wissenschaftler?« »Einen der Vampire«, sagte er. »Er trieb sich in der Nähe herum. Er sah und erkannte mich … im Grunde blieb mir nichts anderes übrig,
als ihn mir vorzuknöpfen.« »Du hast ihn getötet?« »Ich habe ihn erst verhört und dann getötet.« Lilith schwieg eine Weile. Prüfend musterte sie Feyn, der wieder ein wenig den Supermann herauskehrte. Aber es blieb erträglich – und deshalb glaubwürdig. »Mit welchen Mitteln hast du ihn verhört?« Abwinkend sagte er: »Ersparen wir uns unschöne Details. Wichtig ist, daß er über Sinn und Zweck des Instituts Bescheid wußte.« »Institut?« heuchelte sie Unwissenheit. »Keine Firma?« Sein Lächeln war so mysteriös, daß sie sekundenlang in Betracht zog, daß er sie längst durchschaute. Aber er vertiefte es nicht. Er sagte: »Hora schlägt völlig neue Wege ein. Wie kein zweiter, den ich kenne, verknüpft er den Stand menschlicher Forschung mit den Möglichkeiten, die ihm als Vampir gegeben sind.« Er las die Frage in ihren Augen und antwortete: »Magie. Ich rede von Magie – im Ver bund mit gentechnischen Experimenten!« Sie wußte nicht, woher das Frösteln kam, das sich unter ihre Kopf haut schob. »Was bezweckt er?« Feyn ließ sie schmoren. »Ich bin kein Experte. Du auch nicht. Lai enhaft ausgedrückt bemüht er sich um die Beseitigung eines Urpro blems unserer Rasse. Etwas, das uns das Dasein erschwert, wo im mer sich Menschen finden, die intensiv dem falschen Glauben an hängen.« Wovon redete er? »Du hast sicher auch deine Erfahrungen mit den Festungen und der Symbolik gemacht, hinter der sie sich verkriechen …« Sie begriff. Er meinte Kirchen. Er meinte Kruzifixe und geweihte Erde. Und was es auf diesem Gebiet noch alles an lästigen Manifes
ten gab. »Und?« fragte sie. »Was will Hora dagegen tun?« Der Name eines eigentlich Besiegten ging ihr immer noch nicht leicht von der Zunge. »Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte Feyn, schürzte die Lippen und ließ keinen Zweifel, daß er überzeugt war, die Wahrheit zu kennen, »versucht Hora mit Hilfe von Wissenschaft und Magie ein Gen aus menschlichen Körpern zu isolieren und modifizieren, das uns Vampire künftig immun gegen alle schädlichen Einflüsse dieser Religion machen soll! Im weiteren könnte man darangehen, verräterische Merkmale zu beseitigen. Das Fehlen eines Schattens oder des Spiegelbilds etwa …« Die Katze war aus dem Sack. Und Lilith fassungslos. »Hältst du so etwas – für möglich?« »Vielleicht nicht kurzfristig, aber auf längere Sicht – warum nicht? Es hat durchaus etwas Faszinierendes …« Daran zweifelte Lilith nicht. Zugleich aber blickte sie weiter. Frag los würde ihr Vorhaben, die Alte Rasse zu vernichten, durch einen Erfolg Horas nicht gerade erleichtert. Gerade die Religion, die auch ihr Unbehagen bereitete, war in der Vergangenheit oft das einzig wirksame Mittel gegen Blutsauger gewesen. Lilith war entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu unterneh men, um eine solche Zukunft zu verhindern. »Unvorstellbar …« Feyn schwieg.
* Es wurde Abend, es wurde Nacht … Duncan kehrte nicht wieder zurück, und als Lilith sein Zimmer näher inspizierte, stellte sie fest,
daß sogar einiges von dem, was er zwischenzeitlich erworben hatte, fehlte. Vornehmlich das gesamte Kartenmaterial. »Er hat dir eine längst fällige Entscheidung abgenommen«, kom mentierte Feyn. »Dafür solltest du ihm sogar dankbar sein.« Sie versuchte es durch dieselbe Brille zu sehen, hegte aber insge heim doch die Erwartung, daß Duncan wieder zu ihr zurückfinden würde – wo immer er sich gerade aufhielt. Aufgeregter Stimmenlärm lockte sie zu später Stunde hinunter zur Rezeption, wo sich der Nachtportier der Anfeindungen einiger Gäs te erwehren mußte, die – wie sich herausstellte – Opfer von Dieb stählen geworden waren. Einige waren jetzt erst zurückgekehrt und hatten den Verlust bemerkt. Andere waren erst durch die lautstar ken Anschuldigungen darauf gestoßen worden, daß auch ihnen Wertsachen fehlten. Immer lauter wurden die Rufe nach der Polizei. Dem wachsenden Druck gehorchend, alarmierte der Portier schließlich die Ordnungs hüter, verwahrte sich aber gleichzeitig gegen Anschuldigungen, er stecke mit den Dieben unter einer Decke. Nirgends gab es Ein bruchsspuren, und er allein hütete hier unten die Schlüssel derer, die ausgegangen waren. »Ziehen wir uns zurück«, schlug Feyn vor, der Lilith nach unten begleitet hatte. »Es ist auch für unsereins nicht ratsam, in die Müh len der Bürokratie zu geraten. Meist ist der Aufwand immens, sich wieder daraus zu befreien …« Niemand beachtete sie. Nicht als sie kamen, nicht als sie gingen. Die Dunkelheit des Doppelzimmers nahm sie auf. Lilith legte sich auf das Bett. Feyn folgte wie selbstverständlich. Seite an Seite, gegen Kopfende und Wand gelehnt, lauschten sie dem fernen Stimmenge wirr. Als seine Hand sie berührte und der Symbiont sich an dieser Stelle
reflexartig zurückzog, elektrisierte sie beides. Ihr Bauch schien sich zusammenzuziehen. Es war ein angenehmes Gefühl. Hochspan nung. Sie drehte den Kopf. Stumm sah er sie an. Innerhalb eines Lidschlags zog vor Liliths geistigem Auge noch einmal Revue, was er für sie getan hatte. Ein Killer, den Hora enga giert hatte, war durch seine Hände gestorben. Er hatte bei den Vam piren für sie spioniert, bei Salem Enterprises. Er … Hände, wisperte es in ihrem Kopf. Seine HÄNDE. Sie hatte die Fetische, die er trug, ganz vergessen. Das Vermächt nis seiner »Mutter« – Handschuhe, die sich wie nackte Hände an fühlten. Als läge kein Hindernis zwischen Haut und Haut … Dennoch störte es sie. »Zieh sie aus!« verlangte sie rauchig. Die Schwierigkeit des Symbi onten, sich mit Feyn zu arrangieren, war ihr plötzlich gleichgültig. Nur Feyn war ihr nicht mehr egal. Wie eine Lawine kam das Ge fühl über sie, ihn zu brauchen. Jetzt – und später! Er hatte bewiesen, daß sie keinen besseren Verbündeten finden konnte, und sie sah keinen Sinn mehr darin, sich länger gegen Ge fühle zu stemmen, die längst in ihr zum Ausbruch drängten. Er rückte näher zu ihr. Mit beiden Händen strich er über ihre Bei ne, und es war zu beobachten, wie sich der symbiontische Stoff an diesen Stellen zurückzog, teilte, förmlich floh. »Faszinierend«, murmelte er. »Ich habe noch keiner Frau das Kleid einfach weggestreichelt …« Sie wollte, daß er schwieg. Sie wollte Stille, keine leeren Worte. Ihre Libido schwoll so rasant, daß es Lilith hätte ängstigen müssen. Seltsamerweise trat dies nicht ein. Nur ihre Sehnsucht, endlich einen gleichwertigen Partner zu finden, wuchs zu begründeter Hoffnung.
Und dann schob sie auch den letzten rationalen Gedanken beiseite. »Liebe mich!« hauchte sie – ohne der Frage nachzugehen, ob ein Geschöpf wie Feyn außer zur Handlung auch zum Gefühl fähig war, um diese Bitte zu erfüllen. »Aber zieh diese Dinger aus!« Er kam über sie. Geschmeidig. Rittlings setzte er sich auf ihre Schenkel. Wsssscchhh! Der Symbiont schnellte zurück. Nackt bis auf einen kümmerlichen Rest lebendigen Gespinsts lag sie halb aufgerichtet vor ihm. Feyn zog sich das Hemd über den Kopf. Dann kippte er zurück, öffnete den Hosenverschluß und forderte Lilith auf: »Hilf mir!« Sie zog an den Enden der Beinkleider, und kurz darauf kauerte er wieder über ihr. Diesmal nackt wie sie, und seine fortgeschrittene Erektion war unübersehbar. Der Anblick versöhnte Lilith, und sie trug ihm die Kälte, wie er am Vortag neben ihr gelegen hatte, nicht mehr nach. »Die Handschuhe«, erinnerte sie. »Nun mach schon!« »Wenn du es wirklich willst …« Mit der Linken lupfte er an jedem einzelnen Finger der rechten Hand und zog die lederartige, enge Hülle herunter. Anschließend verfuhr er genauso bei der anderen Hand, ehe er auch diese Hülle achtlos neben sich legte. Lilith hatte es nur kurz gesehen. Aber ihre Neugier ließ ihr keine Ruhe. »Was – ist das?« Sie zeigte auf seine Linke. Lächelnd öffnete er sie und zeigte ihr eine auf der Innenfläche prangende, kunstvolle Tätowierung. »Ein Andenken«, sagte er be reitwillig. »Von Mutter – wie die Handschuhe. Es ist sehr intim. Ich
hüte mich, es jedem zu zeigen.« »Was stellt es dar?« Lilith wunderte sich, daß sie sich von dem Motiv angezogen und nicht, wie es normal gewesen wäre, abgesto ßen fühlte. Das Tattoo zeigte ein Kreuz, an dem sich eine Schlange wand. »Die Schlange am Kreuz«, sagte Feyn. »Ich glaube, sie hat eine gnostische Bedeutung … Mehr weiß ich nicht.« Warum glaubte sie gerade diesen Worten nicht die Aufrichtigkeit? Lilith erinnerte sich vage an einen kurzen Schmerz, während Feyn sie einmal mit dieser Hand festgehalten hatte. Sie verwarf es. Sie war – trotz kleiner Unterbrechung – immer noch gefangen von fie berheißem Verlangen. Es mußte erst gelöscht werden. Feyn schien zu spüren, was in ihr vorging. Er beugte sich vor und küßte die Schlucht zwischen ihren Brüsten, wobei sie sein ganzes Gesicht zu spüren bekam. Nähe, die sie bislang abgelehnt hatte. Warum, verstand sie in diesen Momenten selbst nicht mehr. Seine Zunge zog eine feuchte Spur, während er mit der Rechten kurz ihren Busen knetete. Es wirkte wie eine Geste der Höflichkeit. Etwas, das er ihr zuliebe tat, um sie nicht augenblicklich und hart zu nehmen. Dieser Dummkopf! Nimm mich! dachte Lilith. Sie wollte es wie er. Sie konnte nicht mehr länger warten. Zärtlichkeiten, die sie sonst davor oder danach genoß, erschienen ihr wie Vertröstungen, die ihre Ungeduld nicht mehr bereit war hinzunehmen. »Komm …!« Sie rutschte nach unten, nahm ihn mit, legte sich ganz flach auf den Rücken. Er verstand, und als sie die Schenkel spreizte, glitt er in das V, das sie ihm öffnete. Lilith schrie auf und verlor end gültig die Kontrolle über sich.
Das war der Moment, auf den er gewartet hatte, seit sie sich be gegnet waren. Auf den rechten, muskulösen Arm gestützt, führte Feyn die Linke an Liliths Kehle. Noch vor ihr erkannte der Symbiont die Gefahr, in der sein Wirtskörper schwebte. Und während Lilith sich den ersten Stößen entgegenbäumte, handelte er.
* Endlich. Es war schwerer als erwartet gewesen, ihr Vertrauen zu erlangen. Vertrauen, das blind machte im entscheidenden Moment. Jetzt! Feyn war sicher, daß sich der Aufwand lohnen würde. Als er nach Sydney gekommen war und Hora seine Hilfe im Kampf gegen den Mischling angeboten hatte, hatte er sich Hoffnungen, aber noch kei ne Illusionen gemacht. Nun wußte er, daß Lilith der dickste Fisch war, der ihm je ins Netz gegangen war. Er konnte die Stärke, die sich in ihr ballte, fast atmen. Diese Trophäe würde ihn endgültig un besiegbar und den Fluch, der auf ihm lastete, erträglicher machen. Manchmal wußte er selbst nicht mehr, wo die Wahrheit endete und die Lüge, mit der er seine Opfer umgarnte, begann.
* Der Symbiont beendete den Taumel der Leidenschaft. Er meldete sich zurück mit allem, was ihm zur Verfügung stand! Lilith war es, als wollte das Mimikrykleid einfach nur Vergeltung
für die erlittene Schlappe üben. Die Wahrheit begriff sie erst, als der Symbiont sie an seinem Kampf teilhaben ließ – und sie die Verände rung an Feyn entdeckte … Feyn schien zu glühen. Mit aufgerissenen Augen starrte Lilith auf die unfaßbaren Schat ten, die sich aus seinem Körper herauszudrücken begannen. Schatten? Es waren … Gesichter! Abscheuliche, grimassenschneidende Frat zen! Qual spiegelte sich darin. Und Haß. Wahnsinn. Mordlust … Lilith verkrampfte. Feyns Körper wirkte wie mit Abziehbildern all jener Tätowierungen überzogen, die der Killer in Codds Villa getra gen hatte! Sie hatte die Motive nur kurz gesehen – aber die Ähnlich keit war frappierend. »Feyn, was …?« Hart und entschlossen preßte er die geöffnete Hand gegen ihre Kehle. Ihre Frage wurde von einem katastrophalen Schmerz erstickt. Nur ein Röcheln entwich ihrem Mund. Im selben Moment glaubte Lilith das herbe Eindringen von etwas Unbeschreiblichem in ihr Fleisch zu spüren. Ihr wurde bewußt, daß Feyn immer noch in ihr war. Es verursachte ihr ein Würgen, das kurzzeitig selbst den Schmerz verdrängte. Erstaunlicherweise zog der Vampir sich von selbst aus ihr zurück. Aber die Hand blieb. Eisern umklammerte sie Liliths Kehle, und Feyn fauchte: »Das Biest wird dich nicht retten. Du wirst dich gut machen auf meiner Haut. Du wirst mich nie mehr verlassen. Wir werden uns näher sein, als du es dir je vorstellen konntest …« Das letzte Wort wurde ihm fast von den Lippen gerissen. Der Symbiont fächerte auseinander, und es schien, als versuchten
die plastisch herausgebildeten Gesichter nach ihm zu schnappen, um ihn zu zerreißen … So war es. Es war keine Täuschung. Lilith erstarrte, als ein winziger Teil des Symbionten zwischen die realen Fänge einer der Vampirfratzen geriet – und davon in Stücke gerissen wurde. Auch an diesem Schmerz nahm sie teil. Feyn offenbarte abgründigen Humor, als er angesichts dieses Vor gangs wild auflachte. »Zu spät«, keuchte er. »Viel – zu – spät …! Vielleicht hättest du mir doch nicht trauen sollen …« Liliths Gesicht schien in Flammen zu stehen, während ihr restli cher Körper seltsam taub und kühl wurde. Sie versuchte Gegen wehr, aber ihre Gliedmaßen versagten den Gehorsam. Nur der Sym biont kämpfte noch für sie. Und für sich. Weder ihn noch sie würde Feyn schonen … WARUM? Warum tat er das? Wer war er? War alles, womit er sich geduldig bei ihr eingeschmeichelt hatte, erfunden und erlogen? Was er ihr über Horas Ziele offenbart hatte – über seine Herkunft …? Antworten darauf erhielt Lilith auf unverhoffte und bizarre Weise. Zufällig nahm sie wahr, wie ein Tentakel des Symbionten tapfer versuchte, woran er schon einmal gescheitert war: sich in Feyns Fleisch zu bohren, um ihn auszusaugen! Aber er wählte dazu keine freie Hautstelle, sondern eine der »Tro phäen«. Diesmal war ihm mehr Erfolg beschieden. Und während er sich in die lebendige Tätowierung grub, ließ er Lilith an seinen Wahrnehmungen teilhaben …
* TATTOO: Ein Verlies. Furcht. Mein Name ist Achade. Es ist dunkel. Ich vermag nichts zu sehen in dieser Schwärze. SIE sagte, dies sei Fingerzeig genug, sich nicht länger mit mir zu befassen. Ich sei unwürdig. Warum peinigt sie mich so? Wo bleibt das Blut, das sie mir täglich schenkte? Was ist das für schrecklicher Lärm draußen vor der Tür? Ich weiche zurück. Die Tür birst. Ich wußte nicht, daß jemand solcher Kraft fähig zu sein vermag. Solcher Gewalt … Von draußen fällt Licht. Genug, um IHN zu erkennen. Ich sah ihn nie. Wer ist er? Trotz edler Züge wirkt er auf mich wie der Inbegriff meiner alphaften Heimsuchungen, wenn ich schlafe. Ich wünschte, ich würde schlafen. Er kommt näher. Schnell. Er lächelt mich an. Er ist wie ich – seine Zähne verraten es – und doch ganz anders … Was will er? Die Worte, die mir Trost aus diesem Mund spenden, vertragen sich nicht mit dem, was er tut. Er hört nicht auf mein Flehen. Er stockt nicht einmal. Kommt näher und … Ich versuche die Hand von meiner Kehle zu weisen. Sinnlos. Er ist mir an Kräften weit überlegen. SCHMERZ. QUAL. TOD …? Ich sinke zusammen. Etwas frißt mein Gesicht. DUNKELHEIT. Ich erwache. Wo bin ich? Bin ich nun völlig blind? Ich höre etwas. Eine Stimme sagt: »Wie konntest du? Ich müßte dich zermalmen, denn auch du bist mir mißlungen. Du hast Glück, daß du nur Schwache gerissen hast, die ohnehin verenden mußten. Geh! Ich verstoße dich! Das ist mehr, als du
erwarten durftest. Aber verschwinde und kehre nie zurück. Stell meine Launen nie wieder auf die Probe … Geh!« Seither sind wir zusammen, Feyn, mein Mörder …
* Lilith erwachte wie aus kurzer, intensiver Trance. Das Brennen auf ihrem Gesicht war noch stärker geworden, und nun wußte sie, was es bedeutete: Ihr Gesicht löste sich auf. Die Tätowierung in Feyns Hand riß und zerrte daran, fraß es auf ebenso schreckliche wie mys teriöse Weise. Wie bei Achade. Achade? Sie sah, daß der Symbiont aus der Fratze herausgeschleudert wor den war. Aber er gab nicht auf. Bildete weitere Tentakel aus. Suchte und fand weitere, im ersten Moment durchlässige Stellen … Tattoos blitzten durch Liliths Bewußtsein. Keines dauerte länger als eine Sternschnuppe. Jedes beinhaltete die kurze Geschichte letz ter Sekunden in den Leben von Feyns Opfern. Sie fand nur vampirische Erinnerungen. Und dann eine, die ihr endgültig die Augen über das hinterhältige Intrigenspiel öffnete, mit dem Feyn sie getäuscht hatte …
* TATTOO: Ich bin Helion.
Da war ein Park. Estelle. Ich kann ihren Liebreiz nicht vergessen. Aber Hora sagt, ich soll das verlassene Haus einer Kreatur aufsuchen und dort nach Eindringlingen suchen. Sie strafen, wenn ich sie finde. Er sagt nicht, ob er weiß, wer es ist. Ich bin arglos. Ich komme bei Nacht. Wie einfach es ist, in das Zimmer zu gelangen, wo die Frau liegt. Frau? Ist es möglich, daß ich … VAMPI RISCHE Strömungen fühle? Ist es …? Sie dreht sich um. Ich erkenne sie. Sie ist die Schreckliche, die den wah ren Hora tötete … Bevor ich meine Verblüffung abstreife, wirft sich ein anderer auf mich. Ein NOCH Schrecklicherer. Er zwingt mich zu Boden, stößt in meinen Rachen und stiehlt mir die Zunge. Dann wütet er in meinem Gesicht und zerstört es scheinbar, während ich die Wahrheit spüre. Es wird dunkel, als er meinen Kopf faßt, mein Genick bricht … Ich erwache in unwirklicher Umgebung. Es dauert lange, bis ich begreife. Ich höre Stimmen, die mir dabei helfen. Allen voran SEINE Stimme. Die Stimme meines Mörders …
* Ein Köder! Feyn hatte ihr den Vampir in Codds Haus als Köder vorgeworfen, um ihr Vertrauen zu erschleichen. Mittels Magie hatte er Lilith kurz vor dem Zerfall des Besiegten einen Abklatsch eigener Tattoos vor gegaukelt. Es war viel zu schnell gegangen, um den Betrug zu durchschauen. Und jetzt … … verleibte er sich IHR Gesicht ein! Es spielte keine Rolle mehr, daß er tatsächlich aus Beinn Dearg stammte. Es war unmöglich, aus allem, was er ihr vorgemacht hatte,
die Körnchen Wahrheit herauszulesen. Sie hätte auch nichts mehr damit anfangen können. Selbst die letz te verzweifelte Attacke des Symbionten erlahmte, als er erkannte, daß er nur Scheinerfolge erzielte. Auch die Tattoos gestatteten ihm keinen Zugang zu Feyns Schwachstellen – falls er solche besaß. »Hört auf – beide! Laßt es geschehen!« hörte sie ihn, während ihr Gesicht (seine Trophäe) sich wie schmelzendes Wachs anfühlte. Sie hatte ihren Meister gefunden – einen, der sich an keinen Kodex hielt und auch Hora nur benutzt hatte, um die Fährte zu ihr, Lilith, zu finden. Er tötete nur in einem Auftrag – seinem eigenen. Ironie des Schicksals, daß er ihr vielleicht endlich mehr über die Identität seiner schwefeläugigen Mutter hätte sagen können … Aber daran lag ihm nicht. Er wollte seine eigene Macht erweitern, und der Weg dorthin war grausam … Als die Hoffnungslosigkeit ihren Höhepunkt erreichte, fragte sich Lilith, ob Feyn nicht auch hinter Duncans Verschwinden steckte. Vielleicht hatte er auch ihn nicht davonkommen lassen wollen … Schatten wucherten vor ihren Augen. Feyns Züge verschwammen (weil ihre Augen sich auflösten). Nichts konnte seinen Triumph mehr gefährden. Das glaubte auch er. Aber der Symbiont hatte noch immer nicht aufgegeben. In einer letzten Anstrengung schob er sich zwischen Feyns Hand und Liliths Kehle … … und unterbrach den Strom. Wie lange er diesen Kraftakt durchhalten konnte, blieb ungewiß. Aber Lilith nahm sich ein Beispiel – und schlug zurück.
*
Sie fühlte, wie ihr Gesicht zurückströmte. Alles, was sie tat, geschah spontan. Unüberlegt. Intuitiv. Vielleicht hatte es deshalb Erfolg. Lilith brüllte sich die Wut aus dem Leib. Ihre Glieder gehorchten plötzlich wieder. Sie riß die Arme hoch und umschloß Feyns tödli che Hand mit ihren Händen. Der Dämon darin fauchte. Der Dämon war noch wütender als sie. Nicht mehr zu besänftigen. Und nicht zu besiegen. Wieder handelte Lilith instinktiv. Sie bog seinen Arm ruckartig herum. Feyn hatte keine Chance zur Gegenwehr. Er sah den Dämon kom men. Die Tätowierung in seiner Hand preßte sich gegen Feyns Kehle – und saugte sich augenblicklich daran fest. Die Folgen waren verheerend. Magischer Kannibalismus. Feyns Gesicht begann zu verschwimmen – aber wohin sollte es? Irgendwo auf seiner Haut, an zuvor noch freier Stelle, bildeten sich vage Konturen ab. Der Mörder gesellte sich zu seinen Opfern. Und die Opfer reagierten … Lilith stieß Feyn mit letzter Kraft von sich. Er rollte über das Bett und fiel daneben zu Boden. Doch selbst jetzt vermochte er die Hand nicht mehr von der eigenen Kehle zu lösen. Selbst jetzt kam die in Gang gesetzte Kettenreaktion nicht zum Stillstand. Er wurde verspeist, von seinen eigenen Trophäen gefressen! Wie ein lautloser Spuk kam der Tod über den Vampir. Was ihn be fähigt hätte, zu schreien, war verschwunden. Die Fläche, wo sich sein Gesicht befunden hatte, war leer. Er vermochte auch kein ande
res Aussehen mehr anzunehmen. Seine Tattoos kehrten sich nach innen, verschlangen Feyn – und da mit endgültig auch sich selbst. Lilith konnte nicht länger hinsehen. Der Symbiont hing in Fetzen auf ihrer Haut. Vom Flur kam Lärm. Sie hörte den Ruf nach der Polizei und wußte nicht, ob es immer noch um die Diebstähle ging oder ob das Geschehen hier die Ord nungshüter alarmiert hatte. Von Schwäche übermannt, wankte sie zum Fenster, das zum Hof der Pension zeigte. An der Fassade gab es Feuerfluchtwege nach amerikanischem Vorbild. Lilith zögerte nicht. Als es an die Tür klopfte, kletterte sie hinaus. Stolperte. Rappelte sich auf und hastete weiter. Eine Treppe hinun ter. Noch eine. Dann der Hof. Die Dunkelheit kam ihr zugute, und sie suchte die dunkelsten Stel len. Sie wußte nicht, wann sie aufhörte zu rennen. Wann sie zusammenbrach und reglos liegenblieb. Aber irgendwann geschah es – und diesmal gab es kein Aufbäu men mehr. Sie ergab sich der Ohnmacht.
* Duncan Luther bestieg das Flugzeug, das ihn fortbringen sollte. Er hatte gültige Papiere und – auch nach Kauf des Tickets – noch etwas Geld, um sich am Ziel durchzuschlagen. Der Portier hatte nicht ver
hindert, daß er sich mit genügend Schmuck versorgte. Der Portier hatte Weisung, ihn zuvorkommend zu behandeln … Duncan Luther hatte die Beute auf mehrere Pfandleihhäuser ver teilt, wie zuvor schon die Fernsehgeräte. So war, ohne Verdacht zu wecken, zu dem Geld aus Liliths Zimmer noch eine hübsche Summe zusammengekommen. Er würde es brauchen. Die Stewardeß lächelte, als er ihr winkte. »Wann starten wir?« »In wenigen Minuten.« »Und wann kommen wir in Bagdad an …?«
* Epilog Die Glut der Feuer erkaltete, weil sich niemand mehr darum küm merte. Auch der Wind frischte auf, und leiser Regen näßte den fei nen, hellen Sand des Strandes. Niemand ließ sich stören. Sie kamen Nacht für Nacht und konnten nicht mehr anders. Sie fühlten sich frei und waren es – ein wenig … »Laß uns schwimmen«, sagte Miriam. Sie lächelte selig. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, ehe die Flut kommt …« »Wir holen uns alle nasse Socken«, kicherte Bradd. Er lag auf dem Rücken. Nackt. Normalerweise zählte er nach dem Liebesspiel die Sterne, so wie andere eine Zigarette rauchten. Heute hatte er Pech. Nicht ein einziges blinkendes Gestirn durch
drang die dichten Wolkenfelder. Auch Miriam bedauerte, daß kein silbrig glänzendes Licht herabfiel, sich auf ihrer Haut und in ihrem weißblonden, bis zu den Brustspitzen fallenden Haar verfing und je den Punkt ihres aufreizenden, immer empfänglichen Körper strei chelte. Vielleicht hätte Bradd es sich noch anders überlegt und ihr den Wunsch nach Abkühlung ausgetrieben. Träge lag er da – zufrieden mit dem, was er bereits bekommen und ihr gegeben hatte. Zu wenig, befand Miriam. »Geh allein«, sagte er. »Ich relaxe lieber hier. Oder frag Charly.« »Charly ist beschäftigt.« Miriams Blick schweifte durch die Dun kelheit, wo sich verschlungene Körper wie vom Meer angespültes, lebendiges Standgut wälzten. »Er hat sich gerade Henna vorgenom men.« Ein warmes Gefühl durchströmte sie beim Gedanken an die beste Freundin. Eifersucht kam nicht auf. Seit Miriam zur Clique gehörte, wußte sie erst, was Leben abseits der Konventionen hieß. Sie feierten hier keine Feste, sie waren das Fest. Jeder schenkte sich jedem. Selbst ohne Drogen kamen nie Zweifel, daß sie den Schlüssel zum optima len way of life gefunden hatten. Miriams Körper war von Gänsehaut überzogen, als sie den breiten Strand hinunterlief. Bradds Stimme holte sie nicht mehr ein. Bradd träumte. Schlappschwanz, dachte Miriam, keineswegs böse, aber entschlos sen, es auf jeden Fall noch mit einem anderen aus der Gruppe zu treiben. Nachher. Erst kam die allnächtliche »Taufe«, das Ritual, mit dem Miriam die Flut auf dem Altar ihres Körpers begrüßte. Wenn sich das Salz ihrer Haut mit dem Salz des Meeres mischte … Es gab gewisse Anzeichen, daß die Wirkung der Pillen und die da
mit verbundene Hochstimmung nachließ. Aber noch wollte Miriam es nicht wahrhaben. Noch war die Finsternis bunt. Noch waren Luft und Wasser warm und wohlig. Eine Viertelmeile weiter patschten ihre Füße dann durch die Aus läufer des rückfließenden Ozeans, der als erstes gurgelnd die hinter lassenen Schlicknarben schloß. Miriam setzte sich hin und ließ ihren Po umspülen. Als sie die Bei ne öffnete, leckten nasse Wellenzungen an ihrer empfindlichsten Stelle. Sie seufzte und schloß die Augen. Der erotische Traum kam wie eine Woge über sie, die jeden ande ren Gedanken ertränkte. Miriam erzitterte. Ihre Hände fanden die eigenen Brüste und vollführten, was der andere in ihrer Vorstellung tat. Sie schrie. Erst vereinzelt, dann in dicht aufeinanderfolgender Se rie. Es kam. In ihr und von irgendwoher aus der Nacht. Miriam riß die Augen auf. Mitten auf dem Höhepunkt ihrer aufge putschten Gefühle hörte sie Schritte hinter sich. Sie verstummte, biß sich die Lippen blutig und drehte den Kopf. Sie sah … etwas. »Henna?« Hennas laszive Art, sich zu bewegen, war unverwechselbar. Ihr Schädel war kahlrasiert, und vielleicht war sie die einzige der Cli que, die noch nie splitternackt herumgelaufen war. Was sie nicht hinderte, zugleich die Unersättlichste von allen zu sein. Seit Miriam Henna kannte, liebte auch sie Piercing. Hennas durch
stochener Nabel war Mittelpunkt der Clique. Wer ihn kosen und an dem goldenen Ring spielen durfte, wußte sich ihrer Zuneigung si cher. Auch jetzt trug Henna kein Höschen, aber schafthohe Stiefel, de ren Sporenklirren sich mühelos gegen jedes andere Geräusch be hauptete. »Henna?« Es war erstaunlich, daß Henna in einer Nacht dieser Qualität noch so detailliert zu erkennen war. Selbst der Schimmer in ihren Augen entging Miriam nicht. Und die darin zu lesende Erwartung. Henna antwortete auch beim zweiten Versuch nicht, und dann be griff Miriam, daß sie nicht ihr nachgegangen war, sondern auch – vielleicht ungleich stärker – fühlte, was sich von draußen, vom Meer … näherte. Jedenfalls lief Henna an ihr vorbei. Zehn, zwanzig Schritte. Erst als das Wasser ihr bis zum gepierceten Nabel reichte, blieb sie stehen und hob die Arme. Wieso sehe ich sie immer noch? Miriam fand keine Antwort. Das ferne Geräusch war lauter geworden. Es schwoll an. Und ir gendwie unterspülte es langsam Miriams euphorischen Zustand, in dem Angst keinen Platz hatte. Plötzlich hatte sie Platz. Plötzlich war das Wasser, in dem sie kauerte, eiskalt, und die Wel len zwischen ihren Beinen schürten keineswegs mehr ihre Libido. Miriam verkrampfte. Vor ihr erloschen Hennas Konturen, als hätte jemand den Schalter gefunden, mit dem sich ihre unnatürliche Aura regulieren ließ.
Die Nacht war wieder schwarz wie Kohlenstaub. Miriam wollte aufstehen. Die Flut kroch weiter. Höher. Hände und Füße schienen im Schlick einbetoniert. Miriam hörte Hennas Stimme. »Daß du dich meiner erinnert hast …!« Gelächter. Nicht von Henna. Die Wolken brachen auf. Dort, wo Miriam Henna zuletzt gesehen hatte, standen plötzlich zwei Gestalten. »Dringende Geschäfte«, sagte eine sonore Stimme. »Ich kam gera de an und erinnerte mich der erlesenen Stärkung, die du mich ver sprachst …« »Jungfräuliches Bouquet?« »Jungfräuliches Bouquet.« »Du hast die freie Wahl.« »Danke. Ich habe meine Wahl bereits getroffen.« Die Gestalt, die nicht Henna war, setzte sich in Bewegung und wa tete auf Miriam zu. Eine Aura, wie ein Hauch von Nebel, umfloß nun auch diesen reifen, altmodisch gekleideten Mann, der nicht stoppte, bis er direkt vor dem sitzenden Mädchen stand. Ein kreuzförmiger Fleck auf seiner Wange wurde als einziges von dem unwirklichen, auch sein Gesicht umhüllenden Schimmer aus geschlossen. Miriam sah Augen, in denen nur mäßiges Interesse an ihrer Schön heit glomm. Aber großer Hunger auf ihre inneren Werte. Sie begann zu schreien.
ENDE
Viel mehr als nur Hautschmuck Das Wort »Tätowierung« entspringt dem tahitianischen »tatau« und bedeutet ursprünglich »die Haut ritzen«. Doch es wäre falsch, Tat toos lediglich als Schmuck zu werten. Dem widerspricht schon, daß sie häufig an verborgenen Körperstellen aufgebracht sind. Sie sind auch nicht bloße Mutbewährung durch Erduldung damit verbunde ner Schmerzen. In ihrem Ursprung dienten sie wohl vornehmlich als Unterschei dungsmerkmal, damit Stammes- und Kultgenossen sich gegenseitig erkannten – und damit ihr Gott sie erkannte. Denn oftmals ist auch die Religion und die Garantie, in ein glückliches Jenseits aufgenom men zu werden, damit verknüpft. In unseren Breiten wurden Tattoos erst durch Kapitän Cooks Ex peditionen populär. 1774 brachte er von einer Südsee-Fahrt den »Otaheiten« Omai mit in die westliche Welt. Dieser Omai mag es – falls er die Reise überhaupt je freiwillig unternahm – bald bedauert haben, seine idyllische Inselwelt zu verlassen. In den folgenden Jah ren wurde er von den Angehörigen eines ihm fremden Kulturkrei ses begafft und mit ehrfürchtigem Schauder begrabscht. Was letztlich aus ihm wurde, ist dem Verfasser dieser Zeilen unbe kannt. Aber von Omai an war der Vermarktung solcher »Wilder« Tür und Tor geöffnet. Selbst renommierte Schausteller wie Hagen beck oder Barnum & Bailey brachten sie in ihre »Völkerschauen« oder »Greatest Shows on Earth« mit ein. In der Anfangszeit, wie man sich denken kann, mit grandiosem Erfolg. Es muß seine Gründe haben, daß Tattoos sich in der Neuzeit gera de bei Minderheiten oder hinter Gefängnismauern besonderer Be liebtheit erfreuen. Gerade dort, wo man die größten Feinde von
»Uniformierung« findet, trifft man auch Tätowierung. Aber zurück zu den Ursprüngen: Bereits 1769, auf Cooks erster Reise, ließen sich einige seiner Matrosen zum Abschied von Tahiti die Arme mit Motiven einstechen, über die heute nur noch speku liert werden kann. Verbreitet unter den Eingeborenen waren zu je ner Zeit stark stilisierte Darstellungen von Menschen, Vögeln und Hunden, bei Frauen Z-förmige Zeichen auf Fingern und Zehen. Von den Matrosen jedenfalls mag dieser Brauch sich dann unters »gemeine Volk« wie Hafenarbeiter und Wirtsleute ausgeweitet ha ben. Beliebte Motive zu jener Zeit waren: Herzen mit Initialen oder Jahreszahlen, Gesichter und Akte schöner Frauen, und Symbole für bestimmte Waffengattungen bei Soldaten, zum Beispiel gekreuzte Schwerter oder Kanonen. Insgesamt lassen sich die Tattoos jener Zeit aufteilen in Südseemo tive, religiöse Tätowierungen sowie Zugehörigkeits- oder Erinne rungszeichen. Je weitere Kreise diese Kunst des »Punktierens« zog, desto kom plizierter, phantasievoller, ja schlicht schöner wurden die Motive. »Tätowieren, Narbenzeichnen und Körperbemalen« änderte das Selbstwertgefühle der Menschen auch in unseren Breiten. Was für Maori, Birmesen oder sonstige Naturvölker gut war, sollte für die Extravaganten in Europa Usus sein. So traf man bald auf »Typen« im wahrsten Wortsinn, die sich nicht nur kleine Flächen ihrer Haut schmerzvoll verzieren ließen, sondern fast ihren kompletten Körper bis hin zu den geschlechtsspezifischen Zonen. Eine pervertierte Abart der Tattoos hingegen war, was sich ein sa distisches Regime zur »Judenkennzeichnung« einfallen ließ. Nicht nur auf die Kleidung der KZ-Insassen wurde der »Juden- oder Da vidstern« genäht, man ritzte ihn auch verbreitet in die geschorenen Köpfe der Gequälten. Alles im Namen und Rahmen des von den Nazis geschürten Rassenwahns. Für jeden KZ-Insassen gab es dar
über hinaus eine eigene tätowierte Kennung, die ihn als politischen Häftling, Berufsverbrecher, Emigrant, Bibelforscher (!), Homosexuel len oder Asozialen auswies. Dies ist so ungeheuerlich, daß sich jede weitere Ausführung dazu von selbst erübrigt. Schlagen wir noch einmal einen Bogen zu den Anfängen. Schon antike Schriftsteller berichten nicht selten von Tätowierten unter den mittelmeerischen und germanisch-keltischen Völkern. Die frühesten schriftlichen Belege finden sich jedoch … richtig: in der Bibel, im Al ten Testament, und dort ausgerechnet in Form von Verboten: Der so genannte »Hautstich« war den Hebräern von Gesetzes wegen strikt untersagt. »Ihr sollt keine Male um eines Toten willen an eurem Leibe reißen, noch Buchstaben an euch ätzen, denn ich bin der Herr.« (Moses 3719/28) Oder: »Sie sollen auch keine Platte machen auf ihrem Haupt und an ihrem Leib kein Mal stechen.« (Moses 2/21/5) Hingegen war Paulus seinen ei genen Worten zufolge mit Malzeichen Jesus’ tätowiert. Auch schei nen die Frühchristen ziemlich unstrittig mit den Anfangsbuchstaben des Namens Christi*, einem Lamm, einem Kreuz oder einem Fisch auf Stirn oder Handgelenk tätowiert gewesen sein. Ebenfalls von Bedeutung war die »Kreuzrittertätowierung«: Die Kreuzfahrer ließen sich Kruzifixe u. ä. einstechen, um im Falle ihres Ablebens in der Fremde in jedem Fall ein christliches Begräbnis zu sichern. Später verkam dieser Brauch zum Wallfahrer-Souvenir, das sich bis zum 1. Weltkrieg großer Beliebtheit unter Jerusalem-Besu chern erfreute. Adrian Doyle Quelle: »Zeichen auf der Haut«, Stephan Oettermann, Europäische Verlagsanstalt, 3. Aufl., 1994 *X oder I.N. = Jesus Nazarenus
Ausgeliefert! von Robert deVries Der Kampf mit Tattoo hat Lilith – und dem Symbionten – das Letzte abverlangt. Bewußtlos bricht sie auf der Straße zusammen. Dort wird sie bald gefunden – und in ein Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt müßte blind sein, um nicht zu bemerken, daß mit seiner Patientin etwas nicht stimmt. Doch anstatt sie der Po lizei zu melden, erkennt er die Sensation, die hinter seiner Entde ckung steckt. Eine einmalige Chance: ein Wesen zu erforschen, das ewig lebt und anderen als menschlichen Naturgesetzen gehorcht. Für Lilith wird die Zeit nach ihrem Erwachen zum Horror-Trip. Denn sie ist Dr. Romano und vier seiner Kollegen hilflos
AUSGELIEFERT!