Tausendmal: „Ich liebe dich!“ Maris Soul
Shannon hat viel und doch so wenig: Sie ist jung, schön, reich – und leider ve...
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Tausendmal: „Ich liebe dich!“ Maris Soul
Shannon hat viel und doch so wenig: Sie ist jung, schön, reich – und leider verwitwet. Als sie in einem Interview erwähnt, daß sie von ihrem verstorbenen Mann nie Liebesbriefe bekommen hat, flattern ihr prompt etliche ins Haus. Speziell ein Brief hat es Shannon ungetan: So zärtlich, so romantisch, so aufrichtig und liebevoll – der Mann, der diesen Brief geschrieben hat, muß der Richtige sein! Shannon ahnt nicht daß sie den Verfasser schon längst kennt: Clint Dawson ist seit drei Jahren ihr Chauffeur, und genauso lang liebt er sie heimlich…
1997 by Maris Souie Originaltitel: „Heiress Seeking Perfect Husband“ erschienen bei: Silhouette Books, New York in der Reihe: YOURS TRULY Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B: V. Amsterdam Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY, Band 746 (17’) 1997 by CORA VERLAG GmbH & Co, Berlin Übersetzung: Kai Lautner Fotos: WEPEGE © CORA Verlag GmbH & Co
1. KAPITEL „Haben Sie es schon gefunden?“
Shannon Powell hatte sich gerade auf die Sonntagsausgabe der „Detroit News
and Free Press“ sowie ihr Müsli konzentriert und blickte nun auf. Ihr Chauffeur
stand mit verschränkten Armen am anderen Ende des großen Mahagonitisches.
Der blaue Stoff seines Blazers spannte sich über den Muskeln. Shannon hatte das
unbestimmte Gefühl, daß ihrem Angestellten etwas mißfiel.
„Was soll ich gefunden haben?“ fragte sie. Clint Dawson arbeitete seit drei Jahren
für sie und fuhr sie zuverlässig überall hin. Normalerweise kam er morgens, um
zu hören, wie ihre Tagesplanung aussah. Nie zuvor hatte er die leiseste Kritik an
ihr geäußert. Heute schienen plötzlich andere Regeln zu gelten.
„Blättern Sie bis zum Lokalteil“, antwortete er. „Der Artikel über Sie befindet sich
dort.“
Sie blätterte weiter und… Unübersehbar prangte mitten auf der Zeitungsseite ein
Foto von ihr. Darunter stand in fetten schwarzen Buchstaben: Erbin sehnt sich
nach Liebesbriefen.
„Wie konnte sie das nur tun!“ rief Shannon empört.
Clint zog die Augenbrauen hoch. „Sie?“
„Die Reporterin. Während des ganzen Interviews versicherte sie mir, daß der
Artikel von dem Gemälde handeln würde. Wie kommt sie dazu, diese Äußerung
von mir hineinzubringen?“
„Haben Sie es denn geäußert?“
„Ich habe ihr nur erzählt, daß John mir niemals Liebesbriefe geschrieben hat.
Diese Bemerkung war nicht zur Veröffentlichung gedacht. Wir waren fertig mit
dem Interview, und sie hatte das Tonband bereits ausgeschaltet.“
„Bei Journalisten zählt das nicht. Das sollten Sie mittlerweile wissen. Warum
haben Sie dieses Thema überhaupt angesprochen?“
„Ich…“ Shannon unterbrach sich. „Das ist meine Angelegenheit.“
„Und meine Angelegenheit ist es…“ Clint stockte.
„Ja? Welches ist Ihre Angelegenheit, Clint?“
Er holte tief Atem. „Ich fahre Sie, wenn Sie ausgehen wollen, kümmere mich um
Ihre Autos und überwache das Sicherheitssystem des Anwesens.“
Und mich überwacht er ebenfalls, dachte Shannon. Sie war sich da fast sicher,
obwohl John ihr versichert hatte, daß er Clint nicht als ihren Bodyguard
angeheuert habe.
Vor drei Jahren hatte sie einen Chauffeur benötigt, und auch heute brauchte sie
ihn noch. Sie hatte Angst davor, wieder selbst hinter dem Steuer zu sitzen. Allein
die Vorstellung rief die fürchterlichen Erinnerungen an den Unfall in ihr wach.
Trotzdem vermutete sie, daß Clint mehr war als nur ihr Chauffeur. „Ich brauche
keinen Bodyguard“, sagte sie streng.
„Natürlich nicht“, erwiderte Clint, doch er wußte es besser.
Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene und konzentrierte sich auf
Shannons Augen. Seit er Shannon kannte, faszinierten ihn diese Augen.
Normalerweise waren sie von einem warmen Blau, doch wenn sie wütend war,
brannten sie dunkel und unergründlich. Im Moment funkelten sie wie Saphire.
Welche Farbe sie wohl haben, wenn sie erregt ist? Du wirst es nie erfahren,
beantwortete er sich seine Frage selbst.
Shannon wich seinem Blick aus und sah hinunter auf die Zeitung. Dabei fiel ihr
hellblondes Haar wie ein zartgoldener Schleier über ihr Gesicht. „Ich hasse Leute,
die mich anlügen“, murmelte sie.
Clint fühlte sich unbehaglich. Aber solange Shannon die Wahrheit nur vermutete,
konnte ihm nichts passieren. Wenn sie jedoch herausfand, daß er sie bewachte, würde er seinen Job verlieren. „Ich habe der Journalistin gesagt, daß ich keine Interviews über mein Privatleben gebe“, erklärte sie. „Es ging ausschließlich um den Rembrandt und den Empfang. Andernfalls hätte ich den Termin abgesagt.“ „Das wußte sie genau“, erwiderte er. „Daher hat sie das Gemälde vorgeschoben. Die Informationen darüber stehen im letzten Absatz des Artikels. Der Rest handelt davon, daß Sie einen Ehemann suchen.“ Shannon hob aufgebracht den Kopf, wobei ihr langes Haar in weichen Wellen über die Schultern fiel. „Davon war nie die Rede!“ „Offenbar hat sie es aber so verstanden.“ „Alles, was ich gesagt habe, war, daß ich eventuell noch einmal heiraten würde.“ „Das sollten Sie auch. John ist seit über einem Jahr tot, und Sie sind gerade mal siebenundzwanzig Jahre alt…“ Wenn er seiner Schwester glauben durfte, stieg das sexuelle Verlangen einer Frau Ende Zwanzig stark an. „Nur daß eine reiche Frau wie Sie nicht öffentlich verkünden sollte, daß sie einen Mann sucht.“ „Das habe ich doch gar nicht getan!“ „Sie haben gesagt, Sie möchten Liebesbriefe erhalten.“ „Nein, das stimmt nicht! Ich habe nur gesagt, daß John mir niemals welche geschickt hat und daß ich…“ Sie zögerte. „Und daß Sie gern welche hätten.“ „Na schön, dann habe ich halt gesagt, ich hätte gern mal einen. Irgendwann. Nicht jetzt.“ Shannon las den Artikel zu Ende und sah, daß ihre Schenkung des Rembrandt an das Detroit Art Institute tatsächlich nur am Rande erwähnt wurde. Im wesentlichen ging es darum, daß sie vor zehn Jahren die Frau von John Powell, dem Multimillionär, geworden war. Er hatte als überzeugter Junggeselle gegolten, und niemand hatte angenommen, daß der Zweiundvierzigjährige sich Hals über Kopf in eine Frau verlieben würde, die fünfundzwanzig Jahre jünger war als er. Sie war damals noch zur Schule gegangen, und vor allen Dingen entstammte sie durchaus nicht Johns gesellschaftlichen Kreisen. Niemand war über seinen Antrag überraschter gewesen als sie selbst. Ein Zwischentitel des Artikels lautete: Was sie von ihrem neuen Mann erwartet. Danach folgte eine Liste mit Auswahlkriterien. „Das stammt absolut nicht von mir!“ sagte sie entschieden. Clint kam um den Tisch herum und blieb neben ihr stehen. Als er sich über die Zeitung beugte, nahm sie sein würziges Aftershave wahr. Der Duft war intensiver als alles, was John jemals benutzt hatte. Aber diese zwei Männer hatten ohnehin wenig gemeinsam. Clint war groß und breitschultrig. Sein dichtes braunes Haar und seine dunkelbraunen Augen erinnerten Shannon oft an einen Grizzlybären. John war elegant, ruhig und intellektuell gewesen. Das erste Mal, als er Mabels Bistro betrat, hatte sie ihn mit einem Silberfuchs verglichen. John war Erbe eines großen Vermögens gewesen. Nach dem Tod seines Vaters hatte er das Familienunternehmen übernommen und auf unzähligen Reisen die Welt gesehen, mit königlichen Hoheiten und anderen herausragenden Persönlichkeiten verkehrt. Seine Manieren waren perfekt und seine Bildung vollkommen gewesen. Sie hatte es kaum fassen können, als ausgerechnet er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Dagegen verkörperte Clint einen ganz anderen Typ von Mann. Rauh, fast ein wenig ungeschliffen, zwar redegewandt, aber nicht unbedingt das, was man gebildet nennt. Sie vermutete, daß ihn das herzlich wenig kümmerte. Wenn sie
John Glauben schenken durfte, hatte Clint eine äußerst bewegte Vergangenheit.
Laut John verstand ein Mann, der wußte, wie man einen Einbruch durchführt, am
besten, wie man Einbrecher draußen hielt.
Er hatte Clint vertraut. Sie nicht. Jedenfalls nicht zu Anfang.
Als John Clint engagierte, hatte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
Heute wußte sie, daß sie sich vor ihm gefürchtet hatte. Doch mit der Zeit hatte
sie den weichen Kern unter der rauhen Schale erkannt und Vertrauen gewonnen.
Als John starb, war es Clint gewesen, der sich um sie kümmerte. Er war der Fels,
an den sie sich in ihrer Verzweiflung geklammert hatte, er war dagewesen, wenn
sie ihn brauchte – wenn es sein mußte, mitten in der Nacht. Mittlerweile waren
sie in gewisser Weise Freunde geworden, und sie fühlte sich in Clints Gegenwart
oft sehr entspannt. Andererseits gab es auch Momente, so wie jetzt, da machte
seine Nähe sie unruhig.
Sie blickte hoch und stellte fest, daß er sie beobachtete.
Rasch konzentrierte Clint sich wieder auf die Zeitung. „Scheint mir ein bißchen
lächerlich, die Liste der Kriterien mit ,Geld spielt keine Rolle’ zu beginnen.
Welche Frau in Ihrer Position würde sich um Geld scheren.“
„Eigentlich hatte ich der Journalistin mitgeteilt, daß Geld noch nie eine Rolle für
mich gespielt hat. Auch nicht, als ich John heiratete.“
Clint deutete auf das nächste Kriterium. „Das Alter Ihres Zukünftigen ist Ihnen
ebenfalls egal?“
„Sie fragte mich, ob ich noch einmal einen wesentlich älteren Mann wählen
würde. Ich antwortete, daß es wichtigere Dinge für mich gäbe als das Alter eines
Mannes.“
Clint richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. „Liebesbriefe zum Beispiel?“
Sein Sarkasmus verletzte Shannon. „Was ist so schlimm daran, sich Liebesbriefe
zu wünschen? Liebesbriefe kommen von Herzen. Manchmal zehrt eine Frau
jahrelang von dem, was in ihnen zum Ausdruck gebracht wurde. Sie sind ein
Geschenk der Liebe.“
„Nichts ist schlimm daran, wenn sich eine Frau Liebesbriefe wünscht“, lenkte
Clint ein. „Schlimm ist nur, wenn man es der ganzen Welt verkündet. Ab sofort
werden Sie haufenweise Post von jedem Heiratsschwindler bekommen, den diese
Stadt beherbergt.“
Shannon hob trotzig das Kinn. „Na und? Sollen sie mir doch schreiben. Wohin
werden sie ihre Briefe senden? Meine Adresse ist nicht so leicht herauszufinden.“
„Was glauben Sie wohl, wie viele ,große, ummauerte Anwesen es am Ufer des
Eriesees’ in Grosse Pointe gibt?“ fragte Clint zurück, indem er den Artikel zitierte.
„Wer Ihnen schreiben will, wird genügend Wege finden, damit die Briefe Sie auch
erreichen. In Kürze werden Sie mehr Heiratsanträge auf dem Tisch haben, als
Ihnen lieb ist.“
„Na schön. Was soll ich also Ihrer Meinung nach tun? Schließlich kann ich den
Artikel nicht aus der Welt schaffen.“
„Lassen Sie mich Ihre Post durchsehen. Ich sortiere das, was für Sie
unangenehm sein könnte, aus.“
„Sie wollen meine Post lesen?“
„Nur ein paar Wochen lang. Bis sich der Aufruhr gelegt hat.“
Entschlossen schüttelte Shannon den Kopf. „Nein. Es ist an der Zeit, daß ich mein
Leben selbst in die Hand nehme.“
„Darum geht es doch gar nicht“, beharrte Clint.
„Doch, genau darum.“ Für sie ging es darum, endlich erwachsen zu werden. Sie
lächelte. „Außerdem sind vielleicht ein paar Briefe dabei, die mir gefallen.“
„Das ist es also, was sie wollen. Sich amüsieren.“
„Natürlich nicht.“ „Was dann?“ Shannon warf mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück. „Sie haben mir Ihren Standpunkt bezüglich der Briefe klargemacht, aber ich selbst werde entscheiden, was ich mit ihnen tue. Falls ich überhaupt welche erhalte. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mit mir besprechen wollen?“ Clint hätte Shannon liebend gern noch ein paar Dinge gesagt, doch dazu hatte er nicht das Recht. Wie soll ich eine Frau beschützen, die gar nicht beschützt werden will? fragte er sich. Und wie geht man mit Wünschen um, die nie erfüllt werden können? „Um welche Uhrzeit benötigen Sie den Wagen?“ erkundigte er sich förmlich. „Um zwei Uhr, bitte“, erwiderte sie und wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. Er war damit entlassen. Verwundert stellte er fest, wie sehr sich Shannon von der Frau unterschied, die er vor drei Jahren kennengelernt hatte, als er seinen Job antrat. Sie war damals vierundzwanzig und trotzdem noch fast ein Kind gewesen. John hatte es auch gar nicht gewollt, daß sie selbständig wurde. Dann hatte sie bei einem Autounfall ein Schleudertrauma erlitten, ein Grund mehr für John, sie wie ein Kind zu behandeln. Er hatte für sie gedacht und geplant. Ihr Leben organisiert. Sein früher Tod war in seiner Planung selbstverständlich nicht enthalten gewesen. Von heute auf morgen hatte Shannon auf eigenen Füßen stehen müssen, und es stellte sich heraus, daß ein ziemlicher Widerspruchsgeist in ihr steckte, wenn irgend jemand ihr wohlgemeinte Ratschläge erteilen wollte. Aus dem Kind war eine Frau geworden. Irgendwann in dieser Zeit hatte er sich rettungslos in sie verliebt. Clint wandte sich um und verließ das Speisezimmer. Beim Empfang im Detroit Art Institute an diesem Nachmittag hielt sich Clint unauffällig im Hintergrund, während Shannon den Rembrandt an den Museumsdirektor übergab. Verglichen mit den anderen anwesenden Frauen wirkte Shannon wie eine Frühlingsbrise an einem kühlen Apriltag. Sie war begeisterungsfähig und sagte offen, was sie dachte. Das brachte sie zwar gelegentlich in Verlegenheit, war jedoch immer erfrischend. Clint fand, sie war auf ihre Weise ein ganz eigenes Meisterwerk, und er konnte gut verstehen, daß sich John Powell in sie verliebt hatte und alles daran setzte, sie zu behüten. An seine letzte Unterredung mit John konnte er sich bestens erinnern. Sie hatte an jenem Tag stattgefunden, an dem er eigentlich hatte kündigen wollen. „Sie können nicht gehen“, sagte John. „Sie ist unschuldig wie ein junges Kätzchen und würde nie begreifen, daß ihr jemand etwas Böses will.“ „Sie sollten ihr besser erzählen, was sich bei dem Unfall zugetragen hat“, erwiderte. „Es ist wichtig, daß sie es erfährt.“ „Nein. Der Unfall hat sie so verängstigt, daß sie nicht mehr mit dem Auto fahren will. Ich möchte vermeiden, daß sie anfängt, sich zu fürchten, sobald sie einen Fuß aus der Tür setzt. Solange Sie auf sie aufpassen, braucht man ihr nichts zu erklären.“ „Darum geht es ja gerade. Ich kann nicht ewig den Bodyguard spielen. Ich will mich selbständig machen. Als Sie mich baten, den Job zu übernehmen, habe ich Sie informiert, daß ich nur zwei Jahre für Sie arbeiten werde.“ „Und wie soll ich einen Ersatz für Sie finden?“ fragte John. „Es hat lange genug gedauert, aber mittlerweile vertraut Shannon Ihnen.“ „Was ist mit Angelo?“ „Angelo kann Sie vertreten, wenn Sie frei haben, aber ich habe nicht genug Zutrauen zu ihm. Er ist ein guter Gärtner, und diesen Job soll er weitermachen.“
„Dann müssen Sie sich eben einen anderen Ersatz für mich suchen.“ John seufzte. „Versprechen Sie mir, wenigstens so lange zu bleiben, bis ich jemand Brauchbaren gefunden habe?“ Er versprach es. Zwei Tage später erlag John Powell einem Herzinfarkt. Danach war es ihm nicht mehr möglich gewesen zu gehen. Shannon war so verzweifelt gewesen, und er hatte nur zu gut gewußt, was sie durchmachte. Doch daß er nun immer noch in ihren Diensten war, hatte einen anderen Grund. Er hatte sich in Shannon verliebt, und ganz so, wie John es sich gewünscht hatte, beschützte er sie weiterhin. Gerade ging Shannon zu Paul Green hinüber und unterhielt sich mit ihm. Paul war mit John befreundet gewesen und hatte ihm bei finanziellen Transaktionen mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Shannon trug ihr Haar hochgesteckt, doch ein paar vorwitzige Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten anmutig ihr Gesicht. Sie versuchte sie wieder zu bändigen, aber es gelang immer nur für zwei, drei Minuten. Nun lachte sie hell auf über etwas, das Paul sagte. „Sehen Sie nur, Clint“, sagte spitz eine große, blonde Endvierzigerin, die neben ihn getreten war. „Jetzt ist sie hinter Paul her. Aber das überrascht mich nicht. Eine Frau, die in der Zeitung öffentlich verkündet, daß sie einen Mann sucht…“ „Das hat sie nicht gesagt.“ „Ach, nein?“ bemerkte die Dame süffisant und deutete auf zwei Männer, die neben dem Rembrandt standen, den Shannon dem Museum in Johns Namen gestiftet hatte. „Diese beiden dort können es kaum erwarten, ihre Briefe auf den Weg zu bringen. Sie hätten sie vorhin mal hören sollen.“ Clint betrachtete die beiden Männer, die etwa Ende Dreißig waren. Ihr Anzug war maßgeschneidert, ihr Haar perfekt geschnitten, ihr Auftreten weltmännisch. Erfolgreiche Geschäftsleute. Gebildet, kultiviert, wohlhabend. Er wandte sich wieder an die Dame neben ihm. „Was haben sie denn gesagt?“ „Daß sie Shannon nur zu gern heiraten würden“, antwortete sie verächtlich. Er lächelte. Vielleicht würde der Artikel ihm sogar dienlich sein. Denn seine Gefühle für Shannon verboten es eigentlich, daß er noch lange für sie arbeitete. Er traute sich selbst nicht über den Weg. Doch ihr zu zeigen, was er für sie empfand, wäre eine Katastrophe. Wahrscheinlich würde sie sich vor Lachen schütteln, wenn sie von seiner Liebe zu ihr erfuhr. Allein der Gedanke, daß eine so schöne, reiche Frau wie Shannon Interesse an einem Mann wie ihm haben könnte, war absurd. Und selbst wenn sie nicht abgeneigt wäre, würde es nicht funktionieren. Er paßte nicht zu ihr. Er kam aus einer Welt, die sie weit hinter sich gelassen hatte. Zu ihm gehörten Bier und Baseball, Motorräder und Leder. John hatte sie an Champagner gewöhnt, an Ballett, an Segelyachten und Seidenkleider. Nein, er durfte ihr niemals sagen, was er für sie fühlte. Ihm blieb nur die Hoffnung, daß sie bald den Richtigen fand. Jemanden, der über ihr Wohlergehen wachte – und der ihr entsprach. Dann konnte er, Clint, beruhigt seinen eigenen Lebensweg gehen. Am Montagabend hatte Clint seine Meinung über die – ihm dienliche – Wirkung des Artikels geändert. Wie an jedem Montag hatte er ein paar Stunden im Gemeindezentrum seines früheren Wohngebiets verbracht und war dann in seiner Lieblingskneipe, „The Grill“, eingekehrt. Die Gäste dort waren meist alleinstehende Männer, die in den umliegenden Unternehmen arbeiteten und nach Feierabend noch ein Bier trinken wollten. Zu Anfang war er immer deshalb hergekommen, weil er Frauen kennenlernen wollte. Das war ihm nicht gelungen. Dafür hatte er eine Menge über Computer gelernt. Warum dann Gary Cleveland einen Narren an ihm gefressen hatte, würde er nie
verstehen. Gary mochte zwar so etwas wie ein Genie sein, aber an den meisten
menschlichen Tugenden mangelte es ihm. Darüber hinaus hielt er sich, was
Frauen betraf, für unwiderstehlich.
Auch an diesem Abend kam Gary in die Kneipe. Gary war klein, rundlich, mit
schütterem Haar, und er trug eine dicke Brille. Er blickte sich kurz um und kam
dann zu seinem Tisch herüber.
Grinsend zog Gary sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Na, wie geht’s?“
„Nicht übel.“ Er spürte, daß etwas in der Luft lag.
Immer noch grinsend, lehnte Gary sich zurück. „Ich hörte, daß deine Chefin auf
der Suche nach einem Ehemann ist.“
Daß Gary laut genug sprach, daß das halbe Restaurant mithören konnte, ärgerte
Clint. „Sie ist nicht auf der Suche nach einem Ehemann“, gab er zurück und griff
nach seinem Glas Mineralwasser. „Man hat sie falsch zitiert.“
„Die Schlagzeile verkündet aber, daß sie sich Liebesbriefe wünscht.“
„Wenn sie jemanden gefunden hat, den sie heiraten möchte. Das wird aber noch
eine Weile dauern.“
„Ich habe den Artikel ganz anders verstanden. Meine Kumpels auch.“
„Welche Kumpels?“
„Meine Kollegen bei Braxton. Jedenfalls die, die noch keine Frau haben. Wir
haben gewettet, wessen Brief sie zuerst beantworten wird. Wenn es einem von
uns gelingt, mit ihr auszugehen, zahlen die anderen ihm ein Wochenende im
RenaissanceCenter.“
Er nahm nicht an, daß Gary bei Shannon mehr Chancen haben würde als bei den
Frauen, die diese Kneipe besuchten.
„Und du?“ fragte Gary. „Wirst du ihr auch Liebesbriefe schreiben?“
„Ich? Das wäre doch lächerlich.“
„Wäre aber nicht das erste Mal, daß eine reiche Mieze und ihr Chauffeur
durchbrennen.“
„Shannon… Mrs. Powell… ist keine Mieze, und sie hat kein Interesse an ihrem
Chauffeur.“
„Dann könntest du ja für mich die Liebesbriefe verfassen…“
„Wieso denn das?“
Gary zuckte die Achseln. „Im Briefeschreiben bin ich miserabel. Gib mir einen
Computer, und ich programmiere ihn so, daß er massenweise Liebesbriefe
produziert. Nur daß der Text für den Papierkorb wäre. Was ich brauche, ist ein
bißchen kreative Unterstützung. Von dir.“
„Warum glaubst du, daß ich es besser kann als du?“
„Du kennst sie, weißt, was sie mag und was nicht. Außerdem schreibst du für die
Straßenjungs, die du im Lesen unterrichtest, Geschichten.“
„Diese Geschichten sind für das Leseniveau von Dritt und Viertklässlern. Darin
geht es um das Überleben auf der Straße. Ich glaube kaum, daß Shannon davon
beeindruckt wäre.“
„Aber du bist doch auf dem College gewesen. Du mußtest Hausarbeiten
schreiben.“
„Das waren juristische Texte.“
„Alles, was ich von dir verlange, sind ein paar sentimentale Sätze. Irgend etwas,
das ihr Freude macht.“
„Nein.“
„Aber, Clint. Habe ich dich bei der Einrichtung des Sicherheitssystems der Villa
unterstützt oder nicht? Habe ich deiner Mutter einen Computer besorgt oder
nicht?“
Es war offenbar ein Fehler gewesen, Gary bei diesen Dingen um Hilfe zu bitten.
Gary hatte ihm ein paar Tips für die Bedienung des Computers gegeben, der das Sicherheitssystem steuerte, und ihm einen gebrauchten PC für seine Mutter beschafft. Das war alles. „Ich will doch bloß, daß sie mir zurückschreibt“, fuhr Gary fort. „Wäre doch dumm, wenn ausgerechnet Gary Cleveland keine Antwort von ihr bekommt.“ Ihm wäre das ziemlich egal, doch wenn Gary meinte, daß er ihm das schuldig sei… „Also gut“, antwortete Clint seufzend, „ich schreibe den verdammten Brief für dich.“ Am Dienstag mußte Shannon feststellen, daß sie die Wirkung des Artikels unterschätzt hatte. Clarissa, die Köchin und Haushälterin, die schon Johns Vater gemeinsam mit ihrem Mann, Angelo, aus Italien herübergeholt hatte, brachte die Post. „So viele Briefe“, murmelte Clarissa vorwurfsvoll. „Viel zu viele.“ Shannon stimmte ihr zu. Neben den üblichen Rechnungen und den Werbesendungen stapelten sich etwa fünfzig Briefe auf dem Tablett. Manche der Absender hatten wahre Meisterleistungen im Erfinden einer Anschrift vollbracht. Wie das Postamt es dennoch geschafft hatte, die Briefe richtig zuzustellen, war ihr ein Rätsel. Andere Anschriften waren fast beängstigend korrekt. Selbst die Hausnummer hatten die Leute herausgefunden. Shannon nahm einen Brief, dessen Anschrift maschinengeschrieben war, und schlitzte ihn mit dem Brieföffner auf. Vorsichtig holte sie ein gefaltetes Blatt Papier heraus und beäugte es mißtrauisch. Dann lachte sie. Es war das Formular eines Heiratsinstituts. Sie warf es in den Papierkorb. Als nächstes wählte sie aus dem Stapel einen handgeschriebenen Brief aus, der in einem rosafarbenen Umschlag steckte. Die Nachricht war kurz und eindeutig. Shannon, ich habe ihr Foto in der Sontagszeitung gesehn und finde sie richtig hüpsch. Ich bin nich gut im schreiben, aber ich will sie gern kennenlernen’ Sie können mich anrufen. Meine Nummer ist 5559654. Ich bin arbeitslos. Deshalb habe ich meistens Zeit. Carl
Sie beförderte Carls knappe Zeilen in den Papierkorb. Georges Schreiben erlitt
das gleiche Schicksal. Er schrieb, daß er zwar irgendwie noch verheiratet sei, sich
von seiner Frau aber nicht verstanden fühle. Ihm folgten Chucks Zeilen, der fand,
daß die Reichen ihre Türen den Armen öffnen sollten. Danach kam Marks Brief,
der auf drei maschinengeschriebenen Seiten Bibelverse zitierte, die von Liebe
handelten.
Langsam fand Shannon, daß es gar keine schlechte Idee gewesen wäre, wenn
Clint sich um die Briefe gekümmert hätte. Doch dann kam eine Zuschrift, die sie
interessierte.
„Liebe Shannon“, begann der Brief in großer, geschwungener Handschrift.
Ich fühle, daß wir verwandte Seelen sind. Die Menschen wissen mit dem geschriebenen Wort nichts mehr anzufangen. Briefeschreiben ist eine Kunst, die niemand mehr pflegt. Telefon und Computer sind an die Stelle von Feder und Papier getreten.
Doch wie will man den Zauber von Worten festhalten, ihren Klang.
Telefaxmitteilungen und Computertexte sind Bits und Bytes auf dem
elektronischen Highway. Mit einem Mausklick werden sie abgelegt, ausgedruckt
oder gelöscht. Ein Brief dagegen, vor allem ein Liebesbrief, sollte etwas
Persönliches sein. Ein Geschenk der Liebe.
Ich maße mir nicht an, Ihnen einen Liebesbrief zu schreiben. Doch der Anblick
Ihres Fotos in der Zeitung hat mich innerlich tief berührt. In Ihren Augen
erblickte ich eine Sehnsucht nach Glück, die mir vertraut ist. Sagen Sie mir,
welche Träume Sie haben, und ich werde Ihnen meine Träume verraten.
Vielleicht treffen sich unsere Seelen im Unendlichen.
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich Gary
Shannon las den Brief ein zweites Mal. „Ich fühle, daß wir verwandte Seelen sind.“ Nun, immerhin hatte Gary bezüglich Faxmitteilungen und Computertexten genau das ausgedrückt, was auch sie empfand. Und daß er einen Liebesbrief ein Geschenk der Liebe nannte… Merkwürdige Übereinstimmung, dachte sie und wollte den Brief fast schon ebenfalls in den Papierkorb befördern. Doch dann faltete sie ihn sorgfältig zusammen und ließ ihn in ihre Tasche gleiten.
2. KAPITEL Ende der Woche hatte Shannon bereits über einhundert Briefe erhalten. Sie
überflog sie alle und warf die meisten davon weg. Zehn Zuschriften jedoch
erregten ihre Neugier, und sie steckte sie in einen Umschlag und verwahrte sie
auf ihrem Schreibtisch. Als Clint hereinkam und sie ihm von ihren weiteren
Plänen berichtete, war sie nicht besonders überrascht von seiner Reaktion.
„Wie bitte? Was wollen Sie tun?“ fragte er entgeistert.
„Zurückschreiben.“
„Sie wissen nichts, aber auch gar nichts über diese Männer. Sie könnten Mörder
sein oder Vergewaltiger.“
„Alles, was ich tun werde, ist, diese Briefe zu beantworten. Und das einzige, was
dabei eventuell Schaden erleiden könnte, ist die englische Sprache.“
„Ihr Englisch ist völlig in Ordnung“, versicherte er.
„Da war meine Englischlehrerin aber anderer Meinung. Doch sie konnte nichts
mehr daran ändern, weil ich wegen meiner Heirat früher von der Schule abging.“
„Sie wechseln das Thema.“
„Weil es nichts mehr zu besprechen gibt.“
„Wer sind diese Männer? Wie heißen sie?“
Shannon lehnte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück, schloß den Umschlag
und lächelte sanft. „Spielt das eine Rolle? Ich werde ihnen schreiben, nicht Sie,
Clint. Sie benehmen sich mittlerweile ja schlimmer als John.“
„Weil es Sie in Gefahr bringen könnte, fremden Männern Briefe zu schreiben.
Jemand, der so reich ist wie Sie…“
„Kann genauso viel Spaß daran haben, Briefe zu schreiben, wie jemand, der arm
ist. Ich werde es tun, also bitte keine Diskussion mehr.“ Sie schaute auf ihre
Armbanduhr. „Außerdem komme ich zu spät zum Friseur, wenn ich nicht sofort
aufbreche.“
Damit schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Eigentlich hatte sie erwartet,
daß Clint die Türschwelle freigeben würde. Doch das tat er nicht. Er stand mitten
im Weg und blickte ihr fest in die Augen.
Er trug seine normale Uniform – blauer Blazer, graue Hosen. Aber Eleganz war
bei Clint verschwendet. Granit konnte man eben nicht auf Hochglanz polieren.
Sie blieb einen Meter vor ihm stehen, hob das Kinn und verlangte wortlos,
durchgelassen zu werden.
Der Blazer spannte sich um seine muskulösen Schultern, als Clint tief
durchatmete. „Wenn John noch am Leben wäre, würden Sie das nicht tun.“
„Nein, allerdings nicht. Aber er ist tot.“ Sie dagegen fühlte sich so lebendig wie
noch nie. Mutig trat sie einen Schritt vor, und sofort machte Clint den Weg frei.
„Welchen Wagen möchten Sie benutzen?“ fragte er sie nun und wie gewohnt sehr
förmlich. „Den Mercedes oder den Jaguar?“
„Den Mercedes“, antwortete sie ruhig und ging an ihm vorüber.
Erst als Shannon auf dem obersten Treppenabsatz angelangt war und sicher sein
konnte, daß sich Clint auf dem Weg zu den Garagen befand, jubelte sie laut und
schüttelte siegesbewußt die Faust.
Montags hatte Clint frei. Seit er für die Powells arbeitete, lief dieser Tag für ihn
stets gleich ab. Morgens erledigte er Dringendes, und um die Mittagszeit
besuchte er seine Mutter. Seit Jahren versuchte er, sie zu einem Umzug zu
bewegen. Die Gegend, in der sie wohnte, war schon in seiner Kindheit schlimm
genug gewesen, doch mittlerweile war sie völlig heruntergekommen. Seine
Mutter weigerte sich allerdings standhaft, sie zu verlassen.
Da sie stur wie ein Maulesel sein konnte, kümmerte er sich zumindest darum,
ihre Wohnung möglichst sicher und gemütlich zu machen. In den vergangenen
drei Jahren hatte er um den kleinen Vorgarten einen hohen Holzzaun errichtet,
ein Alarmsystem installiert sowie eine Zentralheizung und eine Klimaanlage.
Außerdem hatte er ihr einen Fernseher besorgt, der hundertfünfzig Programme
empfangen konnte. Dazu kam der Computer von Gary.
Normalerweise gab es immer etwas zu reparieren. Danach bekam er ein
Mittagessen und unterhielt sich ein, zwei Stunden mit seiner Mutter. Manchmal
kam auch seine Schwester mit ihren beiden Kindern vorbei.
Etwa um drei Uhr ging er dann hinüber zum Gemeindezentrum. Es war nicht viel
mehr als ein viereckiger Backsteinbau, und die meisten Fenster waren mit
Brettern vernagelt. Trotzdem empfand er es wie ein zweites Zuhause. Hier hatte
er damals jene Hilfe gefunden, die ihn aus dem Schlamassel herausgeholt hatte.
Der Mann, der diese Hilfe geleistet hatte, war Don Williams.
Er war Gründer und Leiter des Zentrums. Groß von Statur und stolz auf seine
afrikanische Abstammung, sprach er mit den Straßenkindern Klartext. Seiner
Meinung nach hatte jeder hier im Bezirk die Pflicht, Nachbarschaftshilfe zu
betreiben. Eine halbe Stunde in der Woche sollten die Leute sich diese Zeit
nehmen. Eine halbe Stunde, um ein Kind zu retten.
Clint gab offen zu, daß er einzig und allein dank Don nicht tot oder im Gefängnis
war. Daher brachte er mehr als nur diese eine halbe Stunde in der Woche auf. Er
erteilte gefährdeten Jugendlichen Unterricht im Lesen und Schreiben – genau
das, was Don ihn gelehrt hatte. Und er lehrte die Jungen zu ringen. Wenn die
Kids Probleme hatten, hörte er ihnen zu, denn er wußte nur zu gut um deren
Konflikte.
Zur Zeit kümmerte er sich besonders um Leon Washington, mit dem er nun an
einem kleinen Tisch im Freizeitraum des Zentrums saß. Der achtzehnjährige Leon
las stockend die Geschichte vor, die Clint für ihn geschrieben hatte.
Nach drei Sätzen, die er ohne zu stocken gelesen hatte, hielt Leon jetzt inne.
„Nicht schlecht, was?“
„Großartig.“
„Hast du wirklich mal einen Panzer geklaut, als du in Kuwait warst?“
„Yeah.“ Für ihn war es im Moment wichtiger, daß der Junge beim Verständnis der
Texte Fortschritte gemacht hatte.
„Hast du auch mal ein Auto geklaut?“
„Mit zwölf.“ Er hatte es getan, um seinem Vater zu beweisen, daß er es konnte.
Doch bewiesen hatte er damit nur, daß er ein Dummkopf war.
„Würdest du es noch mal machen, Clint?“
„Nein, aber manchmal kann man diese Art von Fertigkeiten brauchen.“
Leon grinste verständnissinnig, und seine weißen Zähne leuchteten in seinem
dunklen Gesicht. „Vielleicht gehe ich auch zur Marine, so wie du. Dann komme
ich aus diesem Elendsviertel endlich raus.“
„Mußt aber erst den Schulabschluß schaffen.“
„Weiß ich. Geht aber doch schon besser mit dem Lesen, oder?“
„So rasch, wie du lernst, liest du bald ,Krieg und Frieden’.“
„Deine Geschichten mag ich glaube ich lieber.“ Leon blickte auf die
Manuskriptseite, die auf dem Tisch lag. „Die Bücher, die die Lehrer uns gaben,
habe ich nie verstanden. Aber das hier, das kapier’ ich. Du bist einer von uns.“
„Stimmt.“
„Don hat mir von dir und deinen Brüdern erzählt. Er sagt, einer von euch war
sogar im Gefängnis von Jackson.“
Er nickte.
„Letzte Woche haben sie einen von uns verknackt. Bewaffneter Raubüberfall. Er
muß zwanzig Jahre sitzen.“
„Im Jackson ist es nicht gerade wie im Holiday Inn.“
„Nö, bestimmt nicht.“ Leon blickte ihn fragend an. „Wie kommt es, daß du nicht
wie deine Brüder geworden bist?“
„Das hat Don geschafft“, erwiderte Clint. „Er hat mich gelehrt, daß ich längst
nicht so ein harter Bursche bin, wie ich dachte. Er hat mir beigebracht, daß ich
die Wahl habe.“
„Ich habe die Preise gesehen, die du gewonnen hast“, sagte Leon, „und dir bei
ein paar Ringkämpfen zugeschaut. Du bist ein harter Bursche.“
„Es gibt immer einen, der besser ist. Es kann den Tapfersten umhauen.“
Leon nickte und fuhr dann fort vorzulesen.
Montags blieb Shannon normalerweise zu Hause. Angelo – Clarissas Mann – war
zwar kein schlechter Autofahrer, doch Shannon fühlte sich mit ihm nicht halb so
sicher wie mit Clint. Daher nutzte sie die Montage, um ihre finanziellen
Angelegenheiten zu regeln. Nach Johns Tod hatte sie sich weitergebildet und
gelernt, den Gang der Geschäfte zu überwachen.
Um halb vier ging sie dann in die Küche, wo Clarissa das Abendessen
vorbereitete und gerade Kartoffeln schälte.
„Guten Tag, Misses Powell. Brauchen Sie etwas?“
„Etwas zu trinken. Aber bleiben Sie bitte sitzen, ich hole es mir selbst.“
Sie nahm eine Flasche Sprudel aus dem Kühlschrank, schenkte sich ein Glas ein
und trank. „Haben Sie und Angelo gestern etwas Nettes unternommen?“ fragte
sie Clarissa dann.
„Wir waren in der Kirche. Danach haben wir meine Kusine Isabella besucht. Ihre
Tochter, Maria, lebt jetzt in Italien. In Torino. Dort stammen Angelo und ich her.
Isabella hatte gerade Post von ihr bekommen. Mit Fotos. Die Stadt hat sich seit
damals sehr verändert.“
„Das glaube ich gern. Wie lange leben Sie jetzt schon hier? Dreißig Jahre?“
„Zweiunddreißig.“ Clarissa schüttelte nachdenklich den Kopf. „So viele Jahre.
Meine Kinder sind erwachsen. Mister und Misses Powell sind gestorben. Und nun
ist auch der junge Mister Powell nicht mehr da. Es ist einsam ohne ihn nicht
wahr?“
„Ja, das ist es.“
„Es ist so schade, daß Sie keine Kinder haben.“
„Wir haben es versucht.“
„Ich weiß. Er war ein guter Mann.“
„Ein sehr guter Mann.“
„Aber nun ist es Zeit, neu anzufangen. Mister Powell würde nicht wollen, daß Sie
Ihr Leben allein verbringen.“
„Das stimmt wohl“, erwiderte Shannon, obwohl sie darüber mit John nie
gesprochen hatte. „Ich bemühe mich ja auch.“ Was ihr blieb, waren die schönen
Erinnerungen. „Aber es ist nicht leicht.“ Sie lachte. „Besonders wenn man mit
jemandem zusammenlebt, der einen am liebsten in Watte packen würde.“
„Clint?“ fragte Clarissa und griff nach einem Bündel Karotten.
„Ja, und ich könnte schwören, daß er jeden Tag mehr in Panik gerät. Nehmen Sie
nur diese Briefe, die ich schreibe. Er tut so, als würde ich mich in höchste Gefahr
begeben, nur weil ich mit zehn Männern eine Korrespondenz führe.“
„Er macht sich Sorgen um Sie. Er mag Sie eben.“
„Clint?“ Sie war überrascht, denn Clint hatte so etwas nie erkennen lassen.
„Manchmal wirft er Ihnen Blicke zu…“
„Um mich einzuschüchtern.“
„Vielleicht, wenn Sie ihn anschauen. Doch wenn Sie es nicht sehen…“ Clarissa
lächelte.
„Wirklich?“ rief Shannon und wunderte sich, daß ihr die Vorstellung gefiel. „Hat
er irgendwann mal etwas in dieser Richtung gesagt?“
Clarissa lachte nur und schüttelte den Kopf. Shannon verstand sofort. In dieser
Hinsicht war Clint wie John. Ein große Schweiger.
„Mögen Sie ihn denn?“ fragte Clarissa.
Nun, das war der Punkt. Sie überlegte kurz, und, ja, sie mochte Clint tatsächlich.
„Er interessiert mich.“ Irgendwie war er faszinierend. „Nach Johns Tod hat er mir
sehr geholfen. Ohne viel Worte. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte.“
„Aber kein…“ Clarissa klopfte auf ihre Brust.
Herzklopfen? Shannon lächelte. „Vielleicht.“ Manchmal verspürte sie in Clints
Gegenwart eine gewisse Erregung. Und obwohl Clint kein schöner Mann war, sah
er gut aus. Außerdem konnte er sehr nett und aufmerksam sein. Was gab sie
sich da plötzlich für Träumen hin? Das ist doch Unsinn, sagte sie sich.
„Sie haben zu viele Romane gelesen, Clarissa. Clint hat kein Interesse an mir.
Erst gestern hat er mir genau erläutert, wie mein Zukünftiger sein sollte, und
diese Beschreibung paßte absolut nicht auf ihn selbst.“
„Ich dachte, er möchte nicht, daß Sie noch einmal heiraten.“
„Er will einfach nur derjenige sein, der darüber bestimmt, wer es wird. Ich mache
ihn verrückt, weil ich Männern Briefe schreibe, die ich nicht kenne. Da fällt mir
ein… Haben Sie die Briefe aufgegeben, die ich letzte Woche auf den Tisch neben
dem Eingang gelegt hatte?“
„Aber natürlich“, antwortete Clarissa. „Am Donnerstag habe ich alle eingeworfen.
Sie sollten mittlerweile angekommen sein.“
Shannon nahm eine der geschälten Karotten. „Gut.“ Sie lächelte. „Ich bin
nämlich neugierig, wie die Antworten auf meine Fragen lauten.“
Um vier Uhr beendete Clint den Unterricht. Nachdem Leon gegangen war,
bereitete er zusammen mit Don den Raum für den Ringkampf vor. Nachdem sie
die Matten ausgelegt hatten, trainierte er eine Weile mit Gewichten, die Don mit
staatlicher Unterstützung hatte anschaffen können. Danach duschte er und fuhr
in seine Lieblingskneipe, „The Grill“. Gary war bereits dort und winkte ihn zu sich
an den Tisch.
„Es hat geklappt!“ sagte Gary strahlend und hielt einen Brief hoch. „Ihre Antwort
kam Freitag. Ich habe die Wette gewonnen. Zumindest bin ich auf dem besten
Weg.“
Vor lauter Begeisterung zappelte Gary so heftig auf seinem Stuhl, daß er
umkippte. Polternd landete er auf dem Boden.
Kopfschüttelnd ging Clint hinüber und half Gary auf die Füße. „Alles in Ordnung?“
„Wunderbar.“ Gary grinste, stellte seinen Stuhl auf und setzte sich wieder. „Es ist
einfach wundervoll.“
Also hatte Shannon auch seinen Brief, den er für Gary geschrieben hatte,
ausgewählt. Sollte er sich nun darüber freuen oder nicht? Denn schließlich
bedeutete es, daß es jedem Mann gelingen konnte, sie mit ein paar blumigen
Phrasen einzufangen.
„Wieso machst du so ein Gesicht“, beschwerte sich Gary. „Weißt du etwas, das
ich nicht weiß?“
„Nichts. Nur daß sie zehn Briefe beantwortet hat.“
„Und?“
„Das ist alles. Was hat sie denn geschrieben?“
Garys Lächeln erlosch. „Daß ihr mein Brief gefallen habe, und sie möchte mit mir
korrespondieren, Gedanken austauschen, über Träume sprechen… Dann hat sie
gefragt, ob ich glaube, daß dem Leben ein höherer Plan zugrunde liegt oder ob
alles nur Zufall ist. Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich bin
Computerprogrammierer und kein Philosoph.“
Clint lächelte. Shannons Frage gefiel ihm. Immerhin war sie aufrichtig gewesen,
als sie ihm sagte, daß sie nicht vorhabe, ebenfalls Liebesbriefe zu schreiben.
„Darüber macht sie sich seit dem Tod ihres Mannes oft Gedanken.“
„Und was muß ich schreiben, damit ich sie zu einem Treffen überreden kann?“
„Ich glaube nicht, daß sie Lust hat auszugehen. Sie sucht jemanden, dem sie
schreiben kann.“
„Aber ich will mich mit ihr verabreden. Vergiß nicht, daß mir ein Wochenende im
RenaissanceCenter winkt, wenn ich es schaffe.“ Gary grinste wieder. „Vielleicht
kommt sie sogar mit.“
Clint hatte das sichere Gefühl, daß eine Nacht mit Gary für eine Frau nur ein
Desaster werden würde. Er konnte nur hoffen, daß Shannon Vernunft bewies.
„Was werden wir ihr schreiben?“ fragte Gary.
„Wir? Wieso wir?“
„Ist das Leben von oben geplant oder ist alles Zufall?“ Gary blickte auf den Brief.
„Kommt nicht in Frage! Ich habe den ersten Brief geschrieben. Jetzt bist du an
der Reihe.“
„Du glaubst also, ein paar Briefzeilen wiegen die Stunden auf, die ich für euer
Sicherheitssystem geopfert habe – ganz zu schweigen von dem Computer für
deine Mutter?“
Clint war nun sicher, daß Gary ihn bis zum letzten auspressen würde. „Was muß
ich also tun, damit die Schulden bezahlt sind?“ fragte er sarkastisch.
Gary öffnete seine Aktenmappe. „Ich habe Papier dabei. Dachte mir, wir könnten
beim Essen einen Brief entwerfen.“
Innerhalb von zwei Wochen erhielt Shannon die Antworten auf ihre zehn Briefe.
Einer davon traf gerade in dem Moment ein, als sie zu einer Partie Bridge im
CountryClub aufbrechen wollte, und sie steckte den Brief in ihre Handtasche.
„Das ist ein interessanter Vergleich“, sagte sie wenig später zu Clint, der den
Jaguar fuhr, während sie auf dem Rücksitz saß, und las ein paar Zeilen vor: „,Zu
viele Fehlentscheidungen, und man verdirbt das ganze Bild. Ein verlorenes Teil
wird immer eine Lücke hinterlassen. Doch wenn man nur ab und zu einen Fehler
macht, ist die Gesamtwirkung nicht zerstört. Das Einzelne verweist auf das
Ganze, und man kann den Sinn dahinter sehen’.“
„Das Leben als Puzzle?“ fragte Clint, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
„Ich mag diesen Gedanken. John war Teil meines Lebens, und nun ist er von mir
gegangen. Ich vermisse ihn, doch das heißt nicht, daß ich aufhören muß zu
leben. Ich kann an dem Gesamtbild weiterbasteln.“
„Hört sich trotzdem ziemlich schwülstig an. Wer hat das geschrieben?“
„Gary Cle…“ Sie unterbrach sich rasch. „Beinahe wäre ich Ihnen auf den Leim
gegangen, Dawson.“
„Bin nur neugierig.“
„Na gut. Wenn es Ihre Neugier befriedigt, dann teile ich Ihnen mit, daß dieser
Brief von Gary Cleveland stammt. Ich nehme an, es wird Sie, freuen, wenn ich
Ihnen auch noch mitteile, daß die Liste meiner Briefpartner nur noch drei Männer
umfaßt. Bis dieser Brief heute ankam, waren es sogar nur zwei.“
„Und was geben die anderen beiden von sich?“
„Einer von ihnen beantwortet meine Frage mit einem Gedicht. Er vergleicht das
Leben mit einer Autobahn. Die Menschen sind die Autos. Jede Ausfahrt gibt
unserem Leben eine neue Richtung. Manchmal biegen wir ab und fragen uns
hinterher, ob es nicht besser gewesen wäre, die nächste Abzweigung zu
nehmen.“
„Robert Frost“, sagte Clint. „Aus dem Buch ,The Road Not Taken’. Zwei Pfade –
und welchem soll ich folgen?“
„Stimmt. Martin hat auch offen geschrieben, daß er Frost zitiere. Er lehrt Englisch
an der Universität von Michigan.“
„Und was sagt der dritte Briefeschreiber?“
„Daß er sich diese Frage auch schon oft gestellt hat, nachdem seine Frau
gestorben ist. Es scheint, daß er genau das gleiche durchgemacht hat wie ich
nach Johns Tod. Erst der Schock, dann die Wut, dann Unsicherheit. Sein Brief ist
wundervoll.“
Clint starrte auf die rote Ampel. Er krampfte seine Hände um das Lenkrad und
verwünschte die Traurigkeit, die in ihm aufstieg. Dabei sollte ich froh sein, daß
sie jemanden gefunden hat, der sie versteht, dachte er.
„Glauben Sie, daß der Typ es ernst meint?“ fragte er.
„Warum sollte er mich belügen?“
„Er weiß, daß Sie Witwe sind. Vielleicht spielt er nur mit Ihren Gefühlen.“
„Clint, Sie sind ein Zyniker.“
Das stimmte zwar, aber Shannon war viel zu vertrauensselig. „Nicht jeder Mann
ist so aufrichtig wie John. Sie wissen ja noch nicht mal, ob diese Typen ihre
Briefe selbst verfassen. Könnte doch sein, daß sie einen Ghostwriter einschalten.“
„Und weshalb sollten sie das tun?“
„Weil sie Sie dazu bringen wollen, mit ihnen auszugehen.“
„Nun, daran habe ich kein Interesse“, sagte sie fest. „Jedenfalls jetzt noch nicht.
Und Sie, Clint, sind Sie aufrichtig?“
„Ich?“
Sie beugte sich ein wenig zu ihm, und er nahm einen Hauch ihres
verführerischen Parfüms wahr. „Ja, Sie, Clint.“
„Nicht immer.“
„Ach?“
Die Ampel schaltete auf Grün, und er trat so heftig aufs Gaspedal, daß der Jaguar
vorwärtsschoß. „Ich habe meiner Mutter zum Beispiel gesagt, daß sie immer
noch jung aussieht.“
Die Beschleunigung drückte Shannon in die Wagenpolster zurück. Seine Mutter?
Sie war erstaunt. Nie zuvor hatte Clint sie erwähnt. „Ist Ihre Mutter Witwe?“
„Ja.“
„Wie alt waren Sie, als Ihr Vater starb?“
„Vierzehn.“
Immerhin hatte er vierzehn Jahre lang einen Vater gehabt. Ihr eigener Vater war
verschwunden, als sie drei Jahre alt war. Danach hatte ihre Mutter eine Menge
sogenannter Freunde gehabt. Sie akzeptierte das, doch sie hatte nie aufgehört,
sich nach einem Vater zu sehnen. „Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem
Vater?“
Es folgte eine lange Pause, bis er schließlich antwortete: „Es gab eine Zeit, da
wollte ich genauso sein wie er.“
„Aber?“
Er zögerte erneut und fuhr dann fort: „Mein Vater wurde bei einem Raubüberfall
auf einen Spirituosenladen erwischt und erschossen. Ich war auch dabei,
zusammen mit meinen zwei älteren Brüdern. Mein ältester Bruder wurde
ebenfalls getötet. Clay und ich kamen davon.“
„Oh.“ Sie hatte gewußt, daß seine Vergangenheit keineswegs makellos war, doch
sie wäre nie auf die Idee gekommen, daß er einen Raubüberfall begangen hatte.
„Sind Sie mal erwischt worden?“
„Nein. Ich habe rechtzeitig Schluß gemacht. Hatte Glück mit einer Menge Dinge.
Mein Bruder Clay sitzt allerdings hinter Gittern. Wegen bewaffneten
Raubüberfalls. Er wurde genau wie mein Vater.“ Er blickte sie im Rückspiegel an.
„Das stimmt Sie nachdenklich, habe ich recht? Fragen Sie sich jetzt, ob Ihre
Gemälde und Ihre Juwelen sicher sind?“
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie mit ja geantwortet. „Sie würden mich
nicht ausrauben.“
„Sind Sie sicher?“
„Ganz sicher. Was macht Ihre Schwester?“ Die hatte er einmal erwähnt gehabt.
„Lizzy? Sie ist das einzige weiße Schaf der Familie.“
„Sehen Sie sich als schwarzes Schaf?“
„Nun, zumindest habe ich ein paar dunkle Flecken aufzuweisen, und einige Leute
sagen, ich könnte jederzeit einen Rückfall kriegen.“
„Diese Leute kennen Sie nicht wirklich. Möglich, daß Sie herrisch, übertrieben
besorgt und stur sind…“
„Ich soll stur sein?“ unterbrach er sie. „Sie sind diejenige, die darauf beharrt,
Briefe an völlig fremde Männer zu schreiben, ohne sich über die Folgen Gedanken
zu machen.“
„Die einzige Folge, die das haben könnte, wäre der Wunsch, diese Männer
irgendwann einmal kennenzulernen.“
„Genau.“
„Sind Sie etwa dagegen, daß ich andere Männer kennenlerne?“ forderte sie ihn
heraus.
„Natürlich nicht. Sie sollten sogar Verabredungen haben, und heiraten und Kinder
kriegen. Sie müssen aber vorsichtig sein.“
„Heißt das, ich muß jemand Passenden wählen? Jemanden wie Sie?“
„Reden Sie keinen Unsinn. Die Männer, mit denen Sie Zusammensein sollten,
treffen Sie… hier.“ Bei diesen Worten bog er in die Einfahrt des CountryClubs
ein, winkte dem Pförtner zu und fuhr weiter.
Der Rasen auf dem weitflächigen Gelände war kurz geschnitten, adrette Hecken
säumten die Wege, und vor dem exklusiven, großen Gebäude parkten teure
Autos. Sie hatte sich hier nie besonders heimisch gefühlt.
„Männer, die fast nur über Geld, Golf und Tennis reden, finde ich langweilig,
Clint. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt wissen, wie die Mehrzahl der
Menschen lebt. Die meisten dieser Leute hier denken sowieso, ich hätte John nur
wegen seines Geldes geheiratet.“
„Das stimmt aber nicht“, sagte er fest.
„Richtig. Ich empfinde es sogar eher als Last, reich zu sein.“
„Es gibt eine Menge Männer, die diese Last nur zu gern von Ihren Schultern
nähmen.“ Clint parkte den Wagen und wandte sich dann zu ihr um. „Wenn Sie
gewußt hätten, wie Ihr Leben aussehen wird – hätten Sie John dann auch
geheiratet?“
„Ich habe mich vor meiner Hochzeit schon gefragt, wie mein Leben aussehen
wird“, antwortete sie offen. „Doch schließlich war ich gerade mal siebzehn, und
ich wußte weder genau, ob ich überhaupt heiraten will, noch, ob ich nicht einfach
nur einen Vaterersatz in John sah.“
„Und?“
„Die Entscheidung fiel mir leicht.“ Shannon lächelte. „Ich habe ihn geliebt. Und
wenn ich noch einmal heirate, wird es wieder aus Liebe sein.“
„Sie ist eine Träumerin“, erklärte Clint einen Monat später. „Eine Träumerin, die
die wahre Liebe sucht.“
Paul Green, der sich gerade mit einem Finanzdokument beschäftigte, blickte auf.
„Dafür hat sie aber ziemlich schnell gelernt, ihr Vermögen zu verwalten.“
„Ich spreche auch nicht von ihrem Verstand, sondern von ihren Gefühlen“,
erwiderte Clint. „Sie schreibt diesen drei Männern immer noch Briefe.“ Und er
half Gary weiterhin beim Abfassen seiner Antworten. „Ich glaube nicht, daß das
gutgeht.“
„Solange sie diesen Männern nur schreibt, sehe ich da keine Probleme.“
„In ihrem letzten Brief hat sie aber vorgeschlagen, daß man sich auf einen Kaffee
treffen könnte.“
„Woher wissen Sie das?“ fragte Paul erstaunt.
Verdammt! „Ich habe einen der Briefe gesehen – bevor sie ihn wegschickte.“
„Und warum stört Sie ihr Vorschlag? Schließlich ist sie erwachsen. Was ist schon
dabei, wenn sie mit einem Mann Kaffee trinken geht?“
„Sicher, es ist eine ganz normale Angelegenheit.“ Er seufzte und begann, auf und
ab zu gehen. Paul war der einzige, der wußte, warum er, Clint, angeheuert
worden war.
„Vielleicht wäre es Zeit, ihr endlich zu sagen, warum die Kerle ihr damals in den
Wagen gefahren sind“, meinte Paul nachdenklich. „Wenn sie wüßte, daß sie nicht
vor Angst ohnmächtig geworden ist und fast entführt worden wäre, wenn dieser
Polizist nicht zufällig vorbeigekommen wäre…“
„Nein. Ich habe zwar oft daran gedacht, es ihr zu sagen, es mir aber aus gutem
Grund anders überlegt. Denn wenn sie erfährt, daß ich ihr Bodyguard bin, entläßt
sie mich sofort. Wer würde dann aber auf sie aufpassen? Sie ist viel zu
vertrauensselig. In dieser Hinsicht ist sie immer noch ein Kind.“
„Sie war ein Kind, als John sie heiratete. Mittlerweile ist sie erwachsen geworden.
Besonders im vergangenen Jahr.“
„Das stimmt, aber sie hat immer noch nicht begriffen, daß es Menschen gibt, die
für den Reichtum, den sie besitzt, morden würden.“
„Weil sie an das Gute im Menschen glaubt.“
„Aber wir beide wissen, daß nicht jedermann gut ist.“
Paul nahm seine Brille ab und rieb sich über den Nasenrücken. „Haben Sie je
daran gedacht, sie zu heiraten?“
„Ich?“
„Genau. Sie.“ Paul nickte und setzte seine Brille wieder auf. „Sie beide stammen
aus den gleichen Verhältnissen.“
„Oh, nein! Sie ist zwar in einer heruntergekommenen Gegend aufgewachsen,
doch verglichen mit meiner Kindheit, hatte sie das Paradies auf Erden. Heute ist
sie eine Lady, und ich bin ein… Nein, wir sind grundverschieden.“
„Ich weiß nicht so recht“, meinte Paul grinsend. „Sie beide…“
„Wir sind Arbeitgeberin und Angestellter. Diese Komödie hier war nur für ein paar
Jahre gedacht. Mein Vertrag lautet nicht auf lebenslänglich.“
Paul musterte Clint eindringlich und nickte dann langsam. „Was gedenken Sie
also zu unternehmen?“
„Ich werde versuchen, ihr Interesse auf einen der Jungens im YachtClub zu
lenken. Wenn sie allerdings darauf besteht, sich mit den drei Männern zu treffen,
denen sie Briefe schreibt, muß ich wohl einen Kumpel einschalten, den ich von
der Marine her kenne. Er ist zufälligerweise beim FBI gelandet.“
3. KAPITEL „Warum wollen Sie sich zuerst mit diesem Gary treffen?“ wollte Clint von
Shannon wissen, während er ihr die Wagentür des Mercedes aufhielt. „Weshalb
nicht mit einem der anderen?“
„Mir gefallen Garys Briefe am besten.“ Sie glitt auf den Rücksitz. „Ich weiß, daß
Ihnen nicht paßt, was ich tue. Doch was ist schon dabei, sich mit einem Mann
zum Kaffeetrinken zu treffen. Und Sie…“ Shannon lächelte ihn herausfordernd an,
„… Sie werden dabeisein.“
Worauf sie sich verlassen kann, dachte Clint. Er schloß den Wagenschlag und
setzte sich ans Steuer. Das Zusammentreffen von Gary und Shannon wollte er
um keinen Preis der Welt verpassen.
Letzten Montag war Gary stolz wie ein Gockel in die Kneipe gekommen, hatte
sich vor ihm aufgebaut und triumphierend Shannons Brief auf den Tisch
geworfen. Den ganzen Abend lang hatte er sich mit seinem Erfolg gebrüstet,
ohne auch nur im geringsten Rücksicht darauf zu nehmen, daß er, Clint, daran ja
durchaus beteiligt war. Garys Ansicht nach war die Verabredung zum Kaffee nur
das Vorspiel zu einem Wochenende im RenaissanceCenter.
Er hegte daran gewisse Zweifel. Shannon war in letzter Zeit zwar recht
unberechenbar geworden, doch er vertraute nach wie vor auf ihren Verstand.
Daß sie sich nicht mit Männern der HighSociety treffen wollte, bedeutete noch
lange nicht, daß sie sich Hals über Kopf in einen Typ wie Gary verlieben würde.
„Zum Literaturcafe?“ fragte er sie nun, obwohl sie ihm den Treffpunkt bereits am
Nachmittag mitgeteilt hatte.
„Ja, in die Mack Avenue.“
Er ließ den Motor an, öffnete per Knopfdruck das Tor zur Straße und schloß es
ebenso wieder, nachdem sie es passiert hatten. Nur wenige Anwesen in Grosse
Pointe waren derart gut gesichert. Allerdings nahmen auch nur wenige davon ein
ganzes Viertel ein und beherbergten eine derart erlesene Gemäldesammlung.
Die meisten der Sicherheitsmaßnahmen waren Shannon bekannt.
Doch sie hatte keine Ahnung, was es mit ihrem Kollier auf sich hatte – einem
Geschenk von John. Der kleine eingebaute Sender sah nicht anders aus als die
restlichen erbsengroßen Goldperlen.
John hatte sie gebeten, das Kollier Tag und Nacht zu tragen, und sie tat es auch
jetzt noch. Das nahm ihm einige Sorgen ab, die sich sonst aus ihrer wachsenden
Selbständigkeit ergeben hätten.
„Gary ist Programmierer“, erzählte Shannon ihm. „Er arbeitet für Braxton, ist
fünfunddreißig, war nie verheiratet und hat seinen Abschluß an der Oakland
University gemacht.“
„Fünfunddreißig und noch nie verheiratet gewesen? Gibt Ihnen das nicht zu
denken?“
Sie schien eine Sekunde lang irritiert. Doch dann entgegnete sie: „Und Sie, Clint?
Wie alt sind Sie? Dreiunddreißig? Vierunddreißig?“
„Zweiunddreißig.“
„Waren Sie je verheiratet?“
Er zögerte zunächst. „Ja“, antwortete er schließlich.
„Tatsächlich? John sagte, sie wären nicht verheiratet.“
„Ich bin es ja auch nicht mehr.“
Shannon lachte. „Was ist passiert? War sie es leid, von Ihnen herumkommandiert
zu werden?“
„Nein.“
„Ach, kommen Sie schon, Dawson. Was ist geschehen?“
„Meine Frau kam bei einem Autounfall ums Leben.“
„Oh“, flüsterte sie bedrückt und seufzte. „Das tut mir leid.“
Er hatte damals schrecklich gelitten, und fast hätte Tanyas Tod ihn wieder auf die
schiefe Bahn gebracht.
„Ich erinnere mich an Ihre Worte, nachdem John starb“, fuhr Shannon leise fort,
„Sie sagten, Sie könnten nachfühlen, was ich durchmache. Warum haben Sie es
mir nicht erzählt?“
„Ich spreche nicht gern darüber.“
„Manchmal hilft es aber.“
„Mir nicht, und ich kann Ihnen versichern, daß Sie Johns Tod wesentlich besser
ertragen haben als ich den Verlust Tanyas.“
„War das ihr Name?“
„Ja.“ Es war lange her, seit er ihn das letzte Mal ausgesprochen hatte. „Tanya
Marie.“
„Wo lernten Sie sich kennen?“ Shannon wollte Clint zum Reden bringen. Es half,
sich zu erinnern.
„Wir sahen uns das erste Mal in der Notaufnahme eines Krankenhauses“, erzählte
er. „Sie war Krankenschwester. Mein Fahrrad und ich hatten eine kleine
Meinungsverschiedenheit gehabt, und ich war unsanft zu Boden gegangen. Sie
mögen mein Gesicht ziemlich häßlich finden – aber damals sah ich noch
schlimmer aus.“
„Ich finde Ihr Gesicht überhaupt nicht häßlich.“
„Sagen Sie bloß nicht, daß Ihnen meine Nase noch nie aufgefallen ist.“
„Nun, sie ist halt ein bißchen krumm.“
Er lachte. „Ein bißchen? Ich glaube, Sie müssen mal zum Augenarzt, Honey.“
„Nein, Sie sind nicht häßlich, und Ihre Frau fand Sie bestimmt sehr gut
aussehend.“
„Sie war ja auch ein wenig verrückt.“ Half ihm durch die CollegeZeit. Akzeptierte
seine Familie. Liebte ihn.
„Wie lange waren Sie verheiratet?“
„Zwei Jahre.“ Zwei kurze Jahre. „Ein Betrunkener fuhr ihr ins Auto. Er kam mit
leichten Verletzungen davon. Die Ärzte sagten, sie sei sofort tot gewesen.“ Clint
erinnerte sich an seinen Schock, als ein Polizist vor der Tür stand und ihm die
Nachricht überbrachte. „Mir ging es genau wie Ihnen, als man Ihnen Johns Tod
mitteilte. Ich habe es zuerst nicht geglaubt. Habe es einfach nicht akzeptieren
wollen.“
„Wenn jemand alt oder krank ist“, sagte Shannon, „kann man sich darauf
einstellen. Aber jemand in voller Lebensblüte…“
„Nach Tanyas Tod habe ich ein halbes Jahr nur gesoffen und mich geprügelt.“
„Vermutlich habe ich irgendwie gespürt, daß Sie wußten, was in mir vorging. Sie
haben mir sehr geholfen, Clint.“
„Ein Freund von mir meint, daß alles, was wir erleben, dazu dient, etwas zu
lernen. Wenn wir es dann gelernt haben, können wir unsere Erfahrungen
weitergeben.“
„Und was haben Sie gelernt?“
„Daß Worte nicht helfen. Nur die Zeit heilt. Man denkt, man könnte nie wieder
lieben, doch es kann geschehen. Es geschieht.“
„Haben Sie es erlebt, Clint? Haben Sie sich noch einmal verliebt?“
„Vielleicht“, antwortete er ausweichend.
„Heißt ,vielleicht’ eher ja oder eher nein?“
„Das Cafe ist hier am Ende der Straße, nicht wahr?“ gab er zurück.
„Ja, wir sind gleich da“, erwiderte Shannon und erkannte, daß es sinnlos war,
weiterzubohren.
„Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.“
Anscheinend hatte er wieder einmal vor, ihr eine Predigt zu halten. „Ich werde
mit dem Mann doch nur einen Kaffee trinken, weil seine Briefe mich faszinieren.
Manches von dem, was er schreibt, habe ich auch oft gedacht. Es ist, als hätten
wir die gleiche Wellenlänge.“
„Meinen Sie solche Sätze wie den mit den Schlaglöchern auf der Fahrbahn, die
uns erst dazu bringen, eine ebene Straße zu schätzen?“
Ich hätte ihm den Brief nicht vorlesen sollen, dachte Shannon. „Na schön,
manches ist vielleicht ein bißchen abgedroschen“, erwiderte sie. Aber es gab
viele Stellen in Garys Briefen, die sie berührten. Sie handelten vom Schicksal,
das zwei Menschen zusammenführt oder sie trennt, und von der süßen
Melancholie der Erinnerung an vergangene Zeiten. „Was haben Sie bloß gegen
Gary?“
„Nichts. Ich kenne ihn doch gar nicht.“
„Eben.“ Und ich kenne ihn auch nicht, sagte sie sich mit leiser Besorgnis.
Clint gegenüber tat sie zwar so, als habe sie die Situation fest im Griff, doch sie
wußte sehr wohl, daß sie sich mit den Briefen und jetzt mit dieser Verabredung
auf unsicheres Terrain begeben hatte. Sie war nervös und fragte sich, ob Gary
sie wohl langweilig finden würde. Natürlich hatte sie in den Jahren mit John viel
gelernt. Besonders auf den vielen Reisen. Aber sie hatte nie die Schule beendet
und kam aus einem heruntergekommenen Viertel Detroits, und es war noch gar
nicht lange her, da hatte sie keine Ahnung gehabt, daß Burgunder ein Wein war,
geschweige denn, daß Burgund eine französische Region war.
In der Gegenwart von Johns Mutter hatte sie sich bis zu deren Tod nie wohl
gefühlt, und den Leuten im CountryClub fühlte sie sich auch nicht zugehörig.
„Übrigens, ich werde meine Mitgliedschaft im YachtClub aufgeben.
Wahrscheinlich auch die im CountryClub.“ Persönlich ging Clint das nichts an,
aber es würde Auswirkungen auf seine Tätigkeit als Chauffeur haben. Drei
Fahrten pro Woche fielen dann weg. Kein Bridge mehr und kein Golf.
„Warum?“
„John war derjenige, der gerne segelte. Seit er nicht mehr da ist, bin ich kaum
einmal draußen gewesen.“
„Und warum wollen Sie aus dem CountryClub austreten?“
„Ich gehöre dort nicht hin.“
„Unsinn. Natürlich gehören Sie dorthin. Sie besitzen jedes Recht dazu.“
„Dann will ich es anders ausdrücken“, sagte sie. „Ich will dort nicht hingehören.
Es ist verschwendete Zeit, nachmittags Karten zu spielen, und Golf war noch nie
mein Lieblingssport.“
„Im CountryClub könnten Sie aber passende Männer kennenlernen.“
„Zumindest versuchen Sie, mir das einzureden. Dagegen habe ich John
kennengelernt, als ich in Mabels Bistro arbeitete.“
John hatte eine Autopanne gehabt und das Bistro betreten, um zu telefonieren.
Während er dann auf den Abschleppwagen wartete, hatte er Kaffee getrunken
und sich mit ihr unterhalten. Während der nächsten zwei Wochen war er
ständiger Gast gewesen, wenn er wußte, daß sie bediente. Vier Wochen später
hatten sie geheiratet.
„Reiner Zufall, zumindest nach allem, was ich von John weiß“, erwiderte Clint.
„Oder Schicksal. Doch wie auch immer, ich bin jedenfalls nicht darauf aus,
Männer kennenzulernen.“
„Ach, nein?“ sagte er ironisch, und sie merkte, wie absurd ihre Antwort gewesen
war.
„Ich treffe mich mit Gary, weil seine Briefe mich faszinieren“, wiederholte sie es noch einmal. „Dort drüben ist das Cafe.“ Das Literaturcafe befand sich an einer Straßenecke. Clint fuhr nun langsamer, und sie musterte im Vorbeifahren die wenigen Gäste, die an den Tischen draußen saßen. Auf einen der drei Männer paßte Garys Selbstbeschreibung. Er hatte ihr geschrieben, er sei von mittlerer Größe, habe braunes Haar und nußbraune Augen, und auch zugegeben, eine Brille zu tragen – aber nur zum Lesen. Der gedrungene Mann mit der Glatze, auf dessen Nase eine dicke Brille saß und der nicht las, kam also nicht in Frage. Dagegen könnte einer von den zwei anderen Männern durchaus Gary sein. Sie hatte plötzlich das Gefühl, Schmetterlinge im Bauch zu haben, und hätte Clint am liebsten gebeten, sofort umzukehren. „Hier ist eine Parklücke“, sagte er und bog ein. Nun war es zu spät, um wegzulaufen, und sie atmete ein paarmal tief durch. Clint hielt Shannon den Wagenschlag auf und war überrascht, daß sie sich nicht wehrte, als er sie dann zum Cafe begleitete. Er ging ein paar Schritte hinter ihr. Noch hatte er Gary nicht entdeckt. Zwei der männlichen Gäste, die an Cafehaustischen im Freien saßen, warfen ihr bewundernde Blicke zu. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Sie trug ihr Haar offen, so daß es in seidigen Wellen über ihre Schultern fiel. Das geblümte, schmalgeschnittene Kleid betonte ihr gute Figur und gab den Blick auf ihre schlanken langen Beine frei. Er hatte selbst Mühe gehabt, seine Reaktionen unter Kontrolle zu halten, als sie vorhin die Treppe heruntergekommen war. Der dunkelhaarige Mann an dem einen Tisch lächelte ihr nun einladend zu, und sie strebte zu ihm hinüber. Was soll ich tun? überlegte Clint. Ihr zu sagen, daß dies nicht der richtige Kandidat war, hieße zu verraten, daß er Gary kannte. Im Grunde konnte er nur hoffen, daß sie ihren Irrtum erkannte, bevor es zu spät war. Gary selbst löste dann das Problem. Er kam mit schwankenden Schritten aus dem Cafe. Irgendwie sah er anders aus als sonst. Natürlich, jetzt fiel es ihm auf, Gary Cleveland trug keine Brille, und sein Haupt zierte dichtes Haar. Gary stieß gegen einen Tisch, an dem zwei Damen saßen, von denen die eine ein Glas Limonade, die andere Kaffee trank. Gary entschuldigte sich und schaute zu Shannon hinüber, die zwar direkt auf ihn zu kam, den Blick aber immer noch auf den anderen Mann gerichtet hatte. Gary winkte grinsend und rief ihren Namen. Shannon blieb abrupt stehen. Sie ist im Zweifel, was sie von Gary halten soll, dachte Clint. In diesem Moment kamen drei Schuljungen aus dem Cafe. Der eine von ihnen ging rückwärts, während er mit seinen Freunden redete, und bemerkte Gary daher nicht. Was nun geschah, wirkte wie eine Szene aus einer Slapstick Komödie. Der Junge prallte gegen Gary, der daraufhin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, nach der nächstbesten Tischkante griff. Doch der Tisch war zu leicht, um seinen Fall zu stoppen. Obwohl die beiden Damen sich bemühten, den Tisch festzuhalten, ging er mitsamt Gary zu Boden. Limonadenglas und Kaffeetasse zerbrachen auf dem Beton. Shannon sprang geistesgegenwärtig zurück, konnte jedoch nicht verhindern, daß klebrige Limonade und heißer Kaffee über ihre Beine und auf den Saum ihres Kleides spritzten. „Oh, verdammt… Ich…“ Gary stand unbeholfen auf, half, den Tisch wieder aufzurichten, und entschuldigte sich bei den Damen und bei Shannon gleichzeitig. „Es war nicht geplant, daß ein solches Mißgeschick unser erstes Treffen trübt.“
Shannon starrte ihn verblüfft an. „Sie sind Gary?“ Sie blickte kurz zu dem zweiten dunkelhaarigen Mann hinüber und wandte sich dann wieder Gary zu. Sie hätte den anderen vorgezogen, dachte Clint. Frauen konnten lange behaupten, daß es ihnen nicht auf das Aussehen eines Mannes ankam. In Wahrheit fühlten sie sich ja doch von den attraktiven Exemplaren mehr angezogen. „Zu Ihren Diensten“, sagte Gary, ließ sich auf die Knie nieder und begann ihre Beine mit einer Serviette abzutupfen. Wer wollte, konnte die erhöhten Absätze an Garys Schuhen deutlich bemerken. Shannon entgingen sie nicht, doch sie war noch zu verblüfft, um deren Bedeutung zu verstehen. Sie hatten sich einander nicht einmal richtig vorgestellt; trotzdem lag dieser Mann vor ihr auf den Knien und machte sich an ihren Beinen zu schaffen. Sie starrte auf das dichte, dunkelbraune Haar, das so merkwürdig unnatürlich wirkte. Gary hatte sich mit der Serviette bereits fast bis unter ihren Rocksaum vorgearbeitet. Empört trat sie einen Schritt zurück. „Was fällt Ihnen ein?“ „Ich…“ Gary erhob sich schwankend und lächelte kindisch. „Ich wollte nur…“ „Schon gut. Vergessen Sie’s.“ Der unbeholfene Mann, der vor ihr stand, war alles andere als das, was sie aufgrund der Briefe erwartet hatte. Ihr Briefschreiber hatte Redegewandtheit gezeigt, und seine Gedanken gingen in die Tiefe. Außerdem hatte sie jemanden von etwas größerer Statur erwartet und jemanden, der selbstbewußt war und sich mit einer gewissen Eleganz zu bewegen wußte. Gary jedoch entpuppte sich nahezu als Witzfigur in seinem zerknitterten Anzug, und so wie er sich benahm, benötigte er nicht nur zum Lesen dringend eine Brille. „Möchten Sie…“, er warf einen Blick ins Cafe, „… möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Cola?“ Alles, was sie wollte, war, zu verschwinden und so zu tun, als kenne sie diesen Mann nicht. Vielleicht hätte sie diesem Impuls auch nachgegeben, wenn nicht Clint in der Nähe gewesen wäre. Clint, der süffisant lächelte. „Kaffee hört sich gut an“, erwiderte sie deshalb und bedachte Gary mit einem Lächeln. Ohne sich um Clint zu kümmern, hakte sie sich dann bei Gary unter. Um diese Uhrzeit befanden sich erst wenige Gäste im Literaturcafe, so daß Gary ohne Mühe einen freien Tisch fand. Er rückte ihr höflich einen Stuhl zurecht. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Clint das Cafe ebenfalls betreten hatte. Er blieb in der Nähe der Tür. „Cappuccino? Oder einen Cafe Latte? Oder…?“ fragte Gary grinsend. „Einen ganz normalen Kaffee.“ Ihr Magen würde jetzt keine Milch oder Sahne vertragen. „Und zwar ohne Koffein.“ „Wird sofort erledigt.“ Gary strebte betont lässig zum Tresen, konnte aber nicht verhindern, daß er auf seinen hohen Absätzen schwankte. Offensichtlich war er diese Schuhe nicht gewohnt – seine Haare wohl auch nicht, denn sonst hätte er sich wahrscheinlich nicht in unmittelbare Nähe der Pflanze begeben, die auf dem Tresen wucherte. Diese Pflanze hatte dicke, fleischige Blätter, war groß und schwer und hing wie ein Geweih über den Rand ihres Topfes. Als Gary vorbeikam, berührte er mit dem Kopf einen der Äste. Er ging weiter – sein Toupet blieb hängen. Shannon konnte sich das Lachen kaum verbeißen, denn Garys Glatze war nun deutlich offenbart. Clint kam herüber, lächelte Shannon kurz zu und löste das Toupet vom Ast,
stellte sich neben Gary an den Tresen und flüsterte ihm etwas zu.
Entsetzt faßte Gary sich an den Kopf, nahm Clint das Toupet dann rasch aus der
Hand und setzte es auf. Mit hochrotem Gesicht bestellte er zwei Tassen Kaffee
und wagte es nicht, in Shannons Richtung zu blicken, bis er die Tassen zum Tisch
balanciert hatte.
Shannon erwähnte den kleinen Vorfall nicht, weil sie sonst in haltloses Gelächter
ausgebrochen wäre. Ebenso vermied sie es, Clint anzusehen.
„So, bitte sehr.“ Gary stellte ihr eine Kaffeetasse hin und ließ sich nur ihr
gegenüber auf einem Stuhl nieder.
Sie warf einen Blick auf sein Toupet und stellte fest, daß es schief saß. Deshalb
konzentrierte sie sich auf seine Augen. „Die Augen sind die Fenster der Seele“,
sagte sie. Schließlich war er ein Mann, der Klischees mochte – jedenfalls hatte er
in seinen Briefen ab und zu welche benutzt.
Gary runzelte die Stirn. „Stimmt was nicht mit meinen Augen?“
„Nein. Ich habe nur…“ Sie zuckte die Achseln. „Schon gut.“
„Ich brauche meine Brille nur zum Lesen und für die Arbeit am Computer.
Ansonsten sehe ich sehr gut. An dem kleinen Unfall draußen war nur der Junge
schuld.“
„Sicher.“ Sie wünschte, er würde es einfach vergessen. „So lernen wir uns
endlich kennen. Das geschriebene Wort wird zum gesprochenen Wort.“
„Yeah… stimmt.“
Er griff nach seiner Kaffeetasse. Sie hätte ihm vorhersagen können, daß er
danebengreifen und mitten in der Tasse landen würde. „Gary…“ wollte sie ihn
warnen, doch es war zu spät. Er jaulte laut auf, so daß es jeder im Cafe hören
konnte, und steckte die verbrühten Finger in den Mund.
„Wollte nur testen, ob er heiß ist“, erklärte er.
„Offenbar ist er das“, gab sie zurück, während sie mühsam ihr Lachen
unterdrückte.
„Allerdings“, erwiderte er und griff erneut nach der Tasse, diesmal etwas
langsamer.
Er fand den Tassenhenkel dann ohne Probleme, und sie gestand ihm großzügig
zu, daß ihm all diese Ungeschicklichkeiten wohl nur deshalb passierten, weil er
momentan nervös war. „Ich fand Ihre Briefe wunderschön. Sie haben mich zum
Nachdenken gebracht.“
„Die Briefe. Yeah… ganz richtig.“ Er blickte sich im Raum um und grinste sie dann
an. „Jetzt können Sie mein wahres Selbst kennenlernen.“
„Das freut mich.“
Gary lehnte sich zurück und versuchte eine joviale Pose. „In einem Ihrer Briefe
schrieben Sie, daß Sie Leute mögen, die offen und ehrlich herauslassen, was sie
denken.“
„Ja, das stimmt.“
„Ein Mann sollte Ihnen also sagen, was er will. Richtig?“
Sie nickte.
„Nun, ich will mit Ihnen ein Wochenende verbringen.“
„Wie bitte?“
„Ich habe ein Wochenende im RenaissanceCenter gewonnen.“ Er grinste stolz.
„Wir kriegen Champagner. Können auf dem Zimmer dinieren.“
Sie lachte. „Das soll wohl ein Witz sein.“
„Nein. Ich meine es ernst. Es kostet Sie keinen Pfennig.“
„Ich kenne Sie doch gar nicht.“
„Nun…“ Er zuckte die Achseln. „Es muß ja nicht gleich das nächste Wochenende
sein. Wir könnten es…“
„Ich werde mit Ihnen kein Wochenende im Hotel verbringen.“
„Aber es ist doch das RenaissanceCenter.“
„Das ist mir gleichgültig“, erwiderte sie. „Hören Sie, ich mag Aufrichtigkeit,
aber…“ Sein Angebot war einfach unglaublich. „Sie sagten in einem Ihrer Briefe
selbst, daß zwei Menschen einander langsam kennenlernen müssen…“
„Ich weiß, wer ich bin“, wandte er vergnügt ein. „Und ich weiß, wer Sie sind.“
„Nun, ich selbst weiß nicht so genau, wer ich eigentlich bin. Sie schrieben ja
auch, daß man sich selbst gegenüber ebenso ehrlich sein soll und genau
zwischen dem unterscheiden muß, was wichtig und was unwichtig ist.“
„Klar, aber…“
Sie ließ ihn nicht ausreden. „Was ich nicht ganz verstanden habe, war die Vision,
von der Sie sprachen.“
„Vision? Welche Vision?“
„In Ihrem letzten Brief sprachen Sie davon. Sie sagten, wir brauchten alle eine
Vision.“
„Oh, yeah, er hat gesagt, Sie würden so was bestimmt toll finden… Ich… Ich
meine, ich wußte, daß Sie das toll finden würden.“
„Wer ist ,er’?“ wollte sie wissen und hatte genau gemerkt, wie er ins Stocken
geraten war.
„Ich meinte mich selbst“, murmelte er und vermied es nun, sie anzusehen.
„Ich verstehe“, sagte sie. „Sie haben diese Briefe nicht selbst geschrieben.“
„Nun, ich…“ Ein Muskel in seiner linken Wange zuckte. „Es war aber meine
Handschrift.“
„Und wessen Worte? Wessen Gedanken?“
Gary zögerte und blickte über ihre Schulter, und sie wandte sich um und sah,
daß Clint sich erhoben hatte.
Der gute alte Clint, dachte sie lächelnd, er kommt, um mich zu retten. Allerdings
wollte sie jetzt noch nicht gleich gerettet werden. Erst mußte sie in Erfahrung
bringen, wer diese Briefe geschrieben hatte. „Wie heißt er? Wer ist der Cyrano de
Bergerac hinter Ihren Briefen?“
„Ich dachte einfach nur…“ Gary griff erneut nach seiner Kaffeetasse. „Ich meine,
er…“ Er starrte Clint an, der ihren Tisch nun erreicht hatte.
„Schweigen Sie“, forderte Clint ihn knapp auf.
Gary ließ zitternd die Kaffeetasse fallen. Sie schlug hart auf dem Tisch auf, und
der heiße Kaffee spritzte umher.
Augenblicklich schob Shannon ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie wandte sich
zu Clint. „Wir gehen.“
„Aber, Shannon“, winselte Gary. Er hatte sich ebenfalls erhoben und wischte sich
Kaffeeflecken vom Anzug.
Sie gönnte ihm einen letzten Blick. Die Situation mochte urkomisch sein, jetzt
aber wollte sie ihr nur noch entkommen. „Sagen Sie Cyrano, er soll seine
eigenen Briefe schreiben“, verabschiedete sie sich von Gary und ging.
„Kein Wort, Clint“, warnte sie ihn, als sie an ihm vorübereilte. „Nicht ein Wort.“
Clint schwieg, doch er fixierte Gary drohend. Er hatte nicht das geringste
Interesse daran, daß Shannon wußte, wer diese Briefe geschrieben hatte. Zuviel
von ihm selbst stand darin. Viel zu viel.
Kleinlaut sank Gary auf seinen Stuhl zurück, und Clint folgte Shannon nach
draußen.
„Ich kann es kaum fassen“, erklärte Shannon, nachdem sie wieder im Fond des
Mercedes saß. „Was für ein grauenvoller Mensch!“
Clint erwiderte nichts.
„Los, sagen Sie schon, was Sie denken!“ forderte Shannon.
„Sie haben mir doch verboten, auch nur einen Ton zu sagen.“
„Stimmt.“ Sie seufzte und wiederholte: „Was für ein grauenvoller Mensch. Sie
hatten vollkommen Recht mit all Ihren Warnungen. Man kann jemanden nicht
aufgrund von Briefen kennenlernen.“ Sie seufzte erneut. „Nein, das ist auch nicht
wahr. Durch die Briefe habe ich begonnen, jemanden kennenzulernen. Nur daß
es eben nicht Gary Cleveland war.“
Shannon beugte sich vor, und Clint spürte ihren Kopf nahe an seiner Schulter.
„Stellen Sie sich vor! Er hat jemand anderen dazu gebracht, die Briefe für ihn zu
schreiben. Er wußte überhaupt nicht, von was ich rede, als ich ihn nach seiner
Vision fragte.“
„Vision?“
„Über dieses Thema hatten wir uns kurz ausgetauscht. Ich schrieb, daß ich früher
nie wußte, was ich werden soll, wenn ich erwachsen bin, und er –
beziehungsweise die andere Person – schrieb, daß wir alle eine Vision brauchen.“
„Interessant. Und wie finden Sie diesen Einfall?“
„Ich weiß nicht recht.“ Sie lachte. „Jedenfalls schließt meine Vision Gary
Cleveland mit Sicherheit nicht ein.“
Shannon lehnte sich wieder zurück. Clint lächelte. Er hatte ja gewußt, daß er sich
auf ihren guten Geschmack verlassen konnte.
„Kennen Sie die Geschichte von Cyrano de Bergerac?“ fragte sie.
„Ich habe davon gehört.“ In Wahrheit kannte er sie nur zu genau.
„Wir haben sie mal im Englischunterricht gelesen. Damals erschien sie mir so
überaus traurig. Ein Mann, verliebt in seine Kusine Roxane, und alles, was sie
vom Leben will, ist der andere – ein hübscher Junge“
„Soweit ich mich erinnere, hatte Cyrano eine sehr, sehr große Nase.“
„Ich muß mir unbedingt mal das Video ausleihen. Ich mochte die Geschichte.“
„Sie fanden es toll, daß ein Mann einer Frau sein Herz öffnet und sie am Ende
doch verliert?“
„Immerhin hat Roxane am Ende erkannt, daß Cyrano die Briefe geschrieben hat
und er derjenige ist, den sie wirklich liebt.“
„Er war dumm genug, seine Aufmerksamkeit auf sie zu richten.“ Clint fühlte
intensiv, daß er in dieser Hinsicht einiges mit Cyrano gemeinsam hatte.
„Sie sind ein Zyniker, Clint.“ Shannon seufzte. „Warum haben Sie ihn eigentlich
gestoppt?“
„Wen? Cyrano?“
„Nein, Gary. Er hätte mir fast gesagt, wer die Briefe geschrieben hat.“
Genau das hatte er ja befürchtet. „So wie er sich benahm, sah ich seinen heißen
Kaffee schon auf Ihrem Kleid.“
Sie lachte. „Ja, was für ein unsicherer Bursche. Als Sie zu meiner Rettung
schritten, machte ihn das sogar noch nervöser.“
„Ich kam Sie nicht retten.“
„Doch, genau das haben Sie getan. Wie schon so oft. Sie sind immer da, um
mich zu beschützen.“
„Ich bin nur aufgestanden, um eine Serviette zu holen.“
„Na klar“, erwiderte Shannon vergnügt. „Wann werden Sie endlich zugeben, daß
John Sie als meinen Bodyguard angeheuert hat?“
„Wenn das wahr wäre, müßte ich ständig an Ihrer Seite sein, und Sie hätten jetzt
keine klebrige Limonade auf dem Kleid.“
„So weit weg waren Sie aber auch nicht. Ich nehme an, Sie sind nie sehr weit
weg von mir.“
Clint sagte nichts und konzentrierte sich auf die Straße. Bald würden Sie das
große Tor des Anwesens passieren, und er war bereits dabei zu prüfen, ob sich in
der Zwischenzeit Dinge verändert hatten, die verdächtig erscheinen könnten.
4. KAPITEL Wie üblich gelang es Shannon nicht, es Clint zu entlocken, ob er nun auch ihr Bodyguard war oder nicht. Sobald Clint sich vergewissert hatte, daß sie sicher zu Hause war, verschwand er, um, wie er vorgab, mit Angelo zu reden. Shannon vermutete eher, daß er ihr ausweichen wollte. Um zehn Uhr ging sie nach oben, duschte und schlüpfte in das riesige Bett, das sie einst mit John geteilt hatte. Obwohl sie gerne geschlafen hätte, wurde sie in der Dunkelheit von der Erinnerung an die heutige Szene im Literaturcafe heimgesucht. „Was für ein Schwachkopf“, murmelte sie und wälzte sich auf die andere Seite. Sätze aus Garys Briefen fielen ihr ein. Seine Worte hatten sie nachdenklich gemacht, sie amüsiert und ihr geschmeichelt. Sie waren schlicht, doch poetisch. Ihm zu schreiben, war, als ob sie einem Freund schriebe. „Einem Schwachkopf“, sagte sie grimmig und versuchte es mit einer anderen Schlafposition. Um Mitternacht gab sie jeden weiteren Versuch zu schlafen auf. Seit ihrer Kinderzeit half ihr gegen Schlaflosigkeit nur ein einziges Mittel: heiße Milch. Sie zog rasch einen Morgenrock über, verließ barfuß ihr Schlafzimmer, schlich den Flur entlang und ging so leise wie möglich die Treppe hinunter. Clint hatte sein Zimmer rechts neben dem Hauseingang. Früher war es als Gästezimmer benutzt worden, und es war geräumig und besaß ein eigenes Bad. John hatte darauf bestanden, daß er im Haus wohnte, und sie hatte keinen Grund gesehen, dagegen zu protestieren. Nun, da John tot war, wurde darüber geklatscht, daß sie, die siebenundzwanzigjährige Erbin, mit ihrem Chauffeur unter einem Dach lebte. Doch es machte ihr nichts aus, was man über sie redete. Jedenfalls dachte sie nicht daran, Clint aufzufordern, zu Angelo und Clarissa in den Bungalow zu ziehen. Die zwei hatten ein Recht auf ihr Privatleben. Und Clint ebenfalls. Sie ging auf Zehenspitzen an seiner Zimmertür vorbei und betrat die Küche, schloß leise die Tür, schaltete erst dann das Licht ein und öffnete den Kühlschrank. Wenig später stand sie vor der Mikrowelle und wartete, daß die Milch heiß wurde. Da ging die Küchentür. Sie wandte sich um und erblickte Clint. Und plötzlich fiel es ihr schwer zu atmen. Sein dunkles Haar war zerzaust, und seine Augenlider waren noch schwer vom Schlaf. Er trug seine grauen Hosen, doch sonst nichts, und mit nacktem Oberkörper wirkte er noch viel männlicher als sonst. Sie schluckte und war unfähig, ihren Blick von seine muskulösen, breiten Schultern und dem dunklen, gelockten Haar oberhalb seines geöffneten Gürtels zu lösen. Ihr gesamter Körper reagierte auf diesen verführerischen Anblick. Ihre Brüste fühlten sich voller an, und ihr wurde heiß vor Verlangen. Es war über ein Jahr her, seit sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte. Clint war dagegen immer dagewesen, doch bis heute wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihn als möglichen Liebhaber zu betrachten. Das hatte sich gerade geändert. Die Mikrowelle piepste. Sie zuckte zusammen, und ihre Erregung schlug in Ärger um. „Was tun Sie hier? Spionieren Sie mir nach?“ „Ich habe ein Geräusch gehört“, erwiderte er ruhig. „Das war nur ich. Gehen Sie wieder ins Bett.“ Doch er rührte sich nicht vom Fleck, als sie die Tasse aus der Mikrowelle nahm. „Was ist denn?“ fauchte sie.
„Benötigen Sie etwas?“ erkundigte er sich.
Ja, allerdings, dachte sie erhitzt und starrte auf diesen wundervollen
Männerkörper, der sich ihren Blicken so ungeniert darbot. Es war nicht schwierig,
sich Clint völlig nackt vorzustellen, und von dort war es nicht weit bis zur Vision
einer leidenschaftlichen Liebesnacht mit ihm.
Ihr Begehren wurde so stark, daß ihre Beine zitterten. Rasch ließ sie sich auf
einem der Hocker am Küchentresen nieder.
„Nein, ich brauche nichts“, behauptete sie. „Ich konnte nur nicht schlafen.
Deshalb dachte ich, eine Tasse heiße Milch würde mir helfen.“
„Gute Idee.“
Sie konzentrierte sich auf ihre Tasse, aus der heißer Milchdampf aufstieg, und
hoffte inständig, Clint würde endlich verschwinden. Sie konnte die innere Unruhe,
die seine Gegenwart plötzlich in ihr auslöste, kaum noch ertragen. Da hörte sie
die Schritte seiner bloßen Füße auf dem Linoleumboden. Nervös beobachtete sie,
wie er zum Spülbecken ging und ein Glas nahm. Der Anblick seiner ausgeprägten
Rückenmuskeln trug nicht dazu bei, ihre Erregung zu dämpfen, und sie preßte
die Beine zusammen und trank einen Schluck Milch.
Clint fühlte Shannons Blick. Es war ein Fehler gewesen, in die Küche zu kommen.
Shannon hatte sich verändert. Der Ausdruck ihrer Augen war anders heute nacht.
Intensiver, heißer.
Voller Begehren.
Und, verflixt, auch er spürte Verlangen.
Ich sollte in mein Bett gehen, dachte er. Nichts wie raus aus dieser Küche.
Obwohl er Shannon schon oft im Morgenrock gesehen hatte, schien in dieser
Nacht alles anders zu sein. Er hatte das starke Bedürfnis, ihn ihr von den
Schultern zu streifen, sich ebenfalls auszuziehen und sie in die Arme zu nehmen,
ihren nackten Körper zu spüren. Er wollte sie lieben, sie besitzen und…
Daß das Wasser über den Glasrand auf seine Hand lief, brachte ihn zur
Besinnung. Sie wird dir nie gehören, dachte er wie schon so oft. Er drehte den
Wasserhahn zu und wandte sich zu ihr um.
„Lassen Sie sich von dem Erlebnis heute abend nicht entmutigen“, sagte er. „Was
macht es schon, daß der Typ seine Briefe von jemand anderem hat schreiben
lassen. Das heißt nicht, daß Ihre übrigen Briefschreiber genauso sind. Geben Sie
ihnen eine Chance.“
„Höre ich recht? Clint Dawson fordert mich auf, weiterhin Briefe an fremde
Männer zu schreiben? Wollen Sie wirklich, daß ich mit diesen Typen ausgehe?“
„Zumindest sollten Sie sie kennenlernen.“ Mittlerweile hatte er sich
Informationen über die beiden anderen Männer besorgt. Martin P. Harwick war
achtunddreißig, Professor für Englische Literatur und hatte bereits zwei Bücher
über Lord Byron veröffentlicht. Was er an der University of Michigan verdiente,
war mit Shannons Vermögen zwar nicht im geringsten vergleichbar, doch er war
intelligent, weitgereist und würde vermutlich einen guten Ehemann für sie
abgeben.
Edward J. Sitwell war vor drei Jahren Geschäftsführer der Southerly Company in
Dearborn geworden und hatte die Umsätze der Firma verdoppelt. Er war seit fünf
Jahren verwitwet, hatte zwei kleine Kinder, was nicht ganz so günstig schien,
aber wenn er, Clint, die Wahl treffen würde, wäre Sitwell der Kandidat für
Shannons zweite Ehe geworden. In vielerlei Hinsicht glich er John Powell, außer,
daß er jünger war und weniger Geld besaß.
„Was ist los, Clint? Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?“
„Ganz einfach. Dieser Briefaustausch hat Ihnen Spaß gemacht. Warum sollten Sie
sich mit diesen Männern da nicht treffen?“
„Und noch einmal ein solches Fiasko erleben wie heute abend?“
„Ich glaube kaum, daß sich alle als so unmöglich wie Gary entpuppen.“
„Hoffen wir das beste.“ Sie lächelte. „Als Sie das Toupet von dem Zweig nahmen
und es Gary reichten, wäre ich fast geplatzt vor Lachen. Wieso geben sich die
Menschen nicht einfach so, wie sie sind?“
„Manche fürchten sich davor.“
„Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was das Schicksal Ihnen bestimmt
hat, Clint?“ *
„Das Schicksal?“ gab er zurück und tat ahnungslos. In ihrem letzten Brief an
Gary hatte sie dieses Thema angesprochen, und was er, Clint, ihr daraufhin
geschrieben hatte, war mehr oder weniger seine Philosophie. Wenn er die jetzt
wiederholte, war Shannon klug genug, um den Zusammenhang sofort zu
erkennen.
„Ich nehme an, was geschehen soll, geschieht einfach“, sagte er deshalb nur.
Shannon blickte in ihre Tasse. Eigentlich hatte sie sich von Clint mehr dazu
erhofft. Etwas, das ihr zu denken geben würde. Clint zog sie körperlich stark an.
Doch sie wollte, daß auch sein Geist sie in Bann schlug.
Das war offensichtlich zuviel verlangt.
„In seinem letzten Brief schrieb Gary – oder zumindest sein Ghostwriter –, er
glaube daran, daß jeder seines Schicksals Schmied sei. Natürlich spielten auch
unsere Persönlichkeit und unsere Herkunft eine Rolle. Doch wir haben immer
wieder die Chance, uns zu entscheiden. Unsere biologischen Anlagen und die
sozialen Gegebenheiten bestimmen nicht alles.“
„Und, sehen Sie das auch so?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Entscheidungen ich treffen soll, was ich mit
mir selbst anfangen soll. Natürlich habe ich viel Geld, aber…“
„Keine Ziele, keine Aufgaben.“
„Richtig. Ich habe meine Bestimmung noch nicht gefunden.“ Sie lachte leise.
„Das führt uns zurück zu Garys Briefen. Der Grund, warum ich mich mit ihm
treffen wollte, war, daß ich glaubte, er würde mich verstehen. Diese Briefe haben
mir soviel gegeben. Romantik auf der einen Seite, tiefe Gedanken auf der
anderen. Ihm zu schreiben brachte mich dazu, über meine Zukunft
nachzudenken. Ihm gegenüber fühlte ich mich sicher vor unfairer Kritik.“
„Und das empfinden Sie bei Ihren anderen beiden Briefschreibern nicht?“
„Nein. Zumindest im Moment noch nicht. Vielleicht kommt es ja noch.“
„Vielleicht würde ein Treffen Ihnen weiterhelfen.“
„Sie haben es ja plötzlich so eilig, Clint.“ Lächelnd ging Shannon zu ihm hinüber.
„Warum?“
Clints Herzschlag beschleunigte sich, als sie direkt vor ihm stehenblieb. Sie
berührte das dunkle Haar auf seiner Brust, und sie genoß es. Sie hatte die
Anziehungskraft zwischen ihnen nie gespürt – oder nie spüren wollen. Nun wußte
sie, daß da etwas war, und langsam blickte sie Clint in die Augen.
„Ich…“ begann er mit heiserer Stimme und räusperte sich. „Wenn Sie sich mit
ihnen treffen, könnten Sie herausfinden, ob diese Männer das sind, was Sie
suchen.“
Wie elektrisiert stand sie vor ihm und ließ ihre Hand weiter nach unten wandern.
Sie spürte seine Anspannung, seinen raschen Herzschlag. Seine Haut war heiß,
er glühte fast so sehr wie sie. „Das einzige Problem dabei ist, daß ich nicht weiß,
was ich will.“
Er schluckte. „Bei… bei Gary brauchten Sie nicht lange, um zu erkennen, daß Sie
ihn nicht wollen.“
„Das ist richtig.“ Seltsam, dachte sie. Nie zuvor hatte sie erlebt, daß Clint nicht
Herr der Lage war. Jetzt war er nervös, aber die Rauhheit seiner Stimme war ebenso verführerisch wie der männliche Duft seine Körpers. Und sie trat noch einen Schritt näher. Er atmete heftig, sein Brustkorb hob und senkte sich rasch. Im nächsten Moment hatte er die Hände auf ihre Schultern gelegt und sah ihr tief in die Augen. Sie war sicher, daß er sie nun in die Arme nehmen würde. Doch zu ihrer Verwirrung schob er sie von sich und trat zur Seite. „Wir sehen uns morgen früh“, sagte er fest und ging zur Tür. Sie blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihm nach. Alles in ihr sehnte sich nach seinen Berührungen, seiner Wärme, suchte Erfüllung in seiner Umarmung. Sie hatte doch gespürt, daß er ihr gegenüber nicht gleichgültig war. Heute nacht hatte er in ihr die Frau gesehen, nicht die Arbeitgeberin. Einen Moment lang hatte er sie begehrt. Doch dieser Moment war vorüber. Sie wurde zornig und schlug mit der Faust auf den Küchentresen. Mit geschlossenen Augen verharrte sie dort und kümmerte sich nicht darum, ob Clint ihren Wutausbruch bemerkte hatte. Verdammt, er hatte sie abgewiesen! Sie holte tief Atem und wurde sich bewußt, daß sie sich Clint so gut wie an den Hals geworfen hatte. Sie hörte ihn seine Zimmertür zuziehen. Langsam öffnete sie die Augen und sah ihr Spiegelbild im Fensterglas. Sie fühlte sich erbärmlich. Wie sollte sie Clint morgen früh gegenübertreten? Sie goß den Rest der Milch in den Abfluß, stellte ihre Tasse sowie Clints Glas in die Spülmaschine, knipste das Licht aus und wollte wieder in ihr Zimmer gehen. Doch vor seiner Tür blieb sie dann stehen und überlegte, ob sie sich entschuldigen sollte. Fast hätte sie angeklopft. Aber was konnte sie ihm sagen? Tut mir leid, aber ich bin zufällig gerade scharf auf dich gewesen? Kommt nicht wieder vor? Zieh das nächste Mal was Anständiges an, wenn du mit mir redest? Nein, sie mußte die Sache erst überschlafen, und sie ging die Treppe hinauf. Clint stand auf der anderen Seite der Tür. Er hörte Shannon näher kommen und hielt den Atem an. Er war nicht sicher, ob er wünschte, daß sie anklopfte. Vorhin in der Küche hätte er sich fast gehenlassen. Nur mit größter Willensanstrengung war es ihm gelungen, ihren Berührungen zu widerstehen und Shannon nicht in die Arme zu nehmen. Er sehnte sich danach, ihren zarten Hals zu liebkosen, ihren Duft zu schmecken und sie zu küssen, bis ihr schwindlig wurde. Er träumte davon, ihre Brüste zu umfassen, sie anzuschauen und die empfindlichen Spitzen in den Mund zu nehmen. Es wäre so einfach gewesen, sich zu nehmen, was sie ihm bot, sie zu lieben, bis sie in höchster Ekstase aufschrie. Er schloß die Augen und verbannte jeden Gedanken daran. Es war ein Fehler gewesen, halbnackt in die Küche zu gehen, besonders, da ihm doch klargewesen war, daß es kein Einbrecher war, den er gehört hatte. Die Gefahr lauerte ganz woanders, und er hätte sich wappnen müssen. Er trat an den Schreibtisch und holte das graue Papier heraus, auf dem er die Entwürfe für Garys Briefe verfaßt hatte. „Sag Cyrano, er soll seine eigenen Briefe schreiben“, hatte Shannon zu Gary gesagt. Er starrte auf das graue Papier. Soll ich? fragte er sich. Darf ich es wagen? Clint setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen Briefbogen und begann zu schreiben.
Am nächsten Morgen aß Shannon nur wenig von ihrem Müsli. Ihr Magen war wie zugeschnürt. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, sich die richtigen Worte zurechtzulegen, die ihr Verhalten entschuldigen konnten. Gerade, als Clarissa ihr Kaffee nachschenkte, betrat Clint den Raum. „Guten Morgen“, sagte er förmlich. „Was steht heute an?“ „Wahrscheinlich werde ich im Club zu Mittag essen.“ Sie wartete, bis Clarissa herausgegangen war, und begann dann: „Um noch einmal auf gestern nacht zu sprechen zu kommen…“ „Eine interessante Erfahrung. Anscheinend hat eine Begegnung mit jemandem wie Gary Auswirkungen, die dazu führen können, daß man eine Menge verrückte Dinge tut.“ Er bot ihr offensichtlich einen Ausweg aus ihrem Dilemma. Und, ja, sie würde seine Hilfe anzunehmen. „Wirklich eine interessante Erfahrung.“ „Ist es Ihnen recht, wenn ich den Wagen um halb zwölf vorfahre?“ Sie nickte. „Halb zwölf, bitte.“ Zwei Wochen später. Shannon war in ihrem Büro. Sie hielt einen noch verschlossenen Brief in der Hand und musterte ihn neugierig. Weil sie befürchtete, daß ihr Verhalten Clint gegenüber nur sexueller Frustration entsprungen war, war sie zweimal ausgegangen. Mitch, ein Clubmitglied, hatte sie zu einem Luftkissenbootrennen mitgenommen, und Brendon, ein Arzt, war ihr Begleiter beim Detroit Grand Prix, einem Autorennen, gewesen. Beide Verabredungen waren nett gewesen; keine hatte in einem Fiasko geendet. Als Ausweg aus ihrem erotischen Dilemma hatten sie allerdings nichts getaugt. Von beiden Männern hatte sie sich küssen lassen, und sie war sicher, daß sie nur darauf gewartet hatten, eine Einladung in ihr Bett zu erhalten. Doch genau da hatte das Problem gelegen. Weder bei Mitch noch bei Brendon hatte sie jenes Prickeln, jenes Verlangen empfunden, das sie fast dazu gebracht hatte, sich Clint an den Hals zu werfen. Von ihnen hatte der eine Kuß ihr vollauf genügt. Als Mitch und Brendon ein weiteres Treffen vereinbaren wollten, hatte sie höflich aber bestimmt abgelehnt. In diesen zwei Wochen hatte sie auch Briefe von Martin und Ed erhalten und beantwortet. Doch obwohl Clint ihr gut zuredete, sich mit ihnen zu treffen, war sie noch unentschieden. Ihre schlechte Erfahrung mit Gary, von dem sie glücklicherweise keine Briefe mehr erhielt, durfte sich mit Martin und Ed nicht wiederholen. „Cyrano“ stand in der oberen linken Ecke des Briefumschlags, den sie jetzt in der Hand hielt. Darunter eine Postfachnummer. Das zugehörige Postamt lag nicht in einer der besten Gegenden Detroits, aber auch nicht in der übelsten. Cyrano, er hatte ihr also geschrieben. Sie drehte den Umschlag hin und her und überlegte, ob sie ihn öffnen sollte. Stammte dieser Brief tatsächlich von der Person, die für Gary den Ghostwriter gespielt hatte? Oder kam er von Gary selbst? Diesem Kerl traute sie alles zu. Er hatte den Nerv gehabt, zwei Tage nach dem Treffen im Cafe vor ihrem Haus aufzutauchen und um eine zweite Chance zu betteln. Zum erstenmal war sie froh darüber gewesen, daß Clint sich wie ein Bodyguard verhalten hatte. Sie hatte nach ihm geschickt, damit er mit Gary redete, und hatte die beiden dann taktvoll allein gelassen. Clint hatte ihr wenig später mitgeteilt, daß Gary sie nicht mehr belästigen würde. War das ein Irrtum gewesen? Versuchte es Gary nun wieder auf die briefliche Tour?
Sie zerriß den Brief in zwei Hälften. Ein halbes Blatt Papier von grauer Farbe fiel
aus dem Umschlag, und sie hob es auf. Das Papier wirkte, als sei es bereits
einmal zusammengeknüllt und wieder geglättet worden. Die Handschrift hatte
keinerlei Ähnlichkeit mit Garys. Keine extremen Schwünge und Kringel. Diese
Schrift hier war konzentrierter, klarer und dynamischer. Ihr Blick fiel auf eine
Zeile. „Nun sind wir auf die seltsamste Art und Weise miteinander verbunden.“
Sie las weiter. „… beeinflussen unsere Entscheidungen Ebbe und Flut unseres…“
Der Satz endete an der Rißkante.
Neugierig geworden holte sie die andere Hälfte des Blattes aus dem Umschlag,
den sie achtlos zu Boden fallen ließ, hielt die zwei Hälften an der Rißkante
aneinander, kam damit aber nicht weiter und fügte den Brief an ihrem
Schreibtisch mit Klebeband wieder zusammen. Aus dieser Tätigkeit schreckte
Clint sie auf.
„Ich habe mir den Mercedes mal näher angeschaut…“
Als wäre sie ein Kind, das man bei einer Unartigkeit ertappt hatte, ließ Shannon
das Klebeband fallen. Es rollte über den Boden und direkt vor Clints Füße.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte er sich und hob die
Klebebandrolle auf. Shannons Reaktion verwunderte ihn. Normalerweise war sie
nicht schreckhaft.
Er trat weiter ins Zimmer, bemerkte die zwei Umschlaghälften auf dem Boden
und hob auch diese auf. Er hielt sie aneinander und las den Absender. „Sie haben
einen Brief von Cyrano erhalten?“
Shannon zuckte die Achseln. „Anscheinend.“
„Aber…“ Das war schlichtweg unmöglich, außer… „Darf ich ihn sehen?“
„Nein, tut mir leid“, erwiderte sie und stellte sich schützend vor ihren
Schreibtisch.
„Sie haben den Brief zerrissen.“
„Und jetzt klebe ich ihn wieder zusammen.“ Sie rührte sich nicht. „Sie wollten mir
etwas über den Mercedes berichten.“
„Ich… ich glaube, er braucht neue Stoßdämpfer.“ Er konnte einen Teil des
zerrissenen Briefes auf ihrem Tisch erspähen, und es schien tatsächlich das
Papier zu sein, das er benutzt hatte. Das letzte, was er von seinem Brief gesehen
hatte, war ein zerknüllter Papierball, den er in den Abfalleimer seiner Mutter
geworfen hatte. In ihrer Wohnung hatte er den Brief verfaßt, ihn danach aber
nicht mehr abschicken wollen. Nun lag er hier vor Shannon – falls es wirklich sein
Brief war.
„Was schreibt Cyrano denn?“ fragte er beiläufig.
„Weiß ich nicht. Ich habe den Brief noch nicht gelesen. Aber irgend etwas von
Ebbe und Flut steht drin.“
Er zeigte keinerlei Reaktion, doch er wußte nun, daß es sein Brief war. Offenbar
mußte er mit seiner Mutter oder mit Lizzy, seiner Schwester, ein paar klare
Worte reden. „Vermutlich ist der Typ ein bißchen verrückt.“
„Kann sein“, erwiderte Shannon und streckte eine Hand aus. „Darf ich um das
Klebeband bitten?“
„Natürlich.“ Er reichte es ihr.
„Und um den Umschlag.“
Zögernd gab er ihr die zwei Hälften. „Es handelt sich um ein Postamt in einer
ziemlich heruntergekommenen Gegend.“
„Habe ich gemerkt.“
„An Ihrer Stelle würde ich nicht zurückschreiben.“
Sie lächelte. „An meiner Stelle hätten Sie keinem der Männer geschrieben, Clint.“
„Denken Sie an den Vorfall mit Gary.“
„Tue ich, aber Sie werden sich bestimmt erinnern, daß ich um diesen Brief hier
gebeten habe. Cyrano möge seine eigenen Briefe schreiben, habe ich Gary
mitgeteilt. Nun, das hat er getan.“
„Unter einem Pseudonym.“
Shannon wollte etwas erwidern, hielt dann aber inne. „Wenn der Mercedes neue
Stoßdämpfer benötigt, sollten Sie sich darum kümmern. Das ist Ihr Job, Clint.“
Sie hat mich in meine Schranken gewiesen. Okay, sagte sich Clint, ein Chauffeur
durfte sich eben nicht in die Privatangelegenheiten seiner Chefin einmischen.
„Selbstverständlich“, antwortete er. „Das werde ich heute nachmittag tun.“
Shannon wartete, bis Clint den Raum verlassen hatte. Erst danach klebte sie den
Brief vollends zusammen. Endlich war der Augenblick gekommen, und an ihren
Schreibtisch gelehnt, begann sie zu lesen.
Roxane, ich fliehe Ihre Nähe, schäme mich meiner und dessen, was ich getan habe. Teil einer Lüge zu sein, ist unverzeihlich, und doch bin ich in einem Lügengewebe gefangen – Opfer und Täter zugleich. Nur in meinen Briefen darf ich von meinen wahren Gefühlen sprechen. Ich war dort, als Sie sich mit Gary trafen, war Zeuge der ganzen Farce. Sah Ihre Wut. Ich kann nichts zu meiner Entschuldigung vorbringen. Wenn Sie sich dafür entscheiden, diesen Brief in tausend Stücke zu zerreißen, werde ich Sie verstehen. Alles, was mir bleibt, ist, zu sagen, daß die Briefe, die ich an Sie schrieb, mein ganzes Glück waren. Viermal durfte ich von dem sprechen, was ich in meinem Herzen trage. Viermal hoffte ich, daß die Antworten, die ich auf Ihre Fragen geben konnte, ein wenig helfen, Ihnen einen Weg in die Zukunft zu weisen. Sie wissen nicht, wer ich bin, ich aber weiß, wer Sie sind. Ich habe die Wärme Ihres Lächelns erfahren, hörte Ihr fröhliches Lachen. Ich litt, wenn Sie traurig waren und sehe nun, daß die Tage des Unglücks schwinden. Darüber bin ich froh. Ich bin der Schatten, den die Dunkelheit nicht freigibt, und Sie sind die Sonne, die die Zukunft erhellt. Je heller Sie strahlen, desto rascher verschwinde ich. Uns zu treffen, wäre ein Fehler. Daher fürchten Sie nichts von mir. Nur auf dem Papier werde ich zu Ihnen sprechen, und wenn Sie fordern, daß ich schweige, werde ich verstummen. Einst fragten Sie nach dem Schicksal, und ich sagte, daß wir selbst unser Schicksal sind. Wir treffen die Wahl, und den gewählten Weg müssen wir gehen. Ich gebe zu, daß die Entscheidungen, die ich getroffen habe, mich auf verschlungene Pfade führten. Nun sind wir auf die seltsamste Art und Weise miteinander verbunden. Gleich zwei Planeten, die durch das Weltall gleiten, beeinflussen unsere Entscheidungen Ebbe und Flut unseres Lebens. Das Schicksal hat uns zusammengeführt, doch bald wird es uns trennen. Bis zu jenem Tag werde ich Ihnen dienen, meine schöne Prinzessin. Ich werde Sie beschützen, bis der Prinz kommt, der meinen Platz einnehmen soll. Er wartet bereits auf Sie. Doch geben Sie acht. Ihr Reich zählt ebenso viele Schurken wie Prinzen. Wählen Sie mit Bedacht. Für immer der Ihrige Cyrano
Shannon legte den Brief zur Seite und starrte ins Leere.
Also kannte er sie. Sie hatte keine Ahnung, wer er sein könnte. Er war im Cafe gewesen, hatte sie mit Gary gesehen. Sie versuchte sich an die anderen Gäste zu erinnern. War Cyrano der gutaussehende dunkelhaarige Mann, der draußen Platz genommen hatte? Oder der mit der dicken Brille? Es könnte auch jemand sein, der drinnen gesessen hatte. Aber ihre Erinnerung war zu schwach. „Nun sind wir auf die seltsamste Art und Weise miteinander verbunden.“ Ein Schauer überlief sie, doch merkwürdigerweise verspürte sie keine Angst. Cyrano hatte deutlich gemacht, daß er ihr nur schreiben würde und auch das nur solange sie es wollte. Clint würde sie wahrscheinlich einen Dummkopf schelten und sagen, daß der Kerl verrückt sei. Doch sie hatte nicht vor, Clint den Inhalt dieses Briefes mitzuteilen. Dagegen war sie durchaus bereit, Cyrano zu schreiben.
5. KAPITEL Punkt zehn Uhr, gerade als Clint mit Clarissa seinen Morgenkaffee trank, kam
Shannon in die Küche. Sie trug weiße Shorts, die den Blick auf endlos lange,
glatte Beine freigaben, sowie ein legeres blaues TShirt, das ihre Kurven gut zur
Geltung brachte. Ihr Haar hatte sie mit einem blauen Tuch zusammengebunden.
Barfuß und ohne Makeup stand sie da und wirkte nicht im mindesten wie eine
reiche Erbin.
Clint gefiel ihre natürliche Weiblichkeit, die etwas ungemein Verführerisches an
sich hatte. Deshalb hielt er es für klüger, Shannon nicht zu lange anzuschauen.
„Gut, daß ich Sie beide hier antreffe“, sagte sie, ging hinüber zur Spüle und
wandte ihm ihren äußerst reizvollen Rücken zu. „Ich wollte Ihnen mitteilen, daß
ich heute abend nicht zu Hause esse. Ich gehe aus, und da ich von ihm abgeholt
werde, haben Sie frei, Clint.“
„Von ihm?“ hakte er mißtrauisch nach.
„Heute abend gehe ich mit einem der Männer aus, denen ich geschrieben habe.“
„Mit welchem?“
„Mit Martin.“
„Dem Englischlehrer?“ Er war enttäuscht.
„Er ist Professor für Englisch. Machen Sie sich keine Sorgen, Clint. Ich habe
Erkundigungen über den Mann eingeholt. Mrs. Yankoski, die in der Kinderklinik
arbeitet, die ich unterstütze, hat mir gesagt, daß ihre Tochter bei ihm Englisch
studiert hat. Sie mochte ihn.“
Fast hätte er abfällig gegrinst.
„Martin holt mich um sieben Uhr ab.“
„Es wäre besser, wenn ich Sie zum Restaurant bringe“, warf er ein. „Das hätte
den Vorteil, daß…“
„Nein.“
„Was ist, wenn Sie sich tödlich langweilen? Oder wenn er aufdringlich wird? Wie
wollen Sie dann nach Hause kommen?“
„Ich kann mir ja ein Taxi nehmen.“
„Taxis sind aber nicht immer sofort zur Stelle“, meinte Clarissa bedächtig. „Ich
finde, Sie sollten auf Clint hören. Es ist nicht sicher für eine Frau dort draußen
auf den Straßen. Wenn Clint…“
„Ich treibe mich auch nicht auf den Straßen herum“, erklärte Shannon.
„Außerdem war ich, bevor ich John kennenlernte, oft nachts allein unterwegs.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause wollte, mußte ich wohl oder übel den Bus
nehmen.“
„Damals waren Sie aber noch nicht Millionärin“, entgegnete Clarissa. „Sie müssen
vorsichtig sein. Versprechen Sie das?“ Sie blickte hilfesuchend zu ihm.
Doch er meinte nur: „Ich nehme an, Shannon weiß, was sie tut und kann auf sich
selbst aufpassen.“
„Danke“, antwortete Shannon und wirkte überrascht. „Wie gesagt, heute abend
können Sie sich freinehmen.“
„Das tue ich vielleicht sogar.“ Sicher, Shannon war zu einer selbständigen Frau
geworden, doch er hatte nicht vor, sie ohne Bodyguard mit einem fremden Mann
allein zu lassen. Deshalb würde sie heute abend mit Martin ebensowenig
unbewacht bleiben, wie sie es mit Dr. Brendon Shau oder Mitch gewesen wäre.
Um sieben Uhr abends beobachtete Clint, wie Shannon die Treppe herabkam.
Martin Harwick, Englischprofessor und Experte für Lord Byron, stand in der
Eingangstür. Verblüfft starrte er Shannon an, die auf ihn zuging.
Die Reaktion des Mannes überraschte ihn nicht. Das natürliche Mädchen von
heute morgen hatte sich in eine elegante junge Dame verwandelt. Shannon trug nun ein schmalgeschnittenes schwarzes Kleid, hatte ihr blondes Haar aufgesteckt, und die Schönheit ihres zarten Gesichts wurde durch perfektes Makeup unterstrichen. Als Schmuck hatte sie goldene Ohrgehänge angelegt, einen unaufdringlichen Diamantring und das Kollier, das John ihr geschenkt hatte. Clint lächelte, als er es erblickte. Das Kollier mit dem Minisender würde es ihm erleichtern, ihr zu folgen. Allerdings hegte er für heute abend wenig Befürchtungen. Wahrscheinlich wußte er mittlerweile mehr über Professor Martin Harwick als dieser selbst. Der Mann war völlig ungefährlich für Shannon, und es konnte durchaus sein, daß er ihr gefiel. Er war nicht unbedingt attraktiv, sah aber auf gediegene Weise gut aus. Auf ihn wirkte er sehr englisch. Sein feines, mittelblondes Haar trug er etwas zu lang, und der Anzug saß ihm locker um die Schultern und war mindestens zwei Jahre alt. Er lächelte Shannon jetzt so unterwürfig entgegen, als sei sie eine Prinzessin und er ihrer nicht würdig. „Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen“, begrüßte sie ihn und reichte ihm die Hand. „Ganz meinerseits.“ Harwick ergriff ihre Rechte und ließ die Andeutung einer Verbeugung erkennen. Clint fand ihn linkisch, doch vermutlich gefiel Frauen das. Shannon blickte sich jetzt zu ihm um. „Ich dachte, Sie wären schon gegangen, Clint.“ „Ich verschwinde gleich.“ Harwick gab ihre Hand frei und sah nun ebenfalls zu ihm. Er hatte Harwick beim Öffnen der Tür gesagt, wer er sei. Denn er hatte kein Interesse daran, von dem Mann als Rivale betrachtet zu werden. Harwick lächelte überlegen. „Haben Sie was Nettes vor?“ Er zuckte die Achseln. „Weiß ich noch nicht.“ „Nun, ich wünsche Ihnen jedenfalls einen schönen Abend“, sagte Shannon und klang ehrlich. Zu Harwick gewandt, erklärte sie: „Ich bin soweit.“ Harwick verbeugte sich theatralisch. „Dann erlauben Sie mir, Sie zu meinem Wagen zu eskortieren.“ Martins Wagen war ein nicht mehr ganz neuer Buick, der gut und gern seine hunderttausend Meilen auf dem Buckel hatte. Auf dem Rücksitz stapelten sich Bücher und Zeitschriften, und die Türen quietschten erbärmlich. Erstaunlicherweise sprang der Wagen aber sofort an, und die Sicherheitsgurte funktionierten auch, so daß Shannon keinen Grund zur Beschwerde hatte. „Überwältigend“, sagte Martin, als sich das Tor des Anwesens automatisch hinter ihnen schloß. „Ich komme mir vor, als raubte ich eine Prinzessin aus ihrem Schloß.“ „Ich bin aber keine Prinzessin“, erwiderte Shannon, „und die Sicherheitsvorkehrungen dienen nicht mir, sondern der Kunstsammlung meines verstorbenen Mannes.“ „Ich habe den Picasso in der Eingangshalle gesehen. Sehr beeindruckend.“ Martin warf ihr einen Blick zu. „Schönheit, Geist und Reichtum. Ich kann es kaum fassen, daß Sie tatsächlich bereit sind, mit mir auszugehen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig schweigsam bin.“ „Da Ihre Briefe so außergewöhnlich anregend waren, denke ich, daß wir bald ein gemeinsames Gesprächsthema finden werden“, meinte Shannon und behielt recht. Während der nächsten Viertelstunde redete Martin ununterbrochen. Über seine Familie, die nicht reich, aber wohlhabend war; über seine Reisen nach
England, Italien und in den Mittleren Osten; über seine Studien und Forschungen. Sie war froh, daß sich Martin nicht nach ihrer Bildung erkundigte. Es wäre ihr peinlich gewesen, ihm zu erzählen, daß sie die Schule nicht beendet hatte, und was ihre Familie betraf, hatte sie ihm nur gesagt, daß ihr Vater verstorben sei, daß sie Einzelkind war – was zumindest halbwegs der Wahrheit entsprach – und daß ihre Mutter in South Carolina lebte. Clint folgte dem Buick auf seiner HarleyDavidson in sicherer Entfernung. Solange Shannon das Kollier trug, gab es keinen Grund, näher heranzufahren. Wenig später beobachtete er, daß Harwick seinen Wagen auf dem Parkplatz eines Restaurants abstellte. Er wartete, ließ seine Maschine im Leerlauf rollen und überlegte, wie er Shannon am besten beschatten sollte, ohne daß sie oder Harwick ihn bemerkten. Sobald sie mit Harwick im Restaurant verschwunden war, parkte er dann ebenfalls. Shannon blickte sich im Restaurant um. Es war angenehm und komfortabel eingerichtet, ohne spießig zu wirken. Nachdem der Kellner ihnen die Getränke gebracht und die Bestellung aufgenommen hatte, fragte Martin: „Haben Sie das Buch mit den Werken Lord Byrons gelesen, das ich Ihnen sandte?“ „Einiges davon“, erwiderte sie. „Ein paar der kürzeren Sachen sowie einen Teil der ‚Pilgerfahrt’.“ „,Junker Harolds Pilgerfahrt’“, korrigierte Martin sie. „Das war sein erstes größeres Werk. Inspiriert haben ihn dazu seine Reisen durch Europa und den Mittleren Osten.“ Martin beugte sich vor. „Lord Byron war der größte Dichter der Romantik, aber vieles, was er schrieb, war beißende Satire. Southey, einer seiner Zeitgenossen, bezeichnete Byron als satanischen Dichter.“ „Satanisch?“ „Ja, so wirkte er wohl auf seine Mitmenschen. Vielleicht lag es daran, daß er ein großer Verführer war. Er hatte eine Menge Affären, und es war ihm egal, ob es sich dabei um Damen der Gesellschaft oder die Frau seines Vermieters handelte. Sogar mit seiner Halbschwester verband ihn eine Liebesbeziehung. Haben Sie seinen ,Don Juan’ gelesen?“ „Don Juan?“ murmelte Shannon zerstreut, denn ihre Aufmerksamkeit galt in diesem Moment der Küche. Verrückt, dachte sie, aber als der Kellner das letzte Mal hineinging, habe ich doch tatsächlich Clint dort gesehen. Oder? „Es ist reine Satire. Er schrieb es…“ Martin fuhr fort, sie über Lord Byron zu belehren, und sie bemühte sich, ihm zu folgen. Einige der historischen Fakten kannte sie durch ihre Reisen mit John, die sie auch nach England, Italien und Griechenland geführt hatten. Aber ihr Blick lag nicht auf Martin, sondern auf der Tür zur Küche. War es nun Clint gewesen oder nicht? Clint wußte, daß Shannon ihn in der Küche erspäht hatte. Nur gut, daß ich nie Detektiv werden wollte, dachte er. Er sah, daß sie immer noch gebannt auf den Kücheneingang starrte. Also hatte sie noch nicht gemerkt, daß er mittlerweile im Flur nahe der Toiletten beim Telefon stand. Zwei Frauen gingen an ihm vorüber in den Waschraum. Die eine lächelte ihm zu. Er behielt seine neutrale Miene bei und gab vor, telefonieren zu wollen, während er weiterhin Shannon und ihren Verehrer beobachtete. Harwick redete ununterbrochen, selbst nachdem das Essen gekommen war. Shannon wirkte interessiert, doch sie behielt die Küchentür im Auge. Die beiden Frauen kamen aus dem Waschraum. Wieder lächelte die eine ihm zu. Er reagierte nicht. „Lord Byron“, fuhr Martin fort, „war ein Mensch, der mit allem, was er tat,
Aufsehen erregte. Er…“ „Hast du den Typ am Telefon gesehen?“ fragte eine junge Frau, die mit ihrer Freundin in diesem Moment den Tisch passierte. „Ja, er sah aus wie ein Boxer. Hast du seine Nase bemerkt?“ Shannon blickte rasch in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren, und erspähte gerade noch die breite Schulter und den muskulösen Arm eines Mannes, der ein schwarzes TShirt trug. Offenbar war das der „Boxer“, und ein sicheres Gefühl sagte ihr sofort, daß es sich bei ihm nur um Clint handeln konnte. Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Entschuldigen Sie mich kurz, Martin. Ich bin sofort wieder da.“ Clint erkannte, daß er schleunigst verschwinden mußte. Da strebte wie gerufen eine übergewichtige Frau in einem geblümten Kleid zu den Waschräumen. In dem Moment, in dem sie am Telefon vorüberkam, duckte er sich und nutzte die massive Frauengestalt als Deckung, um zu einem Seiteneingang der Küche zu gelangen. „Was, zum Teufel…“ Die Frau blieb entrüstet stehen. Doch er war weit genug gekommen, und ohne noch einmal in Shannons Richtung zu blicken, stieß er die Seitentür auf – und prallte mit Wucht gegen einen der Köche. Shannon hörte das Scheppern von Töpfen und Pfannen, die zu Boden gingen. Vor ihr stand eine übergewichtige Frau, die fassungslos den Gang hinunterstarrte. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie, weil es kein Durchkommen gab, solange die Frau den Weg blockierte. „Ich… ich…“ Die Frau eilte in den Waschraum. Shannon öffnete die Küchentür und fand sich einem Koch gegenüber, der fluchend damit beschäftigt war, seine heruntergefallenen Utensilien wieder aufzuheben. „Falsche Tür, Madam!“ fauchte einer seiner Kollegen sie an. „Ist hier gerade ein Mann…“ „Falsche Tür!“ brüllte der Koch erneut, schob sie hinaus und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen, und ging dann in den Waschraum. In der einen Toilettenkabine waren durch den Spalt unter der Tür dicke Beine zu erkennen. „Wie sah der Mann im Gang aus?“ fragte sie. „Keine Ahnung“, ertönte es von drinnen. „Er hat mich zu Tode erschreckt.“ „War er groß? Mit breiten Schultern? Muskulös?“ „Weiß ich nicht. Er kroch.“ Die Spülung rauschte, und kurz danach kam die Frau heraus. Ihr Gesicht war gerötet. „Kann sein, daß er breite Schultern hatte. Aber er hat mich so erschreckt, daß ich kaum wußte, wie mir geschah. Kennen Sie ihn?“ „Ich glaube schon.“ Sie schenkte der Frau ein Lächeln und sagte freundlich: „Ich erwürge ihn, wenn ich ihn zu fassen kriege.“ „Viel Glück dabei“, erwiderte die Frau. „Ich habe vor Schreck beinahe in die Hose gemacht.“ Unbekümmert, als wäre nichts geschehen, kehrte Shannon zum Tisch zurück. Sie hielt es für unnötig, Martin mitzuteilen, daß ein übervorsichtiger Chauffeur ihr nachspioniere, dem sie morgen kündigen würde. Das Dinner verlief dann weiterhin ganz nach Martins Geschmack – indem er über Lord Byron sprach und ab und zu Anekdoten aus seinem Berufsleben als Professor für Englisch einstreute. Shannon amüsierte sich köstlich und lachte mehr als in den vergangenen Monaten zusammengenommen.
Als Martin sie dann Hause brachte und am Portal fragte, ob sie bereit sei, bald
wieder mit ihm auszugehen, sagte sie zu und bat ihn, sie anzurufen. Ihre
Erwartungen bezüglich Martin Harwick hatten sich voll und ganz erfüllt. Er war
gebildet, und es machte Spaß, mit ihm zusammenzusein. Er hatte nicht versucht,
sie zu küssen, und sie betrat ihr Heim allein.
Sofort klopfte sie an Clints Zimmertür – und war nicht überrascht, daß er nicht zu
Hause war. Um sich zu vergewissern, begab sie sich zu den Garagen. Denn falls
sein Motorrad oder eines der Autos nicht da war, würde sie endgültig Bescheid
wissen.
Sie hatte kaum den halben Weg zurückgelegt, da kam Clint aus dem Bungalow,
den Clarissa und Angelo bewohnten.
„Sie sind schon wieder zurück?“ fragte er und sah auf die Uhr.
„Sie sind ja zu Hause?“ rief sie erstaunt und starrte auf sein rotes TShirt, das an
der Seite ein Loch hatte und ölverschmiert war.
„Yeah.“ Er zuckte die Achseln. „Bin gar nicht fortgewesen. Mein Motorrad ist nicht
in Ordnung.“ Er wies auf den Bungalow. „Angelo hat sich dafür bemüht, mich um
mein Geld zu bringen.“
Sie spähte an Clint vorbei und konnte Angelo sehen, der am Küchentisch saß, auf
dem Spielkarten für zwei Personen lagen. An jedem Platz stand eine geöffnete
Bierdose. Clarissa saß im Wohnzimmer und sah fern.
„Waren Sie den ganzen Abend hier?“ fragte sie verwirrt.
„Zumindest nachdem ich es aufgegeben habe, mein Motorrad zum Laufen zu
bringen.“
„Angelo“, rief sie. „War er den ganzen Abend hier?“
„Clint?“ Angelo lächelte. „Ja.“
Clint hob die Augenbrauen. „Wie bitte? Trauen Sie mir nicht?“
„Ich dachte nur…“ Sie seufzte und war nun vollkommen verunsichert. „Tut mir
leid, daß Sie an Ihrem freien Abend nicht wegkonnten.“
„Mir auch“, erwiderte er und fragte sie dann freundlich: „Haben Sie sich
amüsiert?“
„Ja, sehr. Martin ist ein äußerst interessanter Mensch. Ich werde bald wieder mit
ihm ausgehen.“
„Fein.“
„Allein.“
Er grinste. „ Natürlich.“
Zwei Wochen später erschien Paul Green, um sich einen Überblick über Shannons
Buchhaltung zu verschaffen. Shannon war im oberen Stockwerk, und Paul nutzte
die Gelegenheit, um ein Wörtchen mit Clint zu reden.
„Ich dachte, Sie wollten weiterhin ein Auge auf Shannon haben“, sagte er
flüsternd.
„Habe ich ja auch“, erwiderte Clint.
„Und was ist das für ein Mann, mit dem sie sich trifft?“
„Ich weiß alles über ihn. Und auch über den anderen, dem sie schreibt.“
„Ach ja, der. Wer ist dieser Cyrano eigentlich?“
Clint lachte leise. „Seinetwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
„Egal ob sie es weiß oder nicht, Clint, Sie werden bezahlt, sie zu beschützen.
John würde es nicht gefallen, wenn sie sich mit jedem Dahergelaufenen trifft.“
„Ich weiß, wofür ich bezahlt werde. Aber John lebt nicht mehr, und Shannon ist
nicht länger das naive Kind von der Straße, die kleine Eliza Doolittle, die der
Unterweisung durch den großen Professor Higgins bedarf. Sie braucht…“ Clint
hielt sofort inne, als Shannon in der Tür auftauchte.
„Was braucht sie?“ fragte Shannon prompt und betrat das Büro.
„Vergessen Sie nicht“, sagte Paul ernst, „daß Sie nicht länger eine kleine Kellnerin sind. Sie müssen vorsichtig sein und prüfen, mit wem Sie ausgehen.“ „Das hat man mir bereits mitgeteilt.“ Shannon warf Clint einen Blick zu. „Sie finden also, ich wäre so eine Art Eliza Doolittle?“ Lächelnd streckte sie die Arme aus. „Ich hab’ getanzt heut nacht, die ganze Nacht heut nacht…“ Damit nahm sie Pauls linke Hand und legte sie sich um die Taille, und laut singend, wenn auch etwas falsch, begann sie mit ihm zu tanzen. Paul sah so verblüfft aus, daß Clint lachen mußte. „Ich… ich kann nicht tanzen“, stammelte Paul und stolperte über seine Füße. Clint lachte erneut. „Schonen Sie ihn, Shannon. Er hat zwei linke Füße.“ „Und Sie, Clint?“ Sie gab Paul frei und wandte sich ihm zu. Die Hände in Tanzhaltung stand sie vor ihm. Ihr zartes Gesicht war rosig überhaucht, und ihre blauen Augen funkelten. Nichts hätte er lieber getan, als Shannon in die Arme zu nehmen. „Nun?“ forderte sie ihn heraus. „Ich tanze auch nicht“, behauptete er. „Mal sehen…“ Und ebenso rasch, wie sie Paul überrumpelt hatte, machte sie ein paar Tanzschritte mit ihm. Clints Lachen verstummte, und Shannon erkannte, wie verrückt ihr Wunsch war, unbedingt mit ihm tanzen zu wollen. Es war ebenso dumm wie ihr Verhalten in jener Nacht in der Küche, als sie sich ihm fast an den Hals geworfen hatte. Trotzdem hoffte sie, daß er jetzt nicht wie ein Klotz stehenblieb und sie damit lächerlich machte. Erleichtert atmete sie dann auf, als er sich ihren Bewegungen anpaßte, wenn auch nur zögernd. Sie spürte die Wärme seiner Hand an ihrer Taille und sehnte sich danach, daß er sie näher an sich zog und mit ihr durch den Raum wirbelte. Aber er blieb unnahbar und schien den Tanz nicht zu genießen. Doch immerhin hatte er sie nicht zurückgewiesen. Einen Moment später brach er den Tanz mitten in einer Drehung ab. „Sie haben den falschen Partner für Ihren Walzer gewählt. Ich bin nicht Professor Higgins.“ Ohne ihr einen Blick zu gönnen, verließ er den Raum. Sie blieb wie erstarrt zurück. Erst als Paul sich räusperte, kam sie wieder zu sich. Langsam wandte sie sich zu ihm. „Vielleicht bin ich wirklich eine Eliza Doolittle. Ich kann nicht wieder werden, was ich einmal war, gehöre aber auch nicht richtig hierher“, sagte sie traurig. „Und ich mache mich ständig lächerlich.“ „Haben Sie Interesse an Clint?“ fragte Paul. Sekundenlang schwieg Shannon, dann lachte sie. „Um Himmels willen, nein. Er würde mich nur ständig wütend machen. Aber nun…“, sie drohte Paul spielerisch mit dem Zeigefinger, „nun ist es Zeit, daß Sie aufhören, sich ständig Sorgen um mich zu machen. Ich gehe nicht mit Männern aus, die ich nicht kenne. Ich habe Informationen über sie eingeholt. Über Ed Sitwell und Martin Harwick weiß ich genug.“ „Und über diesen Cyrano?“ „Ja, das ist mysteriös.“ Soviel war Shannon bereit zugeben. „Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Zwar habe ich Clint gebeten, bei dem Postamt nachzufragen, wo Cyrano immer seine Briefe aufgibt, doch man hat ihm dort keine Auskunft gegeben. Aber das macht nichts. Mein Cyrano will mir nur schreiben, sonst nichts. Jedesmal, wenn ich vorschlage, daß wir uns treffen, sagt er nein.“ „Lieber Cyrano“, schrieb Shannon spät in der Nacht. Sie saß am Sekretär in ihrem Schlafzimmer. „Danke für Ihren Rat, wie ich mit meinem Steuerberater umgehen soll. Es hat funktioniert. Heute nachmittag versuchten er und mein
Chauffeur mir mal wieder eine Lektion in Sachen Sicherheit zu erteilen. Ich tat, was Sie mir geraten haben, und wechselte das Thema. Dann übernahm ich die Führung.“ Sie blickte aus dem geöffneten Fenster. Glühwürmchen tanzten in der Dunkelheit, der Mond spiegelte sich silbern im ErieSee, und sanft schwappten die Wellen ans Ufer. Da nahm sie einen Schatten wahr. Clint schritt die hohe Mauer ab, die das Anwesen umgab. Es war sein üblicher Gang. In jeder Nacht vergewisserte er sich, daß alles in Ordnung war. Er trug keinen Mantel und hatte die Ärmel seines Hemdes aufgerollt. Der Stoff spannte sich um seine breiten Schultern, und sie erinnerte sich unwillkürlich an das Gefühl seiner Muskeln unter ihren Händen, als sie getanzt hatten. Habe ich wirklich die Führung übernommen? überlegte sie. Immerhin hatte Clint sie stehenlassen. Mit klopfendem Herzen war sie zurückgeblieben, erregt und enttäuscht. Ja, Clint Dawson hatte einen aufregenden Körper, auf den sie nur allzu weiblich reagierte. Aber Clint hatte nicht das geringste Interesse an ihr. Es war Zeit, das endlich zu begreifen. Schluß damit, sich lächerlich zu machen. „Haben Sie jemals einen Menschen kennengelernt, der nicht das zu sein scheint, was er vorgibt?“ schrieb sie weiter und hielt nachdenklich wieder inne. Genau das war es: Clint war ihr ein Rätsel – und deshalb faszinierte er sie so. Sie hätte schwören können, daß er ihr gefolgt war, als sie mit Martin ausging. Doch er hatte ihr das Gegenteil bewiesen. Sehr rätselhaft dieser Mann. „Ich verlange Aufrichtigkeit, und trotzdem werde ich magisch von allem angezogen, das verborgen ist.“ Beweis dafür war, daß sie mit Cyrano Briefe tauschte. Die Briefe von Martin und Ed gefielen ihr auch. Doch was die schrieben, war normal. Zwar auch romantisch, aber nicht besonders tiefgehend. Nur Cyrano schien zu verstehen, wie sie wirklich fühlte, was sie bewegte und nach was sie suchte. Nur er begriff, daß der Reichtum, den sie geerbt hatte, eine Bürde für sie war. Dennoch war Cyrano das größte Rätsel von allen.
6. KAPITEL „Cyrano, beschütze mich!“ „Fürchte nichts, holde Jungfrau. Mit Schwert und Verstand werde ich von dir fernhalten, wer es wagt, diesen Boden zu betreten.“ Shannon hörte Degengeklirr und sah, wie ihr Ritter all die gesichtslosen Eindringlinge in die Flucht schlug. Sie flohen über die Mauer, die das Anwesen umfriedete. Ihr Beschützer wandte ihr den Rücken zu. Er hob triumphierend seinen Degen. Der Sieg war sein. Mit bleischweren Beinen rannte sie auf ihn zu. Doch all ihre Anstrengungen, zu ihm zu gelangen, scheiterten. Langsam drehte er sich zu ihr um. Ihr Herz klopfte rasend. Seine Augen waren dunkel, seine Schultern breit, und seine Nase war leicht gekrümmt. Sie streckte die Arme nach ihm aus… Und öffnete die Augen. Schlaftrunken ließ Shannon ihren Arm zurück aufs Bett fallen. Durch die Gardinen fiel goldenes Morgenlicht ins Zimmer. Allmählich klärten sich ihre Gedanken. Es war Tag, und sie hatte nur geträumt. Von Cyrano de Bergerac – und von Clint. „Erschreckend“, murmelte sie und setzte sich auf. Sie fühlte sich wohlig matt und gleichzeitig prickelnd erregt, während Wellen einer sinnlichen Wärme in ihr abebbten. Sie konnte verstehen, warum sie von Cyrano geträumt hatte, denn wenige Tage zuvor hatte sie sich das Video ausgeliehen. Und bevor sie gestern abend zu Bett gegangen war, hatte sie an ihren mysteriösen „Cyrano“ einen Brief geschrieben. Warum sie allerdings von Clint träumte, konnte sie sich nicht erklären. Die leise Erregung blieb, und sie schloß erneut die Augen und gab sich ihren Phantasien hin. Sie hatte erlebt, wie es war, Clints Umarmung zu fühlen. Nach Johns Tod hatte er sie mehrere Nächte gehalten und getröstet. Seine breite Brust war ihr Zuflucht gewesen. Die Wärme seines Körpers und sein frischer, männlicher Geruch waren ihr vertraut. Sie hatte seine Kraft und Zärtlichkeit erfahren. Doch geküßt hatte er sie nie. Wie würde es sein, seinen Mund zu fühlen? Wie würde es sein, diesen Mann zu lieben? Shannon spürte ein Kribbeln im Bauch wie von unzähligen Schmetterlingen, und selbstvergessen fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ein metallenes Geräusch von draußen schreckte sie aus ihrem Tagtraum. Sie schloß die halbgeöffneten Lippen und schüttelte seufzend den Kopf. Ich bin verrückt, dachte sie. Das ist die einzige Erklärung, warum ich von meinem Chauffeur träume. Clarissa hat sich bestimmt geirrt, Clint interessiert sich gar nicht für mich. Alles, was er tut, ist, mich abzuweisen. Deshalb werde ich in Zukunft kühl bleiben und jetzt endlich aufstehen. Kurz darauf blickte sie aus dem Fenster und sah Angelo, der auf einen Metallpfosten im Garten hämmerte. Also nur darum hatte sie im Traum das Klirren von Degen gehört. Sie nahm den angefangenen Brief an „Cyrano“ von ihrem Sekretär und wollte ihn zerknüllen und wegwerfen. Doch statt dessen fügte sie noch zwei Sätze hinzu, faltete das Blatt und steckte es in einen bereits adressierten Umschlag. Als sie dann geduscht hatte und nach unten ging, legte sie den Brief auf das Beistelltischchen in der Eingangshalle, damit Clarissa ihn später einwarf. Mit einer heftigen Bewegung strich Shannon ihr Haar zurück, als wollte sie damit auch ihre erotischen Träume fortwischen, und ging nun ins Eßzimmer. Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, trat Clint ein. „Gibt es Änderungen in der Tagesplanung?“ erkundigte er sich.
Shannon blickte von der Morgenzeitung auf und sah ihn mit einem seltsamen
Lächeln an.
„Was ist los?“ fragte er stirnrunzelnd.
Immer noch lächelnd schüttelte sie den Kopf. Dabei fiel ihr das seidige blonde
Haar wie ein Fächer über die Schultern. „Nichts“, antwortete sie und machte eine
kleine, vielsagende Pause. „Es gab Zeiten, da hätten Sie mich nie zu fragen
brauchen, ob es Änderungen in der Planung gäbe. Damals hieß es: Golf am
Dienstag und am Donnerstag, Bridge am Mittwoch, Freitagmorgen die
Kinderklinik und nachmittags der Schönheitssalon. Heute wissen Sie nicht mehr,
was Sie von mir zu erwarten haben, stimmts?“
Er lächelte nun ebenfalls. „Haargenau.“
Sie schob ihren Stuhl ein wenig zurück. „Nun, heute werde ich tatsächlich etwas
anderes tun. Ich will zum staatlichen College, um mich für ein paar Herbstkurse
einzuschreiben.“
„Sie wollen wieder zur Schule gehen?“
„Ja. Haben Sie damit ein Problem?“
Sein größtes Problem würde es sein, sie auf dem bevölkerten Campus zu
beschatten, doch das konnte er ihr schließlich nicht sagen. „Was wollen Sie denn
belegen?“
„Weiß ich noch nicht. Heute will ich mich nur erkundigen, was es für
Ausbildungsrichtungen gibt.“
„Sie haben es nicht nötig, Geld zu verdienen.“
„Das weiß ich.“
Er hätte nie erwartet, daß sie wieder aufs College gehen wollte. Er wollte, daß sie
wieder heiratete, damit er die Sorge für sie einem anderen Mann überlassen
konnte. „Was ist mit den Männern, denen Sie schreiben und mit denen Sie sich
treffen?“
„Was soll mit ihnen sein?“
„Nun…“
Sie lachte leise. „Nun, es soll auch Frauen, die aufs College gehen, durchaus
erlaubt sein, sich mit Männern zu treffen. Und zu Ihrer Beruhigung, erst heute
morgen haben ich einem der Männer geschrieben, ob er nicht mit mir ausgehen
will.“
„Tatsächlich?“ Er hoffte, daß es Ed war.
„Ja. Ich habe Cyrano noch einmal gefragt, ob er sich auf einen Drink mit mir
treffen will.“
„Cyrano? Aber er hat Ihnen doch mitgeteilt, daß er sich nicht mit Ihnen treffen
möchte.“
„Woher wissen Sie das?“
Er erkannte seinen Fehler sofort und suchte rasch nach einer Ausrede. „Sie
haben es mir gesagt. Erinnern Sie sich nicht?“
Shannon konnte sich zwar nicht daran erinnern, aber sie hatte es Clarissa und
Paul erzählt. Vielleicht wußte Clint es von ihnen. „Vielleicht wird Cyrano seine
Meinung ja ändern.“
„Er dürfte aber seine Gründe dafür haben, daß er sich nicht mit Ihnen
verabredet.“
„Vielleicht ist er einfach nur schüchtern. Denken Sie an den Roman, an Roxane,
die sich zuerst in Cyranos Worte verliebt hat. Ich jedenfalls bin dabei, mich in die
Worte meines Cyranos zu verlieben.“
„Das ist doch lächerlich.“
„Nein, ist es nicht. Jedesmal, wenn ich einen Brief von Cyrano lese, habe ich das
Gefühl, er sei jemand, mit dem ich…“ Sie machte eine unbestimmte
Handbewegung, weil sie nicht wußte, wie sie es ausdrücken sollte.
„Ich denke eher, Ihr Cyrano ist ein Betrüger“, sagte Clint. „Der Kerl ist hinter
Ihrem Geld her. Demnächst wird er Ihnen schreiben, daß er eine arme Mutter
hat, die er unbedingt aus ihrer trostlosen Umgebung herausholen will.“
„Etwas in der Art hat er tatsächlich geschrieben.“
„Und das ist erst der Anfang, eine Bemerkung am Rande. Aber sein Ziel ist klar.“
„Er schrieb, daß die Gegend, in der sie wohnt, sehr unsicher ist. Er möchte, daß
sie umzieht.“
„Natürlich. Das nächste Mal wird er schreiben, daß er Geld braucht.
Selbstverständlich nur geliehen, und er wird hoch und heilig versprechen, daß er
es zurückzahlt.“
„Um Geld hat er aber nicht gebeten.“
„Er wird.“
Clint wirkte so sicher, daß Shannon sich fragte, ob ihr Cyrano tatsächlich ein
Blutsauger war. Möglich war es schon.
„Was schreibt dieser Cyrano überhaupt? Zuckersüße Verse?“
„Nein.“ Manches, was er schrieb, war sicherlich romantisch, doch es war nicht
kitschig. „Er schreibt nette Dinge.“
„Zum Beispiel?“
„Er gibt Antworten auf meine Fragen. Oder beschreibt einen Sonnenaufgang für
mich. Oder gibt mir seine Definition von Liebe.“
„Oh, und die wäre?“
Aus ihrem Mund würden Cyranos Worte vielleicht kitschig klingen. Trotzdem
versuchte sie es. „Er sagt, daß durch die Liebe ein guter Geist befreit wird, der
wächst und Gestalt annimmt. Lieben heißt, sich mit allen Fasern des Herzens zu
sehnen und dennoch zu verzichten, wenn das Schicksal es so will. Lieben heißt,
schlaflose Nächte und Tage, an denen die Seele keine Ruhe findet. Doch wer
wahrhaft liebt, genießt jeden Augenblick. Wenn Sie wollen, dürfen Sie jetzt über
mich lachen“, fügte sie hinzu. „Aber das ist genau das, was ich auch denke.“
„Das soll Liebe sein? Für mich hört sich das ziemlich ungemütlich an. Schlaflose
Nächte und gestörte Seelenruhe. Würde mir keinen Spaß machen.“
„Weil Sie ein Zyniker sind, Clint.“
„Und Sie sind zu leicht zu beeindrucken.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht jeder Mann interessiert sich nur für mein Geld.
Manch einer mag mich vielleicht wirklich.“
„Oh, natürlich. Die Frage ist nur, welcher Sie mehr liebt als Ihr Geld. Ich glaube,
Sie schätzen Ihre Lage immer noch nicht richtig ein.“
Shannon erhob sich, stellte sich vor Clint und reckte trotzig das Kinn. „Ich weiß
sehr gut, in welcher Lage ich mich befinde. Und auch, was Ihre Position in
diesem Hause ist. Wem ich schreibe und mit wem ich mich treffe, ist ganz allein
meine Angelegenheit. Ich führe mein Leben so, wie ich es will.“
Clint unterließ es, etwas darauf zu erwidern. Er richtete sich zu seiner vollen
Größe auf und blickte auf Shannon hinunter. „Um wieviel Uhr soll der Wagen für
die Fahrt zum College bereitstehen?“
„In einer Stunde“, erwiderte Shannon förmlich. Sie wartete, bis Clint den Raum
verlassen hatte, ließ sich dann auf ihren Stuhl zurücksinken und blickte ins Leere.
Warum habe ich bloß von diesem Typen geträumt? fragte sie sich. Er ist zynisch
und zollt mir nicht den geringsten Respekt. Kann ja sein, daß er einen tollen
Körper hat, doch das ist noch lange kein Grund, sich mit diesem Mann
einzulassen.
Niemals.
Ein paar Tage später lud Martin sie zu einem Vortrag in der Universität ein.
Thema würden die Gedichte Edgar Allen Poe’s sein. Shannon erklärte sich spontan bereit, mitzukommen. Sie wollte Martin wiedersehen. Außerdem hatte sie sich am College für Psychologie und Englisch eingeschrieben. Ein Vortrag über Poe paßte da sehr gut. Wie gewöhnlich bestand Clint darauf, sie im Wagen hinzubringen. Sie sah keinen Grund dafür und äußerte sich dementsprechend. Aber sie lud Martin dazu ein, vor dem Vortrag zu ihr zum Abendessen zu kommen. Clarissa freute sich darüber, endlich einmal wieder für Gäste zu kochen, und übertraf sich selbst. „CaesarSalat, Boef Stroganoff und zum Nachtisch Mokkatorte. Wunderbar.“ Martin lehnte sich nach dem Essen zufrieden zurück. „Sie dürfen sich glücklich schätzen, eine Köchin zu haben. Ich muß mich leider mit Dosensuppen, Cornflakes und Hamburgern begnügen.“ „Ich fürchte, ich gebe Clarissa nicht oft genug die Möglichkeit, ihr Talent unter Beweis zu stellen“, erwiderte Shannon. „Als John noch lebte, hatten wir oft Gäste. Mindestens zweimal in der Woche, wenn wir nicht gerade auf Reisen waren. Aber seit er tot ist…“ Sie zuckte die Achseln. „Ja, geliebt und den geliebten Menschen verloren zu haben“, sagte Martin melodramatisch und berührte ihren Arm. „In Ihren Briefen haben Sie oft erwähnt, wie sehr Sie Ihren verstorbenen Mann vermissen. Ich dagegen habe immer nur von mir selbst gesprochen. Sie müssen mir alles über Ihre Ehe erzählen. Wie Sie Ihren Mann kennenlernten. Einfach alles.“ „John und ich…“ begann sie, doch Martin blickte auf seine Uhr. „Meine Güte, wie doch die Zeit vergeht, wenn man in so reizender Gesellschaft ist. Wir müssen losfahren, meine Liebe. Erzählen Sie mir die Geschichte im Auto.“ Aber auch dort fand sie nicht die Gelegenheit dazu. Statt dessen verbreitete sich Martin über eine Anfrage seines Verlegers und teilte ihr dann seine Ansichten über Buchproduktion, Verlagswesen und Werbung mit. Der Vortrag über Poe lief dann ebenfalls mehr im Sinne Martins ab. Denn als der Referent die Meinung äußerte, daß Edgar Allen Poe einer der größten amerikanischen Dichter sei, vertrat Martin sofort die gegenteilige Position. Ständig gab er bissige Kommentare ab, die jedermann im Saal hören konnte. Sie versuchte, ihn diskret zum Schweigen zu bringen – erfolglos. Nicht einmal die wütenden Blicke der anderen Zuhörer vermochten das. Nach dem Vortrag bat sie ihn dann, sie sofort nach Hause zu bringen, da sie keine Lust mehr hatte, noch irgendwo einen Drink mit ihm einzunehmen. Als Martin sie vor der Haustür absetzte, waren die Kopfschmerzen, die sie vorgeschützt hatte, tatsächlich vorhanden. „Gehen Sie früh zu Bett“, mahnte Martin sie und küßte sie kurz auf die Wange. „Ich rufe Sie an.“ Sie strebte ins Haus. Egal, wie oft Martin in Zukunft anrufen würde – dies war der letzte gemeinsame Abend gewesen. „Schon so früh zurück“, begrüßte Clint sie, der in seiner Zimmertür stand. „Nicht früh genug“, murmelte sie säuerlich. „Waren Sie auch bei dem Vortrag?“ „Ich? Wieso?“ „Ich hätte schwören können…“ Sie legte den Kopf schief und musterte Clint prüfend. Er lächelte. „Was hat ein Chauffeur bei einem Vortrag über irgendeinen Dichter verloren?“ „Stellen Sie sich nicht dumm, Dawson. Haben Sie mir nachspioniert?“ „Nachspioniert?“
„Auf dem Parkplatz stand ein Motorrad, das aussah wie Ihres.“
Es war sogar meins, erwiderte Clint insgeheim. Sie hatte es nur entdeckt, weil
sie den Hörsaal so plötzlich verlassen hatte. Fünf Minuten später, und seine
Harley wäre außer Sichtweite gewesen. „Viele Motorräder gleichen meinem. Aber
ich kann nicht zugleich hier sein und dort.“
„Das heißt, Sie waren den ganzen Abend zu Hause?“
„Ich habe versucht, meine Buchhaltung in Ordnung zu bringen.“
Shannon trat näher und spähte in sein Zimmer. Er nahm den dezenten Duft ihres
Parfüms wahr. Doch Gefahr war im Verzug, und er durfte sich nicht ablenken
lassen. Denn falls sie sein Zimmer betrat, würde sie mehr sehen, als ihm lieb
war. Zum Beispiel seine Buchausgabe des „Cyrano de Bergerac“, das Papier, auf
dem er seine Briefe an sie verfaßte, sowie ihren letzten Brief an Cyrano.
Und sollte sie auf die Idee verfallen, in die Garage zu gehen, würde sie darüber
hinaus feststellen, daß sein Motorrad noch warm war.
„Ich will nicht, daß man mir nachspioniert“, sagte sie. „Oder mich anlügt.“
„Wieso sollte ich lügen?“
„Weil…“ Shannon wünschte, sie könnte in Clints Gesicht lesen. „Weil Sie genau
wissen, daß ich Sie feuern würde, wenn Sie mich bewachen, als wäre ich eins
von Johns Gemälden.“
„Für John waren Sie immer wichtiger als jedes seiner Gemälde.“
Sie wußte, daß das stimmte, und ebenso, daß sie aus Clint heute abend nichts
herausbekommen würde. Dafür schmerzte ihr Kopf zu sehr. Außerdem hatte der
verpatzte Abend eine unbestimmte Sehnsucht in ihr zurückgelassen. Sie drehte
sich um und ging ins Wohnzimmer.
„Was für ein scheußlicher Abend“, murmelte sie, setzte sich, ohne das Licht
einzuschalten, aufs Sofa und rieb sich den Nacken.
Da spürte sie, mehr als daß sie es gehörte hätte, daß Clint hinter sie trat.
„Scheint, daß Sie an Ihrer Verabredung nicht viel Vergnügen hatten.“
„Dieser Mann redet einfach ununterbrochen.“
„Ich dachte, Sie suchten einen Mann, der mit Ihnen redet.“
„Sich mit mir unterhält. Mir auch mal zuhört. Gedankenaustausch.“ Seufzend fuhr
sie fort, sich den Nacken zu reiben. „Aber Martin tut etwas ganz anderes. Er
schwätzt drauflos. Und immer nur über sich selbst.“
Clint, der hinter dem Sofa stand, legte ihr jetzt leicht die Hände auf die
Schultern. „Tut Ihnen der Rücken weh?“
Martins Redefluß hatte sie genervt, und sie war verspannt. Die Berührung von
Clints Händen löste eine völlig andere Spannung in ihr aus, und sekundenlang
hielt sie den Atem an.
„Ja“, hauchte sie.
„Ich kümmere mich darum“, erwiderte er weich und strich ihr Haar zur Seite.
Sie wehrte sich nicht und ließ ihre Hand sinken. Während er dann kundig ihre
verspannten Schultern massierte, schloß sie die Augen und genoß es einfach,
was er mit ihr tat. Seine Hände waren rauh, doch sensibel, und eine gewisse
prickelnde Erwartung stieg in ihr auf.
„Es tut mir leid, daß Martin nicht das ist, was Sie sich vorgestellt haben“, sagte
er und strich mit den Daumen fest und doch zart über ihren Nacken.
„Mir auch.“ Was ihr im Moment aber gleichgültig war. Jetzt zählten nur Clints
Berührungen.
„Hat er wirklich nur über sich selbst geredet?“
„Über sich und über dieses verdammte Buch, das er schreibt. Ich hätte es
eigentlich wissen müssen. Selbst in seinen Briefen war nie von etwas anderem
die Rede.“ Sie lachte leise. „Sie hätten ihn heute abend hören sollen.“
„Ich habe genug gehört… als er hier war.“
„Es wurde später noch viel schlimmer. Das Dinner diente ihm nur als
Aufwärmübung.“
„Er hat eben zu allem eine sehr feste Meinung.“
„Und hat immer recht.“ Das fand sie am störendsten. „Sie hätten mal seine
Kommentare über Poe hören sollen.“
„Er mag ihn nicht?“
„Kaum.“ Sie seufzte zufrieden, als Clint ihren Nacken massierte, und erschrak
dann über ihren sinnlichen Laut. Hoffentlich hatte Clint ihn nicht bemerkt.
„Entspannen Sie sich“, sagte er mit tiefer, warmer Stimme. „Was ist Martins
Meinung über Poe?“
„Er sagte…“
Sie war geradezu schockiert, wie heiser und atemlos sie plötzlich klang, und
versuchte, ihren rasenden Puls und das süße Zittern in ihrem Innern unter
Kontrolle zu bringen. „Er sagte, daß Poe ein brillanter Autor mit verblüffenden
Einfällen sei, doch seinen Gedichten fehle die Glut. Seine Reime seien artifiziell,
und sowohl seine Gedichte als auch seine Prosa seien primitive
Schauerromantik.“
„Ich mag Poe.“
„Ich auch.“ Sie wollte sich zu Clint umwenden, doch er ließ es nicht zu.
„Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich ,Das Pendel’ las“, fuhr er fort.
„Oh, ja“, erwiderte sie. „Und dann ,Der Rabe’ und ,Die Maske des Roten Todes’.“
„Scheint, als ob wir primitive Schauerromantik mögen.“ Clint lachte leise.
„Stimmt. Dagegen behauptet Martin, Poe’s Dichtung sei geschmacklos und setze
auf theatralische Horroreffekte. Mit seinem geliebten Lord Byron sei Poe absolut
nicht zu vergleichen.“
„Jedem das seine.“
„Finde ich auch“, stimmte sie zu und merkte, daß sich ihre Nackenmuskulatur
entspannt hatte. Dafür war das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch stärker
geworden.
Es war zweieinhalb Jahre her, seit sie das letzte Mal die Auswirkungen des
Schleudertraumas verspürt hatte, das sie bei ihrem Autounfall davongetragen
hatte. Damals war es John gewesen, der ihren schmerzenden Nacken massierte,
doch seine Berührungen waren mit Clints nicht zu vergleichen. Doch obwohl
Clints Finger so ungemein kraftvoll waren, vermochte er, ihre Schmerzen ebenso
gut und zärtlich zu lindern wie John. Wärme durchflutete sie.
„Oh, ja“, seufzte sie wohlig. Dann stöhnte sie leise. „Das ist himmlisch.“
Clint wußte, daß es höchste Zeit war, mit der Massage aufzuhören. Shannons
Seufzer verrieten ihre Erregung. Ganz davon zu schweigen, daß er fast ebenfalls
aufgestöhnt hätte.
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“ fragte er und trat einen Schritt zurück und rieb seine
Handflächen am Hosenstoff.
Shannon drehte den Kopf hin und her und hob ein paarmal die Schultern, ehe sie
sich zu Clint umwandte. „Viel besser.“
„Sie müssen die Übungen machen, die die Krankengymnastin Ihnen gezeigt hat.“
Sie lächelte. „Ja, Papa.“
„Davon bin ich weit entfernt.“
„Ich brauche auch keinen Vater“, sagte sie pikiert. „Und ich weiß genau, was Sie
denken.“
„Ach, ja?“
„Ich habe John nicht geheiratet, weil ich eine Vaterfigur suchte.“
„Das habe ich auch nicht behauptet.“
„Aber Sie haben es gedacht. Es liegt ja auch auf der Hand.“ Sie machte eine
Pause. „John hat dieses Bedürfnis tatsächlich befriedigt, aber es war nicht der
Grund, warum ich ihn geheiratet habe. Ich habe ihn geliebt.“
„Er hat Sie ebenfalls geliebt.“
„Ja.“ Einen Moment schwieg sie, dann lachte sie. „Sie werden es nicht glauben,
aber ich war immer noch Jungfrau, als ich John heiratete. Bevor ich ihn kannte,
gab es kaum Männer in meinem Leben. Ich hatte einfach nie Zeit.“
Clint glaubte es ihr. Damals, als John es ihm sagte, war er erstaunt gewesen.
Woher er stammte, hatten Mädchen mit siebzehn oft schon ein oder zwei Kinder.
Sie stand nun auf. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle“, murmelte
sie und kam um das Sofa herum und zu ihm.
„Sie hatten heute abend eben keine Gelegenheit zum Reden.“
„Sie haben recht. Wissen Sie, was ich schön fände?“
„Nein, was?“ fragte er vorsichtig. Ihre Nähe machte ihn nervös.
„Ich würde gern einen Mann kennenlernen, der meine Meinung schätzt und der
an Abenden wie diesem mit mir über Gott und die Welt redet. Ich möchte
jemanden haben, mit dem ich mich streiten kann, mit dem ich Gedanken
austauschen und dem ich meine Ängste offenbaren kann.“
„Sie werden ihn finden.“
„Wirklich?“
Sie seufzte, und er spürte ihre Einsamkeit. „Bestimmt.“
„Es ist nicht einfach, Clint. Denn wie findet man jemanden, wenn man den
Menschen verloren hat, den man liebte?“
„Natürlich ist es nicht einfach.“ Doch noch schlimmer war es, die Frau seines
Lebens gefunden zu haben und zu wissen, daß man sie nie bekommen würde.
„Sie werden noch eine Menge Frösche küssen.“
Sie lachte. „Martin hat mich heute abend geküßt. Nur kurz auf die Wange. Kriege
ich jetzt Warzen?“
„Das bezweifle ich.“
„Zwei sind aus dem Rennen. Zwei habe ich noch.“
„Zwei was?“
„Briefschreiber. Gary war auf jeden Fall ein Frosch. Eigentlich hatte ich gehofft,
Martin sei brauchbarer, aber nun hat er ausgequakt. Bleiben noch Ed und
Cyrano.“
„An Ihrer Stelle würde ich Cyrano vergessen.“
„Sie glauben wirklich, er ist ein Betrüger?“
„Er wird sich jedenfalls nicht mit Ihnen treffen. Wie wollen Sie da mit ihm
reden?“
„Wir schreiben uns eben weiter.“
„Darauf kann ich nichts erwidern.“
„Gut so.“ Sie streckte sich genüßlich. „Sie haben magische Hände, Mr. Dawson.
Meine Kopfschmerzen sind weg.“
„Freut mich.“ Ihm dagegen begann der Kopf zu brummen. Verdammt, es war ein
Fehler gewesen, ihr als Cyrano zu schreiben. Nun mußte er sie davon
überzeugen, daß Ed ihr Kandidat fürs Leben war.
„Danke, daß Sie mir geholfen haben, Clint.“
„Gern geschehen.“
Shannon blickte Clint nachdenklich an, dann lächelte sie. „Was hielten Sie denn
nun von dem Referenten? Hat sich Poe tatsächlich bewußt selbst ruiniert?“
Clint merkte sofort, daß sie ihn aufs Glatteis führen wollte. „Ich verstehe nicht,
was Sie meinen.“
Ihr Lächeln vertiefte sich. „Gute Nacht, Clint.“
„Gute Nacht.“ Shannon fühlte, daß Clint ihr nachblickte, als sie die Treppe hinaufging. Von der Galerie aus sah sie noch einmal hinunter. Er stand immer noch am gleichen Fleck. Sekundenlang glaubte sie, in seinen Augen Verlangen zu lesen. Doch der Eindruck verflog so rasch, wie er gekommen war. Aber ihr Begehren brannte in ihr, unerfüllt. Ihm war es gelungen, einen mißglückten Abend in einen wunderschönen zu verwandeln. Hätte er auch nur angedeutet, daß er sie begehrte, sie hätte ihn nicht abgewehrt. Aber er war kühl geblieben. „Gute Nacht, Clint“, sagte sie noch einmal und ging in ihr Zimmer.
7. KAPITEL Genau an jenem Mittwoch, an dem Shannon ihre erste Verabredung mit Edward Sitwell hatte, erhielt sie einen weiteren Brief von Cyrano. In ihrem letzten Brief hatte sie nicht nur angeregt, sich mit ihm zu treffen, sondern ihm sogar ihre Telefonnummer gegeben. Ihre Hoffnung, daß er anrufen würde, hatte sich nicht erfüllt, doch ein Brief war immerhin besser als nichts. Aufgeregt begann sie, ihn zu lesen. Roxane, Ihre Worte sind mein Lebenselixier. Sie spenden das Licht, das meine Tage erhellt, und ach, dunkel ist die Nacht, da ich erkenne, was ich nicht darf. Zu weit ist die Kluft, die uns trennt. Nur aus der Ferne darf ich zu Ihnen sprechen. Er hatte sie also erneut zurückgewiesen. Trotzdem las sie weiter, und bald
verwandelte sich ihre Enttäuschung in Ernüchterung. Erst als sie Clint den Flur
entlangkommen hörte, hielt sie inne und blickte auf.
Er blieb in der Tür zu ihrem Büro stehen. „Sie wollten mich sprechen?“
„Ja.“ Sie winkte ihn herein. „Ich möchte nur kurz fertiglesen.“
Sie las den Brief zuende, überlegte kurz und sagte dann sachlich: „Nun, Sie
hatten völlig recht.“
„Mit was?“
„Dieser Brief ist von Cyrano, und er hat genau das getan, was Sie prophezeit
haben.“
„Hat er um Geld gebeten?“
„Eine Leihgabe nennt er es.“
„Werden Sie sie ihm geben?“
„Natürlich nicht, und ich bin ziemlich… enttäuscht von ihm.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Jetzt bleibt mir nur noch Ed Sitwell.“ Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. „Ich
hoffe, daß meine Verabredung mit ihm nicht ebenso
ein Fiasko wird wie die mit Gary Cleveland.“
„Nach dem, was Sie mir erzählt haben, haben Sie mit diesem Sitwell doch eine
Menge gemeinsam. Vielleicht läuft es besser, als Sie erwarten. Wann treffen Sie
sich mit ihm? Um drei?“
„Ja, und das ist der Grund, warum ich Sie sprechen wollte. Ich werde selbst
fahren.“
„Aber Sie sind seit drei Jahren nicht mehr Auto gefahren.“
„Es ist wie Fahrradfahren. Man verlernt es nicht.“
„Menschen, die lange nicht Fahrrad gefahren sind, nehmen aber auch nicht gleich
an der Tour de France teil. Sie üben erst mal.“
„Drei Meilen in der Stadt zu fahren ist kein Wettrennen.“
„Die Mack Avenue ist aber nicht der geeignete Ort, wo Sie Ihre Fahrkünste
ausprobieren sollten. Ich nehme Sie demnächst mal auf eine kleine, ruhige
Landstraße mit.“
„Auf einer kleinen, ruhigen Landstraße werde ich aber nie lernen, meine Angst zu
überwinden. Selbst wenn Sie mich chauffieren und es fährt jemand zu nah auf,
gerate ich immer noch in Panik, und all die Erinnerungen kommen wieder hoch.
Ich muß das endlich in den Griff bekommen.“
„Was geschieht, wenn die Panik Sie mitten auf der Mack Avenue überfällt?“
wollte Clint wissen und fragte sich, wieviel Shannon von jenem Zwischenfall vor
drei Jahren tatsächlich erinnerte.
„Damit werde ich fertig“, behauptete sie. „Es muß einfach sein.“
„Darf ich wenigstens…“
Sie schüttelte den Kopf und hob trotzig das Kinn.
„Aber…“
„Nein“, sagte sie fest.
Er musterte sie. Sie war schön, intelligent und stur. Alles, was er tun konnte,
war, ihr unauffällig zu folgen. „Welchen Wagen nehmen Sie?“
„Den Mercedes.“
„Er wird bereit sein.“
Als es auf drei Uhr zuging, hatte sich der Himmel grau bezogen, die Luft war
feucht und aus der Ferne war Donnergrollen zu hören. Shannon bemühte sich,
ihre Nervosität zu unterdrücken, aber ihr zitterten die Knie, als sie zu den
Garagen ging. Sie wollte ihren Plan jedoch unbedingt durchführen, gleichgültig
ob es blitzte und donnerte. Denn wenn sie es aufschob, würde es das nächste
Mal noch schwerer werden. Was aber nicht hieß, daß sie jetzt stur ihren Kopf
durchsetzen wollte.
Deshalb bat sie Clint, nun doch mitzukommen. „Falls Sie nichts dagegen haben“,
fügte sie hinzu.
Clint legte den Lappen zur Seite, mit dem er die Motorhaube des Mercedes
gewienert hatte, und blickte an sich hinunter. Er hatte die Ärmel seines Hemdes
aufgerollt, so daß seine dunkel behaarten Unterarme sichtbar waren. Sein Kragen
war geöffnet, und er trug keine Krawatte.
„Ich wasche mir nur rasch die Hände und hole mein Jackett und die Krawatte.“
„Nein“, erklärte sie und ging auf die Fahrerseite des Wagens. „Dafür haben wir
keine Zeit. Waschen Sie sich einfach nur die Hände.“
Sie saß bereits hinter dem Steuer, als er aus dem Waschraum hinter der Garage
zurückkehrte. Erneut grollte ein Donner, diesmal bereits näher.
Clint öffnete die Beifahrertür. „Wollen Sie es tatsächlich wagen?“
„Auf jeden Fall“, erwiderte sie überzeugter, als sie war. „Steigen Sie ein.“
Er setzte sich neben sie und schloß die Wagentür. Sie starrte wie gebannt auf
den Zündschlüssel und verfluchte sich insgeheim für ihr Zögern.
„Alles in Ordnung?“ fragte Clint verständnisvoll.
Sie holte tief Atem und startete das Auto. Es gelang mühelos. „Ja“, antwortete
sie, doch ihre Hand zitterte, als sie die Fernbedienung betätigte, die das
Garagentor öffnete.
Die Ausfahrt vor Augen, trat sie vorsichtig aufs Gaspedal. Bis jetzt ging alles gut.
Die Grundlagen des Autofahrens waren ihr immer noch vertraut. Nur ihre Angst
mußte sie überwinden.
Clint drückte den Knopf, der das Tor zum Anwesen öffnete, und schloß seinen
Sicherheitsgurt. „Kennen Sie den Weg?“
„Ich glaube schon.“ Sie hatte eine Stunde damit verbracht, den Stadtplan zu
studieren.
Daran, wie fest sie das Lenkrad umklammerte, konnte Clint erkennen, wie nervös
Shannon war, und sie saß kerzengerade, als sie nach rechts und links blickte,
bevor sie auf die Straße einbog.
„Entspannen Sie sich“, sagte er weich. „Atmen Sie.“
Sie lachte. „Ja, das dürfte helfen.“
„Es hält einen zumindest am Leben.“
Erneut lachte sie, und er blickte zu ihr hinüber. Sie sah besonders gut aus heute
nachmittag. Das hellgoldene Haar fiel ihr offen über die Schultern, und die roten
Creolen, die sie als Ohrringe trug, betonten ihr rotweißgestreiftes
schmalgeschnittenes Kleid. Sitwell würde Augen machen, wenn er sie sah. Jeder
Mann würde hingerissen sein.
Du bist eindeutig eifersüchtig, gestand er sich ein. Er starrte aus dem
Wagenfenster und fragte sich, ob er ein geborener Masochist sei. Jede Woche
schrieb er ihr Briefe, öffnete ihr sein Herz. Als ihr Chauffeur jedoch trug er eine
Maske. Besser, er hätte längst gekündigt. Statt dessen begleitete er sie zu
Verabredungen mit Männern, die sie niemals so sehr lieben würden, wie er es
tat.
An einer roten Ampel mußte Shannon anhalten, und angespannt blickte sie sofort
in den Rückspiegel.
Clint sah sich um. Das Auto hinter ihnen hielt rechtzeitig.
Shannon atmete tief durch. Dann lächelte sie. „Der Lastwagen, der meinen
Wagen damals rammte, kam so schnell, daß ich keine Zeit hatte zu reagieren.“
Sie stockte. „Merkwürdig ist nur, an wie wenig ich mich erinnere, was in jener
Nacht geschah. Ich hörte das Krachen, als der Lastwagen auffuhr, und sah, wie
der Airbag sich aufblähte. Dann wurde ich gegen den Sitz geschleudert, kurz
darauf wurde die Fahrertür aufgerissen, und ein Mann griff nach mir. Es machte
mir angst, und ich schrie. Als nächstes erinnere ich nur, daß ich in der Ambulanz
saß und John meine Hand hielt.“
„John hat Ihnen dann gesagt, daß Sie durch den Schock ohnmächtig wurden.
Richtig?“
„Ja. Warum fragen Sie?“
„Nur so.“ Clint fand es höchste Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen, doch dafür war
jetzt der falsche Ort und die falsche Gelegenheit.
Die Ampel schaltete auf Grün, und Shannon fuhr wieder an. Sie gewann rasch an
Sicherheit. In der Ferne zuckte ein Blitz über den bleigrauen Himmel, und die
ersten Regentropfen fielen auf die Windschutzscheibe.
„Ist ein Schirm im Wagen?“ fragte sie.
„Im Kofferraum.“
„Gut. Ich werde ihn wohl brauchen.“ Der Regen prasselte nun heftig nieder, und
sie schaltete die Scheibenwischer ein. „Ich habe nämlich keine Lust, wie eine
ersoffene Ratte auszusehen.“
Clint lachte. „Das werden wir schon verhindern.“
„Andererseits… was würde es schon ausmachen. Ed ist wahrscheinlich genauso
ein Reinfall wie die beiden anderen. Aber wehe, Sie erklären hinterher ,Ich habe
es Ihnen ja gleich gesagt’.“
„Fiele mir nicht im Traum ein.“
Sie lächelte ihn an. „Oh, doch. Erst heute morgen hätten Sie es zu gern gesagt,
als ich Ihnen von Cyranos letztem Brief erzählt habe.“
„Aber ich habe den Mund gehalten.“
„Das stimmt.“
Erneut zwang eine Ampel sie anzuhalten. „Wissen Sie, was mich an diesem
Cyrano so fasziniert?“
„Nein.“
„Er ist so mysteriös. Erst schreibt er Garys Briefe und gibt dann offen zu, er sei
diesem Kerl verpflichtet gewesen, weigert sich aber, mich zu treffen. Das paßt
überhaupt nicht zu Ihrem Verdacht, daß er ein Betrüger ist. Denn wenn er es auf
mein Geld abgesehen hätte, müßte er mir doch eigentlich die Tür einrennen.“
„Vielleicht hat er einen ganz speziellen Grund, warum er Sie nicht treffen will.“
„Scheint so. Aber welchen?“
„Nun…“ Clint dachte angestrengt nach. „Der Mensch nennt sich selbst Cyrano.
Vielleicht hat er eine ebenso unförmige, riesige Nase wie der Cyrano aus dem
Roman. Die Megaausführung eines Riechorgans, und er weiß, daß Sie
davonlaufen würden, wenn Sie ihn sähen.“
„Die Megaausführung eines Riechorgans“, wiederholte Shannon lachend. „Hört
sich wirklich ziemlich riesig an.“
„Oder er hat so eine krumme Gurke im Gesicht wie ich.“
Sie sah zu ihm hinüber. „Das ist kein passender Ausdruck. Wahrscheinlich war
Ihre Nase nur mal gebrochen.“
„Mehrere Male.“
„Egal. Wie mißgestaltet Cyrano auch immer sein mag – es würde mich nicht
stören. Wichtig ist, wie der Mensch ist, der in einem Körper wohnt. Das habe ich
ihm auch geschrieben.“
„Es wäre doch möglich, daß der Mensch Cyrano sich innerlich ebenfalls häßlich
fühlt. Vielleicht schämt er sich für Dinge, die er in der Vergangenheit getan hat.“
„Keine Ahnung. Er schreibt wunderschöne Briefe, redet aber selten über sich
selbst.“
„Genau.“
„Das heißt aber noch lange nicht, daß er ein Betrüger ist.“
„Okay, nennen wir ihn also nicht Betrüger. Mag sein, daß er Sie sogar wirklich
mag. Aber vielleicht findet er, daß Sie einer Gesellschaftsklasse angehören, die
hoch über seiner steht.“
„Meinen Sie damit, daß er zur sozialen Unterschicht gehört?“
„Richtig. Er muß nicht gerade ein langes Vorstrafenregister haben, war aber
sicher mal im Gefängnis.“
Die Ampel sprang auf Grün, und Shannon fuhr weiter. „Falls er das wirklich so
sähe, würde mich das sehr wütend machen.“
„Warum?“
„Weil Cyrano sich damit genauso wie John verhielte. Er dachte für mich, träfe
Entscheidungen für mich. Nein“, erklärte sie entschieden. „Ich glaube nicht, daß
dies Cyranos Gründe sind, warum er sich nicht mit mir treffen will. Das ergäbe
einfach keinen Sinn.“
Für ihn lag der Sinn klar auf der Hand.
„Hier ist die Einkaufspassage.“ Shannon wies zu einem riesigen
Gebäudekomplex. „Bis hierher habe ich es geschafft.“
Er sprang aus dem Wagen, sobald sie geparkt hatte, holte den Schirm, spannte
ihn auf und hielt ihn, während sie gemeinsam zum Eingang der Passage rannten.
Drinnen blickte er sich aufmerksam um. Es würde schwierig sein, Shannon hier
im Auge zu behalten. Alles war licht und offen.
Er wies nach links. „Das Cafe ist dort drüben.“
„Was werden Sie in der Zwischenzeit tun?“
Er zuckte die Achseln, da fiel sein Blick auf einen Buchladen. „Stöbern.“
„Ich bleibe aber wahrscheinlich ein oder zwei Stunden.“
„Kein Problem. Falls Sie mich brauchen sollten…“
Sie berührte seinen Arm und lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen, Clint.“
„Tu’ ich auch nicht“, behauptete er und spürte die Wärme ihrer Finger auf seinem
Arm. Sofort stieg das vertraute Verlangen in ihm auf, und er fürchtete, sich bald
nicht mehr zurückhalten zu können, wenn sie ihn berührte.
Als Shannon dann gegangen war, wartete er noch ein paar Sekunden, bis er ihr
unauffällig folgte.
Shannon erkannte Ed sofort. Er wartete am Eingang des Cafes auf sie. Sein
Äußeres war genau, wie er es beschrieben hatte: durchschnittliche Größe,
durchschnittliches Aussehen, braunes Haar, braune Augen und ein kleiner
Bauchansatz. Er lächelte ihr spontan und mit Wärme zu. Ja, sie würde diesen
Mann mögen.
„Hallo“, sagte er und kam ihr entgegen.
„Haben Sie lange gewartet?“ fragte sie.
„Darf ich sagen: ein Leben lang?“
„Dürfen Sie, aber ich würde Ihnen nicht glauben.“
„Dann sage ich: fünf Minuten.“
Sie fanden mühelos einen Tisch, und Ed bestellte die Getränke. Eine Limonade
für sie und für sich einen Kaffee. Sie redeten zuerst beiläufig übers Wetter. Dann
teilte sie ihm stolz mit, daß sie heute zum erstenmal wieder Auto gefahren war.
In ihren Briefen hatte sie erwähnt, daß sie Angst habe zu fahren.
„Jedesmal, wenn ich an einer Ampel halten mußte, hatte ich Herzklopfen. Doch
ich habe es geschafft.“
„Ich gratuliere Ihnen“, erwiderte Ed und prostete ihr mit seiner Kaffeetasse zu.
Sie lachten.
Er zeigte ihr Fotos seiner Kinder, und sie erzählte ihm, daß John und sie sich
immer Kinder gewünscht hatten. Sie sprachen über den Verlust, den sie beide
erlitten hatten, und wie schwierig es sei, einen neuen Lebenspartner zu finden.
Erst als Ed sich erhob, um sich noch einen Kaffee zu holen, blickte sie sich um.
Sie entdeckte Clint sofort. Er lehnte draußen in der Passage an der Wand eines
Geschäfts und sah herüber. Als er ihren Blick nun bemerkte, lächelte er. Sie
schüttelte den Kopf und bedeutete ihm mit Gesten und Mienenspiel, er solle
verschwinden. Er straffte die Schultern, und sie konnte seinen resignierten
Seufzer regelrecht hören. Langsam ging er dann weg, drehte sich aber noch
einmal um, bevor er außer Sichtweite war.
„Möchten Sie wirklich keine Limonade mehr?“ fragte Ed, der nun zurückkam.
„Nein, danke.“
„War das jemand, den Sie kennen?“ Ed wies dorthin, wo Clint gestanden hatte.
„Mein Chauffeur.“
Ed hob die Augenbrauen. „Ich dachte, Sie seien selbst gefahren.“
„Bin ich auch. Aber ich wollte ihn dabeihaben, falls ich in Panik gerate.“
„Oder um Sie vor mir zu beschützen?“
Sie lächelte. „Nein. Ich ging davon aus, daß es relativ unwahrscheinlich ist, daß
Sie mir hier mitten in einem Einkaufszentrum gefährlich werden.“
„Er sieht aber eher wie ein Bodyguard aus.“
„Ich glaube, Clint selbst betrachtet sich auch so. Jedenfalls habe ich das Gefühl,
daß er mir beständig folgt, wenn ich ausgehe. Beweisen konnte ich es ihm
allerdings noch nie.“
„Warum sollte er Ihnen folgen, wenn Sie es nicht wünschen?“
„Er befürchtet, daß mich jemand entführt.“
„Nun, das kann ich verstehen“, meinte Ed. „Sie sind eine sehr schöne Frau – und
sehr reich.“
„Letzteres empfinde ich eher als Fluch.“
„Seien Sie froh, daß Sie Geld haben. Wichtig ist, was man damit macht.“
„Genau das denke ich auch“, erwiderte sie. Ihr wurde Ed immer sympathischer.
„Ich habe Sie einmal im Fernsehen gesehen. Etwa vor drei Jahren. Sie trugen
damals eine Halskrause.“
„Das war direkt nach meinem Autounfall. Ich glaube, der Fernsehauftritt bezog
sich auf den Rembrandt, den John damals gerade gekauft hatte.“
„Und den Sie vor kurzem dem Art Institute geschenkt haben. Es ist schon
merkwürdig. Als Sie das Fernsehinterview gaben, betrauerte ich gerade den
Verlust meiner Frau. Dennoch war etwas an Ihnen, das mich unwiderstehlich
anzog. Vor vier Monaten lese ich dann diesen Artikel über Sie und Ihren Wunsch,
Liebesbriefe zu erhalten.“
„Es ging eigentlich nur um den Rembrandt“, korrigierte sie ihn lächelnd. „Ich
habe nie gesagt, daß ich Liebesbriefe haben will.“
„Das haben Sie mir in Ihrem ersten Brief auch erklärt. Sie erinnern sich bestimmt
auch, daß ich Ihnen keinen Liebesbrief schrieb. Ich wollte nur ausdrücken, wie
sehr ich nach dem Tod Ihres Mannes mit Ihnen fühlte.“
„Ihr Brief hat mich auch wirklich sehr berührt, Ed. Ich fühlte, daß Sie mich
verstehen.“
Fast zwei Stunden lang wanderte Clint in der Einkaufsmeile auf und ab. Er sah
Shannon lachen und angeregt plaudern und wie sie sich anmutig das Haar aus
dem Gesicht strich.
Sitwell konnte nicht den Blick von ihr lösen. Nicht, daß er dem Mann das
vorwerfen konnte.
Sitwell sah nicht gerade umwerfend aus, war aber nicht unattraktiv. Er dachte an
sein Gespräch mit Shannon vorhin im Wagen. Das Aussehen eines Mannes spielte
für sie nicht die Hauptrolle. Auch seine Vergangenheit interessierte sie wenig.
Verhalte ich mich zurückhaltender als nötig? fragte er sich nun.
Zweimal hatte sie sich ihm eindeutig genähert. In jener Nacht in der Küche hatte
ihn sein Verlangen, Shannon in die Arme zu nehmen, fast überwältigt, und als sie
mit ihm tanzte, hätte er sie am liebsten nie wieder losgelassen. Beide Male war
er geflohen und hatte seine Gefühle verleugnet. Um ihretwillen.
War das tatsächlich die richtige Entscheidung gewesen?
Sie hatte ihm erzählt, daß sie drauf und dran sei, sich in Cyrano zu verlieben.
Könnte sie mich lieben? überlegte er.
Erst als eine Passantin ihm einen schrägen Blick zuwarf, merkte er, daß er seinen
Gedanken laut ausgesprochen hatte. Still überlegte er weiter. Was würde wohl
geschehen, wenn er ihr gestand, daß er Cyrano war?
Wahrscheinlich würde sie sich totlachen.
Vielleicht aber auch nicht.
Doch ein Geheimnis, das zwischen ihnen stand, wollte er auf jeden Fall lüften. Er
wollte ihr die Wahrheit über ihren Unfall erzählen. Dann würde sie verstehen,
warum es sein Job war, sie zu beschützen. Sie mußte alles erfahren.
Danach konnte sie sich entscheiden.
Er sah nun, daß sie und Sitwell aufstanden – anscheinend wollten sie gehen –,
begab sich zum Haupteingang und wartete. Nach wenigen Minuten kam Shannon
dorthin, Sitwell war an ihrer Seite, und sie stellte sie einander vor.
„Also dann, bis morgen abend, Ed“, sagte sie danach lächelnd.
„Ich hole Sie um sechs Uhr ab, Shannon“, antwortete Sitwell.
„Hätten Sie etwas dagegen, mich nach Hause zu fahren, Clint?“ fragte sie ihn
dann, als sie den Mercedes erreicht hatten.
„Dafür werde ich bezahlt.“ Er hielt ihr den Wagenschlag auf.
„Dafür, mich in der Gegend herumzukutschieren und ein Auge auf mich zu
haben?“
„Ich bin nur spazierengegangen.“
„Natürlich.“ Sie grinste fröhlich und stieg ein. „Was halten Sie von’ Ed?“
„Er wirkt nett“, meinte er vorsichtig. „Und was halten Sie von ihm?“
„Er ist intelligent, interessant und kann ebenso zuhören wie erzählen.“
„Sie mögen ihn also?“
„Ja“, erwiderte sie ohne Zögern. „Wahrscheinlich halten Sie das für naiv, weil ich
diesen Mann noch gar nicht richtig kenne. Aber ich mag, was ich heute gesehen
und gehört habe. Und ich mag seine Briefe. Er hat außerdem Humor. Als er mir
eine Anekdote über einen der Vorstände seiner Firma erzählte…“
Er stieg ins Auto, und während sie dann nach Hause fuhren, wiederholte sie die
Geschichte, die Sitwell ihr erzählt hatte. Sie wirkte zum erstenmal seit Johns Tod
wieder wirklich ausgelassen und fröhlich. Fast ein wenig stolz berichtete sie ihm von Sitwells raschem Aufstieg in der Geschäftswelt. Ich habe also recht behalten, dachte Clint. Edward J. Sitwell war der richtige Mann für sie. Ihn sollte sie heiraten, mit ihm Kinder bekommen und mit ihm alt werden. Und nicht einen Kerl von der Straße, der über die ersten Schritte seiner Lebensplanung noch nicht herausgekommen war. Der wahrscheinlich mehr darüber wußte, wie man das Sicherheitssystem einer Firma knackte als darüber, wie man sich in ihr hochdiente. Er blickte in den Rückspiegel und sah das Leuchten in Shannons Augen. Da entschloß er sich, daß Cyrano für immer ein Unbekannter bleiben sollte. Und daß Clint Dawson bald seine Kündigung einreichen würde. Alles andere war ein unerfüllbarer Traum.
8. KAPITEL Clint warf das graue Papier nun endgültig fort, auf dem er seine CyranoBriefe an Shannon verfaßt hatte. Ganz davon abgesehen, daß Shannon auch keine Briefe mehr an Cyrano auf das Abstelltischchen in der Empfangshalle legte, damit Clarissa sie abschickte. Er vermutete, daß sie mittlerweile auch keinen Gedanken mehr an Cyrano verschwendete. Seit dem Samstag, an dem sie Sitwell persönlich kennengelernt hatte, ging sie jetzt jeden Abend mit ihm aus. Ins Restaurant, ins Kino, zum Tanzen und ins Konzert. Am vierten Juli fuhr sie mit Sitwell und seinen Kindern zum Detroit River, um das Feuerwerk anzusehen. Eine Woche darauf begleitete sie ihn auf eine Messe. Er, Clint, folgte ihnen die ersten Male, um sicherzustellen, daß Shannon nichts passierte. Doch Sitwell war immer an ihrer Seite, und als er Shannon zum erstenmal küßte, fand er es an der Zeit, die Beschattung aufzugeben. Der Monat verging, und er redete sich ein, daß er sich für Shannon freuen mußte. Schließlich geschah genau das, was er sich für sie erhofft hatte. Er schmiedete Pläne, die seine eigene berufliche Zukunft betrafen, und während Shannon sich mit Sitwell amüsierte, sah er den Anzeigenteil der „Free Press“ durch und besichtigte bezahlbare Gebäude. Bald würde es soweit sein, daß er kündigen konnte. Trotzdem war er todunglücklich. Ende des Monats war er dann froh, als sein freier Tag war. Er floh förmlich aus seinem Zimmer, um nicht an Shannon denken zu müssen. Ihr Glück tat ihm weh. Denn obwohl er sich tausendmal sagte, daß es so das beste für sie sei, litt er schrecklich. Er wollte gerade aus dem Haus eilen, da blieb er wie angewurzelt stehen. Auf der untersten Treppenstufe der Eingangshalle saß Shannon. Ihre geröteten Augen verrieten ihm sofort, daß sie geweint hatte. Nun starrte sie mit hängenden Schultern ins Leere. „Was ist los?“ fragte er und ging zu ihr. Sie sah auf und lächelte traurig. Dann zuckte sie die Achseln. Er setzte sich neben sie, berührte sie aber nicht. „Sie wirken, als hätten Sie Ihren einzigen Freund verloren.“ „Es ist auch fast so“, erwiderte sie und blickte zu Boden. „Erinnern Sie sich, was für ein Tag heute ist?“ „Nein.“ „Vor zehn Jahren haben John und ich an diesem Tag geheiratet.“ Sie schaute ihn an. „Es war ja keine große Hochzeit, aber John schwor mir ewige Liebe, und ich ihm ebenso, und der Friedensrichter hat uns dann zu Mann und Frau gemacht.“ „Das ist doch auch das einzige, was zählt, oder?“ „Ja.“ Sie seufzte. „Meine Mutter war anwesend und hatte ihre neueste Flamme mitgebracht. Ginny, meine damalige beste Freundin, war auch da. Paul war Johns Trauzeuge. Nach der Zeremonie sind wir Mittagessen gegangen.“ Sie lächelte. „Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, wo. Auch nicht mehr daran, was ich gegessen habe. Ständig zwickte ich mich, um zu prüfen, ob ich wache oder träume.“ „Cinderella heiratete ihren Prinzen.“ „Genau so fühlte ich mich. Es war wie im Märchen. Dann kamen wir hierher, und John beichtete es seiner Mutter. Damals habe ich erkannt, was eine böse Hexe ist.“ „Seine Mutter akzeptierte Sie nicht?“ Shannon lachte. „Nein, absolut nicht. Zwei Jahre lang gab sie mir das Gefühl, ein
unerwünschter Eindringling zu sein. Erst als sie den Schlaganfall hatte und ich sie
pflegte, änderte sich das. Am Ende sagte sie sogar, sie sei froh, daß John mich
geheiratet hat.“ Sie seufzte wieder und senkte den Blick. „Ach, John… manchmal
tut die Erinnerung immer noch weh.“
Er machte sich Sorgen um sie. So niedergeschlagen war sie seit Monaten nicht
mehr gewesen. „Werden Sie sich heute mit Ed treffen?“ fragte er, um sie auf
andere Gedanken zu bringen.
„Ed ist in New York. Die ganze Woche.“
„Haben Sie sonst irgendwelche Pläne?“
„Nein.“
„Möchten Sie etwas mit mir zusammen unternehmen?“
Überrascht schaute sie auf und lächelte. „Ja, gern.“
„Dann erlauben Sie mir, daß ich Sie begleite.“ Er erhob sich und verbeugte sich
galant. „Ihr Wunsch ist mir Befehl.“
Shannon sah, daß Clint Jeans und TShirt trug, wie üblich an seinem freien Tag.
„Sie wollten heute doch Ihre Mutter besuchen, nicht wahr?“
„Sie wird es überleben, wenn ich eine Woche mal nicht erscheine.“
Sie überlegte kurz. „Ich würde gern erleben, was Sie an Ihren freien Montagen
tun. Hingehen, wo Sie normalerweise hingehen. Sehen, wo Sie gelebt haben.
Ihre Mutter besuchen.“
„Meine Mutter redet aber ununterbrochen.“
„Dann erzählt sie mir vielleicht etwas über Sie“, sagte Shannon verschmitzt. Sie
stand auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Außerdem möchte ich gern
mal Motorrad fahren.“
„Auf der HarleyDavidson?“
Shannon lachte und fühlte sich plötzlich abenteuerlustig und viel fröhlicher als
noch Minuten zuvor. „Sie wissen ja gar nicht, wie oft ich Sie schon bitten wollte,
mich mal mitzunehmen.“
„Nein, das ist zu gefährlich.“
„Sie haben aber versprochen, daß Sie heute tun werden, was ich wünsche.“
Clint blickte auf Shannons Shorts und die Sandaletten. „Okay, aber ziehen Sie
sich lange Hosen und Stiefel oder Turnschuhe an.“
„Geben Sie mir fünf Minuten“, rief sie und eilte die Treppe hinauf. Shannon trug
den Helm, den Clint für Angelo gekauft hatte. Er war ihr natürlich viel zu groß,
und als sie das Visier schloß, mußte Clint lachen.
„Sie sehen aus wie ein Wesen von einem anderen Stern.“
„So fühle ich mich auch.“ Ihre Worte wurden durch den Helm gedämpft, und sie
schlug das Visier zurück. Er sah, daß ihre Augen erwartungsvoll funkelten. „Ich
bin erst ein einziges Mal Motorrad gefahren“, bekannte sie und begutachtete die
Maschine, als ob sie sie kaufen wollte. „Aber es war ein ganz anderes Modell. Viel
langweiliger.“ Sie lachte. „Das Motorrad damals gab unterwegs seinen Geist auf,
und ich mußte schieben helfen. Es war die letzte Verabredung, die ich mit diesem
Typen hatte.“
„Seien Sie nicht überrascht, wenn auch meine Harley streikt.“ Es wäre nicht das
erste Mal. „Sind Sie bereit?“ Er klappte die Fußstützen für sie herunter, schwang
sich dann auf den Sitz und wartete, bis sie hinter ihm saß.
„Fertig.“
Er fuhr nicht so schnell wie sonst und nahm auch die Kurven nicht so rasant. Als
Shannon sich weiter nach vorn beugte, berührte ihre Brust seinen Rücken. Er
empfand das so intensiv, als wären sie und er nackt.
Bald mußte er feststellen, daß es kein Vergnügen war, in erregtem Zustand über
die schlaglochübersäten Straßen zu fahren. Am liebsten hätte er die Fahrt
unterbrochen, um wieder Distanz zu Shannon zu schaffen. Außerdem fand er es
mittlerweile falsch, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Je näher sie dem Ort
kamen, an dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, desto
unbehaglicher fühlte er sich.
Shannon wußte, daß Clints Mutter im Süden von Detroit lebte. Allerdings hätte
sie sich nicht im Traum vorgestellt, daß die Gegend so heruntergekommen war.
Viele der häßlichen Backsteingebäude standen leer, waren ausgebrannt oder mit
Brettern vernagelt. An den Straßenecken standen Gruppen von Teenagern,
während die wenigen erwachsenen Männer sich in Hauseingängen hielten.
Welcher Hautfarbe die Menschen hier auch waren – ihr Gesicht wirkte in gleicher
Weise abweisend. Stirnrunzelnd und kalt sahen sie Clint und sie an. Nur selten
hob einer die Hand zum Gruß. Wenn doch, grüßte Clint zwar zurück, fuhr aber
weiter.
Sie verstärkte ihren Griff um seine Taille und war froh, daß die Harley so stark
und schnell war. Es schien ihr, als ob die Maschine zu ihm gehörte. Und
wahrscheinlich nur, weil sie heute mitfuhr, drosselte er das Tempo. Doch sie
spürte, welche Beherrschung ihn das kostete.
Das Haus, vor dem er dann anhielt, war ebenso alt wie die übrigen, doch der
kleine Vorgarten war von einem Holzzaun umgeben. Zögernd löste sie ihre Hände
von seiner Taille und sah sich um.
Vier halbstarke Jungen strebten auf sie zu. Sie lächelten. „Hey, Clint, wie geht’s?“
rief einer von ihnen.
„Geht so“, erwiderte er, stieg vom Motorrad und nahm seinen Helm ab. „Und wie
geht’s dir, Leon?“
„Man schlägt sich so durch.“ Leon starrte sie unverhohlen an. Nebenbei fragte er
Clint: „Kommst du heute nachmittag zu unserem Spiel?“
Clint verzog das Gesicht. „Spielt ihr etwa heute schon?“
„Um drei. Drüben im Park. Gehört die Frau zu dir?“
„Dies ist Cinderella.“
„Du machst Witze, Mann.“
„Käme nie auf die Idee.“ Clint nahm sie bei der Hand und stabilisierte das
Motorrad, als sie nun ebenfalls absaß. „Cinderella“, sagte er dann, „darf ich Ihnen
Leon, Bennett, Deon und Hasan vorstellen.“
„Hi“, begrüßte sie die vier und nahm den Helm ab. Um ihr Haar zu lockern,
schüttelte sie den Kopf. Alle vier Jungs starrten mit offenem Mund auf ihr
hellblondes Haar, das ihr nun in weichen Wellen über die Schultern fiel.
„Scheint, daß du Prince Charming bist, Clint“, meinte Leon.
Clint grinste. „Na klar.“ Er schob die Harley zum Gartentor. „Cinderella hat heute
die Ehre, meine Mutter kennenzulernen. Queen Charming.“
„Deine Mutter ist alles andere als charmant“, entgegnete Deon. „Erst heute
morgen hat sie mich angeschrien.“
„Weil du ihre Zeitung geklaut hast“, stellte Bennett klar.
„Ich hab’ sie ihr doch zurückgebracht, Mann. Wollte nur was nachschauen. Hab’
mir die Zeitung nur ausgeborgt, Clint.“
„Du kennst doch meine Mutter. Sie hat es nicht gern, wenn man sich was von ihr
ausborgt.“ Clint reichte ihr einen Schlüssel. „Könnten Sie bitte das Tor für mich
öffnen?“
Sie tat es und betrat den Vorgarten.
„Ich versuche, heute nachmittag zum Spiel zu kommen“, sagte Clint zu Leon und
folgte ihr mit dem Motorrad. „Aber ich kann dir nichts versprechen. Auf jeden Fall
viel Glück.“
„Schon okay, Mann.“
„Wir kommen“, signalisierte sie Leon, weil sie sah, wie enttäuscht er war.
Nachdem Clint Tor und Motorrad sorgfältig abgeschlossen und die Helme in
einem Schuppen verstaut hatte, den er ebenfalls abschloß, sagte er beiläufig:
„Wenn man in dieser Gegend nicht alles wegschließt, läuft man Gefahr, daß es
sich jemand ,ausborgt’.“
„Verstehe.“ Sie dachte an die hohe Mauer und das große Tor, die ihr Anwesen
sicherten. „Ist in der Gegend, wo ich lebe, nicht viel anders.“
„Stimmt.“ Er lachte und führte sie zur Hintertür. „Wir bleiben nicht lange. Ein
kurzes Hallo und auf Wiedersehen, dann sind wir frei, zu tun und zu lassen, was
wir mögen. Ich muß Sie übrigens warnen“, fügte er hinzu und wirkte wieder
angespannt. „Glauben Sie meiner Mutter kein Wort.“
Mrs. Dawson war äußerst überrascht, als Clint ihr Shannon vorstellte.
„Du hast sie hierher gebracht?“ rief sie. Dann gebot sie einer kläffenden, kleinen
Promenadenmischung „Coco, sei still“ und reichte ihr die Hand. „Freut mich sehr,
Sie kennenzulernen. Mein Sohn hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“
Zu viel, fürchtete Clint. „Sie wollte wissen, wie ich meinen freien Tag verbringe,
Mom. Wir sind nur auf einen Sprung vorbeigekommen.“
„Egal. Jedenfalls sind Sie herzlich willkommen. Coco!“ rief Mrs. Dawson erneut
und nahm das Hündchen auf den Arm. „Sie müssen entschuldigen. Coco ist mein
Wachhund. Pst“, beruhigte sie das Tier und teilte Clint dann mit: „Deine
Schwester wollte heute auch vorbeikommen. Sie möchte ihren Lebenslauf auf
dem Computer tippen. Wollte außerdem wissen, ob du ihr von diesem Gary nicht
auch einen besorgen kannst. Aber ich habe ihr gesagt, daß du mit dem Kerl wohl
nichts mehr zu tun haben willst, nachdem er dich gezwungen hat…“
„Warum gehen wir nicht rüber in die Küche?“ unterbrach Clint ihren Redefluß.
Daß seine Mutter die Sache mit Gary ausplauderte, hätte ihm gerade noch
gefehlt. Er ignorierte Shannon und drängte seine Mutter in die Küche. Dort
flüsterte er ihr eindringlich zu: „Kein Wort über diese Briefe oder über Gary.“
Mrs. Dawson warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte sie sich zu
Shannon um, die nun auch auf dem Weg in die Küche war. „Ah, verstehe.“
Clint fühlte sich hilflos ausgeliefert.
„Möchten Sie ein Glas Eistee?“ fragte seine Mutter, als Shannon eintrat.
„Wir bleiben nicht lange, Mom.“
„Ich würde gern ein Glas Eistee trinken“, erwiderte Shannon und sah sich um.
„Hier ist es nett.“
„Clint hat viel Arbeit in diese Hütte gesteckt.“ Mrs. Dawson setzte sich und nahm
Coco auf den Schoß. „Er hat sogar eine Klimaanlage installiert. Sei so lieb und hol
uns den Eistee, Clint.“
Clint holte das Gewünschte und goß jedem ein kleines Glas voll.
„Was halten Sie von meinem Sohn?“
„Ich finde ihn sehr nett“, antwortete Shannon.
„Er ist der einzige von meinen Jungs, der einen Penny wert ist. Seinem Vater ist
das nicht zu verdanken. Sie wissen über ihn und Clints Brüder doch Bescheid,
oder?“
„Mom, sie hat bestimmt kein Interesse an unserer Familiengeschichte.“
„Clint hat es mir erzählt“, erwiderte Shannon. „Zumindest einen Teil davon.“
„Auch daß sein Vater ein Ganove war? Oh, er sah verdammt gut aus. Groß,
dunkelhaarig. Braune Augen. Und reden konnte der Kerl, daß einem alles
verging. Ich war gerade sechzehn, als er mich rumkriegte. Auf dem Rücksitz
seines Autos. Ich war natürlich sofort schwanger.“
„Mom!“ rief Clint.
„Aber genau so war es doch.“
„Meine Mutter wurde mit mir schwanger, als sie achtzehn war“, sagte Shannon.
„Haben Sie noch Geschwister?“ fragte Mrs. Dawson.
„Eine zweijährige Halbschwester.“ Shannon lachte. „Meine Mutter nahm an, sie
sei zu alt, um noch mal schwanger zu werden, und hatte sich nicht mehr
vorgesehen. Nicht besonders klug, würde ich sagen.“
„Nun, wenn Ihre Mutter es geschafft hat, nur zweimal schwanger zu werden, war
sie ein ganzes Stück klüger als ich. Mit vierundzwanzig hatte ich bereits fünf
Kids. Drei Jungs und zwei Mädels. Carrie starb an Hirnhautentzündung, als sie
drei war. Aber nach der Geburt von Lizzy habe ich mich dann sterilisieren
lassen.“
„Sie haben auch einen Sohn verloren, nicht wahr?“ fragte Shannon.
Clint war überrascht, daß sie sich daran erinnerte.
„Könnte genausogut sagen, zwei“, antwortete Mrs. Dawson traurig und strich
Coco übers Fell. „Wenn sie ihn drin im Gefängnis nicht fertigmachen, killen sie
Clay innerhalb eines Jahres, wenn er wieder draußen ist.“
„Vielleicht ändert er sich ja“, meinte Clint, obwohl er es bezweifelte.
„Mein Mann hat seine Kinder gut erzogen“, sagte Mrs. Dawson bitter. „Er brachte
ihnen bei zu lügen und zu stehlen. Das war der einzige Weg, den sie kannten, um
Geld zu verdienen.“ Sie grinste Clint an. „Komisch, daß du jetzt Leute beschützt.“
„Nicht Leute, nur ihre Besitztümer“, korrigierte Clint sie rasch.
„Mein verstorbener Mann war der Meinung, daß das, was er ihm beigebracht hat,
Clint mal sehr nützlich sein würde. Ich bin froh, daß er zumindest damit
rechtbehalten hat.“ Zu Clint gewandt fuhr sie fort: „Don Williams hat angerufen.
Er wollte wissen, ob du heute nachmittag zum Spiel kommst. Wo es stattfindet,
habe ich leider vergessen.“
„Ich habe gerade Leon getroffen. Er sagte, sie spielen im Park. Ich weiß aber
noch nicht, ob ich hingehe.“
„Don Williams ist der Mann, der Clint geändert hat“, erzählte Mrs. Dawson. „Er
fand ihn, nachdem ihn eine feindliche Gang zusammengeschlagen hatte. Danach
kümmerte er sich um ihn. Hat ihn zum Ringer ausgebildet. Zeig ihr mal ein paar
der Medaillen, die du gewonnen hast, Clint.“
„Shannon hat daran bestimmt kein Interesse, Mom.“
„Doch, habe ich“, erklärte Shannon.
„Er hat sich gut entwickelt“, sagte Mrs. Dawson stolz, als Clint hinausging, um
seine Auszeichnungen zu holen. „Das wichtigste war, daß Don ihm geholfen hat,
das College zu beenden und in die Marine einzutreten. Heute hilft Clint ihm mit
den Jungs von der Straße. Leon ist einer seiner Schüler.“ Clint kam zurück, und
sie sagte: „Leon meint, du solltest ein Buch schreiben.“
„Klar“, erwiderte Clint trocken.
„Ich habe Leon vorhin vorm Haus kennengelernt“, erzählte Shannon.
„Die Jungs hängen ständig hier rum.“ Mrs. Dawson wies auf die Holzschachtel,
die Clint auf den Tisch gestellt hatte. „Los, mach sie schon auf.“
„Ja, Mom, zu Befehl.“
Shannon spähte neugierig hinein. In der Schachtel lagen goldene, silberne und
bronzene Medaillen. Manche hingen an blauweißroten Schleifen, andere waren
einfach nur aufeinandergestapelt. Sie nahm ein paar und las die Inschriften.
„,Sieger im Freistil, Klasse Schwergewicht. Zweiter Platz, offene nationale
Meisterschaften im Freistil, Klasse Schwergewicht’. Ziemlich beeindruckend.“
„Haben Sie schon mal seine Gedichte gelesen?“
„Gedichte?“ fragte Shannon verblüfft.
„Ich werde Ihnen meine Gedichte auf keinen Fall zeigen“, stellte Clint klar. „Wir
sollten jetzt gehen.“
„Warum hast du es so eilig?“ fragte seine Mutter.
„Ich habe dir doch gesagt, daß wir…“
Die Haustür wurde geöffnet, und Clint wußte, daß es nun kein Entkommen mehr
gab. Seine Schwester Lizzy war im Anmarsch.
„Lizzy hat gehört, daß Chrysler Leute einstellt. Deshalb braucht sie einen
Lebenslauf.“
„Bringt sie ihre Kinder mit?“ Clint liebte seinen Neffen Todd und seine Nichte Jill.
Allerdings waren die beiden richtige Rabauken.
„Das nehme ich an. Sie haben Sommerferien. Was soll sie sonst mit ihnen tun?
Mögen Sie Kinder?“
„Ja, sehr“, antwortete Shannon.
Clint konnte nur hoffen, daß sie aufrichtig war. Denn Todd und Jill stellten sie auf
eine harte Probe. Sie platzten ins Zimmer und schrien nach ihrer Großmutter und
Limonade. In wenigen Minuten herrschte das totale Chaos. Shannon wurde
vorgestellt, Fragen prasselten auf sie ein, und ein Teil der Limonade landete auf
dem Küchentisch.
Er stellte bewundernd fest, wie leicht es Shannon fiel, inmitten dieser
Turbulenzen ganz sie selbst zu bleiben. Sie lachte über die vierjährige Jill, die
ihren sieben Jahre alten Bruder ärgerte und sich dann auf ihren Schoß flüchtete.
Jills dunkler Haarschopf bildete einen reizvollen Kontrast zu Shannons Blond.
Jill zögerte natürlich nicht, eine blonde Strähne zu ergreifen und zu fragen: „Sind
die echt?“
Lachend zupfte Shannon an einer Strähne von Jills Haar. „So echt wie deine.“
„Mein Dad sagt, Blondinen wären dumm und würden lügen. Außerdem sind die
meisten gar nicht wirklich blond“, verkündete Todd.
„Nun, ich glaube nicht, daß ich dumm bin“, sagte Shannon. „Und mein Haar ist
wirklich blond. Lügen tue ich auch nicht. Lügen ist das ekelhafteste, was ich mich
vorstellen kann.“
Jill blickte zu ihrer Mutter. „Mom wäscht uns den Mund mit Seife, wenn wir
lügen.“
„Ich kann mich gut an das einzige Mal erinnern, als meine Mutter zu diesem
Mittel gegriffen hat“, erzählte Shannon und wandte sich an Lizzy. „Ich vermute,
die beiden halten Sie ganz schön auf Trab.“
„Stimmt.“ Lizzy blickte zu Clint. „Würde es dir was ausmachen, die beiden zu
beschäftigen, während ich am Computer sitze?“
„Ihr dürft Coco mit nach draußen nehmen“, schlug Mrs. Dawson den Kindern vor.
„Und Clint, könntest du bei der Gelegenheit meinen Zaun flicken? Die Jungs
haben beim Spielen ein Loch reingemacht. Zwei Bretter sind kaputt.“
„Ich sollte besser bei Shannon bleiben“, sagte Clint. „Sie…“
„Ich werde mich gut unterhalten“, unterbrach ihn Shannon.
Sichtlich zögernd ging Clint mit den Kindern und dem Hund nach draußen.
9. KAPITEL Nach etwa fünfzehn Minuten trat Lizzy ans Fenster. „Schauen Sie mal, Shannon.
Der kleine Kerl schuftet wie ein Großer.“
Todd hämmerte auf einen Nagel ein, der im unteren Ende der Zaunlatte steckte,
die Clint gerade befestigte, und auf dem kleinen Stück Wiese spielte Jill mit Coco.
Die Szene hatte etwas so Familiäres, daß Shannon irritiert war. Seit dreieinhalb
Jahren kannte sie Clint als Angestellten, als Beschützer und attraktiven Mann,
aber nie hätte sie angenommen, daß er gut mit Kindern umgehen konnte.
„Todd betet ihn an“, sagte Lizzy und seufzte. „Ich frage mich, ob Clint manchmal
an seinen eigenen kleinen Sohn denkt.“
Völlig verblüfft blickte Shannon sie an.
„Sie wissen doch, daß er verheiratet war, oder?“ fügte Lizzy hinzu. „Und daß
seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kam.“
„Davon hat er mir erzählt. Aber ich wußte nicht, daß er einen Sohn hatte.“
„Ein verdammtes Unglück“, sagte nun Mrs. Dawson, die am Küchentisch saß.
„Tanya war ein nettes Mädchen.“
„Sie war schwanger, als sie starb“, erläuterte Lizzy. „Im sechsten Monat. Die
Autopsie ergab, daß es ein Junge geworden wäre.“ Versonnen blickte sie wieder
nach draußen. „Ja, Clint würde ein guter Vater sein.“
„Das ist offensichtlich“, erwiderte Shannon. Clint leitete Todd mit einer
Engelsgeduld an und war liebevoll und fürsorglich zu Jill.
„Sie hatten nie Kinder?“ fragte Mrs. Dawson.
„Nein. Mein Mann und ich konnten keine bekommen.“
„Clint sagt, Sie suchen einen neuen Ehemann. Vielleicht klappt es ja mit dem…“
„Ich bin nicht auf der Suche“, widersprach Shannon.
„Ich habe gehört, daß Sie Briefe von einem mysteriösen Fremden erhalten“, warf
Lizzy ein.
„Sie meinen bestimmt Cyrano.“ Shannon war überrascht, daß Clint es seiner
Schwester erzählt hatte.
„Ja, so heißt er“, erwiderte Lizzy lächelnd. „Haben Sie eine Idee, wer dieser
Cyrano sein könnte?“
„Nein. Aber ich habe natürlich versucht, es herauszubekommen. Doch Clint sagt,
daß man ohne gerichtliche Erlaubnis das Postfach nicht identifizieren lassen
darf.“
„Mom“, Lizzy blickte fragend zu ihrer Mutter. „Hat Clint nicht gesagt, er wisse,
wer diese Briefe schickt?“
„Das erinnere ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß sie Briefe von irgendeinem
Cyrano erhält.“
„Was? Clint weiß, wer Cyrano ist?“ fragte Shannon heftig.
„Ich glaube, er sagte so was. Aber warum fragen Sie ihn nicht selbst?“
entgegnete Lizzy.
„Das werde ich“, erklärte Shannon. „Und wehe, wenn er Bescheid weiß…“
Clint spielte mit Jill auf dem Rasen, und das kleine Mädchen jauchzte, als er sie
hochhob. Als Shannon nun aus der Hintertür trat und auf ihn zukam, setzte er Jill
ab und blickte Shannon abwartend entgegen.
Ihm war beim Spielen und Arbeiten etwas heiß geworden, und er befürchtete,
nicht mehr ganz frisch auszusehen. „Wenn Sie gehen wollen, möchte ich mich
kurz noch…“
„Ich will noch nicht gehen“, unterbrach ihn Shannon. „Ich habe nur eine Frage.“
„Und die wäre?“ erwiderte er wachsam.
„Wer ist Cyrano?“
Er blickte automatisch zum Haus. „Was hat meine Schwester Ihnen erzählt?“ „Daß Sie wüßten, wer Cyrano ist.“ „Woher sollte ich das wissen?“ „Keine Ahnung.“ „Ich weiß es auch nicht. Cyrano ist für mich ein ebenso großes Geheimnis wie für Sie.“ „Ist das wirklich wahr?“ „Ja“, behauptete er. „Ich habe Coco einen Trick beigebracht“, mischte sich Bill ein und zog Shannon am Hosenbein. „Willst du ihn sehen?“ „Mrs. Powell hat keine Zeit“, sagte Clint. „Sie möchte jetzt gehen.“ „Mrs. Powell hat alle Zeit der Welt“, konterte Shannon und kniete sich hin, so daß sie mit Jill auf gleicher Augenhöhe war. „Ich möchte Cocos Trick sehr gern sehen.“ „Ich kenne auch einen Trick“, rief Todd, der nicht ins Hintertreffen geraten wollte. „Willst du meinen auch sehen?“ „Auf jeden Fall.“ Shannon blickte zu Clint. „Ihre Mutter hat uns zum Mittagessen eingeladen.“ „Hätte ich mir denken können“, meinte er geschlagen und fragte sich, was als nächstes kam. Wie aufs Stichwort rief seine Mutter von der Hintertür aus: „Clint, mein Auto macht so ein komisches Geräusch. Hätte fast vergessen, es dir zu sagen.“ Er blickte Shannon an. „Wir müssen nicht zum Essen bleiben, wenn Sie nicht wollen.“ Shannon grinste und richtete sich auf. „Ich habe die Einladung aber schon angenommen. Außerdem haben Sie Lizzy doch versprochen, den Lebenslauf Korrektur zu lesen.“ „Stimmt.“ Innerlich fluchte Clint über seine Schwester, die nie ihren Mund halten konnte. Er sah hinüber zur Garage. „Ein komisches Geräusch“, murmelte er und setzte sich in Bewegung. Jill führte Shannon ihre Tricks mit Coco vor, und Todd schlug Shannon zu Ehren ein paar Purzelbäume. Danach spielte Shannon mit den Kindern Verstecken und gab vor, weder Jill noch Todd zu sehen, die sich hinter einem Rosenstrauch und einer Hecke verborgen hatten. Clint war nicht sehen, dafür aber um so besser zu hören. Aus der Garage drang lautes Hämmern und Fluchen. Um zwölf Uhr rief Mrs. Dawson alle zum Mittagessen. Shannon half Lizzy, die Kinder zu säubern, und tat dann ihr Bestes, um ihr Makeup zu erneuern und ihr Haar halbwegs wieder in Ordnung zu bringen. Clint wartete im Flur, als sie aus dem Bad kam. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen ölverschmiert, und er roch nach Schweiß und Wagenschmiere. Rasch trat er einen Schritt zurück, als Shannon auf ihn zukam. „Vorsicht“, brummte er. Vorsicht ist das richtige Wort, dachte Shannon, die in diesem Moment den fast unwiderstehlichen Impuls verspürte, Clint zu umarmen. Zweimal hatte er sie bereits zurückgewiesen. Was war es, das sie so sehr zu ihm hinzog? Oder wollte sie einfach nur eine Eroberung machen? Doch was es auch sein mochte – sie streckte nun die Hand aus und berührte seine Brust. Er atmete heftig ein, und sie konnte sein rasendes Herzklopfen fühlen. „Haben Sie es herausbekommen, Clint?“ Offenbar wußte er nicht, was sie meinte. Denn er sagte nichts, sondern blickte ihr nur unverwandt in die Augen.
„Woher das seltsame Geräusch kommt“, fügte sie hinzu. Sie behielt ihre Hand,
wo sie war. Sein Brustkorb hob und senkte sich, und in seinen Augen glomm
Verlangen. Doch dann senkte er den Blick.
„Ja, ich habe es herausbekommen. Und Sie machen sich Ihre Hände schmutzig.“
Er ging um sie herum und verschwand im Bad.
Sie starrte auf die Badezimmertür und fragte sich, ob es wahr war, was sie in
seinen Augen gelesen hatte – oder nur eine Täuschung.
Nach dem Mittagessen forderte Lizzy ihren Bruder auf, sich den Lebenslauf
anzusehen, den sie vormittags getippt hatte, und Clint änderte mehrere Worte,
so daß das Ganze etwas dynamischer klang.
„Kaum zu glauben, daß Clint weder Lesen noch Schreiben konnte, bis er fünfzehn
war“, bemerkte Lizzy zu Shannon. „Heute komme ich zu ihm, damit er mir die
Fehler anstreicht. Auf dem College hat er in Englisch die beste Note bekommen.“
„Lizzy, Shannon interessiert sich nicht für meine Schulnoten“, knurrte Clint.
Lizzy grinste nur. „Seine Frau, Tanya, hat mir mal erzählt, daß er ihr die
schönsten Liebesbriefe geschrieben hat, die man sich vorstellen kann. Und seine
Gedichte…“
„Das mußt du umstellen.“ Clint wies auf eine Passage im Lebenslauf. „Das
aktuelle immer zuerst.“
„Wollen Sie mir Ihre Gedichte nicht doch mal zeigen, Clint?“ fragte Shannon und
war aufrichtig interessiert.
„Nein“, sagte Clint nachdrücklich und wandte sich wieder an seine Schwester.
„Vergiß deine Adresse nicht.“
Lizzy griff nach einem Stift, um sie hinzuzufügen. „Mit Straße und Hausnummer,
oder nur die Postfachnummer?“
„Postfach…“ Ein Muskel zuckte in seiner Wange, und Clint nahm Lizzy den Stift
aus der Hand. „Das kannst du später machen. Der Rest ist in Ordnung.“ Er stand
auf und drehte sich zu Shannon. „Es ist Zeit, daß wir gehen.“
Lizzy und Mrs. Dawson protestierten zwar, doch Shannon spürte, daß es Clint
ernst war. Die Stimmung zwischen ihm und seiner Schwester wirkte angespannt.
Erst nachdem sie sich verabschiedet hatte und wieder hinter ihm auf der Harley
Davidson saß, schien er aufzuatmen.
„Was machen wir als nächstes?“ fragte er. Sie dachte einen Moment nach. „Ich
möchte mal über Land fahren. Richtig schnell. Mal sehen, was Ihre Maschine so
hergibt.“
„Los!“ rief Shannon gegen den Wind. „Schneller!“
Clint gab Gas, und sie rasten die Allee entlang, daß die grünen Bäume an ihnen
vorbeizusausen schienen. Der Wind pfiff an Shannons Helm vorbei, zerrte an
ihren Kleidern und kühlte ihre Haut. Shannon genoß das Brummen und Vibrieren
der Maschine, und die Arme fest um Clints Taille gelegt, fühlte sie sich so sicher
und lebendig wie noch nie.
Als das Ende der Allee in Sicht kam, verlangsamte Clint die Fahrt und hielt
schließlich an. „Na, wie war das?“ fragte er und wandte sich leicht um.
„Phantastisch!“
Er lachte, und sie freute sich darüber. Hoffentlich hörte er jetzt endlich auf, sie
nur als seine Chefin zu betrachten. Sie war eine Frau mit Leidenschaften und
Wünschen, und es war Zeit, daß er es wahrnahm.
Sie schob das Visier hoch und blickte sich tief einatmend um. Es duftete nach
frischgemähtem Heu, gemischt mit dem etwas modrigen Geruch eines nahen
Sumpfes, und nach den üppigen Wildblumen, die am Straßenrand wucherten.
Sie beugte sich ein wenig zu Clint. Er mußte im Bad seiner Mutter geduscht
haben, denn er roch so frisch nach Shampoo und Seife, daß sie am liebsten ihre
Nase gegen sein TShirt gepreßt und tief seinen Duft eingesogen hätte.
„Oh, Clint, es ist wundervoll hier draußen. Meine Mutter war mal mit einem
Farmer liiert. Ich wollte unbedingt, daß sie ihn heiratet, damit wir aufs Land
ziehen. Natürlich wurde nichts daraus.“
„Was hätten Sie auf dem Land denn angefangen?“ fragte Clint.
„Keine Ahnung“, erwiderte sie lachend. „Ich wollte halt immer hier draußen
leben. Vielleicht weil ich aus so einer heruntergekommenen Gegend komme. Ich
kann jedenfalls gut verstehen, warum Sie Ihre Mutter aus diesem Stadtviertel
herausholen möchten. War es in Ihrer Kindheit dort auch schon so schlimm?“
„Mehr oder weniger.“
„Ihre Kindheit war nicht gerade rosig, stimmt’s?“
Er zuckte die Achseln.
„Ich mag Ihre Mutter und Ihre Schwester.“
„Meine Schwester ist eine Nervensäge.“
„Was war nur los zwischen Ihnen?“
„Zwischen meiner Schwester und mir?“
„Ja, da war doch eine Verstimmung. Das habe ich genau gespürt.“
„Manchmal haben wir eben Meinungsverschiedenheiten“, antwortete Clint
ausweichend. „Wohin fahren wir als nächstes?“
Shannon blickte auf ihre Uhr. „Es ist fast drei. Zeit für Leons Spiel.“
„Es zwingt uns niemand, es uns anzusehen. Er würde verstehen, wenn ich nicht
komme.“
„Was Sie betrifft, mag das stimmen. Aber ich habe ihm fest versprochen zu
kommen. Und daher gehen wir auch hin.“
Shannon sprang auf, als Leon zum dritten Mal losspurtete, und feuerte ihn
ebenso laut an wie all die anderen Zuschauer, die auf der halbverrotteten
Holztribüne saßen. Trotzdem wirkte sie auf Clint wie eine Perle in einem Meer
von Steinen.
Er wußte, daß sie John früher zu Baseballspielen begleitet hatte. Doch im Tiger
Stadion hatte John immer eine Loge gemietet. Dort traf sich das Ehepaar Powell
mit Firmenvorständen oder Politikern und deren Ehefrauen. Zur Zeit jedoch war
Shannon umgeben von Teenagern und ein paar Eltern, die genügend Interesse
an ihren Kindern aufbrachten, um dem Baseballspiel beizuwohnen.
Er hatte Shannon vor dem Spiel mit Don Williams bekannt gemacht, und Don
hatte ihm anerkennend zugelächelt, bevor er sich an Shannons andere Seite
setzte. Er hatte ein paar Wortfetzen ihrer Unterhaltung aufgeschnappt, und es
hatte ihn nicht überrascht, daß es sich um die Arbeit im Gemeindezentrum
drehte. Anscheinend hatte Don eine weitere Verbündete gewonnen. Sogar über
eine baldige Spende für das Zentrum war gesprochen worden.
„Du schaffst es! Du schaffst es!“ rief Shannon im Chor mit den übrigen
Zuschauern.
Leon täuschte geschickt einen Werfer und verließ das dritte Mal.
Shannon lachte begeistert, ihre Augen strahlten, und sie klammerte sich vor
Aufregung an Clints Arm.
„Los!“ schrie sie, und Clint blickte aufs Spielfeld.
Leon hatte es fast bis zur Heimbase geschafft, als der nächste Schläger den Ball
verfehlte. Ein Fänger fing ihn, und der Schläger brachte sich rasch in Sicherheit.
Leon rannte los, doch es war abzusehen, daß er nicht schnell genug sein würde.
„Vorwärts und runter!“ brüllte Clint automatisch, und Shannon wiederholte das
Kommando.
Leon machte einen riesigen Satz und schoß im Fallen auf die Heimbase zu.
Staub wirbelte auf. Der Fänger hielt den Ball in der Hand. Leon lag vor ihm.
Sekundenlang rührte der Schiedsrichter sich nicht, und Shannon klammerte sich
noch fester an Clints Arm. Dann gab der Schiedsrichter sein Okay.
„Geschafft!“ rief Shannon. Sie klatschte begeistert und feierte die Sieger
gemeinsam mit den anderen.
Clint lächelte, als er die Abdrücke ihrer Finger auf seinem Arm sah.
Don stieß ihn an. „Mal schauen, ob wir ein paar Dollar zusammenbekommen,
damit wir das Team auf eine Pizza einladen können.“
Sofort zog Clint seine Geldbörse hervor.
Doch Shannon hielt ihn davon ab, etwas zu spenden, und sagte zu Don: „Ich lade
alle ein. Eltern und Freundinnen willkommen.“
„Sind Sie sicher?“ fragte Clint. Er bezweifelte, daß ihr klar war, worauf sie sich
einließ. „Könnte sein, daß da reichlich viele zusammenkommen, für die Sie
zahlen müssen.“
Shannon überschaute kurz die Menge, dann lächelte sie. „Bestimmt sogar. Wo
kann man gut Pizza essen?“
Wenig später fiel die Gruppe in „Papas PizzaParlor“ ein. Dort verspeisten die
Teenager und die wenigen Erwachsenen ihre Pizzen, tranken eine Cola nach der
anderen, lachten und unterhielten sich lautstark. Kurz nach neun begann die
Gesellschaft sich aufzulösen. Die Teenager bedankten sich bei Shannon und
gingen in Grüppchen nach Hause, nachdem sie ihrem Trainer versprochen
hatten, das nächste Mal zu gewinnen, und Don, daß sie morgen zum
Wändestreichen ins Gemeindezentrum kommen würden. Gegen halb zehn war
die Pizzeria fast leer. Shannon zahlte die Rechnung und ging mit Don und Clint
zum Parkplatz.
Bleigraue Wolken und ferner Donner kündigten ein Gewitter an. Clint schaute
besorgt in die Richtung, aus der das Unwetter kam, und fragte dann Don:
„Kannst du Shannon nach Hause fahren?“
„Nichts da“, protestierte Shannon. „Ich hätte nichts dagegen, mit Don zu fahren,
aber ich bin eine von den altmodischen Frauen, die finden, sie sollten mit dem
Mann gehen, mit dem sie gekommen sind.“
„Es wird aber gleich regnen“, meinte Clint.
„Und wie werden Sie sich dagegen schützen?“ gab Shannon zurück.
„Mir macht ein bißchen Wasser nichts aus.“
„Ich zerfließe auch nicht gerade, wenn ich naß werde.“ Lächelnd reichte sie Don
die Hand. „Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie mich jetzt öfter im
Gemeindezentrum sehen.“
Don schüttelte ihre Hand. „Das würde mich sehr freuen.“
Als Don losgefahren war, schüttelte Clint den Kopf.
„Was ist los?“ fragte Shannon.
„Halten Sie sich vom Gemeindezentrum fern.“
Sie hob das Kinn. „Hört sich an wie ein Befehl.“
„Sie sind dort nicht sicher.“
„Und was ist mit den Frauen, die ehrenamtlich dort arbeiten?“
„Die gehören hierher. Aber für Sie ist das Zentrum kein passender Ort.“
„Ach nein? Und wohin gehöre ich Ihrer Meinung nach? In den CountryClub? In
den YachtClub?“
Sein Schweigen sagte ihr alles. „Sie reden wie John, Dawson!“
„John wollte nur das Beste für Sie.“
„Er behandelte mich wie ein Kind. Er…“ Ein Regentropfen klatschte auf ihre Hand.
„Los, fahren wir. Darüber können wir später reden.“
Sie hatten dann kaum die Jeffersonstreet hinter sich gelassen, da ging das
Gewitter auch schon los. In weniger als fünf Minuten wurde es um mindestens
zehn Grad kälter, und heftige Windböen trugen dazu bei, daß Clint und Shannon
sofort pitschnaß waren und es keinen Sinn mehr hatte, sich irgendwo
unterzustellen.
Shannon klebte das TShirt am Körper, als Clint in die Garage ihres Anwesens
fuhr, und sie mußte über sich selbst lachen, als sie ihren Helm abgenommen
hatte und mit ihrem nassen Ärmel das nasse Visier trocken wischen wollte.
„Haben Sie hier ein Handtuch?“ fragte sie Clint.
„Lassen Sie den Helm Helm sein. Rein mit Ihnen ins Haus.“
Angelo spähte aus dem Bungalow, als sie vorbeirannten.
„Schick Clarissa rüber“, rief Clint ihm zu.
„Weshalb?“ wollte Shannon wissen.
„Damit sie sich um Sie kümmert.“
„Clarissa kann zu Hause bleiben“, rief sie Angelo zu. „Ich brauche sie erst
morgen früh wieder.“
Drinnen eilten sie und Clint in das nächstgelegene Bad. Es befand sich neben der
Küche.
Während sie sich dann das Gesicht abtrockneten, sehnte Clint Clarissa herbei. Er
hätte es für bedeutend besser gehalten, jetzt nicht mit Shannon allein zu sein.
Das nasse TShirt umschmiegte ihren Körper wie eine zweite Haut, und ihre
vollen, festen Brüste waren deutlich zu erkennen. Er bemühte sich, nicht
hinzusehen, um nicht in Versuchung zu geraten, die durch die Kälte
aufgerichteten Brustknospen zu berühren.
„Nehmen Sie ein heißes Bad.“ Ihm selbst konnte nur noch eine kalte Dusche
helfen.
„Ich möchte mich für den wunderschönen Tag bedanken.“ Shannon legte das
Handtuch beiseite und kam auf ihn zu.
„Es war mir ein Vergnügen.“
Sie blickte ihn aus großen blauen Augen an. „Clint?“ sagte sie leise.
Er sah sie erschauern und sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen, sie
mit seinen Küssen und seinem Körper zu wärmen. Statt dessen machte er Platz,
um sie vorbeizulassen. „Wir sehen uns morgen früh.“
Mit geballten Fäusten unterdrückte er sein Begehren, als sie an ihm vorüberging.
Noch nie hatte er eine Frau so sehr begehrt, nicht einmal Tanya, und es machte
ihm angst.
Er sah Shannon nach, als sie die Treppe hinaufging. Auf jeder Stufe schien sie
ihren Schritt zu verlangsamen. Mitten auf der Treppe blieb sie dann stehen und
wandte sich um.
Ihr Lächeln verriet ihm, daß er gleich in Schwierigkeiten geraten würde. Die
Signale waren eindeutig, und er hielt den Atem an, als sie Stufe für Stufe die
Treppe wieder hinabstieg. Er wollte sich umdrehen und in sein Zimmer gehen.
Tür zu, abschließen. Ende. Doch seine Beine gehorchten ihm nicht.
Sie kam direkt auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und stellte sich auf
die Zehenspitzen.
Eine innere Stimme befahl ihm, sie abzuwehren, doch er faßte Shannon um die
Taille und zog sie an sich.
Er hätte nicht sagen können, ob sie es war, die ihn zuerst küßte, oder ob er den
ersten Schritt tat. Ihre Lippen waren weich und kühl. Es gab kein Zurück mehr.
Er küßte sie. Wild. Besitzergreifend. Leidenschaftlich.
Davon hatte er seit über einem Jahr geträumt.
Er strich über ihren Rücken, spürte ihre kühle Haut unter dem nassen Stoff, den
Verschluß ihres BHs. Es wäre so einfach. In wenigen Minuten könnten sie nackt
sein. Lange unterdrücktes Verlangen würde seine Erfüllung finden. Sie war
bereit. Sie würde sich nicht wehren. Es gab keinen Grund aufzuhören.
Außer dem, daß sein schlechtes Gewissen sich immer lauter meldete.
Mit äußerster Kraftanstrengung löste er sich von ihr. Sein Atem ging stoßweise.
„Wir machen einen Fehler“, sagte er gepreßt.
„Warum?“ Sie blickte ihn erstaunt an. Ihre roten Lippen wirkten noch voller und
süßer.
„Sie vermissen Ihren Mann. Wir würden es morgen früh bereuen.“
„Dies hier hat nichts mit John zu tun.“
„Es hat nur mit John zu tun.“
Er wandte sich um, ging in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
10. KAPITEL Wie an jedem Morgen fand Shannon die Liste der am Vortag für sie eingegangenen Anrufe neben ihrem Teller. Und wie an jedem Morgen erschien Clarissa, um sich nach ihren Frühstückswünschen zu erkundigen. Sie bestellte das übliche und spähte dann in die Küche. Clint saß nicht wie sonst am Küchentresen und trank Kaffee. Sie hatte sich vor der morgendlichen Begegnung mit ihm gefürchtet. Doch ihn nicht zu sehen, war noch schlimmer. „Wo ist Clint?“ fragte sie Clarissa. „Mit Angelo draußen. Heute nacht beim Sturm ist ein Ast heruntergebrochen, und das Sicherheitssystem funktioniert nicht richtig.“ Clarissa schüttelte den Kopf. „Soviel Wind. Soviel Regen. Clint hat erzählt, daß Sie ganz naß geworden sind.“ „Pitschnaß.“ Und sie hatte jede Minute genossen. Besorgt blickte Clarissa sie an. „Warum mußten Sie auch Motorrad fahren und haben nicht einen der Wagen genommen?“ „Weil ich gestern mal etwas ganz anderes machen wollte als sonst.“ Clint hatte ihr diesen Wunsch erfüllt. Noch nach Jahren würde sie sich an den gestrigen Tag erinnern. An die Freude, die er ihr gebracht hatte – und an das unerfreuliche Ende. Bis spät in der Nacht hatte sie an jenen kurzen Moment gedacht, in dem Clint sich hatte gehenlassen. Für einen Augenblick hatte sie seine Leidenschaft und sein Begehren gespürt. Daß er sich dann so abrupt zurückgezogen hatte, tat um so mehr weh. Sie schämte sich dafür, sich ihm erneut an den Hals geworfen zu haben. Wie sollte sie ihm jemals wieder in die Augen blicken können? Appetitlos aß sie von ihrem Müsli und entnahm der Liste, daß Ed mehrmals angerufen hatte. Aber sie war jetzt nicht in der Stimmung, mit ihm zu reden, und ging nach dem Frühstück sofort nach draußen. Der Sturm hatte die Luft gereinigt. Es roch frisch und klar, und der See lag ruhig und friedlich da. Sanfte Wellen schwappten ans Ufer, und am blauen Himmel segelten Möwen und spähten nach Beute, die der Sturm angespült hatte. Clint und Angelo waren gerade dabei, einen dicken Ast von der Umfassungsmauer zu ziehen. Der große alte Walnußbaum ein paar Meter entfernt wirkte wie ein verwundeter Krieger, und auf dem Rasen lagen überall Zweige und Blätter. „Was für ein Sturm letzte Nacht“, sagte sie, als sie die Männer erreicht hatte. Die beiden hielten in ihrer Arbeit inne, und Clint blickte sie ausdruckslos an. Was hast du denn erwartet? fragte sie sich spöttisch. Daß er wenigstens auf dich reagiert? Daß er deine Gefühle für ihn bemerkt? Immer wieder hatte er ihr gepredigt, vorsichtig zu sein und nicht zu leichtgläubig, und nun war er selbst derjenige, der ihr weh getan hatte. Doch sie würde es ihm bestimmt nicht zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte. „Clarissa hat mir gesagt, daß das Sicherheitssystem nicht funktioniert. Sind Sie in der Lage, es zu reparieren?“ Clint nickte. „Sieht aus, als wäre nur ein Kabel defekt. Es wird nicht lange dauern.“ „Okay.“ Sie atmete tief ein. Die frische Luft tat ihr gut, und sie hatte keine Lust, wieder ins Haus zu gehen. Aber hier draußen bei Clint und Angelo wollte sie auch nicht bleiben. „Ich werde eine Weile mit dem Auto unterwegs sein.“ Sofort ließ Clint den Ast los. „Ich hole meinen Blazer.“ „Nein“, erklärte sie fest. „Ich fahre selbst. Und zwar allein.“
„Wohin?“
Sie hatte nicht die geringste Ahnung und wollte nur weg von hier. „Mal seh’n.“
„Wohin?“ wiederholte Clint.
Sie lächelte und wandte sich zum Gehen. „Die Schlüssel für den Jaguar finde ich
in der Garage. Richtig?“
„Sie wollen den Jaguar fahren?“ fragte er entgeistert.
„Genau“, entgegnete sie und genoß es sehr, ihn aus der Fassung gebracht zu
haben.
Clint folgte Shannon zur Garage. Er wußte, daß es nicht darum ging, welchen
Wagen sie nahm oder wer von ihnen fuhr. Es ging um sie beide. Letzte Nacht
hatte sie ihm offen gezeigt, daß sie ihn begehrte, und er hatte sie abgewiesen.
Doch sie durfte nie erfahren, welche Kraft ihn diese Entscheidung gekostet hatte.
Sie nahm die Wagenschlüssel und ging zum Jaguar.
„Warten Sie“, rief er, rannte auf die Beifahrerseite und riß die Tür auf, gerade als
sie den Motor anließ.
Wütend funkelte sie ihn an, als er sich neben sie setzte. „Ich will allein fahren.“
„Was ist, wenn Sie in Panik geraten?“
„Das werde ich nicht.“
„Sie sind seit dem Unfall aber erst ein einziges Mal selbst gefahren.“
„Und? Hat doch prima geklappt. Würden Sie bitte aussteigen?“
„Ich weiß, daß Sie mir böse sind wegen gestern abend.“
„Hier geht es nicht um gestern abend“, entgegnete sie scharf.
„Ich hätte Sie nicht küssen dürfen. Ich bin Ihr Chauffeur.“
„Ist das der Grund, warum Sie es unpassend finden?“ Sie schien überrascht.
„Es gibt eine Menge Gründe dafür.“
„Und die wären?“
Meine Herkunft, dachte er. Meine Tätigkeit als Bodyguard. Doch es hatte keinen
Sinn, darüber zu sprechen. „Ich kündige“, sagte er.
„Wie bitte? Sie kündigen?“
Während der ganzen Nacht hatte er darüber nachgegrübelt. Seine Kündigung war
die einzige Möglichkeit. „Ich habe diesen Job nur auf Zeit angenommen. Das
wußte John auch, als er mich einstellte. Kurz bevor er starb, hatte ich bereits
gekündigt.“
„Also sind Sie wegen mir geblieben.“
„Ich hatte das Gefühl, daß Sie mich brauchen, bis Sie wieder auf eigenen Füßen
stehen. Das ist nun der Fall. Sie benötigen keinen Chauffeur mehr.“
„Was wollen Sie denn machen?“
„Ich werde einen Sicherheitsdienst gründen.“ Es hörte sich an, als sei alles
bereits in die Wege geleitet. Doch er wollte bewußt hart und kompromißlos
wirken.
Sie starrte durch die Windschutzscheibe auf das geschlossene Garagentor. „Und
wenn ich die Kündigung nicht annehme?“
„Ich werde trotzdem gehen. Meine Kündigungsfrist beträgt zwei Wochen.“
Sie blickte ihn kurz an und sah dann zur Seite. Ihr Kinn zitterte leicht, und er
wußte, daß sie mit den Tränen kämpfte. Er sehnte sich danach, sie in die Arme
zu nehmen und zu trösten.
Doch er riß sich zusammen und fragte: „Ist diese Frist für Sie ausreichend?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Wahrscheinlich.“
Die Spannung zwischen ihnen war mit den Händen zu greifen. Verflixt, wenn sie
jetzt zu weinen anfing, war er rettungslos verloren. Rasch öffnete er die Tür.
„Fahren Sie vorsichtig“, sagte er und klang ungewohnt heiser. Er war froh, daß
sie ihn nicht anblickte. Seine Miene hätte ihr unweigerlich verraten, was er
fühlte. Das Garagentor hob sich. Offenbar hatte sie die Fernbedienung gedrückt. „Falls Sie unterwegs Probleme haben sollten…“ „Rufe ich an.“ Sie wies auf das Autotelefon. Zum Glück trug sie ihr Goldperlenkollier. Mit Hilfe des Minisenders würde er sie immer finden. Wer sie allerdings beschützen sollte, wenn er gegangen war, blieb eine offene Frage. Nach zwei Meilen Fahrt merkte Shannon, daß sie unbewußt Richtung YachtClub gefahren war, obwohl sie dort überhaupt nicht hinwollte. An einer roten Ampel blickte sie automatisch in den Rückspiegel. Doch diesmal überkam sie keine Angst, daß ihr Hintermann auffahren könnte. Ihre momentanen Ängste waren anderer Natur. Clint hatte gekündigt. Und sie war anscheinend so sexbesessen, daß sie sich ihrem Chauffeur an den Hals warf. Aus dieser peinlichen Situation hatte er die Konsequenz gezogen und gekündigt. Nur daß sie nicht wollte, daß er ging. Warum habe ich mich eigentlich so benommen? fragte sie sich. Was fasziniert mich an Clint? Warum möchte ich, daß er mich berührt, mich festhält? Sex allein konnte es nicht sein. Seit dem Erscheinen des Zeitungsartikels hatte sie hunderte von Bewerbern gehabt. Außerdem machte Ed seine Wünsche durchaus deutlich. Es lag auch nicht an Clints Äußerem. Um sein eigenwilliges Gesicht zu mögen, mußte man ihn schon lieben. Liebe. Lautlos flüsterte sie das Wort, spürte seinem Klang nach und sprach es schließlich aus. „Liebe. Ich liebe Clint Dawson.“ Jemand hinter ihr hupte. Sie schrak auf, schaute rasch in den Rückspiegel und dann auf die Ampel, trat aufs Gaspedal, und der Jaguar schoß los. Ich liebe Clint. Wieder und wieder sprach sie es in Gedanken aus. Und so verrückt es auch war, es war die Wahrheit. Ihr anfängliches Mißtrauen hatte sich während der drei Jahre, in denen Clint für sie arbeitete, in Freundschaft – und nun in Liebe – verwandelt. Letzte Nacht wäre er fast ihr Liebhaber geworden. Verflixt, sie hatte es doch gespürt, daß er sie begehrte. Aber warum hatte er sich dann abgewandt? Sie erkannte, daß sie viel zuwenig über Clint wußte. Mit seiner Mutter zu reden hatte ihr ein wenig geholfen, und auch von Don Williams hatte sie das eine oder andere erfahren. Aber was sie nun brauchte, waren Antworten auf ihre Fragen. Shannon wendete und fuhr Richtung SüdDetroit. Clint prüfte das Alarmsystem und stellte zufrieden fest, daß es wieder perfekt funktionierte. Wenn Angelo dann auch im Garten die Auswirkungen des Unwetters beseitigt hatte, würde die Normalität zurückgekehrt sein. Nein, korrigierte Clint sich in Gedanken. Der gestrige Sturm hatte noch einen Schaden angerichtet, und der war nicht zu beseitigen. Letzte Nacht hatte er ein Versprechen gebrochen, das er sich selbst gegeben hatte, und war seinen Gefühlen gefolgt. Deswegen mußte er Shannon nun verlassen. In nur zwei Wochen. Ich kann nicht einfach gehen und sie ihrem Schicksal überlassen, dachte er verzweifelt. Besonders jetzt nicht, da sie wieder Auto fährt. Es war wichtig, daß sie endlich erfuhr, was wirklich in der Nacht ihres Unfalls geschehen war – und daß er ihr Selbstverteidigung beibrachte. Es war falsch gewesen, so lange damit zu warten. Zu lange hatte er Johns Wünsche ausgeführt und Shannon von allem ferngehalten.
Doch vor allen Dingen machte er sich Vorwürfe, weil er sich gestern abend nicht
beherrscht hatte. Seine Schwäche hatte dazu geführt, daß er ihr Unrecht getan
hatte.
„Alles wieder in Ordnung?“ fragte Angelo, der das Haus betrat.
„Ja“, antwortete er und schloß den Schalterkasten.
„Die Misses wirkte heute morgen nicht sehr glücklich.“
Er lächelte über die sachte Umschreibung. „Du hast es bemerkt?“
„Ja. Ist ihr unterwegs auch nichts passiert?“
„Das letzte Mal, als ich nachschaute, fuhr sie Richtung YachtClub.“ Clint blickte
auf den handtellergroßen Monitor, der ihm anzeigte, wohin Shannon fuhr. Einen
Moment lang starrte er auf den Bildschirm, dann fluchte er.
Ohne seine Uniformjacke anzuziehen und ohne Angelo etwas zu sagen, rannte er
zu den Garagen.
„Morgens ist es hier meistens ruhig“, erklärte Don Williams, der Shannon durch
das nahezu leere Gemeindezentrum führte. „Die Kids schlafen um diese Zeit
noch. Nachmittags und abends bieten wir ein paar Aktivitäten an, die sie davon
abhalten sollen, auf den Straßen herumzuhängen. Natürlich nicht viele, dafür
reicht das Geld nicht, und wir haben auch zu wenige ehrenamtliche Helfer.
Entweder haben die Leute keine Zeit oder sie haben Angst, herzukommen.
Deshalb hat es mich auch überrascht, Sie hier zu sehen. Außerdem konnte ich
mir gar nicht vorstellen, daß Clint Sie hierher lassen würde.“
„Clint hat mir keine Anweisungen zu erteilen. Er arbeitet für mich.“ Zumindest
noch zwei Wochen, fügte Shannon in Gedanken hinzu.
Don blickte zu den vernagelten Fenstern und lächelte. „Ich wette, er ist irgendwo
in der Nähe. Bodyguards lassen die Menschen, die sie beschützen sollen, nicht
allein in diesem Viertel von Detroit.“
„Bodyguards?“ wiederholte Shannon langsam.
„Ja. Ich meine…“ Don schluckte. „Ich dachte, Sie wissen…“
„Nein. Ich habe es nur vermutet.“
„Verflixt! Warum konnte ich nicht den Mund halten?“
„Ich bin froh, daß Sie es mir gesagt haben, Don. Es erklärt eine Menge.“
„Ihr Mann heuerte ihn damals an.“
„Ja, nach meinem Autounfall.“
„Autounfall?“ Don runzelte die Stirn. „Ich dachte, Sie sollten gekidnappt werden.“
„Nein. Ich…“ Shannon stockte und dachte fieberhaft nach. Langsam begann das
Puzzle einen Sinn zu ergeben.
Da stürmte plötzlich ein Teil dieses Puzzles durch die Tür herein. Clint. In
Hemdsärmeln und seinen Motorradhelm in der Hand eilte er auf sie zu.
„Was, zum Teufel, tun Sie hier?“ herrschte er sie an.
Sie wich ihm nicht aus. „Ich unterhalte mich mit Don. Und was tun Sie hier?“
„Ich habe Ihnen doch befohlen, sich von diesem Ort fernzuhalten.“
„Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich selbst bestimme, wohin ich gehe. Sie sind
weder mein Vater noch mein Mann. Sie sind noch nicht einmal mein Liebhaber,
sondern nur mein Chauffeur.“ Sie hob die Augenbrauen. „Oder etwa nicht?“
Er biß die Zähne so fest aufeinander, daß ein Muskel in seiner Wange zuckte.
„Weswegen hat John Sie eingestellt, Clint? Und diesmal will ich die Wahrheit
wissen.“
Sie sah es an seinem Blick, daß er mit sich kämpfte. Schließlich holte er tief
Atem und antwortete ihr. „Ich wurde eingestellt, um Sie zu beschützen, um Sie
zu chauffieren und darauf zu achten, daß Ihnen nichts geschieht.“
„Mit anderen Worten – Sie sind mein Bodyguard.“
„Falls Sie es so nennen wollen.“
„So würden es die meisten Leute nennen. Was war an den Abenden, an denen
ich ausging?“
„Ich bin Ihnen gefolgt.“
„So wie heute.“ Und sie hatte es wieder nicht gemerkt. „Wie haben Sie das
angestellt?“
Nach kurzem Zögern deutete er auf ihr Kollier. „In einer der Goldperlen befindet
sich ein kleiner Sender.“
So war das also. Nun wußte sie auch, warum John sie so dringend gebeten hatte,
die Kette Tag und Nacht zu tragen. „Und wo ist der dazugehörige Monitor?“
Er nahm eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche und öffnete sie. Auf dem
Bildschirm leuchtete ein Signalpunkt, der ihren Aufenthaltsort anzeigte.
Sie wandte sich zu Don, der geschwiegen hatte, seit Clint hereingeplatzt war,
und sie beide nun mit traurigem Gesicht anschaute. „Tut mir leid, aber ich
glaube, wir müssen unseren Rundgang verschieben“, sagte sie höflich. „Aber ich
komme bestimmt wieder.“
„Shannon!“ ließ erneut Clint sich herrisch vernehmen.
Wütend blitzte sie ihn an. „Wir beide reden später!“
Sie marschierte zum Ausgang, riß die Tür auf und trat auf den Gehsteig. Den
Jaguar hatte sie direkt vor dem Gemeindezentrum geparkt gehabt. Nun stand
dort Clints HarleyDavidson, um die sich fünf Halbstarke scharten. Einer von
ihnen wollte sich gerade auf den Motorradsattel schwingen.
„Hey“, schrie sie.
Das Lächeln, mit dem die fünf sie bedachten, jagte ihr Angstschauer über den
Rücken, und sie trat einen Schritt zurück, als einer von ihnen sich auf sie zu
bewegte. Da wurde hinter ihr die Tür aufgerissen, und sie erhielt einen Stoß
gegen den Arm, fühlte den Schmerz aber kaum, weil sie viel zu aufgeregt war.
„Runter von der Maschine“, knurrte Clint.
Die Jungs blickten in seine Richtung, und einer von ihnen zog ein Messer. Sie
erstarrte und spürte, daß Clint dicht neben sie trat.
„Versuch es erst gar nicht“, sagte er knapp, doch unmißverständlich zu dem
Messerträger.
Eine große, dunkle Gestalt erschien neben Clint. Don war jetzt ebenfalls vors
Haus getreten und mit ihm einer der ehrenamtlichen Helfer.
Der Halbstarke mit dem Messer steckte seine Waffe wieder in die Hosentasche.
„Hey, wir wollten uns das Ding doch bloß mal ansehen, Mann. Kein Problem.“
Die fünf zogen sich langsam zurück.
„Wo ist Ihr Wagen?“ fragte Clint.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Shannon unsicher und deutete mit zitternder
Hand auf das Motorrad. „Ich hatte ihn genau dort geparkt.“
Clint wandte sich an Don. „Sie haben ihren Wagen geklaut. Wahrscheinlich bringt
es nicht viel, aber rufst du die Polizei an, während ich Shannon nach Hause
fahre?“
Er nannte Don die Registriernummer des Jaguars sowie Farbe und Baujahr.
Shannon stand fassungslos daneben und nahm kaum etwas wahr, bis sie seinen
starken Arm um ihre Schultern fühlte.
„Alles in Ordnung?“ fragte Clint.
„Sie haben tatsächlich mein Auto gestohlen?“
„Dazu brauchen sie nur Sekunden.“
„Wollten die auch Ihr Motorrad stehlen?“
„Sah ganz so aus. Kommen Sie, ich fahre Sie heim. Fühlen Sie sich überhaupt in
der Lage, jetzt Motorrad zu fahren?“
Shannon nickte, und Clint setzte ihr seinen Helm auf. Sie wollte protestieren,
doch sein Blick bedeutete ihr, daß ihr das nichts nützen würde. Während der
Fahrt vermied sie es, sich an ihm festzuhalten, und erst als sie zu Hause in der
Garage waren, sprach sie wieder.
„Und nun berichten Sie mir, was Sie über meinen damaligen Unfall wissen“,
forderte sie Clint auf.
„Ich war von Anfang an der Meinung, daß man Ihnen die Wahrheit hätte sagen
müssen. Aber John befürchtete, daß sie dann vor Angst das Haus nicht mehr
verlassen würden.“
„Er hielt mich für so schwach und neurotisch?“ fragte sie und wurde wieder
wütend.
„Er wollte Sie schützen.“
„Und Sie? John ist seit über einem Jahr tot. Sie hätten mir hundertmal die
Wahrheit sagen können.“
„Ich weiß, daß es ein Fehler war, es nicht zu tun.“
„Fehler?“ rief sie empört. „Also los! Erzählen Sie mir endlich, was damals
passierte!“
„Es war kein Unfall“, begann Clint. „In dem Lastwagen, der Sie rammte, fand
man einen Plan, auf dem der Weg eingezeichnet war, den Sie immer von der
Kinderklinik nach Hause benutzten. Ihr Tagesablauf war auch notiert. Die beiden
Kidnapper gestanden später, daß sie Sie wochenlang ausspioniert hatten. Die
Entführung war bis ins kleinste Detail geplant. Selbst der Erpresserbrief war
schon getippt.“
„Und ich habe denen auch noch geholfen, indem ich bequemerweise in Ohnmacht
fiel.“
„Nein. Sie sind nicht ohnmächtig geworden. Die Kidnapper haben Chloroform
benutzt. Sie erinnern sich doch an den Mann, der nach Ihnen griff. Er hat es
Ihnen verabreicht.“
„Und warum hat die Entführung dann nicht geklappt?“ fragte Shannon mit
bitterem Spott.
„Rein zufällig war ein Polizist in der Nähe. Er hielt an, weil er dachte, es sei ein
Unfall, und verhinderte die Entführung.“
Shannon seufzte. „Danach hat John Sie dann angeheuert, um mich zu
beschützen.“
„Er hat Sie geliebt.“
„Vor allem hat er mich wie ein Kind behandelt. Und ich habe es zugelassen.“ Sie
blickte auf den leeren Parkplatz des Jaguars. „Vielleicht bin ich wirklich noch ein
Kind. Was soll ich wegen des Jaguars unternehmen?“
‘ „Don hat sicher schon die Polizei informiert. Ich kümmere mich weiter darum.“
Clint bezweifelte allerdings, daß sie den Jaguar jemals wiedersehen würden.
„Ich gehe jetzt ins Haus.“
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Er machte sich Sorgen. Shannon wirkte wie
innerlich erstarrt.
„Ja, natürlich. Man hat mich belogen, bedroht und mein Auto gestohlen. Ich weiß
nicht mehr, wem ich trauen darf und wem nicht. Ich brauche Zeit, um
nachzudenken.“
Sie ging zur Tür.
„Shannon?“
Sie blieb stehen und wandte sich zu ihm um.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Mir auch“, antwortete sie und ging weiter.
11. KAPITEL Shannon ging direkt in ihr Schlafzimmer. Dort blieb sie vor dem Spiegel stehen
und starrte auf das Kollier, das sie trug, seit John es ihr geschenkt hatte.
Sie öffnete den Verschluß, nahm die Kette ab und legte sie auf den Frisiertisch.
John hatte sie belogen. Clint ebenfalls. Aber was das schlimmste war: sie hatte
sich selbst belogen.
Als sie von John und Clint die Wahrheit forderte, hatte sie sie im Grunde gar
nicht hören wollen. Von Anfang an war sie es zufrieden gewesen, die Eliza
Doolittle zu spielen. Dann war Cyrano gekommen, und ihre schwärmerische
Reaktion auf ihn entsprach auch nicht gerade der, einer erwachsenen Frau.
Sie trat ans Fenster, das Clarissa offengelassen hatte. Eine sanfte Brise wehte
herein, und die Luft war klar und frisch. Über dem See kreisten die Möwen mit
lauten Rufen. Schnellboote ließen die Gischt aufspritzen, und bunte Segelboote
glitten elegant dahin.
Alles sah so friedlich aus. Eine Welt ohne Sorgen.
Doch auch das war eine Lüge.
Zehn Jahre lang hatte sie in einem Märchenland gelebt. John war ihr Prinz
gewesen, der sie aus der Armut befreit hatte und die Härten der Welt vergessen
ließ. Doch vor weniger als einer Stunde war sie wieder mit der Wirklichkeit
konfrontiert worden. Dort draußen gab es immer noch Armut, Wut und
Verzweiflung. Man hatte ihren Jaguar gestohlen und sie bedroht.
Mit zitternden Knien ging sie zum Bett und setzte sich auf die Kante, um
nachzudenken. Doch Sekunden später schreckte Clarissa sie auf.
„Möchten Sie zu Mittag essen, Misses Powell?“
„Nein. Danke“, antwortete sie. Sie würde jetzt keinen Bissen herunterbekommen.
Das Zittern ihrer Knie ließ langsam nach, und ihre Gedanken klärten sich. Clint
hatte recht gehabt: sie hätte nicht zum Gemeindezentrum fahren dürfen.
Zumindest nicht allein.
Doch sie hatte gehofft, dort mehr über ihn zu erfahren. Das war ihr auch
gelungen, allerdings anders, als erwartet. Nun wußte sie, daß er sie drei Jahre
lang belogen hatte.
Getäuscht. Belogen. Überwacht.
„Er ist also wirklich im Restaurant gewesen“, murmelte sie vor sich hin, als sie
sich an ihr Dinner mit Martin erinnerte. War er ihr auch zu ihren Verabredungen
mit Ed gefolgt?
Bestimmt! Es war einfach unglaublich!
Im nächsten Moment war sie aufgesprungen und stürmte kampfbereit die Treppe
hinunter. Clints Zimmertür stand offen, und die Dusche rauschte. Ohne Zögern
marschierte sie ins Zimmer.
„Clint Dawson“, rief sie laut und vernehmlich. „Ich will mit Ihnen reden.“
Die Badezimmertür wurde geöffnet, und Clarissa, einen Schwamm in der Hand,
erschien. „Er ist nicht hier, Misses Powell.“
„Wo ist er dann?“
„Er ist zur Polizei gefahren. Etwa vor zehn Minuten.“
Logisch, dachte Shannon. Er wollte sich ja darum kümmern, daß ich den Jaguar
wiederbekomme. Nun stand sie hier, bereit, Clint den Kopf abzureißen – und er
war unterwegs, um ihr zu helfen. Es war zum Verrücktwerden!
Sie wolle sein Zimmer gerade verlassen, da fiel ihr Blick auf seinen Schreibtisch.
Eine Schublade stand halb offen, und ein Briefumschlag darin erregte ihre
Aufmerksamkeit. Die Adresse kam ihr bekannt vor. Die Handschrift war ihre
eigene. Der Stempel zeigte, daß der Brief abgesandt worden war.
Langsam nahm sie den Brief aus dem Umschlag.
Clint blickte entgeistert auf die leeren Stellplätze. Den Jaguar hatte er hier
selbstverständlich nicht mehr erwartet – doch nun war auch der Mercedes weg.
„Angelo!“ rief er, als er diesen im Garten erspähte. „Wo ist Mrs. Powell
hingefahren?“
Angelo zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“
„Wann ist sie denn losgefahren?“
„Vor etwa einer Stunde… oder vor zwei.“
Er eilte ins Haus und in die Küche, wo Clarissa ihm etwas mehr Auskunft geben
konnte.
„Sie war sehr böse. Sie hat einen Brief von Ihrem Schreibtisch genommen, Sie
laut beschimpft und dann jemanden angerufen.“
„Wen?“
„Weiß ich nicht. Aber danach ist sie fortgefahren.“
„Wohin?“
„Weiß ich auch nicht. Aber sie hat den Brief mitgenommen. Ich habe mich aber
nicht getraut, etwas zu sagen. Sie war doch so wütend.“
Er konnte nun in etwa zwei und zwei zusammenzählen. Verdammt, dachte er, es
war dumm von mir, Shannons Briefe an Cyrano aufzuheben.
Mit vager Hoffnung holte er den kleinen Monitor aus seiner Hosentasche und
klappte ihn auf. Wie befürchtet, gab das Signal an, daß Shannon im Haus war.
Also hatte sie das Kollier abgelegt.
Er vermutete nun, daß sie zu dem Postamt gefahren war, wo Lizzy ihr Brieffach
gemietet hatte.
„Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, hier draußen zu sitzen. Aber ich möchte
auf meinen Wagen aufpassen“, sagte Shannon zu Lizzy und kam sich albern vor.
„Denn mehr als ein Auto möchte ich heute nicht verlieren.“
„Kein Problem“, erwiderte Lizzy freundlich. Sie saßen zusammen auf den
Treppenstufen vorm Haus. „Außerdem freuen sich die Kinder, wenn sie mal vor
dem Gartenzaun spielen dürfen.“
Jill fuhr auf einem hellgelben Plastikdreirad umher, und Todd radelte mit seinem
Minifahrrad den Gehsteig entlang. Auch andere Kinder spielten draußen. Die
meisten waren älter als Todd und Jill, und Lizzy behielt ihre Sprößlinge im Auge
und rief sie zurück, wenn sie sich zu weit entfernten.
„Ich hätte begreifen müssen, was Sie mir gestern zu sagen versuchten“, begann
Shannon.
„Ich wollte wirklich nichts kaputtmachen, aber ich fand, daß Sie ein Recht darauf
haben, alles zu erfahren. Ich hatte sehr gehofft, daß Clint offen mit Ihnen reden
würde. Besonders weil es doch der widerliche Gary Cleveland war, der ihn
praktisch dazu gezwungen hat, die Briefe für ihn zu schreiben. Obwohl…
Eigentlich bin ich diejenige, die schuld ist an der ganzen Verwicklung. Den ersten
Brief von Cyrano haben Sie nur erhalten, weil ich ihn zur Post gebracht habe.
Clint hatte ihn hier im Wohnzimmer geschrieben und ihn dort weggeworfen. Als
ich ihn dann fand und las, vermutete ich, daß er Sie liebt.“ Lizzy seufzte. „Kann
sein, daß ich zu romantisch bin, aber ich mußte Ihnen den Brief einfach
schicken.“
„Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn im Papierkorb zu lassen.“
„Vielleicht. Trotzdem, bitte, verletzen Sie Clint nicht.“
„Das sagen Sie mir?“ Shannon stand auf. „Wir reden hier über einen Mann, der
mich seit drei Jahren belügt.“
„Er wollte sie doch nur schützen.“
„Vor was? Vor dem Leben? In seiner Schublade habe ich Informationen über die
beiden Männer gefunden, mit denen ich mich getroffen habe. Wahrscheinlich
weiß er mehr über Martin und Ed als deren Mütter.“
„Clint meint, Sie sollten Ed heiraten.“
„Ach, tatsächlich?“ entgegnete Shannon bissig. „So wie Clint mein Leben plant,
hat er bestimmt auch schon den Hochzeitstermin festgelegt. Hat er Ed bereits
Bescheid gesagt?“ Hocherhobenen Hauptes ging sie die Treppe hinunter. Dann
blieb sie stehen und wandte sich zu Lizzy um. „Ihr Bruder kann sich…“
Da Jill in Hörweite kam, unterdrückte Shannon ihre Beschimpfung und sagte statt
dessen: „Danke, daß Sie aufrichtig waren, Lizzy. Ich wünschte, Clint wäre es
auch gewesen.“
„Er ist Ihnen nachgefahren“, sagte Clarissa.
Der kann was erleben, dachte Shannon. „Clarissa, ich möchte, daß Sie und
Angelo sich den Rest des Tages freinehmen. Hier im Haus möchte ich Sie erst
morgen wieder sehen.“
„Aber was werden Sie denn zu Abend essen?“ fragte Clarissa entgeistert.
„Wenn ich mit Clint fertig bin, verspeise ich ihn als Hauptgericht.“
Clarissa starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Shannon wies auf die Hintertür. „Lassen Sie mich einfach allein. Es würde Ihnen
nicht gefallen zu erleben, was ich tue, wenn Clint hier auftaucht.“
Als Clarissa dann gegangen war, durchwühlte Shannon systematisch Clints
Schreibtisch. Sie fand mehrere Briefe, die sie Cyrano geschrieben hatte. Daneben
entdeckte sie einige Gedichte Clints und eine Serie Kurzgeschichten, die vom
Leben auf der Straße handelten.
Ihr war nun vollkommen klar, warum er nicht wollte, daß sie seine Gedichte las.
Sie stimmten in vielem mit dem überein, was Cyrano ihr geschrieben hatte.
Manche Zeilen waren klar und hart, andere wiederum sehr romantisch. Sie
beschrieben das Leben, das er geführt hatte, und den Verlust einer Liebe.
Oder handelten sie vielleicht von einer Liebe, nach der er sich gesehnt hatte?
Als die Hintertür ging, wurde sie nervös. Sie legte die Manuskripte auf den Tisch
und wandte sich zur Zimmertür. Doch Clint – in Hemdsärmeln und das Haar zerzaust vom Motorradhelm – ging an seinem Zimmer vorüber, ohne hineinzublicken und strebte direkt zur Treppe. „Shannon!“ rief er. Sie unterdrückte ihre Nervosität und antwortete: „Ah, tapferer Cyrano. Kommen
Sie direkt aus der Schlacht?“
Mit wenigen Schritten war er bei ihr, blickte auf seinen Schreibtisch und begriff.
„Wahrscheinlich bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig.“
„Wahrscheinlich kriege ich nur wieder eine Lüge.“
„Ich hatte niemals vor, Sie zu belügen.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“
„Es gab verschiedene Dinge, die ich Ihnen nicht sagen durfte, solange John lebte.
Danach ist mir die Situation irgendwie entglitten.“
„Das ist eine gelinde Untertreibung.“
„Ich bin bei meiner Schwester vorbeigefahren. Sie sind also bei ihr gewesen.
Wieviel hat Sie Ihnen gebeichtet?“
„Genug.“ Aber noch lange nicht ausreichend.
„Ich hätte es nicht tun dürfen.“
„Nein, allerdings nicht.“
„Wahrscheinlich möchten Sie nun, daß ich sofort meine Sachen packe und
verschwinde.“
Kurz zuvor hatte sie sich genau dies gewünscht. Nun war sie da nicht mehr so
sicher. „Ist das alles, was Sie können? Ein paar Liebesbriefe schreiben, ein
bißchen lügen und sich dann aus dem Staub machen?“
„Nein.“
Sie hielt einen der Briefe hoch, den sie Cyrano geschrieben hatte. „War das alles
nur ein Spiel?“
Clint blickte sie traurig an. „Nein“, erwiderte er sanft.
Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Warum haben Sie es dann getan?“
Er antwortete nicht, und sie kam näher. „Sie müssen sehr gelacht haben, als ich
Ihnen sagte, daß ich mich in Cyranos Worte zu verlieben beginne.“
„Ich habe nicht gelacht“, antwortete er ernst. „Ich habe nur…“
„Was?“ fragte sie und stand nun ganz dicht vor ihm. „Welche Entschuldigung
können Sie vorbringen?“
Er schwieg verbissen. Sie wußte zwar von Lizzy den Grund, doch sie wollte es
von Clint selbst erfahren. Und wenn sie ihn dazu zwingen mußte, es ihr zu sagen.
Er atmete heftig ein, als sie seine Brust berührte und sein Hemd aufzuknöpfen
begann. „Shannon?“
Sie lächelte ihn an und öffnete den nächsten Knopf. „Wenn Sie vernünftig
gewesen wären, hätten Sie mich gestern abend verführt. Warum haben Sie es
nicht getan?“
„Sie wußten gestern abend nicht, was Sie taten“, erwiderte er und klang mühsam
beherrscht. „Und jetzt auch nicht.“
„Stimmt“, meinte sie unschuldig. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich
tue.“ Sein Hemd war nun geöffnet und entblößte Clints breite, behaarte Brust.
„Es fing alles mit dem Interview an, bei dem ich der Journalistin Dinge sagte, die
nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Danach bekam ich Briefe von
wildfremden Männern. Bis auf einen. Das heißt, nur ich wußte nicht, wer er war.
Er kannte mich schon, und er schaffte es, daß ich anfing, selbst Briefe zu
schreiben.“
„Ich wollte die Briefe für Gary nicht schreiben“, verteidigte er sich.
„Das hat mir Ihre Schwester bereits mitgeteilt.“ Sie zog das Hemd aus der Hose.
„Außerdem hat sie mir erzählt, daß Sie den ersten CyranoBrief an mich
weggeworfen hatten. Sie hat ihn wieder ausgegraben und abgeschickt.“
„Ich war fürchterlich erschrocken, als ich den Brief dann in Ihrer Hand sah.“
„Das möchte ich wetten.“ Sie wollte seinen Gürtel aufziehen. Sofort hielt Clint
ihre Hand fest und hinderte sie daran. „Aber Sie haben weitergemacht“, fuhr sie
fort und sah ihn an. „Dabei hätten Sie meinen Brief an Cyrano nicht beantworten
müssen.“
„Sie brauchten aber eine Antwort. Sie hatten das Recht auf einen Freund.“
„Ja, in Ihren Briefen habe ich tatsächlich Antwort auf viele Fragen gefunden.
Und… einen Freund. Doch dabei blieb es nicht. Nicht wahr, Clint? Irgendwann
wurden die Freundschaftsbriefe zu Liebesbriefen. Ich frage Sie daher noch
einmal. War alles nur ein Spiel?“
Er hielt sekundenlang den Atem an, und sein Griff um ihre Hände wurde fester.
„Nein“, erwiderte er leise.
„Im Roman liebt Roxane einen anderen, und Cyrano hat eine riesengroße Nase.
Sie haben keinen Nebenbuhler, Clint. Und ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich
nichts gegen Ihre Nase habe.“
„Aber was könnte ich Ihnen schon bieten? Ich habe weder Geld noch bin ich aus
guter Familie. Sicher, John ist tot, aber er hat Sie für immer aus der Welt
entführt, aus der Sie kommen – und aus der auch ich komme.“
„Das ist ganz allein Ihre Meinung.“
„Seien Sie doch realistisch.“
„Ich bin aber kein besonders realistischer Mensch, erinnern Sie sich? Ich bin
Cinderella. Oder Eliza Doolittle. Oder Roxane. Ich schreibe einem Mann
Liebesbriefe, den ich nicht kenne, und verliebe mich gleichzeitig in meinen
Chauffeur.“
„Shannon“, rief Clint unglücklich. „Ed ist der richtige Mann für Sie. In ihn sollten
Sie sich verlieben. Er kann Ihnen geben, was Sie brauchen.“
„Tatsächlich?“ Sie strich über seine nackte Brust und fuhr sanft über die dunklen
Locken und die harten Muskeln. Prickelndes Verlangen durchströmte sie. „Ed hat
in mir nie solche Gefühle ausgelöst wie du, Clint. Ich hatte noch nie das
Bedürfnis, mit ihm zu schlafen.“
Clint schloß die Augen. Sein Begehren überwältigte ihn fast. „Shannon, tu das
nicht“, sagte er heiser. „Ich war bisher immer in der Lage, zu gehen, aber ich bin
nicht aus Stein.“
„Nein, das bist du nicht. Und als der Kerl heute das Messer zog, hatte ich Angst
um dich.“ Sie ließ ihre Hand auf seinem Herzen ruhen. „Geh nicht weg, Clint.
Zeig mir, was du fühlst. Nimm an, was ich dir gebe. Und liebe mich.“
Clint öffnete die Augen und sah, daß Shannon ihn voller Sehnsucht anblickte.
„Was ist mit Clarissa und Angelo?“
„Denen habe ich bis morgen früh freigegeben.“
„Du hast das hier geplant?“
„Ich werde entweder mit dir schlafen oder dich umbringen, Clint Dawson. Weder
bei dem einen noch bei dem anderen brauche ich Zeugen.“
Er lächelte unwillkürlich und gab ihre Hand frei. Sacht strich er ihr das Haar aus
dem Gesicht. „Glaubst du wirklich, du wählst die bessere Alternative?“
Auch sie lächelte. „Das sage ich dir hinterher.“
„Wir dürften es aber eigentlich nicht tun. Das weißt du doch.“
„Nein, wieso? Du behauptest es zwar, aber wer einmal lügt…“
„Ich habe John versprochen, dich zu beschützen.“
„John ist seit anderthalb Jahren tot.“ Zärtlich glitt sie mit den Fingerspitzen über
seine nackten Schultern. „Clint“, sagte sie weich.
„Ja?“
„Du redest zuviel.“
Er lachte leise, schlang die Arme um sie und zog sie an sich. „Oh, Shannon. Was
soll ich bloß mit dir machen?“
„Mich lieben.“
„Da du es wirklich möchtest, wird es geschehen.“
Sie legte die Hände um seinen Kopf und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Ja“,
flüsterte sie.
In der Nacht zuvor hatte Clint sie geküßt, weil er die Beherrschung verloren
hatte. Heute jedoch wußte er genau, was er tat, als er sich zu ihr beugte und
Shannons Mund mit seinen Lippen in Besitz nahm. Er hielt die Frau, die er liebte,
in seinen Armen.
Mit geöffneten Augen erwiderte Shannon seinen Kuß, hingebungsvoll und sehr
glücklich, daß es nun keine Lügen mehr zwischen ihnen gab.
Während er sie küßte, strich Clint ihr liebevoll übers Haar und wob seine Finger
in die seidigen blonden Strähnen. Seine Küsse wurden tiefer und verlangender.
Shannons Sinnlichkeit erregte ihn unendlich.
„Shannon… Ich denke nicht, daß ich noch lange…“
„Denk einfach nicht.“ Flink griff sie erneut nach seiner Gürtelschnalle. „Nicht
reden, nicht denken.“
Diesmal hinderte Clint sie nicht daran, seinen Gürtel zu lösen. Und nachdem sie
auch den Reißverschluß geöffnet hatte, berührte sie den kraftvollen Beweis
seiner Erregung.
Clint stöhnte lustvoll auf. „Bist du dir auch ganz sicher?“ flüsterte er an ihrem
Mund.
„So sicher wie noch nie.“
Er wollte sich zügeln, um jeden Augenblick voll auszukosten. Doch die langen
Monate des Sehnens und Wartens forderten ihren Tribut, und in
Sekundenschnelle hatte er Shannon ausgezogen und sich ebenso rasch von
seinen Sachen befreit. Im nächsten Moment hatte er Shannon auch schon zum
Bett getragen.
Doch als er dann über ihr lag, hielt er inne, erfüllt von ihrer Schönheit und der
Erkenntnis seines Glücks. „Ich habe jedes Wort in meinen Briefen ernst gemeint.“
Er wünschte, er könne ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Doch seine Gefühle
waren zu stark, um sie in Worte fassen zu können.
„In den vergangenen Monaten habe ich mich in zwei Männer verliebt“, erwiderte
sie, während sie seine Arme streichelte. „Einer von ihnen hielt mich fest und
tröstete mich, wenn ich um John trauerte. Der andere schrieb mir wundervolle
Briefe.“ Lockend strich sie über seine Lenden, und er keuchte leise auf, als sie
seine empfindlichste Stelle berührte.
„Sie tragen ein mächtiges Schwert, Cyrano.“
„Worte sind gewaltiger als das Schwert.“
Sie lächelte verführerisch. „Glaub mir, heute begehre ich anderes als Worte.“
Ihm ging es ebenso. Rasch blickte er zum Nachttisch. „Ich glaube, ich habe
keinen Schutz da.“
Sie hielt ihn zurück, als er die Schublade öffnen wollte. „Du hast mich mehr als
drei Jahre lang geschützt. Heute nacht will ich keinen Schutz. Heute will ich
dich.“
„Aber es ist zu unsicher.“
Shannon sagte nichts mehr, sondern zog einfach seinen Kopf zu sich hinunter.
Mit ihren hungrigen Küssen verhinderte sie seinen Protest, zeigte ihm mit ihren
Liebkosungen, was Worte nicht ausdrücken konnten.
Ebenso zärtlich wie verlangend küßte und streichelte Clint ihren warmen Körper,
und als Shannon sich ihm weich entgegenbog und er in sie hineinglitt, wußte er,
daß er ihr niemals einen Wunsch würde abschlagen können. Zuerst sanft, dann
stärker, bewegte er sich in ihr. Dabei schaute er in ihr leidenschaftliches Gesicht,
um ganz auf sie eingehen zu können.
Shannon schloß die Augen erst, als er völlig in sie eingedrungen war. Rückhaltlos
ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf und gab sich Clint hin, als könnte es vielleicht
bei diesem einen Mal mit ihm bleiben.
Er steigerte seinen Rhythmus. Sie spürte, daß er die Kontrolle über sich verlor,
und sie begegnete seinen kraftvollen Stößen mit ebensolcher Intensität.
Liebe war mehr als ein Wort. Clint hatte es ihr gezeigt. Er war stark und zärtlich,
humorvoll und fürsorglich. Und jetzt war er voll brennender Leidenschaft. Sie
empfand so tief für ihn, daß es sie ganz erfüllte, und als er in höchster Erregung
ihren Namen rief, wußte sie, daß sie ihre Ekstase gemeinsam erlebten und sie
damit vollkommen war.
12. KAPITEL Dicht aneinandergekuschelt lagen sie im Bett. Shannon genoß es, Clints feuchte Haut zu spüren und seinen Atem zu hören, der immer noch rasch ging. Ihr Puls schlug allmählich ruhiger, und sie begann zu erkennen, was geschehen war. Auch Clint schien sich der Gegenwart wieder bewußt zu werden, denn er fragte leise: „Was nun?“ „Jetzt ist es Zeit, miteinander zu reden“, erwiderte sie. Doch womit sollte sie anfangen? „Das eben hätte nicht passieren dürfen“, begann er. „Aber ich möchte es dennoch nicht missen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Nächte ich hier wachgelegen habe und daran gedacht habe, daß du nur ein Stockwerk über mir schläfst.“ Sie lächelte. „Ich habe dort oben auch ganz oft an dich gedacht. Habe mir gewünscht, daß du bei mir bist. Es mir ausgemalt.“ Sie seufzte. „Was für eine Zeitverschwendung. Wir hätten es einfach tun sollen.“ Er lachte leise. „Du willst mich also als Liebhaber?“ „Ja, und darüber hinaus…“ „Wirst du mich mit in den Club nehmen und dort vorzeigen? Oder halten wir es geheim, so daß alle etwas vermuten, aber niemand etwas weiß?“ „Die Clubmitglieder vermuten schon lange, daß wir etwas miteinander haben. Wenn sie mich dort mit dir sähen, würde sie das nur in ihrer Meinung bestätigen. Aber warum sollte ich dich überhaupt in den Club mitnehmen, wo ich mich dort doch gar nicht wohl fühle?“ „Oh, Shannon.“ Clint streichelte zärtlich ihre Wange. „John hat dir soviel gegeben. Geld. Prestige. Was kann ich dir geben?“ „Deine Liebe. Deine Freundschaft. Und…“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Du darfst mich weiterhin beschützen.“ Sekundenlang glaubte sie, in seinen lächelnden Augen Einverständnis zu lesen, und schöpfte schon Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Doch dann blickte er wieder ernst. „Ich hätte meinen Job besser machen müssen. Erstens hätte ich dir schon längst sagen müssen, daß dein Autounfall ein Versuch war, dich zu entführen. Zweitens hätte ich dir Selbstverteidigung beibringen müssen. Ich war einfach egoistisch und wollte dir keine Gelegenheit geben, auf dich selbst aufzupassen. Ich wollte, daß du mich brauchst.“ „Ich habe dich gebraucht, Clint, und nicht nur als Beschützer. Als John starb…“ „John.“ Clint schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum, daß das, was wir tun, in seinem Sinn wäre.“ „John hätte dich gar nicht erst eingestellt, wenn er angenommen hätte, daß ich dich attraktiv finden könnte. Er war sehr eifersüchtig.“ „Kann ich ihm nicht verdenken.“ „Doch entscheidend ist, daß er mich nicht verstanden hat. Sonst hätte er mich bezüglich deiner eigentlichen Aufgabe niemals angelogen.“ „Du hast damals darauf bestanden, keinen Bodyguard zu benötigen.“ „Weil ich keinen Grund dafür sah. Wenn John mir die Wahrheit über den Unfall gesagt hätte… Aber er hat mich immer nur wie ein Kind behandelt. Siehst du mich auch so?“ Clint betrachtete Shannons schönes Gesicht; ihre festen, vollen Brüste, die sie seinem Blick freimütig darbot. „Nein, jetzt nicht mehr. Aber als ich dich kennenlernte, war das anders.“ Shannon wußte, daß sie sich damals oft kindisch verhalten hatte. „Ich hatte Angst vor dir“, gab sie es nun offen zu.
„Angst?“ Sie streichelte seine breite Brust und seine muskulösen Oberarme. „Ich glaube, ich hatte Angst, dich attraktiv zu finden.“ „Aber du hattest doch John.“ „Ich hatte John, und ich liebte ihn. Er erfüllte mir meine Kinderträume. Doch die Frau in mir war unzufrieden. Der YachtClub und der CountryClub haben mich bald gelangweilt. Ich hatte keine richtige Aufgabe. Auch die Reisen verloren zunehmend ihren Reiz. Manchmal, wenn John schon schlief, stand ich nachts am Fenster, blickte auf den See und fragte mich, ob mein Leben nicht zu leer sei. Nach Johns Tod quälte mich diese Frage noch stärker. Du hast mit mir darüber geredet, und deine Briefe haben mir geholfen.“ Vorwurfsvoll tippte sie ihm mit dem Finger auf die Brust. „Du doppelzüngiger Mensch. Erzählst mir, daß Cyrano ein Betrüger sei, der kitschige Verse schreibt.“ „Was hätte ich denn sonst sagen sollen?“ Sie überlegte kurz, dann nickte sie. „Wahrscheinlich hattest du keine große Wahl.“ „Deinen Briefen an Gary entnahm ich, daß du immer noch nach Antworten suchst. Den ersten CyranoBrief habe ich geschrieben, nachdem du das Desaster mit Gary hattest und so enttäuscht warst. In jener Nacht, in der Küche, hätte ich dich fast geküßt. Doch ich wollte dir etwas anderes geben, wollte dir zeigen, daß ich für dich da bin, falls du mich brauchst. Dir zu schreiben…“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ich… Es war ein Fehler.“ „Oder Schicksal. Bleib bei mir, Clint. Du kannst dich jederzeit selbständig machen. Aber bleib bei mir.“ „Ich glaube auch nicht, daß ich dich je hätte verlassen können.“ Clint blieb, und während der nächsten Monate veränderte sich Shannons Leben. Im Oktober hatte sie ihre ersten Collegekurse abgeschlossen. Clint brachte ihr die Grundlagen der Selbstverteidigung bei, auch Fahrmanöver mit dem Auto, die sie bisher nur aus dem Kino kannte. Sie kaufte einen unauffälligen Wagen, fuhr nun mit dem zum College und hielt sich im Hintergrund. Ihre Kommilitonen wußten nur, daß sie Witwe war und ihren Collegeabschluß nachholen wollte. Clint schlief in ihrem Bett, ließ seine persönlichen Sachen aber in seinem eigenen Zimmer. Seine Chauffeursuniform gehörte der Vergangenheit an, doch Shannon spürte, daß er sich ihr noch nicht als ebenbürtig betrachtete. Er verbrachte zunehmend mehr Zeit außerhalb des Hauses und erzählte ihr, daß er auf der Suche nach einem passenden Büro sei. Wenn sie ihn jedoch fragte, wann er seinen Sicherheitsdienst eröffnen wolle, wich er ihr aus. Sie vermutete, daß er die meiste Zeit im Gemeindezentrum verbrachte. Sie hatten sich geschworen, offen und ehrlich zu sein, und er sagte ihr fast jeden Tag, daß er sie liebe. Aber sie spürte, daß er sich in ihrer Beziehung nicht wirklich wohlfühlte. Das Thema Heirat vermied er völlig. Daher brachte sie es auch nicht über sich, ihm ihr Geheimnis zu verraten, obwohl es nur eine Frage der Zeit war, wann er es entdecken mußte. Sie wollte das Kind. Wovor sie sich fürchtete, war Clints Reaktion. Ihre Mutter hatte ihren Vater mit ihrer Schwangerschaft unter Druck gesetzt, bis er sie geheiratet hatte. Die Ehe ihrer Eltern hatte nur vier Jahre gedauert, und sie wollte nicht den gleichen Fehler wie ihre Mutter machen. Doch eines Nachmittags gab sie sich einen Ruck. Entschlossen verscheuchte sie Clarissa aus der Küche. „Nehmen Sie sich heute frei. Ich räume selbst auf.“ „Aber Misses Powell!“ „Bitte gehen Sie.“ Freundlich dirigierte sie Clarissa zur Tür. „Ich habe eine
Überraschung für Clint, und ich möchte mit ihm allein im Haus sein, wenn ich sie
ihm sage.“
Clint parkte sein Motorrad in der Garage und ging langsam zum Haus. Er war
unschlüssig, wie er es Shannon beibringen sollte, was er heute getan hatte.
Entweder würde sie begeistert sein, oder entsetzt.
Als er am Bungalow vorbeikam, sah er Clarissa in der Küche. Sie winkte ihm zu,
und er winkte zurück, verwundert, daß sie nicht drüben im Haus war.
Die Abenddämmerung senkte sich, und er spürte den kalten Wind selbst durch
seine Lederjacke hindurch. Die Hintertür entglitt seiner Hand, als er ins Haus
trat, und knallte zu. Drinnen empfing ihn eine ungewohnte Hitze, und rasch zog
er seine Jacke aus.
Es duftete köstlich nach Essen, und das Knurren seines Magens erinnerte ihn
daran, daß er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.
Zuwenig Zeit, zuviel zu tun: Haus anschauen, Dokumente unterzeichnen…
Er ging zur Küche und rief nach Shannon.
„Ich bin hier“, antwortete sie aus dem Eßzimmer.
Als er dann den Raum betrat, wurde ihm klar, warum es im Haus so bullig warm
war. Die Vorhänge waren zugezogen, und im Kamin loderte ein Feuer.
Das Licht war aus, und auf dem Eßtisch brannten Kerzen. Shannon stand neben
dem Stuhl, auf dem er normalerweise saß, und sie trug das Häubchen und die
Schürze, die sie als Bedienung in Mabels Bistro getragen hatte. Sonst nichts.
„Mr. Dawson.“ Sie nickte ihm lächelnd zu und zog seinen Stuhl hervor. „Mein
Name ist Shannon. Ich bediene Sie heute Abend.“
„Freut mich sehr, Shannon“, erwiderte er lächelnd. Er zog seinen Pullover aus
und öffnete Knopf für Knopf sein Hemd, während er auf Shannon zuging. „Ich
denke, wir fangen mit dem Nachtisch an.“
„Wir finden bestimmt etwas, das Ihnen zusagt.“
„Da bin ich ganz sicher.“
Er stand nun vor ihr und zog sein Hemd aus der Hose, und sie schlang die Arme
um ihn und zog ihn an sich.
„Unsere heutige Spezialität ist…“
Genießerisch rieb er seinen nackten Oberkörper an ihren vollen Brüsten. „Ich
habe bereits gewählt.“
„Und was möchten Sie gern?“
„Dich.“ Und er küßte sie.
Leidenschaftlich erwiderte sie seine Küsse, und er sehnte sich unbändig nach ihr,
obwohl ihre letzte Liebesnacht noch keinen Tag zurücklag.
Sie schmiegte sich dicht an ihn. Doch er wollte sie sehen, sie liebkosen. Deshalb
schob er sie sacht ein Stück zurück und strich mit den Lippen ihren Hals entlang
und zu der Vertiefung zwischen ihren Brüsten, streichelte sie mit Zunge und
Mund, reizte die empfindlichen Spitzen, bis sie sich aufrichteten und begann
dann, hingebungsvoll an ihnen zu saugen und zu knabbern.
Es faszinierte ihn, daß ihre Brüste mit jedem Tag voller zu werden schienen, doch
er konnte sich nicht erklären, warum. Hingerissen berauschte er sich an
Shannons wundervollem Körper. Das Glück, daß sie ihn liebte, schien ihm immer
noch unfaßbar.
Er hob ihre Schürze hoch und verteilte kleine Küsse auf ihren Bauch. „Ich habe
es noch nie mit einer Kellnerin getan, die nur eine Schürze trug“, sagte er,
öffnete seinen Gürtel und zog den Reißverschluß seiner Hose auf.
„Heißt das, du hast nur mit Kellnerinnen geschlafen, die keine Schürze trugen?“
neckte sie ihn – und erschauerte dann vor Erregung, als er mit der Zunge zärtlich
über ihren Venushügel strich.
Sinnlich langsam liebkoste er sie an ihrem sensibelsten Punkt. Shannon stöhnte vor Verzückung und wühlte durch sein Haar. Clint wußte genau, was ihr gefiel. Es gelang ihm immer wieder von neuem, ihr höchste Lust zu bereiten, und erst als sie keuchend seinen Namen rief, richtete er sich auf. Rasch streifte er sein Hemd ab und schob Hose und Slip hinunter. Die Hände um ihre Taille gelegt, schob er sie zum Tisch, und sie öffnete die Schenkel. Clint hatte rechtzeitig nach oben gehen wollen, um die Schachtel mit den Kondomen zu holen. Doch sein Verlangen war zu stark, um ihr Liebesspiel jetzt zu unterbrechen. Er dachte daran, daß sie sich beim erstenmal auch ohne Schutz geliebt hatten und Glück gehabt hatten. Nun flehte er um ein weiteres Mal. Denn solange er nicht wußte, wie Shannon auf seine Pläne reagierte, wollte er kein Kind zeugen. Sie lächelte ihn an, als er in sie eindrang, und er schloß die Augen, gab sich ganz den überwältigenden Gefühlen hin, die ihn durchströmten, während er sich langsam vor und zurück bewegte. Es war eine unendliche Lust. Dabei hatte er in diesen drei Monaten immer wieder befürchtet, daß Shannon seiner müde werden könnte. Wenn sie wegfuhr, hatte er häufig Angst gehabt, daß sie ihn bei ihrer Rückkehr bitten würde zu gehen. Ebenso hatte er um ihre Sicherheit gefürchtet und die schreckliche Vorstellung gehabt, daß ein Betrunkener ihren Wagen rammte oder daß sie ermordet wurde. Er durfte sie nicht verlieren. Trotzdem hatte er der Versuchung widerstanden, erneut einen Minisender zu installieren, oder ihr gar zu folgen. Doch er hatte eine Entscheidung getroffen und hoffte inständig, damit einen Weg gefunden zu haben, der ihnen eine gemeinsame Zukunft ermöglichte. Er spürte, daß Shannon erbebte, so wie er, und er schaute sie an. Ihr Gesicht war rosig überhaucht, und ihre Augen funkelten vor Leidenschaft. Jetzt, in diesem Moment, waren sie eins. Untrennbar. Sie war seine Frau, seine große Liebe, und er würde sie mit seinem Leben verteidigen. Einen langen Augenblick danach, zwinkerte Shannon ihm zu. „Keinen Kaffee, keinen Tee, aber mich.“ Er zog sich sachte zurück. „Ich glaube, ich habe mir einfach genommen, was ich wollte.“ „Ohne nachzudenken.“ Das stimmte. Wenn er sich in Shannons Nähe befand, verlor er immer wieder den Kopf. Doch er hatte nachgedacht, in den vielen Stunden, die er in den letzten drei Monaten im Gemeindezentrum verbracht hatte. Und er wußte nun, was er vom Leben erwartete. Alles, was er jetzt hoffte, war, daß Shannon dieses Leben mit ihm teilte und daß seine Träume wahr wurden. Shannon sah, daß Clint Slip und Hose wieder hochzog. Sie fröstelte plötzlich und streifte rasch sein Hemd über. Es wärmte sie und roch nach Clint. Er ging hinüber zum Büffet. Nun gut, dachte sie, vielleicht erleichtert es mir der Abstand, es ihm zu sagen. „Wir müssen miteinander reden“, sagte sie – und das im gleichen Moment wie er. Verblüfft starrte sie ihn an und forderte ihn dann auf: „Fang du an.“ „Nein, du.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte, daß du beginnst.“ „Nein.“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Also dann… Ich habe heute etwas getan, das dir vielleicht nicht gefällt. Etwas, das mich von dir entfernen könnte.“ Sie biß sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
„Während der vergangenen drei Monate warst du mein ganzes Glück“, fuhr er fort. „Aber ich kann nicht ewig von deinem Geld leben. Und auch nicht in Johns Haus. Ursprünglich wollte ich ja einen Sicherheitsdienst gründen, doch als ich nach geeigneten Räumen suchte, begriff ich, daß ich keine Lust habe, mein Leben damit zu verbringen, die Häuser anderer Leute zu sichern.“ „Und wie willst du dein Leben verbringen, Clint?“ „Heute habe ich den Kaufvertrag für eine Farm nördlich von Sterling Heights unterschrieben und eine Anzahlung geleistet. Ich habe die Farm schon vor zwei Monaten gesehen, aber es dauerte etwas, bis ich ein paar Genehmigungen eingeholt hatte. Heute habe ich die Dokumente erhalten. Man hat mir alles bewilligt, was ich wollte.“ „Und das wäre?“ „Nun…“ Er trat zu ihr, nahm ihre Hände und führte sie zu dem Stuhl, auf dem er normalerweise saß, und setzte sich ihr gegenüber. Ihre Knie berührten sich. „Ich möchte eine Schule aufbauen. Don würde entscheiden, wer von seiner Gemeinde sie besuchen kann. Jungen und Mädchen. Männer und Frauen. Menschen, die Hilfe brauchen, einen erfolgversprechenden Start zu einem neuen Leben. Im Moment sind es fünf Kids, die in Frage kämen. Sie sollen begreifen, daß sie etwas können, daß sie nicht dumm sind. Lernen, wie man sich für einen Job bewirbt und wie man sich benimmt, um ihn zu behalten, wenn man ihn bekommen hat.“ Obwohl sie nichts erwidert hatte, hob Clint abwehrend die Hände. „Ich weiß, du fragst dich, wie ich das Geld dafür aufbringen will. Das ist natürlich ein Problem. Denn das Geld, das ich gespart habe, reicht gerade mal aus, um die Farm zu kaufen. Daher bin ich auf Sponsoren angewiesen. Don glaubt, daß es mir gelingen wird, mehrere Firmen für das Projekt zu gewinnen.“ Sie lehnte sich zurück, um diese erstaunlichen Neuigkeiten besser verarbeiten zu können. Er verstand das offenbar als Rückzug und fügte hinzu: „Hab keine Angst. Ich werde dich nicht um Geld bitten. Ich muß für die Verwirklichung meiner Idee selbst sorgen.“ „Und was ist, wenn ich dir Geld geben möchte?“ „Ich würde es nicht annehmen.“ „Was würdest du denn sonst von mir akzeptieren?“ fragte sie vorsichtig. Nach kurzem Zögern nahm er ihre Hand. Er blickte sich in dem elegant eingerichteten Eßzimmer um. „Meiner Meinung nach gehörst du hierher. Was ich dir bieten kann, ist harte Arbeit. Keine Reisen. Kein Golf.“ „Du möchtest, daß ich für dich arbeite?“ fragte sie verwirrt. „Nein.“ Er holte tief Atem. „Ich möchte, daß du mit mir lebst. Daß du meine Frau wirst.“ Das war nicht gerade ein formvollendeter Heiratsantrag. Doch sie wußte, daß Clint kein großer Redner war. Aber er konnte schreiben. Seine Liebesbriefe zeigten das, und sie war glücklich, diese Briefe zu besitzen. Er verschränkte seine Finger mit ihren, und sie spürte seine Anspannung, während er auf ihre Antwort wartete. Sie lächelte und ließ ihn noch einen kleinen Moment zappeln. „Hört sich an, als gäbe es für uns demnächst eine Menge Arbeit.“ Er brauchte eine Sekunde, um ihre Worte zu begreifen. Dann grinste er. „War das ein Ja?“ „Allerdings. Vielleicht sollte ich meinen Abschluß in Pädagogik machen. Damit wir unser Lehrangebot erweitern können.“ Außerdem würde es ihr bestimmt gelingen, Clint davon zu überzeugen, das Geld zu nutzen, das sie geerbt hatte. „Ich dachte, wir könnten vielleicht ein kleines Haus für meine Mutter bauen.
Wahrscheinlich kann ich sie überreden, aufs Land zu ziehen, wenn sie merkt, daß
sie uns nützlich sein kann. Eins der Mädchen, die Don schicken will, hat ein Baby.
Mom könnte auf das Kind aufpassen, während die Mutter lernt.“
Wunderbar, dachte sie. Jetzt ist ein guter Moment, um es ihm zu sagen. „Sie
könnte sich auch um unser Baby kümmern, während ich im College bin oder
arbeite.“
Er nickte. „Wenn wir eins bekommen.“
„Wie wäre es mit April?“
Er stutzte und riß dann die Augen auf. „Wie, du bist schwanger?“
„Erinnerst du dich? Du wolltest mich beschützen, und ich wollte keinen Schutz.“
„Es ist gleich beim ersten Mal passiert?“
Sie nickte.
Clint legte ihr seine warme, große Hand auf den Bauch. In ein paar Monaten
würde er die Bewegungen seines Kindes spüren können. „Wann hast du es
gemerkt?“
„Ich habe im September einen Schwangerschaftstest gemacht. Vor zwei Wochen
hat der Arzt es bestätigt.“
„Du hast dir so lange Zeit gelassen, bevor du zum Arzt gegangen bist?“
Shannon lachte leise. „Ich wußte doch, daß es sich nicht verflüchtigt und habe
von Anfang an auf meine Ernährung geachtet. Der Arzt meint, daß alles in
Ordnung ist.“
„Und was ist mit dem, was wir gerade getan haben?“
„Kein Problem. Und wir können es sogar wieder tun.“
„Was soll ich bloß mit dir machen?“ sagte er in komischer Verzweiflung.
„Mich lieben, Clint.“
„Kein Problem. Außerdem liebe ich dich doch schon lange.“ Er küßte sie zärtlich.
Ihr war klar, daß die Zukunft nicht nur rosig sein würde. Clint würde schrecklich
besorgt sein, stur und impulsiv, doch sie wußte ebenso, daß sie es gemeinsam
schaffen würden. Sie hörte, daß sein Magen knurrte, und ihr fiel ein, daß sie ihm
ja eigentlich das Essen hatte servieren wollen.
Nachdem sie ihm noch einen liebevollen Kuß gegeben hatte, stand Shannon auf
und ging zur Küche. Auf halbem Weg drehte sie sich um. Ausgelassen zwinkerte
sie Clint zu. „Und wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Cyrano.“
ENDE