Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Fritz Erpenbeck Tödliche Bilanz
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Fritz Erpenbeck Tödliche Bilanz
Kriminalroman
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Hauptmann Peter Brückner von der Berliner Kriminalpolizei hat in seiner langjährigen Praxis schon viele Erfahrungen sammeln können, aber bei dem Verbrechen auf der Trabrennbahn Karlshorst nützen ihm diese Erfahrungen wenig. Die Motive des schrecklichen Mordes scheinen unaufklärbar zu sein. Packte den Mörder nach der Ausführung der Tat die Verzweiflung, daß er Hand an sich legte? Beging er den Mord etwa im Auftrag von Hintermännern? Die Polizei stellt routinemäßig sämtliche notwendigen Untersuchen an; aber mit Routine ist hier nichts zu machen, das merkt Brückner sehr bald. Bei den Vernehmungen leugnen alle mit den Verbrechen in Verbindung stehenden Personen, etwas über den Mord und den Selbstmord des Täters zu wissen. – Hauptmann Brückner und seine beiden Mitarbeiter, Oberleutnant Becker und Leutnant Lorenz, stehen vor einem Rätsel.
Fritz Erpenbeck
Tödliche Bilanz
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Verlag Das Neue Berlin
Peter Brückner erzählt 1 Es war ein Zufall, daß der Ermordete und der Mörder am selben Tage beerdigt wurden. Dem Sarg des Mörders folgten etwa zweihundert Personen, dem Ermordeten gaben nur dreizehn das letzte Geleit. Aber das geschah sechs Tage nach der Tat. Da war noch gar nicht aufgeklärt, ob überhaupt Mord und Selbstmord vorlagen. Das mag zeigen, wie verwirrt und verwirrend der Fall war, mit dessen Aufklärung mich unser Chef, Oberstleutnant Trewes, am 12. März 1963 betraute. Wie schon in anderen Fällen standen mir der etwas pedantische, aber kluge Oberleutnant Becker und der junge, temperamentvolle Leutnant Lorenz als Mitarbeiter zur Seite. Wir drei hatten uns, wenn wir auch die dienstlichen Formen wahrten, ziemlich angefreundet. Ich übernahm den Fall Rennbahn – er hatte zunächst noch keinen anderen Namen – nicht gern. Er war mir zu blutrünstig. Noch etwas kam hinzu: Soviel ich von Pferden verstand, sowenig wußte ich vom Rennbetrieb mit seinen Sitten und Unsitten. Meinen beiden Mitarbeitern ging es nicht anders. Der Mechanismus der Gewinnverteilung, der Wetten und Prämien, die Eigentumsverhältnisse – alles das war uns ein Buch mit sieben Siegeln, mit einem Wort: Das ganze Milieu war uns fremd. Es ist aber weitgehend das Milieu, das die Verhaltensweisen und Handlungen der Menschen bestimmt. An dem einundvierzigjährigen Stallmeister Benno Leysing war in der Futterkammer ein Totschlagsversuch 7
unternommen worden. Das war der Tatbestand, den wir eine knappe halbe Stunde nach Übernahme des Falles vorfanden. Zumindest schien es so. Leysing lebte noch. Als wir am Tatort eintrafen, wurde er gerade in den Ambulanzwagen gebracht. Vier Tage später verstarb er im Krankenhaus. Also Körperverletzung mit tödlichem Ausgang; juristisch schon jetzt ein ziemlich klarer Fall. Oder nicht? War es nicht doch geplanter Mord?
2 Danach sah es bei den ersten Ermittlungen gar nicht aus. Als wir an dem langgestreckten hölzernen Stallgebäude vorfuhren, war ich ärgerlich erschrocken; zwanzig oder mehr Menschen wimmelten da herum und sprachen aufgeregt durcheinander. An ein Sicherstellen von Fußspuren war von vornherein nicht mehr zu denken. Wie viele mochten in der Futterkammer, dem eigentlichen Tatort, herumgetrampelt sein, dies und das berührt, verschoben, entfernt haben? „Wer hat die Futterkammer betreten?“ fragte ich deshalb einen unauffällig gekleideten jungen Mann, der sich mir als Mitarbeiter der örtlichen Kriminalpolizei auswies. „Der Nachtwächter, der Arzt und die beiden Krankenträger, sonst niemand, Genosse Hauptmann.“ „Und Sie, Genosse Polizeimeister?“ „Ich nicht. Als ich hier eintraf, hatte der Nachtwächter bereits verhindert, daß jemand den Raum innerhalb der Einzäunung betrat.“ 8
Erst jetzt beachtete ich, daß sich vor der Reihe der kleinen Ställe, der Boxen, etwa fünf Meter davon entfernt, eine offenbar noch ziemlich neue Barriere aus kräftigem Rundholz hinzog, eine Art von Schranke, ähnlich wie sie in zoologischen Gärten die Raubtiergehege von den Zuschauern trennt. In der Mitte war eine grob gezimmerte Pforte, genau gegenüber der Futterkammer, deren Tür offenstand. Die Neugierigen, oder wer sonst es sein mochte, waren hinter dieser Schranke zurückgehalten worden. „Demnach“, fragte Oberleutnant Becker unseren Kollegen, „hat also der Nachtwächter die Tat entdeckt?“ „Ja.“ Er winkte einen alten Mann, der mit seinem Schäferhund etwas abseits stand, heran. „Ich heiße Bottrich“, stellte er sich vor, „Karl Bottrich“, und er griff nach der Brusttasche, um seinen Personalausweis hervorzuziehen. „Später“, wehrte ich ab, „wenn wir das Protokoll aufnehmen. Berichten Sie erst einmal kurz, wie das war, als Sie die Tat entdeckten.“ Der alte Mann, anscheinend ein Rentner, sprach etwas schwerfällig; man merkte ihm an, daß er sich um Genauigkeit bemühte. „Mein Dienst“, begann er, „fängt eigentlich erst um achtzehn Uhr an. Da ist dann meist schon abgefüttert, jetzt im März, wo die Saison noch nicht richtig angefangen hat, und die Leute gehen nach Hause. Heute war ich zufällig eine viertel oder halbe Stunde früher dran; und weil ich nichts anderes zu tun hatte und das Wetter so gut war, bummelte ich mit Hektor, das ist mein Hund, im Gelände herum.“ „Wie lange etwa?“ „Wie ich eben sagte: ungefähr eine halbe Stunde, es mögen auch nur zwanzig Minuten gewesen sein. Auf die 9
Uhr habe ich nicht gesehen, ich war ja vor meinem Dienstbeginn hier.“ „Sie haben mich mißverstanden, Herr Bottrich. Ich meine: Wann sind Sie hierhergekommen? Wie lange sind Sie vorher im Gelände herumgegangen?“ „Gar nicht. Ich bin gleich hierhergekommen, wohl schon in den ersten fünf Minuten; es mag also drei Viertel sechs gewesen sein.“ „Hatten Sie irgendeinen Grund, Ihren Rundgang gerade hier zu beginnen?“ Der alte Mann lächelte. „Ja und nein“, sagte er, und als er Oberleutnant Beckers mißbilligenden Blick bemerkte, fuhr er fort: „Das ist nämlich so: Dieser Stall steht zur Zeit unter Quarantäne, und ich wollte, weil doch noch Futterzeit war, mal kontrollieren, ob die Vorschriften eingehalten werden. Eigentlich geht mich das nichts an, aber als alten Rennstallbesitzer interessiert einen so was doch. Deshalb – wegen der Quarantäne meine ich – ist hier ja auch die Abzäunung. Da darf keiner durch außer dem Besitzer, dem Stallmeister und dem Trainer. Die müssen sich dann nachher desinfizieren.“ „Aha“, sagte ich, denn ich hatte die Schranke für eine übliche Sicherung der kostbaren Traber gehalten, „hier sind also kranke Tiere untergebracht?“ „Ich glaube, nur zwei sind krank. Aber danach fragen Sie besser jemand anders. Das kann Ihnen“ – er sah sich um – „sicher Frau Leysing sagen.“ Er deutete auf eine kräftige, etwa dreißigjährige Blondine. Sie war von einigen Leuten umgeben, die lebhaft auf sie einredeten und denen sie willig antwortete. Sonderbar, dachte ich, daß die Frau, deren Mann soeben schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht wurde, noch hier ist. Aber vielleicht hatte sie unser Kollege, der 10
Polizeimeister, zum Bleiben aufgefordert. Ihre Aussage konnte sehr wichtig sein. Sie sah übrigens gar nicht so aus, als wäre sie sonderlich aufgeregt oder gar erschüttert. Doch darin kann man sich sehr täuschen. Ich gab Leutnant Lorenz einen Wink, sie zu isolieren. Dann wandte ich mich wieder an den Nachtwächter: „Das ist im Augenblick nicht sehr wichtig. Wie war das, als Sie die Tat entdeckten?“ „Als ich dort um die Ecke kam, stand Frau Leysing an der Barriere und rauchte. Ich grüßte sie, und sie sagte: ‚Nun sind die beiden schon mindestens zehn Minuten in der Futterkammer, aber es geht nicht weiter. Dabei will Benno, daß ich mit ihm ins Kino gehe. Wir kommen ja zu spät.‘“ „Benno ist ihr Mann?“ „Ja, Benno Leysing.“ „Berichten Sie weiter.“ „Ich hörte zur Tür hin, aber in der Futterkammer war es tatsächlich ganz still.“ „Die Tür stand offen?“ „Ja.“ „Und dann?“ „Dann ging ich weiter. Ich sagte nur: ‚Ewig kann das Füttern ja nicht dauern. Haben sie denn schon getränkt?‘ Und sie sagte: ‚Sie haben Pocco und Zephir sogar schon gefüttert.‘ – Pocco und Zephir“, erklärte er mir beiläufig, „sind die beiden ersten Pferde links in der Reihe.“ Ich warf einen raschen Blick auf das Stallgebäude. In der Mitte befand sich die Futterkammer mit einer großen Tür. Durch sie sah man einige Trabrennwagen, senkrecht mit den Scherbäumen nach oben aufgestellt, und irgendwelches Pferdegeschirr, das an der rechten Wand an einem Gestell hing. Neben der Futterkammer befanden sich in langer Reihe zu beiden Seiten je fünf schmale, im oberen Drittel 11
geteilte Türen: die einzelnen Boxen. Auf kleinen Schildern standen die für uns Laien meist sehr sonderbar klingenden Namen der darin untergebrachten Pferde. Über all das erstreckte sich in der ganzen Länge ein niedriges Obergeschoß, das offenbar als Heuboden diente. Alles war alt, stark verwittert, aber sehr saubergehalten. „Sie gingen weiter?“ fragte ich etwas erstaunt. „Ja“, antwortete der Alte. „Und als ich nach etwa einer Viertelstunde wiederkam, stand Frau Leysing immer noch da und wartete. Das kam mir nun aber doch sehr sonderbar vor. ‚Immer noch nicht?‘ fragte ich. Da sagte sie: ‚Eben ist er herausgekommen und zur Rennleitung gegangen. Er hat mich nicht einmal gegrüßt.‘ –‚Wer?‘ fragte ich. ‚Ihr Mann?‘ – ‚Nein, Werner Hell.‘ Und plötzlich sagte sie: ‚Herr Bottrich, da ist was passiert! Da muß was passiert sein!‘“ „War Frau Leysing dabei sehr aufgeregt?“ „Eigentlich nicht sehr. Jedenfalls merkte ich es ihr nicht an. Aber sie ist eine Frau, der man wenig anmerkt.“ „Und weiter?“ „Nun lauschten wir beide. Man kann ja nur rechts in die Futterkammer hineinsehen; was links ist, sieht man von draußen nicht. Da steht eine lange Kiste mit den Fächern für Hafer, Häcksel, Leinsamen, Preßhafer, Melasse und so weiter. Plötzlich war uns, als ob wir ein Stöhnen hörten. ‚Da ist was passiert!‘ rief Frau Leysing wieder. ‚Gehen Sie doch hinein, sehen Sie nach, Herr Bottrich!‘“ Der Alte schüttelte den Kopf, als er weitersprach. „Ich dachte noch so: Wenn ich die Frau wäre, dann könnte mich jetzt nichts zurückhalten, ich hätte sogar schon längst vorher nachgesehen. Quarantäne … Na ja, aber schließlich: Der eigene Mann ist doch wichtiger. – Dann ging ich hinein. Ich kriegte einen furchtbaren Schreck. 12
Auf dem Boden vor der Futterkiste lag Herr Leysing. Ganz blutig. Die Augen waren verdreht und zuckten ein paarmal. Er stöhnte. Nicht sehr laut, aber es ging einem durch und durch, so furchtbar war es. Da machte ich sofort kehrt, lief hinaus, nahm Frau Leysing beim Arm und sagte: ‚Kommen Sie, wir müssen schnell telefonieren!‘ Ohne etwas zu sagen oder zu fragen, ging sie mit.“ „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Herr Bottrich. Warum nahmen Sie Frau Leysing mit, statt sie sofort zu ihrem Mann hineinzuschicken?“ Der Alte nickte ein paarmal gedankenlos und wurde etwas verlegen. „Ja“, sagte er, „das habe ich mich nachher auch gefragt. Aber ich hatte nach dem, was ich gesehen hatte, wohl ein bißchen den Kopf verloren; vielleicht habe ich auch gedacht: Es ist besser, wenn die Frau ihren Mann nicht so sieht, helfen kann sie ihm ja doch nicht.“ Der Alte strich sich über die Augen, als müsse er ein Erinnerungsbild verscheuchen. „Es war gräßlich“, schloß er fast tonlos. „Wo telefonierten Sie?“ „Im Restaurant. Dort habe ich die Unfallstation und dann die Polizei angerufen. Dabei hörte Frau Leysing erst, was los war, so ungefähr wenigstens.“ „In der Zeit, während Sie zum Telefon liefen, zwei Gespräche führten und dann hierher zurückkehrten, vergingen doch mindestens zehn Minuten oder mehr?“ Er nickte. „Während dieser ganzen Zeit war also der Tatort unbewacht, jeder hätte in die Futterkammer gehen können?“ „Nein. Das habe ich vergessen zu sagen. Ehe wir losliefen, habe ich meinen Hund hier an den Pfosten gebunden und gesagt: ‚Hektor, paß auf!‘ Da können Sie ganz sicher sein, Hektor hätte keinen durchgelassen.“ 13
„Als Sie zurückkamen, hatte da Frau Leysing, die doch jetzt wußte, daß ihr Mann drinnen mit schweren Verletzungen lag, immer noch nicht das Bedürfnis, zu ihm zu eilen?“ Der Alte, der vermutlich mit einigem Wissen zurückhielt, sah mich mit biederem Ausdruck an, dann sagte er trocken: „Darüber habe ich mich auch gewundert.“ „Frau Leysing blieb also draußen?“ „Ja, sie ging nicht hinein. Sie steckte sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten dabei, das war aber auch alles. Nach einiger Zeit, es mochten so fünf Minuten gewesen sein, da kam der junge Mann dort“ – er deutete auf unsern Kollegen – „mit seinem Motorrad angebraust. Er wies sich als einer von der Kriminalpolizei aus. Ich war froh darüber, denn nun hatte ich keine Verantwortung mehr. Ich sagte ihm, daß der Stall unter Quarantäne steht und niemand hinein dürfte. Er sagte, auch wenn das nicht der Fall wäre, dürfte außer dem Arzt und der Polizei keiner hinein; und der Arzt kam dann kurz vor Ihnen.“ Während ich noch überlegte, daß diese Aussage durchaus klar und anscheinend lückenlos war, aber doch so manche Frage, vor allem, was das völlig unerklärliche Verhalten der Frau Leysing anging, offenließ, schrie plötzlich ein Mann: „Dort brennt’s! Dort – der Heustapel hinter dem Geläuf!“ Wir alle sahen hin. Auch das noch, dachte ich ärgerlich. Die Entfernung betrug schätzungsweise drei- bis vierhundert Meter. Es dämmerte bereits stark. Man erkannte nur die Umrisse eines hohen Heuhaufens – wenn es Heu war –, aus dem dunkelrote Flammen mit auffallend dicker, schwarzer Rauchbildung schlugen. „Das muß Brandstiftung sein!“ rief der Mann aufgeregt. „Anders ist das gar nicht möglich.“ 14
Irgend jemand widersprach ihm. „Bei Heu gibt’s manchmal auch Selbstentzündung …“ „Das ist doch Quatsch!“ Die Menschen stritten jetzt laut durcheinander. Ich rief Leutnant Lorenz zu: „Stellen Sie fest, was los ist.“ Ohne daß ich ihn hätte auffordern müssen, beschäftigte sich Oberleutnant Becker sogleich mit Frau Leysing, die Lorenz vorher beiseite geführt, das heißt von den Neugierigen isoliert hatte. Denn es ist in jedem Fall gut, wenn wichtige Zeugen vor ihrer ersten Aussage mit niemand sprechen können; und wer konnte wissen, ob all die Neugierigen nur Neugierige waren? Diese Frau Leysing gab mir ohnehin zu denken, und diese Gedanken waren nicht sehr freundlich. Ich wandte mich an unseren jungen Kollegen: „Wo können wir hier am zweckmäßigsten einige Vernehmungen durchführen?“ „Im Gebäude der Rennleitung.“ „Gut.“ Laut fragte ich die Herumstehenden, zu denen unterdes noch fünf oder sechs neue gekommen waren: „Hat jemand von Ihnen etwas Besonderes bemerkt, etwas, das mit diesem Vorfall zusammenhängen könnte?“ Nach kurzem Hin und Her stellte sich heraus, daß wohl die meisten etwas über Benno Leysing und den Trainer Hell erzählen könnten und wollten, jedoch nichts, was unmittelbar mit der Tat zu tun hatte. Ich bat den Polizeimeister, die Namen und Anschriften zu notieren, und ließ Oberleutnant Becker, da in der Futterkammer keine Spur „kalt“ werden konnte, die Tür abschließen und versiegeln. Dann ging ich mit ihm und Frau Leysing zur Rennleitung, einem hellen, quadratischen Haus dicht an der Bahn. 15
3 Dort war übrigens alles ein bißchen anders, als man es sich nach dem pompösen Namen vorstellt. Einige moderne Büroräume – weiter nichts. Jetzt waren sie leer, die Angestellten, oder wer sonst tagsüber dort arbeiten mochte, waren bereits nach Hause gegangen; nur ein älterer Mann war noch anwesend. Er wies uns eines der Bürozimmer an, und ich begann, während Oberleutnant Becker stenografierte, die Vernehmung. Ich halte nicht viel von der Art, wie viele meiner Kollegen Zeugen vernehmen und dabei zugleich das Protokoll schreiben: Satz um Satz, aber selten so formuliert, wie der Zeuge spricht. Was man solchen Protokollen später entnehmen kann, sind bestenfalls einige sachliche Widersprüche, nicht aber jene kleinen, ungewollten, die im lebendigen Gespräch – sei es in der vorsichtigen Wortwahl, sei es im hastigen Drauflosreden – fast stets bemerkbar werden. Ich mache mir lieber die Mühe, das Protokoll nachträglich aus meinen Notizen oder dem Stenogramm zusammenzustellen und, verursacht es auch einen Zeitverlust, später mit dem Zeugen durchzugehen und es unterschreiben zu lassen. Am liebsten wäre es mir, zur Kontrolle und zum Vergleich eine Tonbandaufnahme machen zu dürfen, denn oft sagen Stockungen, unwillkürliche Tempobeschleunigungen und gewisse Tonfälle weit mehr aus als der Inhalt der Sätze, gar der trocken zusammengebastelten Sätze im Protokoll. Selbst der pedantische, sich streng an alle Vorschriften klammernde Oberleutnant Becker hatte da mittlerweile schon einiges gelernt und gab mir etwas widerwillig recht. 16
Frau Edeltraut Leysing geborene Überloh, 1958 aus ihrer Geburtsstadt Jena zugezogen, war, wie ich dem Personalausweis entnahm, neunundzwanzig Jahre alt. Als Beruf stand angegeben: Friseuse. „Sind Sie noch berufstätig?“ „Nein, seit meiner Heirat nicht mehr.“ „Wann haben Sie geheiratet?“ „Vor vier Jahren, am …“ „Kinder?“ „Nein.“ „Was waren oder sind Ihre Eltern?“ „Mein Vater hat eine Autoreparaturwerkstatt in Jena, meine Mutter ist Hausfrau.“ „Geschwister?“ „Mein jüngster Bruder ist Tankwart in Jena, der ältere arbeitet bei meinem Vater in der Werkstatt als Spritzlackierer.“ Sie rauchte dabei, kaum nervös, eine Zigarette mit Filtermundstück, eine Westmarke, wie ich bemerkte. „Hat denn meine Verwandtschaft etwas mit der Sache zu tun?“ fragte sie unwillig. „Nur eine Formalität“, antwortete ich höflich. Ich hatte sie mir indessen genauer betrachtet. Sie war untersetzt, ich möchte fast sagen: grob gebaut, wenn sie das auch durch geschickte Kleidung zu mindern verstand. Diese war keineswegs elegant, sondern betont solid, fernab von allem Flittchenhaften jedenfalls. Ihr Gesicht war nach meinem Geschmack etwas zu breit, aber ich würde nicht sagen unschön. Sie hatte sehr dunkle, braune Augen, die, selbst wenn sie, was selten geschah, lebhaft sprach, ausdruckslos blieben. Das Haar, modisch frisiert, war hellblond und von jener Spröde und Nuancenlosigkeit, die sofort verriet, daß es gebleicht war; es paßte auch gar nicht zu ihrem Typ. Die Hände waren verhältnismäßig groß, 17
knochig, sauber, aber nicht gepflegt; der hellrote Nagellack war stellenweise abgesprungen. Ihre Stimme klang rauh, sie war tief und wenig modulationsfähig; ihre Art zu sprechen war ruhig, ein bißchen gewöhnlich in den Ausdrücken, jedoch ebenso frei von Derbheiten wie von Affektiertheit. „Bitte, Frau Leysing, berichten Sie uns jetzt den Hergang, möglichst mit allen Einzelheiten, auch solchen, die Sie vielleicht für unwesentlich halten. Doch zuvor muß ich Sie, der Vorschrift gemäß, belehren: Sie werden zur Sache …“ Da schrillte das Telefon. Ich brach ärgerlich ab. Oberleutnant Becker, der meine Abneigung gegen das Telefonieren kannte, nahm den Hörer. Die aufgeregte Stimme in der Muschel war im ganzen Zimmer zu vernehmen, wenn auch nicht zu verstehen. Beckers Gesicht wurde immer ratloser. Er begann sich nervös in seiner sandblonden Haarbürste zu kratzen. „Ja, ja, ich habe verstanden“, sagte er. „Ich werde es sofort weitergeben. Danke.“ Er atmete ein paarmal tief, sah unsicher auf die Zeugin, aber dann entschloß er sich doch. „In dem Heu ist ein Mensch verbrannt worden“, sagte er, unwillkürlich flüsternd. „Genosse Lorenz hat jemand zum Telefon geschickt, um es Ihnen melden zu lassen.“ Trotz des Schocks, der mich traf, hatte ich die Geistesgegenwart, Frau Leysing zu beobachten. Aber sie hob nur den Kopf, starrte ausdruckslos an mir vorbei auf das Telefon und ließ keinen Laut hören. Ich möchte beinahe mit Gewißheit sagen: sie atmete nicht einmal schneller. Ich stand auf, nahm Hut und Mantel. „Führen Sie diese Vernehmung bitte weiter, Genosse Becker.“ „Jawohl, Genosse Hauptmann.“
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4 Es mochten an die zwanzig Zentner Heu sein, die da niederbrannten. Zwei Wagen der Karlshorster Feuerwehr standen, die Bedienungsmannschaft abgesessen, abseits auf der Wiese; ein Löschversuch lohnte nicht mehr, er wäre auch, da der nächste Hydrant gut zweihundert Meter entfernt war, schwierig gewesen. Das Feuer konnte nichts und niemand gefährden, denn das Heu war in etwa fünfzig Meter Abstand von der Rennbahn auf freiem Gelände gestapelt. Sanitätsrat Vollmer, unser ständiger medizinischer Mitarbeiter, begrüßte mich. Man hatte ihn, da bei seinem Eintreffen der schwerverletzte Benno Leysing schon ins Krankenhaus abtransportiert worden war, gleich hierher gewiesen. Vollmer, der sich gern ein bißchen zynisch gab – was er übrigens gar nicht war –, ließ zum erstenmal, seit ich ihn kannte, Zeichen einer starken Erregung erkennen. „Ich habe schon manches erlebt, lieber Herr Brückner“, sagte er, „aber das ist das unwahrscheinlichste: eine Selbstverbrennung!“ Ich sah ihn fassungslos an. „So etwas soll früher bei indischen Witwen oder heute gelegentlich bei buddhistischen Mönchen vorgekommen sein … Aber hier, hier in Berlin?“ Ich durchschaute den freundlichen alten Herrn, er redete nur, um sich über seine tiefe Erregung hinwegzureden. Wortlos deutete er auf ein schwarzes, verkohltes Etwas, an dem zwei menschliche Beine hingen. So hatte man den Trainer Hell aus den Flammen gezogen und abseits auf den Grasboden gelegt. Einige Männer, offenbar zur Rennbahn gehörend, und der Leiter des Löschzugs umstanden 19
den Toten und starrten mit verständnislosen Gesichtern auf ihn nieder. Ich mußte mich zusammennehmen. Es würgte mich im Hals, und meine Stimme klang mir selbst fremd, als ich fragte: „Wer hat ihn identifiziert?“ Dr. Vollmer deutete auf einen Mann. Der war sehr bleich und rieb sich, offenbar ohne zu wissen, daß er es tat, eine Brandwunde auf dem linken Unterarm. Der Ärmel seines hochgestreiften Jumpers war stark versengt. „Er hat geholfen, die Leiche zu bergen“, erklärte mir Sanitätsrat Vollmer leise, „er und ein anderer Mann, den ich zur Behandlung seiner etwas schweren Brandwunden fortgeschickt habe.“ Leutnant Lorenz, den ich zuerst gar nicht bemerkt hatte, obwohl er nur ein paar Schritt neben mir stand, trat heran. Auch er war sichtlich erschüttert und verwirrt. Der sonst so frische, fröhliche Junge war kaum wiederzuerkennen. „Der Mann dort, der mit dem Jumper, hat ihn hierherlaufen sehen“, berichtete er und bemühte sich vergebens, seine Stimme dienstlich-sachlich klingen zu lassen. „Als das Heu zu brennen begann, liefen er und ein Kollege ihm nach. Sie rissen ihn, viel zu spät, aus den Flammen. Es besteht kein Zweifel, Genosse Hauptmann: Der Tote ist der Trainer Werner Hell. Sie erkannten ihn auch wieder an seinen Stiefeln.“ Ein Ambulanzwagen rollte heran. Sanitätsrat Vollmer ließ den Toten oder das, was noch von ihm übrig war, fortschaffen. Er sah wohl, daß ich noch immer gegen eine Übelkeit ankämpfte. „Ich verstehe Sie, Brückner“, sagte er und legte seine Hand auf meinen Arm, „mir ging es im ersten Augenblick ebenso. Es ist nicht der Zustand der Leiche – nein, da haben wir beide schon Schlimmeres gesehen –, es ist die unfaßbare 20
Tatsache eines derart entsetzlichen Selbstmords …“ Er wollte mir anscheinend wie sonst beim Abschied „guten Erfolg“ wünschen, aber das blieb ihm in der Kehle stecken; abrupt sagte er: „Auf Wiedersehen“, machte schroff kehrt und ging rasch zu seinem Wagen. Auch die Feuerwehr rückte ab. Leutnant Lorenz, der bereits die fotografischen Aufnahmen des Tatorts und des Toten gemacht hatte, zeigte auf einen Benzinkanister, der einige Meter von dem jetzt zusammenfallenden und verkohlenden Heuhaufen im Grase lag. „Fingerabdrücke?“ fragte ich mechanisch. „Wohl kaum verwertbare“, sagte Lorenz, und das klang beinahe gleichgültig. „Ich habe natürlich alle abgenommen. Aber bevor ich hier eintraf, hatten die Feuerwehrmänner das Ding von Hand zu Hand gehen lassen. Ob der Kanister leer war, wollten sie angeblich feststellen.“ Und völlig unvermittelt brüllte er unbeherrscht los: „Wann werden die Leute endlich lernen, daß man Fundstücke nicht berühren darf! Diese Idioten! Diese …“ Er brach ab und errötete. „Entschuldigen Sie, Genosse Hauptmann“, sagte er und schämte sich, „es ist mit mir durchgegangen.“ Ich hatte Mitleid mit ihm. Doch jeder junge Kriminalist muß eines Tages dergleichen durchmachen, das ist eine der Schattenseiten unseres Berufs. Von „Männern mit eisernen Nerven“ halte ich nicht viel. „Wurde sonst noch etwas gefunden? Feuerzeug oder dergleichen?“ Nach Fußspuren fragte ich erst gar nicht, es wäre sinnlos gewesen. „Ich habe nur den Inhalt der rechten Hosentasche sicherstellen können: zwei Schlüssel und ein halbverbranntes Schnupftuch mit einigen dunklen Flecken, die vermutlich Blutspuren sind.“ 21
„Stellen Sie die Fundstücke sicher, und bleiben Sie hier, bis ich jemand schicke, der Sie ablöst. Wir müssen verhindern, daß Unbefugte in der Asche herumstochern, wenn das Feuer ausgebrannt ist. Sie finden den Genossen Becker und mich dann im Haus der Rennleitung.“ Auf dem Weg dorthin war ich immer noch nicht zu klarem Denken fähig. Das Gefühl überwog. Selbstmorde junger Menschen sind bei uns viel seltener, als man glaubt. Es entfallen bei uns heute fast ganz die sozialen Motive früherer Jahre, wie berufliche Aussichtslosigkeit, Angst vor dem unehelichen Kind, Schutzlosigkeit vor Schikanen und Brutalitäten der Arbeitgeber; und private Motive wie Liebeskummer versinken immer mehr im Bereich einer veralteten Romantik. Was war hier geschehen? Wo war das Motiv zu suchen? Hatte dieser Werner Hell sich zu einem Totschlagsversuch hinreißen lassen, vielleicht sogar zu einem versuchten Mord, und hatten ihn das Entsetzen, die Angst, die Reue gepackt, ihn kopflos gemacht und in den Freitod getrieben? Trotz allem – unwahrscheinlich, psychologisch unbegreifbar. Selbstverbrennung: allein schon dieser absurde Gedanke! Er konnte unmöglich spontan entstanden sein; der Heuhaufen lag dem Selbstmörder ja nicht vor der Nase, bot sich ihm nicht zur Tat an. Das Heu lag mehrere hundert Meter weit vom Stall; um zu ihm zu gelangen, mußte man entweder über die leere, breite Fläche der Rennbahn, das Geläuf, wandern, wo ein Mensch mit einem Benzinkanister in der Hand bestimmt aufgefallen wäre, oder aber an mehreren Ställen vorüber, durch einen kleinen Waldzipfel, über eine Wiese. Woher hatte Hell den vollen Benzinkanister? Höchstwahrscheinlich war es doch streng verboten, in den hölzernen Stallungen, über denen oft große Mengen von 22
trockenem Heu und Stroh lagerten, Benzin aufzubewahren. Ich besann mich. Ja, vorhin hatte ich an der Tür der Futterkammer ein Schild bemerkt: „Rauchen verboten!“ Nein, dieser Selbstmord konnte nicht spontan, nicht aus Entsetzen vor der eigenen Tat, aus Angst vor den Folgen, aus jäher Reue erfolgt sein. Er war vorbereitet … Ich verhielt plötzlich meinen Schritt. War es überhaupt Selbstmord? Ich glaube, ich habe verärgert mit dem Fuß aufgestampft, und es hätte nicht viel gefehlt, daß mir ebenso wie vorher dem Genossen Lorenz die Nerven durchgegangen wären. Verdammt, dreimal verflucht diese trottelhaften Neugierigen, diese dilettantischen Privatdetektive, die alle Fingerabdrücke auf dem Kanister versaut hatten! Aber vielleicht – nein, hoffentlich – wird man in der Asche des Heuhaufens etwas finden, das uns weiterhilft, grübelte ich im Weitergehen. Dieser Selbstmord war, wenn der Trainer Hell nicht geistesgestört war, unwahrscheinlich bis zur Unmöglichkeit. Es mußte ein Mord vorliegen, ein besonders grausiger, rätselhafter Mord …
5 Oberleutnant Becker verfügt, weswegen ich ihn bewundere und sogar ein wenig beneide, über ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis für Zeitangaben, Namen und Formulierungen. Als ich in der Rennleitung ankam, beendete er gerade die Vernehmung der Frau Leysing. „Ich muß Sie leider bitten“, sagte er zu ihr, „noch kurze Zeit im Zimmer nebenan zu warten.“ 23
„Bitte“, antwortete sie ruhig und ging an ihm, der ihr die Tür öffnete, vorbei ins Nebenzimmer. Beckers Bericht, den er mir über ihre Vernehmung – nur dann und wann flüchtig auf seine stenografischen Notizen blickend – erstattete, darf als sehr genau, als nahezu wörtlich angesehen werden: „Frau Leysing, Sie wollten also mit Ihrem Mann eine Kinovorstellung besuchen?“ „Ja.“ „War das Ihr Wunsch oder seiner?“ „Seiner. Er hatte mir gesagt: ‚Du holst mich ab. Gleich nach dem Füttern gehen wir: erst ins Café Vorwärts eine Bockwurst essen und dann ins Kino.‘ Ich war aber schon früher hier.“ „Wieviel früher?“ „Ich weiß nicht. Ich ging ins Restaurant und trank eine Tasse Kaffee.“ „Im Café Vorwärts?“ „Nein, im Rennbahnrestaurant.“ „Um festzustellen, daß Sie zu früh gekommen waren, müssen Sie doch auf die Uhr gesehen haben. Andernfalls wären Sie vermutlich gleich zum Stall gegangen. Wieviel Uhr war es denn?“ „So ist das nicht. Ich wußte, daß ich zu früh hergekommen war, weil ich zu früh von zu Hause fortgegangen war; ich war sicher, daß ich mindestens noch eine halbe Stunde Zeit hatte.“ „Warum gingen Sie denn aber nun so zeitig von zu Hause fort?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich hatte nichts zu tun, und das Wetter war gut. Mein Mann wäre sehr ärgerlich gewesen, wenn er auf mich hätte warten müssen. Wenn er sich etwas vorgenommen hat, will er, daß es geschieht; so ist er nun mal.“ 24
Oberleutnant Becker hatte an dieser Stelle leider versäumt, einige Fragen zu stellen, die das Verhältnis der beiden Ehegatten aufgehellt hätten. Aber Psychologie ist seine schwache Seite; ihm kam es, seiner etwas pedantischen Art gemäß, darauf an, die im Augenblick gar nicht so wichtige Zeitfrage zu klären. „Sie gingen also“, fragte er Frau Leysing, „ins Rennbahnrestaurant und tranken dort, ohne auf die Uhr zu sehen, eine Tasse Kaffee?“ „Ja. Denn mein Mann wäre, wenn das Füttern vorbei war, gekommen und hätte mich abgeholt.“ „War das so verabredet?“ „Das brauchte nicht verabredet zu werden, das war selbstverständlich. Seit sein Stall unter Quarantäne stand, konnte ich ja nicht wie vordem einfach in die Futterkammer gehen und dort auf ihn warten.“ „Sie gingen aber dann doch zum Stall. Was veranlaßte Sie dazu?“ „Herr Schimanski, das ist der Trainer vom Nachbarstall, kam herein und begrüßte mich. Ich fragte ihn, wieweit sie bei uns mit dem Füttern wären. Er sagte: ‚Als ich vorbeikam, waren sie noch beim Tränken.‘ Und da nach dem Tränken gleich gefüttert wird, mußten sie in zehn Minuten oder einer Viertelstunde fertig sein. Ich zahlte also meinen Kaffee und ging langsam zum Stall.“ „Immer noch, ohne auf die Uhr zu sehen?“ Im stillen mußte ich lächeln. Das war so echt Oberleutnant Becker. Ich glaube, er könnte noch tagelang nachher genau angeben, wann er sich heute die Zähne geputzt, den Schlips geknotet oder eine Zigarette angezündet hat; und das erwartet er auch von anderen, insbesondere von Verdächtigen. 25
„Ich verstehe Sie nicht“, hatte ihm nun auch Frau Leysing etwas ärgerlich geantwortet, „warum ich fortwährend auf die Uhr gesehen haben sollte. Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Aber wenn Sie feststellen wollen, wann ich beim Stall ankam, dann kann ich Ihnen das ziemlich genau sagen: Es muß fünf Minuten vor sechs gewesen sein.“ „Also siebzehn Uhr fünfundfünfzig.“ „So kann man’s auch sagen.“ „Woher wissen Sie die Zeit so genau, wenn Sie, wie Sie selbst sagen, nicht auf die Uhr gesehen haben?“ „Ich war ziemlich erstaunt, als ich beim Stall ankam und sich dort nichts rührte. Weder mein Mann noch Herr Hell waren zu hören oder zu sehen, obwohl die Tür zur Futterkammer offenstand. Ich wartete zehn Minuten.“ „Das schätzen Sie?“ „Ja.“ „Haben Sie sich keine Gedanken darüber gemacht, warum es in der Futterkammer so still war?“ „Eigentlich nicht. Oder doch. Jedenfalls keine besonderen Gedanken.“ ‚,Können Sie das nicht etwas deutlicher ausdrücken?“ „Meine Gedanken … Haben denn die etwas mit der Sache zu tun?“ „Möglicherweise.“ „Na schön. Ich dachte, daß ich nicht gern in diesen Film ginge, weil ich ihn schon gesehen hatte. Aber mein Mann wollte ihn sehen. Und ich dachte auch: Wer mag die beiden wohl beim Füttern weggeholt haben? Das muß schon etwas sehr Wichtiges gewesen sein, sonst hätten sie das Füttern bestimmt nicht unterbrochen. Vielleicht habe ich auch noch mehr gedacht. Ich weiß es nicht. Man erwartet doch nicht, daß man später von der Polizei nach 26
seinen Gedanken gefragt wird; sonst hätte ich sie mir wahrscheinlich gemerkt.“ Ich unterbrach Becker und fragte ihn: „Hat Frau Leysing das ironisch gesagt?“ Er wurde ein bißchen verlegen. „Ich bin darüber hinweggegangen, obwohl ich die Bemerkung ungehörig fand. Aber mir kam es darauf an, Tatsachen zu erfahren. Ich fragte die Zeugin weiter: Sie standen also schätzungsweise zehn Minuten an der Barriere vor dem Stall. Hat Sie während dieser Zeit jemand gesehen?“ „Das weiß ich nicht. Ich habe jedenfalls niemand gesehen.“ „Was geschah nach diesen zehn Minuten des Wartens?“ „Da kam Herr Bottrich. Das ist der Nachtwächter. Deshalb weiß ich auch – ohne auf die Uhr gesehen zu haben – die Zeit. Da Herrn Bottrichs Dienst um achtzehn Uhr beginnt und er seinen Rundgang gewöhnlich bei uns anfängt, muß es ziemlich genau achtzehn Uhr fünf gewesen sein.“ „Wenn Herr Bottrich nun aber seinen Rundgang heute früher begonnen hätte?“ Frau Leysing zuckte die Achseln. „Warum sollte er?“ „Nun, Sie sind ja auch früher zur Rennbahn gekommen, als ausgemacht war. – Aber lassen wir das. Sie unterhielten sich mit Herrn Bottrich?“ „Er sagte guten Abend, und wir wechselten ein paar Worte, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Ich glaube, ich habe ihm gesagt, daß ich mit meinem Mann ins Kino wollte, aber in der Futterkammer wäre es ganz still. Wo mein Mann wohl sein könnte? Er und Herr Hell wären doch unmöglich zwischen dem Tränken und Füttern weggegangen.“ „Und dann?“ „Herr Bottrich setzte seinen Rundgang fort.“ 27
„Und Sie?“ „Ich steckte mir eine Zigarette an und wartete weiter. Was sollte ich sonst tun? Aber es rührte sich nichts. Da habe ich einige Male auf meine Uhr gesehen, aber die ging falsch.“ „Ging falsch?“ „Ja. Auf meiner Uhr war es erst fünf Minuten vor sechs. Das konnte unmöglich stimmen. Wenn Herr Bottrich schon auf seinem Rundgang war, mußte es mindestens fünf oder zehn Minuten später sein. Ich erschrak. Vielleicht war mein Mann inzwischen zum Restaurant gegangen, und ich hatte ihn unterwegs verfehlt? Obgleich das eigentlich nicht gut möglich war – ich hätte ihm begegnen müssen. Und dann, dachte ich, stünde doch auch die Tür der Futterkammer nicht offen. Es könnte höchstens sein, daß mein Mann den Werner zum Füttern allein zurückgelassen hätte. Aber dann mußte ich Werner Hell doch sehen oder hören. Mir kam das alles sehr sonderbar vor.“ „Verdächtig?“ „Nein, nur sonderbar. Ich überlegte mir, ob ich meinen Mann rufen sollte, aber ich unterließ es dann doch.“ „Warum?“ „Weil er sich darüber wahrscheinlich geärgert und mich angeschrien hätte. Er würde sicherlich gedacht haben, ich wollte ihn bei der Arbeit antreiben. Darin ist er sehr empfindlich.“ „Ich habe Sie unterbrochen, Frau Leysing; wie ging es weiter?“ „Da kam plötzlich Werner Hell aus der Futterkammer. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, an mir vorbei. Er hat nicht einmal gegrüßt. Es war, als ob er mich überhaupt nicht sähe.“ „Wohin ging er, ich meine: in welche Richtung?“ 28
„Zur Rennleitung.“ „Wissen Sie das so genau?“ „Ziemlich genau. Ich konnte es doch sehen. Er ging direkt auf das Haus zu, den Damm nach rechts hoch.“ „Sind Sie ganz sicher, daß er nicht nach links ging?“ „Ganz sicher. Denn ich überlegte mir, was er dort wohl um diese Zeit wollte. Es war doch schon kurz vor Arbeitsschluß oder vielleicht schon etwas später. Sollte er wieder einen Streit mit meinem Mann gehabt haben und wollte sich beschweren? Während ich das noch dachte, kam Herr Bottrich zurück. Ich erzählte ihm, daß Werner eben herausgekommen und zur Rennleitung gelaufen wäre. Ich fragte ihn, ob er nicht mal in der Futterkammer nachsehen wollte, was da los war. Er antwortete, wenn ich mich richtig erinnere, nein, das dürfte er nicht wegen der Quarantänevorschriften. Plötzlich hörten wir von drinnen ein Stöhnen. Da lief Herr Bottrich trotzdem hinein, aber er kam sofort zurück. Er riß mich am Arm und rief aufgeregt: ‚Kommen Sie, wir müssen telefonieren!‘ Aber er sagte nicht, was er gesehen hatte. Er band seinen Hund an die Pforte, und wir liefen zum Restaurant, weil dort das nächste Telefon ist. Als er die Unfallstelle und dann die Polizei anrief, erfuhr ich erst, daß etwas Schreckliches passiert war, aber nur ungefähr.“ „Frau Leysing, haben Sie nicht schon zuvor, nämlich als Sie das Stöhnen aus der Futterkammer hörten, zu Herrn Bottrich geäußert: ‚Da ist etwas passiert‘?“ Sie zögerte mit der Antwort, aber nur ganz kurz, dann sagte sie: „Das ist möglich. Ich erinnere mich nicht. Ich war furchtbar aufgeregt.“ Oberleutnant Becker flocht ein: „Dabei machte die Zeugin jedoch selbst jetzt, wo sie wußte, was geschehen war, keineswegs einen aufgeregten Eindruck. Die Frau 29
muß völlig gefühlskalt sein oder sich unglaublich beherrschen können. Sie ist nicht einmal, als der Arzt der Unfallstation eintraf, mit ihm in die Futterkammer zu ihrem Mann gegangen, sondern hat weiter draußen gewartet und mit einigen Neugierigen, die sich nun ansammelten, gesprochen. Ich fragte sie: Haben Sie, als Ihr Mann in den Krankenwagen gebracht wurde, versucht, ihn zu sehen oder mit ihm zu sprechen? Darauf antwortete sie mir, ohne auch nur eine Miene zu verziehen: ‚Nein, er war zugedeckt, und auf dem weißen Laken sah ich einen Blutflecken, der ganz rasch größer wurde. Das war mir zu gruselig.‘ Eine merkwürdige Frau …“, schloß Oberleutnant Becker kopfschüttelnd. Ich nickte. „Warum haben Sie sie noch hierbehalten?“ „Ich dachte, vielleicht haben Sie noch Fragen, Genosse Hauptmann.“ „Ich hätte zwar eine. Nicht etwa bezüglich der vermeintlich falsch gehenden Uhr. Dieser Widerspruch ist für uns, die wir die Aussage Bottrichs über seinen verfrühten Dienstantritt kennen, kein Widerspruch mehr. Aber mir ist da, wenn Sie es in Ihrem sonst ausgezeichneten, lebendigen Bericht nicht zu erwähnen vergessen haben, ein anderer Widerspruch aufgefallen. Nämlich …“ Becker unterbrach mich. „Ich weiß“, sagte er, „nein, ich habe es nicht zu erwähnen vergessen, Genosse Hauptmann. Ich habe die Zeugin absichtlich nicht darauf aufmerksam machen wollen, da es einen gravierenden Widerspruch zwischen ihren Angaben und denjenigen des Zeugen Bottrich gibt. Den möchte ich ihr, wenn wir erst mehr Tatsachen ermittelt haben, überraschend vorhalten. Wie hießen doch die beiden Pferde?“ Er warf einen Blick auf seine Notizen. „Pocco und Zephir.“ Er sah mich unverkennbar stolz an. „Das meinen Sie doch?“ 30
Ich nickte. „Holen Sie die Zeugin jetzt bitte wieder herein und beobachten Sie ihre Reaktion auf das, was ich ihr, bevor wir sie entlassen, mitteilen werde.“ Als Frau Leysing mit Becker eintrat, forderte ich sie gar nicht erst zum Sitzen auf, sondern sagte beiläufig, als ginge sie das nicht sonderlich an: „Der Mann, der im Heu verbrannt ist – das wird Sie vielleicht interessieren –, ist der Trainer Werner Hell.“ „Tot?“ flüsterte sie. „Ja“ Ihr Gesicht blieb völlig bewegungslos. Aber sie wäre ohne einen Laut zu Boden gesunken, hätte sie Oberleutnant Becker nicht aufgefangen.
6 Wir überließen Frau Leysing der Obhut des älteren Mannes in der Rennleitung. Sie hatte ihren ohnmachtähnlichen Schock übrigens ziemlich schnell überwunden. Aber sie jetzt noch etwas zu fragen wäre sinnlos gewesen; wir hätten gar keine oder unwahre Antworten erhalten. Wenn sie sich kräftig genug fühle, sagte ich, könne sie nach Hause oder auch, falls sie das Bedürfnis danach verspüre – fügte ich absichtlich etwas betont hinzu –, ins Krankenhaus zu ihrem Mann fahren. Als Antwort nickte sie nur unbestimmt. Leutnant Lorenz kam uns, als wir aus dem Haus traten, mit dem Polizeimeister, unserem jungen Karlshorster Kollegen, entgegen. Dieser hatte inzwischen von sich aus veranlaßt, daß Lorenz an der Brandstätte durch einen Posten abgelöst worden war. 31
Wir gingen zur Futterkammer zurück. Es war unterdes schon ziemlich dunkel geworden. An der Stallecke trat ein untersetzter, etwa dreißigjähriger Mann auf uns zu. „Gestatten Sie“, sagte er, „mein Name ist Schimanski. Ich bin der Trainer des Nachbarstalls. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Pferde noch nicht gefüttert sind? Sie werden unruhig.“ Daran hatte ich wirklich nicht gedacht. „Können Sie uns da irgendwie helfen?“ fragte ich. „Leider werden Sie jedoch eine Zeitlang die Futterkammer noch nicht betreten dürfen.“ „Das macht nichts. Ich kann Futter von uns herüberholen.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Schimanski.“ „Bitte, so was ist selbstverständlich; die Pferde dürfen doch unter alldem nicht leiden.“ Er ging zum benachbarten Stall. „Das ist der Mann“, raunte mir Oberleutnant Becker zu, „der Frau Leysing im Restaurant mitgeteilt hat, daß ihr Mann und der Trainer Hell gerade beim Tränken seien.“ „Ich weiß.“ „Wir müssen ihn nachher nach etwas fragen, was sich später als nicht unwichtig herausstellen kann.“ Ich lächelte und wiederholte: „Ich weiß.“ Dann beauftragte ich Leutnant Lorenz, mit dem Arzt der Unfallstation oder, falls er ihn erreichen könne, mit dem Arzt des Krankenhauses zu telefonieren, wohin Leysing gebracht worden war. Oberleutnant Becker entfernte das Siegel an der Tür der Futterkammer. „Darf ich zusehen oder helfen?“ fragte unser Karlshorster Kollege. „Selbstverständlich, Genosse Polizeimeister.“ 32
Die Futterkammer – glücklicherweise hell zu erleuchten – war ein verhältnismäßig großer, rechteckiger Raum mit zementiertem Boden. Rechts standen, wie wir bereits von draußen gesehen hatten, drei zweirädrige Rennwagen, sogenannte Sulkys, und hingen saubergeputzte Geschirre aller Art. Im linken, von draußen nicht einzusehenden Teil befand sich an der Querwand eine lange, in verschiedene Fächer unterteilte Futterkiste, deren Deckel offenstand. Unter den beiden Fenstern der Längswand war ein Feldbett aufgestellt, auf dem, ordentlich zusammengefaltet, einige Wolldecken lagen; es schien also zur Zeit nicht benutzt zu werden. Gegenüber hing an der Wand ein Regal, auf dem mehrere Flaschen und Büchsen unterschiedlicher Formen und Größen standen. Daneben waren sauber nebeneinandergereiht eine Mistgabel, ein Rechen und zwei Forken an die weißgekalkte Wand gelehnt. In eine Ecke geklemmt, stand ein alter Brettstuhl, darüber hatte man drei vergilbte Fotos von Pferden mit Reißzwecken an die Wand geheftet. Vor der Futterkiste war ein freier Raum, etwa zwei Meter im Geviert. Hier mußte der schwerverletzte Leysing gelegen haben, denn wir sahen sofort die noch nicht ganz eingetrockneten Blutspuren; sie waren allerdings schon stark zertreten. Selbstverständlich fotografierte Oberleutnant Becker die Sohlenabdrücke, obwohl wir uns darüber klar waren, daß sie höchstwahrscheinlich nicht von dem Täter, sondern von dem Arzt und den Krankenträgern herrührten. Erst dann untersuchten wir den Raum genau nach Fingerabdrücken. Da ich lange Jahre im daktyloskopischen Archiv tätig gewesen war, erkannte ich ziemlich schnell, daß sie fast ausnahmslos von nur zwei Personen stammten – also von Benno Leysing und Werner Hell. Einige andere Abdrücke, offenbar auch schon älter, fanden wir an Stellen, 33
wo sie nichts aussagten, also bedeutungslos waren, wie etwa an den Scherbäumen der Wagen und an den blank geputzten oder geölten Pferdegeschirren. Anders war es mit den Abdrücken auf den Flaschen und Büchsen, die, nach den Etiketten oder dem Geruch des Inhalts zu urteilen, Medikamente und Desinfektionsmittel enthielten. Eine besonders große, fest verkorkte Flasche, die mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllt war und gleich vorn auf dem Regal stand, zeigte erfreulich deutliche Abdrücke, wobei mir sofort auffiel, daß die Papillarlinien eines Handballens, der besonders klare Abdruck eines Daumens und die weniger klaren von Mittel-, Ring- und kleinem Finger – diese dicht nebeneinander – keinen Zweifel ließen, daß die Flasche von oben her ergriffen worden war wie eine Keule. Die Abdrücke, die unten beim Zurückstellen entstanden sein mußten, waren unscharf. Eben wollte ich Becker auf meinen Fund aufmerksam machen, da kam Leutnant Lorenz zurück. „Ich habe den Stationsarzt im Krankenhaus erreicht“, meldete er. „Der Unfallarzt hat den Verletzten sofort dorthin bringen lassen. Der erste Befund: Patient ist mit einem keulenförmigen Gegenstand von hinten niedergeschlagen worden. Fraktur der Schädeldecke. Im Unterleib fünf verschieden tiefe, runde Einstichwunden in regelmäßigen Abständen von etwa drei Zentimetern nebeneinander. Dafür weiß der Arzt keine Erklärung.“ „Tödlich?“ „Hoffnungslos, sagte der Arzt. Es sei fraglich, ob der Patient überhaupt noch einmal das Bewußtsein wiedererlangt. An eine eventuelle Vernehmung brauchen wir zunächst also gar nicht zu denken.“ „Das keulenartige Instrument“, sagte ich zu meinen Mitarbeitern, „hätten wir bereits: hier, diese Flasche.“ 34
„Noch etwas“, fiel mir Leutnant Lorenz aufgeregt ins Wort. „Auf dem Jumper des Mannes war mit einer Sicherheitsnadel ein Zettel festgesteckt; darauf steht, mit Bleistift geschrieben: ‚Du Lump wirst keinen mehr unglücklich machen!‘ Ich habe veranlaßt, daß dieser Zettel sofort …“ „Also keine Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, kein Totschlag, sondern vorsätzlicher Mord“, folgerte ich spontan. „Zweifellos“, bestätigte Oberleutnant Becker ebenso spontan, obgleich er für gewöhnlich mit Schlußfolgerungen übervorsichtig war. Herr Schimanski erschien mit zwei gefüllten Futtereimern in der Tür. „Darf ich beginnen?“ „Bitte. Aber sind denn die Boxen nicht abgeschlossen?“ „Nein.“ Sonderbar, ging es mir durch den Kopf, denn ich hatte bislang angenommen, daß kostbare Rennpferde stets sorgsam unter Verschluß gehalten würden. Hatte ich doch schon so manches gelesen von Dopen, Injektionen, Einreibungen und andern geheimnisvollen Machenschaften. Wie wohl jeder Laie hatte ich mir vorgestellt, daß Rennpferde Tag und Nacht unter strenger Aufsicht stünden. Aber das war offenbar nicht der Fall. Herr Schimanski ging. Gleich danach hörten wir das Öffnen von Stalltüren und das Anrufen der Pferde. Oberleutnant Becker wies auf eine derbe Forke, die, ordentlich zu den anderen Geräten in die Reihe gestellt, an ihren Zinken, besonders den mittleren, Blutspuren aufwies. „Die hat er ihm in den Unterleib gerannt.“ Auf dem Schaft zeigten sich die gleichen Fingerabdrücke wie auf dem Flaschenhals. Becker sicherte sie und verpackte das Unterteil der Forke in eine Zellophanhülle 35
zwecks späterer Untersuchung im Kriminaltechnischen Institut. „Leysing ist also zunächst mit der Flasche von hinten niedergeschlagen worden“, versuchte ich zu rekonstruieren. „Wenn wir uns auf die Auskunft des Arztes verlassen können“, schränkte der skeptische Becker sofort ein. Er konnte einen mit seiner Pedanterie manchmal wirklich verärgern. „Wir wollen sehen.“ Ich ging zur Futterkiste. Im mittleren Fach, das Hafer enthielt, lag eine Konservenbüchse aus bunt lackiertem Blech, einen Liter fassend. „Sie dürfte als Maß benutzt worden sein“, erklärte ich, „und wer sie benutzte, mußte sich, da das Fach nur noch dreiviertel voll ist, ziemlich tief über die Kiste beugen. Nun wollen wir einmal feststellen, wer von beiden es war, der die Futterportionen abmaß.“ Ich hob die Büchse vorsichtig heraus und stäubte sie ein. Deutliche, wenn auch einander vielfach überlagernde Spuren von Fingerbeeren traten hervor. „Da es nicht die gleichen Abdrücke wie auf der Flasche und dem Schaft der Forke sind, können es nur diejenigen des Stallmeisters Leysing sein. Einverstanden?“ Becker nickte. „Davon verstehen Sie mehr, Genosse Hauptmann“, sagte er. „Leysing erhielt“, fuhr ich fort, „während er sich über die Kiste beugte, von hinten einen Schlag mit der Flasche über den Kopf. Das war also eine bewußte, überlegte Tat. Er hatte jedoch noch Kraft genug, sich aufzurichten und sich dem Täter zuzuwenden. Da – so wollen wir zu seinen Gunsten annehmen – erschrak dieser, ergriff die Forke und stach besinnungslos zu. Es war eine Reflexhandlung. Sehen Sie hier“, setzte ich fort, „Leysing ist nämlich mit dem Oberkörper zum Fenster hin zusammengesunken. Die Blutspuren auf dem Zementboden 36
zeigen es deutlich, denn am Kopf dürfte das Opfer viel weniger geblutet haben als am Unterleib.“ Becker gab mir keine Antwort. Er liebte solche theoretischen Rekonstruktionen nicht, ihm fehlte es an realer Phantasie, unserem Tatsachenfanatiker, wie wir ihn manchmal im Scherz nannten. Im Gegensatz übrigens zu Leutnant Lorenz, der in diesen Dingen oft zu weit ging. Auch jetzt sagte Lorenz temperamentvoll: „Klare Sache!“ Er war zu dem Stuhl in der Ecke gegangen. „Und hier hat der Täter den Zettel geschrieben“, erklärte er. Tatsächlich war die dünne Staubschicht auf dem Sitzbrett etwas verwischt, wenn sich auch, selbst durch die Lupe, auf dem glatten Holz keine Druckspuren der Schrift erkennen ließen. Becker meinte unsern jungen Freund tadeln zu müssen. „Wozu das?“ fragte er ziemlich von oben herab. „Um Tatsachen zu sammeln, Genosse Oberleutnant“, antwortete ihm Lorenz, „die lieben Sie doch so heiß. Und hier“, fuhr er triumphierend fort, „haben Sie gleich zwei handgreifliche.“ Er hob ein wachstuchgebundenes Heft und einen Bleistiftstummel auf, die zwischen Stuhl und Futterkiste gefallen waren. In dem Heft, das ich behutsam durchblätterte, standen, regelmäßig wiederkehrend, lauter sonderbare – für uns Laien sonderbare – Pferdenamen, dahinter Notizen über Futterzusammensetzung und bei einigen über medikamentöse Behandlung. Hinten war ein Blatt herausgerissen; dort gab es auch mehrere blutige Fingerabdrücke Hells. „Er hatte den Zettel also nicht vorbereitet, sondern erst nach der Tat geschrieben“, folgerte Leutnant Lorenz. Am Vorderteil des Bleistiftstummels waren nur die Abdrücke einiger Papillarlinien erkennbar, und die waren 37
ebenfalls blutig. Identifizieren konnten wir sie nicht, denn dazu waren sie zu fragmentarisch. Wir stellten auch diese beiden Fundstücke sicher und gingen nach draußen. Schimanski hatte eben die beiden letzten Pferde gefüttert und kam, die leeren Eimer in der Hand, auf uns zu. „Wissen Sie, was mir aufgefallen ist, meine Herren?“ rief er eifrig. „Die Sache ist nicht zwischen dem Tränken und Füttern geschehen.“ „Sondern?“ „Später. Nämlich nachdem die beiden ersten Pferde links in der Reihe, Pocco und Zephir, bereits abgefüttert waren. Das hätte Frau Leysing aber doch auffallen müssen“, schloß er kopfschüttelnd. „Inwiefern?“ fragte ich, ohne ihn mein Interesse merken zu lassen. „Weil das Füttern doch zügig vor sich geht. Wer füttert, läuft ununterbrochen mit den Eimern hin und her; und wenn er plötzlich nicht mehr aus der Futterkammer kommt, dann muß einen das stutzig machen. Und Frau Leysing stand, wie sie uns erzählt hat, hier an der Pforte.“ „Ja, ja“, nickte ich gemacht gleichgültig, „so wird es wohl sein. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Hilfe, Herr Schimanski.“ Da ich weiß, wie wichtigtuerische Zeugen alles sogleich gesprächsweise weiterverbreiten und meist noch aufbauschen, was sie bemerkt und, vor allem, was wir dazu geäußert haben, sagte ich diplomatisch: „Wir werden auch den von Ihnen bemerkten Umstand in Betracht ziehen“ und schloß nachlässig: „Obwohl er leider kaum von Bedeutung sein dürfte.“ Der Mann war spürbar enttäuscht, aber Oberleutnant Becker lächelte mir verständnisvoll zu. 38
„Wie ist das nun mit dem Desinfizieren, Herr Schimanski?“ lenkte ich den Mann weiter ab. „Ich werde es gründlich tun, schon mit Rücksicht auf meine Pferde“, antwortete er. „Bei Ihnen wird es genügen, wenn Sie sich zu Hause gründlich waschen. Übrigens scheint es mit der Druse, von der zwei unlängst gekaufte Pferde befallen sein sollen, oder auch nur dem Verdacht auf Druse gar nicht so schlimm zu sein. Wie ich gehört habe, wird nämlich die Quarantäne morgen aufgehoben.“ Er verabschiedete sich und ging. Sein letzter Satz, den er gewiß für völlig belanglos hielt, gab uns jedoch einiges zu denken. Noch etwas ließ mich stutzen, ganz kurz nur, und es war bald wieder vergessen, obwohl auch Leutnant Lorenz später eine ähnliche Anspielung machte: Hatte Schimanski mit Frau Leysing wirklich nur im Rennbahnrestaurant gesprochen, als sie dort wartend bei einer Tasse Kaffee saß? In Frau Leysings Aussage und dem Bericht des Nachtwächters Bottrich klaffte eine merkwürdige Lücke. War in der ganzen Zeit, etwa zehn bis fünfzehn Minuten lang, während Frau Leysing angeblich tatenlos wartend und rauchend an der Schranke stand, wirklich gar nichts geschehen? Konnte es nicht sein, daß Schimanski, vom Stall Kufferath ins Restaurant gekommen, der Frau etwas ganz anderes mitgeteilt hatte, als daß man dort beim Füttern sei? Wäre es nicht sogar möglich, daß er mit ihr zum Stall zurückgegangen und dann an der Tat beteiligt war? Obwohl Schimanskis Aussage glaubhaft klang und er selbst einen vertrauenswürdigen Eindruck machte, blieb da doch mancherlei nachzuprüfen.
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7 Die sogenannten aufregenden Fälle bringen den Kriminalisten stets viel Arbeit, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Sache selbst steht oder uns, zumindest im Anfangsstadium, von wesentlichen Ermittlungen abzulenken droht. Das Wichtigste ist und bleibt jedoch stets, die Spuren nicht „kalt werden“ zu lassen. Wir kamen deshalb am anderen Morgen schon zwei Stunden vor Dienstbeginn im Arbeitszimmer unserer Kommission zusammen. Tatortbefundsbericht und Tatbefundsbericht konnten, da sie glücklicherweise nicht sehr umfangreich zu sein brauchten, gleich von Oberleutnant Becker unserer Schreibkraft, der Genossin Wulf, diktiert werden. Er übernahm es auch, die Mitarbeiter unserer Pressestelle sofort bei Dienstbeginn zu informieren; denn leider kann nichts so sehr die erste, wichtigste Erkundungsarbeit stören, ja manchmal schwer schädigen, als wenn der Öffentlichkeit von übereifrigen Zeitungsleuten bestimmte, oft auch noch sensationell aufgemachte Einzelheiten mitgeteilt werden, die, mögen sie nun zutreffen oder unrichtig sein, Täter warnen oder Zeugen beeinflussen. Andererseits hat die Öffentlichkeit aber ein Recht darauf, über gesellschaftliche Vorfälle einwandfrei unterrichtet zu werden, die, geschieht dies nicht oder gar entstellt, sogleich und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit als verzerrende, wenn nicht bösartig verfälschende Gerüchte in der Stadt umzulaufen beginnen. Vorläufig gab es für uns noch keinen Grund, die Öffentlichkeit zur Mitarbeit aufzurufen, denn anfangs melden sich heute schon mehr freiwillige Helfer, 40
als man „verkraften“ kann. Unsere Ermittlungstätigkeit im Rennbahngelände hatte ja eben erst begonnen. Beispielsweise waren wir uns darüber einig, daß es für das Tatmotiv Werner Hells noch keinen einzigen echten, das heißt von Tatsachen gestützten Anhalt gab, es sei denn Frau Leysings Nervenzusammenbruch, als sie den Namen des Selbstmörders hörte. In welchem Verhältnis stand sie zu Hell? In welchem zu ihrem offenbar recht befehlshaberischen Mann? Konnte sie Werner Hell zum Totschlag an ihrem Mann angestiftet, ihm vielleicht sogar geholfen haben? Was war dann aber das Motiv des furchtbaren, ganz ungewöhnlichen Selbstmords ihres Geliebten? Es gab – vorerst geringe – Anzeichen, daß auch dieser Selbstmord, wenn es tatsächlich einer war, nicht spontan erfolgte, sondern vorbereitet war. Von wem und warum? Vielleicht gab uns etwas, was in der Asche des Heuhaufens gefunden wurde, eine Antwort oder doch einen Hinweis. Jedenfalls beauftragte ich Leutnant Lorenz, im Lauf des Tages möglichst viel von dem zu ermitteln, was möglicherweise mit dem Selbstmord Hells zusammenhängen konnte. Hingegen sollte sich Oberleutnant Becker vorwiegend mit dem Komplex Leysing beschäftigen. Selbstverständlich würden beide ihre jeweiligen Ergebnisse austauschen. Ich behielt mir vor, obwohl ich Schreibtischarbeit am wenigsten gern leiste, alle nur möglichen Informationen aus Akten zu ziehen, also vormittags im Präsidium zu bleiben, zumal ich ohnehin, wie es eine Vorschrift verlangt, bei dem unangenehmsten Teil der Ermittlungstätigkeit zugegen sein mußte: der Obduktion des toten Werner Hell. Sie fand um elf Uhr dreißig statt. 41
Um dieses auch für den Leser unerfreuliche Thema vorwegnehmend zu erledigen: Es wurde nichts von Bedeutung ermittelt. Becker und Lorenz wollten gerade gehen, als wir einen Telefonanruf aus Karlshorst erhielten. Am Apparat war ein alter Bekannter von mir, der jetzt in der dortigen Inspektion die Kriminalabteilung leitete. Ob wir nicht den Polizeimeister Höllriegel zur Mitarbeit heranziehen wollten, fragte er. Das sei der junge Genosse, der uns schon gestern abend geholfen habe. Er „löchere“ ihn, und tatsächlich, Höllriegel könne uns wirklich nützen, da er den Rennbahnbetrieb, wo er ständig eingesetzt sei, gut kenne. Mir war selbstverständlich nichts lieber als das; denn im allgemeinen muß man bei uns um jeden zusätzlichen Mitarbeiter einen kleinen Papierkrieg führen. „Ich stelle den Genossen Höllriegel also zu dir ab“, sagte mein Bekannter, „schicke mir nur, damit die Angelegenheit auch aktenmäßig in Ordnung geht, einen formlosen Antrag zum Abheften.“ Ich mußte lachen. „Wird gemacht“, versicherte ich. „Sage ihm, er soll sich bei mir melden. – Wo? Hier. – Wann? Möglichst umgehend.“ Ich teilte meinen beiden Mitarbeitern rasch noch die erfreuliche „Neuerwerbung“ mit; begeistert schienen jedoch beide nicht davon zu sein. Aber ich hatte keine Zeit, ihnen einen pädagogischen Vortrag zu halten. Ich schickte sie weg. Kaum waren sie gegangen, da brachte mir ein Volkspolizist eine Akte herein. Ich hatte im daktyloskopischen Archiv und bei der Fahndung angefragt, ob dort vielleicht etwas über Werner Hell oder Benno Leysing vorliege. Dies war die Antwort: Leysing war bei uns „verewigt“, Hell nicht. 42
Neunzehnhundertsiebenundvierzig war Leysing in eine üble Schwarzmarktgeschichte verwickelt gewesen, aber man hatte ihn laufenlassen müssen, weil die Beweise nicht ausreichten. Neunzehnhundertneunundfünfzig hatte er versucht, zehn Zentner gestohlenen Hafer an einen Fuhrunternehmer in Johannisthai zu verschieben. Dabei war er erwischt worden, aber mit einer verhältnismäßig niedrigen Geldstrafe davongekommen. Beide Fälle schienen mir in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung, und ich wollte das Aktenbündel, das von zahlreichen dürftigen Vernehmungsprotokollen, Mitteilungen und Fernschreiben angeschwollen war, eben zurückschicken, als mein Blick – ich muß selbstkritisch sagen: zufällig – auf einen Namen fiel, der mir einen Ruck gab: Alfred Schimanski, sechsundzwanzig Jahre alt, von Beruf Trabrenntrainer, Karlshorst. Von ihm befanden sich in den Akten, wie ich nun, aufmerksam geworden, feststellte, zwei Vernehmungsprotokolle zur Sache, über seine Person nicht weniger als fünf. Vor Gericht schien sich, obwohl Schimanski der Beihilfe angeklagt gewesen war, herausgestellt zu haben, daß die Angaben in seinen beiden Vernehmungsprotokollen stimmten oder zumindest nicht widerlegbar waren, denn jemand hatte an den Rand gekritzelt: „Freispruch“. Die fünf anderen Protokolle waren, was die Tat anlangt, belanglos, aber zu seiner Person hatten alle Zeugen positiv ausgesagt. Vielleicht war dadurch der Freispruch zustande gekommen? Jedenfalls hatte ich einen wertvollen Fingerzeig entdeckt; langweilige Büroarbeit ist in der Kriminalistik doch sehr nützlich. Nun wußte ich, zwischen Leysing und Schimanski mußten alte, undurchsichtige Beziehungen bestehen. 43
Ich ließ sofort in Karlshorst anrufen, Oberleutnant Becker möchte sich bei mir melden, wenn er mit Lorenz dort eingetroffen sei. „Und jetzt, Genossin Wulf, verbinden Sie mich bitte mit dem Kriminaltechnischen Institut.“ Zwei Minuten später hatte ich die Verbindung. Ich bat, sofort einen geeigneten Mitarbeiter zur Brandstätte zu schicken und mich über das Ergebnis der Untersuchung umgehend zu unterrichten. „Geht in Ordnung, Genosse Hauptmann“, antwortete mir mein Gesprächspartner. „Aber bleiben Sie mal am Apparat, wahrscheinlich können Sie aus der Abteilung Kriminalchemie schon einiges über den Benzinkanister erfahren.“ Tatsächlich hatte man dort bereits die Reste des Inhalts analysiert. „Der Kanister“, teilte mir ein Kriminalchemiker mit, „war ganz oder teilweise mit Xylamon gefüllt gewesen.“ „Entschuldigung“, sagte ich, „was ist das: Xylamon?“ „Ich will Sie nicht mit der chemischen Zusammensetzung langweilen, Genosse Hauptmann“, antwortete mein Gesprächspartner lachend, „es ist eine Flüssigkeit, mittels derer man Holz konserviert. Man streicht Balken und Zäune damit, ähnlich wie früher mit Karbolineum, wenn Ihnen das etwas sagt?“ „Ja, das kenne ich. Aber wie ist das mit diesem Xylamon oder wie das Zeug heißt: Ist es leicht entflammbar?“ „Es brennt verhältnismäßig gut, aber leicht entflammbar … also, wie man so sagt, feuergefährlich kann man es nicht nennen.“ „Falls man einen Kanister voll auf einen trockenen Heuhaufen schütten und diesen anzünden würde …“ „… gäbe es ein kurzes Aufflammen mit vorwiegend schwarzer, stinkender Rauchentwicklung; dann aber, wenn 44
es nicht windig ist, nur eine mehr schwelende als hell brennende Flamme, etwa so, als ob Sie Teerpappe verbrennen würden. Wenn Sie, was ich vermute, darauf hinauswollen: zum Brandstiften nicht sonderlich geeignet; es hinterließe überdies auch sehr leicht zu ermittelnde Residuen, unverbrennbare Rückstände. Aber in dem Kanister, den Sie uns geschickt haben, fanden wir auch Benzinreste. Selbstverständlich können wir Ihnen nicht verbindlich sagen, ob in dem Kanister, was doch wahrscheinlich ist, vorher Benzin aufbewahrt wurde und man ihn dann, ohne ihn restlos zu leeren oder umständlich zu säubern, mit Xylamon gefüllt hat. Das Umgekehrte ist ziemlich unwahrscheinlich, daß nämlich jemand einen Kanister, in dem vorher Xylamon aufbewahrt wurde, ohne gründliche Säuberung wieder für Benzin verwendet haben sollte. Was wir als Rest vorfanden, war ein Gemisch aus beidem, übrigens weit mehr Xylamon als Benzin. Ich könnte Ihnen den Prozentsatz nennen, aber für das, was Sie wahrscheinlich wissen möchten, bliebe dies praktisch unverwertbar.“ „Warum?“ „Uns stand zur Analyse nur ein geringfügiger Rest, etwa ein Reagenzgläschen voll, zur Verfügung. Das bedeutet: Wenn in dem Kanister Xylamon aufbewahrt wurde, vielleicht schon längere Zeit, und man dieses, womöglich ohne den Kanister zu schütteln, ausgegossen und ihn mit Benzin gefüllt hat, das ebenfalls sehr bald wieder ausgegossen wurde, dann haben sich natürlich die wenigen zurückgebliebenen Benzinreste mit größeren, noch an den Kanisterwänden und in den Fugen haftenden Xylamonrückständen verbunden. Sie sind nämlich schwerflüssiger als Benzin, und es entstand als Bodensatz ein Gemisch, das von uns zwar mühelos analysierbar ist, aber gar nichts mehr darüber aussagt, wie und in welchem Mischungsverhältnis sich der 45
Gesamtinhalt des Kanisters befand. Haben Sie das mitgekriegt?“ „Doch, doch. Es ist zwar enttäuschend, was Sie mir da erklärt haben, aber vielleicht hilft es uns doch irgendwie weiter.“ „Sie erhalten die ausführliche Analyse heute noch schriftlich.“ „Danke, ja.“ Ärgerlich warf ich den Hörer in die Gabel. Doch als ich mir dann meine Morgenzigarre ansteckte und nachzudenken begann, wurde mir klar, daß ich dennoch eine vielleicht bedeutsame Tatsache erfahren hatte. Werner Hell konnte den Kanister kaum, wie ich bis jetzt als beinahe selbstverständlich vorausgesetzt hatte, aus einem im Gelände parkenden PKW genommen haben, denn als Reserve führt ein Kraftfahrer nur sauberen Treibstoff mit sich. Woher hatte also Werner Hell … Die gute Frau Wulf riß meinen Gedankenfaden mittendurch. Sie packte mir – wie immer freundlich und doch ein bißchen spöttisch lächelnd – zwei gewichtige Leitz-Ordner auf den Schreibtisch. „Sie möchten diesen Fall übernehmen, läßt Ihnen der Chef bestellen“, sagte sie, als übergebe sie mir ein besonders hübsches Geburtstagsgeschenk. „Der Genosse Oberstleutnant ist heute nacht zu einer internationalen Fachkonferenz nach Warschau geflogen und kommt erst in drei oder vier Tagen zurück.“ Dem obenauf liegenden Leitz-Ordner war eine sogenannte, von Oberstleutnant Trewes unterschriebene Hausmitteilung angeheftet, die den neuen Auftrag bestätigte. Was sollte das? Der Chef wußte doch, daß wir mit dem Fall Rennbahn über und über beschäftigt waren! Aber der erfahrene Kriminalist Trewes tat nichts ohne vernünftigen Grund. 46
8 Ich blätterte die Akte auf und war noch erstaunter als zuvor: Es handelte sich um eine Sache, die am 16. November vorigen Jahres begonnen hatte und von unseren Kollegen in Erfurt bis jetzt nicht zum Abschluß gebracht werden konnte; unsere dortige Dienststelle hatte um Unterstützung und Fahndungshilfe gebeten. Einem der ersten Blätter, dem sehr ausführlichen Tatortbefundsbericht, den ich ziemlich unaufmerksam überflog, entnahm ich – zumal ihm einige Fotos beigefügt waren –, daß der Ausgangspunkt ein Autounfall gewesen war; und einige weitere flüchtige Stichproben in beiden Bänden ließen erkennen, daß es sich in der Hauptsache um irgendwelche weitverzweigten Schiebungen mit Gebrauchtwagen handelte. Das war für mich wirklich nicht sonderlich interessant, überdies hatte ich auf diesem Gebiet nur wenig Erfahrung. Verärgert klappte ich die Akte zu. Was war da unserem verehrten Chef bloß eingefallen? Dafür hatten wir doch genügend Spezialisten! Gewiß, manchmal übertrug man einer Sonderkommission die Ermittlungsarbeit an mehreren Fällen, für die eigentlich Dienststellen in verschiedenen Städten der Republik und in Berlin zuständig waren; aber das pflegte nur dann zu geschehen, wenn eine Serie sehr ähnlich ausgeführter Verbrechen an verschiedenen Orten auf denselben Täter oder dieselbe Bande hinwies. Einbrüche beispielsweise tragen oft, wie wir zu sagen pflegen, die gleiche Handschrift und sind deshalb auf diese Weise leichter aufzuklären. Doch hier? Hier gab es nicht das geringste Gemeinsame … Oberleutnant Becker rief mich an. 47
„Ist der Zeuge Schimanski schon draußen?“ fragte ich ihn. „Ja. Übrigens auch der Besitzer des Rennstalls mit seiner Frau. Kufferath heißt der Mann.“ „Gut. Setzen Sie den Schimanski gegen halb ein Uhr in unseren Wagen, und lassen Sie ihn hierherbringen. Ich möchte ihn noch mal vernehmen. Aber machen Sie ihn nicht mißtrauisch oder gar ängstlich. Sagen Sie ihm, es handle sich lediglich um ein paar belanglose Ergänzungen.“ „In Ordnung, Genosse Hauptmann. Sonst noch was?“ „Nein, danke.“ Ich griff wieder nach den beiden gewichtigen Aktenbündeln und stöberte planlos darin herum. Dabei stieß ich auf ein kurzes, ziemlich inhaltloses Vernehmungsprotokoll, in dem mir eine Stelle auffiel: „Der Kauf des Wagens wurde mir durch einen Mann vermittelt, den ich auf der Trabrennbahn in Karlshorst kennengelernt hatte; seinen Namen habe ich vergessen.“ Schön und gut, aber was sollte das mit unserem Fall zu tun haben? Trotzdem blätterte ich, jetzt aufmerksamer geworden, weiter. Dabei stieß ich noch zweimal in sonst wenig oder nichtssagenden Protokollen auf einen lächerlich dünnen Zusammenhang: „Der Mann, der den PKW abstoßen wollte, wäre ein Arzt in Karlshorst, lautete die Antwort.“ Sodann: „Der Vermittler, dessen Name mir unbekannt ist, erklärte mir, er müßte wegen des Verkaufspreises erst mit einer Dame in Karlshorst telefonieren. Ich habe dann aber nichts mehr von ihm gehört.“ Das waren typische Aussagen, wie sie uns beim Aufdecken von Schiebergeschäften dutzendweise begegnen. Niemand weiß etwas Genaues, Namen sind entweder nicht genannt worden oder wurden „vergessen“. Der große Unbekannte geistert durch dicke Aktenfaszikel, die erwischten Käufer und noch mehr die Zwischenhändler 48
wollen sich aus der Sache heraushalten, weil sie selbst, wie wir zu sagen pflegen, Dreck am Stecken haben. Oberstleutnant Trewes konnte doch unmöglich annehmen, daß hier ein Zusammenhang mit dem Totschlagsversuch Hells und dessen phantastischem Selbstmord bestand? Da meldete sich Polizeimeister Höllriegel zum Dienstantritt. Seine Freude, unserer Kommission zugeteilt worden zu sein, war unverkennbar. Er war ein ziemlich kleiner, drahtiger Mann, etwa Mitte der Zwanzig, mit flinken, dunklen Augen in einem hageren, intelligenten Gesicht. „Ich habe gestern abend noch etwas erfahren, was von Bedeutung sein kann“, berichtete er mir, nachdem ich ihn begrüßt hatte. „Eine Kellnerin im Rennbahnrestaurant hat mir erzählt, daß Werner Hell dort am Vormittag einen Brief geschrieben und spätnachmittags, kurz vor dem Füttern, etwa eine Dreiviertelstunde mit zwei Kollegen Skat gespielt hat. Wenn Sie gestatten, Genosse Hauptmann, gehe ich zunächst dieser Sache nach. Was für ein Brief war das? An wen? Und wer waren die Skatpartner, was haben sie beobachtet?“ „Einverstanden. Aber nehmen Sie sich bitte auch die Zeugen vor, deren Namen Sie gestern abend aufgeschrieben haben. Es versteht sich wohl von selbst, daß Sie engsten Kontakt mit den Genossen Becker und Lorenz halten, sie ständig informieren und sich von ihnen informieren lassen. Nur keine überflüssige Doppelarbeit; die können wir uns nicht leisten.“ „Geht in Ordnung, Genosse Hauptmann.“ „Sie haben bisher schon ständig Dienst auf der Rennbahn getan. Um was ging es dabei?“ „Während der Rennen kommen dort Tausende von Menschen aller Art zusammen. Darunter beispielsweise 49
auch Taschendiebe und andere dunkle Existenzen. Noch vor wenigen Jahren trafen sich dort alle möglichen Schieber und Valutaschwindler, um ganz unauffällig ihre Geschäfte zu machen. Üble Gestalten, männliche wie weibliche, wimmelten dort herum. Das ist so ziemlich vorbei, seit wir unsere Staatsgrenze geschlossen haben; aber es gibt trotzdem immer noch genug zu tun.“ „Aha – wahrscheinlich mit Wettschwindel oder anderen Betrügereien bei den Rennen?“ „Nein, Genosse Hauptmann. Gewiß ist so etwas schon vorgekommen, aber wenn Sie dabei an ein Tatmotiv in unserem Fall denken – nein, das sind kleine Fische. Im allgemeinen geht es da sehr reell zu.“ „Trotz der Riesensummen?“ „Welcher Riesensummen? Die einzelnen Rennen sind verhältnismäßig niedrig dotiert. Meist nur mit tausend Mark. Davon geht noch die Prämie für den Fahrer und vor allem die Steuer ab. Die Rennbahn Karlshorst ist einer der größten, wenn nicht der größte Steuerzahler Berlins.“ „Das ist mir alles neu. Darüber – ich meine über den eigentlichen Rennbetrieb – müssen Sie mich gelegentlich genauer unterrichten. Davon weiß ich so gut wie nichts. Der einzige Sport, den ich treibe, ist – Angeln.“ Wir lachten; ich gab ihm die Hand. „Auf gute Zusammenarbeit.“ Ich sah ihm an, daß er darauf brannte, unverzüglich an die Arbeit zu gehen. Ich glaube, daß ich schon erwähnt habe, wie verhaßt mir das Telefonieren ist, und nun schnarrte das Marterinstrument schon wieder nervtötend. Leutnant Lorenz meldete sich. „Der Kriminaltechniker hat eben die Asche untersucht und Proben mitgenommen. Leider hat er nichts Unerwartetes gefunden: eine Armbanduhr mit verkohlten Resten des Lederriemchens, einige 50
Geldstücke und verschmorte Knöpfe sowie eine Gürtelschnalle. Die Brieftasche ist samt Inhalt so sehr verbrannt, daß sie als Fundstück wertlos ist.“ „Ich danke Ihnen, Genosse Lorenz; und da wir nun schon mal miteinander sprechen: Sehen Sie sich doch bitte noch einmal den Zementboden in der Futterkammer genau an, ob Sie dort irgendwo Spuren von Xylamon finden.“ „Von was?“ „Xylamon. Das ist eine Flüssigkeit, die …“ „Ich weiß, ich weiß, Genosse Hauptmann. Ich war nur etwas überrascht und glaubte nicht recht gehört zu haben. Denn was soll Xylamon …“ Ich brach das Gespräch ab und machte mich wieder mißvergnügt über die Erfurter Akte her. Bei solcher Arbeit ist man, wenn man es sich auch nicht eingesteht, froh über jede Unterbrechung, obwohl diese einen dann wieder aufs neue ärgert. Frau Wulf legte mir ein Schriftstück auf den Tisch. „Was ist denn das schon wieder! Kommt man hier überhaupt noch zum ungestörtem Arbeiten?“ Da sie mich kannte, lächelte sie nur. „Sie haben nicht mehr viel Zeit, Genosse Hauptmann“, sagte sie provozierend freundlich, „vergessen Sie nicht die Leichenöffnung.“ Das war eine kleine kollegiale Bosheit, denn sie hatte längst erkannt, daß gerade diese unangenehme Pflicht die eigentliche Ursache für mich war, mißgelaunt und unkonzentriert zu sein. Das Schriftstück enthielt die Analyse des Flascheninhalts. Er bestand aus reinem Wasser und ganz minimalen Resten einer Desinfektionsflüssigkeit, deren chemische Zusammensetzung detailliert aufgeführt wurde. In der Zusammenfassung hieß es: „… so daß angenommen 51
werden kann, die Flasche sei mit Wasser gefüllt worden, ohne sie vorher von den geringen Resten ihres früheren Inhalts, des Desinfektionsmittels, zu säubern.“ Selbstverständlich fiel mir dabei sogleich der Kanister ein, denn hier lag eine auffallende Parallelität vor: beide Gefäße waren ohne Rücksicht auf ihren vorherigen Inhalt offenbar schnell gefüllt worden. Zu ganz verschiedenen Zwecken, gewiß, aber bedeutete das nicht, daß beide Taten – der Totschlagsversuch wie der Selbstmord – nicht spontan, sondern vorbereitet erfolgt waren? Das konnte ich natürlich nicht am Schreibtisch klären, und ich zog, nach einem nervösen Blick auf die Uhr, die Aktenbündel wieder zu mir heran. Protokolle, Protokolle – eines nichtssagender und langweiliger als das andere! Bis ich plötzlich bei dem Satz stutzte: „Der mir unbekannte Mann sagte, er könne mir den Wagen erst am nächsten Tage abends vorführen, weil dieser sich noch zur Durchsicht in der Werkstatt von Überloh befinde. Aber zwei Stunden später rief er mich an. Aus dem Geschäft könne nichts werden, sagte er, denn der Wagen sei bereits anderweitig verkauft. Ich glaubte das nicht und dachte, dem Mann ist wahrscheinlich der Preis, den ich geboten hatte, zu niedrig gewesen.“ Überloh? Diesen Namen hatte ich doch unlängst irgendwo gehört? Überloh … Überloh … Frau Wulf steckte den Kopf zur Tür herein. „Sie müssen sich beeilen, Genosse Hauptmann“, unterbrach sie mein Grübeln. Erst als ich im Paternoster nach unten fuhr, fiel mir heiß ein: Frau Leysing war eine geborene Überloh! Der Werkstattinhaber mußte ihr Vater sein. Denn so verbreitet ist der Name Überloh sicherlich nicht. 52
Sollte da tatsächlich eine Verbindung bestehen? Hatte mir Oberstleutnant Trewes deshalb die beiden dicken Aktenstücke geschickt und unsere Kommission mit diesem nicht abgeschlossenen Fall betraut? „Ach wo“, murmelte ich vor mich hin und wischte den Gedanken weg, „das ist bestimmt nur ein dummer Zufall.“ Aber unser Chef war ein kluger Mann mit Spürnase, ein sehr gewissenhafter Arbeiter, er pflegte Akten stets aufmerksam zu studieren – viel aufmerksamer als ich.
9 Als ich vom Essen, das mir an solchen Tagen ohnehin nicht schmecken wollte, in mein Arbeitszimmer zurückkam, war Schimanski bereits eingetroffen. Jetzt, da er im hellen Licht vor mir saß, konnte ich ihn mir genauer betrachten. Sein bartloses Gesicht war rundlich, seine schon etwas dünnen, seitlich gescheitelten Haare waren hellblond und glatt; er blickte mich aus wässrig-blauen Augen erwartungsvoll an und verriet keinerlei Unruhe. „Herr Schimanski“, begann ich, „Sie kennen doch die Beteiligten einigermaßen gut. Ich möchte Sie deshalb zunächst bitten, mir einige Hinweise zu geben.“ „Gern, Herr Brückner.“ Das klang durchaus aufrichtig. „Was für ein Mensch war Werner Hell?“ „Ein sehr guter, hilfsbereiter Kollege. Ein erstklassiger Trainer, Fahrer und Pferdepfleger. Sogar ein Pferdenarr. Pferde gingen ihm über alles. Werner hat manches Rennen verloren, obwohl er zu den besten Rennfahrern gehörte, weil er nie ein Tier überforderte. Lieber verlor er, 53
als daß er ein Pferd ausgepumpt und womöglich für Wochen oder Monate verdorben hätte. Wenn mal eines krank war, schlief er, sogar nachdem er ein Rennen gefahren hatte, nachts im Stall, in der Futterkammer. Ich kann nur sagen: Werner war, alles in allem, ein prima Junge! Wir alle hatten ihn gern.“ Schimanski war zum Schluß lebhaft geworden; ich merkte ihm an, daß er überzeugt sprach. Er schien nicht der Typ, der schauspielern kann. „Werner Hell hatte also viele Freunde auf der Rennbahn?“ „Sehr viele.“ „Verheiratet war er nicht?“ „Nein, auch nicht verlobt oder dergleichen.“ „Sie wollen damit sagen, er hatte auch keine Freundin.“ „Nein. Vor zwei oder drei Jahren sah es mal eine Zeitlang so aus. Da kam öfter ein Mädchen zu ihm, so eine kleine, hübsche Schwarzhaarige. Aber das ging bald wieder auseinander. Marion hieß sie und soll Zeichnerin bei Bergmann-Borsig gewesen sein. Werner hat sich zuwenig um sie gekümmert. Ich habe mal gehört, wie sie zu ihm sagte: ‚Erst kommen deine Pferde, dann noch mal deine Pferde, und dann komme ich noch lange nicht.‘ Hinter Werner waren viele Frauen her. Er hätte viele haben können. Besonders nach dem Rennen machten sie sich an ihn heran; Sie würden staunen, wenn Sie gesehen hätten, was für welche darunter waren, manchmal richtige Damen.“ „Aber Herr Hell ging darauf nicht ein?“ „Was ich beobachtet habe: nein. Es kann natürlich sein, daß er mal mit der oder jener ins Bett gegangen ist; er war ja ein kräftiger, gesunder Bursche. Aber Verhältnisse hat er keine gehabt.“ 54
„Sie nehmen also nicht an, Herr Schimanski, daß hinter den furchtbaren Begebenheiten eine Liebesgeschichte stecken könnte?“ Er zuckte die breiten Schultern. Etwas ratlos antwortete er: „Das kann man natürlich nie wissen. So genau kennt man kaum einen anderen Menschen. Aber ich glaube: bei Werner bestimmt nicht.“ „Ich habe eine gewissermaßen vertrauliche Frage, Herr Schimanski. Wir brauchen Ihre Antwort darauf, wenn Sie es nicht wünschen, später nicht ins Vernehmungsprotokoll aufzunehmen: Wie stand Herr Hell zu Frau Leysing?“ Er ließ mich eine Weile auf Antwort warten; aber es war ihm deutlich anzumerken, daß er lediglich nachdachte, um zutreffend auszusagen, nicht um auszuweichen. „Das ist nicht so einfach zu sagen“, meinte er schließlich. „Viele Kollegen hatten den Eindruck, daß sie hinter Werner her war, aber er wollte nicht. Doch wer kann das so genau sagen? Jedenfalls hat sie ihn öfter vor ihrem Mann in Schutz genommen. Es soll seinetwegen mehrmals Krach zwischen den Leysings gegeben haben. Sicher ist, und das kann Ihnen fast jeder auf der Rennbahn bestätigen, daß Leysing ihn gemein schikanierte und, wo er nur konnte, beim Chef schlechtmachte. Deshalb ist es dann ja auch zu der Kündigung gekommen.“ „Kündigung? Nanu, das ist mir neu.“ „Ich dachte, das wüßten Sie längst. Das war bei uns seit vorgestern das Tagesgespräch. Die Kollegen meinen fast alle, daß Werner deshalb Selbstmord begangen hat.“ „Erzählen Sie bitte. Wie verhielt sich das mit der Kündigung?“ „Als Herr Kufferath den Werner Hell als Trainer engagierte, vor anderthalb Jahren ungefähr war das, spuckte 55
Leysing schon Gift und Galle. Es paßte ihm gar nicht in den Kram. Aber Kufferath sagte ihm vor vielen Kollegen: ‚Dann kannst du ja gehen, Werner ist angenommen.‘ Und er hatte mit Werner einen guten Griff getan. Werner hat seinen Stall, den von Kufferath meine ich, wieder richtig hochgebracht. Leysing hat sich dann hinter Frau Kufferath gesteckt, die ganze Zeit über bis zuletzt, sie sollte bei ihrem Mann bohren, daß Werner entlassen würde. Aber Kufferath sagte – das haben mehrere Kollegen gehört – : ‚Ich bin doch nicht verrückt; jetzt, wo bald die Saison beginnt, und ich habe so einen guten Trainer und Fahrer, und da soll ich ihn entlassen?‘ Werner blieb. Da hat Leysing mit immer gemeineren Mitteln versucht, ihn hinauszuekeln. Anscheinend hatte er es vor ein paar Tagen geschafft. Denn vorgestern hat er Werner, ausgerechnet im Café Vorwärts, wo viele Kollegen, aber auch fremde Gäste herumsaßen, höhnisch und laut mitgeteilt, daß er gekündigt wäre. ‚Sollen Sie mir das bestellen?‘ hat ihn Werner gefragt. ‚Ja, ich spreche im Auftrag der Chefin.‘ Werner antwortete ganz ruhig: ‚Ich bin nicht bei der Chefin und noch weniger bei Ihnen angestellt; wenn mir einer kündigt, muß das schon Herr Kufferath selber tun.‘ Das alles sprach sich natürlich überall auf der Rennbahn wie ein Lauffeuer herum. Alle anständigen Kollegen hatten eine Stinkwut auf Leysing.“ „Mich, Herr Schimanski, interessiert dabei vor allem eines: Bedeutete diese Kündigung einen schweren materiellen Schaden für Herrn Hell?“ „Einen Schaden gewiß, aber keinen schweren. Werner war ein so guter Trainer, daß er sofort wieder Arbeit gefunden hätte, und fahren lassen hätten ihn viele kleinere Ställe nur zu gern, denn er hätte ihnen bestimmt Geld gebracht. Werner hat immer gut verdient, aber er 56
war nicht hinter dem Geld her. Ein schwerer Schlag war es für ihn als Sportler. Er hätte im Frühjahr und Sommer die großen Rennen für den Stall Kufferath mit den Pferden, die er in Form gebracht hat, fahren können. Darum ging es ihm! Sonst hätte er bestimmt selbst, schon im Winter, gekündigt. Denn die Spannung zwischen ihm und Leysing ging so weit, daß sie sich in letzter Zeit nicht mehr grüßten und nur noch das Allernotwendigste miteinander sprachen. Entschuldigen Sie, Herr Brückner, wenn ich das so glatt heraussage: Benno Leysing ist ein Schuft!“ Schimanski war so erregt, daß er sich laut klatschend auf den Oberschenkel schlug. Das war für mich natürlich der gegebene Augenblick, um zuzupacken. „Sie waren doch früher einmal mit Herrn Leysing befreundet?“ fragte ich trocken. Schimanski hob mit einem Ruck den Kopf, riß die blaßblauen Augen auf und blickte mich verwundert an. „Ich – mit Leysing befreundet?“ Er hätte ein großartiger Schauspieler sein müssen, wenn es nicht die Wahrheit war, was er nun empört rief: „Niemals! Niemals, Herr Brückner!“ „Nun, Herr Schimanski, wie war denn das neunzehn hundertneunundfünfzig?“ „Neunzehnhundertneunundfünfzig?“ wiederholte er verblüfft. Doch dann, nach kurzem Nachdenken, errötete er jäh. Er ballte beide Hände zu Fäusten, um ein Zittern zu verbergen. Plötzlich senkte er den Kopf und sagte fast tonlos: „Hängt mir das immer noch an?“ Ich ließ ihn. Endlich hob er seinen Kopf wieder und blickte mich beinahe bettelnd an. „Glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen versichere: Die Geschichte hat sich genauso abgespielt, wie 57
ich damals vor Gericht ausgesagt habe. Nur um sich selbst herauszureden, hat mich Leysing belastet. Verstehen Sie: Ich war doch Mitangeklagter, nicht Zeuge, deshalb konnte ich nicht beschwören, was wahr ist. Bitte, fragen Sie mich, Herr Brückner, ich werde Ihnen alles haargenau sagen, jede Kleinigkeit.“ Seine Verzweiflung war offensichtlich echt. „Schön, sprechen Sie.“
10 „Es war im Spätherbst neunzehnhundert neunundfünfzig, Ende Oktober. Leysing arbeitete damals noch im Stall neben unserem, bei Kolke; er versorgte dort elf Pferde. Abends so gegen sieben Uhr kam er zu mir herüber und sagte, er müßte am nächsten Morgen schon um fünf Uhr in ein Gestüt hinausfahren, in eine LPG, wo sein Chef Pferde gekauft hätte. Dorthin müßten nun sechs Zentner Hafer gebracht werden, und der LKW, der sie abholen würde, käme um sechs Uhr früh. Ich schliefe doch sowieso diese Nacht im Stall, und ob ich dann nicht dem Fahrer die Säcke aushändigen wollte. Ich sagte selbstverständlich sofort ja.“ „Standen Sie so gut mit Leysing?“ „Nicht gut, nicht schlecht, wir waren Kollegen, weiter nichts. Jeder hätte dem andern eine solche Gefälligkeit erwiesen; warum auch nicht? Leysing zeigte mir vier Zentnersäcke in einer kleinen Wagenremise und gab mir den Schlüssel. ‚Kannst du noch zwei Säcke bei dir unterstellen?‘ fragte er mich dann. ‚Hier ist nicht genug Platz‘. –‚Warum nicht?‘ sagte ich. Und er: ‚Ich bringe sie dir gleich herüber.‘ Das tat er. Ich stellte die beiden Säcke 58
in meine Futterkammer und legte mich schlafen. Um sechs Uhr morgens kam der LKW. Ich half dem Fahrer erst die vier und dann die zwei Säcke aufladen. Mir schien es zwar, als wäre der Mann ein bißchen aufgeregt, weil er so zur Eile trieb, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Aber als er gerade wegfahren wollte, kamen ein Kriminalpolizist und zwei Uniformierte um die Stallecke und nahmen ihn fest. Mich ließen sie vorerst noch da. Der Kraftfahrer war nicht von einer LPG, sondern ein Fuhrunternehmer aus Johannisthai.“ Schimanski hob ratlos beide Hände. „So bin ich in diese schlimme Sache hineingeraten.“ „Welche Folgen hatte sie?“ „Wenn Leysing auch vor Gericht behauptete, die zwei Sack in meiner Futterkammer hätten mir gehört, wurde ich freigesprochen, weil auch der angeklagte Fuhrunternehmer sagte, ich hätte mit der Sache nichts zu tun. Leysing hat nur ein paar hundert Mark Geldstrafe bekommen; ich weiß nicht mehr, wieviel. Aber auf der Rennbahn, bei allen Kollegen war er von nun ab unten durch – bis heute noch.“ „Das hohe Staatsbürgerbewußtsein der Rennbahnleute in allen Ehren“, warf ich ein bißchen ironisch ein, „aber übertreiben Sie da nicht, Herr Schimanski? Ich verstehe ja recht gut, daß Sie nach dieser Sache nicht gerade wohlwollend zu Herrn Leysing eingestellt sind, aber …“ Er fiel mir aufgeregt ins Wort: „Das hat mit Staatsbürgertum und Bewußtsein nichts zu tun. Hier geht es um die Pferde! Der Schuft hat den Pferden, wo wir damals Hafer nicht so leicht kriegen konnten wie heute, was vom Futter abgeknapst, um damit zu schieben! Das ist die größte Gemeinheit, die es geben kann. Sie verstehen das vielleicht nicht so, Herr Brückner …“ „Doch, doch“, sagte ich und war mir bewußt, daß ich soeben ein wenig in eine mir fremde Welt, in die Mentalität 59
leidenschaftlicher Tierliebhaber und Sportler, eingedrungen war. „Dann hatten doch auch Sie wegen dieser Sache bei Ihren Kollegen …“ Wiederum ließ Schimanski mich nicht zu Ende sprechen. Er sprang sogar vom Stuhl auf und stand plötzlich auf seinen stämmigen O-Beinen dicht vor meinem Schreibtisch. „Keiner hat mir eine solche Gemeinheit zugetraut!“ rief er triumphierend. „Kein einziger Kollege und auch mein Chef nicht! Nein, die Kollegen waren sehr verärgert, daß mir der Staatsanwalt und der Richter nicht hatten glauben wollen. Mehrere haben sich sogar als Zeugen gemeldet, aber sie wurden nicht angenommen, weil sie nichts zur Sache auszusagen hätten. Ja, Herr Brückner, ich habe, da können Sie überall herumhören, einen guten Namen! – Entschuldigen Sie“, besann er sich und setzte sich wieder. „Und Leysing? Wie war das mit ihm?“ „Alle wunderten sich, als ihn Herr Kufferath nach so einer Sache bei sich einstellte. Aber das hat wohl die Frau gemacht.“ „Welche Frau?“ „Frau Kufferath.“ „Da gibt es also – nach Ihrer Meinung – irgendwelche Zusammenhänge oder Beziehungen zwischen Herrn Leysing und Frau Kufferath?“ Schimanski zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Man sagt es. Aber das kann Geschwätz sein. Wenn ich auch dem Leysing nicht grün bin, möchte ich trotzdem nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und etwas über ihn sagen, was ich nicht verantworten kann.“ „Gut, Herr Schimanski, ich habe keine Fragen mehr. Ich danke Ihnen.“ Er kam noch einmal bis zum Schreibtisch vor. 60
„Glauben Sie mir, Herr Brückner, daß ich Ihnen die volle Wahrheit gesagt habe?“ fragte er kleinlaut. Seine Stimme zitterte. „Ich sehe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen, Herr Schimanski“, sagte ich zurückhaltend.
11 Es half ja nun alles nichts, es mußte sein. Ich zog die beiden Leitz-Ordner voller Akten wieder zu mir heran, seufzte und steckte mir eine neue Zigarre an. Der Vorgang mußte studiert werden, erst von mir, dann von meinen Mitarbeitern, Mit oberflächlichen Stichproben war da nichts zu machen. Was hatte sich eigentlich dort in Thüringen abgespielt? Hatte uns Oberstleutnant Trewes den Fall wirklich nur wegen der Gebrauchtwagenschiebungen übertragen? Ich begann jetzt, vorn anfangend, die Befundsberichte über Tatort und Tat genau zu lesen. Dabei erlebte ich die erste große Überraschung. Folgendes hatte sich ereignet: Im Bezirk Erfurt war am Abend des 16. November vorigen Jahres ein BMW, ein ziemlich alter, aber frisch gespritzter und auf Hochglanz polierter Wagen, gegen ein eisernes Brückengeländer geprallt, hatte dieses an einer Seite aus den quadratischen Betonpfosten gerissen; aber die Wucht des Aufpralls war doch nicht stark genug gewesen, das Fahrzeug in die an dieser Stelle der Straße ungefähr fünfzehn Meter tiefe Schlucht stürzen zu lassen. Es schwebte, von dem verbogenen Stahlrohrgeländer zurückgehalten, mit dem Vorderteil über den Baumwipfeln. Das entnahm ich dem 61
Tatortbefundsbericht und noch deutlicher den Fotos, die erst von den Kollegen eines Weimarer Unfallkommandos, sodann von denen der Unfall- und Mordkommission aus Erfurt angefertigt worden waren. Hinter dem Lenkrad hockte ein Mann mit eingedrücktem Brustkorb. Das Gesicht war durch Scheibensplitter stark entstellt. Er war tot. Offensichtlich ein bedauerlicher, aber unschwer aufzuklärender Unfall. Ich las weiter. Der Tote – und nun wurde die Sache aufregender – war, obwohl der Vorgang nun schon fast ein halbes Jahr zurücklag, nicht identifiziert worden. Es fehlten alle Ausweispapiere, sowohl die seiner Person wie die des Fahrzeugs. Als man den Toten aus dem Wrack hob, wurde festgestellt, daß er nicht durch den Anprall gegen Lenkrad, Steuersäule und Windschutzscheibe, sondern durch einen Schuß in den Rücken getötet worden war. Im Wageninnern roch es stark nach Benzin, obwohl sich beim BMW der Treibstoffbehälter hinten befindet und dieser, wie sogleich festgestellt wurde, heil geblieben war. Wahrscheinlich war die Benzinleitung irgendwo gerissen; das sollte später von den Kriminaltechnikern untersucht werden. Der Fahrer erschossen, also doch kein Unfall! Wenigstens nicht primär. War beabsichtigt gewesen, den Wagen unten zerschellen und ausbrennen zu lassen, oder hatte der Schuß bewirkt, daß der Fahrer die Gewalt über das Fahrzeug verlor und dies nur zufällig gegen ein Brückengeländer über einer Schlucht prallte? Dann hätte, so überlegte ich, der Mörder hinter dem Fahrer sitzen und damit rechnen müssen, mit ihm in den Tod zu rasen. Oder war es denkbar, daß er den tödlichen Schuß abgegeben und dann in voller Fahrt aus dem Wagen gesprungen war? Nein, das war nicht 62
denkbar. So etwas kommt in Kriminalromanen vor, nicht aber in Wirklichkeit. Der Unfall war vorgetäuscht, kein Zweifel. Ich will nicht bestreiten, daß ich jetzt von der Sache, obwohl ich immer noch keinen Zusammenhang mit dem Fall Rennbahn sah – ich hatte diesen sogar bei der Lektüre zeitweilig ganz vergessen –, außerordentlich gepackt war. Doch welchem Kriminalisten wäre es nicht ebenso ergangen, zumal die Akte noch nicht abgeschlossen, der Täter also noch nicht entdeckt war? Nun ging ich systematisch vor. Ich verglich aufmerksam alle Angaben des Tatortbefundsberichts mit den technischen Gutachten unserer Erfurter Dienststelle. Der Wagen, Baujahr 1938, also ein Methusalem, war kurz zuvor generalüberholt, neu lackiert und gepolstert worden. Die Nummer des Motorblocks war ausgeschliffen und eine neue eingeschlagen worden. Die Chassisnummer fehlte ganz, die Schleifstelle war dick überlackiert. Aber unsere Kriminaltechniker hatten im Institut für Materialprüfung – was heute kaum noch schwierig ist – die beiden ursprünglichen Nummern festgestellt; denn die Struktur selbst des härtesten Metalls wird beim Einschlagen der ersten Nummer ziemlich tiefgehend deformiert. Ebenso leicht konnte ermittelt werden, daß der ursprünglich schwarz lackierte Wagen im Lauf der vielen Jahre dreimal seine Farbe gewechselt hatte; die letzte Spritzlackierung – beige, dunkelbraun abgesetzt – war erst zwei Tage alt. Die verschiedenen technischen Gutachten ließen – in Verbindung mit der Spurensicherung schon seitens des Unfallkommandos – kaum noch Zweifel, wie das Verbrechen ausgeführt worden war. Auf der linken, also vorschriftswidrigen Fahrbahnseite waren die Vorderräder schräg nach 63
rechts eingeschlagen und dann die Steuerung an der Säule blockiert worden. Dann hatten der oder die Täter den Kupplungshebel ganz nach unten gedrückt und ihn mittels eines auf Maß zugeschnittenen, also zweifellos vorbereitet gewesenen Holzstücks festgeklemmt. Dieses Holzstück konnte mit einem daran befestigten und durch die geöffnete linke Hintertür geführten, dünnen Draht weggerissen werden. Das Gaspedal war halb niedergedrückt und mit einem Holzkeil im Gleitschlitz festgeklemmt worden. Der zweite Gang war eingeschaltet. Die Wagenpolster hatte man – was ich schon zuvor vermutete – mit Benzin getränkt. Der weitere technische Ablauf des Verbrechens wurde nunmehr aus den Berichten, Gutachten und Fotos leicht rekonstruierbar. Als der Motor eingeschaltet worden war und auf vollen Touren lief, war das Holzstück, das die Kupplung niederhielt, mit einem Ruck weggerissen worden; der Wagen fuhr nun mit rasch zunehmender Geschwindigkeit von der linken Fahrbahnseite auf die rechte, genau auf eine Stelle zwischen zwei Geländerpfosten zu. Das war schon den Fotos und Skizzen der Reifenspuren zu entnehmen, die unsere Kollegen vom Unfallkommando angefertigt hatten; die anschließenden Untersuchungen, die von den Kollegen der trassologischen Abteilung vorgenommen worden waren, bestätigten es. Hätte der Wagen das Geländer durchbrochen und wäre in die Tiefe gestürzt, dann hätte man ihn dort völlig ausgebrannt, wenn nicht gar explodiert vorgefunden, zumal der Tank fast randvoll war. Zwei entleerte Kanister wurden im Gepäckraum gefunden. Ob man jedoch, wäre der zerfetzte, ausgebrannte Wagen unten entdeckt worden, noch genügend aufmerksam nach Spuren eines Verbrechens gesucht und gar welche gefunden hätte, bleibt dahingestellt; die Sache sah allzusehr nach Unfall aus. Wahrscheinlich hätte erst 64
Tage später die Obduktion des Toten auf einen Mord hingewiesen. Aber leider hatte sich der Täter ja auch so noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Es gab drei Zeugenaussagen. Zwei Fahrer anderer Wagen hatten den BMW vorschriftswidrig auf der linken Straßenseite parkend gesehen. Sie hatten sich darüber jedoch nur gewundert, zumal sie keine Person in der Nähe bemerkten. Ob jemand am Lenkrad gesessen habe, wußten sie nicht. „Dazu sind wir zu schnell vorbeigefahren“, sagten beide übereinstimmend aus. Die dritte Aussage war noch weniger nutzbar; sie stammte von dem Fahrer und zwei Insassen eines Wartburg, die den, wie sie meinten, Unfall entdeckt und sofort im nächsten Dorf telefonisch gemeldet hatten. Ich wollte mir gerade weitere Berichte über die Versuche, den Wagen und den Toten zu identifizieren, vornehmen, als Oberleutnant Becker, Leutnant Lorenz und Polizeimeister Höllriegel von Karlshorst zurückkamen. Ich sah ihren Gesichtern an, daß sie Neuigkeiten mitbrachten.
12 Bevor ich meine Mitarbeiter mit dem neuen Auftrag überraschte, ließ ich sie über die Ergebnisse ihrer Ermittlungstätigkeit berichten. „Die Stellung, die Leysing bei der Familie Kufferath innehatte“, begann Oberleutnant Becker, „bedarf noch einer exakten Klärung. Da ist noch einiges mulmig. Aus Mangel an Tatsachen kann ich hier nur den sehr dünnen 65
Extrakt aus einigen Vermutungen, zu denen mir der Genosse Polizeimeister verhalf, wiedergeben.“ Er lächelte etwas verlegen und kratzte sich nervös in seinen sandblonden Borsten. „Wenn ich hier – sehr ungern – psychologische Eindrücke reproduziere, tue ich das mit aller Vorsicht.“ Leutnant Lorenz griente verstohlen; ihn amüsierte Beckers gedrechselte, pedantische Sprechweise immer wieder. Becker fuhr, sein Notizbuch in der Hand, fort: „Der Rennstall Kufferath ist, wie die meisten in Karlshorst – worüber ich eigentlich erstaunt bin –, ein privates Unternehmen. Das Ehepaar Kufferath betreibt – worüber ich wiederum erstaunt bin – hauptberuflich eine Fleischerei in Friedrichsfelde. Herr Kufferath, der einen schwerfälligen, vielleicht auch einen bewußt zurückhaltenden Eindruck auf mich machte, ließ sich zu keinerlei Aussagen verlocken, die über sachliche Angaben hinausgingen, welche jedoch für unseren Fall kaum bedeutungsvoll sind. Den Stallmeister Benno Leysing wie den Trainer Werner Hell, erklärte er, habe er stets einfach als Angestellte betrachtet. Irgendwelche persönlichen Bindungen lägen nicht vor. Ihm sei der eine so lieb wie der andere gewesen. Beide hätten ihre Pflicht erfüllt; was sie privat miteinander auszufechten gehabt hätten, sei ihm gleichgültig gewesen. Er wolle für seinen Stall Rennerfolge, weiter nichts.“ „Hat er sich über die Kündigung Hells geäußert?“ Becker stutzte. „Nein. Ich wußte nichts von einer Kündigung, Genosse Hauptmann, deshalb konnte ich den Zeugen nicht danach fragen. Er antwortete immer nur langsam, in kurzen Sätzen und, wie gesagt, schwerfällig oder auch bewußt zurückhaltend lediglich auf das, was er gefragt wurde; kein Wort mehr.“ 66
„Haben Sie ihn gefragt, was er als Tatmotiv vermutet?“ „Ja, Genosse Hauptmann. Er sagte, er könne es sich nicht erklären. Hell sei immer sehr ruhig und höflich gewesen.“ „Und das Motiv des doch immerhin ganz außergewöhnlichen Selbstmords?“ „Er könne es sich nicht erklären.“ „Das ist dürftig.“ „Ja, sehr dürftig.“ Becker zuckte die Achseln. „Aber leider ist das, was ich über seine Frau berichten kann, noch dürftiger. Sie ist, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, ein Typ, mit dem ich gar nichts anzufangen weiß. Ich meine, bei einer Vernehmungsmethode, wie Sie, Genosse Hauptmann, sie schätzen und zu praktizieren pflegen.“ Wieder griente Leutnant Lorenz, und auch ich konnte ein kleines Lächeln nicht ganz unterdrücken. Glücklicherweise bemerkte es Oberleutnant Becker nicht. „Die Frau ist sicherlich sehr hübsch. Jedenfalls werden das wohl die meisten Männer finden. Ich kann und will das nicht beurteilen. Wenn Sie sie sähen, würden Sie nie auf den Gedanken kommen, das sei die Frau eines Fleischermeisters. Sie ist das, was man wohl eine Dame zu nennen pflegt: sehr selbstbewußt, sehr sicher, sehr – wenigstens nach meinem nicht sehr kompetenten Urteil – elegant gekleidet. Die furchtbaren Vorfälle scheinen sie nicht im geringsten zu beeindrucken. Sie antwortete auf alle meine Fragen, als mache sie aus Höflichkeit gute Miene zu einer lästigen Formalität, die nicht zu vermeiden ist.“ Becker räusperte sich. „Ich glaube, Genosse Hauptmann, wenn wir etwas aus dieser Zeugin herausholen wollen, müssen wir sie zur Vernehmung hierher bestellen und dann nicht mit ihr plaudern, sondern sie hart und sachlich befragen.“ 67
Ich konnte es mir nicht verkneifen, ein bißchen ironisch zu werden. „Sie haben also bis jetzt nur mit ihr geplaudert?“ Becker verkniff die Lippen. „Ich habe es jedenfalls versucht.“ „Sonst noch etwas zum Komplex Leysing?“ „Polizeimeister Höllriegel brachte mich mit vier Leuten von der Rennbahn zusammen – ich habe selbstverständlich alles schriftlich fixiert –, die mir Mitteilungen über Leysing machten. Sein Leumund ist denkbar schlecht. Zwei Zeugen sprachen von Barrasmanieren, und alle vier verurteilten, daß er den Hell fortwährend schikaniert und gegen ihn intrigiert habe. Aber merkwürdigerweise schien das den Zeugen nicht so verurteilenswert zu sein wie dies: Leysing soll vor Jahren – im Oktober neunzehnhundertneunundfünfzig – seinen Pferden Futter entzogen haben, um es zu verschieben. Er sei deswegen auch gerichtlich bestraft worden, aber – wie alle vier Männer meinten – viel zu geringfügig.“ „Ja, danke, Genosse Oberleutnant. Das ist mir bereits bekannt. Sonst noch etwas?“ „Nein.“ „Genosse Lorenz, bitte.“ Lorenz berichtete lebhaft. „Zunächst habe ich, Ihre Anregung befolgend, noch einmal den Boden der Futterkammer untersucht. Tatsächlich, ich fand unter dem Regal, auf dem die Flaschen stehen, Spuren von Xylamon. Ich habe sie fotografiert. Es sieht so aus, als habe dort längere Zeit ein Kanister gestanden und an dessen Außenwand sei, besonders dort, wo sich der Ausguß befindet, beim Abstellen ein Rest des Xylamons heruntergetropft. Natürlich habe ich mich sofort weiter umgesehen und etwas herumgehorcht. Vor etwa einem Monat, als der 68
Stall wegen Quarantäne mit der Barriere versehen wurde, haben Leysing und Hell sie mit Xylamon imprägniert.“ „Etwas Ähnliches habe ich vermutet“, warf ich ein. Lorenz blickte einen Augenblick verwundert von seinem Notizblock auf, ehe er fortfuhr. „Ich habe weiter festgestellt, daß sich Werner Hell in Friedrichsfelde vor etwa einem dreiviertel Jahr eine sogenannte Leerwohnung – ein Zimmer mit Nebengelaß – eingerichtet hat. Natürlich bin ich gleich hingefahren und habe mich dort umgesehen. Die Wirtin, eine Frau Lehmann, sprach sehr lobend von Hell. Ein anständiger junger Mann, freundlich, hilfsbereit. Kaum Besuche, kein Lärm, pünktlicher Zahler. Von dem Selbstmord wußte sie nichts. Hell bleibe oft nachts im Stall, seine Mahlzeiten nähme er ohnehin draußen ein, nur Frühstück äße er zu Hause, aber auch nicht regelmäßig. Als ich ihr meinen Ausweis zeigte, erschrak sie. ‚Hat Werner was ausgefressen?‘ fragte sie und fuhr sogleich fort: ‚Ach nee, das glaube ich nicht.‘ –‚Warum nicht, Frau Lehmann?‘ –‚Weil ich Herrn Hell so was nicht zutraue.‘ –‚Was trauen Sie ihm nicht zu?‘ –‚Etwas, wo die Polizei hinterher ist.‘ Dann zeigte sie mir die Wohnung. Sehr sauber, gute Serienmöbel, Rundfunkgerät, viele Blumen. Außer diesen und zahlreichen gerahmten Fotos von Pferden und Schnappschüssen von Rennen keinerlei persönliche Note. In den Schubladen ganze Stöße von Rennzeitungen, auf dem bescheidenen Bücherregal nur ein paar Fachbücher über Pferdepflege und Veterinärheilkunde. Sichtlich oft benutzt. Nur drei, offenbar willkürlich oder zufällig erworbene Romane. Gefunden und mitgenommen habe ich lediglich diese acht Fotos von Werner Hell oder Gruppen, aus denen man sein Bild herausnehmen kann. Alles Amateuraufnahmen. Übrigens – so sah er aus.“ 69
Er reichte die Fotos herum. Ich sah das – meist lachende – Gesicht eines netten jungen Mannes. Die Aufnahmen waren anscheinend alle nach gewonnenen Rennen geknipst worden. Große, offene Augen, regelmäßige, blitzende Zähne, volle Lippen, eine klare, nicht sehr hohe Stirn, darüber, nachlässig nach hinten gestrichen, lockiges, dunkles, wahrscheinlich braunes Haar. Auf allen Bildern sah Werner Hell jünger aus, als man es seinen Jahren nach vermutet hätte; nach keinem hätte man sagen können, ob er intelligent war oder nicht. Ich ließ darüber eine Bemerkung fallen. „Auch danach habe ich herumgehört“, sagte Leutnant Lorenz. „Aber die Meinungen gingen ziemlich weit auseinander. Ebenso darüber, ob Hell willensstark war. Nach allem scheint er ein relativ weicher, leicht lenkbarer und gutmütiger Bursche gewesen zu sein. Nur bei der Trainingsarbeit und beim Rennfahren sei er erstaunlich konzentrationsfähig und zäh gewesen; das wurde immer wieder betont. Meine Fragen nach seiner Intelligenz“ – Lorenz lachte unbefangen jungenhaft – „wurden fast immer so beantwortet: ‚O ja, er hatte viel Pferdeverstand‘ oder ‚Er war ein heller Junge‘ oder ‚Der Werner wußte mehr als mancher Viehdoktor!‘ Es ist ein merkwürdiges Völkchen da draußen auf der Rennbahn; alle Gespräche drehen sich dort um Pferde und Rennpreise und Wetten.“ „Schön, Genosse Leutnant, was haben Sie sonst noch ermittelt?“ „Werner Hells Mutter, Rentnerin, neunundsechzig Jahre alt, wohnt in Pankow. Bevor Hell sich die eigene Wohnung einrichtete, lebte er bei ihr. Er soll – das wurde mir mehrfach unaufgefordert mitgeteilt – sehr an der Mutter gehangen und sie finanziell großzügig unterstützt haben. Ich habe sie noch nicht aufgesucht. Offen gesagt, 70
Genosse Hauptmann, ich habe mich gescheut, die alte Frau, die jetzt ihren einzigen Sohn auf so schreckliche Weise verloren hat, in ihrem Schmerz mit einer Vernehmung zu quälen. Wenn die Frau, was ich nicht annehme, etwas Sachdienliches auszusagen hat, kann ich das immer noch nachholen. Oder soll ich …“ „Wir werden sie vielleicht gemeinsam aufsuchen.“ Mir gefiel die menschliche Haltung unseres jungen Mitarbeiters; aus Lorenz würde einmal ein ausgezeichneter sozialistischer Kriminalist werden. „Da ist noch etwas, das zu ermitteln bleibt“, fuhr er fort. „Ich habe um einige Ecken herum erfahren, daß Werner Hell den Brief, den er vormittags im Restaurant geschrieben hat – Genosse Höllriegel hat mich darauf hingewiesen –, oder auch einen anderen Brief einem Trainer namens Beer übergeben hat. Das kann bedeutungsvoll sein. Dieser Beer war jedoch heute nicht draußen, und ich hatte zuviel zu tun, um ihn aufzustöbern. Das steht also noch aus.“ „Haben Sie etwas einigermaßen Zuverlässiges über das Verhältnis Hells zu Frau Leysing, zu Frau Kufferath oder deren Mann erfahren?“ „Nur Geschwätz. Aber wir müssen trotzdem einigen Gerüchten nachgehen. Frau Leysing soll einen starken Einfluß auf Hell ausgeübt haben. Einige behaupten, allerdings ohne einen Beweis anführen zu können, die beiden müßten ‚etwas miteinander gehabt haben‘. Zwei Zeugen wollen – ohne sich zu erinnern, von wem – gehört haben, daß Werner Hell einige Male zwar nicht mit Frau Leysing, sondern mit Frau Kufferath verreist gewesen sei. Kufferath habe mit Hell stets nur über berufliche Dinge sachlich und freundlich gesprochen; obwohl er selbst ein alter Rennbahnfachmann sei, habe 71
er Werner Hell in manchen Dingen als Autorität betrachtet. – So“, schloß Lorenz, „das wäre alles.“ „Danke. – Genosse Höllriegel.“ „Die Angelegenheit mit dem Brief habe ich schon dem Genossen Leutnant mitgeteilt. Er wollte ihr nachgehen. Ich nahm mir die Kellnerin im Rennbahnrestaurant vor, und tatsächlich: Werner Hell hat bis kurz vor dem Abendfüttern mit zwei Kollegen, dem eben erwähnten Trainer Beer und einem gewissen Max Kollergang, Skat gespielt. Schon die Kellnerin sagte aus, Werner Hell sei nicht das geringste anzumerken gewesen; er habe sehr aufmerksam gespielt und ein paarmal sogar gelacht. Bei dieser Gelegenheit nebenbei eine Bemerkung: Hell hat nie Alkohol getrunken und war Nichtraucher. Ich habe mir das, obwohl es vielleicht unwesentlich ist, auch von anderen bestätigen lassen. Den Beer habe ich nicht erreicht, wohl aber den anderen Skatpartner, den Trainer Kollergang. Er wiederholte genau das, was die Kellnerin beobachtet hatte: Werner Hell, der sonst ein recht schwacher Spieler gewesen sei, hat diesmal besonders konzentriert und gut gespielt. Von Nervosität oder gar Erregung sei ihm nichts anzumerken gewesen. Im Gegenteil, er habe die gewagtesten Spiele gewonnen. Einmal habe er sogar laut gelacht, als er einen Grand ohne vier mit Kontra und Re gewann. Die Aussagen des Trainers Beer werden kaum anders lauten.“ „Ein psychologisches Rätsel“, murmelte ich. Es war ja auch wirklich unfaßbar. Ein Mensch, der im Begriff steht, einen Totschlag, nein, einen geplanten Mord auszuführen, und schon die Waffe – die mit Wasser gefüllte schwere Flasche – vorbereitet hat und überdies womöglich an einen besonders grausigen Selbstmord denkt, spielt aufmerksam Skat, lacht dabei, gibt sich ganz wie 72
sonst! Oder sollte gerade das ein Beweis sein, daß von dem Augenblick an, als er im Stall ankam, alles unvorhergesehen, alles spontan ablief? „Liebe Freunde“, wandte ich mich an meine Mitarbeiter, „bei mir im Kopf bohrt dauernd eine Frage, die sich nicht verscheuchen läßt: Welchen Anteil hatte Frau Leysing an der Sache?“ „Richtig! Genau das frage ich mich auch“, rief Leutnant Lorenz temperamentvoll. „Schließlich ist sie die einzige Zeugin, die Werner Hell aus der Futterkammer kommen sah. Stimmt das überhaupt? Vielleicht war er zu dieser Zeit schon längst nicht mehr drin. Ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daß sie, nachdem die beiden ersten Pferde gefüttert worden waren – und daß das geschehen ist, bestätigt uns der Zeuge Schimanski, dem das ebenfalls auffiel –, brav abwartend dastand, obwohl niemand aus der Futterkammer kam? Diese Frau weiß doch ganz genau, daß das Füttern zügig vor sich geht. Trotzdem will sie zehn Minuten oder sogar eine Viertelstunde nichtsahnend an der Barriere gewartet haben? Nicht einmal die Stille in der Futterkammer soll sie beunruhigt haben? Das kann glauben, wer will. Ich nicht.“ Wir berieten dieses Phänomen hin und her, kamen aber zu keinem annehmbaren oder auch nur wahrscheinlichen Ergebnis. Als Leutnant Lorenz schließlich den Namen Schimanski in die Debatte warf und beginnen wollte, neue Spekulationen anzustellen, schloß ich die Aussprache und überraschte meine Mitarbeiter, indem ich auf die beiden dicken Leitz-Ordner wies: „Genossen – ein zusätzlicher Auftrag.“ „Aber wir haben doch genug Arbeit mit …“, entfuhr es Leutnant Lorenz. Trocken unterbrach ich ihn: „Ein unaufgeklärter Mord bei Weimar.“ Sie wollten es nur schwer glauben. 73
„Ich werde die Akte noch heute abend, eventuell auch in der Nacht bis zu Ende durcharbeiten“, sagte ich. „Dann wird sich Oberleutnant Becker morgen früh, während wir in Karlshorst unsere Ermittlungen fortsetzen, darüber hermachen. Ich fürchte, es wird notwendig werden, daß demnächst der eine oder andere von uns nach Weimar, Jena oder Erfurt fährt. Es ist eine verwickelte Geschichte, die – wenigstens nach Ansicht des Chefs – irgendwie mit der unseren zusammenhängt.“ Ich teilte den Genossen kurz mit, was mir bereits aufgefallen war, und schloß: „Das ist aber bestimmt noch nicht alles.“ „Bestimmt nicht!“ rief Oberleutnant Becker eifrig. Wenn es um Arbeit auf dem Papier, um Tatsachenforschung, um exaktes Denken ging, zeigte sich bei ihm so etwas wie Temperament; ihm machte minutiöses Aktenstudium eine uns allen unerklärliche Freude. Unser „Gespann“ war offenbar nicht schlecht zusammengesetzt. Auch Höllriegel paßte hinein. Als wir uns trennten, gestand er mir: „Ich habe, wenn ich ehrlich sein soll, sofort vermutet, daß das Motiv beider Taten nicht in Karlshorst, sondern anderswo zu suchen ist …“
13 Ich will nicht vorgreifen, indem ich erzähle, was ich bei meinem nächtlichen Aktenstudium fand. Es war recht aufregend. Jetzt saß Oberleutnant Becker im Arbeitszimmer unserer Kommission und wühlte sich durch die beiden Papierberge, machte sich gewissenhaft an die hundert oder mehr Notizen auf Zettelchen, ordnete diese, indem er sie 74
mit verschiedenfarbenen Buntstiften nach Komplexen kennzeichnete, fügte sie dann zu Gruppen zusammen, und schließlich fertigte er – präzise wie ein Feinmechaniker – drei, vier konzentrierte Berichte an, die übersichtlich sowohl verschiedene, kaum oder gar nicht zusammenhängende Handlungsabläufe als auch die noch ungeklärten Widersprüche erkennbar machten. „Er hat ein Elektronengehirn“, pflegte Leutnant Lorenz manchmal halb im Scherz, halb im Ernst zu sagen. Wirklich, wir hätten für diesen Teil der Ermittlungstätigkeit keinen besseren Mann finden können als Oberleutnant Becker. Mit seinen Vernehmungen vom Vortage sah es bedauerlicherweise anders aus. Damit war wenig genug anzufangen. Vor allem mußte ich mir das Ehepaar Kufferath noch einmal persönlich vornehmen. Ich beauftragte Polizeimeister Höllriegel, im Rennbahngelände weiterzuarbeiten, insbesondere die Sache mit dem Brief Hells aufzuklären; dann forderte ich Lorenz auf, mich in die Wohnung der Kufferaths zu begleiten. Sie wohnten in Friedrichsfelde in dem Hause, wo sich unten die Fleischerei befand, im ersten Stock. Der Laden war nicht groß, wirkte sehr sauber und war modern eingerichtet. Zwei Angestellte, eine ältere Frau und ein junges Mädchen, bedienten die Kunden. Wir fragten die ältere, uns unauffällig ausweisend, nach dem Inhaber. „Die Herrschaften sind noch oben. Herr Kufferath kommt gewöhnlich erst um zehn Uhr wieder herunter, nach dem Frühstück“, sagte sie. „Aber Sie können mich wissen lassen, was Sie wünschen; ich bin seine Schwester.“ „Wir müssen ihn persönlich sprechen.“ Die Frau, eine kräftige, an den Schläfen leicht angegraute Blondine, zeigte nicht jene Nervosität oder Neugier, die uns oft begegnet, wenn wir unvermutet irgendwo 75
auftauchen. „Kommen Sie.“ Wir wurden hinter dem Verkaufstisch herum durch eine Tür ins Treppenhaus geführt. „Gleich im ersten Stock, bitte.“ Wir gingen hinauf und klingelten. Eine große, sehr schlanke Frau öffnete uns. Ihre Stimme war klangvoll und auffallend tief. „Bitte?“ Wir wiesen uns aus. „Treten Sie näher.“ Sie führte uns durch einen dämmrigen Korridor in ein Wohnzimmer, wo Herr Kufferath, eine Shagpfeife rauchend, an einem großen, runden Tisch bei einer Tasse Kaffee saß. Wir machten uns mit ihm bekannt, während seine Frau rasch und geschickt das Frühstücksgeschirr abräumte und hinaustrug. Er nickte, sagte aber nichts. Wir sahen uns den Mann näher an. Sehr breit, sehr untersetzt war er. Ein fleischiges, bartloses Gesicht. Die kleinen Augen lebhaft aus schmalen Schlitzen unter kräftigen Wülsten hervorblickend. Trotz eines Ansatzes von Doppelkinn und starken Genickfalten wirkte der Mann nicht verfettet. Er hatte kurzfingrige, breite, auf den Rücken rötlichblond behaarte Hände, die viel Kraft verrieten. Seine ansehnliche Glatze wurde durch ein paar sorgsam darübergekämmte und festgepappte, beinahe farblose Sardellen mehr betont als verdeckt. Er trug eine dunkelgrüne, bequeme Hausjoppe, darunter ein gelbliches Seidenhemd mit korrekt gebundenem, farblich gut abgestimmtem Schlips. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfzig Jahre; später erfuhr ich, daß er fünf Jahre jünger war. Solche Details, besonders in der Kleidung, sagen natürlich etwas aus. In diesem Fall wahrscheinlich mehr über die Frau als über den Mann. Sie hätte wohl nicht geduldet, daß er, der gewiß zum Saloppen neigte, sich 76
nachlässig oder gar schlampig angezogen zu Tisch gesetzt hätte, obwohl beide allein waren. Auch die Wohnung ließ den starken Einfluß der Frau verspüren. Obwohl in einigen älteren Möbelstücken noch kleinbürgerlich-spießig, war in dem Zimmer das Streben zum Modernen, Sachlich-Schönen unverkennbar. Keinerlei Nippes, Schalen oder anderen Krimskrams, dafür aber über dem Büfett einige schlicht gerahmte, gute Reproduktionen von Gemälden Gaugins und van Goghs. Keine gerahmten Diplome, keine kitschigen Ölgemälde oder Buntdrucke von Pferden, keine Stilleben, wie ich sie hier vermutet hatte. Eine übergroße Fernsehtruhe, unverkennbar Spezialanfertigung, sprach von Wohlhabenheit, wirkte jedoch nicht protzig. „Sie können sich wahrscheinlich denken, Herr Kufferath, weshalb wir Sie aufgesucht haben.“ Er nickte. „Wegen der Sache.“ Frau Kufferath kam zurück. „Wir hätten gern getrennt mit Ihnen gesprochen“, sagte ich; und da sie die Augenbrauen hob: „Das ist so üblich.“ „Dann schlage ich vor“, antwortete sie nach kurzem Überlegen mit ihrer schönen, tiefen Stimme, „daß Sie in das Arbeitszimmer meines Mannes gehen. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ „Nein, danke, das ist nicht üblich.“ Sie lächelte. „Bitte.“ Und sie öffnete die Tür zu einem kleineren Zimmer, dem „Arbeitszimmer“ des Herrn Fleischermeisters. Das war nun eine völlig andere Umgebung, Klobige, dunkle Möbel aus Großvaters Zeiten verstellten den Raum, den überdies ein mächtig großer, nicht zu den anderen Möbeln passender Schreibtisch noch mehr verengte. An den Wänden eine olivgrüne Tapete mit grellgelben 77
Füllhörnern, aus denen violette Trauben purzelten, zahllose Diplome oder Urkunden; dazwischen, in breiten Goldrahmen, Aquarelle und Ölgemälde von Pferden und Rennszenen. Keinerlei Bücher, statt dessen aber, auf zwei Simsen aufgereiht und überdies in einer großen Vitrine, allerlei Silber- und Glaspokale nebst anderen Siegestrophäen. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Frau Kufferath ging, und wir versanken in schweren, lederbezogenen Klubsesseln. „Sie sind der Besitzer des Rennstalls, Herr Kufferath?“ begann ich. „Ja.“ „Der alleinige Besitzer?“ „Ja.“ „Entschuldigen Sie, ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht recht aus“, suchte ich ihn zu lockern, „es kann also sein, daß ich Sie nach Dingen frage, die Ihnen ganz selbstverständlich erscheinen.“ Er nickte und verzog keine Miene, dennoch lockerte er sich tatsächlich etwas. „Haben Sie den Rennstall gekauft, oder wie kommt man bei uns überhaupt zu so was?“ „Er hat schon meinem Vater gehört. Ich bin auf der Rennbahn groß geworden.“ Seine Stimme klang gequetscht, hell, etwas verschleiert und müde, wie oft bei Leuten, die manchmal laut brüllen, für gewöhnlich aber maulfaul sind. „Sie besitzen zehn Rennpferde?“ „Das sind nicht alles Rennpferde.“ „Sondern?“ „Schilla, Pitti und Glücksstern sind noch im Training, die laufen noch nicht. Beppo und Goldelse habe 78
ich erst gekauft; ob aus denen mal was wird, muß sich erst zeigen.“ Ich merkte nun, der Mann war gar nicht so zurückhaltend, wie ihn uns Becker geschildert hatte, man mußte ihn nur zum Reden bringen, indem man ihn zunächst nach Dingen fragte, die ihn bewegten. „Gekauft?“ fragte ich betont verwundert. „Kann man denn bei uns Rennpferde kaufen?“ Er lachte jetzt sogar kurz; das war allerdings mehr ein rhythmisches Schnaufen. „Natürlich verkauft jemand einen guten Traber nur, wenn er muß.“ „Und der ist dann sehr teuer?“ Er wurde nun sogar lebhaft, es machte ihm sichtlich Spaß, mit seinem Fachwissen vor Laien zu glänzen. „Ein Klassepferd mag dem Verkäufer bis zu dreißig- oder vierzigtausend Mark einbringen. Aber so etwas kommt bei uns kaum vor. Wenn ich zum Beispiel Pferde gekauft habe, dann waren das immer nur Fohlen oder Einjährige, die erst zu Trabern gemacht werden mußten. Allerdings, meine Herren, dafür muß man den Blick haben; manchmal irrt man sich schwer. Aber dann wird man das Tier jederzeit mühelos als Arbeitspferd wieder los.“ „Was kostet so ein junges Pferd heute?“ Er ließ wieder den gequetschten Lachton hören. „Achthundert bis tausend Mark, also billiger als ein Moped, von einem Motorroller oder Motorrad gar nicht zu reden. Ja, wir haben in Karlshorst viele Handwerker, Geschäftsleute und sogar Arbeiter, die sich Rennpferde halten, manche allerdings nur eins oder zwei. Rennstall, das klingt bloß so – na, wie soll ich sagen? – großartig. Man muß die Sache sportlich sehen.“ „Manchmal hat man aber auch Pech, wie? Sie haben sich doch unlängst zwei Pferde gekauft, von denen sich 79
dann herausstellte, daß sie krank waren.“ Er wehrte mit seiner breiten, fleischigen Hand ab. „Eben nicht herausstellte“, sagte er lebhaft. „Werner Hell hatte den Verdacht, daß sie von der Druse befallen wären. Wir haben das sofort gemeldet – jeder draußen hätte das getan – und ließen den Stall unter Quarantäne stellen. Es war aber glücklicherweise nur ein Verdacht. Ab heute ist die Quarantäne übrigens wieder aufgehoben.“ „Sie sprachen eben von Werner Hell, Herr Kufferath. Deswegen sind wir eigentlich zu Ihnen gekommen. Was hielten Sie von ihm? Sprechen Sie bitte ganz offen.“ „Ich habe nie einen besseren Trainer und Fahrer gehabt.“ „Es gab also keine Streitpunkte zwischen Ihnen und ihm?“ „Mein Gott, wir haben uns wohl mal ein bißchen gekrabbelt. Das bleibt beim Sport gar nicht aus. Aber was man so Krach nennt, den haben wir nie gehabt.“ „Weshalb haben Sie ihm denn gekündigt?“ Er wiegte seinen massigen Oberkörper hin und her, kniff die Augen noch enger zusammen, beugte sich zu uns vor und schlug plötzlich einen biedermännischvertraulichen Ton an: „Das stimmt ja alles nicht. Ich habe Werner gar nicht gekündigt. Da hat meine Frau oder vielleicht auch nur der Leysing etwas gemacht, was ich gar nicht wollte.“ Ich spielte gemacht gleichgültig mit einem Pfeifenreiniger, der auf dem Tisch lag, und sah Kufferath gar nicht an. „Da wir gerade von Leysing sprechen“, sagte ich möglichst beiläufig, „wäre es für uns recht nützlich und könnte bei der Aufklärung des Falles helfen, wenn Sie uns über den Mann vertraulich unterrichten würden. Sie haben doch sicherlich viel Erfahrung und sind Menschenkenner.“ 80
Die Schmeichelei schien zu ziehen. „Das will ich gern“, sagte er. Doch dann sprach er so naiv-vertraulich, so betont biedermännisch, daß wir sogleich Grund hatten, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. „Ich habe Benno Leysing damals eigentlich nur eingestellt, weil ich keinen andern fand. Er war in eine unangenehme Geschichte verwickelt gewesen, aber das tut heute wohl nichts mehr zur Sache. Sie brauchen es ja nicht an die große Glocke zu hängen.“ Kufferath gab sich jetzt, ungeschickt aufgetragen, als der väterlich Gutmütige. „Ich wollte ihm eine Chance geben. Es ging auch einigermaßen glatt mit ihm. Aber der Richtige war er eigentlich nicht. Deshalb nahm ich vor anderthalb Jahren Werner dazu. Er sollte nur trainieren und fahren. Aber er zeigte vom ersten Moment an, daß er auch von Pferdepflege und Pferdezucht viel mehr verstand als Leysing. Die beiden gerieten immer öfter aneinander. Leysing verlangte, ich sollte Werner hinauswerfen. Aber ich bin doch nicht verrückt!“ Er war nun wieder in ein unbefangenes, lebhaftes Erzählen verfallen. „Mit Werner Hell hätte ich für die kommende Saison von vornherein ein paar schöne Siege in der Tasche gehabt. Und den sollte ich hinauswerfen, bloß weil Leysing sich mit ihm nicht vertragen konnte? Meine Frau war übrigens derselben Ansicht wie ich. Wir überlegten, ob wir nicht Benno Leysing entlassen sollten. Das muß er wohl gemerkt haben, und er hat Werner überall, vor allem bei mir, nach Strich und Faden madig gemacht. Aber gekündigt habe ich Werner trotzdem nicht.“ „Herr Leysing hat aber, wie wir zuverlässig erfahren haben, in Ihrem Namen und im Namen Ihrer Frau öffentlich in einem Lokal, vor fremden Gästen sogar, die Kündigung ausgesprochen.“ „Davon habe ich gehört. Dazu hatte er kein Recht.“ 81
„Aber Ihre Frau muß doch in letzter Zeit anderer Ansicht geworden sein als Sie, Herr Kufferath, denn Herr Leysing berief sich ausdrücklich auf Ihre Frau.“ Kufferath wurde die Sache sichtlich peinlich. Er lief dunkelrot an. „Das müßte ich doch wissen.“ „Vielleicht wissen Sie es trotzdem nicht?“ Er zuckte die Achseln, und von nun an begann er so wortkarg zu werden, wie ihn uns Oberleutnant Becker geschildert hatte. „Sie hätte es mir gesagt.“ „Wie steht denn Ihre Frau zu Frau Leysing?“ lenkte ich ab. Doch er blieb weiter kurz angebunden. „Weiß ich nicht.“ „Aber, Herr Kufferath, das ist doch keine Antwort.“ „Sie passen nicht gut zusammen.“ „Es gibt also Spannungen?“ Seine Augen waren jetzt klein, beinahe ganz zugekniffen. „Sie sind zu verschieden.“ „Aber sie haben doch privat miteinander verkehrt.“ „Verkehrt nicht.“ „Sondern?“ „Sie trafen natürlich öfter zusammen. Im Stall und so.“ „Ist es dabei zu Auseinandersetzungen gekommen?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ Wieder sprang ich plötzlich vom Thema ab. „Ihre Frau verreist öfter?“ „Das kann sein.“ „Herr Kufferath, was soll das? Sie können doch als Ehemann nicht so tun, als wüßten Sie das nicht.“ „Meine Frau hat einen neuen Wartburg; sie fährt sehr gern.“ „Auch in Städte der Republik und übernachtet dort?“ „Darum kümmere ich mich nicht. Meine Frau hat volle Freiheit. Das haben wir so ausgemacht.“ 82
„Fuhr Ihre Frau allein?“ „Ich nehme an, ja.“ „Sie nehmen das bloß an?“ „Ich habe mich nie darum gekümmert.“ „Aber wenn sie beispielsweise mit Herrn Leysing oder Herrn Hell gefahren wäre, hätte Ihnen das doch, weil dann der eine oder der andere im Stall fehlte, auffallen müssen.“ „Werner Hell und früher auch Benno Leysing sind öfter in meinem Auftrag in die Republik gefahren.“ „Mit Ihrer Frau?“ „Ich weiß nicht, welche Fahrgelegenheit sie benutzt haben.“ „Weshalb fuhren die beiden?“ „Hauptsächlich, um Pferde anzusehen. Werner hatte einen besonders guten Blick dafür. Ich wollte, bevor ich einem Kaufangebot überhaupt nähertrat, sein Urteil hören.“ „Ist auch Frau Leysing öfter verreist?“ „Weiß ich nicht. Wenn Sie das meinen: mit meiner Frau bestimmt nicht.“ Wenn man schon so viele Vernehmungen aller Art und mit den verschiedenartigsten Menschen durchgeführt hat wie ich, bekommt man ein fast untrügliches Gefühl dafür, ob ein Zeuge ausweicht oder lügt. Dieser Herr Kufferath – Friedrich Theodor hieß er mit Vornamen – war trotz seiner äußeren Robustheit und scheinbaren Schwerfälligkeit ein hellhöriger, wendig denkender Mann; er hatte starke Nerven und konnte sich beherrschen. Zweifellos wirkte er auf die meisten Menschen primitiv, gutmütig und bieder. Seine letzten Aussagen waren jedoch nicht nur zurückhaltend gewesen, sie waren unaufrichtig. Er hatte mancherlei zu verbergen, dessen war ich gewiß. Aber ich würde jetzt kaum noch Nennenswertes aus ihm herausholen. Er war 83
gewarnt. „Danke, Herr Kufferath“, sagte ich und wandte mich an Lorenz, der alles Wesentliche mitstenografiert hatte. „Möchten Sie noch etwas fragen, Genosse Leutnant?“ „Nur eines: Herr Kufferath, wie stehen Sie denn zu Frau Leysing?“ Zum erstenmal zuckte er leicht zusammen, so leicht, daß es weniger aufmerksame, weniger mißtrauische Beobachter, als wir es waren, wohl kaum bemerkt hätten. „Ganz gut“, antwortete er langsam. Die Vorsicht war unüberhörbar. Lorenz griff zu. „Sie meinen sehr gut, besonders gut?“ Da verlor der robuste Mann denn doch die Nerven. „Was geht Sie das an?“ fragte er böse. Alles Biedermännische war plötzlich von ihm abgefallen. „Was hat das mit der Sache zu tun?“ Ich lächelte ihn freundlich an. „Nun, Herr Kufferath“, sagte ich, „je weniger es damit zu tun hat, desto offener können Sie doch mit uns darüber sprechen.“ „Ich will aber nicht“, knurrte er. „Das ist meine Privatangelegenheit.“ Er beugte sich vor, legte beide Fäuste auf die Tischplatte und hockte da wie ein mächtiger Klotz. Aber der Ärger war größer als seine Selbstbeherrschung; seine gequetschte Tenorstimme wurde rauh bis zur Heiserkeit. „Holen Sie sich doch Ihre Auskünfte weiter bei den Quatschtanten, die Ihnen die Ohren vollgeblasen haben!“ Ich wurde scharf. „Von wem wir die Auskünfte einholen, Herr Kufferath, das müssen Sie gefälligst uns überlassen. Sie können gehen. Ein Protokoll nehmen wir später auf.“ Er erhob sich langsam, wandte sich zur Tür, blieb dort einen Augenblick stehen und wollte offenbar, sich halb umdrehend, noch etwas sagen. Dann aber besann er sich. Abrupt stapfte er hinaus. Leutnant Lorenz folgte ihm. 84
14 Kurze Zeit danach kam Lorenz mit Frau Kufferath zurück. Sie hatte die Zeit benutzt, sich zurechtzumachen und ein einfaches, geschmackvolles Kleid anzuziehen, ziemlich eng anliegend, dunkelrot, ihren Typ unterstreichend. „Bitte, Frau Kufferath, nehmen Sie Platz.“ Nach Oberleutnant Beckers Beschreibung hatte ich mir – und, wie Leutnant Lorenz mir später sagte, auch er – die Frau ganz anders vorgestellt. Sie war gut einen Kopf größer als ihr Mann, sehr schlank, straff, trug ihr schwarzes Haar kurz geschnitten. Die Augen in dem schmalen, wohlgeformten Gesicht waren auffallend groß und schön, ihre Haut war so gleichmäßig gebräunt, als käme die Frau eben aus einem Sommerurlaub am Meer zurück; das war keine Schminke, das war Höhensonne; die Frau hielt etwas auf sehr individuelle Kosmetik. Das verrieten auch die schlanken, kräftigen Hände mit den dezent lackierten Nägeln. Sie war durchaus nicht der Typ, den man gemeinhin „Dame“ zu nennen pflegt. Dazu wirkte sie, zumal ihre Brustpartie fast knabenhaft unbetont war, zu energisch, beinahe – auf eine ansprechende Art – maskulin. Zu alledem ihre tiefe, klangvolle Stimme, ihre kultivierte, völlig dialektfreie Art zu sprechen. Sie machte keinerlei Versuch, sich charmant zu geben, sie war es, allerdings in einer bestimmten, herben Weise. „Was möchten Sie von mir wissen?“ Sie schlug die Beine übereinander und sah uns beide nacheinander rasch abschätzend an. Jetzt erst bemerkte ich die winzigen Fältchen in den Augenwinkeln. Ich hatte die Frau zuvor auf höchstens dreißig Jahre geschätzt, aber sie war vermutlich nah an 85
der Grenze der Vierzig. „Ich möchte keine unnötigen Vorreden und Höflichkeitsphrasen machen, Frau Kufferath“, sagte ich. „Ich glaube, es ist auch Ihnen lieber, wenn wir gleich zur Sache kommen.“ „Ich bitte darum.“ „Sind Sie finanziell an dem Geschäft Ihres Mannes oder am Rennstall beteiligt?“ „Mein Mann und ich leben in Gütertrennung. Ich erhalte von ihm, was ich brauche. Er ist sehr großzügig. Selbstverständlich helfe ich ihm geschäftlich; ich führe die Bücher, erledige die Abrechnungen, kontrolliere das Personal.“ „Sie fahren einen Wartburg?“ „Ja, seit einem halben Jahr einen Wartburg-Luxus, ein Geschenk meines Mannes. Er fährt einen Škoda-Combi.“ Mit keiner Miene verriet sie Überraschung oder nur Befremden über meine doch recht ungewöhnliche Frage; es wäre also verfrüht gewesen, schon jetzt auf ihre Reisen zu kommen. Deshalb wechselte ich unvermittelt das Thema. „Würden Sie uns mit ein paar Worten sagen, wie Sie zu den Herren Leysing und Hell standen?“ „Mit beiden relativ gut, wie es durch die Verhältnisse bedingt ist. Werner war …“ „Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche: Sie duzten Herrn Hell?“ „Ja, das ist so üblich.“ „Er Sie auch?“ „Natürlich nicht.“ Sie lächelte und wiederholte ein wenig persiflierend meinen Tonfall: „Das ist nicht üblich.“ Ich lächelte zurück. Ich mag gern intelligente, sensible Frauen. „Sie schätzten also Herrn Hell?“ Sie nickte unbefangen. „Er war ein ausgezeichneter Trainer und Fahrer, ein sehr freundlicher, williger junger Mensch. Ja, ich mochte ihn gern. Gegen Herrn 86
Leysing“ – sie lächelte abermals –, „den ich übrigens nicht duzte, hatte ich, als mein Mann ihn einstellte, Einwände. Aber er arbeitete dann gut.“ „Wußten Sie, daß er neunzehnhundertneunundfünfzig in eine Strafsache verwickelt war?“ „Selbstverständlich wußte ich das. Daher anfangs meine Bedenken. Aber er ließ sich nie wieder etwas zuschulden kommen. Ich habe ihn unauffällig kontrolliert. Erst als mein Mann Werner Hell einstellte, gab es einige unangenehme Vorfälle. Die beiden Männer vertrugen sich schlecht. Dabei war Werner Hell meist im Recht. Leysing verlangte schließlich, mein Mann solle Werner entlassen. Aber er tat es nicht.“ Ich bemühte mich, die nächste Frage so beiläufig wie möglich zu stellen. „Sie haben also, wenn ich Sie richtig verstehe, die Forderung Leysings bei Ihrem Mann unterstützt?“ Ich hatte gehofft, die Frau würde merkbar reagieren, aber ich hatte mich geirrt; sie sah mich aus ihren großen Augen erstaunt fragend an. „Wie sollte ich dazu gekommen sein? Im Gegenteil, wir rechneten doch damit, daß Werner in der bevorstehenden Saison für unsern Stall einige wertvolle Preise hereinholen würde.“ „Nun, Herr Leysing hat immerhin in einem Café die Kündigung ausgesprochen und sich dabei vor allem auf Sie berufen.“ Immer noch keinerlei Erregung, nicht einmal ein Anzeichen von Verwunderung, auch der Ton ihrer Stimme verriet nichts. „Das ist mir neu.“ „Es gibt dafür eine Anzahl Zeugen.“ „Das verstehe ich nicht. Da muß sich Herr Leysing einen Übergriff erlaubt und gelogen haben. Wie gesagt, das verstehe ich nicht.“ 87
„Eine andere Frage, Frau Kufferath: Wie stehen Sie zu Frau Leysing?“ Sie zündete sich eine Zigarette an. Es war, wie ich im stillen registrierte, dieselbe Westmarke, die Frau Leysing rauchte. Während sie die ersten beiden Züge tat, überlegte sie, aber offenbar nur, wie sie ihre Antwort formulieren sollte, keineswegs überrascht oder irritiert durch meine Frage. „Ich möchte so sagen“, begann sie, „Edeltraut ist mir immer gleichgültig gewesen. Sie hat ganz andere Interessen als ich. Nicht einmal vom Rennsport versteht sie etwas oder, sagen wir lieber, nur sehr wenig. Natürlich haben wir beide uns oft unterhalten, wie es wohl selbstverständlich ist, wenn man sich so oft begegnet wie wir. Wir sprachen dann über“, sie lächelte charmant, „über das, worüber zwei Frauen, die sonst einander wenig zu sagen haben, überall zu sprechen pflegen: über Kleider, Schuhe, Kosmetika oder wohl auch über einen Film. Aber schon dabei – ich meine beim Film – gingen unsere Geschmäcker weit auseinander. Bücher liest Traut Leysing, glaube ich, überhaupt nicht, nicht einmal die Zeitung.“ „Ich möchte gern eine etwas heikle Frage stellen.“ „Bitte.“ „Bestand zwischen Frau Leysing und Werner Hell so etwas wie eine Freundschaft, eine besondere Zuneigung oder dergleichen?“ Sie lachte wohlklingend und, wie es schien, völlig unbefangen. „Sie meinen ein Verhältnis?“ Ich nickte. „Nein“, sagte sie wieder ernst, „das halte ich für ausgeschlossen. Werner Hell war nicht der Mann, mit dem eine Frau – auch keine Edeltraut Leysing – ein Verhältnis angefangen hätte. Ich glaube nicht einmal an die Möglichkeit 88
eines sogenannten Seitensprungs. Im Grunde genommen war Werner, trotz seiner fünfundzwanzig Jahre – so alt war er doch wohl? –, nur ein braver, dummer Junge. Sehr nett, gewiß. Aber man konnte mit ihm keine zehn Sätze über etwas anderes sprechen als über Pferde, Pferdekrankheiten, Hufbeschlag, Fütterung, Training und Rennen.“ Wieder das wohlklingende, fraulich-herablassende Lachen. Für mich war das der Augenblick, einen Vorstoß zu wagen. Er konnte natürlich ins Leere gehen, aber wie sollte ich dieser selbstsicheren, zweifellos klugen, wenn nicht sogar raffinierten Frau sonst beikommen? „Sie haben, wie uns Ihr Mann bereits mitgeteilt hat, in den letzten Monaten mehrere Reisen in die Republik gemacht?“ „Ja.“ Das kam ohne Zögern. „Zusammen mit Werner Hell?“ Nur sekundenkurz ging ihr Atem schneller. „Ja.“ Dann wieder ganz ruhig und ein wenig lächelnd: „Reisen? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Ich habe Werner Hell drei- oder viermal in meinem Wagen mitgenommen, wenn er hinausfuhr, um sich im Auftrage meines Mannes Pferde anzusehen. Ich habe ihn dann unterwegs abgesetzt, zweimal, wenn ich mich recht erinnere, auch auf der Rückfahrt wieder abgeholt.“ „Und wohin fuhren Sie?“ „Ich habe mir, rein zu meinem Privatvergnügen, mehrere Städte angesehen. Oft war ich in Dresden in der Galerie, manchmal auch in Weimar in den Museen und Gedenkstätten, in Altenburg, in Erfurt oder auf der Leuchtenburg, mehrmals in Meißen, einmal auf der Wartburg …, kurz, überall dort, wo es etwas Schönes oder Sehenswertes gibt. Ich habe doch beruflich – wenn wir überhaupt von Beruf sprechen wollen – sehr wenig zu tun. Für das Ladengeschäft sorgt meine Schwägerin.“ 89
„Darf ich Sie fragen, ob Sie die Städte oder Gedenkstätten, die Sie eben aufzählten, allein besucht haben?“ Wenn ich erwartet hatte, sie würde jetzt mit einem einfachen Ja antworten, irrte ich mich. Dazu war sie zu klug. Sie streifte umständlich die Asche ihrer Zigarette ab und fragte mit einem feinen, vertraulichen Lächeln: „Müssen Sie das unbedingt so genau wissen?“ „Nein.“ Aber dann fragte ich unvermittelt: „Haben Sie in Ihrer Aufzählung nicht Jena vergessen?“ Ihre Augen blickten mich weiter klar und offen an, aber die Fältchen in ihren Augenwinkeln vertieften sich plötzlich ein wenig, und sie konnte es nicht verhindern, daß in ihre Stimme eine kleine Rauheit kam; sie räusperte sich unwillkürlich. „An Jena“, sagte sie dann langsam, „erinnere ich mich nicht. Die Stadt wird wohl, wenn ich wirklich dort war, keinen besonderen Eindruck bei mir hinterlassen haben.“ Sie hatte meinen Vorstoß glänzend pariert, aber doch nur pariert. Diese Frau war ein Gegner von Format. Sie würde uns bestimmt noch einige Überraschungen bereiten. Leutnant Lorenz, trotz seiner Jugend kein schlechter Menschenbeobachter – besonders wenn es um Frauen ging –, sagte, als wir das Haus verließen, dasselbe. „Veranlassen Sie heute noch, daß in all den genannten Städten von unseren dortigen Dienststellen die Meldezettel der Hotels überprüft werden.“ „Das habe ich mir bereits vorgemerkt, Genosse Hauptmann. Ich werde in dem Fernschreiben auch die Namen Werner Hell und Benno Leysing anführen. Denn es gibt ja auch Einzelzimmer.“ Dieser junge Lorenz war ein prächtiger Mitarbeiter.
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15 Während der Fahrt nach Karlshorst tauschten Leutnant Lorenz und ich Eindrücke und Vermutungen aus. Nur gut, daß uns Oberleutnant Becker dabei nicht zuhören konnte; er hätte unsere „ausschweifende Phantasie“ bestimmt des öfteren gebremst und uns zur Ordnung gerufen mit seinem typischen Zwischenruf: „Tatsachen, Genossen, Tatsachen! Wo sind sie?“ Und wir hätten beschämt gestehen müssen, daß wir nicht eine einzige greifbare erfahren hatten. Unser Gespräch begann damit, daß Freund Lorenz von Frau Jutta Kufferath zu schwärmen begann. Sie gefiel ihm. Es war schon so, wie Oberleutnant Becker einmal in einer seltenen Anwandlung von Humor über ihn gescherzt hatte: „Der Genosse Leutnant hat Glück bei den Frauen, ihm gefallen alle.“ Um Leutnant Lorenz jedoch gerecht zu werden – seine Begeisterung für die aparte Jutta hinderte ihn nicht, unvermittelt fortzufahren: „Aber so attraktiv und raffiniert sie auch ist, an der Nase werden wir uns von ihr trotzdem nicht herumführen lassen.“ „Hat sie das versucht?“ fragte ich hinterhältig-naiv. Er lachte mich hell an. „Und wie!“ rief er. „Oder glauben Sie ihr wirklich die Leidenschaft für alte Städte, Gedenkstätten und Museen, Genosse Hauptmann?“ „Die großenteils in Thüringen liegen“, ergänzte ich. „Natürlich nicht. Obwohl es zu ihr passen könnte.“ „Jedenfalls hat sie ihren Alten fest in der Zange. Er steht unter dem Pantoffel.“ „Tut er das wirklich?“ 91
Lorenz stutzte. „Es könnte allerdings auch so sein, daß sein Gerede von der beiderseitigen Freiheit nur ein Vorwand ist. Er hat es, auf ganz andere Art, ebenfalls faustdick hinter den Ohren.“ „Vorwand wofür?“ „Daß seine Frau die Reisen in seinem Auftrag unternahm.“ „Um irgendwelche dunklen Geschäfte zu tätigen?“ „Ja, beispielsweise. Und glauben Sie, Genosse Hauptmann, daß Frau Kufferath, wenn sie Werner Hell im Wagen mitgenommen hat, ihn wirklich unterwegs nur absetzte oder abholte?“ „Darauf werden uns vielleicht die Meldezettel der Hotels antworten.“ „Wissen Sie, was mir auch verdächtig scheint?“ „Nein“ „Daß sie uns die Frau Leysing, die sehr energische Edeltraut, gern als harmloses Dummerchen aufreden möchte. Die beiden haben bestimmt nicht nur über Kleider, Frisuren, Schuhe und Filme gesprochen.“ Ich freute mich, daß Lorenz dies ebenfalls bemerkt hatte. Es ist nämlich eine kriminalistische Erfahrung, daß bei Zeugen, die sich voneinander abzugrenzen versuchen, gewöhnlich eine enge Verbindung vertuscht werden soll. Frau Kufferath war allerdings so klug gewesen, uns diese Abgrenzung scheinbar ganz beiläufig, mit liebenswürdiger Herablassung gegenüber der Frau Leysing suggerieren zu wollen. Genau das, was Lorenz eben gesagt hatte, entsprach auch meinem Eindruck. „Mit ihrem Mann lebt Frau Leysing denkbar schlecht, gelinde gesagt“, überlegte Lorenz weiter. „Das ist gewiß.“ „Davon war aber bei den Vernehmungen gar nicht die Rede“, wandte ich ein. 92
„Nein. Aber ihr Verhalten, als der Mann schwerverletzt abtransportiert wurde.“ Mir fiel etwas ein. „Stellen Sie doch einmal fest“, beauftragte ich Lorenz, „ob Frau Leysing überhaupt versucht hat, ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen oder wenigstens etwas über seinen Zustand zu erfahren.“ Während Lorenz sich diesen Auftrag notierte, sagte er: „Ich bin fest überzeugt, daß sie irgendwie mit Werner Hell liiert war. Anders ist ihr Zusammenbruch, als sie von seinem Selbstmord erfuhr, nicht zu erklären.“ „Richtig“, gab ich zu, „aber muß es unbedingt Liebe oder auch nur eine erotische Bindung gewesen sein? Könnte nicht etwas völlig anderes dahinterstecken?“ Lorenz sah mich überrascht an. „Das muß man sich sehr überlegen“, antwortete er dann lebhaft. „Naheliegend ist natürlich, daß sie bei dem Totschlag oder dem Mordversuch an ihrem Mann gemeinsame Sache mit Werner Hell gemacht hat. Dafür sprechen bereits einige Indizien. Und als sie dann von dem Selbstmord Hells erfuhr, bekam sie einen Schock, weil etwas ganz anders gelaufen war, als sie erwartete. Wir stoßen immer wieder auf die Kernfrage: Warum dieser absonderliche Selbstmord?“ „Haben Sie einen unerschütterlichen Beweis, daß es tatsächlich Selbstmord war?“ Lorenz bekam große Augen. „Zweifeln Sie daran?“ Ich zuckte die Achseln. „Übrigens“, lenkte ich ab, „wissen wir rein gar nichts über das Verhältnis, in dem Frau Kufferath tatsächlich zu Benno Leysing stand. Die Geschichte mit der Kündigung Hells ist doch völlig unklar. Die attraktive Frau weiß nur zu gut, daß wir ihre diesbezügliche Aussage – ebenso wie die ihres Mannes – nicht überprüfen können, solange Leysing nicht vernehmungsfähig ist.“ 93
„Das stimmt; und ob er überhaupt noch einmal vernehmungsfähig werden wird …“ Er brach ab, denn wir waren auf der Rennbahn angekommen.
16 Polizeimeister Höllriegel hielt einige Neuigkeiten für uns bereit. Zwei Männer der Rennleitung – ein Bäckermeister und der Inhaber eines Baugeschäfts – hatten sich bei ihm gemeldet. Sie sagten aus, daß ihnen Werner Hell gegen sechs Uhr abends, als sie gerade das Gebäude verließen, an der Tür begegnet sei und gefragt habe, ob sie ihm eine Schachtel Streichhölzer geben könnten. Werner Hell sei vom Stall her gekommen. Einen aufgeregten Eindruck habe er nicht gemacht. „Vielleicht war er ein bißchen sonderbar“, hatte der Bäckermeister einschränkend gesagt, „irgendwie anders als sonst, ein bißchen durcheinander. Aber“, so schloß er, „vielleicht scheint mir das jetzt, hinterher, bloß so.“ Sein Kollege, der Bauunternehmer, hatte Hell gefragt: „Was willst du denn mit Streichhölzern? Du rauchst doch gar nicht.“ Werner habe geantwortet: „Streichhölzer braucht man nicht nur zum Zigarettenanzünden.“ Auch das habe ganz natürlich – „ganz alltäglich“, sagte der Mann – geklungen, und er habe Werner Hell seine Streichhölzer gegeben. „Ich fragte die beiden“, berichtete Höllriegel weiter, „ob Hell einen Benzinkanister bei sich gehabt habe. Darauf hatten beide nicht geachtet, jedenfalls erinnerten sie sich nicht. Aber wenn es der Fall gewesen wäre, 94
meinten beide, dann hätte es ihnen wahrscheinlich auffallen müssen.“ Eine zweite Entdeckung Höllriegels war in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll. In der Nähe des Hauses der Rennleitung, auf halbem Wege vom Stall Kufferaths etwa, stand ein Gebüsch, noch frühlingshaft knospend. Einer der Ziersträucher war mit einer dunklen, mattgrün glänzenden, schon angetrockneten Flüssigkeit übergossen worden. „Ich habe einige Zweige abgeschnitten und zwecks Untersuchung im chemischen Labor des Instituts sichergestellt“, erklärte Höllriegel. „Aber schon der Geruch sagte mir, was es war.“ „Xylamon!“ rief Lorenz. „Ja“, bestätigte ich, „Hell hat dort den Kanister, in dem sich noch ein Rest Xylamon befand, ins Gebüsch entleert.“ Höllriegel nickte. „Der Rest muß sogar ziemlich groß gewesen sein, denn der Erdboden, von dem ich übrigens auch eine Probe sicherstellte, war völlig damit durchtränkt. Ich folgerte nun weiter: Hell hatte den Kanister im Buschwerk abgestellt, bevor er wegen der Streichhölzer zur Rennleitung ging. Wann er ihn entleerte, ob vorher oder auf dem Rückweg, ist belanglos. Er mußte sich Benzin besorgen. Wo gab es das? Sehr einfach: an der Tankstelle draußen, ein paar Schritte vor dem Eingang zur Rennbahn. Ich vernahm also den Pförtner. Er konnte sich nur ganz dunkel erinnern; er ist ein alter, wohl auch geistig nicht besonders regsamer Mann. Ihm ‚wäre allerdings so‘, meinte er, als sei Werner Hell hinausgegangen, aber um diese Zeit hätten viele die Kontrolle passiert, ‚und da achtet man nicht so auf den einzelnen‘. Ob und wann Werner Hell zurückgekommen sei, erinnere er sich gar nicht. Ich mußte jedes Wort aus ihm herausziehen, offensichtlich befürchtete er, ich wolle ihm ein Pflichtversäumnis nachweisen. Natürlich, antwortete er mir auf 95
eine diesbezügliche Frage, habe er Werner Hell gut gekannt und sich deshalb nie seinen Ausweis zeigen lassen. Ob es ihm denn nicht hätte auffallen müssen, wenn jemand, während alle anderen die Rennbahn verließen, sozusagen gegen den Strom zurückkehrte? ‚Nein‘, antwortete er, ‚es kommt öfter vor, daß einer hinausgeht, um im Café Vorwärts etwas zu essen oder sich draußen kurz mit jemand zu treffen, und dann zurückkehrt, weil er nachts im Stall bleiben will.‘ Mit dieser Aussage war nichts anzufangen. Aber glücklicherweise meldete sich ein junges Mädchen, eine Schreibkraft aus der Rennleitung; sie sagte mit Bestimmtheit, daß Werner Hell vor ihr an dem Pförtner vorbei hinausgegangen sei. Er habe einen Benzinkanister getragen. Dabei habe sie sich nichts gedacht. Warum auch? Erst jetzt, da sie Einzelheiten über den Selbstmord Hells erfahren habe, sei ihr der Gedanke gekommen, ihre zufällige Beobachtung könne wichtig sein; deshalb habe sie sich gemeldet. Leider“, schloß Polizeimeister Höllriegel, „konnte ich den Tankwart, der zu dieser Zeit Dienst hat, noch nicht vernehmen. Er hat heute seinen freien Tag.“ „Also morgen“, ordnete ich an. „Und was war mit dem Brief?“ „Auch damit hatte ich Glück. Ich brauchte nicht zu suchen, der Trainer Jochen Beer meldete sich bei mir. Werner Hell ist mit dem Brief zu ihm gekommen und hat gebeten, ihn am nächsten Tage seiner Mutter zu bringen. Dabei, so sagte der Zeuge, sei Hell ‚ein bißchen komisch‘ gewesen. ‚Aufgeregt?‘ fragte ich. –‚Nein, aufgeregt war Werner nie, nicht einmal beim Start zu einem Rennen. Er war anders als sonst. Er tat – wie soll ich das sagen? – geheimnisvoll.‘ Der Zeuge hat Hell gefragt, warum er den Brief nicht mit der Post schicke. ‚Dafür ist 96
er zu wichtig‘, habe Hell geantwortet und sei plötzlich grob geworden – was sonst gar nicht seine Art war – und habe gefragt: ‚Willst du, oder willst du nicht?‘ Der Zeuge, dem das alles sonderbar vorkam, versuchte sich zu weigern: ‚Warum denn einen Brief an deine Mutter? Du kannst doch selbst hinfahren und mit ihr sprechen, das ist ja viel einfacher.‘ Daraufhin sei Werner Hell verlegen geworden und habe ihm geantwortet, er hätte sich mit seiner Mutter verkracht. Dem Zeugen Beer sei das alles merkwürdig, irgendwie übertrieben, ein bißchen verrückt sogar vorgekommen. Aber er habe den Brief an sich genommen.“ „Und hat er ihn abgegeben? Wann?“ fragte Lorenz eifrig. „Wie war das“, fiel ich ein, „was sagte die Mutter?“ Höllriegel mußte uns enttäuschen. „Beer hat den Brief nicht persönlich abgegeben, sondern mit der Post geschickt. ‚Ich war mit meiner Braut verabredet‘, entschuldigte er sich, ‚und wollte meine Zeit nicht verplempern.‘“ „Wir werden morgen die Mutter aufsuchen“, wandte ich mich an Lorenz. „Der Inhalt dieses Briefes wird bestimmt einiges Licht in die Sache bringen.“ Polizeimeister Höllriegel hatte gut gearbeitet. Auch jetzt brachte er uns noch einige Zeugen, die sich gemeldet hatten. Ihre Aussagen waren allerdings bedeutungslos bis auf eine, die eines Rennbahnarbeiters. Er hatte Werner Hell gesehen, wie er auf den Heuhaufen zuging. Ich fragte den Mann: „Haben Sie beobachtet, was Hell dort tat?“ „Nein, ich habe ihn bloß hingehen sehen. Dabei habe ich mir weiter nichts gedacht und habe mein Arbeitsgerät zum Schuppen gebracht. Ich hatte Feierabend.“ „Trug Werner Hell etwas?“ 97
„Mir war, als hätte er etwas Graues, Viereckiges in der Hand.“ „Könnte das ein Benzinkanister gewesen sein?“ „Jetzt, wo ich Bescheid weiß, weil alle darüber reden, ist mir klar, daß es einer gewesen sein muß. Aber gestern abend, wo es schon nicht mehr richtig hell war, hätte ich das, glaube ich, gar nicht genau erkennen können.“ „Wie weit waren Sie denn entfernt?“ „Na, so hundertfuffzig Meter mögen es wohl gewesen sein.“ „War Werner Hell allein?“ „Ja, unbedingt.“ „Wenn er in Begleitung gewesen wäre, hätten Sie das auf jeden Fall sehen müssen?“ „Ganz bestimmt. Vom Waldzipfel bis zum Heuhaufen ist doch völlig ebenes, übersichtliches Gelände.“ Ich dankte dem Zeugen, und wir gingen zum Wagen. Die Vernehmungsprotokolle würde Polizeimeister Höllriegel morgen aufnehmen. Lorenz war so tief in Gedanken versunken, daß er über eine Unebenheit stolperte und beinahe gefallen wäre. Ich lächelte. „Kombinieren Sie schon wieder, Genosse Leutnant?“ Aber er blieb ganz ernst. „Nein“, antwortete er, „ich frage mich nur, ob nicht vielleicht jemand hinter dem Heuhaufen stand und Werner Hell erwartete.“
17 Wenn Oberleutnant Becker einen Bericht aus Aktenmaterial zu erstatten hatte, erinnerte er an einen Dozenten, der 98
einen Seminarvortrag vor seinen Studenten hält: alles sorgsam gegliedert, streng logisch aufgebaut und sachlichtrocken vorgetragen. So auch jetzt; er hinter meinem Schreibtisch und wir im Halbkreis vor ihm sitzend. Überraschende Entdeckungen, aufregende Zusammenhänge: das klang bei ihm wie eine nüchterne chemische Analyse. „Ich habe“, begann er, „das mir vorliegende Aktenmaterial der besseren Übersicht halber in vier Komplexe aufgeteilt. Selbstverständlich hängen diese zusammen und bedingen einander wechselseitig. Die Bezüge aufzudecken wird unsere weitere Aufgabe sein.“ Gewiß wirkte das ein klein bißchen komisch, zumal er nach einem prüfenden Blick über seine „Studenten“ bedächtig einen Schluck Wasser trank, ehe er fortfuhr. Polizeimeister Höllriegel, der ihn noch nicht recht kennengelernt hatte, blickte einigermaßen verdattert drein. „Der erste Komplex“, dozierte Becker, „ist der Mord an der Autostraße. Technisch ist der Vorgang zufriedenstellend geklärt. Aber der oder die Täter sind unbekannt, ebenso das Tatmotiv. Der Ermordete ist bis heute noch nicht identifiziert, obwohl unsere damit befaßten Dienststellen, wie ich mich überzeugt habe, alle verfügbaren Mittel eingesetzt hatten.“ Er blickte uns an, als erwarte er Widerspruch oder zumindest Fragen. Wir schwiegen. „Fahren Sie bitte fort“, sagte ich. „Komplex zwei: der Wagen. Es gelang, ihn zu identifizieren. Er wurde fünf Tage vor der Mordtat einem Landarzt, Doktor Hermann Aschock in Magdala, gestohlen. Das Fahrzeug wurde neu gespritzt, der Motor wurde ausgewechselt. Die Werkstatt beziehungsweise die Werkstätten, wo dies geschah, konnten nicht ermittelt werden.“ 99
Er blickte hoch. Ich fragte: „Ist in dieser Hinsicht alles Notwendige veranlaßt worden?“ „Soweit ich es beurteilen kann: zweifellos.“ „Gut.“ „Damit komme ich zum Komplex drei. Unsere Genossen in Erfurt sind bei diesem Anlaß auf einen regen Handel mit Gebrauchtwagen zu Überpreisen gestoßen. Es wurde eine ganze Anzahl von Käufern und Zwischenhändlern ermittelt – sie wurden zum Teil auch dem Gericht übergeben –, es gelang jedoch nicht, zu den leitenden Personen oder dem Leiter des zweifellos vorhandenen Schieberrings durchzudringen. Es gibt im vorliegenden Material genügend sichere Anhaltspunkte, daß ein solcher zentral geleiteter, gut abgesicherter Ring besteht.“ Oberleutnant Becker kratzte sich nervös in seiner Haarbürste. Lorenz und ich blickten uns kurz an; wir wußten: Jetzt kommt etwas Besonderes. „Dieser Schieberring – das wäre Komplex vier – wird von Berlin aus geleitet. Mehrere deutliche Spuren weisen nach Karlshorst, um nicht zu sagen, zur Rennbahn Karlshorst. Die Vermutung, daß zwischen dem Mord an der Brücke, dem Mordversuch im Stall Kufferath und dem Selbstmord des Trainers Hell ein Zusammenhang besteht, trägt allerdings noch hypothetischen Charakter.“ Er legte das letzte Manuskriptblatt beiseite. „Wenn Sie einverstanden sind, Genosse Hauptmann“, wandte er sich an mich, „sprechen wir jetzt die einzelnen Komplexe durch.“ „Das können wir noch nicht. Erst müssen sich Leutnant Lorenz und Polizeimeister Höllriegel ebenfalls mit dem Material vertraut gemacht haben. Ich halte es für zweckmäßig, jetzt lediglich Fragen zu stellen. Ich 100
habe gleich die erste: Was ist geschehen, um den Ermordeten zu identifizieren?“ „Ich sagte schon: alles Übliche. Eine private Vermißtenanzeige liegt nicht vor. Deshalb Vermißtenmeldung seitens unserer Dienststelle. Fernschreiben mit beigefügten Fotos, sodann in allen Städten und Ortschaften des Bezirks Plakataushang: Fahndung nach Unbekannt mit dem Bild des Ermordeten, das jedoch durch die Schnittwunden, obwohl man sie wegretuschiert hat, stark entstellt wirkt.“ Ich nickte. „Auch die Totenstarre ändert ja den Ausdruck des lebendigen Gesichts meist bis zur Unkenntlichkeit. Was bleibt, ist dann leider nur eine gewisse Ähnlichkeit, die bestenfalls guten Bekannten auffällt.“ „Ferner Vorhalte bei allen in der Sache Autoschiebungen vernommenen Zeugen“, fuhr Oberleutnant Becker fort. „Ergebnislos bis auf eine freiwillige Zeugenmeldung. Nebenbei bemerkt, es gab nicht weniger als vierunddreißig solcher freiwilliger Meldungen, aber es war das, was wir ja kennen: entweder reine Phantasieprodukte von Wichtigmachern oder Täuschung infolge jener Ähnlichkeit, von der Sie eben sprachen.“ „Sie sagten etwas von einer Ausnahme.“ „Ja.“ Er blätterte in den Akten. „Ein Vernehmungsprotokoll. Hier. Eine Frau Pahlke, Wirtin einer kleinen Landgaststätte bei Weimar, will in dem Foto des Toten einen Gast wiedererkannt haben, der am Spätnachmittag vor dem Mordtage mit einer Frau bei ihr eingekehrt sei. Sie hätten je eine Tasse Kaffee getrunken, dann seien sie weitergefahren. Über den Wagentyp konnte die Zeugin keinerlei Angaben machen; sie hat das Fahrzeug kaum beachtet und kennt sich auch darin nicht aus. Wenn sie sich recht erinnere, sei es hellgrau gewesen.“ 101
„Wie beschreibt sie die Besucherin?“ „Sehr allgemein, wenig konkret. Mittelgroß, blond, großstädtisch angezogen. Sie meint, die Frau habe berlinerisch gesprochen; die Zeugin sei sich dessen aber nicht sicher.“ „Keine Einzelheiten über die Kleidung?“ „Wiederum nur sehr allgemein. Ein heller Mantel, den die Frau nicht ablegte, weiß oder grau, wahrscheinlich Wolle. Eine weiße Handtasche aus Lackleder. Aufgefallen sind ihr lediglich die sogenannten Pfennigabsätze an den hellen Schuhen“ – Oberleutnant Becker lächelte dünn –, „weil sie sich gedacht habe: ‚Das muß doch sehr unbequem sein.‘ Den Mann beschrieb sie genauer: nicht sehr groß, schlank, dunkelbraunes, glatt gescheiteltes Haar, auf der Oberlippe einen sehr dünnen, bis zu den Mundwinkeln reichenden Bart – ein sogenanntes Menjoubärtchen – wie auf dem Foto. Aber die Frau machte auch Aussagen über seine Kleidung: rötlicher Pullover, grauer, nicht sehr neuer Anzug, gelbrot kariertes Halstuch. Eine kurze Lederjoppe, braun, und eine lederne Mütze von der gleichen Farbe hatte der Mann abgelegt. Diese Beschreibung deckt sich, abgesehen von der Mütze, die nicht gefunden wurde, tatsächlich mit den Kleidungsstücken, die der Ermordete trug.“ „Altersangaben?“ „Ungenau. Beide zwischen fünfundzwanzig und dreißig.“ „Etwas über die Unterhaltung der Gäste?“ „Nichts Greifbares. Gehört hat die Zeugin, hinter der Theke stehend, fast nichts. Die Gäste hätten auch kaum miteinander gesprochen. Sie hätten keineswegs einen erregten oder aufgeregten Eindruck gemacht. Das ist alles.“ Höllriegel warf ein: „Und wie hat die Frau das angebliche Berlinerisch gehört?“ 102
Oberleutnant. Becker zuckte die Achseln. „Das steht nicht im Protokoll. Ich habe mir allerdings diesen Widerspruch auch bereits notiert.“ Zum Komplex zwei fragte Leutnant Lorenz: „Geht aus dem Material hervor, wie der Schieberring organisiert ist? Oder, besser gesagt – entschuldigen Sie meine vielleicht etwas naive Frage, Genosse Oberleutnant –, kann an Schiebungen mit Gebrauchtwagen denn so viel verdient werden, daß sich dergleichen lohnt? Mir kommt das ziemlich unwahrscheinlich vor.“ Oberleutnant Becker gefiel die Frage offensichtlich, was sonst durchaus nicht bei allen Fragen seines jungen Kollegen der Fall war. „Ja“, sagte er. „Zufällig weiß ich hier einigermaßen Bescheid, weil ich auf diesem Gebiet schon gearbeitet habe, wenn auch vor drei Jahren. Im Prinzip wird sich da wenig geändert haben, ich vermute eher das Gegenteil, weil sich unser Export an Kraftfahrzeugen erfreulicherweise ganz außerordentlich gesteigert hat. Um es einfach zu sagen: Unsere Menschen verdienen gut, viele wollen nicht nur ein Auto, sie brauchen es sogar, aber es gibt noch zuwenig. Darum zahlen sie manchmal unvorstellbare Überpreise für uralte Mühlen. Bekanntlich muß ein Gebrauchtwagen zum Taxwert verkauft werden. Laut Verkaufsurkunde – also auf dem Papier – wird auch auf Bankkonto oder Postscheck selten mehr gezahlt; dennoch steckt der Verkäufer oder Zwischenhändler oft das Doppelte des getaxten Preises ein, nämlich den Rest in bar. Es gibt Fälle, wo für einen Wartburg, der schon seine siebzigtausend Kilometer herunter hatte, statt des Taxwerts von – sagen wir – sechstausend Mark fünfzehntausend gezahlt wurden, also mehr als für einen fabrikneuen Wagen des gleichen Typs.“ 103
„Und solche Leute sperrt man nicht ein?“ rief Lorenz. „Wenn man sie erwischt, gewiß“, antwortete Becker gelassen. „Aber wenn man so einer Sache auf den Grund geht, stellt sich meist heraus, daß der Verkäufer gar nicht schuldig ist.“ Er blätterte in den Akten. „Hier haben wir einen Arzt aus Karlshorst, einen Professor Doktor Henselein. Er hatte in der Zeitung einen gebrauchten OpelKapitän angeboten. Taxwert fünftausend. Der Arzt, ein absolut glaubwürdiger Mann, sagte bei seiner Vernehmung aus, daß er keinen Pfennig mehr dafür gefordert und erhalten habe. Der Wagen wurde jedoch in Jena an einen Eisenwarenhändler für fünfzehntausendvierhundert Mark verschachert. Von wem? Von einem unbekannt gebliebenen, nicht zu ermittelnden Zwischenhändler.“ Lorenz sprang beinahe von seinem Stuhl auf. „An wen hat der Arzt den Wagen verkauft? Das muß doch im Kaufbrief stehen!“ Becker blickte in ein Vernehmungsprotokoll. „An einen untersetzten, etwa vierzigjährigen Mann, der aussah wie ein Handwerksmeister und sich Möbius nannte. Auch im Kaufbrief. Eine Fälschung, wie sich dann herausstellte. In Jena wurde der Wagen von einer“, Becker blätterte ein anderes Protokoll auf, „einer elegant gekleideten Frau, einer Zahnärztin Elke Dalibor aus Weimar, angeboten.“ Becker blätterte weiter. „Hier das Fahndungsprotokoll aus Weimar: Eine Zahnärztin Elke Dalibor gibt es nicht, ja nicht einmal eine Bürgerin dieses Namens.“ „Schweinerei!“ schimpfte der temperamentvolle Lorenz unbeherrscht. „Ich möchte unsere Besprechung nicht unnötig in die Länge ziehen“, sagte Oberleutnant Becker, „aber es ist doch vielleicht wissenswert, daß es Familien gibt, 104
von denen sich zwei oder drei Mitglieder in die Bezugsliste für – sagen wir – je einen Wartburg oder Trabant eintragen. Wenn sie aufgerufen werden, leihen sie sich das Geld und übernehmen das Fahrzeug. Es gibt vereinzelte Fälle, in denen ein Wartburg, der noch keine fünfhundert Kilometer gelaufen war, drei- oder viermal seinen Besitzer wechselte. Im illegalen Zwischenhandel natürlich. Der Endverkaufspreis betrug in einem Fall, der mir bekannt wurde, nahezu das Doppelte des Einkaufspreises.“ Lorenz war sprachlos. „Jetzt begreife ich“, sagte er schließlich, „was das eventuell für unseren Fall bedeuten kann.“ Und schon war er am Kombinieren. „Nehmen wir an, in Karlshorst sitzt ein Obergauner, ein Gangsterboß, der Gebrauchtwagen zum Taxpreis oder nicht viel darüber einkauft. Durch Mittelsmänner natürlich. Er übergibt diese Fahrzeuge einigen Zwischenhändlern – damit es nicht auffällt, möglichst außerhalb Berlins, sagen wir in Thüringen – und steckt von jedem erzielten Überpreis nur fünfzig Prozent ein. Das bringt ihm trotzdem Riesensummen, ohne großes Risiko überdies!“ Becker nickte. „Selbstverständlich läßt so ein Kerl oder auch so eine Dame die Zwischenhändler kontrollieren. Wenn einer versucht, ihn zu hintergehen, kriegt er nie wieder einen Wagen.“ „Ich begreife, ich begreife“, sagte Lorenz laut und lebhaft. „Und wenn einer auszupacken droht, weiß man das zu verhindern …, wie etwa bei dem Mann an der Brücke.“ „Das“, fiel ihm Oberleutnant Becker streng ins Wort, „ist wieder mal eine Ihrer beliebten, durch keinerlei Tatsachen gestützten Hypothesen, Genosse Leutnant. Wir leben nicht in Chikago.“ Lorenz errötete und schwieg. 105
„Für uns“, wandte ich mich an Becker, „ist im Augenblick wohl am wichtigsten, was Sie im Komplex vier genannt haben: Zusammenhänge mit dem Fall Rennbahn. Da bin ich selbst bereits auf einige gestoßen. Und Sie, Genosse Oberleutnant?“ „Verdächtig ist erstens die Tatsache, daß es in Jena eine Reparaturwerkstatt Gustav Überloh gibt. Außer dem Inhaber arbeitet dort noch dessen Sohn Eugen. Die Werkstatt verfügt – wie beiläufig aus einem sonst belanglosen Vernehmungsprotokoll hervorgeht – über einen Nebenbetrieb, eine Spritzlackiererei, die dieser Sohn Eugen Überloh betreibt. Zweitens gibt es eine Tankstelle, etwas außerhalb der Stadt, die der zweite Sohn verwaltet, er heißt Dieter. Aus dem eben erwähnten, sonst belanglosen Protokoll geht weiter hervor, daß dieser Dieter überdies entweder Eigentümer oder Pächter mehrerer Garagen ist.“ Becker sah uns etwas herausfordernd an, sprach aber sogleich wieder sehr zurückhaltend, beinahe abweisend: „Da weder dem Vater noch den Söhnen eine strafbare Handlung nachweisbar ist – sei es im Zusammenhang mit den Fahrzeugschiebungen noch gar mit dem Mord an der Brücke –, können wir, wie ich meine, die nahe Verwandtschaft der Frau Leysing mit diesen Leuten bestenfalls als einen möglichen, aber unbedingt weiter zu verfolgenden Hinweis ansehen.“ Ich mußte wieder einmal, ebenso wie Lorenz, ein Lächeln über die gedrechselte, übervorsichtige Ausdrucksweise unseres Tatsachenfanatikers unterdrücken. Ich fragte: „Haben Sie sonst noch mögliche Hinweise auf unseren Fall Rennbahn entdeckt?“ „Nur einige, die allerdings ebenfalls mit allen notwendigen Vorbehalten aufzunehmen sind. Erstens tauchten in sechs Vernehmungsprotokollen die Ortsangaben Karls106
horst und Friedrichsfelde auf. Ich habe“ – er hob einen Zettel hoch – „die betreffenden Stellen herausgeschrieben. Zweitens stammen erwiesenermaßen drei der verschobenen Gebrauchtwagen aus Karlshorst und einer aus Friedrichsfelde. Drittens wird auffällig oft als Vermittlerin, die jedoch immer nur Tips gegeben, aber nicht selbst gehandelt haben soll, eine kräftige, sehr gutgekleidete, mit Berliner Akzent sprechende Blondine genannt, deren Personenbeschreibung – aber das sei wiederum mit allem Vorbehalt ausgesprochen – an Frau Leysing geborene Überloh erinnert.“ Ich war mir darüber klar, daß es trotz der verdienstvollen, sehr gewissenhaften Arbeit Beckers notwendig war, neue Ermittlungen an Ort und Stelle vorzunehmen. Nachdem Lorenz, Höllriegel und ich Oberleutnant Becker eingehend über die Ergebnisse unserer heutigen Arbeit unterrichtet hatten, beschlossen wir, daß Lorenz und ich am übernächsten Tage in die genannten Städte fahren, während Becker und Höllriegel den Fall Rennbahn weiter bearbeiten sollten. Für den kommenden Vormittag setzten wir für uns alle noch Außendienst an, dann planten wir für den Nachmittag die neuerliche Vernehmung des Ehepaars Kufferath und der Frau Leysing in unserem Dienstraum. Dazu wurden jedoch einige vorbeugende Maßnahmen erforderlich, denn es war nicht angebracht, daß sich diese drei Zeugen mehr, als es bestimmt schon geschehen war, aufeinander abstimmten oder einer gar, nach erfolgter Vernehmung, den anderen über die von uns gestellten Fragen und seine Antworten unterrichten konnte. Eine Festnahme wegen Verdunklungsgefahr konnten wir uns in diesem Stadium der Untersuchung noch nicht leisten; dazu war das Belastungsmaterial zu dürftig. 107
Als wir uns eben trennen wollten, lief bereits das erste Fernschreiben ein. Es kam von unseren Erfurter Kollegen. Schon hier hatte die Überprüfung der Meldezettel einige Ergebnisse gezeitigt, die uns stutzig machten. Sicherlich würden über Nacht noch die Fahndungsergebnisse aus Jena, Altenburg, Weimar, Meißen und Dresden einlaufen. Wenn sie ebenso erregend waren, würde es morgen nachmittag bestimmt eine Vernehmung mit Überraschungen geben. Mochten unsere drei zweifelhaften Gestalten auch sehr gerissen sein – von dem präzisen Funktionieren eines modernen Polizeiapparates hatten sie wohl kaum eine Ahnung.
18 Zwei Mitglieder der Rennleitung waren in Pankow bei Frau Hell, der Mutter Werners, gewesen, wenige Stunden nachdem diese den Abschiedsbrief ihres Sohnes erhalten hatte. Die beiden Männer hatten ihr das Beileid aller Kollegen und des Rennplatzpersonals ausgesprochen. Die alte Frau, klein, weißhaarig, aber äußerlich noch recht rüstig, hatte die Männer, die ihr die grausigen Umstände des Selbstmords nach Möglichkeit verschwiegen, starr und völlig fassungslos angesehen, ohne zu sprechen, ohne zu weinen. Benommen waren die beiden bald wieder gegangen. Ihre gutgemeinten Versuche, die Mutter zu trösten, waren fehlgeschlagen. Mutter Hell war nicht zu trösten, weil sie den ungeheuerlichen Gedanken, ihr Sohn sei tot, noch immer nicht ganz erfaßt hatte. 108
Als ich mit Leutnant Lorenz zu ihr kam, führte sie uns, ohne zu fragen, wer wir seien und was wir wollten, in eine kleine, sehr sauber gehaltene Stube voller alter Möbel. Die Art, wie sie voranging und sich uns auf dem Sofa gegenübersetzte, war mechanisch, erinnerte an einen Automaten. Über dem Sofa fielen uns sogleich zwei Bilder auf, vergrößerte und kolorierte Fotografien, deren eine unverkennbar ihren Sohn Werner darstellte: jungenhaft lachend und, was in der Vergrößerung merklich hervortrat, zwar anspruchslos sympathisch, aber doch auch sehr nichtssagend, ein wenig dümmlich sogar. Das andere Bild zeigte einen – wenn die Aufnahme aus der gleichen Zeit stammte – jüngeren Mann im Kellnerfrack. Er sah Werner sehr ähnlich, bis auf den Gesichtsausdruck, insbesondere die etwas zusammengekniffenen Augen und den schmaleren, härteren Mund. Dieser junge Mann wirkte intelligenter als Werner, dafür aber wenig sympathisch. Das war nicht nur mein Eindruck; Leutnant Lorenz bestätigte mir später, daß es ihm genauso ergangen sei. Daß wir die beiden Bilder überhaupt so eingehend betrachten konnten, kam daher, daß Frau Hell uns wortlos gegenübersaß und nach einigen vergeblichen Versuchen, mit ihr zu sprechen, aus trockenen, wie im Fieber glänzenden Augen völlig geistesabwesend starrte. Wir wichen diesem Blick aus und mußten die Bilder sehen. Auf der grünen Plüschdecke des Tisches lag zwischen uns der auseinandergefaltete Brief Werners, daneben der Umschlag. „Darf ich?“ fragte ich und griff danach. Da zeigte sie zum erstenmal, daß sie etwas gehört, wenn auch wohl kaum verstanden hatte; es war wie ein schwacher Gewohnheitsreflex, als sie nickte. 109
Ich las, ohne die zahlreichen orthographischen und Interpunktionsfehler zu beachten. „Liebe Mutti! Du darfst nicht erschrecken. Sei auch nicht traurig. Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Aber ich bin kein schlechter Mensch, das weißt Du, liebe Mutti. Sie haben mich dazu gezwungen, ich kann nicht mehr anders. Wenn es vor Gericht kommt, muß ich die Wahrheit sagen. Dann wirst Du sehen, daß ich gar nicht anders konnte. Aber ich will nicht vor Gericht. Das Weib ist an allem schuld. Ich hätte besser auf Dich, meine liebe Mutti, hören sollen. Warum mußte ich mich in die Sache einlassen, wo ich doch mit meinen Pferden und dem Sport glücklich war? Aber ich dachte, ich könnte Erni davor bewahren, und es war doch zu spät. Das Weib ist schuld. Für Erni war es zu spät, er steckte schon zu tief drin. Gott verzeihe mir meine schwere Sünde. Dir soll alles gehören, was ich habe. Das Sparbuch liegt in der Kommode unter der Bettwäsche. Sei nicht traurig, was die Leute auch sagen, ich bin kein schlechter Mensch. Aber ich weiß nicht mehr weiter und tue es, auch Du kannst mir nicht mehr helfen. Dein geliebter Sohn Werner“ Ich reichte den Brief Leutnant Lorenz. Er überflog ihn rasch. Dann tat er etwas, was ihm – ich merkte es an seinem rauhen, gepreßten Ton – sehr schwer fiel. „Darf ich?“ fragte er und steckte den Brief, bevor die Frau überhaupt hätte antworten können, hastig ein. Wir brauchten ihn unbedingt, er würde ein besonders bedeutungsvolles Beweisstück werden, das war klar und eine vorschriftsmäßige Beschlagnahme mit Quittung und den 110
anderen Formalitäten wäre für die unglückliche Mutter, wenn sie überhaupt den Sinn begriffen hätte, eine unvorstellbare Quälerei geworden. „Trotzdem bin ich mir“, gestand mir Lorenz später, „in diesem Augenblick vorgekommen wie ein gemeiner Räuber, abgebrüht und gefühlsroh …“ „Ist das ein Bruder Werners?“ fragte ich Frau Hell und deutete auf das Bild hinter ihr. Die Starre in ihrem Gesicht löste sich ein wenig, aber sie blickte weiter wie abwesend geradeaus. „Wie heißt er denn?“ fragte ich behutsam. Leise, beinahe tonlos antwortete sie: „Ernst.“ „Er ist jünger als Werner?“ Sie sah mich an, als hätte ich ihr, mitten in ganz andere Gedanken hinein, eine schwierige Rechenaufgabe gestellt. Endlich sagte sie: „Zwei Jahre älter.“ Offenbar war es mir gelungen, sie etwas aus ihrem dumpfen Dahinbrüten zu lösen. Ihr Gesicht hatte sich entspannt, ihre Augen verloren den starren, geistesabwesenden Blick. Ich hatte es erreicht, sie von ihren fortwährenden, dumpf-qualvollen Gedanken an den Toten hinzulenken auf den anderen Sohn, von dessen Existenz ich übrigens bis dahin nichts gewußt hatte; und bei diesem Thema mußte ich jetzt bleiben, wollte ich von ihr überhaupt einige, wenn auch dürftige Auskünfte erhalten. Wenn ich das hier so niederschreibe – und ich bin ja kein Schriftsteller, sondern ein einfacher Berichterstatter –, dann wird das, fürchte ich, auf viele Leser so wirken, als hätte ich gegenüber dieser alten, unglücklichen Frau aus lauter Berufsinteresse kalt beobachtend und berechnend gehandelt. Nein, mir ging es genauso wie Leutnant Lorenz. Diese Vernehmung der alten 111
Frau Hell gehört zu meinen bedrückendsten Erinnerungen, gerade weil ich meiner Berufspflicht nachkommen mußte. „Ihr Sohn Ernst ist Kellner?“ fragte ich. „Im Westen“, antwortete sie mechanisch; aber plötzlich wurde sie ein wenig lebhafter. „Nicht mehr Kellner, sondern Geschäftsmann. Er verdient gut.“ „Aha, das hat er Ihnen geschrieben?“ „Auch. Aber jemand hat es Werner erzählt.“ Sie sprach jetzt von Werner, als habe sie vergessen, daß er tot war. Wahrscheinlich war es im Augenblick wirklich ihrem Gedächtnis entglitten. Darum fragte ich schnell: „Wann ist Ernst denn hinübergegangen?“ „Vor drei Jahren. Er hatte drüben ein Mädchen. Das hat er geheiratet. Gunda hieß sie. Aber nach einem Jahr hat er sich schon wieder von ihr scheiden lassen. Sie taugte nichts, schrieb er. Ich habe sie nie gekannt.“ Das Gespräch durfte nicht abreißen. „Wollte Ernst nicht zurückkommen?“ fragte ich, nur um etwas zu fragen, was nicht mit dem Toten, sondern mit dem anderen Sohn zusammenhing. Sie schüttelte den Kopf. „Er verdiente drüben sehr gut. Er schrieb, vielleicht käme er zu Besuch. Er war auch einmal da.“ „Hier bei Ihnen?“ „Nein. Das konnte er nicht. Ich weiß nicht, warum. Er schrieb Werner, daß er sich mit ihm treffen wollte. Werner ist dann hingefahren.“ „Wohin, Frau Hell?“ „Ich weiß nicht mehr, wie das heißt. Irgendwo da unten in Sachsen.“ „Oder in Thüringen?“ 112
„Das mag auch sein. Im November vorigen Jahres war das. Werner wollte ihn zu mir nach Hause mitbringen. Aber er kam allein zurück und war ganz durcheinander, der Junge. Fragen Sie ihn doch mal selbst, er kann Ihnen …“ Mit jähem Schlag hatte sie wieder der Gedanke an Werners Tod überfallen. Sie ließ plötzlich einen unartikulierten Laut, einen leisen, qualvollen Schrei hören. Dann fiel ihr weißhaariger Kopf vornüber auf den Tisch, und sie weinte laut und hemmungslos. Lorenz und ich saßen benommen da. Ihr Oberkörper zuckte haltlos auf und nieder, doch allmählich, uns schien die Zeit endlos, ging ihr beinahe animalisches Weinen und Wimmern in stoßweises Schluchzen und schließlich in leises Winseln über. Als sie den Kopf hob, war ihr Gesicht tränennaß. Sie sah uns gar nicht. Sie weinte. Der Krampf ihres starren, dumpfen Schmerzes hatte sich gelöst. Wir gingen auf Zehenspitzen hinaus. Lorenz war blaß, und ich fühlte mich auch nicht sehr wohl in meiner Haut. Im stillen schimpfte ich auf meinen Beruf.
19 Bevor wir uns am nächsten Morgen zum Außendienst auf den Weg machten, sprachen wir uns über die Vernehmung der Witwe Hell, insbesondere über den Abschiedsbrief ihres Sohnes aus. Wir waren alle vier zunächst erstaunt über den sentimentalen, stellenweise geradezu infantilen Ton. „Abgesehen vom Ton“, sagte Oberleutnant Becker, 113
„haben wir überdies festzustellen, daß der Brief von orthographischen Fehlern wimmelt und in der Ausdrucksweise unklar bis ins Verworrene ist. Selbst wenn wir voraussetzen, daß der Schreiber nur eine mangelhafte Schulbildung besaß, zeugt dieser Brief dennoch von wenig entwickelter Intelligenz. Auch ein sehr ungebildeter Mensch mit schwachem Ausdrucksvermögen schreibt nämlich, wenn er intelligent ist, einigermaßen zusammenhängend. Hier aber ist nicht ein einziger Gedanke zu Ende geführt, das Ganze ist ein einziger Gefühlsbrei.“ Höllriegel widersprach: „Das möchte ich nicht so apodiktisch sagen, Genosse Oberleutnant. Wir hörten bisher immer, dieser Werner Hell sei sehr besonnen, sehr ruhig und sogar beim Schreiben dieses Briefes in keiner Weise erregt gewesen. Äußerlich ja. Ein Rennfahrer hat gute Nerven, er kann sich beherrschen. Aber innerlich? Zeugt nicht gerade die Verworrenheit, die Sprunghaftigkeit im Brief, daß der Schreiber stark erregt, völlig verwirrt, wahrscheinlich voller Angst vor dem Kommenden war? Daher möglicherweise der Gedankenwirrwarr und die ungewöhnlich vielen Schreibfehler.“ „Und dann“, warf Lorenz ein, „dieser naive, ich möchte sogar sagen, romantische Wunsch, den Brief nicht der Post anzuvertrauen.“ „Ich habe“, sagte ich, „eine Frage an Sie, die Sie alle wesentlich jünger sind als ich: Was halten Sie von der mehrfach wiederkehrenden, nach meinem Gefühl für einen fünfundzwanzigjährigen Mann infantilen Anrede ‚Liebe Mutti‘?“ Zu meiner Überraschung gingen auch darüber die Ansichten auseinander. Selbstverständlich war Leutnant Lorenz in jungenhafter Unbekümmertheit sofort mit seinem Urteil fertig: 114
„Verlogene Mache, Kitsch!“ Polizeimeister Höllriegel urteilte zurückhaltender. „Es gibt Menschen“, sagte er, „die eine solche Anrede aus ihrer Kindheit mitschleppen, sie ist ihnen, ohne daß sie darüber nachdenken, zur Gewohnheit geworden. Aber ich habe da schon ganz andere Dinge erlebt – von reifen Männern. Wir hatten einmal einen besonders brutalen Raubmörder gestellt, einen Mann über vierzig. In seiner Ausdrucksweise – mündlich wie schriftlich – war er äußerst rüde und kalt zynisch; aber zwei Briefe an seine Mutter trieften von Rührseligkeit. Dieser Gefühlsschleim war aber, wie sich dann herausstellte, gar nicht gemacht oder geheuchelt. Trotz erdrückender Beweise – der Kerl hatte scheußliche Dinge verübt – blieb er stur beim Leugnen. Während der Vernehmungen verhöhnte er uns und prahlte mit seiner Gefühllosigkeit. Als er mit seiner Mutter konfrontiert wurde, brach er zusammen. Er weinte wie ein kleines Kind und legte ein umfassendes Geständnis ab. Ja“, schloß er, „so etwas kommt vor.“ „Werner Hell war kein Verbrechertyp“, warf ich ein. „Alle Zeugen schildern ihn als gutmütig, weich, leicht lenkbar, alles andere als brutal oder gar zynisch.“ Oberleutnant Becker lächelte etwas süffisant. „Man wirft mir ja vor, daß ich nichts von Psychologie wissen wolle“, sagte er. „Warum eigentlich? Weil ich mich auch dabei an Tatsachen statt an Spekulationen halte? Sehen Sie, uns sind von Werner Hell nur zwei überprüfbare Tatsachen bekannt, die auf seinen Charakter hinweisen. Erstens: Er hing an seiner Mutter und bewies dies in der Tat – er unterstützte sie großzügig. Übrigens geht dies auch wieder aus seinem Abschiedsbrief hervor. Zweitens: Seine tatsächlich erwiesene und neuerlich durch den Brief bestätigte Tierliebe. Das sind zwei reale Tatsachen.“ 115
„Schön“, sagte ich. „Was wollen Sie damit beweisen?“ „Gar nichts“, antwortete Becker ablehnend. „Ich möchte im Gegenteil vor Trugschlüssen warnen. Der Genosse Polizeimeister hat hier ein überzeugendes Beispiel angeführt. Überschwengliche Liebe zu nahen Angehörigen, zu Kindern, zur Mutter, zu einer Frau ist sehr oft nur der Ausgleich zu einer charakterlichen Brutalität oder auch Gefühlskälte gegenüber allen anderen Menschen. Man spricht in solchen Fällen von Überkompensation. Erinnern wir uns nur, was die Tierliebe anlangt, an den berüchtigten Hermann Göring. Er war so tierliebend, daß er die Vivisektion verbot. Gewiß, das war dumm, aber wir haben keinen Grund zu zweifeln, daß die Tierliebe echt war; doch an seinem Hochzeitstage unterschrieb dieser selbe tierliebende Mann – grinsend, wie mehrere Augenzeugen berichteten – zwei Todesurteile gegen junge Frauen.“ „Mit anderen Worten“, faßte ich seine etwas umständlichen Ausführungen zusammen, „Sentimentalität und Brutalität sind nur ein scheinbarer Widerspruch.“ „Ein dialektischer“, korrigierte mich der kluge Becker. „In dem Brief“, fuhr ich, um die Diskussion über diesen Punkt zu beenden, fort, „sind trotz aller Verworrenheit einige sachliche Anhaltspunkte von Bedeutung enthalten. ‚Ich habe etwas Schlimmes getan‘, gleich zu Anfang. Das ist ein Geständnis. Aber was meint der Briefschreiber? Seinen geplanten Mord an Leysing? Hat er gedacht: Meine Mutter erhält diesen Brief erst, wenn ich das ‚Schlimme‘ getan habe?“ „Für diese Annahme“, folgerte Lorenz sogleich, „spricht die sonst schwer erklärbare Bitte an den Trainer Beer, den Brief persönlich und erst am nächsten Tag zu überbringen; Hell fürchtete, mit der Post käme er zu früh an.“ 116
„Das ist absolut unlogisch“, widersprach Becker streng tadelnd. „Eher hätte er das Umgekehrte annehmen müssen.“ Höllriegel nickte. „Ich halte diesen Wunsch Werner Hells – genau wie vorhin übrigens auch der Genosse Leutnant – für den Ausdruck irgendeiner verquollenen Romantik, für irgendeinen Gefühlskitsch. Doch ist das nicht unwesentlich?“ „Ich meine auch“, gab ich ihm recht. „Für wesentlich halte ich die Frage, was mit dem ‚Schlimmen‘ gemeint ist. Wenige Zeilen später heißt es: ‚Sie haben mich dazu gezwungen.‘ Das ist Plural, offenbar waren es mehrere Personen, die Hell ‚gezwungen‘ haben. Wozu? Den Stallmeister Leysing zu erschlagen? Nein, das ‚Schlimme‘ muß etwas anderes sein, etwas, das in der Vergangenheit liegt. Das geht auch aus den folgenden Sätzen einigermaßen eindeutig hervor. ‚Vor Gericht‘ soll alles herauskommen. Kann das nicht – ich sage kann, nicht muß – bedeuten: Wenn ich wegen des Totschlags an Leysing vor Gericht stehe, werde ich das vorher geschehene ‚Schlimme‘ gestehen und die weit schuldigeren Hintermänner nennen?“ „Hypothese“, warf Oberleutnant Becker ein. „Allerdings“, gab ich sofort zu. „Gegen Ende des Briefes gibt es einen unmißverständlichen Hinweis auf den beabsichtigten Selbstmord. Ich nenne nur das Sparbuch. Mir scheint – und damit erkläre ich mir die Sprunghaftigkeit und Unlogik –, daß alle Gedanken Hells an den beabsichtigten Mord und Selbstmord beim Schreiben des Briefes fortwährend überlagert wurden von der beherrschenden Erinnerung an das ‚Schlimme‘, das er vordem begangen hat.“ „Aber was ist das?“ fragte der ungeduldige Lorenz. 117
„Es muß etwas sein, von dem die Mutter Kenntnis oder zumindest eine Ahnung hat. ‚Ich hätte auf dich hören sollen‘, klagt Werner Hell.“ „Dieser Satz kann auch ganz allgemein verstanden werden“, wandte Becker ein. „Etwa in dem Sinn: ‚Ich hätte dein braves, frommes Kind bleiben sollen‘; der spätere Satz ‚Gott verzeihe mir meine schwere Sünde‘ ist doch ebenso – nun, sagen wir – verwaschen gefühlsbetont.“ „Kommen wir zum Schluß“, sagte ich nach einem Blick auf meine Uhr, „zu den beiden wesentlichsten Punkten. ‚Das Weib ist schuld‘, heißt es einmal. Woran? Offenkundig an dem ‚Schlimmen‘, was schon früher geschehen ist. Später schreibt Werner Hell – ziemlich eindeutig auf Vergangenheit und Gegenwart bezogen –, das ‚Weib‘ sei ‚an allem‘ schuld. Endlich ein Hinweis, der uns dem Motiv der Tat, sogar der verschiedenen Taten etwas näher bringt. Fragt sich nur: Wer ist dieses ‚Weib‘?“ „Ich möchte sagen …“ „Nein, Genosse Leutnant“, unterbrach ich ihn, „wir wollen nicht spekulieren, sondern suchen.“ Becker nickte lebhaft zustimmend. „Ein einziger Hinweis in dem Brief ist konkret und unmißverständlich. Es ist der Name Erni. Selbstverständlich handelt es sich dabei um den Bruder, um Ernst Hell. Ihn wollte Werner ‚vor etwas bewahren‘, aber ‚es war zu spät‘. Weiter: ‚Er steckte schon zu tief drin‘, der, wie ihn seine Mutter nannte, ‚Geschäftsmann‘ aus dem Westen. Hier wiederholt sich, mittendrin wie ein Aufschrei: ‚Das Weib ist schuld.‘ – Ich bitte Sie, Genosse Lorenz, gleich jetzt nachzuforschen, ob sich bei uns etwas über Ernst Hell finden läßt. Sodann“ – ich stand auf und zog mir den Mantel an – „beschäftigen Sie sich sehr aufmerksam mit den eingegangenen Fernschreiben. Ich habe bereits einen 118
flüchtigen Blick hineingetan. Sie stecken voller Neuigkeiten – vor allem für uns beide, die wir morgen früh nach Erfurt fahren werden.“ Oberleutnant Becker lächelte etwas schadenfroh, daß Leutnant Lorenz, dem das bestimmt gar nicht gefiel, zur Arbeit am Schreibtisch verurteilt worden war.
20 Bevor wir das Rennbahngelände betraten, begleiteten Oberleutnant Becker und ich den Polizeimeister Höllriegel zu der nahe gelegenen Tankstelle. Erst konnte sich der Tankwart nicht erinnern. „Es kommen zuviel Kraftfahrer zu mir, die sich ihre Reservekanister auffüllen lassen“, sagte er. „Da fällt ein einzelner, auch wenn er nicht direkt vorfährt, kaum auf. Er kann ja seinen Wagen dort drüben auf der Straße geparkt haben und zu Fuß herübergekommen sein.“ Oberleutnant Becker fragte, ob der Tankwart etwas von dem Brand des Heuhaufen gehört habe. Der Mann war erstaunt. „Nein.“ Aber nun war sein Interesse geweckt. Er dachte nach, doch schüttelte er schließlich den Kopf. „Ich kann Ihnen leider nicht helfen.“ Höllriegel zeigte ihm eine Fotografie Werner Hells. „Ja“, rief er, „an den erinnere ich mich. Es war so um sechs herum, als er kam. Ich habe ihn nämlich gefragt – deshalb fällt es mir wieder ein –, ob er seinen Kanister nicht vorher saubermachen wollte. Der stank nämlich nach irgendwas und war auch außen damit versaut. Er antwortete mir: ‚Das macht nichts, ich brauche das Benzin 119
nicht zum Fahren.‘ Na, dachte ich, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und füllte ihm zwanzig Liter ein.“ Während Höllriegel mit dem Tankwart in den Kassenraum ging, um die Aussage gleich in einem kürzen Protokoll festzuhalten, begab ich mich derweil mit Becker ins Rennbahngelände. Wir trafen Herrn Kufferath im Stall. Er war dabei, einen jungen Mann mit den notwendigen Arbeiten vertraut zu machen. Wenn Kufferath wegen unseres Auftauchens erstaunt oder mißtrauisch war, wußte er das ausgezeichnet zu verbergen. Er begrüßte uns, wie man gleichgültige Bekannte begrüßt. „Schön, daß wir uns zufällig hier treffen“, sagte ich, „dadurch können wir uns einen bürokratischen Umweg ersparen.“ Ich nahm ein paar Vorladungsformulare aus meiner Brieftasche, füllte auf dem obersten Namen und Zeit aus und unterschrieb es. „Wir müssen nämlich Ihre gestrigen Aussagen noch ordnungsgemäß protokollieren“, fügte ich, während ich ihm das Blatt hinreichte, so beiläufig hinzu, als handle es sich um eine reine Formalität. Er warf einen Blick auf den Zettel. „Vierzehn Uhr dreißig“, las er und nickte, „ja, das geht. Ich werde pünktlich dort sein.“ Er stopfte die Vorladung in die Jackentasche. „Könnten Sie auch Ihre Frau benachrichtigen, Herr Kufferath, oder sollen wir es tun?“ Er schien wirklich nicht mißtrauisch geworden zu sein. „Besser, Sie nehmen mir das ab“, sagte er, „denn ich komme über Mittag nicht nach Hause; ich muß den jungen Mann hier anlernen. Oder genügt es, zu telefonieren?“ „Wenn Sie uns die Nummer geben, können wir es tun. Wir wollen Sie möglichst wenig bei Ihrer Arbeit stören. Wird Ihre Frau zu Hause sein?“ „Ich nehme an.“ 120
Wir verabschiedeten uns und gingen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als seien wir seinetwegen gekommen, weiter in Richtung Rennbahnrestaurant. Dort angekommen, rief Oberleutnant Becker gleich Frau Kufferath an und bestellte sie eine Stunde später als ihren Mann zur Vernehmung ins Präsidium. Auch Becker tat so, als handle es sich lediglich um eine nicht zu umgehende Formsache. „Die Leysing hat kein Telefon“, sagte er, als er zurückkam. „Wie halten wir es mit ihr?“ „Wie verabredet.“ Und da Höllriegel eben zu uns trat, wiederholte ich als Auftrag für ihn: „Der Genosse Polizeimeister wird, sobald er hier nicht mehr gebraucht wird, zur Wohnung der Leysing fahren und unauffällig die Tür beobachten. Es kommt darauf an, ihr die Vorladung möglichst spät zu überreichen. Auch danach weiter unauffällig beobachten. Im Präsidium werden wir sie in einem abgelegenen Zimmer warten lassen, damit sie die Kufferaths nicht zu Gesicht bekommt.“ „Wann soll sie im Präsidium eintreffen?“ „Um fünfzehn Uhr.“ „Genosse Hauptmann“, meldete mir Höllriegel sodann, „es hat sich gestern bei mir ein Mann als Zeuge angeboten, der uns, wie er sagte, einiges mitteilen will, was wir bestimmt noch nicht wüßten. Er hat jedoch gebeten, daß das Gespräch nicht hier auf dem Gelände stattfindet, auch nicht in einem der beiden Cafés, wo man ihn zu gut kenne, sondern in einer kleinen Gastwirtschaft, die um diese Zeit kaum besucht ist, ganz hier in der Nähe.“ „Jetzt?“ Höllriegel sah auf die Uhr. „Er wird schon dort sein.“ „Gut, führen Sie uns hin.“ 121
21 Der Zeuge war ein sehr einfach gekleideter Mann, Anfang der Dreißig. Er saß da bei einem Glas Bier und wartete. „Löhrke heiße ich, Willi Löhrke“, stellte er sich vor und reichte mir seinen Personalausweis. „Sie sind Bauarbeiter?“ fragte ich, während ich den Ausweis an Becker weitergab, damit er sich die Daten notiere. „Ja, Herr Kommissar, aber das hat mit dem, was ich Ihnen mitteilen will, nichts zu tun. Ich bin nebenbei Trabrennsportler. Ich habe ein Pferd zu laufen und eins noch im Training …“ „Die Pferde gehören Ihnen?“ „Zusammen mit einem Kollegen aus meiner Brigade.“ „Schön, Herr Löhrke. Sie wollen uns also helfen. Ich heiße Brückner. Kommissare gibt es bei uns nicht mehr; sprechen Sie mich ruhig mit meinem Namen an. – Was möchten Sie uns mitteilen?“ „Eigentlich gar nichts, was mit den beiden schrecklichen Vorfällen zu tun hat. Vielleicht werden Sie sogar sehr enttäuscht sein; aber ich dachte: Es kann der Volkspolizei möglicherweise doch was nützen, manchmal hängen solche Sachen irgendwie zusammen.“ „Da haben Sie durchaus recht gedacht, Herr Löhrke. Also?“ „Ich möchte Ihnen einiges über bestimmte Personen mitteilen. Zuerst muß ich sagen, daß Werner Hell ein Mensch war, dem keiner etwas Ungesetzliches zutraute, auch keinen Betrug oder eine Wettschiebung oder so was. Das werden Ihnen bestimmt schon viele Kollegen bestätigt haben.“ 122
„Allerdings.“ „Dann will ich mich dabei nicht weiter aufhalten. Es geht nämlich in der Hauptsache um Frau Leysing und Frau Kufferath. Vielleicht erinnern Sie sich, daß vor etwa drei, vier Jahren bei uns auffallend viele Frauen und Mädchen mit so glänzenden Mänteln herumliefen, aus Seide oder was das war, ich verstehe nichts davon. Erinnern Sie sich?“ „Ja, diese Mäntel kamen damals aus dem Westen.“ „Genau! An Renntagen bummelten Frau Leysing und Frau Kufferath immer mit solchen Mänteln herum und mischten sich unter die Zuschauer und die Leute in der großen Halle, wo die Wettschalter sind, oder vor den Schaltern, wo die Gewinne ausgezahlt werden. Sie gingen nicht zusammen, sondern jede für sich. An anderen Tagen trugen sie nie solche Mäntel, vor allem Frau Kufferath wäre so ein Ding gar nicht fein genug gewesen. Die zieht überhaupt nie was an, was man auch bei anderen Frauen sieht. Sie können sich wohl schon denken, warum die beiden das taten?“ „Ungefähr. Aber erzählen Sie nur.“ „Sie machten sich an Besucherinnen heran, vor allem an solche, die aussahen, als hätten sie viel Geld, oder auch an solche, die gerade einen Totogewinn ausgezahlt bekommen hatten. Mit denen fingen sie ein Gespräch an, indem sie nach irgend etwas fragten oder dergleichen. Nach einer Weile erkundigten sich die Frauen gewöhnlich, woher sie den Mantel hätten. Erst antworteten sie natürlich: ‚Von einer Verwandten aus dem Westen geschickt bekommen.‘ Doch dann gab ein Wort das andere, und dann sagten sie: ‚Wenn Sie den Mund halten können, will ich Sie mit einem Herrn bekannt machen, der Ihnen sicher so einen Mantel besorgen kann, gar nicht teuer.‘ Na, Herr Brückner, Sie 123
kennen ja sicherlich die Frauen, wenn es um Mode oder so was geht: natürlich wollte jede den Mund halten. Dann brachten die beiden sie mit dem Bruder von Werner Hell in Verbindung. Der hatte hier in dieser Kneipe immer ein ganzes Lager von solchen Mänteln zu liegen, ‚Nato-Pellen‘ sagten wir dazu. An Regentagen soll er manchmal zehn Stück verscheuert haben. Bis die Sache platzte. Der Wirt wurde eingesperrt und ein Treuhänder eingesetzt. Aber der Ernst Hell hat sich herausschwindeln können, und Frau Leysing und Frau Kufferath sind überhaupt nicht hineinverwickelt worden. Es wurde damals gemunkelt, der Ernst Hell hätte noch mehr solche Lockvögel zu laufen gehabt. So genau weiß ich das aber alles nicht mehr. Unsereiner kümmert sich um den Sport, und damit hat sich’s.“ „Wissen Sie, welche Rolle Herr Benno Leysing bei diesen Geschäften spielte?“ „Er hat bei dem Prozeß gegen den Budiker …“ „Wie hieß dieser?“ „Tövelmann, mit Vornamen, glaube ich, Bernhard.“ Ich brauchte nicht hinzusehen, Becker schrieb den Namen bestimmt auf. „Entschuldigen Sie, Herr Löhrke, ich hatte Sie unterbrochen …“ „Bei dem Prozeß gegen Tövelmann mußte Benno Leysing als Zeuge auftreten. Er wäre wohl bei ihm Stammgast gewesen, hat er vor Gericht gesagt, aber nicht mit ihm befreundet. Von den Geschäften mit den Mänteln wüßte er rein gar nichts. Nach seiner Frau wurde er gar nicht gefragt.“ „Und Herr Kufferath?“ „Der ist aus der Sache ganz herausgeblieben. Ob er trotzdem was damit zu tun hatte, kann ich nicht sagen.“ „Wenn Ernst Hell, obwohl er sich, wie Sie sagen, ‚herausgeschwindelt‘ hat, schwer belastet war, muß sich doch 124
die Polizei auch mit Werner Hell beschäftigt haben?“ „Das hat sie auch. Aber es stellte sich schnell heraus, daß Werner mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatte. Kein Mensch auf der ganzen Rennbahn würde ihm auch so etwas zugetraut haben. Sie hätten ihn kennen müssen, Herr Brückner“, rief der Zeuge lebhaft. „Werner war ein feiner Junge, ein richtiger Sportler. Immer fair! – Damals“, fügte er ruhiger hinzu, „war er übrigens noch bei Tomaschewskis angestellt, nicht bei Kufferaths.“ „Herr Löhrke, können Sie uns noch weitere Angaben über den Bruder, den Ernst Hell, machen?“ „Damals war er Kellner bei der Mitropa, im Speisewagen. Er ist dann nach dem Westen gegangen, soviel ich weiß, nach Hannover. Es hieß, weil er dort heiraten wollte. Ich habe nur gelegentlich davon reden hören, daß er dort ein gutgehendes Geschäft hätte.“ „Was für ein Geschäft?“ „Das weiß ich nicht. Und mit Gerüchten ist Ihnen doch nicht gedient …“ „Manchmal doch, Herr Löhrke.“ „Also“, er zuckte die Achseln, „man hat gemunkelt, er hätte etwas mit optischen Geräten zu tun, und die Sache wäre nicht sauber. Aber, wie gesagt, das sind so Gerüchte; und ich wüßte nicht mal zu sagen, wo ich das aufgeschnappt habe.“ „Gibt es noch mehr solche Gerüchte?“ „Ja, aber ich möchte das Geschwätz am liebsten nicht wiederholen.“ „Vielleicht helfen Sie uns damit“, ermunterte ich ihn. Er wand sich unbehaglich, machte eine abweisende Bewegung. „Sie dürfen versichert sein, Herr Löhrke, daß wir von allem, was Sie uns sagen, keinen unrechten Gebrauch 125
machen; wir werden immer zwischen Tatsachen und Gerüchten unterscheiden. Aber in Gerüchten steckt manchmal für uns ein wertvoller Fingerzeig.“ Etwas spöttisch fragte er: „Für die Mordsache und den Selbstmord?“ Er lachte kurz auf. „Das glaube ich nicht.“ Doch dann entschloß er sich: „Na schön, wenn Sie es unbedingt hören wollen. Bevor die Mauer kam, sollen sich Frau Kufferath und Ernst Hell mit dem Verschieben von Ferngläsern und Fotoapparaten beschäftigt haben. Aber das kann reiner Quatsch sein. An Renntagen wird hier natürlich viel geknipst, na, und Ferngläser sieht man auch nicht wenige. Da ist dann vielleicht an der Bahn oder nachher im Café das Gespräch darauf gekommen, man hat so ein besonderes wertvolles Ding herumgezeigt und sich darüber unterhalten, und schon redet einer, der das zufällig beobachtet hat, herum, da wären Geschäfte gemacht worden. Sie müssen nämlich wissen, daß es damals unter den Rennbahnbesuchern allerhand merkwürdige Gestalten gab.“ „Noch eine letzte Frage, Herr Löhrke, die wie der gesamte Inhalt unserer Vernehmung streng vertraulich zu bleiben hat: Gibt es auch Gerüchte über Handel mit Gebrauchtwagen?“ „Davon habe ich nie etwas gehört“, antwortete er bestimmt, doch dann fügte er hinzu: „Obwohl ich überzeugt bin, daß sich in dieser Hinsicht auf dem Parkplatz mancherlei angebahnt und getan hat.“ „Sonst noch etwas, Herr Löhrke?“ Er lachte. „Nein, bloß nicht, Herr Brückner! Ich glaube, ich habe schon viel zuviel gesagt, was nur Gequatsche ist.“ Ich bedankte mich und bat Oberleutnant Becker, mit dem Zeugen ein kurzes Protokoll aufzusetzen. Dann ging 126
ich mit Polizeimeister Höllriegel. Die Vernehmung hatte sich gelohnt. Ich ließ ihn und Becker zu weiterer Arbeit draußen und fuhr ins Präsidium zurück.
22 Leutnant Lorenz begrüßte mich strahlend. „Ich habe allerlei herausgefunden“, rief er schon, während ich noch Hut und Mantel ablegte. „Schießen Sie los.“ Ich setzte mich. „In der Telefonvermittlung des Krankenhauses sitzt ein intelligentes Mädchen“, begann er, „oder eine Frau“, schränkte er ein, als er mein unwillkürliches Lächeln bemerkte. „Ich hatte doch den Auftrag, festzustellen, ob sich Frau Leysing um ihren Mann gekümmert habe. Ich fürchtete schon, ich müsse hinfahren und umständlich recherchieren, denn telefonische Anfragen bei den Stationsärzten, Oberschwestern und Schwestern nach dem Befinden dieses oder jenes Patienten gibt es täglich natürlich Dutzende. Aber Leysing …, das ist auch im Krankenhaus ein besonderer Fall, über den viel geredet wird. Deshalb erinnerte sich die Telefonistin sofort. ‚Insgesamt ist seinetwegen viermal angerufen worden‘, wußte sie genau. ‚Die Teilnehmer habe ich alle mit der Stationsschwester Barbara verbunden. Ich werde versuchen, sie für Sie zu erreichen.‘ Zwei Minuten später hatte ich Schwester Barbara am Apparat. Die Auskunft war aufschlußreich.“ „Machen Sie es nicht so spannend.“ „Zwei Anrufe kamen von Frau Kufferath.“ „Das ist zumindest – interessant.“ 127
„Die beiden anderen von Frau Leysing. Der erste – noch am Abend der Einlieferung des Patienten – konnte nur kurz beantwortet werden: Der Patient liege ohne Besinnung, seine Verletzungen seien sehr ernster Natur. Frau Leysing fragte nicht, ob sie ihren Mann sehen könne. Darüber wunderte sich die Schwester, denn das ist in solchen und ähnlichen Fällen gewöhnlich die erste Frage naher Angehöriger. Aber das zweite Gespräch – erst gestern abend! – ist noch aufschlußreicher. Schwester Barbara teilte Frau Leysing möglichst schonend mit, daß kaum noch Hoffnung für den Patienten bestehe und stündlich mit seinem Ableben gerechnet werden müsse. Sie erwartete, daß die Frau nunmehr fragen würde, ob sie ihren Mann noch einmal sehen dürfe. Aber Frau Leysing fragte nicht. Da hat ihr Schwester Barbara angeboten: ‚Sie können kommen, wir werden Sie zu ihm lassen.‘ Darauf kam von der Leysing die gemütvolle Antwort: ‚Nein, wenn ich nicht mit ihm sprechen kann, hat es keinen Sinn; benachrichtigen Sie mich bitte, falls es ihm wider Erwarten besser gehen sollte.‘“ Lorenz schüttelte verständnislos den Kopf. „Was es doch für Menschen gibt …“ „Diese Edeltraut Leysing“, überlegte ich laut, „scheint ihren Mann unversöhnlich zu hassen. Ich habe fast den Eindruck, als fürchte sie geradezu, daß er noch einmal das Bewußtsein wiedererlangt und etwas sagt, was sie belastet.“ Lorenz nickte. Er griff zu den Fernschreiben, die unsere Anfrage nach den Meldezetteln beantworteten. Auf seinem Block hatte er sich zusammenfassende Notizen gemacht. „Frau Jutta Kufferath hat in all den genannten Städten mehrmals in den besten Hotels gewohnt, fast immer in Einzelzimmern oder aber in Zweibettzimmern, jedoch – mit zwei Ausnahmen – 128
stets allein. Die Ausnahmen sind allerdings nicht im November, sondern im August und September neunzehnhundertzweiundsechzig in Meißen und Erfurt; da teilte sie ihr Zimmer mit Frau Leysing! Hier ist, nach Daten geordnet, die genaue Aufstellung.“ Er gab mir das Blatt. Ich legte es beiseite. „Das werden wir auf der Hinfahrt sehr genau durcharbeiten.“ Lorenz fuhr fort: „Der Name Benno Leysing taucht nur einmal auf. Er wohnte zwei Tage in Weimar, im ‚Elephanten‘, und zwar“ – Lorenz machte wieder eine effektvolle Pause – „im November, an den beiden Tagen vor dem Mord an der Brücke.“ Als er meine Verblüffung sah, wurde er noch eifriger. „Aber nicht nur das! Zur gleichen Zeit war Frau Kufferath im selben Hotel abgestiegen.“ Ich mußte ein paarmal durchatmen. „Und Frau Leysing?“ fragte ich. „Ihr Name taucht zu dieser Zeit in keinem Meldezettel auf, sosehr ich gerade danach gesucht habe. Aber ein anderer, und das ist …“ „Weiter, weiter!“ drängte ich, da Lorenz abermals eine Kunstpause machte. „Ernst Hell.“ „Ebenfalls in diesen zwei Tagen?“ „Ja, und noch drei Tage vorher. Aber er wohnte in Erfurt, in einem zweitrangigen Hotel.“ Mir wirbelte der Kopf. Das mußte ich erst verdauen. Leutnant Lorenz, strahlend vor Stolz, als hätten nicht unsere Kollegen in Erfurt und den anderen Städten, sondern er das Verdienst, ließ mir Zeit. Endlich fragte ich: „Wo war denn Frau Leysing zu dieser Zeit?“ 129
Ich dachte an die Aussage; der Wirtin Pahlke in der Landgaststätte. War es nicht doch Frau Leysing gewesen, die dort mit dem später Ermordeten eingekehrt war? „Ihr Name fehlt. Wenn sie nicht mit fremdem Ausweis gereist ist, müssen wir sie zu dieser Zeit in Berlin suchen.“ Ich notierte mir diesen Punkt für die Vernehmung am Nachmittag. Wenn Frau Leysing ein Alibi anbot, mußte dieses genau überprüft werden. „Sind Sie am Ende mit Ihren Sensationen?“ fragte ich. „Noch nicht, Genosse Hauptmann. Für zwei Tage, richtiger: für die Nächte vor dem Mord an der Brücke, war in einem kleinen Hotel in Jena, dessen Namen Sie in meiner Aufstellung finden, noch eine unserer Hauptpersonen abgestiegen – Werner Hell!“ Ich stand auf. Ich konnte nicht anders, ich mußte ein paarmal im Zimmer auf und ab laufen. „Ich danke Ihnen, Genosse Leutnant“, sagte ich dann impulsiv. „Ich bin sehr froh, daß wir morgen nicht mit leeren Händen fahren müssen.“ Ich setzte mich. „Was haben Sie sonst noch ermittelt?“ Er griff zu drei Aktenstücken, die er zurechtgelegt hatte. „Einen Augenblick, bitte“, hielt ich ihn zurück. „Lassen Sie uns inzwischen die Unterlagen der Strafsache Bernhard Tövelmann aus dem Archiv heraufbringen.“ „Bernhard Tövelmann“, wiederholte er etwas erstaunt und gab die telefonische Anweisung durch. Dann blätterte er die erste der drei Akten auf. „Ich habe mir die Ermittlungen und Vernehmungen zum Fall Benno Leysing in Sachen Diebstahl und Schwarzhandel mit Hafer nochmals durchgesehen. Der Mitangeklagte Schimanski, unser jetziger Zeuge, ist danach tatsächlich schuldlos gewesen. Das ist das eine.“ Er griff zur zweiten, wesentlich umfangreicheren Akte. „Sie werden kaum erstaunt 130
sein, Genosse Hauptmann“, sagte er, „daß auch Ernst Hell bei uns nicht unbekannt ist. Neun zehnhundertachtundvierzig, also sechzehnjährig, beim Schwarzhandel mit amerikanischen Zigaretten festgenommen. Kommt mit einer Verwarnung davon. Neun zehnhundertfünfzig als Kellner im Hotel ‚Adlon‘ wegen Diebstahlsverdacht angezeigt und fristlos entlassen. Es ging um Kaffee und Spirituosen. Er belastet den Magazin-Verwalter und versteht es offenbar, sich selbst herauszureden. Über weitere berufliche Tätigkeit konnte ich wenig ermitteln, sie scheint unregelmäßig gewesen zu sein. Neunzehnhundertachtundfünfzig werden er und interessanterweise auch Frau Kufferath angezeigt – leider anonym –, weil sie wertvolle, in der Republik aufgekaufte optische Geräte nach dem Westen verschoben haben sollen. Die Vernehmungen ergaben jedoch kein Resultat.“ „Mit anderen Worten“, sagte ich, „wir haben es mit typischen Schiebern zu tun. Sie handelten immer mit dem, was sozusagen gerade einträglich war: von der Camel über Kaffee und Whisky, Optik, Nylon-Mäntel – und wer weiß, was sonst noch – bis zu Gebrauchtwagen.“ „Wobei ich“, meinte Leutnant Lorenz sinnend, „eigentlich nur erstaunt bin, daß sich die elegante, auffallende Jutta Kufferath mit so lächerlichen Kleinigkeiten wie – na, beispielsweise der Kundenwerbung für relativ billige Mäntel – abgegeben hat. Ich hätte ihr mehr Format zugetraut. Das war doch für den kleinen Gewinn, der für sie dabei herausspringen konnte, ziemlich gefährlich. Es paßt auch, meine ich, überhaupt nicht zu ihr.“ Ich mußte lachen. „Lieber Genosse Lorenz“, sagte ich, „wenn alle Verbrechen immer zu den Leuten ‚passen‘ würden, die sie begehen, hätten wir Kriminalisten leichte Arbeit. Auch im Gewerbe der Schieber gibt es 131
manchmal – übrigens heute ganz besonders und bleibend – Flauten. Da geht’s dann nicht, wie Sie so schön sagten, nach Format, sondern nach dem Spruch: Kleinvieh bringt auch Mist. Sie können sich ja mal erkundigen, vielleicht ist es sogar aktenkundig, wieviel Provision Ernst Hell und der Wirt Tövelmann ihren Lockvögelchen pro Mantel zahlten. Vielleicht werden Sie erstaunt sein, wieviel insgesamt dabei heraussprang. Nützlich wird ferner sein – und wir wollen deshalb Höllriegel mit der Erkundung beauftragen –, festzustellen, wie es zu verschiedenen Zeiten mit den materiellen Erfolgen und Mißerfolgen des Stalls Kufferath stand. Ich möchte nämlich fast mit Gewißheit behaupten, daß dort zur Zeit der Mantelgeschäfte Ebbe herrschte. Wir haben doch von verschiedenen Zeugen gehört, daß Werner Hell trotz oder gerade wegen seiner Streitigkeiten mit Leysing die große Hoffnung gewesen zu sein scheint. Eins der Geheimnisse unseres Berufs, lieber Lorenz, besteht darin, alles in Zusammenhang zu bringen. Psychologie allein ist für die Katz, richtiger gesagt: sie ist gar keine wirkliche Psychologie.“ „Trotzdem, Genosse Hauptmann, will es mir nicht in den Kopf: eine so besonders elegante, schöne und bestimmt auch kluge Frau …“ „Sie sind noch sehr jung, lieber Lorenz. Über Frauenschönheit läßt sich endlos streiten. Ich bin überzeugt, daß die schöne Jutta vielen, vielleicht den meisten Männern kaum oder gar nicht sonderlich gefällt. Auf unseren guten Becker beispielsweise hat sie so wenig Eindruck gemacht, daß er, der Exakte, sie nicht einmal exakt beschreiben konnte. Und was die Eleganz von Frauen anlangt – das ist erst recht so eine Sache. Wir werden uns heute nachmittag einmal nach Frau Kufferaths Herkunft erkundigen, denn gerade unter notorischen Schiebern, 132
insbesondere weiblichen, finden sich bekanntlich sehr viele aus sogenannten guten Häusern, Klein- und Mittelbürger, die nie eine produktive Arbeit kennengelernt haben, aber Ansprüche stellen. Sie sehen im illegalen Geschäftemachen eine mühelose einträgliche, Frauen sogar eine etwas romantische, abenteuerliche Existenzmöglichkeit. Ihr im Elternhaus erworbenes gutes Benehmen, ihre gefälligen Umgangsformen, ihre anerzogene Fähigkeit, sich individuell geschmackvoll zu kleiden – all das hilft ihnen weitgehend, vor allem aber läßt es viel weniger Verdacht aufkommen als etwa bei einer Frau Edeltraut Leysing.“ „Mag sein, Genosse Hauptmann. Sie mögen recht haben. Aber eines verstehe ich trotzdem nicht: Wie kommt diese Frau zu diesem Mann? Einem Metzger?“ „Einem Rennstallbesitzer“, antwortete ich trocken. „Halt, einen Augenblick, Genosse Hauptmann.“ Lorenz war etwas eingefallen. Er griff zu dem dritten Aktenstück. Aber da brachte ein Volkspolizist die vorher angeforderten Unterlagen der Strafsache Tövelmann herein.
23 Wir sahen sie rasch durch. Was uns der Zeuge Willi Löhrke erzählt hatte, fanden wir bestätigt. Aus irgendeinem Grund, der weder aus den Vernehmungsprotokollen noch aus den Fahndungsergebnissen ersichtlich war, hatte der Gastwirt Tövelmann alle Schuld auf sich genommen und seinen Mitangeklagten Ernst Hell geradezu auffallend entlastet. Dessen Bruder Werner und die Mutter, das ging eindeutig aus den Unterlagen hervor, hatten mit der Sache nicht das geringste zu tun gehabt. Die Namen 133
Jutta Kufferath und Edeltraut Leysing tauchten überhaupt nicht auf. Tövelmann, nach den Vermittlern befragt, hatte ausgesagt: „Wenn eine Frau einen solchen Mantel trug, fragten andere, woher sie den hätte; und so schickte eine Käuferin die nächste zu mir. Vermittler gab es keine. Herrn Ernst Hell hatte ich gesagt, es handle sich ganz reell um HO-Ware, und er hat es geglaubt.“ Die Aussagen Benno Leysings waren wertlos. Obwohl Stammgast in Tövelmanns Kneipe, wollte er nichts gehört oder beobachtet haben; mit Tövelmann befreundet gewesen zu sein, stritt er ab. „Beauftragen Sie den Genossen Höllriegel, er soll sich, während wir in Erfurt sind, nach diesem Bernhard Tövelmann umsehen. Vielleicht hat er sich, während er saß, doch einiges überlegt; möglicherweise erfahren wir nachträglich das Motiv, weshalb er damals seinen Kopf für Ernst Hell ins Loch gesteckt hat. Das könnte im Zusammenhang mit heutigen Vorgängen aufschlußreich werden.“ Lorenz kritzelte ein paar Worte auf seinen Schreibblock und griff zu der dritten Akte. Betont las er vom Umschlag: „Strafsache Friedrich Theodor Kufferath, Schwarzschlachtung und Vergehen gegen die Preisverordnung.“ „Oho!“ entfuhr es mir unwillkürlich. „Ja“, nickte Lorenz, „unser Biedermann hat ab Mai neunzehnhundertsiebenundfünfzig anderthalb Jahre gesessen; sechs Monate wurden ihm von den zwei Jahren, die ihm aufgebrummt worden waren, geschenkt. Bewährung. Etwas ist wiederum typisch: Seine Frau hat angeblich, obwohl sie auch damals die Geschäftsbücher führte, von alldem nichts gewußt. Ebenso die Schwester Kufferaths, eine verwitwete Frau Potter, die heute noch als Verkäuferin im Laden tätig ist.“ 134
„Sie haben gut gearbeitet, Genosse Lorenz. Mein Kompliment.“ Er wurde rot wie ein Schuljunge, so sehr freute er sich über das Lob. „Aber Sie sehen daran wieder einmal“, fuhr ich fort, „wie nützlich gewissenhafte Schreibtischarbeit auch bei uns ist.“ „Jetzt kann ich mir auch erklären, warum sich die elegante Frau Jutta auch mit kleinen Schiebergeschäften abgegeben hat. Nicht nur im Rennstall, wo der Chef fehlte, sondern bestimmt auch in der Metzgerei gingen die Geschäfte eine Zeitlang sehr schlecht; und ob sie bei den sportlichen Neigungen Kufferaths, den Pferdekäufen und der Aufzucht junger Traber nicht auch heute noch schlecht gehen, müßte man untersuchen. Woher kommt dann aber das Geld?“ „So würde ich ebenfalls folgern. Höllriegel soll darüber Ermittlungen anstellen.“ Lorenz lachte. „Ja, wenn man den Schlüssel findet, kann man den Schrank aufschließen.“ „Hoffentlich finden wir beide in Erfurt, Weimar oder Jena recht viele solcher Schlüsselchen …“
24 Höllriegel und Becker, die kurz vor Mittag eintrafen, als wir uns, Lorenz und ich, noch detailliert mit den Hotelmeldezetteln beschäftigten, hatten trotz intensiver Kleinarbeit wenig Neues erfahren. Unter anderem hatten sie den Arzt, einen Professor Dr. Henselein, aufgesucht, der im Februar seinen Wagen inseriert und zum Taxwert verkauft hatte. Es wurde, wie wir es schon nach den Akten vermuteten, im135
mer deutlicher, daß wir es zweifelsohne mit einem organisierten Schieberring zu tun hatten, denn die Zwischenhändler waren, wie auch aus anderen Vernehmungsprotokollen oder Ermittlungsberichten wie im Falle der nicht existierenden Weimarer Zahnärztin Elke Dalibor hervorging, im Besitz eines oder mehrerer Personalausweise, seien es nun ganz gefälschte oder von anderen DDR-Bürgern verlorene und nur mit neuen Fotos versehene. Diese Tatsache war, weil sie mehrfach auftauchte, typisch für eine zentrale Leitung. „Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf etwas hinweisen“, sagte Polizeimeister Höllriegel, „auf eines der Gerüchte, die uns der Zeuge Löhrke heute früh unter starken Vorbehalten mitteilte. Optische Geräte, wie wertvolle Kameras und Ferngläser, können nur mit Personalausweis gekauft werden; die Namen und Nummern werden in Listen eingetragen. Damit wurde oder wird der Personalausweis für diesen Verwendungszweck relativ wertlos, einerlei, ob echt oder gefälscht. Aber zum Kauf oder Verkauf von Gebrauchtwagen konnte er weiterhin verwendet werden.“ Ich lächelte in Erinnerung an den Zeugen Löhrke. „Ja“, sagte ich, „Gerüchte, und seien sie noch so dumm oder weit hergeholt, enthalten manchmal wertvolle Hinweise …“ „Dann will ich mir jetzt, obwohl der Genosse Oberleutnant mich bestimmt wieder einmal böse anschauen wird, ein Gerücht oder doch eine Vermutung aus den Fingern saugen“, rief Lorenz. „Der offenbar sehr tüchtige Geschäftsmann Ernst Hell dürfte ziemlich sicher im Besitz von mindestens zwei Ausweisen sein: seinem früheren DDR-Ausweis, den er nicht abgeliefert hat, und einem westlichen.“ 136
Becker lachte. „Ich schaue gar nicht böse, lieber Lorenz“, sagte er, „wenn Sie sich bei Ihren geliebten Kombinationen auf Tatsachen stützen. Dieser Ernst Hell hat, wie wir zuverlässig erfahren haben, in einem Erfurter Hotel gewohnt. Dort hat er sich mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik ausgewiesen; andernfalls wäre das bestimmt in dem betreffenden Fernschreiben erwähnt. Im Westen, vor allem auch zum unverdächtigen Hin- und Herfahren, mußte er jedoch einen Ausweis der Bundesrepublik benutzen. Das ist logisch.“ „Es lebe die Logik!“ rief ich. „Wo aber hält sich logischerweise der Geschäftsmann Ernst Hell zur Zeit auf?“ Nicht einmal unser Denksportler Lorenz antwortete auf diese provokatorische Frage. Ich dachte mir mein Teil, aber ich schwieg. Meine Vermutung war allzu unbestimmt und ohne jede reale Grundlage.
25 Herr Friedrich Theodor Kufferath war pünktlich eingetroffen und saß breit vor meinem Schreibtisch; er hatte übrigens, wie ich jetzt sah, auffallend kurze, dicke Beine. Das Licht traf vom Fenster her voll auf sein trotz aller Rundlichkeit hartes Gesicht. Seitlich in einer Ecke stenografierte Becker die Vernehmung. Wie es die Vorschrift verlangt, begann ich mit der Zeugenbelehrung. Herr Kufferath, in der Meinung, es handle sich jetzt nur um eine nachträgliche Formalität, um eine verkürzte Wiederholung dessen, was er uns schon in seiner Wohnung 137
erzählt hatte, gab sich erst salopp mit einem Unterton scherzhafter Gemütlichkeit, dann aber versteifte er sich spürbar, als ich die Fragen zu seiner Person sehr kurz und betont dienstlich stellte. Dennoch ließ er sich seine aufkommende Nervosität nicht anmerken. Er wußte natürlich, daß Oberleutnant Becker, der seinen Personalausweis in der Hand hatte, all die Daten einfach hätte abschreiben können; deshalb vermutete er wohl schon hinter meinen einleitenden, scheinbar überflüssigen Fragen eine Falle. Er antwortete langsam, sehr genau. „Wann haben Sie geheiratet?“ „Neunzehnhunderteinundfünfzig.“ „Ist Frau Jutta Kufferath geborene Thomas Ihre erste Frau?“ „Nein, meine erste Frau ist neunzehnhundertvierundvierzig bei einem Bombenangriff umgekommen.“ „Wo waren Sie während dieser Zeit?“ „An der Front.“ „Dienstgrad?“ „Unteroffizier.“ „Truppe?“ „Panzergrenadierregiment hundertsechsundneunzig.“ Die Antworten kamen jetzt schneller, weniger nervös. Da hatte er also nichts zu verbergen. „Waren Sie Mitglied der Nazipartei?“ „Nein. Nur bis Kriegsbeginn im NS-Reiterkorps.“ „Wo haben Sie Ihre jetzige Frau kennengelernt?“ „Wir waren Nachbarn. Sie wohnte mit ihrer Mutter schräg gegenüber und kaufte in meinem Geschäft. Als nach neunzehnhundertfünfundvierzig die Rennbahn wieder eröffnet wurde, lud ich sie mehrmals ein. Sie begann sich dafür zu interessieren. Als neunzehnhundertfünfzig ihre Mutter starb, stand sie ganz allein da, 138
und Anfang neunzehnhunderteinundfünfzig, im Februar, haben wir dann geheiratet.“ „Sie vertragen sich auch heute noch gut mit Ihrer Frau?“ Er wurde ärgerlich – aus Unsicherheit, weil er nicht zu durchschauen vermochte, worauf ich hinauswollte. „Ich finde, daß diese Fragen …“ Betont sachlich und leise, ohne jede Schärfe im Ton, unterbrach ich ihn. „Was ich frage, müssen Sie mir überlassen, Zeuge Kufferath.“ Sofort bemühte er sich um ein höfliches Lächeln. Es glückte ihm nicht ganz. „Ja“, antwortete er. „Ich habe es Ihnen vorgestern schon mitgeteilt, wir vertragen uns sehr gut.“ „Aber, Herr Kufferath“, sagte ich gleichgültig und beobachtete dabei sehr aufmerksam sein Gesicht, „Sie wissen doch aus Erfahrung, daß bei Vernehmungen und Verhören oft dieselben Fragen wiederkehren.“ „Ich? Woher sollte ich …“ „Sie sind doch vorbestraft.“ Die Überrumpelung war geglückt. Er zuckte zusammen, seine Augen verschwanden, als blende sie das Licht, in zwei schmalen Schlitzen. Er atmete ein paarmal hastig. Ich fuhr ruhig fort: „Aber lassen wir die alten Dinge, Zeuge Kufferath“ und machte eine wegwischende Handbewegung. „Wir sind ohnehin über alles genau unterrichtet.“ „Das hat doch …“ „… mit der gegenwärtigen Sache nichts zu tun, wollen Sie sagen. Möglich. Aber Sie sehen jedenfalls, daß Sie klug daran tun, die volle Wahrheit zu sagen und mit nichts hinter dem Berge zu halten. Es kommt letztlich 139
doch alles heraus. Wie ist das nun: Haben Sie Werner Hell zwei Tage vor seinem Tode gekündigt oder nicht?“ „Nein, Herr Kommissar, bestimmt nicht.“ „Hat es Ihre Frau in Ihrem Auftrag oder von sich aus getan?“ „Nein, sie stritt es ab.“ „Aha, Sie haben also nach der Vernehmung vorgestern mit ihr darüber gesprochen.“ Ich sah ihm an, daß er es spontan leugnen wollte, sich aber rechtzeitig besann. Er machte einen schwachen Versuch, in seinen Biedermannston zu fallen, als er sagte: „Das ist doch, wenn man verheiratet ist, eigentlich ganz selbstverständlich.“ „Welche Ihrer Aussagen haben Sie beide sonst noch in Übereinstimmung gebracht?“ fragte ich absichtlich etwas scharf. Sein breites Gesicht rötete sich. „Werde ich hier als Zeuge oder als Angeklagter vernommen?“ preßte er mit seiner verquetschten Tenorstimme hervor. Ich lächelte freundlich. „Das, Herr Kufferath, kann ich Ihnen vielleicht sagen, wenn diese Vernehmung beendet ist. Es wird ganz von Ihnen abhängen.“ Er schnaufte ein paarmal, schob dabei die dicken Fäuste, ohne es zu wissen, auf seinen prallen Oberschenkeln hin und her. Aber er schwieg. „Warum Werner Hell Selbstmord beging, darüber werde ich also von Ihnen nichts erfahren?“ „Wenn ich doch nichts davon weiß …“ „Gut. Etwas anderes. Wie oft sind Sie im letzten halben Jahr in die Republik gefahren?“ Seine Haltung lockerte sich, er öffnete die Fäuste, sah mich offen an. „Darüber muß ich erst nachdenken“, sagte er. 140
„Bitte, tun Sie das; wir haben Zeit.“ „Es mögen so fünf-, sechsmal gewesen sein.“ „Wo waren Sie?“ „Das kann ich wirklich nicht mehr genau sagen. Es waren meist nur Dörfer, und ich habe die Namen vergessen. Mal in Mecklenburg, mal in Sachsen oder Thüringen oder Brandenburg, meist aber in Mecklenburg.“ „Also doch mehr als sechsmal?“ „Wahrscheinlich ja. Ich sah mir Pferde an – zwei habe ich auch in einer LPG bei Stavenhagen gekauft –, aber vorher waren immer Werner Hell oder manchmal auch Benno Leysing dort gewesen.“ „In größeren Städten haben Sie sich nie aufgehalten?“ „Nur einmal in Schwerin. Ich übernachtete dort, weil mein Wagen eine Panne hatte.“ Seine Aussagen klangen jetzt unbefangen und aufrichtig. Trotzdem – ich sah es an den verkniffenen Augen – war der Mann fortwährend auf der Hut. Er wartete auf die nächste Überrumpelung. Und die kam. „Wo hielten Sie sich am sechzehnten November vorigen Jahres auf?“ Nun beging er, gerade weil er so gespannt auf eine heikle Frage gewartet hatte, eine Unklugheit; er antwortete zu schnell und zu sicher. „Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich war in Berlin. In Karlshorst.“ Ich tat ein bißchen enttäuscht, als ob ich eine ganz andere Antwort erwartet hätte. „Dafür können Sie sicherlich Zeugen beibringen?“ „Soviel Sie wollen“, sagte er lebhaft. „Am sechzehnten November hatten wir nachmittags eine Sitzung in der Rennleitung. Vormittags war ich erst im Geschäft – das kann Ihnen meine Schwester und die andere Verkäuferin 141
bestätigen –, dann im Schlachthof, von dort fuhr ich zum Stall, dann aß ich und ging zu der Sitzung, die bis acht Uhr abends dauerte.“ „Wieso erinnern Sie sich gerade an diesen Tag so genau?“ Er zuckte die Achseln. Schweißtröpfchen traten auf seine Stirn. Ihm war zum Bewußtsein gekommen, daß er sein Alibi allzu schnell und lückenlos vorgetragen hatte. „Sie haben ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis, Herr Kufferath“, sagte ich gespielt verwundert. „Wenn Sie mich fragen würden, wo ich am sechzehnten November vorigen Jahres war und was ich da getan habe, wüßte ich es bestimmt nicht. Ich müßte lange überlegen, in meinem Notizbuch nach Anhaltspunkten suchen, Mitarbeiter fragen …“ Die Schweißtröpfchen auf seiner Stirn wurden zu Tropfen. Er versuchte seinen Fehler zu korrigieren. „Weil der Hengst Pocco die Kolik hatte, aber Werner Hell nicht da war. Ich hatte ihn beurlaubt. Deshalb und wegen der Sitzung in der Rennleitung habe ich das Datum nicht vergessen.“ „Mit Ihrer Frau oder mit Frau Leysing haben Sie sich gestern – ganz zufällig natürlich nur – nicht über dieses Datum unterhalten?“ Da war wieder das hastige, schnaufende Atmen, da waren wieder die nervös hin und her geschobenen Fäuste auf den Schenkeln und die verengten Augenschlitze. „Nein“, sagte er gepreßt, und nach einer kurzen Pause: „Frau Leysing habe ich in den letzten beiden Tagen überhaupt nicht gesehen.“ „Auch nicht gesprochen?“ „Sie hat kein Telefon.“ „Aber Ihre Frau hat sie doch besucht?“ 142
„Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.“ „Kufferath, Sie werden mittlerweile gemerkt haben, daß wir weit mehr wissen, als Sie ahnen. Antworten Sie doch aufrichtig, es ist wirklich besser für Sie.“ Er wischte sich den Schweiß ab. „Ich antworte aufrichtig“, quetschte er widerwillig heraus. „Frau Edeltraut Leysing und Sie, Herr Kufferath, haben ein Verhältnis miteinander gehabt.“ Er überlegte fast eine halbe Minute. Ich ließ ihn. Endlich hatte er sich entschlossen. „Das war eine vorübergehende Sache. Vor anderthalb oder zwei Jahren. Nur kurz, nichts Ernsthaftes.“ „Ihre Frau ist dahintergekommen?“ „Ja, aber sie nahm es nicht weiter tragisch. Dazu verstehen wir uns zu gut.“ „Wie lange kennen Sie Frau Leysing?“ „Seit vier oder fünf Jahren.“ „Ihre Frau hat dem Verhältnis ein Ende gesetzt?“ „Sie hat mit Traut …, mit Frau Leysing gesprochen, und da war es vorbei.“ „Hat es deswegen zwischen den beiden Frauen einen Streit gegeben?“ „Nein, dazu ist meine Frau viel zu vernünftig. Außerdem …“ Er brach ab. „Was – außerdem?“ „Das gehört nicht hierher.“ „Was hierher gehört, Zeuge Kufferath, bestimme ich. Das sollten Sie mittlerweile begriffen haben.“ „So war das nicht gemeint, Herr Kommissar.“ „Also sprechen Sie.“ „Seit der Zeit, wo ich den Werner eingestellt hatte, war etwas zwischen den beiden.“ „Zwischen wem? Ihrer Frau und Frau Leysing?“ 143
„Nein, Sie haben mich falsch verstanden. Sie hatten etwas miteinander: Frau Leysing und Werner.“ „Ein Verhältnis?“ „Ich glaube, bestimmt. Doch die beiden haben es sich nie nach außen hin anmerken lassen. Aber schließlich hat man doch Augen im Kopf. Werner tat alles, was sie wollte. Er gehorchte ihr aufs Wort. Nur wenn es um den Sport ging, war er ein Dickschädel. Aber sonst war Werner ein ganz weicher Mensch, ohne Willen.“ Kufferath hatte sich wieder gelockert; er wußte, daß ihm diese Aussagen nicht schaden konnten, jedenfalls glaubte er, das zu wissen. Unaufgefordert fuhr er fort: „Daß Benno Leysing und Werner so schlecht miteinander standen, ist sicherlich auch darauf zurückzuführen …“ Ich sah ihm an, daß er, ohne konkret werden zu können oder zu wollen, gern noch weitererzählt hätte; da fuhr ich mit einer neuen Überrumpelungsfrage dazwischen: „Warum hatten Sie Werner Hell am fünfzehnten und sechzehnten November vorigen Jahres beurlaubt?“ „Weil …“ Er war wieder ganz Spannung. „Weil er seinen …, weil er einen Verwandten besuchen wollte.“ „Wen?“ „Danach habe ich ihn nicht gefragt.“ „Er hat es Ihnen auch nicht mitgeteilt, ohne daß Sie danach fragten?“ „Nein.“ „Eben sagten Sie: seinen. – Seinen was?“ „Da muß ich mich wohl versprochen haben.“ „Wohin fuhr er?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wo war Ihre Frau zu dieser Zeit?“ „Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich hier in Berlin. Ich erinnere mich nicht.“ 144
„Und Frau Leysing?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Fragen Sie doch nicht so naiv, Kufferath. Von Benno Leysing natürlich.“ „Der war doch gar nicht da.“ „Wo?“ „Im Stall, bei der Arbeit. Ich habe doch schon gesagt: Ich mußte in diesen Tagen die Pferde allein versorgen und mich um Pocco kümmern. Herr Schimanski – Sie können ihn danach fragen – hat mir dabei geholfen …“ „Beantworten Sie meine Frage, reden Sie nicht fortwährend darum herum! Wo war Herr Leysing?“ „Zu Hause, im Bett; er hatte Grippe.“ Ich lachte. „Diese Antwort, Zeuge Kufferath, haben Sie schlecht mit Ihrer Frau verabredet.“ Mehr noch als meine Worte machte ihn mein Lachen nervös. Aber ich muß ihm zugestehen: Er beherrschte sich immerhin so gut, daß es einen weniger Aufmerksamen wahrscheinlich getäuscht hätte. Doch der plötzlich wieder hervorbrechende Schweiß verriet ihn. Mit einem Anklang von Ironie fuhr ich fort: „Ich, Herr Kufferath, hätte mir an Ihrer Stelle etwas Klügeres ausgedacht. Ich hätte zum Beispiel gesagt: Benno Leysing, der ohnehin nicht mehr vernommen werden kann, hatte von mir den Auftrag, sich in einer LPG in der Nähe von Weimar ein Fohlen anzusehen. Denn Sie wissen doch, daß Leysing – ganz ohne Grippe – zu dieser Zeit im Weimarer Hotel ‚Elephant‘ wohnte.“ Er wischte sich den Schweiß von Stirn, Glatze und Genick. „Ihre Frau übrigens auch“, fügte ich trocken hinzu. „Meine …“ Er zuckte resignierend die breiten Achseln. 145
„Ich hätte Sie und Ihre Frau wirklich für klüger gehalten, Zeuge Kufferath“, bohrte ich weiter. „Besonders Sie als gebranntes Kind hätten doch aus Erfahrung wissen müssen, wie präzis der Apparat unserer Volkspolizei arbeitet und über welch zuverlässige technische Mittel wir verfügen. Man sagt, es seien die besten und modernsten im westlichen Europa, selbst Scotland Yard sei, mit uns verglichen, nur noch ein Kriminalmuseum. Ja, Ihre Frau hätte Ihnen für Ihre Aussage wirklich etwas Gerisseneres mit auf den Weg geben müssen, Herr Kufferath. Nun sitzen Sie drin. Alle beide. Statt einen bestimmten Verdacht zu zerstreuen, haben Sie ihn mit Ihrem Schwindel verdichtet.“ Er hockte wortlos da. Sichtlich erwartete er einen neuen, überraschenden Schlag. Aber ich sagte leichthin: „So, nun benennen Sie meinem Kollegen Becker die Zeugen für Ihr Alibi am sechzehnten November vorigen Jahres. Oder noch besser: Gehen Sie gleich mit ihm in ein anderes Zimmer, um das Protokoll aufzusetzen und zu unterschreiben.“ Die beiden verließen den Raum. Kufferath zerrte an seinem Hemdkragen, als sei er ihm zu eng geworden.
26 Ich ging ins Vorzimmer zu Frau Wulf. „Ist die Zeugin Edeltraut Leysing schon im Haus?“ „Sie wartet in vierhundertneunzehn. Der Genosse Polizeimeister ist bei ihr, er hat sie mitgebracht.“ „Gut. Rufen Sie die beiden hierher. Führen Sie die Frau gleich in mein Zimmer; ich habe mit dem Genossen Höllriegel vorher noch ein paar Worte zu sprechen.“ 146
Sie telefonierte. „Und nun bitte den Genossen Lorenz. Er nimmt an der Verhandlung teil.“ Sie hatte den Anruf eben beendet, da führte Höllriegel Frau Leysing herein. „Kommen Sie“, sagte Frau Wulf freundlich und öffnete ihr die Tür zu meinem Zimmer. Polizeimeister Höllriegel hatte sofort begriffen, er blieb zurück. Ich gab ihm einen Auftrag. „Der Genosse Oberleutnant nimmt jetzt im Zimmer vierhundertdrei mit dem Zeugen Kufferath das Vernehmungsprotokoll auf. Wenn dieser das Haus verläßt, folgen Sie ihm unauffällig; es kann nützlich sein zu erfahren, was er dann unternimmt.“ Leutnant Lorenz kam. Ich erteilte ihm einen ähnlichen Auftrag wie Höllriegel. „Wenn Sie nachher das Protokoll mit der Zeugin Leysing fertiggestellt haben, sorgen Sie dafür, daß ihr ein Genosse vom Außendienst folgt. Er soll feststellen, wohin sie sich begibt.“ „So schnell kann ich das jetzt nicht mehr organisieren, Genosse Hauptmann. Das muß ich dann leider selbst übernehmen.“ „Einverstanden.“ Dann gingen wir, Plaudern über das Wetter vortäuschend, in mein Zimmer, wo sich Frau Leysing mit unserer freundlichen Genossin Wulf über Laufmaschen unterhielt.
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27 So begann denn auch die Vernehmung ganz locker und leicht. „Was wollen Sie sonst noch von mir wissen?“ fragte Frau Leysing völlig unbefangen, als ich mich hinter meinen Schreibtisch und Leutnant Lorenz sich an den Ecktisch gesetzt hatte. „Ich habe Ihnen doch schon alles mitgeteilt, was mir bekannt ist.“ Meine Zeugenbelehrung nahm sie lächelnd auf, als wollte sie sagen: Na ja, ich weiß, das ist wohl so vorgeschrieben. Sie reichte Lorenz ihren Personalausweis hinüber, als ich begann, nach ihren Personalien zu fragen. „So ist es doch praktischer.“ „Ich möchte noch einige Kleinigkeiten wissen“, begann ich die eigentliche Vernehmung in gelassengleichgültigem Ton. „Erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie mit Frau Kufferath stehen.“ Sie sah mich mit ihren dunklen Augen, die nur deshalb lebhaft zu sein schienen, weil sie mit dem hellblonden Haar unnatürlich kontrastierten, etwas verwundert an. „Nicht schlecht, nicht gut“, antwortete sie. „Wir kamen natürlich oft zusammen, weil wir uns, besonders an Renntagen, im Stall oder an der Bahn trafen.“ „Man kann also nicht von einer Freundschaft sprechen?“ „Das nicht. Nein, von einer Freundschaft nicht.“ „Aber Sie haben mit Frau Kufferath gelegentlich Autopartien gemacht?“ Sie zögerte nicht eine Sekunde. „Ja. Aber das war voriges Jahr, als sie von ihrem Mann den neuen Wartburg bekommen hatte. Ich nehme an, es war Jutta zu langweilig, immer allein zu fahren, und deshalb nahm sie mich mit.“ Das klang alles ganz natürlich und rückhaltlos. 148
„Wohin gingen denn die Reisen?“ „Wir waren mal in Erfurt, mal in Meißen und zweimal in Weimar. Meist allerdings nur in der Umgebung von Berlin, in Wandlitzsee, in Bernau, am Scharmützelsee und so.“ „In Weimar haben Sie sich länger aufgehalten? Ich meine, dort haben Sie auch übernachtet?“ „In Weimar nicht. Dorthin fuhren wir von Erfurt aus.“ Ich warf einen Blick auf die Liste, die Leutnant Lorenz nach den Meldezetteln angefertigt hatte. Die Aussage stimmte. „Erinnern Sie sich noch, wann das war?“ „Erfurt … Das muß September oder spätestens Anfang Oktober gewesen sein; das Datum kann ich Ihnen natürlich nicht sagen, so was merkt man sich nicht so genau. Und in Meißen … Ja, das muß Ende Juli oder Anfang August gewesen sein.“ Es stimmte. „Das waren also sozusagen reine Vergnügungsfahrten?“ „Sicher. Was denn sonst?“ Das klang ein wenig pikiert. „Ich frage nur so. Was haben Sie denn in den genannten Städten besichtigt?“ „Die Sehenswürdigkeiten. Jutta weiß damit gut Bescheid, es ist ihr Hobby. In Meißen waren wir auf der Burg, wo früher das berühmte Porzellan gemacht wurde. Wir sind auch mal auf die Wartburg gefahren, aber das war, als wir in Erfurt waren. Das meiste haben wir in Weimar besichtigt.“ „Hat Sie denn das alles interessiert?“ „Brennend.“ „Das kann ich gut verstehen. In Weimar würde ich mich auch gern einmal länger aufhalten“, plauderte ich. „Ich war dort immer nur auf der Durchreise. Aber das Nationaltheater habe ich mir nicht entgehen lassen. 149
Waren Sie auch dort?“ Sie schlug die Beine übereinander und beugte sich vor. „Ja“, nickte sie, „wir haben dort ein schönes Stück gesehen.“ „Welches? Ich bin nämlich Theaterfreund.“ Sie runzelte nachdenkend die Stirn, dann lachte sie. „Das habe ich vergessen.“ Sie ließ den Verschluß ihrer Handtasche – sie war nicht aus hellem Lackleder, sondern aus grün-rotem Bastgeflecht hergestellt – auf- und zuschnappen. „Sie möchten gern rauchen, wie?“ fragte ich zuvorkommend. „Wenn ich darf?“ „Gewiß. Aber ich kann Ihnen leider keine Zigarette anbieten, ich rauche nur Zigarren.“ Sie zog eine kleine Packung Orient hervor. Aha, dachte ich, vorsichtigerweise nicht die Westmarke, die sie sonst raucht. Ich gab ihr Feuer. „Das Weimarer Theater ist sehr schön, nicht wahr?“ plauderte ich weiter. „Innen und außen.“ „Ja, sehr.“ „Gefällt Ihnen das Denkmal, das davor steht?“ „Oja.“ „Ich erinnere mich nicht mehr recht, wen stellt es eigentlich dar?“ „Das habe ich auch vergessen … Es sind zwei Männer.“ „Nun ja, für alles hat man auch nicht das gleiche brennende Interesse.“ Wie würde sie auf diese Ironie reagieren? „Genau“, stimmte sie mir zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Aber gewiß haben Sie auch die Schiller- und Goethegedenkstätten besucht?“ „Na selbstverständlich“, sagte sie lebhaft und lächelte. 150
„Darum beneide ich Sie ein bißchen“, fuhr ich fort. „Was hat Ihnen denn besonders gefallen?“ „Das Gartenhaus von Schiller. Da drin war viel zu sehen. Er hat sich einen Schrank bauen lassen, wo heute noch seine gesammelten Steine drin sind. Und am Pult steht ein Bock mit einem hölzernen Sattel, darauf hat er beim Dichten gesessen.“ „Schiller?“ „Ja, direkt feierlich. Und im andern Zimmer stand ein ulkiges Bett, das hat er immer mit auf Reisen genommen.“ „Schiller? Sollte das nicht Goethe gewesen sein?“ Sie wurde nicht eine Spur verlegen. „Kann sein, daß es auch Goethe war“, sagte sie, „vielleicht verwechsle ich das.“ Sie versucht gar nicht, mich vom Thema abzulenken, dachte ich, obwohl sie bestimmt spürt, daß sie sich mit ihrer außergewöhnlichen Unwissenheit bloßstellt. Oder ist es ihr so sehr darum zu tun, mir zu beweisen, daß sie wirklich dort und nicht anderswo war? „Was haben Sie denn in Erfurt gesehen?“ fragte ich möglichst harmlos. „Eine große Kirche auf einer Anhöhe mit Treppen und eine alte Brücke, wo Häuser drauf stehen. Sehr interessant. Aber wir sind von Erfurt meist nach Weimar gefahren.“ „Ich verstehe, ich verstehe. Geschäftliches hatten Sie in den genannten Städten nicht zu erledigen?“ „Aber nein.“ Sie rauchte ein wenig hastiger. „Was sollten wir Frauen dort wohl geschäftlich zu erledigen haben?“ Ohne meinen Ton zu ändern, fragte ich plötzlich. „Kennen Sie in Weimar eine Zahnärztin namens Elke Dalibor?“ Ich beobachtete sie genau. Sie ließ die Hand mit der Zigarette sinken und blickte mich erstaunt an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich habe nicht einmal den Namen gehört.“ 151
„Vielleicht haben Sie ihn nur vergessen?“ „Bestimmt nicht. An einen so … fremdländischen Namen würde ich mich bestimmt erinnern. Wie sagten sie noch?“ „Dalibor, Elke Dalibor.“ „Nein.“ Sie schüttelte abermals den Kopf, jetzt sogar sehr entschieden. Das war nicht gespielt. Wenn sie, was ich vermutet hatte, unter diesem Namen bei einer AutoSchiebung aufgetreten wäre, würde sie sich jetzt irgendwie verraten haben. Oder sollte sie, die doch recht robust war, über außergewöhnlich starke Nerven verfügen? Daran glaubte ich nicht mehr seit ihrem Zusammenbruch im Hause der Rennleitung, als sie den Selbstmord Werner Hells erfuhr. Diese Frau mochte über jene eingleisige Frechheit, jene sture Unerschütterlichkeit verfügen, charakteristisch für Schieber, besonders weibliche, die alles glatt und ruhig ableugnen, was man ihnen nicht unmittelbar beweisen kann. Aber diese Frau war nicht intelligent genug, um Überraschungen zu parieren, indem sie planmäßig auszuweichen verstand. Ihre von mir zu Beginn der Vernehmung provozierten Erlebniserinnerungen bewiesen es. Sie war bestenfalls primitiv gerissen, das strikte Gegenteil der Metzgersgattin. „Mit Frau Kufferath haben Sie sich also während Ihrer Vergnügungsfahrten gut verstanden?“ griff ich das Thema wieder auf. „Doch, doch … Ja, sie hat mir alles gezeigt und erklärt. Jutta ist nämlich reineweg versessen auf so was.“ Ich unternahm einen zweiten Angriff. „Frau Kufferath trägt Ihnen also nicht nach“, sagte ich unvermittelt, „daß Sie ein Verhältnis mit ihrem Mann hatten?“ Sie richtete sich mit einem Ruck auf. „Das ist nicht wahr!“ rief sie mit ihrer rauhen, wenig modulationsfähigen 152
Stimme. „Wer hat das behauptet?“ „Herr Kufferath hat es bereits zugegeben.“ Sie wußte keine Antwort. Heftig stieß sie mit ihren grobknochigen Fingern den Zigarettenrest in die Aschenschale. „Er hat übrigens noch viel mehr zugegeben“, fügte ich wie beiläufig hinzu. „Das finde ich gemein“, sagte sie schließlich und setzte sich sehr aufrecht, den etwas zu untersetzten Körper gespannt, das breite, nicht unschöne Gesicht jedoch völlig ausdruckslos. Ich schwieg und beobachtete. Ohne ihre gestraffte Haltung aufzugeben, begann sie nach einer Weile zu lächeln. Das war schlecht gespielt. Sie zündete sich umständlich eine neue Zigarette an. „Warum soll ich es eigentlich nicht zugeben, wenn Sie es schon wissen? Ja, das ging so ungefähr ein Vierteljahr.“ „Ein halbes.“ „Mag auch sein.“ Sie ließ das Lächeln und erzählte unbeteiligt-sachlich, als spräche sie von einer anderen: „Es war nach einem Rennen, das Kufferath gewonnen hatte. Wir feierten abends. Jutta war nicht dabei, ich weiß nicht mehr warum. Da ist es passiert. Doch auf Sicht kann einen ein Mann wie Kufferath nicht interessieren. Die Sache ging ja auch bald wieder auseinander.“ „Weil Frau Kufferath dahinterkam und eingriff.“ „Auch wenn sie das nicht getan hätte.“ „Gab es einen Krach zwischen ihr und Ihnen?“ „Aber wo.“ Sie machte eine bagatellisierende Handbewegung. „Wir haben uns vernünftig ausgesprochen. Die Sache war sowieso schon am Einschlafen.“ Sie rauchte bereits wieder in ruhigen, gleichmäßigen Zügen und sprach unbefangen, vielleicht ein wenig zu unbefangen. 153
„Aber zwischen Ihnen und Ihrem Mann gab es doch eine harte Auseinandersetzung?“ „Auch nicht. Unsere Ehe, wenn Sie unbedingt alles wissen wollen, war längst kaputt. Leysing ist ein grober Mann, ein richtiger Feldwebel; immer nur kommandieren …“ Sie verkniff ihre grellbemalten Lippen, ihr Gesichtsausdruck wurde unverkennbar gehässig. „Das wird jetzt wohl vorbei sein.“ „Es täte Ihnen also nicht leid, wenn Ihr Mann …“ „Nein.“ „Sie hassen ihn?“ „Das ist zuviel gesagt. Er ist mir so gleichgültig geworden wie ein unsympathischer Fremder.“ „Das schlechte Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann hat sich weiter verschlechtert, als Sie sich in Werner Hell verliebten?“ „Wer sagt das?“ Sofort hatte sie wieder ihre Abwehrhaltung, ihre Worte klangen fast wie ein böses Bellen. „Es ist uns bekannt. Das muß Ihnen genügen.“ „Darüber spreche ich nicht, und Sie können mich nicht dazu zwingen.“ „Ich denke nicht daran, Sie zu etwas zwingen zu wollen. Sie werden nicht verhört, sondern vernommen; das ist ein Unterschied. Ich würde Ihnen aber trotzdem raten, die volle Wahrheit zu sagen.“ „Worüber?“ „Über alles, was ich Sie frage. Wenn Sie sich schuldlos fühlen, brauchen Sie doch nichts zu verbergen.“ „Ich verberge nichts. Nur – wen gehen meine Privatsachen etwas an?“ „Uns, die wir einen Mord und einen Selbstmord aufzuklären haben.“ Sie streifte die Asche ihrer Zigarette ab, sehr langsam, 154
um Zeit zum Überlegen zu gewinnen. „Fragen Sie.“ Sie lehnte sich zurück. „Wovon haben Sie gelebt, als Ihr Mann wegen des Haferdiebstahls im Gefängnis saß?“ „Wir hatten etwas Geld auf der Sparkasse.“ „An Geschäften mit Nylon-Mänteln waren Sie nicht beteiligt?“ Sie spielte – ziemlich ungeschickt – Erstaunen. „Nylon-Mäntel? Davon weiß ich nichts.“ „Sie trugen doch selbst einen. Man hat Sie und Frau Kufferath bei den Rennen oft in solchen Mänteln gesehen.“ „Ach so. Das meinen Sie. Da sieht man wieder mal, was die Leute alles zusammenreden, wenn der Tag lang ist. Meinen hatte mir meine Tante aus Westberlin geschickt, und daß Frau Kufferath einen besaß, das weiß ich gar nicht.“ „Auch nicht, daß man solche Mäntel in der Gastwirtschaft Tövelmann, wo Ihr Mann freundschaftlich verkehrte, kaufen konnte?“ „Das höre ich jetzt zum erstenmal.“ „Dann haben Sie wohl auch in dieser Zeit nicht mir Ernst Hell zu tun gehabt?“ „Und wenn Sie noch so ironisch fragen – nein! Ernst Hell war mir immer unsympathisch. Er ist ganz anders als Werner …“ Ihr Gesicht überschattete sich jäh. Unvermittelt fragte ich: „Wo waren Sie am sechzehnten November vorigen Jahres?“ Entweder war sie wirklich unbefangen oder viel gerissener als Kufferath; sie zuckte weder zusammen, noch atmete sie rascher, und ihre Augen blieben ausdruckslos. „Am sechzehnten November?“ fragte sie ruhig und tat, als dächte sie nach; vielleicht tat sie es sogar. „Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Wahrscheinlich zu 155
Hause. Oder im Kino. Wenn der Sechzehnte ein Renntag war, wohl auch draußen an der Bahn. Wenn ich länger nachdenken kann, komme ich vielleicht noch drauf, aber ich glaube nicht.“ „Waren Sie überhaupt in Berlin?“ Sie hob die Brauen. „Wo sollte ich denn sonst gewesen sein?“ „Nun, beispielsweise – verreist.“ „Nein, das weiß ich bestimmt: Verreist war ich im November überhaupt nicht. Auch nicht Ende Oktober oder Anfang Dezember.“ Nach den Angaben der Meldezettel stimmte das. Ich reichte ihr das Foto des an der Brücke Ermordeten hinüber. „Kennen Sie diesen Mann?“ Dabei beobachtete ich sie scharf. Sie sah sich das Bild lange und aufmerksam an. „Er hat ja die Augen zu“, murmelte sie verwundert. Ihre Hände zitterten nicht, ihr Atem ging regelmäßig. Endlich sagte sie: „Ich habe ihn nie gesehen.“ Dabei gab sie mir das Foto mit einem leichten Kopfschütteln zurück. Ich wechselte sprunghaft das Thema. „Wohin war denn Werner Hell Mitte November gefahren?“ Auch damit hatte ich keinen Erfolg: sie blieb ruhig und dachte nach. „Wenn ich mich recht erinnere“, sagte sie dann, „war er vom Chef beurlaubt, um seinen Bruder zu besuchen, der für ein paar Tage aus dem Westen in die DDR gekommen war. Aus welcher Stadt, weiß ich nicht, auch nicht, wohin. Ich habe mit Werner nur selten über seinen Bruder gesprochen.“ „Mochte er ihn auch nicht?“ „Ich glaube, nein. Aber Werner war sehr gutmütig.“ „War Ihr Mann im letzten Jahr öfter krank?“ „Mein Mann …“ Auch dieser neue, abrupte Gedan156
kensprung verwirrte sie nicht. Aber gerade deshalb erhielt ich eine wichtige Aussage. „Mein Mann war nie ernsthaft krank, solange ich ihn kenne.“ „Ernsthaft vielleicht nicht. Ich dachte …, nun, beispielsweise an einer Grippe oder dergleichen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht einmal einen Schnupfen oder Husten hat er gehabt.“ „Es wäre ja immerhin möglich gewesen“, sagte ich gleichsam entschuldigend. „Im November ist es oft sehr feuchtkalt.“ Erst jetzt stutzte sie, aber kaum merklich. Doch sie hielt es für zweckmäßig, ihre Aussage nicht mehr zu ändern. „Auch im November nicht“, wiederholte sie bestimmt. „Er hätte also ohne weiteres verreisen können?“ Etwas gedehnt antwortete sie: „Ja – warum nicht?“ „War er denn verreist?“ Wieder das lange Nachdenken, diesmal nicht sehr geschickt gespielt, und schließlich: „Es wäre möglich, aber ich kann mich wirklich nicht daran erinnern.“ Dann, als sie mein ungläubiges Gesicht sah, etwas hastig: „Wir standen nicht so zusammen, daß er mit mir über seine beruflichen Dinge sprach. Wenn er verreiste, habe ich selten vorher erfahren, wohin, und nachher auch meist nur aus seinen Gesprächen mit dem Chef oder anderen.“ „Schön, Frau Leysing; das ist auch nicht so wichtig. Aber sagen Sie mir mal, warum Sie, als Ihr Mann von Werner Hell in der Futterkammer niedergeschlagen wurde, ruhig draußen stehenblieben und zuhörten.“ „Ich habe nichts gehört!“ rief sie rauh. In ihre sonst ziemlich ausdrucklosen Augen kam Leben: sie glitzerten böse in dem hell durchs Fenster einfallenden Licht. „Das glaube ich Ihnen nicht, Frau Leysing.“ Sie zuckte die Achseln. „Dann lassen Sie es bleiben.“ 157
„Das werde ich nicht tun. Im Gegenteil, ich werde genau feststellen, wo Sie sich in der Zeit zwischen dem Füttern der beiden ersten Pferde und dem Herauskommen Werner Hells aus der Futterkammer aufhielten …“ „An der Quarantäneschranke!“ „… und was Sie während dieser zehn bis fünfzehn Minuten getan haben.“ „Ich, getan?“ „In der Futterkammer.“ Sie lachte hysterisch. „Ich war nicht drin! Nein!“ Freundlich lächelnd schloß ich die Vernehmung ab. „Beruhigen Sie sich, Frau Leysing. Sie können doch, wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, völlig unbesorgt sein. Wir werden nämlich ganz bestimmt alles herausbekommen. Herr Schimanski wird uns dabei helfen müssen.“ „Wer?“ Ihre Überraschung war unverkennbar echt. Spontan rief sie: „Der war doch gar nicht dabei!“ Schnell packte ich zu: „Wobei?“ Aber wenn sie sich eben verplappert hatte, wußte sie es gewandt zu korrigieren. „Als ich am Stall wartete.“ Trotzdem war ihr Gesicht, als sie mit Leutnant Lorenz das Zimmer verließ, fleckig unter der Puderschicht. Sie warf mir einen haßerfüllten Blick zu. Ihre Augen waren also doch nicht ganz ausdruckslos.
28 Ich steckte mir eine Zigarre an und überlegte. Diese Vernehmung hatte trotz allem viel weniger ergeben, als ich mir gerade vor ihr versprochen hatte. 158
Frauen, auch unintelligente, sind im allgemeinen geschickter im Lügen als Männer; diese Erfahrung war mir wieder einmal bestätigt worden. Der viel klügere Friedrich Kufferath hatte sich von meiner Frage, wo er am 16. November gewesen sei, überrumpeln lassen und prompt geantwortet: in Berlin. Dann, als er seinen Fehler erkannte, trug er sein wohlvorbereitetes Alibi viel zu detailliert und lückenlos vor. Frau Edeltraut Leysing spielte mir, obwohl ich überzeugt war, daß auch für sie der 16. November wie die Tage vor- und nachher sehr bedeutungsvoll waren, eine völlig natürliche Reaktion vor: sie dachte nach und erklärte, sich im Augenblick nicht erinnern zu können. Leider halfen uns beide Aussagen nicht weiter. Nach den Meldezetteln waren weder Friedrich Kufferath noch Edeltraut Leysing zur fraglichen Zeit in Thüringen gewesen; wir hatten keinerlei Grund zu bezweifeln, daß sie sich in Berlin aufgehalten hatten. Mit einem Unterschied allerdings: Kufferath wußte – wie sein voreilig und allzu ausführlich beigebrachtes Alibi bewies –, daß dem 16. November eine besondere Bedeutung zukam, wahrscheinlich sogar, welche. Ebenso wußte er, daß seine Frau und Benno Leysing nach Weimar gefahren waren; sein Erschrecken ging jedoch nicht so sehr auf die Tatsache selbst als darauf, daß sie uns bekannt war. Ich zweifelte auch keine Sekunde, daß er recht genau wußte, warum und wohin er Werner Hell beurlaubt hatte. Gewiß, er war jetzt aus seiner vermeintlichen Sicherheit aufgestört worden; aber war das vorteilhaft? Nein, er war gewarnt. Zumal er sich einmal sehr zu seinem Ärger verplappert hatte: es war ihm genau bekannt, daß Werner Hell seinen Bruder Ernst getroffen hatte. Leider wußten wir jedoch von diesem Ernst Hell bitter wenig. Er war eine dunkle Existenz, ein Schieber. 159
Mehrere Tage lang hatte er in Erfurt in einem zweitrangigen Hotel gewohnt. Schön, das sagte uns bestenfalls, wohin sein Bruder Werner gefahren war, obwohl dieser merkwürdigerweise in Jena übernachtet hatte. Was konnte das bedeuten? Sehr unwahrscheinlich war, daß Ernst Hell, der „Geschäftsmann“ aus dem Westen, etwas mit dem Verschachern von Gebrauchtwagen zu tun gehabt hatte. Er konnte, ohne erwischt zu werden, keine Kraftfahrzeuge in die DDR bringen, und umgekehrt wäre der Versuch, Gebrauchtwagen in die Bundesrepublik zu „exportieren“, unsinnig gewesen, denn dort gab es mehr als genug. Weshalb also hielt er sich mehrere Tage in Thüringen auf? Weshalb war er nicht mit seinem Bruder nach Berlin gekommen, um die Mutter zu besuchen? Gegen ihn lag doch nichts Greifbares vor; man hätte ihn anstandslos hereingelassen. Fragen über Fragen. Aber was konnte mir die ganze Grübelei helfen? Nichts. Werner war tot, und Ernst befand sich seit Monaten in Hannover oder wo sonst er wohnte; nicht einmal als Zeuge kam er für uns in Betracht. Warum hatte Frau Leysing nachweisbar gelogen? Nachweisbar überhaupt nicht! Als sie es einmal versuchte – nämlich ihr Verhältnis mit Kufferath abzuleugnen –, war es ihr mißglückt. Auch ihre tieferen Gefühle für Werner Hell hatte sie nicht verbergen können. Doch davon wußten wir bereits seit ihrem Zusammenbruch im Hause der Rennleitung. In einem Punkt hatte sie sogar die Wahrheit gesagt und damit eine Lüge Kufferaths widerlegt: Ihr Mann war nie krank gewesen, hatte also, was wir jedoch schon aus den Meldezetteln wußten, nicht mit einer Grippe daheim, sondern gesund im Weimarer ‚Elephanten‘ zu Bett gelegen. Zur selben Zeit übrigens, als dort auch Frau Kufferath logierte. 160
Einigermaßen glaubhaft war, daß Frau Leysing nicht als Elke Dalibor bei den Schiebungen mit Kraftwagen in Erscheinung getreten war – was ich übrigens bestimmt erwartet hatte. Sollte Frau Kufferath diese Rolle gespielt haben? Nun, wir würden sehen. Wichtig schien mir, wie Frau Leysing ihren Freund Werner charakterisierte. Dabei klang etwas an, deutlicher als bei den anderen Zeugenaussagen, was den Totschlag oder Mord wie den Selbstmord des jungen Trainers psychologisch vielleicht begreifbar machen konnte. Werner Hell war als Sportler nervenstark und zielbewußt, im übrigen jedoch weich und leicht lenkbar. War er dieser robusten und wahrscheinlich primitiv-sinnlichen Frau Edeltraut hörig gewesen? Warum war ihr Ernst Hell, der Bruder, unsympathisch? Denn da hatte sie kaum gelogen, es gab dafür keinen vernünftigen Grund; man konnte es ihr glauben. Er war ein Schieber, wie sie eine Schieberin war. Bestimmt verfügte er über mehr Intelligenz. Konkurrenzneid? Oder hatte er sie – als Partnerin in der ominösen Mantelsache – begaunert? Auffallend war wiederum, wie Frau Leysing, als ich die Sache aufgriff, Frau Kufferath, die sie bestimmt nicht sonderlich liebte, mit dem gleichen Argument herauszupauken versuchte wie vorher Friedrich Theodor Kufferath. Doch hatte diese läppische Mantelgeschichte überhaupt eine Bedeutung für unseren Fall? Wohl kaum. Bestenfalls illustrierte sie, wenn sie aufgeklärt werden konnte, das Schiebermilieu und die Schiebersolidarität. Möglich war sogar, daß diese Aussage der Frau Leysing – im Gegensatz zu den Mitteilungen des Zeugen Löhrke – ausnahmsweise stimmte. Ich muß gestehen, daß ich an einer Stelle der Vernehmung besonders enttäuscht war: als ich nämlich 161
Frau Leysing das Foto des an der Brücke Ermordeten zeigte. Gewiß war diese Frau, wie ihr Verhalten zu ihrem schwerverletzten Mann bewies, gefühlsroh genug, keinerlei starke Bewegung zu zeigen, falls sie den Toten kannte. Aber ich hatte sie so genau beobachtet, daß mir selbst die geringste Reaktion wohl kaum entgangen wäre. Sie kannte ihn wirklich nicht. Aber dann konnte sie es auch nicht gewesen sein – das war meine große Enttäuschung –, die mit diesem Mann die kleine Gastwirtschaft bei Weimar besucht hatte. Hinzu kam, daß sie sich, was allerdings noch sehr genau zu erkunden war, zur fraglichen Zeit in Berlin aufgehalten hatte. Ich durfte sie also nicht weiter, auch nicht bei mir selbst, der Beihilfe zum Mord an der Brücke verdächtigen. Fehlspekulationen führen, wenn man sie nicht rechtzeitig und entschieden verwirft, gar zu leicht in die Irre und versperren die Sicht auf Tatsachen. Der Beihilfe jedoch zum Erschlagen ihres Mannes war ich nach dieser Vernehmung noch sicherer als zuvor. Aber Beweise? Nein, die hatten wir nicht. Werner Hell war tot, Zeugen gab es nicht – außer dem Nachtwächter Bottrich, der Frau Leysing entlastete –, und sie selbst würde sich hüten, es jemals einzugestehen. Sie konnte sich leider weiterhin ganz sicher fühlen. Und wieder begann ich über die mögliche Teilnahme Schimanskis an dem Verbrechen nachzusinnen … „Die Zeugin Kufferath ist bereits seit einer Viertelstunde im Hause“, unterbrach Frau Wulf meine ärgerlichen Überlegungen. „Stellen Sie fest, Genossin Wulf, ob Oberleutnant Becker inzwischen mit dem Vernehmungsprotokoll Kufferaths fertig ist. Ich brauche ihn hier. Andernfalls muß die Dame noch warten.“ 162
Frau Wulf telefonierte. Es traf sich gut: Kufferath hatte soeben das Haus verlassen, und Becker war schon auf dem Wege zu mir. „Holen Sie bitte die Zeugin Jutta Kufferath.“
29 Sie trug ein dunkles, mattrotes Straßenkostüm aus bestem Stoff, erstklassig gearbeitet, durch seine Einfachheit und dezente Betonung der Linie bestechend, und was mehr war: sie wußte es zu tragen. Ohne dazu aufgefordert zu werden, reichte sie Becker ihren Ausweis und wandte sich mit ihren großen, ausdrucksvollen Augen fragend an mich: „Bitte?“ Ich erteilte ihr die übliche Zeugenbelehrung, die sie leicht lächelnd anhörte. „Wenn Sie rauchen möchten …“ „Danke, gern.“ Es war bezeichnend für sie, daß sie mir nichts vorzumachen versuchte wie Frau Leysing; sie entnahm ihrer Handtasche ganz selbstverständlich eine Packung der gleichen westlichen Filterzigaretten, die sie auch zu Hause geraucht hatte. „Wann haben Sie Herrn Kufferath geheiratet?“ „Im Februar neunzehnhunderteinundfünfzig.“ „Ihre erste Ehe?“ „Ja. Er war Witwer.“ „Ich weiß“, nickte ich beiläufig und fuhr fort: „Sie werden meine Frage vielleicht etwas ungewöhnlich finden, Frau Kufferath, aber für mich gehört sie zur Sache: Wollen Sie mir bitte etwas über Ihr Elternhaus erzählen?“ „Mein Vater war Professor. Er las Kultur- und Kunstge163
schichte. Professor Dietrich Thomas, wenn Ihnen der Name etwas sagt?“ „Leider nicht.“ „Neunzehnhundertsechsunddreißig war er den Herren nicht mehr genehm. Sie entzogen ihm den Lehrauftrag und pensionierten ihn vorzeitig.“ „Warum?“ Sie lächelte. Es war ein kluges, feines Lächeln. „Weil er, obwohl kein sogenannter Antifaschist, der Ansicht war und sie unklugerweise auch offen aussprach, daß nicht alle Kultur und Kunst germanischen oder, wie es damals hieß, arischen Ursprungs sei.“ Sie tat einen langen, ruhigen Zug aus ihrer Zigarette und wedelte den Rauch mit zwei, drei lässigen Handbewegungen fort. „Anfang neunzehnhundertfünfundvierzig ist er gestorben. Er war herzleidend.“ „Sie blieben allein zurück?“ „Mit meiner Mutter. Wir mußten unser Haus in Haiensee aufgeben und bekamen eine Zweizimmerwohnung in Friedrichsfelde. Übrigens“ – sie lächelte wieder – „in einem alten, halbzerbombten Mietshaus gegenüber der Fleischerei Kufferath.“ „Diese Umstellung war für sie sehr schwer?“ „Hauptsächlich für meine Mutter. Sie starb Ende neunzehnhundertneunundvierzig.“ „Wovon haben Sie in dieser Zeit gelebt? Haben Sie gearbeitet?“ „Was hätte ich arbeiten sollen? Ich hatte doch außer einem bißchen Klavierspielen und etwas Kunstgeschichte nichts gelernt. Dafür war damals kein Bedarf. Meine Mutter, Tochter eines höheren Potsdamer Beamten, hätte es auch nicht zugelassen, daß ich arbeitete; sie lebte in völlig veralteten Standesvorurteilen, sie hat auch die Haltung meines Vaters nie verstanden.“ 164
„Trotzdem hätten Sie doch …“ Sie unterbrach mich mit einem Kopfschütteln. „Wenn ich einen Versuch machte – einmal als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt, ein andermal als Führerin durch eine ziemlich improvisierte Gemäldeausstellung –, legte sie sich zu Bett und spielte demonstrativ krank.“ Sie seufzte leicht, nicht ohne Ironie. „Sie werden also verstehen, daß ich, nachdem meine Mutter gestorben war, mir Herrn Kufferaths Angebot, ihn zu heiraten, nicht allzusehr überlegte.“ Sie endete deutlich maliziös: „Das war doch der tiefere Sinn ihrer Frage?“ Ohne darauf einzugehen, vernahm ich sie weiter. „Wovon haben Sie denn, wenn Sie nicht arbeiteten, den Unterhalt für sich und Ihre Mutter bestritten?“ „Vom Verkauf ihres Familienschmucks, der Bibliothek meines Vaters und einiger wertvoller Gemälde.“ „Ich verstehe. Aber das konnte so nicht ewig weitergehen.“ „Als Herr Kufferath mich heiratete, war ich mehr als am Ende. Aber er war sehr großzügig und rücksichtsvoll. Ich mußte ihm dankbar sein.“ Das alles war recht aufschlußreich, und ich bedauerte nicht, die Vernehmung so eingeleitet zu haben, obgleich ich wußte, daß mein braver Oberleutnant Becker an seinem Ecktischchen diese „Zeitverschwendung“ sicherlich sehr mißbilligte. Möglichst zurückhaltend fragte ich weiter: „Beim Verkauf der erwähnten Gegenstände haben Sie sich doch eine gewisse Geschäftstüchtigkeit erworben?“ Kein Zweifel, Frau Kufferath hatte sofort begriffen, worauf ich hinauswollte; und sie parierte sehr geschickt, sie versuchte weder abzuleugnen noch zu bagatellisieren, sondern nickte. „Gewiß, das konnte ja nicht ausbleiben. Und das war gut. Denn so vermochte ich meinem Mann, der 165
dazu neigte, sein Geschäft auf Kosten seiner sportlichen Liebhaberei zu vernachlässigen, wenigstens etwas in die Ehe mitzubringen. Ich lernte schnell, Fleischmarken abzurechnen, die Bücher zu führen, die Angestellten zu beaufsichtigen, Steuerangelegenheiten zu ordnen und so weiter.“ „Dabei bekamen Sie selbstverständlich auch Einsichten und Kenntnisse hinsichtlich des Rennstalls, des Pferdekaufs und der Aufzucht?“ „Selbstverständlich. Allmählich arbeitete ich mich auch dort in den geschäftlichen Teil ein. Ich möchte jedoch, wenn Ihre Frage in diese Richtung zielt, gleich feststellen, daß Geschäft und Rennstall finanziell getrennt und unabhängig voneinander geführt werden.“ „Das habe ich nicht anders erwartet“, sagte ich obenhin. Ich lächelte ihr freundlich zu. „Vorerst, Frau Kufferath, zielen meine Fragen noch in gar keine bestimmte Richtung. Ich möchte mir nur ein möglichst umfassendes Gesamtbild machen, sozusagen den Hintergrund kennenlernen, von dem sich das, was Werner Hell getan hat, abhebt oder mit ihm verschmilzt. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich von einem Geschäft wie etwa einer Fleischerei recht wenig und vom Rennbahnbetrieb so gut wie nichts verstehe.“ Es war ihr nicht im geringsten anzumerken, ob es mir damit gelungen war, ihr, was ich beabsichtigte, eine gewisse Überlegenheit zu suggerieren, die sie zu weniger genau durchdachten Äußerungen verleiten würde. Und Oberleutnant Becker tadelte mich jetzt bestimmt noch stärker, „Bitte, Herr Kommissar, fragen Sie. Dazu bin ich hier.“ Die Frau in der Auskunftsstelle eines Bahnhofes hätte es nicht gelassener und sachlicher sagen können. „Wollen Sie mich bitte nicht mit Kommissar anreden; diesen Dienstgrad gibt es bei uns nicht mehr. Ich heiße Brückner.“ 166
Ganz konventionell, fast im Plauderton sagte ich das. Mit einem „Entschuldigen Sie“ nahm sie es zur Kenntnis. „Die finanzielle Trennung der beiden Unternehmen hört jedoch bei jenen Einkünften und Gewinnen auf, die für Sie zur privaten Verwendung bleiben?“ Sie lachte. „Warum fragen Sie so umständlich, Herr Brückner, statt geradezu? Was Sie wissen wollen, ist doch wohl dies: Ich lebe mit meinem Mann in Gütertrennung. Mir gehört nichts. Trotzdem habe ich mich noch nie darüber zu beklagen gehabt. Ich kann nur wiederholen: Er ist sehr großzügig in jeder Hinsicht, und ich habe nie Anlaß gehabt, meine Ehe mit ihm zu bedauern.“ Da versuchte ich meine erste direkte Überrumpelung: trocken warf ich ein: „Auch nicht, als er das Verhältnis mit Frau Leysing hatte?“ Ohne die kleinste Schwankung in ihrer schönen, tiefen Stimme und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, antwortete sie: „Auch da nicht. Nein. Eine Traut Leysing kann mir nicht gefährlich werden, und jeder Mann begeht hie und da mal eine Geschmacklosigkeit.“ Da hatte ich meine Abfuhr weg. Als Kriminalist meine ich natürlich. Aber ich war jetzt sicher, daß Frau Kufferath wohlvorbereitet zur Vernehmung gekommen war und alle möglichen Fragen und Antworten gründlich durchdacht hatte. Dennoch blieb ich beim Thema. „Sie haben Frau Leysing bei vielen Fahrten in die Republik, nach Sachsen und nach Thüringen, mitgenommen?“ „Es kommt darauf an, was Sie unter ‚vielen‘ verstehen. Wir haben gemeinsam einige Städte besucht und sie uns angesehen.“ „Ich weiß. Besonders schön war es in Weimar, nicht wahr?“ 167
Nicht einmal auf diese Provokation reagierte sie merkbar. Mit einem Anflug von Spott antwortete sie: „Mir haben die Kunstsammlungen in Dresden mehr gegeben. Aber dort war ich allein, ohne Frau Leysing.“ „Ich weiß.“ Und wieder suchte ich sie zu überraschen. „Zusammen waren Sie in Meißen und in Erfurt, von wo aus Sie mehrfach nach Weimar fuhren. In Weimar waren Sie Mitte November zusammen mit Herrn Benno Leysing. Sie wohnten beide im ‚Elephanten‘, nicht wahr?“ Sie lächelte wiederum, und dieses Lächeln war schön, fraulich herablassend, nicht im geringsten forciert oder gar verzerrt. „Das ist möglich“, sagte sie gelassen und tat, als denke sie nach. „Ich habe öfter einen der Herren, wenn mich mein Mann darum bat, in meinem Wagen mitgenommen, mal Herrn Leysing, mal Werner Hell, wenn diese zufällig in derselben Gegend beruflich zu tun hatten. Oder“ – ihr Lächeln vertiefte sich – „nehmen Sie an, daß ich ausgerechnet mit Herrn Leysing, einem Typ, der mir so ganz und gar nicht liegt, nach Weimar in den ‚Elephanten‘ fahre, um mich dort mit ihm …“ Sie brach ab und lachte. Ich mußte mich beherrschen, um sie meinen Ärger nicht merken zu lassen. Leutnant Lorenz hatte recht: Diese Frau war als Gegnerin – und nicht nur als Gegnerin – von anderem Format als die undifferenzierte Edeltraut Leysing. Ich zwang mich, zustimmend mitzulachen, bevor ich weiterfragte: „Da wir nun schon einmal von Typ und Typen sprechen, möchte ich gern Ihre Meinung hören …“ „Bitte?“ Sie sah mich, immer noch ein verstecktes Lachen in den Augenwinkeln, erwartungsvoll an. „War es für Sie nicht schrecklich langweilig und enttäuschend, Frau Leysing, die Schiller und Goethe verwechselte und auch nicht das leiseste Bedürfnis verspürt, ihre Un168
bildung zu mindern, zum Besuch von Gemäldegalerien und Gedenkstätten, ins Theater oder, sagen wir, auf die Wartburg und in den Erfurter Dom mitzuschleppen? Sie muß dabei doch entsetzlich dummes Zeug geredet haben.“ Endlich hatte ich sie soweit. Schon während ich sprach, sah ich ihr an, daß sie nach einer einigermaßen überzeugenden Antwort suchte. Aber sie fand keine. „Ja“, sagte sie schließlich, „es war verlorene Liebesmüh, Trautchen Leysing irgendwelche historischen oder künstlerischen Dinge näherbringen zu wollen.“ „Nun ja“, setzte ich erneut zum Angriff an, „in der Hauptsache hatten Sie doch dort geschäftlich zu tun.“ Ich beobachtete sie genau. Nur über die winzigen Fältchen in ihren Augenwinkeln – Krähenfüße wäre zuviel gesagt – lief ein ganz leichtes Zittern und vertiefte sie. Aber der klangvollen, ruhigen Altstimme war nichts anzuhören, als Frau Kufferath, die Brauen hebend, fragte: „Geschäftlich?“ Ich nickte. „Geschäftlich.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ Und wieder ihr tiefes, unbefangenes Lachen. Ich wagte einen sehr verzweifelten Vorstoß. „Die Zahnärztin Elke Dalibor ist Ihnen doch nicht unbekannt?“ Endlich eine erkennbare Reaktion: ihre Hand, die eben die Zigarette zum Munde führen wollte, verhielt kurz, mitten in der Bewegung. Dann aber tat Frau Kufferath zwei tiefe Lungenzüge, bevor sie, den Gesichtsausdruck unverändert, antwortete: „Ich habe diesen Namen, abgesehen von Smetanas Opernhelden, nie gehört. Und dann“ – jetzt schon wieder völlig beherrscht und ganz obenhin –, „was sollten wir ausgerechnet in Weimar mit einer Zahnärztin zu tun gehabt haben?“ Mit ihren auffallend schönen, gepflegten Fingern schob sie kurz ihre Lippen auseinander. „Wie Sie 169
sehen, habe ich völlig gesunde Zähne. Traut Leysing, nehme ich an, wohl ebenfalls. Jedenfalls hat sie unterwegs nie über Zahnschmerzen geklagt.“ „Jetzt waren Sie unvorsichtig, Frau Kufferath“, griff ich rasch zu. „Woher wissen Sie denn, daß diese Zahnärztin Dalibor in Weimar zu Hause ist?“ Sie benötigte nur einen Sekundenbruchteil, um meinen Stoß zu parieren. „Weil wir die ganze Zeit von Weimar sprechen.“ Es wäre sinnlos gewesen, diese Angelegenheit jetzt weiter zu verfolgen. „Ich möchte noch einmal auf unser früheres Thema zurückkommen, Frau Kufferath“, sagte ich. „Zeitweise ging doch das Geschäft – ich meine die Fleischerei – nicht sehr gut. Auch im Rennstall gab es eine bedenkliche Flaute.“ Sie nickte zuvorkommend. „Eben deshalb hatte mein Mann Werner Hell als Trainer und Fahrer engagiert; er versprach sich davon für die nächste Saison einen Aufschwung. Der wäre übrigens auch, wenn nicht das furchtbare Unglück geschehen wäre, bestimmt erfolgt.“ „Dann verstehe ich aber nicht, weshalb Sie, Frau Kufferath, Werner Hell gekündigt haben.“ Sie machte eine kurze, ärgerliche Geste. „Das ist doch ein Märchen. Wahrscheinlich hat es Herr Leysing in die Welt gesetzt. Er wollte Werner Hell los sein, nicht aber ich oder mein Mann. Das habe ich Ihnen doch schon einmal erklärt. Warum fragen Sie immer wieder danach? Glauben Sie mir nicht?“ Sie beugte sich vor und spielte – geschmackvoll, ohne zu übertreiben – die taktlos behandelte Dame. Ohne darauf zu antworten, denn ich kann sehr unhöflich sein, wenn es die Sache erfordert, fragte ich: „Wie haben Sie damals die Krise im Geschäft überwunden?“ 170
„Welche Krise?“ Sie war jetzt ganz Spannung, ihre überschlanke, große Gestalt ging merklich über in Abwehrhaltung. „Als sich damals viele Kunden anderwärts eintragen ließen, weil Ihr Mann wegen Schwarzschlachtens und Preistreiberei ins Gefängnis mußte.“ Wenn ich erwartet hatte, daß sie sich von diesem neuen überraschenden Stoß getroffen zeigen würde, hatte ich mich sehr getäuscht. Im Gegenteil, sie lockerte sofort ihre Haltung. Sie war zu klug, um nicht zu wissen, daß es für uns leicht gewesen war, die Vorstrafen ihres Mannes zu erkunden; und sie dachte schnell und präzise genug, um zu erkennen, daß diese Vorstrafe kaum mit dem gegenwärtigen Fall in Zusammenhang zu bringen war. Sie konnte sich sicher wähnen. „Von einer Krise kann überhaupt keine Rede sein“, antwortete sie ruhig. „Das Geschäft ging zeitweise etwas schlechter, weiter gar nichts.“ „Auch im Rennstall ging es merklich mit den Einnahmen zurück, da doch der Chef fehlte.“ Sie nickte gelassen. „Das ist, wie ich schon sagte, der Grund, weshalb mein Mann später Werner Hell einstellte. Als er aus dem Gefängnis zurückgekommen war, erkannte er sehr bald, daß er es mit Benno Leysing allein nicht schaffen konnte; denn wenn ein Rennstall heruntergewirtschaftet ist, dauert es oft Jahre, bis wieder Zug hineinkommt.“ „Etwas ganz anderes, Frau Kufferath. Besitzen Sie noch den Nylon-Mantel, den Sie damals wie so viele Frauen trugen?“ Sie sah mich verwundert an, und diese Verwunderung schien echt zu sein. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Welchen Mantel?“ 171
„Nun, Sie werden sich erinnern – besonders als Frau –, daß es etwa vor drei Jahren eine ganze Menge solcher Mäntelchen gab. Als Mann fehlen mir die erforderlichen Ausdrücke, um sie genauer zu kennzeichnen. Sie kamen aus dem Westen.“ „Aha, ich kann mir ungefähr vorstellen, was Sie meinen“, sagte sie etwas lebhafter und völlig unbefangen. „Sie meinen diese Fähnchen, die damals aufkamen, ja, jetzt erinnere ich mich. Traut Leysing trug zeitweise so ein Ding.“ Plötzlich erinnerte sie sich an meine Frage. „Wie …, und so etwas soll ich getragen haben? Es womöglich noch besitzen?“ Und da war wieder ihr klangvolles Lachen. „Nein, Herr Brückner.“ Dann sehr einfach, gleichsam erklärend: „Ich trage keine Konfektion, nur maßgearbeitete Kleidungsstücke. Nicht etwa nur, weil es schöner, sondern vor allem, weil es auf die Dauer preiswerter ist.“ „Kennen Sie diesen Mann?“ Unvermittelt schob ich ihr das Foto des an der Brücke Ermordeten über den Tisch. Sie nahm es und betrachtete es lange. Nicht die geringste Erregung war ihr dabei anzumerken. Ähnlich wie Frau Leysing sagte sie dann etwas erstaunt: „Warum hat er die Augen geschlossen?“ „Er ist tot.“ „Ach?“ Sie hob nur den Kopf und sah mich fragend an. „Kennen Sie ihn?“ Abermals betrachtete sie das Foto eingehend. „Der Mann kommt mir irgendwie bekannt vor. Mir ist, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Aber nein … Wahrscheinlich täuscht mich da eine Ähnlichkeit.“ „Mit wem?“ „Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach, aber ich komme nicht darauf.“ 172
War das gespielt? Es schien nicht so. Die Frau war zu klug, um nicht zu wissen, daß wir, wenn ich ihr bei einer Vernehmung das Foto eines Toten zeigte, einen Zusammenhang mit ihr zumindest vermuteten. Sie hätte dann allerdings einfach nein sagen können. Weshalb tat sie es nicht? Sollte ich versuchen – überlegte ich schnell –, bei ihr eine Art Schockwirkung auszulösen, indem ich sagte: Dieser Mann ist an demselben Tage in der Nähe Weimars ermordet worden, als Sie sich dort mit Herrn Leysing aufhielten? Nein, dazu glaubte ich sie schon zu gut zu kennen; sie würde auch diesen Vorstoß gelassen abwehren und wäre, falls sie tatsächlich in die Sache verwickelt war, nur gewarnt. Sie würde sofort andere, vielleicht den Täter warnen. Ich unterließ es also und nahm die Fotografie zurück. „Danke, Frau Kufferath“, sagte ich. „Leider müssen Sie sich nun noch einer kleinen Unbequemlichkeit unterziehen. Mein Kollege Becker wird jetzt mit Ihnen das Vernehmungsprotokoll aufsetzen. Doch vorher muß ich Sie bitten, sich fotografieren zu lassen; wir brauchen nämlich Ihr Bild.“ „Was brauchen Sie?“ fragte sie, als hätte sie nicht recht gehört. „Ihr Bild.“ Sie stand auf. „Was soll das?“ fragte sie hart, und jetzt schwang in ihrer tiefen, klangvollen Stimme eine solche Energie mit, wie ich sie selbst bei ihr nicht vermutet hätte. „Das müssen Sie mir überlassen, Frau Kufferath.“ „Ich weigere mich! Dazu haben Sie kein Recht.“ „Schön, Frau Kufferath, wenn Sie auf Ihrem Recht bestehen, statt uns zu helfen, ein Verbrechen aufzuklären, dann muß auch ich von meinem Recht Gebrauch 173
machen. Das wäre allerdings für Sie mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden.“ „Sie können mich nicht zwingen! Ich habe nichts mit irgendwelchen Verbrechen zu tun.“ Sie schrie nicht, sie verzerrte ihr schönes Gesicht nicht, sie sprach nur etwas lauter und sehr bestimmt. Ich ließ mich nicht hinreißen, sondern blieb betont höflich, beinahe freundlich. „Eben das möchte ich feststellen, und dazu benötigen wir unter anderem auch Ihr Bild. – Sie wollen nicht?“ „Nein.“ „Schön, dann werden wir es uns auf dem Dienstwege beschaffen. Ich werde Sie wegen Verdunklungsgefahr festnehmen. Dann kann ich Sie fotografieren lassen, soviel ich will. Ich könnte übrigens auch ohne Schwierigkeit einen Befehl zur Haussuchung erwirken, um in Ihrer Wohnung nach brauchbaren Fotografien zu fahnden.“ Sie lächelte überlegen. Ganz bestimmt war sie aufs äußerste erregt und verwirrt, aber sie beherrschte sich in einem Maße; wie ich es in meiner langjährigen Praxis kaum erlebt hatte. „Um mich festnehmen zu lassen“, sagte sie leise, ohne daß das Lächeln aus ihrem Gesicht wich, „müßten Sie einen Haftbefehl vorweisen.“ „Sie sind erstaunlich gut informiert, Frau Kufferath“, antwortete ich, ohne meinen sachlich-höflichen Ton aufzugeben, „aber leider nicht vollständig. Bei akuter Verdunklungsgefahr habe ich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, jemand festzunehmen und den Haftbefehl nachzuholen. Ich bin entschlossen, diese Verantwortung auf mich zu nehmen.“ Wir standen uns nah gegenüber. Sie war ebenso groß 174
wie ich; unsere Augen trafen sich in gleicher Höhe. Es war ein stiller, harter Kampf. „Gut“, sagte sie plötzlich. „Ich will Ihnen helfen. Lassen Sie mich fotografieren.“ Sie folgte Oberleutnant Becker, der schon an der Tür stand und sie mit einer höflich einladenden Geste öffnete.
30 Was, das praktisch verwendbar war, hatte ich nun bei dieser Vernehmung erfahren? Darüber dachte ich kurz nach. Oberflächlich gesehen, war es wenig. Diese Frau Kufferath war nicht gerissen, sie war klug. Im stillen bewunderte ich, trotz allen Ärgers, ihre Fähigkeit, blitzschnell zu folgern, schon aus der ersten, andeutenden Frage zu erkennen, wohin ich zu steuern gedachte. Damit sah sie voraus, welche Überraschungsfrage von mir beabsichtigt war, und – es war keine mehr. Deshalb parierte sie gewandt wie eine Florettfechterin. Sie tat mir trotzdem ein bißchen leid. Was hätte aus dieser intelligenten, energischen und schönen Frau werden können, wenn sie rechtzeitig aus ihrem Elternhaus in ein Milieu gesunder, produktiver Arbeit gelangt wäre! Doch meine Aufgabe als Kriminalist war nicht, zu erkunden, warum sie ihre fehlgeleiteten guten Anlagen gesellschaftsfeindlich nutzte, sondern wie sie es tat. Gut, ich wußte jetzt, warum sie, die Professorentochter, zur Schwarzhändlerin und Schieberin – vielleicht zu Schlimmerem – geworden war, aber jetzt galt es, exakt zu ermitteln, was und wie sie Strafbares getan hatte. Dafür bot uns ihre Vernehmung jedoch nur wenige konkrete Anhaltspunkte. 175
Fest stand: Sie und Benno Leysing hatten sich zur Zeit des Mordes an der Brücke, am 16. November 1962, in Weimar aufgehalten, Werner Hell in Jena und dessen Bruder Ernst in Erfurt. Aber Frau Leysing und Herr Kufferath waren in Berlin geblieben. Diese Alibis mußten allerdings noch überprüft werden. Ich notierte es als Auftrag für Oberleutnant Becker und Polizeimeister Höllriegel. Genaugenommen, bedachte ich weiter, hatte ich noch keinen einzigen stichhaltigen Beweis, daß Frau Kufferath überhaupt in Schiebergeschäfte verwickelt war. Im Gegenteil, sogar die läppische Sache mit den Mänteln schien sich in Dunst aufzulösen; es war doch wohl nur ein Gerücht, entstanden im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen den Gastwirt Tövelmann. Frau Kufferaths gegenteilige Aussage hatte alle Wahrscheinlichkeit für sich. Oder war diese Aussage vorher von den beiden Frauen in Übereinstimmung gebracht worden? Kaum, denn sie konnten nicht wissen, daß danach gefragt werden würde. Aber wenn schon: das wären doch, wie man so sagt, Lappalien gewesen, ein magerer Beweis, daß sich Frau Kufferath vor Jahren einmal mit relativ geringfügigen Schiebergeschäften befaßt hatte. Was wir brauchten, wäre ein Nachweis, daß sie an großangelegten, organisierten Schiebungen beteiligt war. Gewiß, da gab es noch den zweiten Hinweis des Zeugen Löhrke: Kameras und Ferngläser, wertvolle Optik, die im Westen sehr gefragt und an der viel zu verdienen war. Allerdings war anzunehmen, daß diese Frau vorsichtig genug war, bei solchen Dingen nicht persönlich in Erscheinung zu treten und den Einkauf irgendwelchen Mittelsmännern gegen Provision zu überlassen. Etwa Frau Leysing, die sie familiär Traut nannte? Sollten also diese beiden so sehr verschiedenartigen, einander 176
bestimmt nicht sympathischen Frauen zu den Organisatoren oder gar Leitern des Schieberrings gehören? Aber war nicht Frau Leysing für dergleichen zu dumm? Nein, dazu gehört nicht unbedingt Klugheit, es genügt erfahrungsgemäß Gerissenheit, gepaart mit frechem Unbekümmertsein. Gerissen war die Leysing, unbekümmert erst recht; Ich stieß immer wieder auf die Frage: Welche Geschäfte hatten die beiden Frauen bei ihren Fahrten in Sachsen und Thüringen abgewickelt? In wessen Auftrag? Denn die Vorstellung, daß die wirklich musische Jutta Kufferath die völlig amusische Edeltraut Leysing zu mehrtägigen Fahrten mitgenommen haben sollte, bloß um ihr historische Bauten und Gemäldegalerien zu zeigen, war doch absurd bis zum Komischen. Wertvoll für uns war die von mir genau beobachtete Reaktion der Zeugin Kufferath, als ich ihr plötzlich das Bild des Ermordeten zeigte. Wenn man Frau Leysing die Verwunderung noch glauben konnte, weswegen der Mann mit geschlossenen Augen fotografiert worden war – Frau Kufferath hätte meines Einwurfs „Er ist tot“ bestimmt nicht bedurft, um zu erkennen, was sie da in der Hand hielt. Ihr Erstaunen war gespielt, und sie hatte im selben Augenblick erkannt, daß sie von mir durchschaut worden war. Da hatte sie blitzschnell überlegt: Man bringt mich mit diesem Toten in irgendeine Verbindung! Aber sie konnte unmöglich wissen, in welche. Ich glaube, nicht einmal Oberleutnant Becker ahnte, woran ich schon seit zwei Tagen immer wieder dachte; und ich würde mich hüten, es ihm anzuvertrauen, denn er würde meine vorerst noch nebulose, von keinerlei Tatsachen gestützte Vermutung bestimmt als „Spintisiererei à la Lorenz“ streng mißbilligen. Frau Kufferath jedoch, davon war ich überzeugt, spürte die ihr drohende Gefahr. 177
Sie reagierte rasch und – für sie – richtig. Sie sagte nicht wie Frau Leysing: „Ich kenne ihn nicht“, sondern gab sich eine scheinbare, wohlberechnete Blöße, indem sie sehr unbestimmt etwas von einer Ähnlichkeit redete. Dies mußte ihr Gedankengang gewesen sein: Man bringt mich mit dem Toten – selbstverständlich einem Ermordeten – in Zusammenhang. Gelingt es der Polizei, die Spur, die sie offenbar schon gefunden hat, bis zu Ende zu verfolgen und etwas herauszubekommen, dann bin ich, wenn ich mich jetzt ahnungslos stelle, später schwer belastet. So aber werde ich, indem ich mich darauf berufe, zugegeben zu haben, daß ich den Toten „irgendwie“ gekannt habe, hundertundeine Ausrede finden – je nachdem, was dann die Polizei ermittelt haben wird. Und schließlich mit der charakteristischen Überheblichkeit der meisten noch nicht überführten Gesetzesübertreter: Ich bin ja viel klüger und gewandter als diese Schnüffler … Ein grober Fehler, den ich dieser Frau nicht zugetraut hätte, war ihr allerdings unterlaufen: ihre impulsive Weigerung, sich fotografieren zu lassen. Da hatte ich also gut gezielt. Ihre Weigerung war eine von mir bewußt provozierte, unmittelbare, nicht überlegte, also nicht gespielte Reaktion gewesen. Sie bedauerte sie auch schon in der nächsten Sekunde, denn sie hatte erkannt, welche Spur ich weiter zu verfolgen gedachte. Aber da war es zu spät gewesen. Sie hatte, obwohl sie es erstaunlich gut hinter künstlicher Empörung zu verbergen wußte, für einen Augenblick die Nerven verloren. Das war, als ich mit Haussuchung drohte. Da gab sie schnell nach. Sie fürchtete sie. Frau Wulf kam herein. „Genosse Höllriegel ist zurück.“ „Soll gleich hereinkommen.“
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31 „Nun, was gibt’s?“ begrüßte ich ihn. „Der Zeuge Kufferath fuhr, wie Sie, Genosse Hauptmann, wohl auch vermutet haben, geradenwegs und in verkehrswidrigem Tempo zur Wohnung von Frau Leysing, zweifellos, um sie für eine eventuell bevorstehende Vernehmung zu instruieren. Da ich wußte, daß er mich nicht kennt, fuhr ich, ohne seine Rückkunft abzuwarten – er konnte ja dank unserer Vorsorge Frau Leysing gar nicht zu Hause antreffen –, zum Fleischerladen. Als ich Kufferaths Wagen herankommen sah, ging ich hinein und verlangte von der jungen Verkäuferin ein Viertel Wurst, die ich sehr umständlich auswählte. Sehr aufgeregt kam Kufferath herein. ‚Ist Jutta oben?‘ schrie er seine Schwester, die andere Verkäuferin, beinahe an. –‚Nein, sie ist vor einer Stunde weggefahren.‘ Er beherrschte sich so wenig, daß er trotz meiner Gegenwart – er beachtete mich gar nicht – laut fluchte: ‚Verdammter Dreck!‘ Und gleich danach fragte er: ‚War Frau Leysing hier?‘ –‚Nein.‘ –‚Die ist auch nie zu erreichen, wenn man sie braucht!‘ quengelte er. ‚Wenn sie kommen sollte, schicke sie sofort hinauf, sie soll unbedingt auf mich warten. Ebenso Jutta, falls sie kommt.‘ Er lief eilig hinaus. Ich hatte bereits gezahlt und folgte ihm. Er fuhr, wieder mit überhöhter Geschwindigkeit, zur Rennbahn; vielleicht hoffte er – eigentlich ganz sinnlos, aber es beweist, wie sehr er den Kopf verloren hatte – dort Frau Leysing zu treffen. Weil ich wußte, daß dies unmöglich war, kehrte ich nach hierher zurück.“ „Ist Ihnen eigentlich klar, Genosse Polizeimeister, weshalb ich Sie mit dieser Überwachung beauftragt hatte?“ 179
„Nicht ganz, Genosse Hauptmann. Denn für uns konnte doch gar kein Zweifel bestehen, daß diese drei Zeugen ihre Aussagen koordinieren und sich die jeweiligen Ergebnisse der Vernehmungen sofort mitteilen.“ „Richtig, soweit es sich um den Fall Werner Hell handelt. Darauf hatten sich die drei Zeugen jedoch so gut vorbereitet, daß sie keine Überraschungen zu fürchten brauchten; sie hätten sich nach den Vernehmungen kaum etwas aufregend Neues mitzuteilen gehabt. Kufferath würde es gar nicht eilig gehabt haben. Was ihn nun aber zur äußersten Eile trieb, war etwas ganz anderes: der Mord bei Weimar. Jetzt sind wir sicher, daß er auch davon zumindest einiges weiß. Es mußte ihm darauf ankommen, die beiden andern Zeugen schnellstens zu warnen, also hängen diese ebenfalls mit drin. Interessanterweise scheint ihm dabei die Leysing noch wichtiger zu sein als seine Frau, weil er zuerst zu ihr fuhr, obwohl die Leysing zur Zeit des Mordes in Berlin weilte, während sich seine Frau mit Benno Leysing in Weimar aufhielt.“ „Ist das nachgeprüft?“ „Aber das wissen Sie doch – die Meldezettel. Sie hat es auch nicht zu leugnen versucht.“ „Ich meine, ob Frau Leysing und Herr Kufferath tatsächlich in Berlin waren.“ „Ich habe mir das bereits als Auftrag für Sie und den Genossen Oberleutnant notiert. Sie werden, während ich mit Leutnant Lorenz in Thüringen arbeite, beide Alibis nachprüfen. Für heute habe ich noch eine andere, etwas heikle Aufgabe für Sie, Genosse Höllriegel. Wir brauchen für unsere Arbeit ein gutes Foto von Ernst Hell. Versuchen Sie die Mutter zu bewegen, daß sie Ihnen die bei ihr hängende Aufnahme ihres Sohnes Ernst für ein paar Stunden zum Kopieren überläßt. Wir 180
brauchen davon etwa ein halbes Dutzend gute Abzüge, dreizehn mal achtzehn. Wenn Sie irgend können, vermeiden Sie eine amtliche Beschlagnahme; wir wollen die alte, unglückliche Frau nicht unnötig aufregen.“ „Ich verstehe, Genosse Hauptmann.“ „Sodann brauchen wir für unsere Ermittlungstätigkeit in Thüringen einige Fotos, möglichst Schnappschüsse, von Frau Leysing. Ich erinnere mich, daß sie auf mehreren Amateuraufnahmen, die wir bereits aus der Wohnung Werner Hells mitgenommen haben, gut zu sehen ist. Lassen Sie sie herauskopieren und vergrößern. Ich will hoffen, daß es nicht notwendig werden wird, Aufnahmen in ihrer Wohnung zu beschlagnahmen. Vermeiden Sie das. Es ist besser, wenn die Frau nicht noch mehr gewarnt wird.“ „Auch ein halbes Dutzend dreizehn mal achtzehn?“ „Bitte. Und drittens: Sorgen Sie dafür, daß von den hier im Hause gemachten Aufnahmen der Frau Kufferath ebenfalls Vergrößerungen hergestellt werden.“ Höllriegel blickte fragend von seinem Notizbuch auf. „Danke, das wär’s für heute.“
32 Bevor Leutnant Lorenz und ich am andern Morgen abfuhren, hielten wir noch eine kurze Beratung ab. Wir planten die nächsten Aufgaben. Zunächst teilte uns Lorenz aber noch das Ergebnis seiner Beobachtung der Frau Leysing nach deren gestriger Vernehmung mit. Sie benutzte, weil sie nicht über einen Wagen verfügte, die öffentlichen Verkehrsmittel. Unterwegs versuchte sie mehrmals zu telefonieren; wie 181
nicht anders zu erwarten war, ergebnislos. Sie fuhr auch nicht nach Hause, sondern begab sich sofort in größter Eile in die Wohnung der Kufferaths. Leutnant Lorenz wartete, auf der gegenüberliegenden Straßenseite hin und her bummelnd, geduldig, bis zuerst Herr Kufferath zurückkam und eine gute Stunde später dessen Frau. Über zweieinhalb Stunden dauerte dann die „Konferenz“ der Zeugen. Danach brachte Herr Kufferath Frau Leysing in seinem Wagen nach Hause. „Es ist demnach erwiesen“, kommentierte Oberleutnant Becker diesen Bericht, „daß wir die drei Personen nicht nur mit den hiesigen Vorfällen, sondern auch mit dem Verbrechen bei Weimar in Zusammenhang zu bringen haben.“ Polizeimeister Höllriegel übergab mir die über Nacht angefertigten Fotografien. Sie waren für unsern Zweck sehr gut. Als ich ihn nach der Mutter der Brüder Hell fragte, berichtete er, daß sie immer noch sehr apathisch sei; was geschehen war, ging offenbar über ihr Begriffsvermögen. Zu seiner Bitte, ihm das Bild ihres Sohnes Ernst zu überlassen, habe sie nur mit verständnislosem Gesichtsausdruck genickt. Ihr war alles gleichgültig, dumpf verwirrend; der Schmerz überlagerte immer noch jedes andere Gefühl. Abschließend meldete Höllriegel: „Es ist mir gelungen, den ehemaligen Gastwirt Tövelmann ausfindig zu machen. Er arbeitet jetzt bei der städtischen Straßenreinigung und wohnt in Niederschönhausen. Ich werde ihn heute aufsuchen.“ „Wenn Sie oder Oberleutnant Becker irgend etwas Wichtiges ermitteln“, sagte ich, „dann teilen Sie uns das bitte sofort über Fernschreiber nach Erfurt mit. Das gilt besonders für die Überprüfung des Alibis der Edeltraut Leysing, aber auch des Friedrich Kufferath. – Sonst noch etwas, Genossen?“ 182
„Ja“, meldete Oberleutnant Becker, „heute nacht ist Benno Leysing, ohne noch einmal das Bewußtsein erlangt zu haben, verstorben. Seine Frau wurde vom Krankenhaus benachrichtigt.“ „Erkundigen Sie sich beiläufig, wie sich die Frau daraufhin verhielt.“ Wir verabschiedeten uns und fuhren nach Erfurt.
33 Dort wurden Lorenz und ich von dem Leiter der Abteilung K, einem dicken, aber sehr lebhaften Major, rückhaltlos freundlich begrüßt. Das freute uns, denn unterwegs hatten wir die leise Befürchtung gehabt, die Erfurter Kollegen würden vielleicht verstimmt oder gar verärgert sein, daß wir Berliner uns nun mit einem Fall beschäftigen, den sie nicht zum Abschluß hatten bringen können. Das traf glücklicherweise gar nicht zu. Wir spürten es an der Art, wie der Major uns begrüßte und sogleich mit einem seiner Mitarbeiter, dem Oberleutnant Quidde, der den Fall bisher bearbeitet hatte, bekannt machte und wie dieser reagierte. Wir setzten uns in Quiddes Zimmer. Er war ein mittelgroßer, äußerlich unscheinbarer, etwa vierzigjähriger und vorzeitig ergrauter Mann mit sehr aufmerksam blickenden hellen Augen in einem sonst ausdrucksarmen, knochigen Gesicht. Er sprach ruhig, sachlich und sicher. „Gemeinsam werden wir vielleicht doch weiterkommen“, sagte er schlicht. „Wir haben getan, was wir konnten.“ „Das haben wir Ihren Unterlagen entnommen, Genosse Oberleutnant“, antwortete ich, „ich wüßte nichts, was man 183
mehr hätte tun können. Genosse Lorenz und ich würden hier auch völlig überflüssig sein, wenn uns nicht ein Fall, den wir in Berlin bearbeiten, neue Zusammenhänge mit dem hiesigen gezeigt hätte.“ Ich machte Oberleutnant Quidde in großen Zügen mit den wichtigsten Ergebnissen unserer Berliner Ermittlungen bekannt. Nur das Aufleuchten seiner lebhaften hellen Augen ließ erkennen, wie er sofort ganz bei der Sache war. Dann machten wir uns noch einmal gemeinsam über die beiden dicken Erfurter Akten und die in Berlin von Oberleutnant Becker angefertigten zusammenfassenden Auszüge her. Wir arbeiteten sie abermals durch, und das dauerte mehrere Stunden, denn Oberleutnant Quidde konnte doch manches knappe Vernehmungsprotokoll mit nützlichen Bemerkungen und Hinweisen ergänzen oder kommentieren. Insgesamt waren von ihm und seinen Mitarbeitern einundzwanzig gesetzwidrige Käufe und Verkäufe von Kraftfahrzeugen ermittelt worden. „Wir müssen jedoch annehmen“, sagte er, „daß dies nur ein Bruchteil ist. Rechnen Sie mit einem durchschnittlichen illegalen Gewinn für die Zwischenhändler von drei- bis viertausend Mark je Fahrzeug, dann kommen Sie allein schon bei den von uns innerhalb eines Monats ermittelten Fällen auf die stattliche Summe von insgesamt sechzig- bis achtzigtausend Mark.“ Ich fragte ihn: „Ist unsere Vermutung richtig, daß es sich nicht um eine zufällige Häufung einzelner Schiebergeschäfte im hiesigen Bezirk, sondern um die organisierte Tätigkeit eines Rings handelt?“ „Ja, unbedingt. Aber dafür haben wir nur indirekte Beweise. Die Anzahl der in unserem Bezirk registrierten Käufe von Gebrauchtwagen ist ungewöhnlich hoch. Die 184
Fahrzeuge – zumeist Personenkraftwagen – sind hauptsächlich von Berlin und aus sächsischen Orten nach hierher gebracht worden. Warum? Doch offenbar, weil in unserem Bezirk eine Anzahl erfahrener ‚Vermittler‘ konzentriert wurde. Wenn hier das Feld abgegrast ist oder, wie in unserem Fall, die Sache platzt, dann werden sie sich anderswohin verziehen. Das ist offenkundig geschehen, denn wir hören seither nur noch wenig von widerrechtlichen Preisaufschlägen beim Verkauf von Gebrauchtwagen. Was mir aber noch bedeutungsvoller erscheint: In mindestens sieben oder acht der von uns aufgedeckten Fälle haben die ‚Vermittler‘, die Zwischenhändler, nachweislich mit gefälschten Personalpapieren gearbeitet. Wahrscheinlich aber die meisten. Das ist ja der Grund – wie auch aus mehreren Vernehmungsprotokollen hervorgeht –, daß wir keinen dieser Zwischenhändler, unter denen sich auch Frauen befanden, habhaft werden konnten. Von einem besitzen wir eine sehr markante Personenbeschreibung: Seine rechte Schulter ist schief. Diese Angabe wiederholte sich bei den Vernehmungen von nicht weniger als sechs Käufern. Dieser wahrscheinlich kriegsbeschädigte Mann ist uns aus den Kaufbriefen unter drei verschiedenen Namen bekannt“, Oberleutnant Quidde ließ ein leises, trockenes Lachen hören, „nur nicht unter seinem richtigen. – Gefälschte Papiere“, schloß er, „besitzt wohl kaum ein einzelner Gauner in dieser Anzahl, er erhält sie von einer zentralen Leitung.“ „Eine andere Frage, Genosse Oberleutnant. Wir haben zwar aus den Akten ersehen, daß der Mord an der Brücke Sie auf die Spur der Autoschieber gebracht hat, aber es wäre uns lieb, wenn Sie uns das etwas detaillierter erzählen könnten.“ 185
„Sie wissen, der Wagen, in dem der Ermordete gefunden wurde, ein alter BMW, war gründlich auffrisiert, neu gespritzt, hatte einen anderen Motor mit gefälschter Nummer und so weiter …“ „War auch das Nummernschild des Wagens falsch?“ „Nein, merkwürdigerweise nicht! Das ist eines der Rätsel, vor denen wir stehen. An Hand dieser Nummer konnten wir nämlich sehr schnell feststellen, daß der Wagen etwa eine Woche vorher bei einem Arzt namens Aschock in Magdala gestohlen worden war. Der Bestohlene hatte umgehend Anzeige erstattet.“ Leutnant Lorenz begann sofort in seiner frischfröhlichen Art dreinzureden: „Wenn die Mörder die polizeiliche Kennummer an dem Wagen gelassen oder sie nachträglich wieder angebracht haben, obwohl der Wagen neu gespritzt war, dann muß das einen wichtigen Grund gehabt haben.“ „Welchen?“ fragten Quidde und ich gleichzeitig. „Die Täter wußten selbstverständlich, daß unsere Verkehrspolizei nach dem gestohlenen Wagen fahndete und daß sie besonders auf die Nummer achten würde, obwohl kaum anzunehmen war, daß der Dieb diese nicht zuallererst durch eine andere ersetzt hätte. Die Täter wollten den Insassen des Wagens ganz bewußt der Polizei in die Hände spielen. Erst als dies mißglückte und er nirgends angehalten wurde, haben sie ihn umgebracht.“ Etwas ärgerlich über die Einmischung warf ich ein: „Das ist doch an den Haaren herbeigezogen! Weil jemand nicht verhaftet wird, bringt man ihn um?“ Ich schüttelte den Kopf. „Und das Motiv für zwei derart entgegengesetzte Verhaltensweisen?“ „Nun“, antwortete Lorenz Unerschüttert, „das Motiv könnte beispielsweise sein, daß der Mann, als Zwischen186
händler eingesetzt, in die eigene Tasche wirtschaftete. Er betrog den Schieberring. Er weigerte sich, die Verkaufssummen abzuführen und sich mit einer Provision zu begnügen. Im vorliegenden Fall war die Organisation ihm gegenüber besonders machtlos, denn es handelte sich um einen gestohlenen Wagen. Da entschloß man sich, den Mann indirekt der Volkspolizei als Dieb auszuliefern …“ „Damit er dort in voller Wut die Namen seiner Komplizen preisgebe?“ fragte ich ironisch. „Wer sagt Ihnen, Genosse Hauptmann, daß er sie kannte?“ Oberleutnant Quidde, erst ein bißchen erstaunt, daß ich meinem jungen Mitarbeiter so viel Diskussionsfreiheit ließ, war jedoch von dessen Argumenten sichtlich beeindruckt. „Das ist nicht schlecht“, sagte er, „das muß man genau durchdenken.“ Dann fuhr er fort: „Bei dem Arzt Aschock war etwa vierzehn Tage vor dem Diebstahl ein Mann aufgetaucht, der sich Möbius nannte. Er hätte gehört, Doktor Aschock wolle seinen Wagen verkaufen; was er kosten solle. Der Arzt schickte den Mann fort; er dächte gar nicht daran, seinen Wagen zu verkaufen. Diesen Vorfall gab Doktor Aschock natürlich, als wir ihn wegen der Ermittlung des von ihm angezeigten Diebstahls befragten, als Verdachtsmoment zu Protokoll. Wir machten unsere zuständige Abteilung sofort auf den Namen Möbius aufmerksam. Ergebnis: Dieser Name fand sich als Verkäufer eines Gebrauchtwagens in einem Kaufbrief früheren Datums; zwei Tage nach dem Mord in einem anderen. Wir wollten uns diesen ominösen Möbius selbstverständlich sofort greifen, aber – er war nicht mehr auffindbar. Richtiger gesagt, wir ermittelten auf Grund der Nummer des Personalausweises, die ja in den Kaufbrief eingetragen werden muß, einen Werkmeister 187
Möbius in Jena. Dieser hatte etwa ein Jahr zuvor seinen Personalausweis verloren und einen neuen erhalten. Überdies ergab die Konfrontation des bestens beleumdeten Werkmeisters mit Doktor Aschock, daß er nicht mit dem Besucher identisch war. – Das, Genossen, war die erste Spur, die uns auf weitere Autoschiebungen brachte. Es erforderte eine endlose Geduldsarbeit, die Kopien aller Kaufbriefe vom letzten Halbjahr auf regelmäßig wiederkehrende und deshalb verdächtige Namen zu durchstöbern. Doch die Schwierigkeit der daraufhin vorgenommenen Recherchen ist die leidige Tatsache, daß die Käufer, weil sie sich ebenfalls strafbar gemacht hatten, die denkbar schlechtesten Zeugen abgaben.“ „Ich habe noch eine Frage, Genosse Quidde“, sagte ich. „Darf man annehmen, daß viele Gebrauchtwagen vor dem Verkauf neu spritzlackiert werden?“ „Gestohlene oder aus Wracks zusammengebastelte wohl in jedem Fall. Aber auch viele andere, denn je älter und vergammelter die Dinger sind, also je niedriger ihr Taxwert ist, um so mehr muß der Schieber mit dem Aussehen des Wagens bluffen, um den höchsten Überpreis herauszuholen. Frauen, die beim Kauf eines Wagens bekanntlich sehr oft ein Wörtchen mitzureden haben, fallen erfahrungsgemäß besonders leicht auf eine schöne Aufmachung herein.“ „Das habe ich mir gedacht. In diesem Zusammenhang habe ich einen Vorschlag. Es muß doch aus den Büchern jeder Spritzlackiererei ersichtlich sein, wie viele Fahrzeuge sie in einem bestimmten Zeitraum aufgearbeitet hat.“ „Selbstverständlich.“ „Es wird vermutlich ebenso leicht feststellbar sein, wieviel Lack durchschnittlich zum Spritzen eines Wagens erforderlich ist.“ Quidde nickte. 188
„Aus den Geschäftsbüchern wird man weiter ersehen können, wieviel Lack von einer Firma für einen bestimmten Zeitabschnitt eingekauft wurde, wieviel vorher da war und nachher übrigblieb.“ „Eine etwas mühselige Angelegenheit. Aber es wird sich machen lassen.“ „Wenn sich dabei eine auffallende Differenz zwischen der eingekauften oder lagernden und der verbrauchten Lackmenge ergibt, können wir errechnen, daß in dem betreffenden Betrieb eine bestimmte Anzahl von Wagen illegal lackiert worden ist. Denn es muß sich um gestohlene Wagen handeln, und wer gestohlene Wagen heimlich lackiert, um sie unkenntlich zu machen, der wird zweifellos auch noch andere dunkle Geschäfte mit den Schiebern tätigen.“ Oberleutnant Quiddes lebhafte Augen funkelten. „Das ist eine gute Idee.“ Doch dann sagte er skeptisch: „Ich fürchte nur, daß wir mehr als fünfzig oder gar hundert solcher Lackierereien in unserem Bezirk haben …“ „Beginnen wir bei der Firma Eugen Überloh in Jena.“ Er sah mich verblüfft an. „Nein, nein, Genosse Quidde“, sagte ich lachend. „Ich bin kein Hellseher. Aber unsere Zusammenarbeit trägt bereits die ersten Früchte. In Ihrer Akte taucht nämlich der Name Überloh, allerdings in ganz untergeordneter Bedeutung, zweimal auf. In dem Mordfall, den wir bis jetzt in Berlin bearbeiteten, haben wir eine Zeugin, die immer verdächtiger wird, eine Frau Leysing geborene Überloh aus Jena.“ „Das ist ja hochinteressant!“ „Ich möchte Ihnen vorschlagen, Genosse Oberleutnant, daß Sie zunächst alle Akten unseres Berliner Falls – wir nennen ihn vorläufig noch den Fall Rennbahn – heute 189
noch durchzuarbeiten beginnen, während Leutnant Lorenz und ich noch einige notwendige Ermittlungen anstellen.“ „Brauchen Sie dazu irgendeine Unterstützung?“ „Danke, vorerst kaum. Aber morgen“, ich schüttelte ihm kameradschaftlich die Hand, „morgen dürfen wir doch mit Ihnen rechnen?“ „Selbstverständlich. Ich freue mich sogar darauf.“ Als wir eben das Zimmer verlassen wollten, wurde uns ein Fernschreiben aus Berlin ausgehändigt. Es hatte folgenden Wortlaut: „volkspolizei erfurt, abteilung k, sonderkommission brückner ++ alibi friedrich kufferath überprüft + stimmt in allen einzelheiten + alibi edeltraut leysing weiterhin unbestimmt + benannte zeugen erinnern sich nicht + setzen ermittlungen fort ++ becker, Oberleutnant“.
34 Lorenz fuhr unseren Wagen. Ich fragte ihn: „Gesetzt den Fall, Genosse Leutnant, Sie hätten in den nächsten Tagen von verschiedenen Leuten viel Geld zu bekommen, von einem zweitausend, vom andern dreitausend Mark und so fort, insgesamt, sagen wir, zehn- oder zwanzigtausend …“ „Das wäre eine schöne Sache, Genosse Hauptmann“, meinte er jungenhaft-fröhlich. „Würden Sie dieses Geld, wenn Sie es in bar ausgezahlt bekämen, mit sich in der Tasche herumschleppen?“ „Möglichst nicht, obwohl meine Aktentasche geräumig genug ist. Aber wohin damit? Zu einem Bankkonto habe ich es bei meinem Gehalt noch nicht gebracht.“ 190
„Trösten Sie sich, ich leider auch nicht. Was würden Sie also tun?“ Er überlegte. Dann sagte er: „Ein Postsparbuch einrichten … Nein, noch besser, ein Postscheckkonto.“ „Weshalb?“ „Weil ich von dort das Geld am leichtesten und schnellsten überallhin überweisen lassen könnte, zum Beispiel nach Berlin, wenn ich mir dort nach der Rückkehr ein Konto bei der Staatsbank anlegen wollte.“ „Gut, Genosse Lorenz. Fahren Sie uns jetzt bitte zum Postscheckamt.“ Er sah mich verblüfft an. „Haben Sie einen Lottofünfer?“ Ich lachte. „Vielleicht.“ Als er die Geschwindigkeit beschleunigte, die er während unseres Gesprächs etwas hatte abfallen lassen, merkte ich ihm an, wie er eifrig, aber vergebens hin und her sann. Der Leiter des Postscheckamts war glücklicherweise anwesend. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte er, nachdem wir uns ausgewiesen hatten. „Lassen Sie bitte feststellen, ob es bei Ihnen ein Konto auf den Namen Elke Dalibor gibt.“ Er klingelte seiner Sekretärin und erteilte ihr den Auftrag, falls es ein solches Konto gebe, gleich die erforderlichen Unterlagen mitzubringen. Ich fragte: „Zum Einrichten eines Kontos genügt das Vorweisen eines Personalausweises?“ „Gewiß. Und der Kontoinhaber hinterläßt uns auf einer Kontrollkarte seine Unterschrift; sie wird bei Barauszahlungen und Überweisungen mit der Unterschrift auf dem betreffenden Scheck verglichen.“ Die Sekretärin kam zurück. Es hatte ein Konto Elke Dalibor gegeben. Ende November 1962 war es gelöscht 191
worden. „Eröffnet wurde es mit einer Einzahlung von eintausenddreihundert Mark am neunten Oktober vorigen Jahres“, las uns der Leiter des Scheckamtes vor. „Das war in der Zeit, als Frau Kufferath mit Frau Leysing zum erstenmal in Weimar war!“ rief Lorenz. Er konnte seine Aufregung kaum noch meistern. In der nüchternen Art der meisten Finanzleute fuhr der Mann fort: „Bis zum dreizehnten Oktober erfolgten dann in unregelmäßigen Abständen weitere elf Einzahlungen zwischen achthundert und sechstausendfünfhundert Mark, plötzlich aber am zweiten November nicht weniger als sechs in einer Höhe von insgesamt neunzigtausendsiebenhundert Mark. Dann aber“ – er glitt mit dem Finger den Buchungsstreifen entlang – „gab es nur noch große Abhebungen; bis zum siebten November ist von uns die Gesamtsumme von zweihundertelftausendsiebenhundert einundachtzig Mark und einigen Pfennigen auf verschiedene Berliner Konten überwiesen worden. Mit einer unbedeutenden Ausnahme, wie ich sehe …“ „Kann man die Empfänger feststellen?“ fragte ich etwas atemlos; die Höhe der Summe hatte mir die Sprache verschlagen. „Ja. Zweimal gingen je neunzigtausend Mark an das Berliner Stadtkontor, und zwar auf die Konten Friedrich Theodor Kufferath und Jutta Kufferath. Der Rest: einmal zwanzigtausend Mark wurden dem Postscheckamt Berlin auf das Konto Benno Leysing, sodann zehntausend wiederum an das Berliner Stadtkontor, aber auf das Konto Edeltraut Leysing, überwiesen. Und hier ist die geringfügige Ausnahme, die ich erwähnte: neunhundertfünfzig Mark wurden an die Deutsche Bauernbank in Schwerin auf das Konto einer LPG Fortschritt gezahlt.“ 192
„Wahrscheinlich für ein Pferd“, kommentierte Leutnant Lorenz hastig. „Am neunundzwanzigsten November wurde das Konto Dalibor bei uns auf schriftlichen Antrag der Inhaberin gelöscht“, schloß der Direktor. „Die bis dahin verbliebene, relativ kleine Restsumme wurde wiederum auf das Konto Jutta Kufferath, Berliner Stadtkontor, überwiesen.“ Der sachliche Mann muß wohl ziemlich erstaunt gewesen sein, weil wir ihm so überschwenglich für seine Auskünfte dankten. Bevor wir uns von ihm verabschiedeten, forderte ich ihn auf, umgehend von den Unterlagen eine Abschrift oder Fotokopien herstellen zu lassen und diese an die Abteilung K der Volkspolizei zu schicken. Er konnte natürlich nicht ahnen, von welch außerordentlicher Bedeutung seine Auskünfte für uns gewesen waren.
35 „Daraufhin“, meinte ich, „müssen wir uns einen Kognak genehmigen.“ Leutnant Lorenz war immer noch etwas blaß vor verhaltener Erregung, als wir in dem schönen kleinen Café saßen. „Wie sind Sie bloß daraufgekommen, Genosse Hauptmann?“ fragte er ziemlich benommen. „Ich habe Ihrem Lieblingssport gehuldigt, ich habe frisch draufloskombiniert.“ „Und warum haben Sie uns nichts davon verraten?“ „Weil ich fürchtete, von Ihnen, ganz bestimmt aber von Oberleutnant Becker und dem Genossen Höllriegel als Phantast, als Oberspinner, betrachtet zu werden. Ich 193
hatte nämlich nicht die geringste Tatsache in der Hand. Noch als wir ins Zimmer des Direktors geführt wurden, glaubte ich selbst nicht an ein Ergebnis.“ „Wollen Sie mir nicht …“ „Aber gern, Genosse Lorenz. Daß die Damen Kufferath und Leysing sich nicht in der hiesigen Gegend zu genußvollem Versenken in Altertümer und Gemälde herumgetrieben hatten, war uns wohl allen klar.“ Lorenz nickte. „Das war nur eine Tarnung für irgendwelche Geschäfte.“ „Ja, und bei den Neigungen und Kenntnissen der Frau Kufferath keine schlechte. Hätte sie sich dabei nicht mit der amusischen und auf diesem Gebiet völlig unwissenden Edeltraut Leysing belasten müssen, würden wir ihr vielleicht geglaubt haben.“ „Jetzt verstehe ich auch“, warf Lorenz ein, „weshalb Sie sich bei der Vernehmung der Leysing so lange bei diesem Komplex aufhielten und scheinbar ganz überflüssige, nicht zur Sache gehörende Fragen stellten.“ Ich nickte. „Immer wieder grübelte ich, welcher Art die Tätigkeit der beiden ungleichen Vergnügungsreisenden gewesen sein mochte. Wenn unsere gemeinsame Vermutung stimmte, daß hier ein zentral geleiteter Schieberring am Werk war, sagte ich mir, dann mußten – unter anderem – die Gelder kassiert und mit den Mittelsmännern die Provisionen abgerechnet werden. Wer war dazu besonders geeignet? Zweifellos die intelligente, geschäftstüchtige und in ihrem Auftreten gewandte Frau Kufferath. Aber wie sollte ich das beweisen? Ich schwieg deshalb Ihnen, Becker und Höllriegel gegenüber.“ „Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, Genosse Hauptmann“, warf Lorenz lebhaft ein, „aber bis dahin hatte ich im stillen ganz ähnliche Betrachtungen angestellt.“ 194
„Doch“, antwortete ich ihm lachend, „das glaube ich Ihnen gern, ich kenne Sie doch. Aber“, so überlegte ich weiter, „Frau Kufferath kann diese Tätigkeit kaum unter ihrem wirklichen Namen ausgeübt haben, das wäre zu gefährlich gewesen. Die leitenden Figuren in einem Ring sind immer darauf bedacht, daß ihre Helfershelfer sie nicht kennenlernen; sie wissen sich im Hintergrund zu halten. Der kleine Gauner, der die Schmutzarbeit macht, erfährt selten den richtigen Namen des größeren, der den Löwenanteil der Beute einsteckt. Da gaben mir die Vernehmungsprotokolle einen möglichen Hinweis: die nicht existente Zahnärztin Elke Dalibor. Doch eine solch abenteuerliche Konstruktion hätten Sie mir alle drei kaum abgenommen. Ich schwieg deshalb und beobachtete bei meinen Vernehmungen der Kufferath wie der Leysing genau deren Reaktionen, als ich unvermittelt nach der Zahnärztin Dalibor fragte. Ich war sehr enttäuscht, daß Frau Leysing absolut negativ reagierte. Aber bei Frau Kufferath war das, trotz ihrer außergewöhnlichen Selbstbeherrschung und Verstellungskunst, ein wenig anders. Dennoch – täuschte ich mich nicht? Ich fragte unmittelbar nach der Vernehmung den Genossen Becker, aber er hatte nichts bemerkt. Also schwieg ich darüber bei unseren gemeinsamen Besprechungen.“ „Und jetzt wollten Sie sozusagen nur ein Kontrollexperiment machen?“ „Ja, wie gesagt, ohne viel Hoffnung auf Erfolg. Schaden konnte es ja nicht. Und doch zögerte ich, und erst als Sie, Genosse Leutnant, mich in meinen Gedankengängen bestärkten …“ „Ich?“ „Ja, bei unserem Gespräch während der Fahrt. Ich hätte, unerfahren wie ich in Finanzdingen bin, wahrscheinlich 195
alle möglichen Bankinstitute abgeklappert. Natürlich ergebnislos. Vielleicht hätte ich sogar die Flinte ins Korn geworfen. Auf ein Postscheckkonto wäre ich, hätten Sie mich nicht mit der Nase darauf gestoßen, wohl zu allerletzt verfallen.“ Lorenz freute sich sichtlich über mein aufrichtig gemeintes Lob. Nachdenklich fuhr ich fort: „Ein guter Kriminalist müßte eigentlich ein umfassendes Allgemeinwissen besitzen. Dann könnte er sich stets nutzbringend fragen: Was würdest du in dieser oder jener Situation tun? Wie würdest du dich, wärest du dieser oder jener Mensch, verhalten? Und er hätte sogleich die halbe oder ganze Antwort.“ „Jetzt verstehe ich übrigens auch, warum Sie so großen Wert auf ein Foto der Frau Kufferath legten.“ „Ich vermute, sie selbst verstand es ebenfalls sofort. Deshalb fiel sie so unklug aus ihrer Rolle. Das war für mich die stärkste Bestätigung, daß mein Verdacht nicht ganz abwegig war. Nun“, faßte ich zusammen, „haben wir einige konkrete Anhaltspunkte, wenn auch noch keine Beweise, daß das in ‚Gütertrennung‘ lebende Ehepaar Kufferath von allen Einnahmen des Schieberrings, wenn es ihn nicht überhaupt leitet, für sich die Sahne abschöpft … je neunzigtausend Mark in diesem Fall. Benno Leysing hatte offenbar eine untergeordnete Funktion; er wurde mit zwanzigtausend und seine Frau sogar nur mit der Hälfte abgespeist.“ „Trotzdem ein schöner Batzen Geld“, warf Lorenz ein. „Eben darüber machte ich mir schon die ganze Zeit meine Gedanken. Kann es sich wirklich nur um Autoschiebungen gehandelt haben? Weit über zweihunderttausend Mark in nicht ganz einem Monat! Und womöglich gibt es noch ein zweites und drittes illegales Konto … 196
Nein, soviel kann bei den Schiebungen mit Gebrauchtwagen doch unmöglich herausspringen.“ Wir schwiegen eine ganze Weile. Ich trank meinen Kognak und zündete mir eine Zigarre an. Lorenz schob sein Glas von sich. „Ich fahre“, sagte er mechanisch; mit seinen Gedanken war er anderswo. Schließlich blickte er mich ernst an. „Ich fürchte, Genosse Hauptmann, wir sind noch sehr weit von unserem Ziel entfernt. Gut, wir könnten die Herrschaften jetzt ohne weiteres einsperren lassen; aber damit hätten wir weder die beiden Morde noch den Selbstmord Werner Hells aufgeklärt.“ „Was schlagen Sie also vor?“ fragte ich und erbarmte mich seines Kognaks. „Wir fahren mal zu der kleinen Landgaststätte bei Weimar, ‚Drei Linden‘ heißt sie. Ich habe mir den Namen des Dorfes notiert.“ „Und ich habe mir vorsorglich alle notwendigen Fotos eingesteckt.“ „Wieso das? Wollten Sie denn auch …“ Ich nickte ihm zu. „Wir sind schon ein recht brauchbares Gespann“, sagte ich vergnügt. Dann zahlte ich, und wir fuhren los. Es war schon dämmrig.
36 Die Wirtin Pahlke war eine ältere, geschäftige, aber nicht geschwätzige Frau. Wir zeigten ihr, da einige Gäste, offenbar Bauern und Traktoristen, im Gastraum saßen, unauffällig unsere Ausweise. Daraufhin führte sie uns sofort in einen 197
privaten Raum und beauftragte eine junge Frau – wie wir später erfuhren, ihre Schwiegertochter – mit der weiteren Bedienung der Gäste. Wir ließen uns von Frau Pahlke zunächst noch einmal den Vorgang erzählen. „Kann sein, daß ich mich an das eine oder andere nicht mehr richtig erinnere“, sagte sie, „es ist schon gar zu lange her.“ Aber dann gab sie doch die beinahe genaue Darstellung, wie wir sie schon aus ihrem Vernehmungsprotokoll kannten. Neu war lediglich, daß auch die Schwiegertochter damals die beiden Besucher gesehen, nicht aber mit ihnen gesprochen hatte. Frau Pahlke hatte nur ein paar Sätze mit ihnen gewechselt, sich dann aber hinter der Theke aufgehalten. „Weshalb nahmen Sie an, daß die Besucherin berlinisch gesprochen hat?“ fragte ich. „Sie hat, als ich fragte, ob der Kaffee mit Milch und Zucker sein sollte, ‚okeh‘ gesagt und dann: ‚Aber keine Lorke.‘ Diese Wörter kennen wir hier nicht.“ Ich blickte kurz zu Lorenz hinüber, und er nickte mir unauffällig zu. Das war, trotz ihres Alters, eine zuverlässige, gut beobachtende Zeugin. Meiner Fotokollektion entnahm ich zwei Aufnahmen der Frau Leysing. „Ist es diese Dame gewesen?“ Frau Pahlke holte sich ihre Brille und sah sich die Aufnahmen, sie mehrmals aufhebend und wieder hinlegend, sehr lange an. „Ich bin nicht sicher“, sagte sie schließlich zögernd. „Es ist zuviel Zeit darüber hingegangen. Ähnlich ist die Dame ja, sehr ähnlich – und doch auch wieder nicht.“ Achselzuckend gab sie mir die Bilder zurück. Lorenz und ich waren natürlich enttäuscht. Aber letztlich war uns diese unbestimmte Aussage nützlicher, als 198
es eine bestimmte, aber falsche gewesen wäre. Ich gab der Wirtin zwei Aufnahmen von Werner Hell. Schon nach einem kurzen Blick auf die erste schüttelte sie den Kopf, und bei der zweiten sagte sie entschieden: „Das war der Mann bestimmt nicht.“ „Hier, Frau Pahlke, habe ich nochmals das Foto des Ermordeten. Sie hatten es wohl damals auf einem Plakat oder in der Zeitung gesehen und gemeint, darin Ihren Gast wiederzuerkennen. Daraufhin meldeten Sie sich als Zeugin …“ „Nein, nicht ich habe ihn wiedererkannt. Meine Schwiegertochter – Sie haben sie ja vorhin draußen gesehen – meinte, daß es vielleicht unser Besucher gewesen sein könnte, und sagte: ‚Mutti, das mußt du der Volkspolizei melden.‘ Das habe ich dann getan.“ „Eine Frage: Hatten Sie in der Zeitung die Beschreibung der Kleidung des Ermordeten gelesen?“ „Danach haben mich damals die Herren von der Kriminalpolizei auch gleich gefragt. Nein, das hatte ich nicht. Ich bin doch zuerst gar nicht auf die Idee gekommen, daß der Ermordete ausgerechnet bei uns eingekehrt war. Ein Plakat habe ich überhaupt nicht gesehen, und die Zeitung war schon weg, als ich die Anzeige machte.“ „Als Ihnen dann unsere Kollegen von der Volkspolizei abermals dieses Foto zeigten, konnten Sie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der darauf abgebildete Mann der Besucher war?“ „Nein, und meine Schwiegertochter, die ihn auch nur ganz kurz gesehen hatte, ebenfalls nicht.“ Während sie das Foto jetzt abermals genau betrachtete, fuhr sie fort: „Der Mann hat beide Augen geschlossen. Das Gesicht ist auch … zu glatt, möchte ich sagen, und viel schmaler. Nur der dünne, komische Bart stimmt. Das sagte ich den Herren schon damals. Nur die Kleidung konnte ich beschreiben.“ 199
„Und damit, Frau Pahlke, haben Sie uns sehr geholfen.“ Ich nahm die stark retuschierte Fotografie zurück. Dann tat ich etwas, worüber Leutnant Lorenz ein so verblüfftes Gesicht machte, daß ich heute noch im stillen lächeln muß, wenn ich mich daran erinnere; ich gab Frau Pahlke das Foto Ernst Hells. Frau Pahlke sah es erst flüchtig an, schüttelte den Kopf und wollte es zurückgeben, doch dann betrachtete sie es sich genauer. Sie stand sogar auf, um näher an die Lampe zu kommen. „Der hier hat etwas Ähnlichkeit mit dem Gast … Aber nur ein ganz klein bißchen. Entschuldigen Sie, ich will doch mal meine Schwiegertochter hereinrufen.“ Die junge Frau kam und sah sich das Foto ebenfalls sehr aufmerksam an. „Nein“, sagte sie dann, „dieser hier ist voller im Gesicht und hat auch keinen Bart.“ Auch sie trat jetzt nah ans Licht. Sie schüttelte den Kopf. „Aber irgendeine Ähnlichkeit, meine ich, ist doch da.“ „Einen Augenblick, bitte“, sagte ich. „Geben Sie mir das Bild mal her.“ Ich nahm meinen Kugelschreiber und malte ein Menjoubärtchen auf die Oberlippe. „Das ist er! Das ist er!“ rief Frau Pahlke in heller Aufregung. „Ja, richtig – das ist er!“ bestätigte die junge Frau sofort. „Was doch so ein Bart ausmacht“, wunderte sie sich. Lorenz saß sprachlos, mit offenem Mund da. „Nehmen Sie ein kurzes Protokoll auf, Genosse Leutnant“, sagte ich. „Jetzt sind wir wieder einen bedeutenden Schritt weiter.“
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37 „Sagen Sie mal ehrlich“, fragte ich Lorenz auf der Rückfahrt, „hätten Sie mich nicht glatt ausgelacht, wenn ich in Berlin eine solche Vermutung geäußert hätte?“ „Ausgelacht … ist wohl zuviel gesagt“, antwortete er diplomatisch, „aber ziemlich abwegig wäre es mir bestimmt vorgekommen.“ Ich lachte. „Und erst unserm Tatsachenfanatiker …“ „Aber nun erklären Sie mir wenigstens, wie Sie darauf verfallen sind.“ „Es war genauso ein Experiment, so ein Versuchsballon wie unser Besuch im Postscheckamt Erfurt. Ich versprach mir kaum einen Erfolg davon, aber ich sagte mir wiederum: Was kann’s schaden? – Wie ich auf den Gedanken verfallen bin? Nun, ich habe in meiner Praxis schon öfter erlebt, daß selbst nahe Angehörige und Freunde beim Identifizieren nach Fotografien Toter versagten. Das hat mehrere Gründe. Der Hauptgrund: Dem Foto eines Toten fehlt jeder persönliche Ausdruck, er ist starr, fremd, all die vielen kleinen Falten und Fältchen, die dem Gesicht erst seinen eigentlichen Charakter geben, sind nahezu verschwunden, der Schreck oder der Schmerz beim Todeskampf kann überdies die Züge völlig entstellen. In diesem Fall kam noch hinzu, daß man Schnittwunden – möglicherweise viele oder sehr große – und damit nahezu sämtliche Falten und Fältchen wegretuschiert hatte. Als einziges markantes Erkennungszeichen war das Bärtchen geblieben. Trotzdem schien mir, als ich der unglücklichen Frau Hell gegenübersaß und aus Verlegenheit immer wieder auf die beiden Bilder über dem Sofa starrte und unwillkürlich nach einer Ähnlichkeit zwischen den Brüdern Werner und Ernst 201
suchte, als wäre mir Ernst Hell in letzter Zeit irgendwo begegnet. Aber wo? Ich zerbrach mir natürlich vergebens den Kopf, und nach dem Besuch hatte ich die Sache vergessen. Bis mir, als ich wieder einmal in den Erfurter Akten herumstöberte, das Foto des Ermordeten in die Hand geriet. Da überfiel mich plötzlich wieder die gleiche Grübelei: Den kennst du, den mußt du kennen, aber woher? Ich schob diesen Gedanken, der sich mir von nun an fortwährend hartnäckig aufdrängte, ärgerlich beiseite. Aber Sie kennen das ja, so ein Gedanke läßt einen nicht mehr los …“ „Und ob ich das kenne!“ bestätigte Lorenz seufzend. „Als ich wieder einmal überlegte, was hinter dem Besuch Werner Hells bei seinem Bruder Ernst stecken könne, lenkte mich plötzlich ein neuer Gedanke ab, oder soll ich sagen ein Einfall? Ich fragte mich: Warum soll sich dieser Bruder Ernst, der smarte Geschäftsmann aus dem Westen, nicht mittlerweile ein solch häßliches Bärtchen haben wachsen lassen! Wer weiß, sinnierte ich weiter, in welch böse Dinge dieser doch sehr zwielichtige Bursche dort in Jena oder Weimar oder Erfurt verwickelt war, Dinge, die ihn vielleicht in den Tod geführt haben …“ „Ich finde das …“ „Nein“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Ich bin da völlig einer Meinung mit Oberleutnant Becker: Ohne Tatsachen oder zumindest starke Indizien gerät man ins Phantasieren. Ich würde, wenn ich meine nebelhafte Vermutung geäußert hätte, möglicherweise unsere sachliche Ermittlungstätigkeit gestört oder sogar verwirrt haben. Deshalb schwieg ich und nahm mir vor, wenn wir beide an Ort und Stelle wären, mal ganz nebenbei einen Versuch zu wagen. Ich wollte eigentlich nur mein Hirngespinst loswerden, der Versuch sollte es definitiv zerreißen.“ 202
„Was ja nun gottlob nicht gelungen ist!“ rief Leutnant Lorenz vergnügt und trat kräftig aufs Gaspedal.
38 Spätabends war noch ein Fernschreiben von Oberleutnant Becker eingelaufen, das schon am nächsten Morgen, als wir uns im Dienstzimmer Quiddes trafen, durch einen ausführlicheren schriftlichen Bericht ergänzt wurde. Darin hieß es in der trockenen Sprache Oberleutnant Beckers: „Polizeimeister Höllriegel vernahm auftragsgemäß den ehemaligen Gastwirt, jetzigen städtischen Angestellten Bernhard Tövelmann, geb. 7. April 1898 in Berlin, wohnhaft Berlin-Pankow, Fontaneweg 9. Der Zeuge sagte aus, daß der ungesetzliche Verkauf von Damenmänteln seinerzeit in seinem Lokal nur durch ihn selbst erfolgt sei. Sechzig Prozent des Gewinns habe er über Benno Leysing an eine ihm unbekannte Person abführen müssen, welche ihm, wiederum durch Benno Leysing, die in Westberlin besorgten Mäntel zubringen ließ. Auf Vorhalt, ob die unbekannte Person Friedrich Kufferath oder dessen Ehefrau Jutta gewesen wäre, antwortete der Zeuge, das wisse er nicht. Auf weiteres Befragen gab er zu, es gelegentlich vermutet zu haben. Gründe für diese Vermutung konnte oder wollte der Zeuge Tövelmann jedoch nicht angeben. Frau Jutta Kufferath habe seines Wissens niemals einen solchen Mantel getragen, wohl aber Frau Edeltraut Leysing, jedoch nur kurze Zeit. Es sei möglich, sagte der Zeuge auf Befragen, daß ihm Frau Leysing in einigen Fällen Käuferinnen zugeschickt habe, jedoch habe sie nicht zu den 203
gegen Provision arbeitenden Vermittlerinnen von Kundschaft gehört. Das seien vielmehr sechs oder sieben ihm namentlich unbekannt gebliebene Frauen und Mädchen gewesen, die für je eine Vermittlung fünf Mark Provision erhalten hätten. Sie seien nur mit Vornamen angeredet worden, erklärte der Zeuge, er erinnere sich nur noch, daß die eine Hildegard und zwei andere Brigitte geheißen hätten. Benno Leysing sei seines Wissens finanziell an dem Geschäft nicht beteiligt gewesen. Auf Vorhalt gab der Zeuge zu, daß Benno Leysing wahrscheinlich von dem ihm, dem Zeugen Tövelmann, unbekannten Organisator des ungesetzlichen Handels einen Anteil erhalten habe, doch wisse er darüber nichts. Befragt, warum Benno Leysing sich oft und lange in seiner Gastwirtschaft aufgehalten habe, erklärte der Zeuge, daß Benno Leysing und der damals noch in Karlshorst lebende Mitropa-Kellner Ernst Hell sich dort häufig mit fremden Frauen und Männern getroffen und mit ihnen leise verhandelt haben. Der Zeuge schätzte die Anzahl solcher Zusammenkünfte auf fünfzehn bis zwanzig. Er, der Zeuge, habe den Eindruck gehabt, es seien dabei Geschäfte getätigt worden. Nach der Art dieser Geschäfte befragt, antwortete der Zeuge, das wisse er nicht. Er habe allerdings einige Male, insgesamt drei- oder viermal, bemerkt, daß Ernst Hell dabei lederne Behälter, in denen sich vermutlich fotografische Apparate und Ferngläser befanden, übergeben worden seien. Im Lokal geöffnet habe Ernst Hell diese Behälter oder Etuis jedoch nicht. Befragt, ob er, der Zeuge, keinen Verdacht verbotener Geschäfte geschöpft habe, antwortete er: ‚Verdacht wohl, aber ein Gastwirt darf nicht neugierig sein, sonst verliert er seine Kundschaft.‘ Polizeimeister Höllriegel hatte bei der Vernehmung den 204
Eindruck, daß der Zeuge befürchtete, die Untersuchung des Falles werde erneut aufgenommen, und deshalb sehr zurückhaltend aussagte.“ Ich war mit dem Inhalt dieses Berichts zufrieden. Er brachte Klarheit in die Sache mit den Mänteln. Wir konnten sie als belanglos aufgeben. Die diesbezüglichen Aussagen der Frauen Kufferath und Leysing schienen in diesem Punkt zu stimmen. Wertvoller war jedoch, daß ein neues, bezeichnendes Licht auf die Person des Ernst Hell fiel. Er steckte, wie ich allerdings schon nach seinen Personalakten im Präsidium vermutet hatte, in dunklen Geschäften, zu dieser Zeit unter anderem mit wertvollen optischen Geräten. Wahrscheinlich nutzte er dabei seine berufliche Tätigkeit als Mitropa-Kellner aus. Noch etwas anderes klärte sich, nämlich weswegen Kufferath den offenbar nicht sehr tüchtigen Benno Leysing – dem seine Strafe wegen des Haferdiebstahls also nicht zur Lehre gedient hatte – nicht entließ, als er den tüchtigen Werner Hell einstellte: Er oder Frau Jutta benötigten den Stallmeister Leysing weiter für ihre Schiebergeschäfte. „Hier scheinen die Anfänge des organisierten Schwarzhandels zu stecken“, meinte Leutnant Lorenz. „Die Aufkäufer der optischen Geräte müssen, wenn das Geschäft lohnend und einigermaßen gesichert sein sollte, mit gefälschten Papieren gearbeitet haben, die sie, höchstwahrscheinlich über Ernst Hell, von einer zentralen Stelle zugestellt erhielten. Wer aber war das? Meiner Ansicht nach das Ehepaar Kufferath.“ „Das möchte ich auch annehmen.“ „Als dann unsere Staatsgrenze geschlossen wurde“, fuhr Leutnant Lorenz lebhaft fort, „wurde der Schieberring auf den Handel mit Gebrauchtwagen innerhalb unserer Republik umgestellt.“ 205
„Das ist zwar logisch gefolgert, lieber Lorenz, hilft uns jedoch wenig oder nichts bei der Aufdeckung der Morde und des Selbstmords.“ „Leider.“
39 Wir gingen zum Wagen. Seine Berliner Nummer war durch eine einheimische ersetzt worden. Leutnant Lorenz lenkte ihn. Ich hatte Oberleutnant Quidde gebeten, uns den Tatort an der Brücke zu zeigen. Nicht etwa, weil ich glaubte, wir könnten dort monatelang später noch etwas entdecken oder gar finden – denn die Protokolle und technischen Berichte in den Akten bewiesen, wie gewissenhaft unsere Genossen aus Weimar und Erfurt gearbeitet hatten –, sondern um einen persönlichen Eindruck zu gewinnen. Denn die besten Fotos und Zeichnungen eines Tatorts können nicht das ersetzen, was das aufmerksame Auge „aufnimmt“, weil jene stets nur Teile eines Ganzen wiedergeben können. Am Tatort angekommen, verglichen wir. Das Brückengeländer war natürlich längst wieder repariert, nur eine etwas hellere Tönung des Anstrichs sowie zwei weiße Flecken am Pfosten, wo die beiden Enden des Geländers neu einzementiert worden waren, ließen erkennen, an welcher Stelle der Wagen aufgeprallt war. Auch die Stelle, wo das Fahrzeug verkehrswidrig auf der linken Straßenseite geparkt und von wo es mit dem Toten am Lenkrad in Fahrt gesetzt worden war, konnte an Hand der exakten Zeichnungen, welche die Mitarbeiter 206
der trassologischen Abteilung angefertigt hatten, leicht wiedergefunden werden. Wir vermochten uns den Hergang mühelos vorzustellen. „Wo aber wurde der Wagen präpariert, wo wurde der Tote hineingehoben?“ fragte ich. „Es ist doch kaum anzunehmen, daß dies auf der Straße geschah, wo jeden Augenblick, wie es ja auch laut Zeugenaussagen geschehen ist, andere Fahrzeuge vorbeikommen konnten.“ „Es ist auch nicht anzunehmen, daß Ernst Hell hier erschossen worden ist“, ergänzte Leutnant Lorenz meine Frage. „Man hat seinen Körper lediglich vom rechten Sitz hinter das Lenkrad geschoben, und schon das benötigte einige für die Mörder wertvolle Minuten.“ „Wir nehmen auch gar nicht an, daß der Mord hier erfolgt ist“, sagte Quidde. „Denn dann hätten wir Spuren – die Patronenhülse oder zumindest Blut – finden müssen. Das war, außer einigen zertrampelten und einander überlagernden Fußspuren, die wertlos waren, nicht der Fall. Aber wir fragten uns selbstverständlich: Wie ist der Wagen hierhergefahren worden? Ist er, wenn die Täter die rechte Fahrbahn benutzten, rückwärts auf die linke zurückgestoßen worden? Unsere Trassologen lehnen diese Version ab. Sie hätten dann, so erklärten sie, bestimmt die entsprechenden Reifenspuren gefunden.“ „Also muß der Wagen“, folgerte Leutnant Lorenz sofort, „schon vorher eine große Strecke auf der linken Straßenseite bis zu der Stelle, wo wir hier stehen, gefahren worden sein, denn er stand mit dem Kühler in falscher Fahrtrichtung. Wäre er, was man auch annehmen könnte, gewendet worden, dann hätte das so unverkennbare Reifenspuren gegeben, daß man kein Trassologe zu sein braucht, um sie sogleich zu erkennen.“ 207
„Stimmt genau“, nickte Quidde. „Wir haben deshalb auch die ganze Straße nach beiden Seiten hin fast zwei Kilometer weit gründlich abgesucht, um die Stelle zu finden, wo der Wagen entweder gewendet oder, was viel wahrscheinlicher war, wo er von der rechten auf die linke Straßenseite gefahren wurde.“ „Und?“ fragten Lorenz und ich gleichzeitig. „Es gibt keine solche Stelle.“ Lorenz dachte kurz nach. „Also müßten die Täter über eine Strecke von mehr als zwei Kilometern die linke Straßenseite benutzt haben, sonst hätte man die Übergangsstelle von rechts nach links zumindest auf der Straßenmitte gefunden. Da es aber ganz unwahrscheinlich ist, schon wegen der eventuell entgegenkommenden Fahrzeuge, die Fahrbahn zwei Kilometer lang auf der falschen Seite zu benutzen, gibt es nur eine Schlußfolgerung …“ „Und die wäre?“ warf ich ein. „Daß der Wagen überhaupt nicht auf dieser Straße von Weimar her gekommen ist.“ Etwas ärgerlich geworden, fragte ich ironisch: „Er ist also vom Himmel herab hierhergefallen?“ Oberleutnant Quidde, der unser kameradschaftliches Arbeitsverhältnis mittlerweile erkannt hatte, amüsierte sich offenbar über unsere kleine Kabbelei. Er griente. „Nein“, sagte Lorenz, ohne meine Ironie zu beachten, „aber er ist hier in der Nähe aus einem Seitenweg gleich auf die linke Straßenseite eingebogen und nur einige hundert Meter weit verkehrswidrig gefahren.“ Quidde lachte. „Kommen Sie mit“, sagte er und führte uns etwa zweihundert Meter auf der linken Fahrbahn zurück, erst an Ginster, Erlen, Weidengebüsch und niedrigen Birken vorbei bis zu einer Stelle, wo ein größeres Stück Gemischtwald begann. „Hier fuhr der Wagen 208
immer noch links bis zum Tatort“, erklärte er beiläufig, „obwohl dies trassologisch nicht nachgewiesen werden konnte.“ Nach etwa fünfzig weiteren Metern gelangten wir tatsächlich an einen Waldweg. „Von hier aus“, sagte Oberleutnant Quidde, „ist der Wagen auf die Straße eingebogen. Mein Kompliment, Genosse Leutnant.“ Er wandte sich an Lorenz. „Wir haben damals leider nicht so schnell geschaltet. Wir haben umständlich gesucht. Das hat uns zwei Tage zeitraubende Kleinarbeit gekostet und den Tätern einen nicht wieder aufzuholenden Vorsprung gesichert.“ Obwohl viele Monate vergangen waren, sahen wir auf dem Sandweg noch zwei Furchen, aber selbstverständlich keinerlei Profilspuren mehr. „Leider“, fuhr Oberleutnant Quidde fort, „wies das Reifenprofil des Mordwagens keine markanten Kennzeichen auf; allerdings hätten sie sich hier, in dem leichten, damals besonders trockenen Sandboden, auch wohl kaum abgezeichnet. Das einzige, was unsere Fachleute verantwortlich sagen konnten, war, daß die Spur von dem BMW herrühren konnte, nicht aber, daß sie identisch war.“ „Das habe ich den Berichten entnommen“, sagte ich. Lorenz fragte aufgeregt: „Aber man hat doch gewiß auch diese Spur in den Wald hinein verfolgt?“ „Selbstverständlich, Genosse Leutnant. – Bitte, kommen Sie mit“, forderte Quidde uns auf. Wir verfolgten den Waldweg etwa fünfzig bis siebzig Meter weit. Dort endete er in einer Lichtung, die mit Heidekraut und niedrigen Ginsterbüschen bewachsen war und von der drei weitere, völlig ausgefahrene, tief zerfurchte Wege weiter in den Wald hinein abzweigten. „Auf einem dieser drei Wege muß der Wagen gekommen sein“, erläuterte uns Quidde. „Aber sie waren schon 209
damals von Holzfuhrwerken und Zugmaschinen derart zerwühlt, daß trotz sorgfältigstem, meterweisem Absuchen durch unsere Trassologen keine PKW-Reifenspur zu finden war.“ Wir betraten die Lichtung. „Hier wurden einige Holzspänchen gefunden, von denen in einem Bericht die Rede ist.“ Lorenz, die junge Stirn von angestrengtem Grübeln komisch zerkraust, nickte. „Ich verstehe. Hier wurden die Holzkeile zum Festklemmen des Gaspedals und der Kupplung eingepaßt.“ „Richtig. Hier hat der Wagen gestanden. Das Heidekraut war damals sehr zertrampelt. Wir fanden hier auch den Mantelknopf, der dem Bericht als Fundstück beigegeben ist. Aber abgesehen davon, daß dieser Knopf nicht unbedingt von einem der Täter verloren worden sein mußte, konnten wir damit, da niemand verdächtig war, gar nichts anfangen.“ „Das sieht aber jetzt etwas anders aus!“ rief Lorenz und machte sich rasch eine Notiz. „Bedeutsamer ist etwas anderes“, fuhr Oberleutnant Quidde in seiner Erklärung fort. Er ging etwa fünf Meter zur Seite. „Hier fanden wir im Heidekraut Ölspuren, die, wie Sie der chemischen Analyse im selben Bericht entnehmen können, nicht vom Motor des Mordwagens abgetropft sein konnten.“ „Das heißt, dort hat noch ein zweiter Wagen gestanden!“ rief Leutnant Lorenz. „Oder zu ganz anderer Zeit eine Zugmaschine, ein LKW oder dergleichen, ein Fahrzeug, das nichts mit unserer Sache zu tun hat“, antwortete Oberleutnant Quidde trocken. „Sie können sich denken, daß wir deshalb unter den Waldarbeitern und Fahrern zahllose Ermittlungen an210
gestellt haben; leider, wie Sie ebenfalls den Vernehmungsprotokollen entnehmen können, völlig ergebnislos.“ Leicht enttäuscht und sehr in Gedanken wanderten wir zu unserem Wagen zurück und fuhren nach Jena.
40 Oberleutnant Quidde hatte veranlaßt, daß mir von der dortigen Abteilung K ein alter, am hinteren Kotflügel eingebeulter und verschrammter Personenwagen, ein Ifa F 9, und für Leutnant Lorenz ein Wartburg zur Verfügung gestellt wurde. Quidde behielt unseren Erfurter Dienstwagen, einen Škoda, selbstverständlich ebenfalls nicht als Polizeiwagen kenntlich. Unsere Tagesaufgaben hatten wir schon morgens aufeinander abgestimmt. Leutnant Lorenz suchte die am Stadtrand gelegene Tankstelle auf, die der jüngere der beiden Söhne Gustav Überlohs, Dieter, betrieb. Lorenz ließ seinen Tank auffüllen und begann dabei ein Gespräch. Hinter der Tankstelle stand ein Wagen auf der Hebebühne; ein Mann im Overall war dabei, ihn abzusprühen. „Das hätte meiner auch bitter nötig“, sagte Lorenz. „Aber jetzt kann ich mich leider nicht aufhalten.“ Der Tankwart Überloh, etwa gleichaltrig mit Lorenz, ein breitschultriger, in seinem Wesen offener, sogar etwas angeberischer Mann, lachte. „Da stehen schon fünf andere und warten“, sagte er. „Wenn Sie wirklich wollen, können wir einen Termin in der nächsten oder übernächsten Woche ausmachen. Vorher nicht.“ Er prüfte den Wasserstand. „In Ordnung“, sagte er. „Luft?“ 211
„Wenn Sie bitte mal nachsehen wollen?“ Und Lorenz plauderte weiter. „Ich könnte Ihnen den Wagen nur abends bringen.“ „Gut, dann käme er morgens als erster dran.“ „Aber ich möchte ihn nicht über Nacht im Freien stehenlassen. Man hat mir gesagt, Sie vermieteten auch Garagen.“ Dieter Überloh hängte den aufgerollten Schlauch über die Luftpumpe. „Aber doch nicht hier draußen“, wehrte er ab. „In der Stadt, hinter der Werkstatt meines Vaters. Aber die sind alle vermietet oder werden gebraucht.“ „Jedenfalls werde ich es mir überlegen“, sagte Lorenz und zahlte. Er hätte sich beinahe verrechnet, so aufgeregt war er plötzlich. Er hatte etwas gesehen.
41 Die Reparaturwerkstatt Gustav Überlohs lag an einer Hauptstraße innerhalb der Stadt hinter einem hohen, rostigen Eisengitter. Der Hof war vollgestellt mit alten und neuen Wagen; an zweien wurde gearbeitet. In einem Winkel türmte sich allerlei Schrott: Achsen, Getriebe, Federblätter, Gestänge, Kolben und Zylinderblöcke verschiedenster Typen. Die Spritzlackiererei, auf die ich es vornehmlich abgesehen hatte, war in einem schuppenähnlichen Seitengebäude untergebracht. Es hatte zwei große Flügeltüren, deren eine, mit allerlei Farbproben gebatikt, geschlossen war; die andere stand offen, und ich sah einen Mann beim Lackieren. Auch er breitschultrig, grobknochig, blond, etwa fünfunddreißigjährig. Er hatte, als ich vorfuhr, nur gleichgültig zu mir herübergeblickt. 212
Eines war mir nach einem prüfenden Blick auf die Werkstatt sofort klar: Es gab überall, besonders auf dem Boden, so viel Lackflecken in allen nur denkbaren Farben und Farbtönen, daß es ganz unmöglich war festzustellen, ob hier ein bestimmter Wagen „umfrisiert“ worden war. Das wäre, selbst wenn unsere Mitarbeiter sehr bald nach dem Mord an der Brücke eine Untersuchung vorgenommen hätten, wahrscheinlich ergebnislos geblieben. Als ich den Werkraum betrat und grüßte, stellte der Mann die Spritzpistole ab. „Sind Sie der Meister?“ „Ja.“ „Herr Gustav Überloh?“ „Das ist mein Vater; ich heiße Eugen mit Vornamen.“ „Ich möchte diesen Wagen lackieren lassen. Muß ich mich da erst an Ihren Vater wenden?“ „Nein, das ist mein Geschäft.“ Er besichtigte den Wagen. „Erst muß allerdings der Kotflügel ausgebeult werden. Das kann drüben in der Werkstatt meines Vaters gemacht werden. Dann können wir hier mit dem Spachteln beginnen. Vier- oder fünfmal. Aber zwischendurch können Sie das Fahrzeug benutzen. In drei, vier Wochen spritzen wir es dann.“ „Ich möchte aber eine andere Farbe …“ „Wenn Sie nicht etwas ganz Ausgefallenes wünschen, ich habe alle gängigen Farben am Lager.“ Er deutete auf die Rückwand der Werkstatt, wo zahlreiche Blechtonnen aufgestapelt standen. „Noch eine Frage, Herr Überloh. Zum Spritzen brauchen Sie doch mehrere Tage?“ „Zum Trocknen. Das hängt vom Wetter ab.“ „Ich verstehe. Natürlich kann der Lack nicht bei Regen oder Staub im Freien trocknen. Aber Sie besitzen doch, 213
wie ich hörte, mehrere Garagen.“ „Die gehören meinem Bruder. Außerdem ist keine frei.“ „Vielleicht könnte ich darüber mit Ihrem Bruder sprechen?“ „Ist nicht hier. Hat auch keinen Zweck. Außerdem sind sie zu weit weg. Dort hinten.“ Er deutete mit der farbverschmierten Rechten nach der gegenüberliegenden Seite des Hofs. „Einen frisch lackierten Wagen kann man nicht dorthin schieben. Und wie gesagt, es sind auch alle Garagen besetzt.“ „Schade“, murmelte ich und sah mir die Reihe der Garagen an. Es waren zehn, alle vom Hofe her zugängig, aber zwei Tore waren mit aufgebockten Fahrzeugen blockiert. „Die beiden letzten, dort links“, sagte ich, während er wieder zur Spritzpistole griff, „können doch gar nicht in Gebrauch sein.“ „Warum nicht?“ fragte er mit jenem leisen, überlegenen Lachen, das Handwerker oft uns Laien gegenüber anschlagen. „Weil man nicht hineinfahren kann.“ „Sie sind aber schlau, Herr“, sagte er und lachte mit einem Beiklang von Mitleid. „Alle unsere Garagen haben hinten noch eine Ausfahrt zur Knollstraße. Die beiden linken gehören Dauermietern, die nicht über unseren Hof, sondern immer von der Knollstraße her einfahren.“ „Ach so …“ „Ja, so ist das.“ Und er machte sich wieder an seine Arbeit. Doch schon im nächsten Augenblick wurde er abermals gestört. Oberleutnant Quidde, bebrillt, eine Aktentasche unter dem Arm, kam heran. „Krüger“, stellte er sich vor. „Ich komme von der Steuer.“ 214
Eugen Überlohs Gesichtsausdruck wurde sofort abweisend. Mißtrauisch fragte er: „Und?“ „Hier ist mein Ausweis.“ Quidde, der mich selbstverständlich keines Blicks würdigte, griff zur Brusttasche. „Damit habe ich nichts zu tun“, wehrte Überloh ab. „Gehen Sie ins Büro – da drüben.“ „Dort war ich bereits. Die Lacklieferungen und den verrechneten Verbrauch habe ich den Geschäftsbüchern entnommen. Das stimmt alles, soweit ich es bis jetzt übersehen kann. Wollen Sie mir nun bitte behilflich sein, die Lagerbestände aufzunehmen?“ Eugen Überloh zuckte mißmutig die breiten Schultern. „Zeitverschwendung“, murrte er. „Aber wenn’s unbedingt sein muß, bitte.“ Er ließ Quidde in die Werkstatt vorangehen. Zu mir sagte er absichtlich laut, damit es Quidde hören sollte: „Da sehen Sie’s mal wieder, was man uns kleinen Leuten für Schwierigkeiten macht, und nicht bloß diese Bürokraten von der Steuer …“ Ich nickte unbestimmt, wendete meinen Wagen und fuhr vom Hof in die Gasse hinter den Garagen, in die Knollstraße. Es hätte vielleicht unnötigen Verdacht erregt, wenn ich im Hof noch nach dem alten Überloh gefragt hätte; lieber sah ich mir die Knollstraße und die hinteren Ausfahrten der Garagen genauer an. Nur zwei einstöckige Wohnhäuser gab es auf der gegenüberliegenden Seite; alles andere waren Lagerschuppen, Werkstätten und mehrere umzäunte Baugrundstücke. Von dieser Gasse aus konnten, vor allem nachts, die Garagen benutzt werden, ohne daß es jemand hörte oder sah. Ob auch der gestohlene BMW des Arztes Aschock, überholt und neu gespritzt, von hier abgefahren war, möglicherweise schon mit dem Ermordeten im Fond oder im Gepäckraum? 215
42 Ich wartete bereits im „Bären“, als Lorenz und Quidde fast gleichzeitig eintrafen. Ich sah es Lorenz sofort an, daß er darauf brannte, eine wichtige Neuigkeit loszuwerden. Aber wie in Berlin, so hielt ich es auch hier: Bei Tisch lehnte ich alle dienstlichen Gespräche ab. Und als wir mit dem Essen fertig waren und bei einer Tasse Kaffee saßen, forderte ich – sehr zum Kummer meines Mitarbeiters – zuerst Oberleutnant Quidde zur Berichterstattung auf. „Ich kann noch nichts Genaues sagen“, meldete er. „Die Zahlen müssen noch gründlich überprüft werden. Aber soviel sehe ich jetzt schon: Es besteht eine gewisse Differenz zwischen den als geliefert verbuchten, von mir kontrollierten Lagerbeständen und dem abgerechneten Verbrauch. Diese Differenz ist jedoch nicht auffallend groß. Der Zeuge Überloh erklärt eventuelle Unstimmigkeiten mit der Tatsache, daß man die bei Ausbesserungsarbeiten verbrauchte Lackmenge nie genau angeben könne. Wenn es sich dabei, was fast immer der Fall wäre, um besonders angefertigte Mischungen handle, werde der für andere Fahrzeuge unverwendbare Rest fortgeschüttet. Ich glaube nicht“, schloß Oberleutnant Quidde mißmutig, „daß wir etwas Beweisträchtiges entdeckt haben.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Wollen Sie mir, wenn Sie es bei sich haben, Genosse Hauptmann, noch einmal das Foto der Frau Leysing zeigen?“ fragte er unvermittelt. Ich hatte die Abzüge in meiner Aktentasche. „Bitte, hier.“ Quidde sah sie sich an. „Das ist hochinteressant“, 216
sagte er, und seine hellen Augen funkelten. „Als ich nämlich ins Büro kam, um nach dem Chef zu fragen, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen: An der Schreibmaschine saß Frau Edeltraut Leysing! Wenigstens schien es mir im ersten verblüffenden Augenblick so. Allerdings mußte ich dann erkennen, daß ich mich getäuscht hatte. Es wäre ja auch verrückt gewesen. Aber“ – er starrte auf die Fotos, die er gefächert in der Hand hielt – „diese Ähnlichkeit! Direkt frappierend … Und doch, wenn man genauer hinsieht, auch wieder nicht …“ „Frau Leysing ist ein sehr durchschnittlicher, weitverbreiteter Frauentyp“, suchte ich zu erklären. Leutnant Lorenz konnte nicht länger an sich halten. „Aber ich habe wirklich jemand entdeckt!“ flüsterte er heiser und sah sich um, ob kein Kellner in der Nähe war. „Wissen Sie, wen? Den Mann mit der schiefen Schulter! An der Tankstelle Dieter Überlohs. Er sprühte einen Wagen ab.“
43 Da wir im Augenblick über drei Fahrzeuge verfügten, konnten wir nachmittags noch eine andere wichtige Ermittlung durchführen. Oberleutnant Quidde fuhr nach Eisenberg, Leutnant Lorenz hinauf nach Camburg, ich nach Weimar. Als wir am Spätnachmittag die geliehenen Wagen in Jena abgeliefert hatten und uns trafen, um gemeinsam in unserem Dienstwagen nach Erfurt zurückzufahren, hatten wir bei drei Zeugen festgestellt, daß die angebliche Zahnärztin Elke Dalibor identisch war mit der auf 217
unseren Fotos festgehaltenen Metzgersgattin Jutta Kufferath. Während der Fahrt waren wir so zufrieden wie schon lange nicht mehr. Das Netz zog sich zusammen.
44 Was hatten wir erreicht, was nicht? Während wir uns darüber klarzuwerden versuchten, schrieb Oberleutnant Quidde die einzelnen Punkte untereinander. Wir kamen auf acht. Erstens war Frau Jutta Kufferath eindeutig des illegalen Handels mit Gebrauchtwagen und des Benutzens eines falschen Personalausweises sowie der Urkundenfälschung im Postscheckamt Erfurt überführt. Wir konnten sie jederzeit festnehmen lassen und dem Untersuchungsrichter übergeben. Doch das wäre unklug gewesen. Wenn sie an einem der beiden Morde – direkt oder indirekt – beteiligt war, müßten wir sie überführen; auf ein Geständnis in der Untersuchungshaft durften wir bei dieser Frau nicht rechnen. Je weniger sie sich im Augenblick bedroht fühlte, desto mehr konnten wir auf erfolgreiche neue Ermittlungsergebnisse hoffen. Zweitens hatten wir einen Zwischenhändler, den Mann mit der schiefen Schulter, identifiziert. War es zweckmäßig, ihn festzunehmen? Auch das berieten wir. Daß es uns über kurz oder lang gelingen würde, den Schieberring aufzurollen, war kaum zu bezweifeln, denn die Erfahrung besagt: Wenn man erst mal einen hat, hat man, trotz aller Sicherungen, bald auch die anderen. Wir benötigten den Mann im Augenblick noch nicht. Er lief uns 218
nicht fort. Nähmen wir ihn jedoch fest, wären die Überlohs, bei denen er angestellt war, gewarnt. Vorerst konnten wir ihnen noch nicht einmal nachweisen, daß sie, obwohl wir davon überzeugt waren, für den Ring arbeiteten, ihm wahrscheinlich sogar angehörten. Ziemlich sicher wurden in ihren Werkstätten gestohlene Wagen „umfrisiert“ und altersschwache „verjüngt“; aber hatten deshalb die Überlohs mit dem Mord an der Brücke mehr zu tun, als daß der BMW, in dem Ernst Hell ermordet aufgefunden wurde, durch ihre Hände gegangen war? Drittens blieb die Frage offen, weshalb sich Werner Hell zur Zeit des Mordes in Jena einquartiert hatte. Es gab außer den Behauptungen der beiden Kufferaths und seiner Mutter, er habe seinen Bruder Ernst besuchen wollen, keinen Anhaltspunkt. Im Gegenteil: Warum war er dann nicht nach Erfurt gefahren und hatte im selben Hotel übernachtet wie sein Bruder? Überdies standen die Brüder Hell nicht so zueinander, daß ein bloß familiärer Besuch glaubhaft war. Es mußte tiefer liegende Gründe oder sogar einen völlig anderen Anlaß zu der Reise Werner Hells gegeben haben. Nach allen bisherigen Ermittlungen war es aber auch sehr unwahrscheinlich, daß Werner Hell in die Schiebergeschäfte verwickelt gewesen war; wir durften sogar annehmen, daß er gar nichts davon gewußt hatte. Viertens gab es auch keinerlei Anhaltspunkte, daß Ernst Hell ausgerechnet wegen Schwarzhandels mit Gebrauchtwagen in der DDR aus Westdeutschland herübergekommen sein sollte. Dabei gab es für ihn nichts zu verdienen. Also alte Abrechnungen, vielleicht mit seinem früheren Komplizen Benno Leysing? Oder mit Frau Kufferath? Verjährter Streit? Mit wem? Erpressung? Wir tappten im dunkeln. Nicht einmal die Tatsache, daß Ernst 219
Hell tot in dem gestohlenen BMW gefunden worden war, bewies, daß er zu dem Schieberring gehört hatte; jedes einzelne Mitglied der Bande konnte ihn getötet und seine Leiche in den Wagen gesetzt haben. Was aber hatte es zu bedeuten, daß der gestohlene, gründlich „umfrisierte“ Wagen noch das verräterische Nummernschild trug? Fünftens: Über Person und Charakter des Benno Leysing waren wir uns im klaren. Er arbeitete während seines Aufenthalts in Weimar ziemlich sicher als einer der Organisatoren des Schieberrings, sozusagen als Adjutant der Frau Kufferath, die ihn, um ihn zur Hand zu haben, veranlaßt hatte, im selben Hotel abzusteigen. Einen stichhaltigen Nachweis für seine Tätigkeit hatten wir jedoch bis jetzt auch noch nicht erbracht. War Benno Leysing – und somit auch Frau Kufferath – in die Mordsache verwickelt? Das wußten wir noch weniger, aber gerade darauf kam es an. Vielleicht war alles ganz anders? Hatte Leysing, ohne jeden Zusammenhang mit den Autoschiebungen und mit Frau Kufferath, allein etwas mit seinem früheren Komplicen Ernst Hell „abzurechnen“ gehabt? Alles offene Fragen. Sechstens war immerhin zu prüfen – Oberleutnant Quidde drängte darauf –, ob der Ähnlichkeit der Schreibkraft im Büro Gustav Überlohs mit Frau Leysing eine Bedeutung zukam. Beschluß: Es ist zunächst zu ermitteln, wie sie heißt und wie ihr Arbeitsverhältnis beschaffen ist. Auftrag für Leutnant Lorenz. Siebtens wurde beschlossen, unsere Berliner Mitarbeiter mit der Ermittlung zu beauftragen, ob der Mantelknopf, der in der Waldlichtung gefunden worden war, möglicherweise von einem Kleidungsstück Werner Hells oder Benno Leysings stamme. Daß er nicht von der Kleidung des Ermordeten abgerissen war, stand fest. Die Garderobe der beiden 220
Genannten war in Berlin leicht und unauffällig zu überprüfen. Von einer Untersuchung der Kleidungsstücke Jutta Kufferaths nahmen wir Abstand, um sie nicht durch eine verfrühte Haussuchung zu warnen. Achtens übernahm es Oberleutnant Quidde, Bewohner der beiden Häuschen in der Knollstraße zu vernehmen, ob sie, vor allem in der Mordnacht oder tags zuvor, irgend etwas Auffälliges beobachtet hatten. Wir setzten darauf allerdings wenig Hoffnung, denn es waren rund sechs Monate vergangen. Zum Schluß dieser Beratung verlas ich noch ein nachts eingegangenes Fernschreiben von Oberleutnant Becker: „Betrifft Alibi Edeltraut Leysing: Zeugin benennt eine Freundin, die Friseuse Agnes Kemmrich, mit der sie am sechzehnten November neunzehnhundertzweiundsechzig das Kino Babylon besucht habe. Genannte Freundin glaubt sich zu erinnern. Befragt, ob Frau Leysing die Aussage vorher mit ihr besprochen habe, antwortete Fräulein Kemmrich: ‚Ja, selbstverständlich, wir haben zusammen überlegt, ob es wirklich an diesem Abend war.‘ Setzen Ermittlung fort. – Becker, Oberleutnant.“ Dieses Fernschreiben verstärkte, obwohl Frau Leysings Alibi immer noch fragwürdig blieb, unsere Vermutung, man könne die Schreibkraft Überlohs, die ihr so ähnlich sah, mit ihr verwechselt haben. Wenn bei dem Versuch, ein Alibi nachzuweisen, keine falschen, sondern nur unbestimmte oder irrtümliche Angaben gemacht werden, beweist das nichts; denn wer erinnert sich Monate später noch an den Ablauf eines bestimmten Tages, an dem nichts Markantes geschah? Dennoch unterlief uns in diesem Zusammenhang, wie sich später herausstellte, ein dummer Fehler. Eigentlich war es nur ein Versäumnis; aber wir hätten uns, wären 221
wir aufmerksam gewesen, sehr viel überflüssige Arbeit und manchen Umweg ersparen können. Ich bin überzeugt, dem gewissenhaften Oberleutnant Becker wäre das nicht passiert.
45 In Berlin hatten wir, sogar unser trockener Oberleutnant Becker, schon manchen schlechten Witz über die leichte Entflammbarkeit unseres temperamentvollen Kollegen Lorenz für hübsche junge Frauen und Mädchen gemacht. Vermutlich in Erinnerung daran, lachte er wohl fröhlich-wissend, als ich jetzt nicht, was naheliegend gewesen wäre, Oberleutnant Quidde, sondern ihn beauftragte, die Schreibkraft im Büro Überlohs unter die kritische Lupe zu nehmen. Unwillkürlich begründete ich es: „Der Genosse Quidde und ich sind nämlich bereits auf dem Grundstück gesehen worden.“ Er griente unverschämt. „Ach so …“ Aber er machte seine Sache ausgezeichnet. Kurz vor der Einfahrt zur Werkstatt tauschte er eine der Zündkerzen mit einer schadhaften aus, rollte mit spuckendem Motor auf den Hof und ging ins Büro. Seine Verblüffung, dort Frau Edeltraut Leysing, wie sie leibte und lebte, an der Schreibmaschine sitzen zu sehen, war noch größer als die Oberleutnant Quiddes, der Frau Leysing ja nur von Fotos kannte. Was diese Frau von Edeltraut Leysing unterschied, war geringfügig: sie schien etwas jünger, war lebhafter, offener und anscheinend auch intelligenter; aber ihr blondiertes Haar stand im selben unschönen Widerspruch zu den dunklen Augen. 222
Es dauerte nur wenige Minuten, da saß Leutnant Lorenz schon auf der Tischkante, plauderte belanglos-lustig mit der derben Schönheit, bot ihr eine Zigarette an, und sie rauchten. Der „Alte“, wie sie ihren Chef Gustav Überloh nannte, war irgendwo auf dem Hof oder in der Werkstatt bei der Reparatur eines Wagens. Sie waren allein. Lorenz schien ihr besonders gut zu gefallen, denn als er zwischendurch fragte, was denn nun mit seinem Wagen werden solle, fragte sie: „Haben Sie’s denn so furchtbar eilig?“ Was Lorenz, darin hatte er offenbar einige Übung, sofort ausnützte. „Im Moment ja, aber wie wär’s mit uns beiden Hübschen heute abend? Kino oder ein bißchen tanzen?“ Ohne zu zögern, sagte sie zu. „Okay.“ Leutnant Lorenz mußte sich sekundenkurz sehr zu äußerlicher Unbefangenheit zwingen, denn dieses „Okay“ hatte einen Gedankenblitz in seinem Kopf ausgelöst. Sie verabredeten sich in einem Tanzcafé. „Nein, holen Sie mich bitte nicht ab“, bat sie, „es ist nicht unbedingt nötig, daß man uns sieht …“ Sie ahnte natürlich nicht, wie wenig ernst der junge Mann sein Kavaliersangebot, sie abzuholen, gemeint hatte. „Wie heißen Sie denn?“ fragte er. „Anita Pinndopp.“ „Aber ich darf einfach Anita sagen?“ Sie drohte ihm neckisch, und das paßte ganz und gar nicht zu ihr, mit dem Finger; weit mehr paßte zu ihr das, was sie dann sagte: „Sie gehn aber ’ran!“ „Scheint bloß so“, versicherte er und strahlte sie jungenhaft an. Sie führte ihn zum „Alten“, der zwar etwas von „keine Zeit“ und „wie soll ich denn da mit meiner Arbeit fertig werden“ murrte, dann aber doch einen Schlosser 223
beauftragte, „mal in die Mühle“ hineinzuschauen. Als Lorenz sich umsah, war Anita Pinndopp – was für ein verrückter Name – schon wieder auf dem Weg ins Büro; offenbar befürchtete sie, der „Alte“ könne bei einem allzu freundlichen Abschied von dem jungen Mann etwas wittern. Natürlich fand der Reparaturschlosser den Fehler, kaum daß Lorenz den Motor angelassen hatte. Er schraubte eine neue Kerze ein; und während er die andern prüfte, sah sich Lorenz unauffällig den Chef genauer an. Gustav Überloh war ein kräftiger Mittfünfziger, noch mit vollem Haar, rauh und polternd in seinem Wesen, ein intensiver Arbeiter, denn er faßte, wie Lorenz beobachtete, tüchtig mit zu; sein Arbeitskittel, seine Hände und sogar sein breites, gutmütig-bärbeißiges Gesicht waren ölverschmiert. Der macht bestimmt jeden Tag Überstunden bis in die Nacht hinein, dachte Lorenz. „So, nun läuft er wieder rund“, unterbrach der Schlosser diese Gedanken, „starten Sie mal.“ Dann begleitete er ihn ins Büro, rief Anita Pinndopp zu, was der Kunde zu zahlen habe, und wartete, bis das erledigt war. Lorenz spendierte ihm eine Zigarette, die er hinters Ohr steckte. Von Anita konnte Lorenz sich nur mit einem Augenzwinkern verabschieden.
46 Abends beim Tanz erfuhr er zunächst manches, was er schon vermutet hatte. Sie zierte sich nicht lange, bis sie ihm gestand, sie sei „eigentlich verheiratet“, stehe aber vor der Scheidung von 224
Herrn Pinndopp, einem Facharbeiter der Zeiss-Werke, einem „schrecklich langweiligen Spießer“. Sie sei eine geborene Überloh, ja, der „Alte“ sei ihr Vater. Zwei Brüder habe sie noch … Was Lorenz nun hörte, konnte ihn nicht mehr überraschen: etwa, daß sie noch eine Schwester habe, „gut verheiratet in Berlin mit einem gewissen Leysing, Benno“, ob „Kurtchen“ ihn vielleicht zufällig kenne? Nein, nicht … Das hätte sie sich natürlich denken können, Berlin sei ja so groß. Von Beruf sei er „Pferdehändler oder so was“ und verdiene „klotzig viel Geld“. Etwas fiel Lorenz bei diesem unbekümmerten Geplapper auf. Nicht etwa, daß Frau Edeltraut Leysing bei ihrer Vernehmung diese Schwester nicht erwähnt hatte – das konnte unbeabsichtigt unterblieben sein –, aber Benno Leysing mußte heute oder morgen beerdigt werden, und die Schwägerin hatte offenkundig von allem, was in Berlin geschehen war, nichts erfahren. „Edeltraut heißt meine Schwester“, plauderte Frau Pinndopp unbefangen weiter. „Unsere Mutter hat uns so verrückte Namen gegeben: Edeltraut, Anita …, brrr! Wissen Sie, meine Freunde nennen mich alle nur Ann. Wollen Sie nicht auch? Anita ist doch schrecklich.“ Sie trank den Wein, den Lorenz bestellt hatte, wie Wasser. Die Musik setzte ein. Anita horchte kurz auf. „Okay. Ein Twist. Wollen wir?“ Aber sie war schon aufgestanden. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „Das wissen Sie doch: Kurt.“ „Nein, weiter.“ „Sie werden lachen: Meier, ganz einfach Meier.“ Schon auf dem Weg zur Tanzfläche: „Und wo arbeiten Sie?“ „Im Planetarium.“ 225
„Ah“, sagte sie hochachtungsvoll, „also Astrologe.“ „Ja, so etwas Ähnliches …“ Und sie tanzten. Nein, diese Anita Pinndopp geborene Überloh war doch nicht ganz der Typ, der Lorenz aufregen konnte. Zumindest nicht als Frau.
47 „Glück muß der Mensch haben“, begann Oberleutnant Quidde seinen Bericht, „besonders in unserem Beruf. Genossen, ich habe wirklich ganz unwahrscheinliches Glück gehabt …“ „Ich auch“, suchte ihm Lorenz den Rang abzulaufen. Aber Quidde fuhr unbeirrt fort: „Das Glück fängt damit an, daß es in der Knollstraße nur zwei Wohnhäuser, einstöckige Backsteinbauten, gibt und dort insgesamt nur sieben Familien und ein Junggeselle wohnen. Ich nahm mir die Bewohner systematisch vor, nicht allein natürlich, sondern mit zwei Genossen der hiesigen Abteilung K, sonst hätte es ja endlos gedauert. Es war ohnehin schon eine richtige Kleckerarbeit, mühselig und hoffnungslos. Wie erwartet, hatte niemand etwas Auffälliges gehört oder gesehen, und erst recht konnte sich keiner ausgerechnet an den sechzehnten November erinnern. Allgemeines Gerede: Ja, gewiß, es wären genau zehn Garagentüren; ja, gewiß, da führe auch oft noch spätabends oder nachts oder in aller Herrgottsfrühe jemand hinein oder käme heraus; gewiß, tagsüber erst recht, denn die Garagenmieter wollten doch nicht umständlich über den Werkstatthof fahren. Ja, ganz recht, 226
zwei oder drei Garagen hätten die Überlohs wohl nicht vermietet, denn dort kämen oft reparierte oder frisch lackierte Wagen heraus. ‚Aber doch wohl nicht nachts?‘ fragte ich. Nein, das habe noch nie jemand beobachtet. Von Beobachten könne übrigens nicht die Rede sein. Ob ich mir das denn nicht denken könne: Man sähe und höre schon gar nicht mehr hin, so habe man sich im Laufe der Jahre an das ‚verfluchte Geknatter‘ der Motoren und an das ‚widerliche Hupen‘ gewöhnt … Ja, bis spät in die Nacht hinein ginge das, und dann wieder früh am Morgen … Kurz, die Sache schien völlig aussichtslos. Doch da stieß ich ziemlich zuletzt auf einen Zeiss-Ingenieur, einen älteren Junggesellen übrigens, namens Lohgerber. Anfangs lauteten auch seine Aussagen nicht anders als die der übrigen Mieter. Bis ich ihn, immer noch ohne die geringste Hoffnung, fragte, ob er sich nicht doch erinnere, gelegentlich bemerkt zu haben, ob reparierte oder frisch lackierte Fahrzeuge zu sehr ungewöhnlicher Zeit aus einer der Garagen gekommen seien. Er schüttelte den Kopf, dachte dann aber doch nach. ‚Eigentlich ist mir das nur einmal aufgefallen‘, antwortete er schließlich, ‚Ich hatte mit einigen Freunden meinen Geburtstag gefeiert und kam danach zusammen mit einem dieser Freunde, einem Chemiker namens Wöller aus Weimar, durch die Knollstraße. Es war morgens gegen drei Uhr. Wöller sollte bei mir übernachten.‘ ‚Waren Sie nüchtern?‘ fragte ich. Jedenfalls nicht betrunken, nicht einmal, was man angeheitert nennt, einen ganz kleinen Schwips hatten wir … ‘ ,Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Was beobachteten Sie?‘ 227
,Beobachtet haben wir gar nichts; so interessant war es nun wieder nicht‘, antwortete er. ‚Aus einer der Garagen, es mochte die dritte oder vierte von links sein, wurde ein BMW gefahren, einer von den ganz alten Typen, wissen Sie, mit dem kleinen Rückfenster, das von einem Steg mittendurch geteilt wird. Aber der Wagen sah funkelnagelneu aus, beige, unten dunkelbraun abgesetzt, die reine Pracht. Ich sagte noch zu meinem Freund: Was man aus so einem alten Klapperkasten machen kann, das Ding sieht direkt vornehm aus. Ich erinnere mich noch gut, wie Wöller, der damals gern einen preiswerten Gebrauchtwagen gekauft hätte, antwortete: Trotzdem möchte ich den nicht geschenkt haben. Was meinst du, was so ein Urgroßvater für Mucken hat und was der an Treibstoff schluckt? Wir unterhielten uns dann noch, bis wir an der Haustür waren, über Autos.‘ ‚Herr Lohgerber‘, fragte ich den Mann, ‚können Sie sich vielleicht noch erinnern, wer den Wagen fuhr, wer das Garagentor schloß oder dergleichen?‘ ‚Ich würde Ihnen ja gern helfen‘, antwortete er und dachte nach. ‚Aber mir ist nur ganz dunkel, sozusagen schattenhaft erinnerlich, als hätte ein Mann den Wagen gesteuert und eine Frau neben ihm gesessen. Wer die Garage geschlossen hat, der Mann, die Frau oder ein Dritter …, darauf habe ich natürlich gar nicht geachtet. Ich könnte Ihnen nicht einmal sagen, in welche Richtung der Wagen wegfuhr. Aber vielleicht erinnert sich mein Freund Wöller noch daran‘, schloß er. Ich schrieb mir dessen Adresse auf und stellte dem Zeugen Lohgerber, auf eine ganz große Enttäuschung gefaßt, die entscheidende Frage: ‚Wann hatten Sie Geburtstag?‘ ‚Am fünfzehnten November.‘“ 228
48 Die Schläge mußten gleichzeitig erfolgen, dann waren Verwirrung und Unsicherheit auszunützen. Während der Mann mit der schiefen Schulter morgens vom Arbeitsplatz weg festgenommen wurde, fand in der Werkstatt, in der Wohnung, im Büro und im Hof Gustav Überlohs überraschend die polizeiliche Durchsuchung statt. In der Lackiererei Eugen Überlohs wurden die Lagerbestände detailliert nach Farben und Farbtönen aufgenommen und registriert. Mit verbissenem Gesicht sah er zu. Ich war bei den anderen Durchsuchungen zugegen. Der „Alte“ blieb sehr ruhig, beinahe stur. Bereitwillig, wenn auch öfter ein bißchen raunzend und mürrisch brummend, gab er Auskunft, öffnete Schränke, wies geforderte Unterlagen vor. Anita Pinndopp tat, als ginge sie das alles nichts an. Als ihr zweifelhafter Charme bei einem unserer jüngeren Genossen versagte, versuchte sie es ebenso vergebens mit burschikosem Humor. Auch ich war im ersten Moment von ihrer äußerlichen Ähnlichkeit mit ihrer Schwester betroffen. Im Büro fanden wir nichts Bemerkenswertes; die Bücher konnten später von Sachverständigen überprüft werden. Ich sah von einer Beschlagnahme ab. Wie nicht anders erwartet, entdeckten wir auch in der Reparaturwerkstatt nichts Belastendes. Drei der vier Autoschlosser verfolgten unsere Arbeit offensichtlich neugierig, der vierte hielt sich, uns mit mißtrauischen, lauernden Blicken beobachtend, abseits. Er war ein sehr junger, wohl kaum zwanzigjähriger Bursche. Die Wohnung Überlohs, in der wir ebenfalls nichts fanden, erzählte mir jedoch allerlei: fabrikmäßig hergestellte, 229
sicherlich nicht billige Möbel in nachgekitschtem Renaissancestil; an den Wänden kostspielig gerahmte, geschmacklose Ölgemälde; viele leer stehende Blumenvasen und unschöne Nippsachen, auf dem Tisch des Wohnzimmers eine Messingschale mit Birnen, Äpfeln, Trauben und einer Banane aus bemaltem Gips oder Wachs; auf den schweren, zweifellos selten oder nie benutzten lederbezogenen Sesseln, auf dem Tisch und einem breiten Sofa zahlreiche Decken und Deckchen in Handarbeit. Was jedoch bezeichnend war für die gesamte Wohnung: Auf allem lag Staub. Wer wie ich aus Berufsgewohnheit schon beinahe unwillkürlich nach Fingerabdrücken zu suchen pflegt, dem fällt das natürlich auf. Auch die anderen Räume, außer der Küche, den Schlafzimmern und einem mittelgroßen Wohnraum, wo sich offenbar das gesamte Familienleben abspielte, wurden sichtlich ganz selten benutzt. Überall abgestandene Luft, leicht muffig. Im ganzen Haus gab es kein Badezimmer, keinen Duschraum. In diesem Milieu hauste nun Herr Gustav Überloh mit seinen beiden Söhnen, einer Schwiegertochter und seiner Frau, einem kleinen, zähen, nachlässig gekleideten Geschöpf. Sie schien gut zehn Jahre älter als er, war aber, wie sich später herausstellte, sieben Jahre jünger. Sie stand am Herd und kochte etwas. Eine sehr dicke Blondine unbestimmbaren Alters, die Frau Eugen Überlohs, wusch irgendwelche Strümpfe oder Socken aus; ihr Kind, ein wohlgenährtes Mädchen von vielleicht zwei Jahren, spielte auf dem Fußboden. Wofür arbeiteten denn all diese Menschen so unermüdlich? Warum verletzten sie die Gesetze? Nur um Geld zu raffen und wieder Geld, mit dem sie offenkundig nichts anzufangen verstanden. Wir wußten: Gustav Überlohs Bankkonto belief sich auf rund 87000, das seines Sohnes 230
Eugen auf 42000 Mark, und Dieter, der jüngste, verfügte über mehr als 30000. Es erschien mir geradezu irrsinnig: dabei dieses Leben in Unkultur, Schmutz, geistiger Öde und Freudlosigkeit. Ein paarmal suchte ich durch beiläufig gestellte Fragen zu ermitteln, ob Gustav Überloh denn nicht irgendeine Neigung habe, sich irgendein Vergnügen außerhalb seiner täglichen Plackerei gönne. Ja, das war sein Wagen, ein fast neuer, großer Mercedes, den er hegte und pflegte und mit dem er sage und schreibe dreimal im vergangenen Sommer eine Art von Familienausflug ins Grüne unternommen hatte. In der Stadt benutzte er einen alten Opel, um den Mercedes zu „schonen“. Gegessen wurde miserabel; ich roch es immer noch, während wir im Schlafzimmer des Ehepaars vor allem die Joppen und Mäntel des Hausherrn untersuchten. Es fehlte kein Knopf, es war auch keiner neu angenäht worden, es gab unter den verhältnismäßig wenigen derben Kleidungsstücken auch keines, dessen Knöpfe dem in der Waldlichtung gefundenen auch nur ähnlich sahen. Sehr sorgsam durchsuchten wir den Hof, insbesondere den Schrotthaufen. Ich hatte dazu einen Kriminaltechniker mitgebracht. Er ließ zunächst alle Zylinderblöcke, ölverkrustet oder schon rostig die meisten, von dem andern Gerümpel absondern. Dann sah er sie sich genauer an. Drei stammten aus BMW- oder EMW-Fahrzeugen. Einer trug die Originalnummer, die nachträglich in den Block des Mordwagens eingeschlagen worden war. Damit hatten wir gerechnet. Wir konnten unsere Durchsuchung beenden. Gustav Überlohs breites, gutmütig-bärbeißiges Gesicht war etwas blaß. Der junge Reparaturschlosser blickte uns hinter einem aufgebockten LKW hervor mit zusammengepreßtem Mund böse nach. 231
49 Mitten in die Aufregung der Haussuchung hinein war – selbstverständlich nicht zufällig – ein Volkspolizist gekommen, der Anita Pinndopp die Vorladung zu einer Vernehmung überbrachte und sie aufforderte, gleich mitzukommen. Als ich mit Oberleutnant Quidde in dem Revier eintraf, saß sie dort schon über eine Stunde und wartete. Fünf Zigarettenstummel im Ascher erzählten mir von ihrer Nervosität. Aber sie gab sich beherrscht und machte zunächst sogar ein bißchen auf keß. Die Zeugenbelehrung und die Aufnahme ihrer Personalien ließ sie, ohne Aufregung zu verraten, über sich ergehen. Sie antwortete sachlich und, als sie merkte, daß ich ein paar humoristisch gemeinte Bemerkungen geflissentlich überhörte, weiterhin ohne überflüssige Zusätze. „Frau Pinndopp“, begann ich die Vernehmung zur Sache, „Sie sind da leider in eine sehr unangenehme Geschichte verwickelt. Das wissen Sie. Wenn Sie schuldlos sind oder sich nur geringfügig vergangen haben, liegt es vor allem in Ihrem Interesse, uns die volle Wahrheit zu sagen. Wenn Sie jedoch versuchen, die Sache zu verwirren, über die wir bereits mehr wissen, als Ihnen lieb sein kann, geraten Sie möglicherweise in so schweren Verdacht, daß wir Sie wegen Verdunklungsgefahr festnehmen müssen.“ „Ich will alles sagen.“ Die Auskünfte über ihr Arbeitsverhältnis und ihre Bürotätigkeit waren klar. Vor einem Jahr hatten die Zerwürfnisse mit ihrem Mann begonnen. Im Oktober hatte sie sich von ihm getrennt und ein möbliertes Zimmer 232
bezogen. Als ihr Mann – Quidde hatte ermitteln lassen: ein guter Facharbeiter und fortschrittlicher Mensch – die Scheidung beantragt hatte, gab sie ihre bisherige Stellung in der Expedition der Zeiss-Werke auf und ließ sich von ihrem Vater einstellen, für den sie ohnehin früher schon alle Büroarbeiten erledigt hatte. „Wieviel Gehalt bekommen Sie?“ „Dreihundertachtzig brutto.“ „Nicht mehr?“ „Nein.“ „Was verdienten Sie bei VEB Zeiss?“ „Vierhundertzwanzig, auch brutto.“ „Sie haben sich also verschlechtert?“ Sie zögerte kurz. „Ja, mein Vater ist sehr … sparsam. Er muß sich an die Tarife halten.“ „Erhielten Sie nicht gelegentlich noch zusätzlich Geld?“ „Nur, wenn ich Überstunden machte.“ „Sie können Auto fahren?“ Frau Pinndopp lächelte flüchtig. „Eigentlich von Kindheit an. Mit knapp achtzehn habe ich meine Fahrprüfung gemacht.“ „Sind Sie, seit Sie wieder bei Ihrem Vater arbeiten, öfter in seinem Auftrag gefahren?“ „Ja, ich habe reparierte Wagen zum einen oder andern Kunden gebracht. Aber selten.“ „Erhielten Sie dafür eine Extravergütung?“ „Von meinem Vater nicht. Die Kunden gaben mir dann und wann etwas.“ „Wieviel?“ „Fünf Mark oder wohl auch mal zehn.“ „Frau Pinndopp. Sie müssen die Wahrheit sagen. Das war doch nicht alles.“ 233
„Einmal, das war bei einem Kunden in Weimar, habe ich hundert gekriegt und ein andermal, ich weiß im Moment nicht mehr genau wo, fünfzig Mark.“ „Sehen Sie, jetzt kommen wir der Wahrheit schon näher. In diesen Fällen handelte es sich um Gebrauchtwagen, die der betreffende Kunde gekauft und, bevor er sie übernahm, in der Werkstatt Ihres Vaters oder Ihres Bruders Eugen hatte überholen lassen. Nicht wahr?“ Sie hob verwundert die Brauen. „Ja, das kann sein.“ Und sofort bereitwillig: „Ja, das stimmt.“ „Sie sehen, Frau Pinndopp, wir sind gut informiert. Bleiben Sie also weiter bei der Wahrheit.“ Sie nickte und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Haben Sie bei den Kunden auch gelegentlich Gelder kassiert?“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Wörtlich so, wie ich Sie gefragt habe.“ Sie wurde rot, atmete hastiger, an der Antwort druckste sie etwas herum. „Nein, kassiert eigentlich nicht. Natürlich habe ich in Jena öfter die quittierte Rechnung mitgehabt, und der Kunde hat mir das Geld, wenn es nicht viel war, gleich mitgegeben. Aber das meinen Sie wohl nicht …“ „Nein. Sie wissen recht gut, was ich meine.“ „Kunden außerhalb zahlen meist per Postscheck oder Bankanweisung …“ „Damit wir uns klarwerden, Frau Pinndopp: Ich spreche von größeren Beträgen, die Sie außerhalb Jenas kassiert haben.“ „Ich habe nichts kassiert.“ „Sondern?“ „Einige Kunden gaben mir geschlossene Umschläge mit.“ „Mit Banknoten darin?“ 234
„Es fühlte sich so an.“ „Das wollte ich wissen. Haben Sie sonst noch Fahrten für Ihren Vater oder andere Auftraggeber ausgeführt?“ Sie atmete sichtlich auf; diese Frage schien ihr – zu meiner Verwunderung – weniger heikel. Nach kurzem Nachdenken sagte sie: „Ich habe, seit ich wieder bei meinem Vater arbeite, zweimal Ersatzteile aus Eisenach geholt. Einmal, es muß im Januar oder Februar dieses Jahres gewesen sein, mußte ich einen Moskwitsch, den ein Kunde gebraucht gekauft hatte und der generalüberholt werden sollte, aus Altenburg abholen. Na ja …, und dann öfter kleine Fahrten in der Stadt oder in der nächsten Umgebung …“ „Sind Sie auch manchmal nachts gefahren?“ „Zwei- oder dreimal.“ „Um was ging es da?“ „Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. Wenn es bei einem Kundenbesuch außerhalb abends spät geworden war, kam ich bei der Rückfahrt in die Nacht hinein.“ „Außerhalb übernachtet haben Sie nicht?“ „Nein, nie. Das hätte zuviel gekostet, es lohnte sich nicht, und ich mußte doch auch am nächsten Morgen wieder im Büro sein.“ Sie lächelte zum erstenmal, aber es war ein unsicheres, nervöses Lächeln. „Vater schenkt einem nichts; er kennt nur eins: arbeiten und immer wieder arbeiten.“ „Frau Pinndopp, denken Sie jetzt mal sehr genau nach.“ In ihre Augen trat Angst. „Sind Sie einmal nachts von Jena weggefahren?“ „Ich … erinnere mich nicht.“ „Das ist schade – für Sie, meine ich.“ Gepreßt sagte sie: „Lassen Sie mich bitte nachdenken.“ „Ich rate Ihnen sogar dringend, es zu tun.“ 235
Sie legte beide Fäuste an die Schläfen und senkte den Kopf. Das wirkte billig-theatralisch, konnte aber echt sein. Dann richtete sie sich plötzlich auf und ließ die Arme sinken. Sehr bestimmt antwortete sie und sah mich dabei voll an: „Nein, ich bin niemals nachts von Jena weggefahren.“ Doch ich gab nicht nach. „Auch nicht Mitte November vorigen Jahres?“ Sie dachte gar nicht mehr nach. „Ich habe Ihnen doch gesagt: Nein, bestimmt nicht.“ „Ich will Ihnen behilflich sein. Erinnern Sie sich an einen BMW, der Mitte November vorigen Jahres überholt und dann beige und braun gespritzt worden ist? Es war eine sehr eilige Arbeit.“ Zum erstenmal wurde sie unwillig. „Was verlangen Sie denn von mir?“ fragte sie ärgerlich. „Bei uns verlassen täglich drei, vier und manchmal mehr Fahrzeuge aller Art – den Kleckerkram gar nicht gerechnet – in allen möglichen Farben den Hof und die Werkstatt. Und darauf soll ich im Büro achten? Das soll ich mir merken? Noch ein halbes Jahr später? Gucken Sie doch in die Bücher, da steht jede Reparatur drin. Dann erfahren Sie alles ganz genau.“ „O nein, Frau Pinndopp, Sie wissen recht gut, daß ich dann längst nicht alles erfahre. Zum Beispiel erführe ich aus Ihren Büchern nichts von gewissen Fahrzeugen, die zwar repariert und neu lackiert werden – hauptsächlich nachts – und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“ „Nachts bin ich nicht im Büro“, sagte sie trotzig. „Davon weiß ich nichts.“ „Schön, Frau Pinndopp“, antwortete ich nachlässig, „dann muß ich leider Ihr schwaches Gedächtnis auffrischen.“ Ich sah auf die Uhr. „Wir werden zusammen eine 236
kleine Spazierfahrt unternehmen. In anderthalb Stunden etwa. Vorher können Sie sich etwas zu essen hierher holen lassen – ich werde draußen entsprechende Anweisung geben –, es sei denn, Sie zögen es vor, in Begleitung eines Volkspolizisten ein Restaurant aufzusuchen.“ Sie starrte mich verblüfft an. Dann verzerrte sich ihr Gesicht. War es Zorn, war es Angst oder was? „Ich bin nicht hungrig!“ rief sie rauh, und jetzt hätte man glauben können, ihre Schwester Edeltraut vor sich zu haben. „Ganz wie Sie wünschen“, sagte ich gemacht freundlich und ließ sie völlig verwirrt sitzen.
50 Leutnant Lorenz brachte, als er sich mit Oberleutnant Quidde und mir zum Essen traf, ein längeres Fernschreiben aus Berlin mit. Ich las es vor. Oberleutnant Becker teilte uns mit: „Erstens: Leichnam Werner Hells wurde gestern zwecks Bestattung freigegeben. Polizeimeister Höllriegel zählte hundertachtundneunzig Trauergäste, darunter Delegation Rennleitung drei Personen. Am Begräbnis Leysings nahmen nur dreizehn Personen teil, darunter Ehefrau, Pastor und drei Personen Delegation Rennleitung. Zweitens: hinterlassene Mäntel und andere Kleidungsstücke Werner Hells und Benno Leysings überprüft, drei Stücke Kriminaltechnischem Institut übergeben zwecks Untersuchung, ob nachträglich neuer Knopf angenäht wurde; zwei Kleidungsstücke Werner Hells, ein Mantel und eine Lederjacke, sowie ein Mantel Benno Leysings wiesen gleiche Knöpfe auf wie Fundstücke in Waldschneise. Es handelt sich gemäß Ermittlung Polizeimeister Höllriegels bei zuständiger 237
Stelle DHZ um massenweise produzierte und verkaufte Ware. Erhalten Untersuchungsergebnis des Kriminaltechnischen Instituts erst heute nachmittag. Drittens: Haben infolge ständiger Beobachtung Jutta Kufferaths möglicherweise neue Spur entdeckt; zweimaliges Treffen im Pressecafé mit männlicher Person festgestellt, die illegalen Goldhandels verdächtig. Ausländer. Setzen Beobachtung mit Unterstützung sachkundiger Mitarbeiter aus zuständigem Arbeitsgebiet fort. Leider noch keine zuverlässigen Tatsachen ermittelt …“ „Das ist wieder mal echt Becker!“ unterbrach mich Lorenz lachend. „Keine Tatsachen … Als ob die männliche Person – mich wundert’s nur, daß er nicht ‚Person männlichen Geschlechts‘ geschrieben hat – keine Tatsache wäre …“ Ich hörte es nicht gern, wenn sich der junge Dachs Lorenz über seinen älteren Genossen Becker lustig machte, obwohl ich zugeben muß, daß auch ich oft über dessen Trockenheit und manchmal sogar Pedanterie lächelte. Trotzdem war Becker ein ausgezeichneter Kriminalist, er verfügte über wertvolle Eigenschaften, die gerade Lorenz und mir weitgehend fehlten. Ich hätte keinen Geeigneteren in Berlin, wo jetzt alles auf minutiöse Kleinarbeit ankam, zurücklassen können. „Unterlassen Sie das, Genosse Leutnant!“ vermahnte ich Lorenz ärgerlich und las weiter: „Viertens: Von Zeugin Edeltraut Leysing an Zeugen Friedrich Kufferath verwiesen, bestätigte dieser Alibi der Leysing vom sechzehnten November neunzehnhundertzweiundsechzig; angeblich mittags im Rennbahnrestaurant beim Essen getroffen. Aussage nicht nachprüfbar. Befragtes Personal erinnert sich nicht. Zeugin Leysing besucht täglich Ehepaar Kufferath, meist in Abendstunden. – Becker, Oberleutnant.“ 238
„Das ist ja nun reichlich plump“, ereiferte sich Leutnant Lorenz, der meine Zurechtweisung längst wieder vergessen hatte. „Ein feines Alibi! Das riecht doch hundert Meter gegen den Wind nach Verabredung.“ „Trotzdem kann es stimmen“, warnte ich, „denn wir sind hier bisher noch nicht auf die kleinste Spur der Frau Leysing gestoßen.“ Wahrscheinlich wäre mir jetzt ein sehr naheliegender Gedanke gekommen, der das bereits erwähnte Versäumnis gutgemacht hätte, wenn mir nicht Lorenz beharrlich dazwischengefahren wäre: „Nein, mir gefällt das nicht, ganz und gar nicht, denn …“ „Jetzt wird erst einmal in Ruhe gegessen“, befahl ich. „Nachher Weiteres. Übrigens werden Sie dann mit mir und einer schönen Frau eine Spazierfahrt machen.“ „Nanu?“ „Guten Appetit.“
51 Erst als der Kaffee serviert worden war und wir zu rauchen begannen, durfte Lorenz weitersprechen. „Warum sucht die Leysing um jeden Preis ein Alibi beizubringen? Warum ist Kufferath bereit, es ihr zu bestätigen?“ „Weil beide wissen, daß wir es nicht widerlegen können.“ „Nein, Genosse Hauptmann, sie sind in größter Sorge, daß wir hier etwas entdecken, was die Kufferaths mit in die Mordsache verwickelt.“ „Woher sollten sie überhaupt wissen, daß wir hier Ermittlungen anstellen?“ 239
„Da es sich um eine Bande, um einen Ring handelt, können sie benachrichtigt worden sein. Sicherlich hat sich Frau Kufferath, die ja nicht unintelligent ist, auch ihre Gedanken darüber gemacht, weshalb Sie unbedingt ein Foto von ihr haben wollten. Für mich, Genosse Hauptmann, besteht kein Zweifel, daß Frau Kufferath den neuen Schwindel mit dem Alibi der Leysing arrangiert hat. Ihr Mann unternimmt doch nichts ohne sie. Trotzdem – ich hätte sie für bedeutend klüger gehalten.“ Ich mußte lachen. „Mit der Klugheit von Verbrechern ist das so eine Sache, Genosse Lorenz“, antwortete ich. „Je mehr sie zu der Erkenntnis kommen – wozu ihnen übrigens gerade ihre Klugheit verhilft –, daß nämlich unser vermeintlich stumpfsinniger Apparat in aller Stille bedrohlich präzis gegen sie arbeitet, desto unklüger beginnen die Superklugen zu handeln. Aus Nervosität, aus Angst, meist aber aus gar nicht kluger Überheblichkeit. Aber was würden Sie sagen, Genosse Lorenz, wenn sich Frau Leysing – mit oder ohne Alibi – tatsächlich in Berlin aufgehalten hat?“ Er zuckte resignierend die Achseln und versuchte abzulenken. „Wer ist denn die Frau, die mit uns fährt?“ „Jemand, der hier vielleicht als Frau Edeltraut Leysing aufgetreten ist.“ „Sie meinen …“ „Und das würde ein ganz neues, allerdings völlig schleierhaftes Licht auf das Alibi der wirklichen Frau Leysing werfen.“ „Sie meinen …“ Sein Mund stand vor Verblüffung offen. „Kommen Sie.“
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52 Oberleutnant Quidde ließ sich den Mann mit der schiefen Schulter zur Vernehmung vorführen. Er hieß Heinrich Apfel, war neununddreißig Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei Kindern, einmal – neun zehnhunderteinundfünfzig – wegen Diebstahls vorbestraft und seit drei Jahren bei Dieter Überloh angestellt. Oberleutnant Quidde schätzte ihn, kaum daß die Vernehmung begonnen hatte, bereits richtig ein. Apfel war ein beschränkter Mensch, stolz auf seine primitive Gerissenheit und seine tatsächlich ungewöhnliche Begabung für Kopfrechnen, beredt bis zum Geschwätzigen, hinter dem er eine ihn ständig irritierende Unsicherheit verbarg. Er war offenkundig einer von jenen kleinen Gaunern, die eine Betrugsmethode, mit der sie ein paarmal Erfolg hatten, immer und immer wieder unverändert strapazieren und sich dabei, bis sie erwischt werden, aller Welt überlegen vorkommen. Dann allerdings brechen sie, wenn man ihnen den ersten geringfügigen Beweis vorhält, restlos zusammen, verfluchen ein geheimnisvoll waltendes „Pech“ und gestehen mit naiver Unverfrorenheit alles, selbst das, wovon wir, warnte sie nur ein bißchen Klugheit, unmöglich etwas wissen können. Einmal überführt, geben sie, um sich lieb Kind zu machen, bedenkenlos alle Komplizen preis. Nach einer Vernehmung, die nicht einmal eine Stunde dauerte, hatte Oberleutnant Quidde viele wichtige Einzelheiten über die Organisation und Tätigkeit des Schieberrings erfahren, leider aber nur wenig, was mit dem Mord an der Brücke in Zusammenhang zu bringen war. Oder vielleicht doch … 241
Die drei Überlohs kauften und verkauften keine Gebrauchtwagen; sie reparierten und lackierten sie nur. Ob sich unter diesen Fahrzeugen auch gestohlene befanden, konnte Apfel nicht sagen; er vermutete es, weil es einige Male vorgekommen war, daß äußerlich noch sehr gut aussehende Wagen, die abends auf den Hof gefahren wurden, nachts andersfarbig überspritzt, morgens in einer der beiden stets leer gehaltenen Garagen standen und abends wieder weggefahren wurden. Soviel er wisse, sagte Apfel, wären die Überlohs am Zwischenhandelsgewinn nur insofern beteiligt, als sie für Reparaturen und Lackieren saftige Überpreise erhielten. Dieter Überloh, der an seiner Tankstelle so mancherlei hörte, gab Leuten, die Fahrzeuge kaufen oder verkaufen wollten, betont uneigennützig „vertrauliche“ Tips, lehnte es jedoch ab, selbst irgendwelche Vermittlungen zu übernehmen. Aber er, der Zeuge Heinrich Apfel, war einer der Zwischenhändler. „Wie wir bereits wissen“, sagte Oberleutnant Quidde, „sind Sie bei Käufern wie bei Verkäufern unter falschem Namen und mit gefälschten Personalausweisen aufgetreten. Wie viele solcher Personalausweise besaßen Sie?“ „Immer nur einen“, stammelte Apfel. „Bis Sie einen anderen erhielten. So war es doch? Gestehen Sie nur, Apfel, wir wissen ohnehin alles.“ Und Quidde führte, um den Gauner mürbe zu machen, aus dem Gedächtnis einige Fälle an, wo „der Mann mit der schiefen Schulter“ als Karl Luckenwald Gebrauchtwagen gekauft oder verkauft hatte. Quidde hatte die Akten noch einmal genau studiert. „Einmal“, gestand Apfel, den die scheinbare Allwissenheit des Kriminalisten sichtlich tief beeindruckte, 242
„habe ich auch einen Personalausweis auf den Namen Möbius benutzt, aber wirklich nur ein einziges Mal.“ „Sie lügen. Es geschah sechsmal. – Vom wem hatten Sie die Personalausweise erhalten?“ „Von einer Frau. Wie sie heißt, weiß ich nicht. Detlev Ponz hat mir mal geflüstert, sie wäre eine Zahnärztin aus Weimar. Sie war sehr groß, schlank, hatte schwarze Haare.“ Quidde nickte und sagte beiläufig, als sei das völlig unwichtig: „Wir kennen sie.“ Apfels Unterkiefer sank haltlos herab. „Wer ist Detlev Ponz?“ Apfel, immer noch völlig benommen, merkte erst jetzt, daß er unversehens einen Komplizen preisgegeben hatte. „Los, reden Sie! Wir kriegen es ja doch heraus.“ Alle Gerissenheit des kleinen Gauners hatte sich verflüchtigt. Apfel gab auf. Definitiv. „Das ist ein junger Mann“, sagte er bereitwillig, „ich glaube, er ist noch nicht einmal zwanzig, der beim alten Überloh in der Werkstatt arbeitet, ein Elektriker.“ „Dieser Ponz hat also Wagen gekauft und verkauft?“ „Nein, er hat sie nur abgeholt. Manchmal von weit her. Aus Dresden und Meißen und öfter sogar aus Berlin. Was er dafür kriegte, weiß ich nicht.“ „Was erhielten Sie für Ihre Tätigkeit?“ „Ich hatte eine feste Taxe: zweihundert Mark. Die kriegte ich beim Abrechnen ausgezahlt.“ „Wer hat die Personalausweise gefälscht?“ Jetzt fiel es Apfel schon schwer, den Gedankensprüngen in der Vernehmung zu folgen. Ohne es mit Ausreden zu versuchen, antwortete er, nachdem er sich gefaßt hatte: „Ich weiß es wirklich nicht. Ich mußte damals sechs Paßfotos nach Berlin einschicken.“ 243
„An wen?“ Er schüttelte den Kopf. „Weiß nicht. Postlagernd.“ „Auf einen Namen?“ „Auf eine Nummer.“ „Welche?“ „Hab’ ich vergessen …“ „Sie sagten, Sie rechneten ab. Mit wem?“ „Zweimal mit der Zahnärztin; das erste Mal, als sie mir den falschen Personalausweis mit meinem Bild darin mitbrachte, und dann, das war Mitte November, als sie ihn umtauschte.“ „Weiter. Mit wem haben Sie sonst noch abgerechnet?“ „Mit einem Mann.“ „Wie hieß er?“ „Danach durfte nicht gefragt werden.“ „Wie alt war er? Wie sah er aus?“ Heinrich Apfel beschrieb weitschweifig, aber unverkennbar Benno Leysing. Leider hatten wir verabsäumt, uns auch von ihm ein Foto zu besorgen und es mitzunehmen. Aber als Quidde dem Zeugen das Bild Jutta Kufferaths vorlegte, rief dieser: „Ja, das ist sie, das ist die Zahnärztin!“ Oberleutnant Quidde erkundigte sich nach der Zeit. Heinrich Apfel hatte sich mit Frau Kufferath am 16. November 1962 vormittags in einer Raststätte an der Autobahn getroffen. „Dort fiel das nicht so auf“, erklärte er, „weil da oft ganz verschiedene Menschen an einem Tisch sitzen.“ „Ist Frau Pinndopp an den Schiebungen beteiligt?“ „Frau Pinndopp … Nein, das glaube ich nicht. Irgendwie hätte ich das wohl spitzgekriegt.“ Oberleutnant Quidde fragte mehrmals und sehr eindringlich nach ihrer Schwester, Frau Leysing. 244
„Die habe ich nie gesehen“, behauptete Apfel bestimmt. „Als ich meine Arbeit bei Dieter Überloh antrat, war seine Schwester schon lange weg von Jena; nach Berlin verheiratet, haben die Leute gesagt.“ „Könnte sie vielleicht“ – Oberleutnant Quidde zeigte Apfel ein Foto Edeltraut Leysings – „am sechzehnten November hier in Jena gewesen sein, und sie ist Ihnen nur nicht aufgefallen?“ „Bei der Ähnlichkeit mit Frau Pinndopp wäre sie mir bestimmt aufgefallen. Aber wo hätte ich sie denn sehen können? Nicht einmal beim Tanken, denn ich arbeite fast immer hinten an der Hebebühne; nur wenn Dieter Überloh mal kurz weg muß, vertrete ich ihn.“ Von dem beigefarbenen, braun abgesetzten BMW wußte Apfel nichts. Jedenfalls erinnerte er sich nicht oder behauptete es. „Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“ fragte Quidde unvermittelt und zeigte Apfel das Foto des ermordeten Ernst Hell. „Nein, nie gesehen. Ich meine, nicht persönlich gesehen. Sonst hätte ich es bestimmt der Polizei gemeldet, denn dieses Bild war damals auf allen Plakatsäulen und in der Zeitung. Der Mann wurde ermordet.“ „Dann betrachten Sie sich auch dieses Foto mal recht genau“, sagte Quidde und schob Apfel eine Aufnahme Ernst Hells zu, in die mittlerweile das Menjoubärtchen kunstgerecht einretuschiert worden war. Apfel sah sich dieses Foto gar nicht erst lange an. Er nickte sogleich eifrig. „Ja, den habe ich gesehen“, sagte er. „Es ist mir aufgefallen, weil er in der Raststätte von dem Tisch wegging, an dem die Zahnärztin saß, als ich herankam. Wenn er hinausgegangen wäre, hätte ich mir bestimmt nichts dabei gedacht, aber er setzte sich an 245
einen anderen Tisch, weiter hinten. Darüber wunderte ich mich.“ „Was dachten Sie sich denn dabei?“ „Na, ehrlich gesagt, Herr Kommissar, ich habe zuerst einen kleinen Schreck gekriegt; ich dachte so bei mir: Soll das vielleicht ein Kriminaler sein, und ich gehe jetzt in eine Falle?“ „Er blieb also an dem anderen Tisch sitzen und wartete, bis Sie gingen?“ „Ja. Aber was dann mit ihm war, weiß ich nicht. Ich machte möglichst schnell, daß ich wieder wegkam.“ „Vielleicht wissen Sie es jetzt?“ fragte Oberleutnant Quidde, nahm abermals das Foto des Toten heraus und schob es neben das andere. „Vergleichen Sie mal.“ Heinrich Apfel wurde plötzlich blaß, er begann zu zittern. „Damit habe ich nichts zu tun!“ rief er, und seine Stimme wurde unangenehm weinerlich. „Bestimmt nicht!“ Er schob das Foto von sich. „Dann war das ja“, stammelte er entsetzt, „der Mann … der Mann …“ „… der abends ermordet wurde, ganz recht. Freuen Sie sich, Apfel, wenn Sie wenigstens damit nichts zu tun haben.“
53 Es war unfreiwillig komisch, als Leutnant Lorenz alias „Kurtchen“ seine Tanzpartnerin „Ann“ wiedersah und diese ihn wiedererkannte. „Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet“, sagte sie tief entrüstet, „so etwas ist gemein!“ 246
Lorenz, der alles andere als zynisch war, errötete wie ein beim Mogeln betroffener Oberschüler und murmelte etwas, was klang wie „Dienst ist Dienst“. Ich wollte ihn ein bißchen aufziehen. Deshalb tat ich so, als wolle ich mich hinten in den Wagen setzen, um Frau Pinndopp den Platz vorn neben ihm zu überlassen. Lorenz, der sich hinters Lenkrad verkrochen hatte, streckte schnell ein Bein aus dem Wagen und fragte: „Bitte, wollen Sie nicht lieber selbst fahren, Genosse Hauptmann?“ „Warum denn?“ „Ich weiß ja gar nicht, wohin.“ „Na schön“, sagte ich lachend, „dann werde ich Ihnen den Weg zeigen.“ Ich bedeutete Frau Pinndopp, die mit bösem Gesicht dastand, hinten einzusteigen, und setzte mich wie gewöhnlich neben Lorenz. „Gasthof Drei Linden, Frau Pahlke“, befahl ich. Offenbar sagte das Frau Pinndopp nichts, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Unterwegs schwiegen wir alle drei beharrlich. Als wir bei den „Drei Linden“ vorfuhren, warf Frau Pinndopp einen kurzen, neugierigen Blick aus dem Fenster und sank dann mit einem merkwürdig verpreßten Laut ins Wagenpolster zurück. Es dauerte eine ziemliche Weile, bis sie sich anschickte auszusteigen. Mit gespielter Galanterie reichte ich ihr dabei die Hand. Ihre war feucht und eiskalt. Mit kleinen, stöckelnden Schritten ging sie in unserer Mitte auf die Tür zu. Der Gastraum war leer bis auf die Wirtin Pahlke. Erstaunt über unsern abermaligen Besuch, kam sie hinter der Theke hervor. Kaum hatte sie Frau Pinndopp erblickt, da rief sie, aufgeregt auf sie deutend: „Ja, das ist die Dame, ja, das ist sie!“ 247
Frau Pinndopp krallte sich unwillkürlich an meinem Arm fest. Als ich ihr Gesicht sah, tat sie mir leid. „Waren Sie am sechzehnten November vorigen Jahres hier?“ fragte ich. „Ja.“ Frau Pahlke fragte: „Soll ich meine Schwiegertochter hereinrufen?“ „Nein, danke, Frau Pahlke, es ist nicht mehr nötig.“ Ich wandte mich an Frau Pinndopp. „Wir können gehen.“ Lorenz und ich führten die kräftige junge Frau hinaus und zum Wagen, als sei sie eine Schwerkranke. Ich setzte mich hinten zu ihr. Sie starrte, immer noch blaß und leicht zitternd, die Augen weit aufgerissen, geradeaus. Um ihre Mundwinkel zuckte es. Plötzlich ließ sie den Kopf vornübersinken, schlug beide Hände vors Gesicht und schluchzte. Ich ließ sie, bis sie sich etwas beruhigt hatte, die Hände vom Gesicht nahm und nur noch lautlos vor sich hinweinte. Lorenz fuhr sehr langsam. „Das hätten Sie sich ersparen können, Frau Pinndopp“, begann ich schließlich. „Warum haben Sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt?“ „Ich hatte Angst“, antwortete sie fast tonlos und ohne mich anzusehen. „Wovor?“ Immer noch starr geradeaus blickend, antwortete sie vernehmlicher: „Daß ich in Verdacht käme, weil ich mit dem Mann gefahren bin.“ Ich nickte. „Mit dem Mann, der abends ermordet wurde.“ „Ja.“ Dann schwieg sie lange Zeit; die Tränen liefen ihr, ohne daß sie es zu merken schien, übers Gesicht. 248
Endlich erwachte sie aus ihrem Grübeln. Sie tupfte sich die Augen. Ich wußte, sie würde jetzt von sich aus weitersprechen. Und das tat sie. „Seit ich sein Bild in der Zeitung und an den Plakatsäulen gesehen hatte …“ Sie zitterte. „Ich habe ihn nicht sofort wiedererkannt … Das Bild war ganz anders …, und trotzdem … Seit ich ihn wiedererkannt hatte, habe ich keine ruhige Stunde mehr gehabt …“ Das alles sprach sie mit langen Pausen, sehr monoton vor sich hin. „Auch nicht, als Sie mit meinem jungen Kollegen tanzen gingen?“ fragte ich nun doch etwas ironisch. Mit einem Ruck wandte sie sich ganz zu mir herum. „Verstehen Sie das denn nicht?“ fragte sie und kämpfte erneut mit Tränen. „Ich wollte es vergessen! Ja, ich habe getanzt und getrunken und wollte vergnügt sein … Ich wollte alles vergessen.“ Sie machte eine müde, resignierende Handbewegung. „Aber es ging nicht. Die Angst, daß mich jemand mit ihm gesehen haben könnte und mich wiedererkennt und ich in den Mord verwickelt würde, war zu groß.“ War das nun geschauspielert? Frau Pinndopp war anders als ihre Schwester Edeltraut. Was dieser an Gefühl abging, hatte Frau Pinndopp zuviel; keinesfalls war sie, wie ihre Schwester, gefühlsroh. Aber sie war intelligenter und sicherlich auch weniger abgebrüht, sie war sensibler. Schätzte diese Frau gefühlsmäßig und doch zugleich bewußt ihre jetzige Situation richtig ein und spielte mir sentimentales Theater vor, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte? Lorenz fuhr wieder schneller. Niemand sprach. Ich überlegte weiter. Unablässig kam mir dabei der Zusammenbruch Frau Leysings ins Gedächtnis, als sie von dem furchtbaren Selbstmord Werner Hells erfuhr. Da war 249
plötzlich eine frappierende Ähnlichkeit der beiden Schwestern: die ungewöhnlich starke Gefühlsreaktion. War denn Frau Leysing wirklich gefühlsroh? Bestimmt. Ihr Verhalten angesichts ihres tödlich verletzten Mannes ließ es eindeutig erkennen. Aber schloß Gefühlsroheit die Leidenschaft aus? Nein, Edeltraut Leysing haßte ihren Mann leidenschaftlich, unbeirrbar und roh. Es war deshalb auch kein Widerspruch, wenn sie Werner Hell – unter dem fortwährenden Zwang, es zu verheimlichen – ebenso leidenschaftlich, ebenso geradlinig, ebenso primitiv und roh geliebt hatte. Und Werner Hell, der unerfahrene, nette Dummkopf, war ihr verfallen. Doch hier, im Augenblick, ging es nicht um Edeltraut Leysing, sondern um Anita Pinndopp, die schweigend, unentwegt vor sich hin starrend, neben mir saß. Steckte in dieser derben Blondine vielleicht dieselbe Leidenschaftlichkeit, nur kontrolliert durch höhere Intelligenz und variiert durch stärker entwickelte Sensibilität? Dann konnte sie wie ihre Schwester, wenn auch mit mehr Bedenken, durchaus der Teilnahme an einem Verbrechen fähig sein. Frau Pinndopp mußte sprechen! Sie mußte uns die volle Wahrheit gestehen. Erst dann kamen wir einen wichtigen Schritt weiter. Wir fuhren in Jena ein. Sollten wir die Frau festnehmen? Berechtigt wären wir dazu ohne Haftbefehl, denn es lag unmittelbare Verdunklungsgefahr vor. Die Bremsen knirschten. Wir waren angekommen. Da entschloß ich mich. „Frau Pinndopp“, fragte ich, „wann wollen Sie uns die Wahrheit sagen?“ „Jetzt“, antwortete sie leise. „Dann kommen Sie mit hinein.“ 250
54 Sie saß mir gegenüber und sah verfallen aus. „Möchten Sie rauchen, Frau Pinndopp?“ Sie atmete auf. „Ja, gern.“ Ich gab Lorenz einen Wink, er möge nach draußen gehen und Zigaretten besorgen lassen. „Wenn Sie inzwischen …“ Lorenz hielt ihr sein Etui hin. „Danke“, lehnte sie ab. „Von Ihnen nicht.“ Im stillen mußte ich lächeln – über die Inkonsequenz der Frau und die Verlegenheit „Kurtchens“. „Wollen Sie vielleicht auch eine Tasse Kaffee trinken, Frau Pinndopp?“ Sie sah mich dankbar-verwundert an, dann aber antwortete sie, als wäre sie mein Gast in einem Restaurant: „Wenn’s geht, bitte einen Mokka schwarz“, und mit dem Anflug eines Lächelns: „Ich hasse Lorke.“ Diese Frau verfügte über größere Spannkraft, als sich nach ihrem vorhergegangenen Zusammenbruch vermuten ließ. Abermals kam mir ihre Schwester Edeltraut in den Sinn. Sie glich ihr sehr, nur war Frau Pinndopp anpassungsfähiger, weil sie intelligenter war. Oder war sie nur ehrlicher, offener, unbefangener? Die Vernehmung würde es zeigen. Lorenz kam mit den Zigaretten zurück und legte ihr, ohne sie anzusehen, das Päckchen auf den Tisch. „Bitte.“ Sie antwortete nicht und würdigte ihn keines Blicks. Er setzte sich abseits. Wenig später – ich zündete mir inzwischen gemächlich eine Zigarre an und sie sich eine Zigarette, deren erste Züge sie gierig inhalierte – brachte ihr ein Volkspolizist den Mokka aus einem HO-Restaurant nebenan; 251
es war erstaunlich schnell gegangen. Bedachtsam, als säßen wir in einem Café, süßte sie das Getränk, nahm genüßlich den ersten Schluck und sah mich an. „Bitte“, sagte sie, „wollen Sie fragen?“ „Erzählen Sie lieber. Aber vergessen Sie nichts.“ Sie begann, zunächst jedes Wort gut überlegend: „Am Vormittag des sechzehnten November, es mochte so gegen neun Uhr sein – ja, ich hatte kaum mit meiner Arbeit angefangen –, da kam mein Vater ins Büro und sagte: ‚Ann, du mußt fahren.‘ Weil ich das immer gern tat, viel lieber als die langweilige Büroarbeit, sagte ich sofort: Ja, wohin?‘ Er antwortete: ‚Nach Weimar. Ein Herr, der mit dir fährt, wird dir genau Bescheid geben. Wenn du ihn abgesetzt hast, bringst du den Wagen zu dem Käufer.‘ Vater gab mir einen Zettel mit der Anschrift. Es war irgendwo in Oberweimar; ich habe es leider vergessen …“ „Schade“, unterbrach ich sie. „Erinnern Sie sich wenigstens an den Namen?“ „Nein“, antwortete sie etwas verwirrt. „Im Augenblick nicht. Vielleicht fällt er mir wieder ein. Aber das ist, wie Sie hernach merken werden, auch nicht von Bedeutung.“ „Vielleicht doch“, widersprach ich. „Nein, der Wagen kam gar nicht hin.“ „Bitte, fahren Sie fort.“ „Mein Vater sagte: ‚Du nimmst meinen Mercedes.‘ Ich dachte, ich hätte nicht recht gehört, denn auf den Mercedes ließ Vater sonst niemand. Es muß also wohl eine ganz wichtige Sache sein, dachte ich mir. Vater sagte: ‚Du fährst zu Dieter hinaus und läßt den Mercedes bei ihm an der Tankstelle. Dort triffst du den Herrn und fährst mit ihm in dem BMW, der dort parkt, weiter. Wenn du den Herrn in Weimar abgesetzt und den Wagen bei dem Käufer abgeliefert hast, kommst du mit der Bahn 252
oder dem Bus zurück.‘ Ich fuhr also zur Tankstelle.“ Sie nahm bedächtig einen Schluck Mokka und tat einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. „Einen Augenblick“, bat sie dann, „ich muß nachdenken, daß ich nichts vergesse.“ „Nehmen Sie sich nur Zeit, Frau Pinndopp.“ „An der Tankstelle stand der neugespritzte BMW …“ „Beige, braun abgesetzt.“ Sie hob nur kurz die Brauen. „Ja. Er trug eine rote Nummer, ein sogenanntes Werkstattschild; das gilt als Zulassung für drei Tage, dann muß das Fahrzeug von dem neuen Besitzer angemeldet sein.“ „Ich weiß.“ Ich warf Lorenz einen raschen Blick zu. Er war genauso gespannt wie ich. „Von nun an beginnen allerlei sonderbare Dinge“, fuhr Frau Pinndopp, etwas hastiger werdend, fort. „Aber ich versichere Ihnen: Es ist alles wahr.“ „Erzählen Sie.“ „Ich wußte, als ich den BMW sah, sofort, daß damit etwas nicht in Ordnung war …“ „Das heißt, daß es sich um einen gestohlenen Wagen handelte“, unterbrach ich sie. „Bitte, drücken Sie sich, wenn ich Ihnen glauben soll, deutlich aus.“ „Ja“, sagte sie, „denn die Reparatur und das Lackieren … Der ganze Auftrag war nicht durch meine Bücher gegangen.“ „Wie das öfter vorkam.“ „Ja“, gestand sie. „Gut, weiter.“ „Mein Bruder Dieter nahm mich beiseite, das heißt, er winkte mich nach hinten an die Hebebühne, weil der Herr in seinem Kassenraum saß, und sagte mir …“ „Arbeitete an der Hebebühne nicht Herr Apfel?“ Wieder das flüchtig-erstaunte Heben der Augenbrauen; 253
dann aber fuhr sie lebhafter fort: „Das ist es ja gerade, was ich so sonderbar fand: Apfel war vorn dabei, das rote Werkstattschild gegen eines mit schwarzen Kennziffern auszutauschen …“ Ich streifte mit einer erzwungen ruhigen Bewegung die Asche meiner Zigarre ab. Keinesfalls durfte sie jetzt merken, daß sie dabei war, uns eines der vielen Rätsel zu lösen, die uns so sehr zu schaffen machten. „Ich weiß“, sagte ich obenhin, „es war die alte Nummer des gestohlenen Wagens.“ Sie starrte mich an, als sei ich ein Hellseher. „Lassen Sie doch Ihren Mokka nicht kalt werden, Frau Pinndopp.“ „Freilich“, antwortete sie verwirrt und trank. „Jedenfalls wissen Sie jetzt“, fuhr sie fort und richtete sich auf, „daß ich Ihnen nichts zu verheimlichen suche. Übrigens ist mir eben auch der Name des Käufers in Oberweimar eingefallen. Er heißt Timmermann und betreibt eine Großgärtnerei. Doch das nur nebenbei. Ich wollte Ihnen erzählen, was mir Dieter, so heißt mein Bruder, sagte. Er sagte: ‚Es ist sehr wahrscheinlich, daß Ihr unterwegs von weißen Mäusen angehalten werdet. Sie suchen nämlich überall nach einem gestohlenen BMW mit der Nummer, die Heinrich‘ – das ist Herr Apfel –‚eben anschraubt.‘ Ich sagte erschrocken zu Dieter: ‚Nein, da mache ich nicht mit!‘ Aber er fuhr mich böse an: ‚Du tust, was dir gesagt wird. Vater hat es so bestimmt, und der muß wissen, was er tut. Wenn Ihr also angehalten werdet, stellst du dich dumm. Du weißt von nichts, nur, daß der Wagen bei uns repariert und lackiert worden ist. Das ist alles. Von einem Diebstahl hast du selbstverständlich keine Ahnung. Verstanden?‘ – ‚Aber der Herr?‘ fragte ich. – ‚Ganz einfach‘, antwortete Dieter, 254
‚du sagst, du hättest angenommen, er wollte den Wagen kaufen, und Vater hätte dich, weil er den Herrn nicht kennt, bei der Probefahrt mitgeschickt.‘ –‚Das alles ist mir widerlich‘, sagte ich, ‚und ich habe auch Angst.‘ Aber Dieter überredete mich.“ Frau Pinndopp füllte sich mechanisch die zweite Tasse, ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß sie ganz in das vertieft war, was sie erzählte. Um die Wahrheit zu sagen, fragte ich mich, oder um mir ein Gespinst unwiderlegbarer Lügen aufzutischen? „Als Heinrich Apfel die Nummernschilder umgetauscht hatte und mit dem roten nach hinten zur Hebebühne kam, führte mich Dieter zu dem Herrn.“ Ihre Stimme vibrierte. „Es war der … der … na, Sie wissen ja.“ „Ja, der später Ermordete.“ Der Löffel klirrte gegen den Tassenrand, als sie gedankenlos den Mokka umrührte, so sehr zitterte ihre Hand. „Wenn ich das geahnt hätte …“ Sie nestelte sinnlos an ihrer Handtasche herum und zerknitterte ihr Taschentuch. „Sie konnten das selbstverständlich nicht ahnen“, kam ich ihr zu Hilfe. „Das verstehe ich. Erzählen Sie nur weiter. Wurde Ihnen der Name des Mannes genannt, oder stellte er sich vor?“ „Ich glaube, ja, aber ich habe ihn nicht verstanden oder ihn mir nicht gemerkt. Ich konnte doch nicht wissen …“ „Was für einen Eindruck machte der Mann auf Sie?“ „Eigentlich gar keinen. Wenigstens keinen besonderen. So um die Dreißig herum war er. Er kam mir ein bißchen affig vor wegen des Bärtchens. Aber als wir fuhren und er sagte, daß er aus dem Westen käme, dachte ich, daß das dort vielleicht modern ist. Aber mir gefiel es trotzdem nicht. Wenn er so sprach, war er eigentlich ganz nett …“ 255
„Worüber unterhielten Sie sich denn?“ „Nun, worüber man sich mit einem fremden Mann und noch dazu einem aus dem Westen unterhält. Was Sachen bei uns und was sie drüben kosten, über Vergnügungslokale und Filme, hauptsächlich aber über Autos, doch damit wußte er nur schlecht Bescheid.“ „Es hielt Sie niemand an?“ „Nein, und das war mir, wie Sie sich denken können, sehr lieb. Ich war sehr nervös.“ „Fuhr er, oder fuhren Sie?“ „Er. Aber schlecht. Viel Übung hatte er bestimmt nicht; wenn er schaltete, tat es einem ordentlich weh, wie er den Hebel hineinhaute und den Motor aufheulen ließ.“ „Unterwegs machten Sie dann eine Rast.“ „Ja, in der kleinen Gaststätte … Sie wissen ja. Wir haben dort Kaffee getrunken, dann fuhren wir gleich weiter.“ „Nach Weimar?“ „Ja, zum Hotel ‚Elephant‘. Dort, sagte er, wäre er mit jemand verabredet. Er ließ seine Aktentasche im Wagen und sagte, er wollte mal nachsehen. Gleich danach kam er mit einer Dame heraus, und diese Dame sagte zu mir …“ „Einen Augenblick mal, Frau Pinndopp. Wie sah sie denn aus?“ „Sehr elegant, groß, schwarzhaarig.“ „Wie alt schätzen Sie sie?“ „Schwer zu sagen. Dreißig, fünfunddreißig vielleicht.“ „Geschminkt?“ „Nein, nur die Lippen etwas nachgemalt. Sie trug, obwohl keine Sonne schien und sie aus dem Lokal kam, eine dunkle Sonnenbrille. Das fiel mir auf.“ „Ein Name wurde nicht genannt?“ „Nein. Sie fing sofort an zu sprechen. ‚Ihr Vater‘, sagte sie, ‚hat angerufen. Sie sollen nicht weiterfahren, 256
sondern den Wagen hierlassen. Ich habe mich inzwischen schon nach einer Hotelgarage erkundigt. Herr Überloh‘, fuhr sie fort, ‚hat gesagt, der Käufer wäre verreist und käme erst morgen zurück.‘ Was sollte ich tun?“ Frau Pinndopp hob die Schultern und ließ sie fallen. „Ich ging zum Bahnhof und fuhr nach Jena zurück.“ Das alles klang wahrscheinlich. Zumindest stand jetzt eines fest: Frau Kufferath – denn nach der Beschreibung mußte sie es, trotz der Brille, gewesen sein – hatte nicht nur mit den Schiebungen, sondern auch mit dem Mord an der Brücke mittelbar oder unmittelbar etwas zu tun. Denn es war nicht anzunehmen, daß Frau Pinndopp uns belogen hatte; sie war intelligent genug, zu wissen, daß ihre Aussage sehr bald und gründlich überprüft werden würde. Aber hatte sie tatsächlich alles erzählt, was sie wußte? Mir fiel auf, daß sie nach dem tiefen Aufatmen, mit dem sie ihre Aussage abgeschlossen hatte, nicht ruhiger wurde; im Gegenteil, ihre Bewegungen – wie sie rauchte, an dem Mokka nippte, dann an ihrer Handtasche und den Jackettknöpfen herumfingerte – waren unbeherrscht, ohne Sinn, hastig … Da entschloß ich mich zu einem Vorstoß. Sie fest ansehend, behauptete ich ziemlich schroff: „Frau Pinndopp, Sie haben noch etwas verschwiegen.“ Sie schrak zusammen, ihre Augen weiteten sich angstvoll. „Jetzt“, fuhr ich betont ernst fort, „haben Sie noch die Chance, daß wir es Ihnen als wahr abnehmen, was es auch sei. Später wird Ihnen niemand mehr glauben, wenn Sie sich darauf hinausreden wollen, daß Sie uns das Wichtigste nur aus Angst, in die Mordsache verwickelt zu werden, verschwiegen haben.“ Sie saß mit einem Ruck steif da; nur ihre Lippen bebten, 257
in ihre Augen traten langsam Tränen. „Ich will es … sagen“, flüsterte sie. „Aber bitte, bitte, glauben Sie mir, daß ich von dem Mord nichts weiß.“ „Das wird ganz von Ihnen abhängen, Frau Pinndopp.“ „Als wir kurz vor der Brücke waren – der Brücke, wo … Sie wissen ja –, da ging der Mann mit der Geschwindigkeit auf ungefähr dreißig herunter und sah immer nach dem Waldrand hin … Da ist nämlich ein Wald … Und plötzlich bremste er und stieg aus.“ Sie sprach sehr langsam, angestrengt, mit monotoner Stimme. „Es kam da aus dem Wald ein Weg heraus. ‚Entschuldigen Sie‘, sagte er und ging in den Wald hinein. Aber dabei habe ich mir nichts gedacht …, nichts Schlimmes …, ich dachte, er wollte mal austreten gehen. Aber er blieb lange weg.“ „Wie lange?“ Sie zuckte die Achseln. „Mir kam es lange vor, vielleicht fünf, vielleicht auch zehn Minuten. Dann kam er zurück und stieg wieder ein. Als wir schon ein ganzes Stück gefahren waren, fragte er mich plötzlich: ‚Wohnen da drin Leute?‘ –‚Wo drin?‘ fragte ich. –‚Dort im Wald‘, sagte er, und ich antwortete ihm: ‚Das weiß ich nicht.‘“ Frau Pinndopp sank in sich zusammen und atmete so tief auf, daß es fast wie ein Seufzer klang. „Das ist wirklich alles“, sagte sie. „Ich schwöre es Ihnen.“ Und nach einer Weile des Schweigens fragte sie schüchtern: „Glauben Sie mir?“ „Ich bin bereit, Ihnen zu glauben, Frau Pinndopp“, antwortete ich, „auch ohne daß Sie schwören, wenn Sie – was wir sehr schnell erfahren würden – keinem Menschen, hören Sie: keinem, etwas von unserem Gespräch erzählen.“ Sie sah mich ungläubig an. „Wollen Sie mich denn freilassen?“ 258
„Ja, Sie dürfen gehen, sobald Sie mit meinem Kollegen Lorenz das Vernehmungsprotokoll aufgesetzt und unterschrieben haben. Wenn Sie sich vorher wieder mit ihm vertragen, wird das ziemlich schnell gehen.“ „Okay!“ rief sie und streckte mir impulsiv die Hand entgegen. „Verlassen Sie sich darauf: Ich werde über alles schweigen – auch zu Hause.“
55 Es ließ sich nicht bestreiten: Leutnant Lorenz war ein tüchtiger Bursche. Wieder einmal hatte er mit einer seiner oft waghalsigen Konstruktionen mir gegenüber recht behalten: Bevor Ernst Hell ermordet worden war, hatte man versucht, ihn der Volkspolizei als Autodieb in die Hände zu spielen. Daraus waren einige Schlüsse zu ziehen. Er hatte keine Kenntnis von dem Schieberring, sonst hätten die Beteiligten fürchten müssen, daß Ernst Hell, um sich für den „Verrat“ zu rächen und sich reinzuwaschen, „auspacken“ würde. Sodann hatten sich die Überlohs, die offenbar nur in loser Verbindung mit führenden Mitgliedern des Rings standen, gut abgesichert. Natürlich wären die Genossen von der Verkehrspolizei, hätten sie Ernst Hell mit diesem BMW gestellt, sehr rasch auf die Werkstatt Überloh gestoßen. Aber der „Alte“ hätte das Auswechseln des Motors glatt abgestritten und Eugen Überloh das Umfrisieren des Wagens als „harmlos“ hingestellt, denn woher sollte er wissen, daß das Fahrzeug gestohlen sei? Die Wagenpapiere wären ja – damals noch – in Ordnung gewesen. Immerhin setzten sich die drei Überlohs großen Unannehmlichkeiten aus, also mußte ein verhältnismäßig starkes 259
Motiv, Ernst Hell „hochgehen“ zu lassen, vorgelegen haben und ein außergewöhnlich starkes, ihn, nachdem dies mißglückt war, zu ermorden. Jutta Kufferath hatte mit diesem Mord zu tun. Das war jetzt erwiesen. Sie hatte in Weimar den BMW von Anita Pinndopp übernommen. Da sie nachweislich mit Benno Leysing in Verbindung stand und dieser sogar im selben Hotel wohnte wie sie, durften wir annehmen oder zumindest stark vermuten, daß auch er an dem Mord beteiligt war. Allerdings fehlte uns dafür noch jeder Beweis.
56 Oberleutnant Becker teilte uns in einem neuen Fernschreiben aus Berlin eine schwerwiegende Neuigkeit mit. Im Kriminaltechnischen Institut war mühelos ermittelt worden, daß an dem Mantel Werner Hells der unterste Knopf durch einen neuen ersetzt worden war. Nicht nur an dem unterschiedlichen, mit bloßem Auge nicht erkennbaren Zustand gegenüber den älteren Knöpfen war das nachweisbar, sondern vor allem auch an der andersgearteten Zwirnsorte, mit der dieser neue Knopf angenäht worden war. Eine halbe Rolle dieses Zwirns hatte Polizeimeister Höllriegel aus der Nachttischschublade Werner Hells sichergestellt. Es stand also nunmehr fest, daß sich Werner Hell am Tatort aufgehalten hatte! Wieder waren wir einen bedeutsamen Schritt weitergekommen, aber ein schrecklicher Gedanke drängte sich uns dabei auf: Sollte Werner Hell, dieser allgemein als harmlos-dummer Sonnyboy geschilderte Bursche, ein Brudermörder sein? 260
„Oder, was ich für wahrscheinlicher halte“, warf Leutnant Lorenz ein, „er hat seinen ermordeten Bruder Ernst gerächt, indem er einige Monate später Benno Leysing umbrachte.“ „Dann wäre Benno Leysing der Mörder.“ „Ja.“ „Und das Motiv?“ Lorenz zuckte die Achseln. „Wir müssen es suchen.“ Mochte die letzte Vermutung meines jungen Mitarbeiters sich vielleicht auch als falsch herausstellen, eine andere, bei der ich ihm – um unsere Ermittlungstätigkeit nicht mit vagen Vermutungen zu belasten – widersprochen hatte, sollte sich noch am selben Tage als völlig zutreffend erweisen.
57 Oberleutnant Quidde hatte sich den jungen Autoelektriker, der bei Gustav Überloh arbeitete, Detlev Ponz, ins nächstgelegene Polizeirevier holen lassen und ihn dort vernommen, nachdem er zuvor mit seiner Erfurter Dienststelle telefoniert und einige Auskünfte eingeholt hatte. „Sie haben doch schon einmal gesessen, Ponz?“ packte er gleich zu. Ohne davon sonderlich beeindruckt zu sein, gab der Bursche zu: „Ja, sechs Monate Jugendgefängnis.“ Quidde nickte. „Weil Sie damals, als Sechzehnjähriger, eine Bande anführten, die Raubüberfälle auf kleine Geschäftsleute unternahm. In Halle wurde dabei die achtundsechzigjährige Inhaberin eines Tabaklädchens getötet.“ 261
„Das war ich aber nicht!“ „Es konnte Ihnen nur nicht nachgewiesen werden.“ „Na also.“ „Jedenfalls wissen Sie, was es heißt, sitzen zu müssen. Jetzt sind Sie wieder mal soweit, Ponz, und es wird weitgehend von Ihrer Aussage abhängen, wie lange. Ich rate Ihnen also, die Wahrheit zu sagen.“ Detlev Ponz, als Halbwaise aufgewachsen und von seinem Vater, einem Trinker, arg vernachlässigt, war ein haltloser, verschlagener Rowdy geworden. Wenn er arbeitete – was leider nur geschah, wenn er Lust dazu bekam oder ihm das Geld ausging –, war er geschickt und fleißig. Zunächst bestätigten und ergänzten seine Aussagen, die er gelassen-dickfellig machte, als er merkte, daß er überführt war, lediglich vieles, was wir bereits wußten. Er war nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen. Für nächtliche Reparaturen an gestohlenen Fahrzeugen erhielt er dreißig bis fünfzig Mark. An den BMW, der in der Nacht vom 15. zum 16. November 1962 die Garage verlassen hatte, erinnerte er sich, obwohl er trotz geschickter Kreuzund Querfragen Quiddes so tat, als wisse er nicht, daß es sich dabei um den Mordwagen gehandelt hatte. Er sagte, er habe noch gegen drei Uhr das Bremslicht nachgesehen und dann die Garagentür zur Knollstraße geöffnet. Wer in dem Wagen gesessen habe, fragte Oberleutnant Quidde, den es Mühe kostete, so zu tun, als wolle er nur etwas bestätigt hören, was er schon wisse. „Frau Leysing. Das ist die andere Tochter vom Alten, die aus Berlin.“ „Bleiben Sie bei der Wahrheit, Ponz. Frau Leysing kann nämlich gar nicht Auto fahren.“ Er tat beleidigt. „Habe ich denn gesagt, sie hätte den Wagen selbst gefahren? Nein, sie war nur mit drin. Ge262
fahren hat ihn ein Mann, den ich nicht kenne, so ein mittelgroßer, untersetzter.“ „Beschreiben Sie ihn genauer.“ Das vermochte Detlev Ponz nicht; ihm mangelte es an Ausdrucksvermögen, überdies war er wohl auch ein schlechter Beobachter. „Ist Ihnen der Ehemann der Frau Leysing bekannt?“ „Nein, nie gesehen.“ „Hatten Sie den Eindruck, als wären die beiden verheiratet? So etwas merkt man doch irgendwie. Wie haben sie denn einander angesprochen? Mit Vornamen?“ „Da bin ich überfragt. Ich habe nicht mal gehört, daß sie überhaupt miteinander gesprochen haben.“ „Woher war denn der Mann gekommen? Aus dem Haus? Von der Straße?“ „Weiß ich nicht. Hab’ ich nicht gesehen. Ich habe bis zur Abfahrt hinten am Bremslicht gearbeitet.“ „Woher kam Frau Leysing?“ „Na, aus der Wohnung natürlich.“ „Der Wohnung Ihres Chefs?“ „Freilich, woher denn sonst? Sie war dort doch schon zwei oder drei Tage vorher zu Besuch gekommen.“ Das war die schwerwiegende Neuigkeit. Sie hätte für uns gar keine Neuigkeit sein dürfen. Hier hatten wir, obwohl wir über einen ausgezeichnet funktionierenden Polizeiapparat verfügen, einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Vielleicht sogar gerade deshalb, denn wir hatten uns, statt persönlich genau zu überlegen, blindlings auf die exakten Auskünfte hinsichtlich der Hotelmeldezettel verlassen. Während sich Becker und Höllriegel in Berlin abmühten, das Alibi der Frau Leysing nachzuprüfen, und dabei viel Zeit und Arbeitskraft verschwendeten, hätten wir hier in Jena nur ein paar Mitarbeiter herumhorchen lassen müssen: 263
Ein Halbdutzend oder mehr Leute hätten ihnen so unbefangen und selbstverständlich erzählt wie jetzt dieser Ponz, daß sich Frau Leysing, geborene Überloh, in den entscheidenden Tagen bei ihren Angehörigen aufgehalten hatte. Wir schämten uns, nicht auf diesen naheliegenden Gedanken gekommen zu sein, zumal sich dann auch noch herausstellte, daß Edeltraut Leysings Besuch ordnungsgemäß im Hausbuch eingetragen und diese Eintragung vom zuständigen Polizeirevier abgestempelt und bestätigt worden war. Ich sagte schon: Oberleutnant Becker wäre dieser Fehler bestimmt nicht unterlaufen, aber schließlich … Auch wir Kriminalisten sind nur Menschen.
58 Wir führten ein Blitzgespräch mit Berlin und forderten dringend eine Aufnahme von Benno Leysing an. Lorenz und Quidde fuhren nach Weimar und suchten dort den Chemiker Wöller auf, den Freund des Ingenieurs Lohgerber, der mit diesem nach der Geburtstagsfeier den BMW aus der Garage hatte fahren sehen. Wöller hatte leider noch weniger beobachtet als Lohgerber. Anschließend fuhren die beiden nach Oberweimar. Anita Pinndopp hatte die Wahrheit gesagt. Es gab dort eine Gärtnerei Wilfried Timmermann. Der Inhaber bestätigte, daß ihm Mitte November des Vorjahres ein gebrauchter, angeblich gut erhaltener BMW für siebentausend Mark zum Kauf angeboten worden sei. „Von wem?“ „Von einer mir unbekannten Dame.“ 264
Quidde zeigte ihm das Foto der Frau Kufferath. „War es diese?“ „Nein, sie war blond.“ „Oder diese?“ Er zeigte ihm das Foto Edeltraut Leysings. „Ja, so sah sie aus. Aber ganz sicher bin ich nicht, es ist schon zu lange her.“ „Hatten Sie den Wagen schon bezahlt?“ „Aber woher denn! Ich hatte ihn ja noch gar nicht gesehen. Es sollte jemand herauskommen und ihn mir vorführen. Aber es ist niemand erschienen; ich habe auch nachher nie wieder etwas davon gehört.“
59 Lorenz und ich beschlossen, nach Berlin zurückzukehren. Oberleutnant Quidde, mit dem wir auch menschlich sehr guten Kontakt gefunden hatten, kannte sich jetzt in allen Details aus. Er konnte, wenn er wollte, die Schieber jederzeit festnehmen. Aber wir rieten ihm, damit zu warten. Die Hauptschuldigen in Berlin waren zwar sicherlich bereits aus Anlaß der Haussuchung bei den Überlohs und der Vernehmung des Detlef Ponz und Heinrich Apfel von einem der Beteiligten gewarnt worden. So etwas läßt sich kaum vermeiden. Aber es hat auch seinen Vorteil: Oft lassen sich nervös gewordene Verbrecher gerade dadurch zu unbedachten Handlungen hinreißen. Im Augenblick kam es uns ja nicht so sehr darauf an, die Schiebergeschäfte bis ins letzte Detail aufzuklären, sondern die Mörder ihrer Tat zu überführen. Quidde konnte sich also Zeit lassen. Er brauchte nicht einmal, wie wir es erst beabsichtigten, einen Mitarbeiter 265
mit den Fotos der Frau Kufferath alias Dalibor zwecks Identifizierung zu den Autokäufern zu schicken, welche uns aus einigen Vernehmungsprotokollen bekannt waren. Diese Leute konnten später, wenn Frau Kufferath in Untersuchungshaft saß und lügen sollte, mit ihr konfrontiert werden. Kurz vor unserer Abreise traf aus Berlin eine gute Aufnahme des Benno Leysing ein. Der Zeuge Schimanski hatte sie besorgt, nachdem Frau Leysing behauptet hatte, keine zu besitzen. Der Elektriker Detlev Ponz erkannte sofort den Mann aus der Garage wieder. Auch Heinrich Apfel, der Mann mit der schiefen Schulter, erklärte sofort: „Ja, das ist der, mit dem ich öfter abgerechnet habe.“ Weiter würde nun Oberleutnant Quidde dieses Foto und das der Frau Leysing noch verschiedenen, aus den Vernehmungsprotokollen bekannten Personen vorlegen, um die beiden als Vermittler von Gebrauchtwagen und Inhaber gefälschter Personalpapiere zuverlässig identifizieren zu lassen. Eine umständliche, zeitraubende Kleinarbeit, aber gerade sie ist, vor allem wenn die Bevölkerung hilft wie bei uns, die Grundlage der meisten erfolgreichen Ermittlungen. Gauner und Verbrecher erkennen das, wie die rückläufige Statistik zeigt, mehr und mehr. Mit den drei Überlohs, vor allem mit dem „Alten“, hatte Quidde es schwerer. Gustav Überloh tat sehr bieder; die Sache sei doch kaum der Rede wert, nun schön, zugegeben, hie und da mal Überpreise, ein bißchen Steuerhinterziehung, gelegentlich mal – aus purer Unwissenheit natürlich nur – die Instandsetzung eines gestohlenen Fahrzeugs; nein, deshalb könne man einem sonst ehrlichen, fleißigen kleinen Handwerker doch nicht gleich die 266
Existenz vernichten, ihn und seine ganze Familie brotlos machen … Nein, von allen Dingen, die mit dem Schieberring und schon gar mit dem Mord an der Brücke zusammenhingen, wisse er, bei Gott, rein gar nichts … „Auch diesen Spitzbuben werden wir mürbe kriegen“, sagte Oberleutnant Quidde zuversichtlich und drückte uns die Hände. „Viel Erfolg in Berlin, Genossen!“ rief er. „Euch hier gleichfalls!“ Und Lorenz gab Gas.
60 In Berlin erstattete ich Bericht über unsere Arbeit in Thüringen. Als ich geendet hatte, konnte ich wieder einmal erfreut feststellen, wie schnell und exakt Oberleutnant Becker, alles Unwesentliche beiseite schiebend, auf den Kern der Sache kam. „Wenn wir von den Schiebungen mit Gebrauchtwagen absehen“, sagte er, „denn das dürfen wir, weil die Erfurter Genossen jetzt bald von sich aus Klarheit geschaffen haben werden, ist und bleibt als dringendste Aufgabe die Aufklärung der beiden Morde. Von welchen Tatsachen können wir dabei ausgehen? Erste Tatsache: Zwischen beiden Verbrechen bestehen personelle Zusammenhänge. Zweite Tatsache: Der BMW, den wir, nicht ganz korrekt übrigens, den Mordwagen nennen, verließ nachts gegen drei Uhr die Garage der Werkstatt Überloh mit dem Ehepaar Leysing. Der Wagen wurde an der Tankstelle des Dieter Überloh stehengelassen. Mit welchem Fahrzeug und wohin das Ehepaar Leysing weiterfuhr, ist unbekannt …“ 267
„Wenn ich einmal unterbrechen darf“, meldete sich Polizeimeister Höllriegel, „möchte ich, weil es in diesen Zusammenhang gehört, mitteilen, was ich ermittelt habe. Frau Leysing hat zweimal vergeblich die Fahrprüfung gemacht; sie kann nicht fahren. Der Wagen ihres Mannes, ein Škoda-Combi, befand sich am vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten November neunzehnhundertzweiundsechzig nicht in der Garage; erst am siebzehnten abends kehrte Benno Leysing mit diesem Wagen zurück. Ob Frau Leysing bei ihm war, konnte ich nicht ermitteln. Entschuldigen Sie, Genosse Oberleutnant.“ Becker fuhr fort: „Dritte Tatsache: Die Schwester der Leysing, Anita Pinndopp, eine gute Autofahrerin, fuhr am sechzehnten November, morgens gegen neun Uhr, im Wagen ihres Vaters, einem Mercedes, zur Tankstelle ihres Bruders Dieter. Dort parkte bereits der Mordwagen. Die Nummernschilder wurden ausgetauscht. Sodann fuhr der später ermordete Ernst Hell mit Frau Pinndopp nach Weimar. Die Rast im Gasthof Drei Linden, für die Identifizierung der beiden Personen wichtig, ist für unsere weiteren Ermittlungen unwesentlich geworden. – Vierte Tatsache: Der später ermordete Ernst Hell hatte im Hotel ‚Elephant‘ in Weimar eine Verabredung mit Frau Jutta Kufferath. Ob dabei auch Benno Leysing zugegen war, wissen wir nicht, Vermutungen helfen uns nicht weiter. Der BMW wurde angeblich oder tatsächlich in der Hotelgarage untergestellt. Ist das nachgeprüft worden?“ Ich nickte. „Vergeblich“, sagte ich. „Offensichtlich blieb das Nummernschild, das den Wagen als gestohlen kennbar machen konnte, trotzdem daran. Ich halte dieses Detail für wichtig, denn wir haben uns zu fragen: War das Absicht oder ein Fehler, der den Verbrechern unterlaufen ist?“ 268
„Tatsache fünf“, fuhr Oberleutnant Becker unerbittlich fort: „Das Alibi der Frau Leysing ist geplatzt. Sie war während der kritischen Zeit nicht in Berlin, sondern in Jena. Und schließlich Tatsache sechs: Am Tatort haben sich nachweisbar aufgehalten: Werner Hell und – selbstverständlich – sein später ermordeter Bruder. Wer sonst noch, ist unbekannt.“ Becker faltete säuberlich seinen Merkzettel zusammen, steckte ihn ein und sagte trocken: „Das ist vorläufig alles, was wir über den Mord an der Brücke wissen. Über den Mord in der Futterkammer hat der Genosse Polizeimeister noch einige neuere Ermittlungen nachzutragen.“ „Ich schlage vor“, sagte ich, „er tut das gleich.“ Höllriegel berichtete: „Ich habe mir den Nachtwächter Bottrich, der bei seiner ersten Vernehmung unter dem Eindruck der eben geschehenen Tat doch wohl ziemlich verwirrt war, noch einmal in aller Ruhe vorgenommen. Sie erinnern sich: Bottrich hatte uns, wie es auch im ersten Vernehmungsprotokoll steht, gesagt, er sei von Frau Leysing, die an der Pforte der Quarantäneschranke stand – zwei Pferde seien bereits gefüttert worden, und nun ginge es nicht weiter –, ‚einfach weggegangen‘ und nach etwa einer Viertelstunde wiedergekommen. Da habe er Frau Leysing immer noch in der gleichen Situation vorgefunden.“ „Ich erinnere mich.“ „Die Sache war aber anders. Bottrich ist nicht ‚einfach weggegangen‘, sondern Frau Leysing hat ihn fortgeschickt. Er solle, habe sie gesagt, doch mal nachsehen, ob ihr Mann nicht bei Schimanski im Stall sei. Daraufhin erst sei er gegangen. Er habe dann auch bei Schimanski hineingesehen und nach Benno Leysing gefragt; aber Schimanski habe nur erstaunt geantwortet: ‚Ausgerechnet der Leysing, was sollte denn der bei mir?‘ Daraufhin“, fuhr Höllriegel fort, „habe ich den 269
Zeugen Schimanski in diesem Zusammenhang noch einmal vernommen. Er bestätigte Wort für Wort die Aussage Bottrichs. Diesem kleinen Vorkommnis, sagte Schimanski, habe er natürlich nicht die geringste Bedeutung beigemessen; er habe bei seiner Vernehmung nicht einmal daran gedacht, sonst hätte er es wahrscheinlich erwähnt.“ „Das sieht für Frau Leysing böse aus“, warf Lorenz lebhaft ein. „Sie wollte Zeit gewinnen, als sie den Nachtwächter Bottrich wegschickte. Aber Zeit wofür?“ Höllriegel nickte zustimmend. „Der Nachtwächter Bottrich hat seine erste Aussage noch in einem anderen, vielleicht entscheidenden Punkt korrigiert. Beinahe wörtlich erklärte er: ‚Ich habe inzwischen jeden Tag darüber nachgedacht, wie das genau war, als ich beim Stall ankam. Frau Leysing sagte, es wäre schon so lange still in der Futterkammer. Da habe ich hingehört, und es war auch still. Aber ich möchte fast darauf schwören: als ich wegging, hörte ich, wie ein Eimer klapperte und eine Männerstimme etwas laut sagte; ich habe nur nicht erkannt, ob es die Stimme von Benno Leysing oder von Werner Hell war.‘ Im Vernehmungsprotokoll finden Sie den Satz wörtlich wiedergegeben“, schloß Höllriegel. „Das würde also bedeuten“, folgerte Lorenz, „daß der Mord zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begangen war!“ Aber als er Beckers Gesichtsausdruck sah, setzte er etwas kleinlaut hinzu: „Wenn die neuerliche Aussage des Nachtwächters stimmt.“ „Was meinen Sie, Genosse Hauptmann?“ fragte mich Oberleutnant Becker. „Ich glaube, der Genosse Polizeimeister hat recht. Mir kam die Situation, wie sie – bei den ersten Vernehmungen noch übereinstimmend – von Frau Leysing und dem 270
Nachtwächter Bottrich dargestellt wurde, von Anfang an sehr unwahrscheinlich vor. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Frau Leysing, obwohl sie bereits einen Mord oder zumindest einen Totschlag in der Futterkammer annehmen mußte – wobei es sich überdies um zwei Menschen handelte, die ihr so oder so nahestanden –, zehn Minuten oder sogar eine Viertelstunde tatenlos und zigarettenrauchend an der Schranke gestanden haben sollte.“ „Sie hat bestimmt die Futterkammer betreten!“ warf Lorenz ein. Becker wehrte ab. „Dafür gibt es noch keinen Beweis.“ „Allerdings nicht“, mußte ich zugeben. „Aber vielleicht entdecken wir ihn.“ Dann forderte ich Becker auf, uns über die neuen Ermittlungen zu berichten, die er in seinem Fernschreiben als mögliche neue Spur bezeichnet hatte. „Es ist in der Zwischenzeit tatsächlich einiges erfolgt“, begann er aufgekratzter, als es sonst seine Art war. „Wir haben natürlich, soweit es personell zu schaffen war, die beiden Kufferaths und Frau Leysing unter Beobachtung gehalten. Daß sie täglich Besprechungen hatten und unter anderem das fadenscheinige Alibi für Frau Leysing zusammenklitterten, habe ich Ihnen nach Erfurt berichtet. Nachdem dann einmal ich und einmal Polizeimeister Höllriegel beobachtet hatten, daß sich Frau Kufferath im Pressecafé am Bahnhof Friedrichstraße mit einem dunkelhäutigen jungen Mann getroffen und sich mit ihm lange und lebhaft unterhalten hatte, setzten wir uns mit dem Leiter der Abteilung K des Bezirks Mitte, wir kennen ihn ja gut, in Verbindung. Wir baten um Ermittlungshilfe, die uns sofort gegeben wurde. Genosse Höllriegel konnte einem Mitarbeiter, der in der Gegend des Bahnhofs ständig Dienst tut, den Gesprächspartner der Frau Kufferath zeigen. Dieser wurde sogleich unter Beobachtung 271
gestellt. Nun, Sie wissen ja, daß der Bahnhof Friedrichstraße und seine Umgebung immer noch ein Schwerpunkt für allerlei Gesetzwidriges ist.“ Ja, das wußten wir. „Unser neuer Mitarbeiter hatte sich den jungen Mann kaum angesehen, da sagte er schon: ‚Dafür bin ich nicht zuständig. Der ist nicht homosexuell und wahrscheinlich auch kein Erpresser. Der arbeitet in einer anderen Branche.‘ Und er verwies mich an einen anderen Genossen. Dieser stellte in knapp anderthalb Tagen fest, daß der junge, dunkelhäutige Mann ein Araber war, der, in Westberlin wohnend, sich darum bewarb, bei uns an der HumboldtUniversität studieren zu dürfen. Er konnte mit seinem Auslandspaß unbehindert hin- und herfahren. Eine Ermittlung, erst bei der Kaderabteilung der Uni, dann bei einer anderen Dienststelle, ergab, daß dieser junge Mann – entschuldigen Sie, sein Name ist nicht leicht zu behalten – eine äußerst zweifelhafte Figur war, übrigens auch politisch. Er gebärdete sich in seinem Bewerbungsschreiben und in der Kaderabteilung der Uni ultraradikal; aber ein algerischer Student, der sich auf unsere Bitte zweimal mit ihm unterhielt, stellte fest, daß er politisch völlig unwissend, ja wahrscheinlich sogar anrüchig war. Im Pressecafé – und nicht nur dort – verkehrte er ausschließlich mit Leuten, die unsere dafür zuständigen Mitarbeiter schon längere Zeit beobachten und zum Teil kennen. Es sind illegale Goldhändler. Seit der Schließung der Staatsgrenze sind nämlich die meisten früheren Schiebergeschäfte gefährlich und wenig ertragreich geworden. Kleine Goldbarren und Bruchgold, dieses manchmal offen als Schmuckstücke getragen, sind für Leute mit ausländischen Pässen relativ unauffällig und gefahrlos zu befördern. Kurz, der regsamen Frau Jutta Kufferath scheint der Handel mit 272
Gebrauchtwagen nicht mehr lukrativ genug oder zu gefährlich geworden zu sein, und sie hat sich auf etwas Neues umgestellt.“ „Gut“, sagte ich. „Das ist zwar hochinteressant. Eingesperrt wird die Dame demnächst ohnehin. Aber was hat das alles mit dem Mord zu tun? Ich sehe keinen Zusammenhang.“ Oberleutnant Becker war keineswegs gekränkt wegen meiner mißmutigen Zwischenfrage. „Vielleicht doch“, antwortete er ruhig. „Wir haben nämlich inzwischen weitere Ermittlungen angestellt. Hören Sie. Laut Auskunft der Steuerbehörde beträgt der jährliche Reingewinn aus der Fleischerei Kufferaths bestenfalls dreizehntausend Mark; das Geschäft geht also nicht gut, selbst wenn wir einige Steuerhinterziehungen unterstellen. Doch weiter. Von Preisen aus gewonnenen Rennen sind Herrn Kufferath im letzten Jahr nicht einmal ganze zweitausend Mark verblieben, und davon wären zwei Angestellte zu entlohnen und acht bis zehn Pferde zu unterhalten.“ „Nun ja“, warf Lorenz ein, „wir haben Ihnen doch mitgeteilt, welche Riesensummen bis Ende November vorigen Jahres auf die hiesigen Konten der Kufferaths und Leysings überwiesen worden sind.“ „Richtig. Sehen Sie, und jetzt kommt unsere Überraschung für Sie und den Genossen Hauptmann“, sagte Becker, der sonst derartige Effekthascherei strikt ablehnte. „Wir haben uns, da es um eine Mordsache geht, die Erlaubnis verschafft, eben diese Konten zu überprüfen. Wissen Sie, was sich herausstellte?“ „Natürlich nicht“, sagte Lorenz. „Nun, was meinen Sie, wie hoch ist das Bankkonto der Frau Kufferath?“ 273
„Na …, etwa zweihunderttausend Mark, schätze ich“, meinte Lorenz. „Sage und schreibe zweiundzwanzigtausendeinhundertelf Mark. Leicht zu merken die Zahl. Herr Friedrich Kufferath verfügt gegenwärtig sogar nur über rund achtzehntausend Mark. Nicht viel anders sieht es mit dem Konto Benno Leysings aus: rund sechzehntausend Mark. Erstaunlich, nicht wahr? Aber noch erstaunlicher: Diese Edeltraut Leysing ist damit verglichen eine schwerreiche Frau, ihr Konto beläuft sich auf zweiundneunzigtausend Mark. Was sagen Sie nun?“ Nicht nur Lorenz war sprachlos, ich auch. Es dauerte einige Sekunden, bis Lorenz fragen konnte: „Wie ist denn das möglich?“ „Finanztechnisch, wenn Sie das meinen, ganz einfach. Mit Ausnahme des Kontos Edeltraut Leysing, das fast unverändert blieb, wurden die drei andern, bis zum siebten November noch außerordentlich hohen Konten – Sie hatten mit Ihrer spontanen Schätzung ungefähr recht, Genosse Leutnant – wenige Tage später auf ihren jetzigen Stand reduziert.“ „Das bedeutet“, fragte ich, der sich bei Finanzdingen leider immer leicht langweilt, „daß die Kufferaths und Benno Leysing plötzlich zu irgendeinem Zwecke sehr große Summen Bargeld brauchten.“ „Mit dem Bargeld ist das zwar etwas komplizierter“, antwortete Oberleutnant Becker nachsichtig, „aber schön, drücken wir es mal so aus. Jedenfalls brauchten die drei für irgend etwas sehr viel Geld.“ „Aber wofür denn, in drei Teufels Namen?“ rief ich ungeduldig. „Darüber haben Genosse Höllriegel und ich uns natürlich auch sehr lange und zunächst vergeblich den 274
Kopf zerbrochen. Bis wir einen Fingerzeig erhielten. Aber was ich Ihnen jetzt mitteile“ – Becker war plötzlich wieder der pedantisch Nüchterne, als den wir ihn kannten –, „möchte ich nur mit allem Vorbehalt und aller angebrachten Vorsicht aufgenommen wissen …“ „Ja, ja“, brummte ich, „nun reden Sie schon.“ „Unsere Mitarbeiter, die ständig mit dem Goldschmuggel befaßt sind, konnten uns eine aufregende Beobachtung mitteilen. Ernst Hell ist sowohl im Oktober, gegen Ende des Monats, als auch Anfang November mit einem heute bereits verhafteten und abgeurteilten Goldaufkäufer, einem gewissen Max Horder, gesehen worden. Ernst Hell, obwohl verdächtig, bot damals jedoch keinen Anlaß zum Eingreifen.“ Verwundert bemerkte ich, wie erregt der sonst so beherrschte, zurückhaltende Becker war. Seine Stimme begann sogar zu vibrieren, als er endete: „Bei der letzten Begegnung Ernst Hells mit diesem Max Horder im November war eine Frau zugegen, die uns als elegante, sehr große, schwarzhaarige, auffallend schlanke Dame beschrieben wurde.“ „Frau Kufferath“, rief Lorenz unbeherrscht. „Ja“, nickte Becker, „mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit.“ „Das sind wirklich Neuigkeiten“, sagte ich. „Ich gratuliere, Genossen.“
61 Es blieb uns leider kein anderer Weg, wir mußten die alte Frau Hell noch einmal vernehmen, obschon jetzt, da 275
ihr wahrscheinlich auch der Tod ihres Sohnes Ernst amtlich mitgeteilt worden war, kaum noch zu hoffen stand, von der völlig verstörten, unglücklichen Mutter etwas Verwendbares zu erfahren. Wir waren uns einig, daß es nicht gut sei, wenn wir zu zweit zu ihr kämen. Deshalb überwand ich mich und suchte sie allein auf. Leutnant Lorenz atmete erleichtert auf. Aber es war merkwürdig, Frau Hell war, als ich zu ihr kam, ruhig und gefaßt. Sie hatte das Allerschwerste überwunden, wahrscheinlich seit ihr das Unabänderliche durch die Bestattung Werners bewußt geworden war. Er war ihr Liebling gewesen; der Tod ihres älteren Sohnes, fast ein halbes Jahr zurückliegend, war und blieb überschattet von der Unmittelbarkeit des gegenwärtigen, neuen und größeren Unglücks. Ernsts Tod war ihr, wie ich einer späteren Bemerkung entnahm, als Folge eines Autounfalls dargestellt worden. Frau Hell weinte nicht mehr. Sie sprach mit jener leisen, leiernden Stimme, die den meisten Menschen, aus vielhundertjähriger Konvention herrührend, als Ausdruck fortwährender Trauer verpflichtend erscheint. Sie saß mir wieder, jetzt ganz in Schwarz gekleidet, auf dem Sofa gegenüber. Die Bilder ihrer beiden Söhne hatte sie mit einem schwarzen Flor versehen. „Nun bin ich ganz allein“, sagte sie und nickte ein paarmal marionettenhaft vor sich hin. Ich wollte ihr erst einige Beileidsworte sagen, Phrasen, wie sie in solchen Fällen üblich sind und fast immer einen neuen, erleichternden Tränenerguß provozieren. Aber dergleichen fällt mir schwer, ich bekam es einfach nicht fertig, noch weniger, billig-optimistische Redensarten zu machen, die dem Trauernden zumeist als vielleicht gutgemeinter, aber verständnisloser Trostspruch erscheinen müssen. Ich fragte sie ernst und einfach: „Wovon 276
werden Sie nun leben? Werden Sie einigermaßen zurechtkommen?“ „Ich erhalte eine Rente“, antwortete sie, und es kam ein Funke von Interessiertsein in ihre Augen, wenn sie auch weiterhin monoton-unbeteiligt weitersprach. Trotz ihrer Trauer hatte sie also doch schon real und praktisch an die Zukunft gedacht. „Das ist nicht viel, Frau Hell.“ „Ich habe mir etwas gespart. Werner hat mir immer mehr gegeben, als ich brauchte.“ „Ja, ich weiß“, sagte ich, „und er hat Ihnen auch noch sein Sparbuch hinterlassen.“ „Er war ein herzensguter Junge“ – sie wandte langsam ihren Kopf dem kolorierten Foto zu –, „mein Werner.“ Als sie mich wieder ansah, waren ihre Augen feucht. Schnell fuhr ich fort: „Darf ich fragen, wieviel er Ihnen hinterlassen hat?“ Sie wurde ein kleines bißchen lebhafter. „Sehr viel“, sagte sie, und Mutterstolz verdrängte die latente Trauer, „über viertausend Mark.“ „Hat denn nicht auch Ihr Sohn Ernst etwas für Sie getan?“ „Er wollte.“ „Ich meine gehört zu haben, er war ein tüchtiger Geschäftsmann und hat gut verdient, vor allem, seit er nach dem Westen gegangen war.“ „Das wohl“, sagte sie und zuckte kaum merklich die Achseln. Ihr gleichförmiger Ton wurde lebendiger; sie konnte sich, was ihr offenbar bisher gefehlt hatte, mit jemand aussprechen, wenn es auch, wie ich, ein Fremder war. „Ernst war nicht so wie Werner. Ernst hat mir viel Kummer bereitet. Er tat nicht immer gut. Das hatte er vom Vater.“ 277
„Aber er hat Ihnen doch gewiß dann und wann eine Unterstützung zukommen lassen?“ „Selten. Aber zuletzt wollte er.“ „Er wollte … Wie soll ich das verstehen?“ Nun sprach sie schon nicht mehr, sondern unterhielt sich mit einem Besucher, dem sie vertraute und bei dem sie Verständnis voraussetzte. „Er hatte Werner einen Brief geschrieben …“ „Haben Sie diesen Brief vielleicht noch?“ „Nein. Er käme aus Westdeutschland herüber, stand drin. Werner sollte ihn treffen, dann würde er ihm auch Geld für mich mitgeben.“ „Das war im November vorigen Jahres?“ „Ja, bevor er den Autounfall hatte.“ Sie schwieg. Ich wollte ihren Gedankengang nicht unterbrechen, sie nicht ablenken. Sie fuhr auch nach einer Weile fort: „Ich habe Ernst früher schon immer gesagt, er sollte nicht so schnell fahren. Aber er lachte mich aus. Und nun ist es passiert …“ Das klang traurig, aber nicht erschüttert. So wenig erschüttert, daß ich mit der banalen Phrase „Ja, wer konnte das voraussehen?“ darüber hinwegging und gleich fortfuhr: „Warum wollte Ernst denn nicht nach Berlin kommen und Ihnen das Geld selbst bringen?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht käme er auch mit Werner, schrieb er, wenn es seine Zeit erlaubte.“ Ihre Mundwinkel senkten sich verkniffen von ärgerlichem Gekränktsein nach unten. „… seine Zeit erlaubte“, wiederholte sie, und dann mit einem Seufzer: „Für seine Mutter hatte er nie Zeit.“ „Mit Werner vertrug er sich gut?“ „Wie so Jungens sich vertragen. Mal gut, mal schlecht. Sie waren zu verschieden, die beiden. Werner hatte nur seine Pferde und seinen Sport im Kopf, Ernst nur seine Geschäfte und sein Fortkommen. Von Geschäften wollte 278
Werner nie was wissen. Er war eben ganz anders. Auch sonst.“ „Wieso auch sonst?“ Sie seufzte wieder. „Ernst hat schon ganz früh, als er noch keine sechzehn war, mit Mädels angefangen, und das wurde immer schlimmer. Werner wollte mit zwanzig noch nichts davon wissen.“ Sie hätte jetzt wahrscheinlich noch lange so weitererzählt, um sich das Herz zu erleichtern; deshalb fragte ich: „Wie war denn das, als Werner damals im November zurückkam? Hatte er Ernst getroffen und Ihnen Geld von ihm mitgebracht?“ „Nein, nicht einmal richtige Grüße.“ Sie schüttelte den Kopf, als sei ihr das heute noch völlig unverständlich. „Werner war, als er zurückkam, ganz anders, gar nicht wie vorher, er war kaum wiederzuerkennen. Er gab mir kaum Antwort, und wenn ich wieder davon anfing – von seinem Bruder Ernst –, dann ging er weg. Er hat sich auch bald danach ein eigenes Zimmer gemietet. Ernst hätte ihm nun mal nichts mitgegeben, sagte er, das wüßte ich doch, warum ich immer wieder davon anfinge. Ich sollte mir nichts draus machen, ich hätte doch ihn. Ja, er war ein braver lieber Junge, mein Werner …“ Abermals der lange Blick auf das Bild über ihr, und dann, als sie sich mir wieder zuwandte, Tränen. Doch das alles war kein tiefer Schmerz mehr, das war Rührseligkeit. Ich mußte sie davon abbringen. „Ist Werner damals allein nach Jena gefahren?“ „Die Frau seines Chefs hat ihn mitgenommen. Der Chef hatte ihm auch sofort Urlaub gegeben. Ja, der Chef wußte, was er an ihm hatte. Werner war überall beliebt.“ Unverkennbar stolz erzählte sie das. 279
„Sie sagten, Werner wäre so ganz anders gewesen, als er zurückkam. Vielleicht hatte er sich mit seinem Bruder gestritten?“ „Nein, so war das nicht. Es war, wie wenn ihm etwas sehr Schlimmes passiert wäre. Aber das merkte nur ich ihm an. Ein anderer Mensch hätte es ihm bestimmt nicht angemerkt. Werner behielt immer alles für sich, schon als Kind. Aber“, schloß sie, ohne zu wissen, wie phrasenhaft das klang, „ein Mutterauge sieht scharf.“ Mir wurde immer klarer, daß Werner Hell, von früher Jugend an verwöhnt und weich, als typisches Muttersöhnchen mit zunehmendem Alter charakterlich nicht fester und härter, sondern noch mehr verweichlicht worden war. „Wie stand Werner denn zu seinem Vater?“ fragte ich vorsichtig. „Oh, mein Mann war immer sehr streng mit ihm. Er sagte, Werner wäre ein Waschlappen. Aber da hat Werner es ihm gezeigt; er wurde ein viel besserer Trainer und Rennfahrer als mein Mann. Schon als Werner noch ganz jung war, zeigte er ihm das.“ „Ihr Mann ist im Kriege gefallen?“ „Nein, neunzehnhundertsiebenundfünfzig an einer Lungenentzündung gestorben. Werner war gerade achtzehn geworden.“ „So? Hm, ja. Und wie war das, als Werner von der Reise nach Jena zurückkam, hat er Ihnen denn da nichts von – Ernsts Autounfall gesagt?“ „Wie sollte er denn? Wenn er davon etwas gewußt hätte, mein Gott, das hätte er mir doch sofort gesagt. Wir haben gedacht, Ernst wäre wieder in Westdeutschland und er schriebe bloß nicht, weil er sich schämte, daß er Werner nichts für mich mitgegeben hatte. Ich habe erst vorgestern die … die schreckliche Nachricht erhalten. Da 280
kam ein Herr und teilte es mir mit.“ Es war erstaunlich, wie verhältnismäßig ruhig diese Mutter von dem Tod ihres älteren Sohns sprach. Behutsam tastete ich mich vor. „Nun, ich dachte, das wäre vielleicht das Schlimme gewesen, von dem Sie vorhin sprachen.“ „Nein, was Werner da unten erlebt hat, weiß ich nicht. Werner konnte schon als kleiner Junge alles ganz für sich behalten. Einmal hatte er sich, da war er fünfzehn Jahre alt, das Bein an einem rostigen Stacheldrahtzaun aufgerissen. Zwei Wochen ist er damit herumgelaufen, ohne ein Wort zu sagen. Erst als er ganz starkes Fieber bekam und zu hinken anfing, kam es heraus. Der Arzt sagte, wenn wir noch einen Tag länger gewartet hätten, wäre der Junge an Blutvergiftung gestorben … Ja, das war so richtig mein Werner.“ Es erleichterte sie sichtlich, über ihren Liebling plaudern zu können, und sie ahnte natürlich nicht, welch wichtige psychologische Hinweise sie mir damit gab. Mir wurde plötzlich der charakterlich rätselhafte Selbstmord Werner Hells verständlich, ebenso erkannte ich, daß sich in diesem verweichlichten, falsch erzogenen, aber körperlich kräftigen, zähen jungen Menschen als Ausgleich – und nur scheinbar widerspruchsvoll – eine bedenkenlose Härte entwickelt hatte, die ihn unter anderem zu sportlichen Spitzenleistungen befähigte. Unter anderem … nämlich auch zu einem geplanten, rücksichtslos durchgeführten Verbrechen. „Mit Herrn Leysing stand sich Werner nicht gut?“ fragte ich abrupt. Alles Leid und alle Trauer waren plötzlich in Haltung und Ton der alten Frau verschwunden. „Daran ist dieses 281
Weib schuld!“ rief sie gehässig. „Frau Kufferath?“ „Nein, diese Edeltraut! Die war immer hinter ihm her Die hat ihn aufgehetzt! Schon als er sie das erste Mal mit hier heraufgenommen hatte, habe ich ihm sofort gesagt: ‚Werner‘, habe ich gesagt, ‚laß die Finger von dieser Frau. Sie ist verheiratet‘, hab’ ich gesagt, ‚sie meint es nicht ehrlich mit dir!‘ Aber er wollte nicht auf seine Mutter hören.“ Die alte Frau sprudelte, ohne zu wissen, wie haßerfüllt das alles klang, eine Fülle von Anklagen heraus: Eitel sei Edeltraut Leysing, vergnügungssüchtig, egoistisch, viel zu alt für den Jungen, verlogen, „eine richtige Hure!“ Die Eifersucht einer unklugen Mutter, die sich ihres Lieblingssöhnchens durch eine andere Frau beraubt wähnt, brach sich erschreckend Bahn. Ich unternahm noch einige Versuche, mehr und Tatsächliches zu erfahren. Sie mißlangen. Frau Hell, die, wie sich herausstellte, Frau Leysing kaum kannte, blieb bei bloßen Vermutungen und sinnlosen Verdächtigungen. Beiläufig erfuhr ich, daß Frau Leysing nicht „das erste Mal“ mit in die Wohnung gebracht worden, sondern überhaupt nur einmal heraufgekommen war, um Werner eine Bestellung ihres Mannes auszurichten. „Sie hat den Jungen auch verführt, mit ihr nach Jena zu fahren“, behauptete Frau Hell. „Im November?“ „Ja, ich habe es doch gemerkt.“ Und abermals, jetzt pathetisch triumphierend: „Ein Mutterauge sieht scharf!“ „Ich denke, Werner wäre damals mit Frau Kufferath gefahren?“ „Ach, das hat Werner bloß so gesagt. Ich glaube es 282
nicht. Heute nicht mehr … Oh, mein Junge, mein Werner!“ schrie sie plötzlich hysterisch. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Mein Fortgehen bemerkte sie überhaupt nicht.
62 Meine langjährige Berufserfahrung besagt, daß es fast bei jeder großen, schwierigen Ermittlung einen und manchmal mehrere tote Punkte gibt, die niederdrückend sind. Man sieht schon das Ziel, man brennt darauf, es zu erreichen, aber der Weg ist versperrt, man kommt keinen Schritt weiter. In solchen Situationen ist es ein Glück, daß die kriminalistische Kleinarbeit, die nach vielen Richtungen angelaufen ist und intensiv fortgesetzt werden muß, über depressive Stimmungen hinweghilft, bis sich irgendwo ein unscheinbarer Seitenweg auftut, der überraschend wieder auf die Straße zum Ziel führt. Wir befanden uns in einer solchen Situation. Wir kannten alle Personen, die an dem Mord in der Futterkammer mittelbar oder unmittelbar beteiligt waren: Werner Hell und Edeltraut Leysing; wir kannten den Personenkreis, der für den Mord an der Brücke unmittelbar in Frage kam: Werner Hell, Edeltraut Leysing, Benno Leysing und Jutta Kufferath; hinzu kam mittelbar als möglicher Veranlasser, als Mann im Hintergrund, Friedrich Kufferath. Aber uns fehlten, wenn man von wahrscheinlichen Vermutungen absieht, die Motive, und uns fehlten noch mehr die stichhaltigen Beweise. In diesem Stadium auf Geständnisse zu hoffen wäre unsinnig gewesen. 283
Wir konnten auch nicht, wie die Superdetektive in den meisten amerikanischen Kriminalromanen, inzwischen Unmengen von Whisky konsumieren, zynische Albernheiten von uns geben, Boxkämpfe mit Unterweltlern siegreich bestehen und uns mit ebenso kurvenreichen wie dämonischen Frauen vergnügen, sondern wir mußten, ohne eine Stimmung der Ausweglosigkeit aufkommen zu lassen, schlicht und intensiv die mühselige Kleinarbeit fortsetzen. Das taten wir, schon weil uns gar nichts anderes übrigblieb. Nicht weniger als weitere sechsundzwanzig Vernehmungen und kleine Routineermittlungen, über die hier ein Bericht nicht lohnt, wurden von uns und unseren Erfurter Genossen in diesen Tagen durchgeführt. Gewiß wurde damit das Belastungsmaterial für nahezu alle an den Autoschiebungen beteiligten Personen so lückenlos, daß der Staatsanwalt jeden Tag die Anklage erheben konnte; mehr noch: Wir erhielten den Beweis, daß Jutta Kufferath mit ihrem gesamten ergaunerten Geld, dem ihres Mannes und Benno Leysings in den illegalen Goldhandel „eingestiegen“ war und daß dabei der ermordete Ernst Hell – den man vorher mittels des gestohlenen BMW unseren Polizeiorganen auszuliefern versucht hatte – eine besondere Rolle gespielt haben mußte. Gewiß, das war viel, aber für uns zuwenig …
63 Als ich mich mit Oberleutnant Becker zur Rummelsburger Chaussee begab, um den Strafgefangenen Max Horder vorführen zu lassen und ihn zu vernehmen – denn man 284
muß nun einmal allen, auch den schwächsten Spuren nachgehen –, hegten wir, ehrlich gesagt, nicht die geringste Hoffnung. Und doch war es dieser Mann, der uns sozusagen die Tür ins Helle aufstieß. Da saß dieser Max Horder nun vor uns: ein schlanker, mittelgroßer Mann mit schwarzem, graugesprenkeltem Haar. Seine Stimme, sonor, mit verstecktem Pathos, und seine überdeutlich akzentuierende Aussprache verrieten den Schauspieler. Max Horder, Künstlername Mathias Holder, behauptete, in mehreren mittelgroßen Städten unserer Republik der Publikumsliebling gewesen zu sein. Das hatte ihn verleitet, ohne Engagementsangebot nach Berlin überzusiedeln. Aber hier genügte er nicht. Bühne und Film lehnten ihn ab; dann und wann erhielt er kleine und kleinste Aufgaben beim Fernsehen, im Rundfunk und beim Synchronisieren. Vom Schauspieler zum Komparsen geworden, begann er zu trinken, wurde unzuverlässig und verlor auch noch diese Arbeit. So geriet er, herumbummelnd, in einen Kreis, der sich mit Goldschmuggel beschäftigte. Das alles erzählte er uns schamlos offen, sogar mit einem Unterton leichten Renommierens. „Ich bin ja verurteilt“, sagte er lachend, „da kann ich offen sprechen.“ Und er sprach offen, sehr offen sogar, auch als wir ihn über seine Begegnungen mit Ernst Hell und Jutta Kufferath befragten, nachdem wir ihm die Fotos der beiden gezeigt hatten. So lautete – unter Fortlassung der Personalien, der Einleitungs- und Schlußfloskel – das von Oberleutnant Becker aufgesetzte und von dem Zeugen unterschriebene Vernehmungsprotokoll: „Am achten oder neunten November neunzehnhundert zweiundsechzig traf ich mich mit einem Mann, den ich 285
hiermit nach dem mir vorgelegten Lichtbild als Ernst Hell identifiziere. Damals nannte er sich anders. Wie, habe ich vergessen. Hell sagte mir, er habe eine Frau an der Hand, eine Zahnärztin aus Weimar, die Gold in jeder Menge aufkaufe. Er, Hell, habe ihr schon durch Vermittlung eines Arabers kleine Mengen geliefert, und jetzt habe sie ihm auf sein Zureden und weil sie ihn gut kenne, eine Anzahlung von hunderttausend Mark anvertraut. Als ich mich darüber wunderte, erklärte mir Hell, die Frau wolle demnächst ohnehin nach dem Westen abhauen, und sie glaubte wohl, dort hätte sie ihn, wenn er sie zu betrügen versuchte, in der Zange. Das hat er wörtlich gesagt. Er ließ mich dann kurz in seine Brieftasche blicken, die prall gefüllt war mit Banknoten. Wir überlegten zuerst, wie wir so viel Gold beschaffen könnten, kamen jedoch überein, daß das zur Zeit ganz unmöglich sei. Bei diesem Gespräch tranken wir ziemlich viel. Da machte der Mann, den ich jetzt als Ernst Hell bezeichnen kann, einen Witz, indem er sagte: ‚Verkaufen wir ihr doch Talmi.‘ Zunächst nahmen wir das beide nicht ernst, bis Hell plötzlich fragte: ‚Warum eigentlich nicht?‘ Ich hatte Bedenken, weil die Frau Zahnärztin sei, also unechte Ware von Berufs wegen sofort erkennen könnte. Doch als Hell mir sagte, daß die Frau gar nicht Zahnärztin, sondern eine Metzgersgattin sei, trat ich der Sache näher. Hell schlug vor, mich demnächst mit ihr zusammenzubringen. Ich sollte ihr in Hells Gegenwart eine Tasche voll Talmi aushändigen und dann verschwinden. Als Schauspieler, sagte Hell, könnte ich mich doch, ohne zu übertreiben, so zurechtmachen, daß ich nachher nicht leicht wiederzuerkennen wäre. Außerdem, sagte er, verdienten wir beide so viel Geld, daß ich mich in eine andere Stadt verziehen könnte, und er, Hell, kehre sowieso 286
nach Westdeutschland zurück. Die Frau sollte uns bei dieser Zusammenkunft weitere zweihunderttausend Mark aushändigen. Die Zusammenkunft fand, woran ich mich genau erinnere, am zehnten November statt. Hell saß mit der Frau, die ich jetzt nach den mir vorgelegten Lichtbildern als Frau Jutta Kufferath identifiziere, wie verabredet bereits am Tisch, als ich hinzukam. Wir wechselten nur wenige Worte, und ich legte verabredungsgemäß meine Aktentasche auf einen leeren Stuhl neben ihr. Wenige Minuten später begab sich Frau Kufferath mit dieser Tasche, die ziemlich schwer war, auf die Damentoilette, um dort den Inhalt zu prüfen. Als sie zurückkam, sagte sie: ‚Abgemacht, ich kaufe.‘ Sie schob mir unauffällig einen dicken Umschlag mit Banknoten zu. Ich verließ zuerst das Lokal, dann sie und zuletzt Hell. Sie nahm die Aktentasche mit und stieg, wovon ich mich sicherheitshalber überzeugte, auf dem Parkplatz in einen dunkelroten Wartburg-Luxus und fuhr weg. Eine Viertelstunde später hat Hell das Geld – Banknoten und Barschecks – in der Mitropagaststätte des Bahnhofs Friedrichstraße mit mir geteilt. Er gab mir, wie es zwischen uns abgemacht war, ein Drittel, und zwei behielt er für sich. Am zwanzigsten November erfolgte wegen eines anderen Delikts meine Verhaftung, und das bei mir vorgefundene Geld sowie ein geringer Vorrat an Bruchgold wurden beschlagnahmt. Von Hell habe ich nichts wieder gehört, er wollte noch am Abend des zehnten November nach Westdeutschland fahren.“ Nun hatten wir endlich ein mögliches Motiv für den Mord an der Brücke! Das Ehepaar Kufferath und Benno Leysing waren von Ernst Hell um nahezu den ganzen Erlös aus ihren bisherigen Schiebungen geprellt worden, auf eine Weise überdies, die besonders die kluge, energische und raffinierte Jutta Kufferath in helle Wut versetzt 287
haben mußte, zumal ihr Mann und Benno Leysing sie natürlich verantwortlich machten. Aber alle drei waren Ernst Hell gegenüber völlig machtlos, ja, er hätte sogar frech behaupten können, er selbst wäre, wie sie, nur ein betrogener Betrüger …
64 Jetzt war für uns der Augenblick gekommen, die letzten Trümpfe auszuspielen. Ob sie allerdings stechen würden, war trotz allem noch recht ungewiß, aber auch in unserem Beruf muß man manchmal etwas wagen. Ich beantragte die Haftbefehle. Frau Leysing, die um Jahre gealtert schien, so elend sah sie aus, sagte, nachdem sie einen Blick auf das Papier getan hatte, fast tonlos: „Ich habe gewußt, daß es so kommt.“ Friedrich Kufferath, den wir in Karlshorst im Stall antrafen, wo er mehreren Interessenten seine Pferde, die er verkaufen wollte, vorführte, wurde, als er uns sah, in jähem Wechsel blaß und rot; er riß den Mund auf, als wolle er wütend losschreien, aber es kam kein Laut. Dann aber streckte er, als hätten wir ihn dazu aufgefordert, schicksalergeben beide Hände vor. „Ich denke, Sie werden vernünftig sein, Herr Kufferath“, sagte ich, „wozu also Handschellen? Kommen Sie.“ Schwerfällig, ein gebrochener Mann, tappte er mit uns zum Wagen. Auf der Fahrt zum Untersuchungsgefängnis weinte er, dieser robuste Kerl.
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65 Als wir in Friedrichsfelde schon beinahe vor der Fleischerei Kufferath angekommen waren, setzte sich dort ein dunkelroter Wartburg in Bewegung. Wir kannten seine Nummer, es war Frau Juttas Wagen. „Folgen Sie ihm!“ rief ich dem Fahrer zu. „Nicht aus den Augen verlieren!“ Ein Straßenrennen begann. Frau Kufferath, eine ausgezeichnete Fahrerin, war im Vorteil; ihr Fahrzeug war wendiger und hatte eine bessere Straßenlage als unseres. Wir führten kein Blaulicht und kein Martinshorn, es war ein gewöhnlicher Dienstwagen der Abteilung K. „Wir hätten den Kontrollposten am Stadtrand benachrichtigen sollen“, sagte der Polizeimeister am Lenkrad, der verärgert erkennen mußte, wie sich der Abstand zunehmend vergrößerte und ihm immer öfter die Sicht durch andere Fahrzeuge versperrt wurde. Starker Gegenverkehr behinderte ihn mehrmals für kostbare Minuten am Überholen. Er fluchte halblaut vor sich hin. „Wissen wir denn, ob sie überhaupt die Kontrolle passieren will?“ fragte ich. „Und wenn …, bevor wir den Wachtposten telefonisch erreicht gehabt hätten, wäre sie längst durch gewesen.“ Ich wurde wütend, weil uns ein Pferdefuhrwerk trotz allen Hupens nur unsagbar langsam den Weg freigab. „Fahren Sie! In drei Teufels Namen, fahren Sie!“ Wir holten auf, und gleich hinter Hoppegarten hatten wir freie Fahrt, Verkehr und Gegenverkehr wurden dünner; nur wenige hundert Meter hinter der Kurve mußte der Kontrollposten in Sicht kommen. Da war er. Eben hob sich der Schlagbaum. Ein Laster 289
rollte durch, und gewandt an ihm vorbei glitt, kaum daß seine Geschwindigkeit herabgesetzt worden war, der dunkelrote Wartburg und jagte, sofort wieder beschleunigt, mit Vollgas weiter. Dreihundert Meter Abstand … fünfhundert … Da ließ der Posten, weil er uns mit achtzig, neunzig Kilometer Geschwindigkeit an allen Begrenzungsschildern vorbei herankommen sah, rasch die Schranke fallen. Die Bremsen schrien hell auf, unser Wagen schleuderte und rutschte; eine Staubwolke wirbelte auf, Kies und Schottersteinchen trommelten gegen die Karosserie, knappe zehn Zentimeter vor dem Schlagbaum, halbschräg herumgeworfen, stand unser Wagen. „Auf! Schlagbaum hoch!“ schrie ich den Posten an. Aber der war stur. „Langsam, langsam“, sagte er. „Was ist denn hier los?“ Erst als er seine beiden uniformierten Kollegen hinten im Wagen sah und ich heiser, mit überschlagender Stimme etwas von „Verfolgung“ brüllte, hob er einigermaßen schnell den Schlagbaum. Viele kostbare Sekunden dauerte es, bis unser Motor wieder auf Touren kam und Vollgas annahm. Frau Kufferath mußte mehr als einen Kilometer Vorsprung gewonnen haben. Wir sahen keinen Wartburg mehr. Vogelsdorf – Holperpflaster. Scharfe Rechtskurve – wir rutschten etwas. Neue, hastige Überlegung: Ist Frau Kufferath auf die Autobahn abgebogen, oder fährt sie – die Steigung der Straße verdeckte die Sicht – geradeaus, die alte Frankfurter Chaussee entlang? „Autobahn!“ schrie ich dem Fahrer zu. Instinktiv hatte ich das Richtige getroffen. Wir hatten Glück gehabt, der Wartburg war bei der Einfahrt auf die Autobahn durch Verkehr behindert worden. Wir hatten 290
ihn wieder in Sicht und konnten sofort einfahren, nur vier- bis fünfhundert Meter hinter der Verfolgten. Es war quälend. Wir fieberten. Der Abstand wurde und wurde nicht geringer. „Verfluchte alte Nähmaschine!“ knurrte unser Fahrer vor sich hin. Das Tachometer zeigte 110, kletterte auf 120 … 125 … Bald sahen wir den roten Wartburg vor uns, bald verschwand er in einer Kurve … Da war er wieder! Aber der Abstand blieb. Fast 130 holte unser Fahrer heraus. Sein Gesicht, schweißnaß, war verzerrt von grimmiger Spannung und hellwacher Konzentration. 300 Meter Abstand … 200 … „Wir kriegen ihn!“ Eine Steigung der Autobahn, sonst kaum beachtet, aber jetzt – wie ein Berg. Der Motor quält sich. Der Wartburg vor uns läuft davon … „Der klettert besser“, keuchte unser Fahrer. und nun bergab: 400 Meter Abstand … 300 … 200 … Unser Motor ist stärker … 175 … 150 … Die große, breite Rüdersdorfer Brücke. In den nächsten Sekunden werden wir die Frau überholen, ihr die Fahrbahn sperren … Da rast der Wartburg schräg nach links hinüber, schlägt plötzlich ganz scharf nach rechts ein, kreuzt unsere Bahn – um ein Haar hätten wir ihn gerammt – und prallt mit voller Wucht gegen das schwere Geländer. Sogar in unserem Wagen hören wir das Krachen und Splittern. Erst nach mehr als hundert Metern kommen wir zum Stehen. Langsam rollen wir zurück. Das Geländer, weit nach außen gebogen, hat standgehalten. Ein Knäuel Metall liegt da, zerbeult, zerrissen, ineinandergeschoben, nach Benzin stinkend. Blut rieselt unter den Trümmern hervor … 291
Eine fotografische Aufnahme stand plötzlich vor meinen Augen; sie lag ganz vorn in einem Aktenbündel: die Brücke bei Weimar. Hatte sich die Mörderin, als sie erkannte, daß ihr die Flucht nach dem Westen unmöglich gemacht worden war, selbst gerichtet? War sie wirklich die Mörderin?
66 Die Wohnung der Leysings wurde gründlich durchsucht. Wir fanden nichts Nennenswertes. Doch das war für uns nicht enttäuschend, wir hatten uns ohnehin wenig davon versprochen. Anders verhielt es sich mit der Wohnung der Kufferaths; daß wir dort trotz aller Sorgfalt und Gründlichkeit nichts entdeckten, enttäuschte uns sehr. „Das ist unser Fehler“, sagte Leutnant Lorenz mißmutig. „Wir haben zu lange gewartet und ihnen Zeit gelassen, alles Verdächtige zu vernichten.“ Ironisch fragte ich: „Hatten Sie etwa erwartet, im Toilettentisch der Kufferaths die Mordwaffe zu finden?“ Lorenz lächelte säuerlich. „Die liegt natürlich seit November vorigen Jahres in einem Fluß oder Teich oder Chausseegraben.“ Mir fiel etwas ein. „Erinnern Sie sich, Genosse Leutnant, wie ich Sie auf unserer Fahrt nach Weimar fragte, wo Sie plötzlich erhaltenes Geld deponieren würden?“ „Ja, aber …“ „Ich sagte damals, als Kriminalist müsse man stets versuchen, sich in die Lage und Gedankenwelt des Täters 292
zu versetzen und dann fragen: Was würdest du an seiner Stelle tun?“ „Ja – und?“ „Versetzen wir uns in die Lage der beiden Kufferaths. Wir kennen sie inzwischen einigermaßen. Ich bin überzeugt, daß beide – sie aber ganz bestimmt – zunächst gehofft haben, sich aus der Sache herauswinden zu können. Wenn erst Gras darüber gewachsen wäre, gedachten sie so oder so mit ihren dunklen Geschäften fortzufahren. Stimmt meine Annahme?“ „Ich glaube, ja“, nickte Lorenz. „Vor allem, wenn ich an den Charakter der Frau denke.“ „Also werden die beiden bestimmte Dinge, die sie dann wieder brauchen und die nicht leicht zu beschaffen sind, nicht vernichtet, sondern versteckt: haben.“ „Entschuldigen Sie, Genosse Hauptmann, genau das haben wir doch wohl schon vorher und nicht erst jetzt gedacht, sonst wäre ja die ganze Haussuchung eine sinnlose Routineangelegenheit gewesen.“ Das klang ein bißchen überheblich. Ich wandte mich an Polizeimeister Höllriegel, der unser Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. „Wo würden Sie, wenn Sie Kufferath wären, etwas Belastendes verstecken?“ Er sann nach. Oberleutnant Becker, der von solchem Spintisieren, wie er es zu nennen pflegte, wenig oder gar nichts hielt, gähnte gelangweilt. Lorenz jedoch überlegte angestrengt, schüttelte aber schließlich den Kopf. „Da reicht meine Phantasie nicht aus.“ „Erstaunlich“, meinte Becker sarkastisch. Doch Lorenz reagierte nicht darauf. „Irgendwo einmauern, Geheimfächer in Schreibtischen …, das ist doch 293
romantischer Quatsch …“ „Ich hab’s!“ rief Höllriegel. „Bitte?“ „Leute wie die Kufferaths sind vorsichtig. Nicht einmal einem Komplizen würden sie dergleichen anvertrauen. Wir haben ja auch bei der Leysing nichts gefunden. Aber ich würde – als Rennstallbesitzer – an den Heuboden oder die Futterkammer denken.“ „Genau das habe ich mir auch überlegt“, sagte ich. „Wo denn da?“ lehnte Lorenz entschieden ab. „Die Futterkammer habe ich selbst Zentimeter um Zentimeter nach Spuren durchsucht. Dort gibt es kein Versteck.“ Höllriegel ließ nicht locker. „Die Futterkiste zum Beispiel. Unter dem Häcksel, der Melasse oder dem Hafer …“ Lorenz winkte ab. „Als ob ich nicht jedes einzelne Fach, ja sogar jeden einzelnen Sack, der dort herumstand, durchwühlt hätte …“ „Und den Heuboden?“ fragte Oberleutnant Becker, der unsere Gedanken plötzlich nicht mehr so sehr abwegig fand. Polizeimeister Höllriegel lachte. „Warum so hoch hinaus, Genosse Oberleutnant? Heu? Wo die Pferde täglich und überdies von einem Fremden gefüttert werden?“ Ich brach das Gespräch ab und befahl Lorenz, mit Höllriegel nach Karlshorst zur Rennbahn zu fahren. „Ich glaube“, sagte ich, „der Genosse Polizeimeister kennt das Versteck. Er hat es eben entdeckt, nicht wahr?“ Höllriegel nickte. „Ich glaube, ja, Genosse Hauptmann.“
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67 Unter dem Dunghaufen, in eine alte Igelitschürze gewickelt, fanden die beiden siebzehn gefälschte Personalausweise, darunter übrigens auch den der angeblichen Zahnärztin Dalibor mit dem Foto Jutta Kufferaths und zwei andere, mit denen Benno Leysing und seine Frau unter fremden Namen aufgetreten waren. Die Fälschungen waren, wie uns tags darauf unsere Spezialisten im Kriminaltechnischen Institut mitteilten, sehr primitiv, einige geradezu dilettantisch ausgeführt. Die Abteilung Grafik hatte durch Schriftenvergleich festgestellt, daß mit größter Wahrscheinlichkeit Friedrich Kufferath der Fälscher war. In einem dieser Personalausweise lagen zwei Quittungen über Bezahlung eines Postschließfachs; so wurde – infolge einer Nachlässigkeit der Verbrecher – die Aussage ihres Komplizen Heinrich Apfel aus Jena bestätigt. Nicht recht erklärlich war, weshalb die kluge und vorsichtige Jutta Kufferath, wenn nicht überhaupt ihr Mann, die Papiere nur zusammengerafft und eilig versteckt und einige Briefe, statt sie zu vernichten, aufbewahrt hatte. Sie waren ohne Umschläge, ihr Inhalt blieb uns unverständlich bis auf einen. Dieser Brief stammte, wie aus der Handschrift unschwer zu ermitteln war, von Ernst Hell. Der Text war für uns – infolge der Aussage des Max Horder – jetzt kaum noch verschlüsselt. „Sehr geehrte gnädige Frau“, lautete, wohl um den Namen zu vermeiden, die Anrede. „Wir sind in der geschäftlichen Angelegenheit leider beide von einem Betrüger sehr benachteiligt worden. Ich bin jedoch im Interesse weiterer freundschaftlicher Zusammenarbeit, 295
die für uns sehr nutzbringend werden kann, bereit, mit Ihnen über eine teilweise Rückerstattung des gemeinsam erlittenen Verlusts zu verhandeln. Dieses Entgegenkommen meinerseits wird Sie bestimmt erfreuen. Da ich mich Mitte November ohnehin in Weimar aufhalte, erwarte ich umgehend Ihren Vorschlag, ob und wo wir uns dort treffen können. Hochachtungsvoll …“ Die Unterschrift war unleserlich. Im Briefkopf war als Absendeort Hannover und als Datum der 12. November 1962 angegeben. Was Ernst Hell nach Weimar geführt und ihn bewogen hatte, sich trotz allem wieder mit Frau Kufferath in Verbindung zu setzen, würden wir nun, da auch sie tot war, wohl nie erfahren. Er mußte einen zwingenden Grund gehabt haben. Höchstwahrscheinlich war ihm in Westdeutschland etwas schiefgegangen, die dortige Polizei suchte ihn, und nun gedachte er, seine segensreiche Tätigkeit wieder in die DDR zu verlegen. Das war jedoch unmöglich, wenn er sich nicht vorher mit seinen betrogenen Komplizen einigte. Jedenfalls hatten wir nun die Gewißheit, daß nicht Frau Kufferath den Betrüger in eine Falle gelockt, sondern daß er selbst die Zusammenkunft, die für ihn tödlich werden sollte, veranlaßt hatte. Er mußte sich sehr sicher gefühlt haben, sonst hätte er wohl kaum seinen Bruder aufgefordert, ihn aufzusuchen; daß er diesem tatsächlich geschrieben hatte, wußten wir ja von seiner Mutter. Oder sollte ihm gerade die Anwesenheit seines Bruders eine gewisse Sicherheit gewährleisten? „Sind das alle Fundstücke?“ fragte ich. „Nein“, antwortete Polizeimeister Höllriegel stolz, entnahm seiner Aktentasche einen dicken Briefumschlag und reichte ihn mir über den Tisch. Darin befanden sich die 296
kompletten Fahrzeugpapiere des Mordwagens, die Fahrerlaubnis Ernst Hells, seine beiden Personalausweise und nahezu zwanzigtausend Mark in Banknoten der Bundesrepublik.
68 Für den Kriminalisten, der Menschen zu erkennen versucht – wie könnte er sonst Kriminalist sein? –, bedeutet es jedesmal eine erregende Bereicherung seiner Menschenkenntnis, wenn er am Ende einer Ermittlung die Widersprüchlichkeiten eines scheinbar in sich geschlossenen Charakters kraß aufgedeckt sieht. Ein Verbrechen oder die Beteiligung an einem Verbrechen bringt, falls es sich nicht um einen durch Milieu bereits völlig verrohten, seelisch verkümmerten oder gar krankhaft veranlagten Menschen handelt, starke innere Konflikte. Bei den ersten Vernehmungen sind sie fast immer verdeckt; es gelingt dem Verbrecher noch, sich alltäglich, fast widerspruchslos zu geben. Welch anderes Bild bei der letzten Vernehmung des Überführten oder gar dem Geständnis! Da sieht man sich einem scheinbar völlig anderen Menschen gegenüber. Friedrich Theodor Kufferath: anfangs ein körperlich kräftiger und charakterlich robuster Biedermann, ein Metzgermeister mit sportlichen Ambitionen; seine Pfiffigkeit scheint leicht durchschaubar, sein Streben, sich einer schönen, eleganten und klugen Frau in allem anzupassen, von ihr in eine „höhere“ Sphäre gehoben zu werden, hat etwas Rührendes, leicht Komisches. Zwischendurch: Der Mann ist verschlagen und gierig, alles andere als ein Biedermann. Er ist ein brutaler 297
Kleinbürger; er beherrscht die Frau, die ihn heiratete, weil sie keinen Ausweg aus einer Notlage sah und sich ihm zu Dank verpflichtet fühlt. Wie er als Rennstallbesitzer den nie befriedigten Ehrgeiz hegt, einmal das schönste und beste Pferd zu besitzen, ohne daß diese Besitzeitelkeit zu befriedigen ist, sieht er seiner Umwelt gegenüber den Besitzerstolz nunmehr in einem anderen Objekt: ihm „gehört“ die repräsentative Frau, die Dame, die ihm an Intelligenz, Bildung und Geschmack weit überlegen ist. Dennoch – welcher Genuß der Macht: sie muß sein Werkzeug sein! Er plant die Vergehen und Verbrechen, sie führt sie aus; er ist und bleibt der „Chef“. Dann aber die letzte Etappe, die Enthüllung des Charakters, wie er wirklich ist: Vor uns sitzt einer, der sich nur hart und robust gebärdete, jedoch ein armseliger Kraftmeier ist, ein Held aus Pappmaché. Sogar körperlich wird der Zusammenbruch deutlich. Das feiste Genick, das massive Kinn: es sind nur noch Speckfalten; die aufgepappten, dünnen Haarsträhnen hängen melancholisch herunter; die einst listig zusammengekniffenen, scharf beobachtenden Äuglein irren haltsuchend umher, und jedesmal, wenn dem massiven Kerl der Zusammenbruch seiner aufgeplusterten Existenz bewußt wird, werden sie feucht von rührseligem Selbstmitleid. „Ja, Herr Kommissar, ich will es zugeben“, antwortete Kufferath, nachdem ich ihn zwei Stunden in der Zange gehabt hatte, „ich ließ mich in allen Dingen von meiner Frau leiten. Ich fürchtete immer, daß sie mir wegläuft.“ „Sie war Ihnen also nicht dankbar, daß Sie ihr damals, als sie elend zu verkommen drohte, ein Zuhause boten und sie heirateten?“ 298
Mit einem trüben, weinerlichen Lächeln in dem breiten, konturlosen Gesicht schüttelte er den Kopf. „Ich war Jutta dankbar, daß sie mich nahm; sie, eine Professorentochter, und ich nur ein einfacher Fleischer …“ „Kufferath, Sie wissen, daß wir alle Schiebungen aufgedeckt haben. Es hat also keinen Sinn, leugnen zu wollen.“ „Meine Frau ist tot“, murmelte er kraftlos vor sich hin, als sei das eine Antwort. Es war sogar eine und sollte wohl heißen: Meinetwegen, für mich ist ohnehin jetzt alles aus. „Ihre Frau war, wie Sie vorhin bestätigten, die Organisatorin und eigentliche Leiterin des Schieberrings?“ „Ja.“ „Die Personalausweise, mit denen Sie ihre Helfer versahen, und gelegentlich auch die Papiere gestohlener Wagen haben Sie gefälscht?“ „Ja, als ich damals meine Strafe absaß, habe ich einen kennengelernt, der hat mir stundenlang erzählt, wie man das machen muß.“ „Ich frage Sie abermals, Kufferath: Was wissen Sie von dem Mord an der Brücke bei Weimar?“ „Meine Frau war es bestimmt nicht!“ „Das hat sie Ihnen gesagt. Schön. Aber Sie waren nicht dabei. Wie hat Ihnen Ihre Frau die Vorgänge dargestellt?“ „Gar nicht. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, Herr Kommissar. Wir haben es vermieden, darüber zu sprechen. Sie wollte nicht. Als sie damals nach Berlin zurückkam, hat sie nur gesagt: ‚Es ist eine Panne passiert. Die Sache mit der Autonummer war idiotisch. Überhaupt der Gedanke, ihn der Polizei in die Hände spielen zu wollen. Ernst Hell ist tot. Aber reg dich nicht auf, es kann nicht herauskommen, wer es getan hat.‘“ 299
„Das war doch nicht alles?“ „Vorher sagte sie: ‚Ich wollte von Ernst bloß das Geld herausholen, um das er uns betrogen hat, und ihn dann der Polizei ausliefern. Aber es kam alles ganz anders.‘“ „Wie anders?“ „Ich weiß es nicht. Sie sagte, es wäre ein Autounfall gewesen.“ „Lügen Sie nicht, Kufferath! Wer hat Ernst Hell erschossen?“ Er schrie auf mit seiner gequetschten Tenorstimme: „Wenn ich es doch nicht weiß!“ „Also Ihre Frau.“ „Nein! Nein!“ „Dann sagen Sie, wer es war.“ „Jutta nicht, nein, sie hat es mir geschworen!“ „Unsinn, Kufferath. Sie war keine Frau, die etwas ‚schwört‘, und Ihnen schon gar nicht.“ Er stierte mich aus seinen kleinen, feuchten Augen hilflos an. Er verstand gar nicht, was ich damit meinte; aber er fühlte, daß ich recht hatte, und wußte sich durchschaut; doch seine frühere Schutzmaske, das Biedermännische, seine Waffe, die Gerissenheit – das hatte er mittlerweile dumpf erfaßt –, taugten nicht mehr zur Verteidigung. „Sagen Sie die Wahrheit“, bohrte ich. Er hatte den Kopf sinken lassen, und als er nun aufblickte, sah er aus wie ein Betrunkener, der vergebens gegen das Verschwimmen seiner Umwelt anzukämpfen versucht. Er lallte: „ ‚Wir hätten Werner nicht mitnehmen dürfen‘, hat sie gesagt.“ „Das heißt, sie bezeichnete Werner Hell als den Mörder?“ Er schwieg. „Haben Sie mich verstanden, Kufferath?“ 300
Er versuchte, sich zusammenzunehmen. Es wurde nicht viel daraus. Es war ekelhaft, diesen robusten Kerl als derart haltlosen Schwächling, diesen Kraftmeier ohne Kraft charakterlich völlig entblößt vor sich zu sehen. Kaum verständlich antwortete er: „Jutta sagte, ‚Traut Leysing muß alles tun, daß Werner dichthält. Traut hat Werner fest in der Hand, er tut, was sie will.‘“ „Demnach war auch Frau Leysing bei der Mordtat zugegen?“ „Ja.“ „Und Benno Leysing?“ „Ja …, ich glaube, ja.“ „Nun rücken Sie schon mit der Sprache heraus, Kufferath! Wie war die Sache? Sie brauchen doch jetzt Ihre Frau nicht mehr zu decken. Sie hat selbst Bilanz gemacht.“ Er schrie plötzlich wieder: „Nein, Jutta hat es nicht getan, das weiß ich!“ „Wenn Sie das wissen, Kufferath, dann sagen Sie doch, wer es getan hat.“ „Herr Kommissar, ich weiß es wirklich nicht! Sie hat es mir nicht gesagt. Ich will ja alles gestehen, was ich weiß. ‚Werner könnte heute noch leben‘, hat sie einmal gesagt, ‚wenn wir nicht, den Blödsinn mit dem Nummernschild begangen hätten und wenn Benno Leysing nicht den Kopf verloren hätte.‘ Aber ich habe nicht verstanden, was das bedeuten sollte. Als ich sie fragte, wieso, schwieg sie. ‚Es ist besser, du weißt nicht zuviel, Friedrich‘, sagte sie …“ Die Vernehmung dauerte viereinhalb Stunden. Über die Schiebungen mit Gebrauchtwagen, über den mißglückten Versuch, in den Goldschmuggel überzuwechseln, über das Vergraben der Dokumente erfuhr ich alles, über die Mordtaten nichts. Wir drehten uns fortwährend im 301
Kreise. Kufferath gestand nicht mehr, als er schon vier Stunden zuvor gestanden hatte. Vielleicht wußte er tatsächlich nicht mehr. Erschöpft brach ich die Vernehmung ab.
69 Würde ich mit Frau Leysing eine gleiche Enttäuschung erleben? Sie war nicht klug, aber lebenspraktisch. Sie war hart bis zur Gefühlsroheit, aber auch leidenschaftlich bis zur Selbstpreisgabe. Doch Werner Hell war tot; für wen oder was sollte sie jetzt noch um einen Deut mehr preisgeben, als unser Wissen sie zwang? Überdies war es nur eine Vermutung, wenn auch eine begründete, daß sie Werner Hell geliebt hatte. Mir kamen starke Zweifel. Wenn Werner Hell ihr, wie es den Anschein hatte, sexuell hörig gewesen war, konnte diese egoistische, um mehrere Jahre ältere Frau ihn bis zur Leidenschaft geliebt haben? Vielleicht waren das alles Phantastereien, und Frau Leysings Zusammenbruch im Hause der Rennleitung, als sie von dem Selbstmord Werner Hells erfuhr, hatte eine viel näherliegende Ursache: Es war möglicherweise nur ein Schock gewesen, weil sie tief erschrak, daß ein Verbrechen, an dem sie beteiligt war oder das sie sogar begangen hatte, unmittelbar vor der Aufdeckung zu stehen schien … Als sie uns vorgeführt wurde, waren wir – Lorenz und Becker bestätigten es mir später – sehr betroffen von ihrem Aussehen. Sie sah um Jahre gealtert aus. Das lag nicht so sehr an ihrem derben Gesicht, das erschreckend hager geworden war und die harten Züge und Falten 302
scharf hervortreten ließ; es lag auch weniger an ihren aufgehellten blonden Haaren, die, ungepflegt, an den Wurzeln nun dunkel nachgewachsen waren; selbst die vernachlässigte Kleidung war es nicht – es war der unsagbar müde Ausdruck von Gleichgültigkeit um die Augen und den Mund. „Setzen Sie sich, Frau Leysing.“ Ich schob ihr ein Päckchen Zigaretten und Streichhölzer über den Tisch. „Bedienen Sie sich.“ Ihr Lächeln, das wohl Dankbarkeit ausdrücken sollte, mißriet zu einer kläglichen Grimasse. „Ich glaube“, sagte ich, „es ist das beste, wenn Sie Ihr Gewissen erleichtern, Frau Leysing. Wenn ich Ihnen mitteilen würde, was wir alles wissen, sähen Sie sofort ein, daß alles Versteckspielen für Sie nur weitere, nutzlose Quälerei bedeutet.“ „Ich weiß, daß alles aus ist“, antwortete sie fast tonlos. „Ich wußte schon lange, daß es so kommen mußte. Machen wir ein Ende.“ Sie richtete sich auf. „Fragen Sie; ich werde Ihnen die Wahrheit sagen.“ Sie gab bis in wenige Einzelheiten hinein, die wir noch nicht kannten, Auskunft über die Schiebungen. Die Organisation des Rings hatte Frau Kufferath fest in der Hand gehabt; ihr hatten alle zu gehorchen. Frau Leysing hatte in ihrem Auftrag auch ihren Vater und ihre Brüder einbezogen. Das war nicht schwierig gewesen, denn diese hatten schon vorher gelegentlich zweideutige Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht. Anita Pinndopp, ihre Schwester, war tatsächlich unbeteiligt. „Erzählen Sie, was Sie von dem Schmuggel mit Edelmetallen wissen.“ „Damit fing das Unglück an.“ Und nun berichtete sie, erst langsam und stockend, dann immer freier werdend: „Jutta sagte, der Handel mit Gebrauchtwagen wäre auf die 303
Dauer nicht das Richtige. Es gäbe leider immer mehr neue Fahrzeuge zu kaufen. In Berlin und den anderen Städten paßte die Polizei zu gut auf, es würde von Tag zu Tag gefährlicher, und die Fahrzeuge, die in kleineren Städten und auf dem Lande abgestoßen würden, wären meist so klapprig, daß daran kaum noch was zu verdienen sei. Mit gestohlenen Wagen wäre das Risiko erst recht zu groß. Die Zwischenhändler wären unzufrieden und verlangten für sich größere Anteile. Wir sollten uns umstellen, sagte Jutta. Ihr Mann war einverstanden; er war überhaupt immer mit allem einverstanden, was Jutta wollte oder tat. Über meinen Mann nahm sie die Verbindung mit Ernst Hell wieder auf; die beiden hatten damals schon das Optikgeschäft herangebracht, doch das war mit der Mauer von einem Tag zum andern abgeschnitten worden. Jetzt sollte es Gold sein. Das konnte man im Westen frei kaufen, und es war leicht herüberzubringen. Jutta hatte auch schon ein paar kleine Geschäfte mit Ernst und einem Ausländer gemacht. Die Sache lohnte sich. Jutta ließ durchblicken, daß wir, wenn wir genug verdient hätten, das Geld drüben umtauschen und auf ein Bankkonto legen könnten, es bliebe uns dabei immer noch genug, um im Westen gut leben zu können. Außerdem gäbe es dort andere Geschäfte ohne solche Schwierigkeiten und Gefahren wie bei uns. Da traf sie sich eines Tages mit Ernst Hell …“ „Erinnern Sie sich, wann das war?“ „Nicht genau. Ich glaube, Anfang November. Ich hörte nur, daß es ein ganz dickes Geschäft werden könnte, aber dann müßte ihm Jutta mindestens hunderttausend Mark zum Ankauf vorschießen. Zweihunderttausend könnten später bei Lieferung der Ware gezahlt werden.“ „Stimmt das, Frau Leysing? Nach unsern Informationen fanden diese Besprechungen etwas später statt.“ 304
„Das kann sein. Denn zuerst lehnte Jutta noch ab. Sie sagte zu mir, sie wollte so viel Geld nicht ohne Sicherheit aus der Hand geben. Ich riet ihr auch davon ab. Ich traute Ernst Hell nicht über den Weg. Den kannte ich zu gut von früher. Außerdem hatte Werner ihm geschrieben, er sollte doch auch einmal an seine Mutter denken und nicht alles ihm überlassen, aber da hatte ihm Ernst geantwortet, seine Geschäfte in Westdeutschland gingen so schlecht, daß er demnächst in die DDR zurückkommen wollte.“ „Das hat Ihnen Werner Hell erzählt?“ „Er hat mir auch den Brief gezeigt. Ich machte mir meinen Vers darauf: Ernst wurde der Boden in Westdeutschland zu heiß, deshalb wollte er zurück. Jedenfalls habe ich abgelehnt, mich mit meinem Geld an dem Goldgeschäft zu beteiligen.“ „Das ist uns bekannt, Frau Leysing.“ Sie schien darüber nicht erstaunt. Es machte überhaupt nicht mehr den Eindruck, als werte sie meine Bemerkungen und Zwischenfragen als Aufmunterung oder Kontrolle. Sie hatte sich offensichtlich entschlossen, rückhaltlos auszusagen. Dabei rauchte sie in tiefen Lungenzügen eine Zigarette nach der anderen, erst mechanisch, dann sogar, wie mir schien, mit einem gewissen gierigen Genuß. Die Frau hatte unglaublich starke Nerven. „Dann“, fuhr sie fort, „kam der große Betrug. Ernst Hell ging mit dem Geld durch. Danach muß aber ein Brief an Jutta gekommen sein, daß Ernst Hell seinen Teil zurückzahlen wollte, sogar in Westmark; er hätte Jutta ja gar nicht betrogen, sondern wäre selbst gemein betrogen worden. Das muß Jutta den Kopf verdreht haben, die Westmark stach ihr in die Nase. Sie wollte doch abhauen, da kam ihr das Angebot wie gerufen. Ich verstehe das nicht, wo sie doch sonst so klug und vorsichtig war …“ Frau Leysing 305
schüttelte den Kopf, dann fuhr sie fort: „Ich hörte, wie mein Mann mit den Kufferaths darüber sprach. Das war in der zweiten Novemberwoche im Rennbahnrestaurant. ‚Du bist schlau gewesen, Traut, daß du nicht mitgemacht hast‘, sagte Jutta zu mir. ‚Aber jetzt werden wir aus dem Schuft herausholen, was wir können‘, sagte sie zu den andern, ‚und dann werden wir ihn hochgehen lassen.‘ Herr Kufferath hatte Bedenken. ‚Warum nicht?‘ sagte Jutta. ‚Von unsern Geschäften mit den Wagen kann er nichts verraten, davon weiß er einen Dreck, und er wird sich schwer hüten, über seinen eigenen Schwindel mit dem Gold etwas auszusagen. Damals wurde beschlossen, nach Weimar zu fahren. Ernst hatte Weimar als Treffpunkt vorgeschlagen.“ „Wußte Werner Hell etwas von diesen Dingen?“ „Nein, nichts. Er oder seine Mutter hatte ebenfalls einen Brief von Ernst bekommen; und als ich Werner mitteilte, ich führe nach Weimar, da sagte er: ‚Ich fahre mit.‘ Die Kufferaths wollten das erst nicht und mein Mann schon gar nicht. Aber Werner setzte es durch; er sagte zu Kufferath, wenn er keinen Urlaub kriegte, kündigte er.“ „Sie hatten mit Werner ein Verhältnis?“ Frau Leysing zögerte nur kurz, dann antwortete sie, und zum erstenmal erhellte ein frauliches Lächeln ihr verfallenes Gesicht: „Er war der erste Mann in meinem Leben, den ich wirklich geliebt habe.“ „Er Sie auch?“ „Er hing an mir wie ein Kind. Werner hätte alles für mich getan. Er war fünfundzwanzig, trotzdem habe ich überhaupt erst einen richtigen Mann aus ihm gemacht.“ Das klang – merkwürdig genug in dieser Situation – unverhohlen stolz. „Bitte, Frau Leysing, schildern Sie uns jetzt möglichst genau die Vorgänge in Weimar.“ 306
Nun wurde sie erregter, sie rauchte in kurzen, hastigen Zügen. „Ich weiß nichts von dem Hin und Her und den Verhandlungen Juttas mit Ernst wegen der Rückzahlung des Geldes und wegen dem Goldhandel. Zuerst haben sie sich in einer Raststätte an der Autobahn getroffen. Mich ging das aber, nachdem ich mich geweigert hatte mitzumachen, gar nichts an. Ich war die beiden Tage fast immer nur mit Werner zusammen. Wir besprachen, daß ich mich scheiden lassen und ihn heiraten wollte. Werner wohnte in einem kleinen Hotel in Jena, wo sie es mit meinen Besuchen nicht so genau nahmen. Ich war schon zwei Tage vorher in Jena angekommen und wohnte wie immer, wenn ich dort war, bei meinen Eltern. Das Hotelzimmer für Werner hatte ich besorgt. Zu tun hatte ich wenig. Eigentlich mußte ich am Sechzehnten nur noch mit einem Vermittler, einem gewissen Apfel, und einem andern aus Erfurt abrechnen …“ „Heinrich Apfel ist bei Ihrem Bruder Dieter angestellt.“ „Ja.“ „Erzählen Sie weiter.“ „Ich erfuhr, als ich am Sechzehnten ins Restaurant des Hotels ‚Elephant‘ in Weimar kam, wo wir uns verabredet hatten, um das von mir kassierte Geld zu verrechnen …“ „Um wieviel Uhr war das?“ „Um drei. Da erfuhr ich, daß meine Schwester Ann Ernst Hell in einem gestohlenen BMW hergebracht hätte.“ „War Werner Hell bei diesem Gespräch zugegen?“ „Nein, natürlich nicht. Er durfte doch nichts von all diesen Sachen erfahren.“ „Ja, bitte weiter.“ „Es hätte nicht geklappt mit dem Hochgehenlassen, sagte Jutta wütend, und nun hätte sie auch noch den Wagen mit der gefährlichen Nummer auf dem Hals; sie hätte 307
ihn sofort in die Hotelgarage gebracht, damit er nicht draußen auf dem Parkplatz herumstände.“ „Einen Augenblick, Frau Leysing“, warf ich ein. „Wenn Ernst Hell, wie Sie sagen, ‚hochgehen‘ sollte, müßte er zuvor das versprochene Geld zurückgezahlt haben, sonst wäre es doch sinnlos gewesen.“ „Nein. Wir wollten ihn loswerden. Er sollte uns auf keinen Fall in die Karten …, in unsere Autogeschäfte hineingucken. Er hatte zu der Besprechung im ‚Elephanten‘ kein Geld mitgebracht; das hörte ich, als es Jutta, die sehr verärgert war, meinem Mann erzählte. Sie sagte: ‚Ihm ist im Westen etwas geplatzt, er hat kaum noch Geld, und nun will er sich wieder bei uns einhängen, der schmutzige Lump.‘ Und mein Mann antwortete: ‚Wir müssen ihn auf jeden Fall loswerden.‘ Jutta sagte und lachte dabei zornig: ‚Weg mit Schaden!‘ Aber dann erfuhr ich, daß sie doch noch etwas mit Ernst ausgemacht hatten. Sie wollten sich abends um zehn Uhr bei einem Mann treffen, der in der Nähe von Weimar in einem Sommerhäuschen wohnte, das abseits der Straße in einem kleinen Wald läge. ‚Wenn er‘ – sie sprachen wieder von Ernst –, ‚wie er sagt, zwanzigtausend Westmark bei sich hat, dann wollen wir ihm die abknöpfen, bevor er hochgeht.‘ Ich habe dieses Gespräch nicht so richtig mitgekriegt; es ging mich ja auch wenig an. Ich erinnere mich nur, daß sie sehr wütend waren, weil für den BMW kein anderes Nummernschild da war. ‚Das war eine Kateridee von dir, Jutta‘, schimpfte mein Mann, ‚den Kerl hochgehen zu lassen! Was soll uns das nützen?‘ – Jeder macht mal einen Fehler‘, wehrte sich Jutta ärgerlich, ‚aber viel schaden kann es uns auch nicht. Er wird ja allein mit dem BMW fahren, und wenn er unterwegs geschnappt wird, dann sind wir die Wanze los.‘ Mein Mann antwortete: ‚Aber die zwanzigtausend auch.‘ Jutta machte 308
eine zornige Bewegung und sagte: ‚Pfeif drauf! Ich glaube sowieso nicht dran, daß er überhaupt Geld hat. Jedenfalls‘, sagte sie, ‚bleibt jetzt alles so, wie wir verabredet haben. ‚Du‘ – damit meinte sie meinen Mann –‚fährst schon vorher hinaus, parkst aber deinen Wagen so, daß Ernst ihn nicht sieht, und hältst dich bereit. Nur wenn er sich weigert, das Geld, wenn er es überhaupt hat, herauszurücken, trittst du in Aktion. Ich hoffe aber, das wird gar nicht nötig werden.‘ Dann besprachen sie, daß Jutta und ich in ihrem Wartburg um halb zehn vom Hotel abfahren und Ernst, so wäre es mit ihm ausgemacht worden, in einem kleinen Abstand folgen sollten, weil er den Weg zu dem Haus im Wäldchen nicht wüßte. Wenn er in der Stadt oder unterwegs auf der Chaussee von weißen Mäusen angehalten würde, sagte Jutta, sähen wir das ja im Rückspiegel. Dann wollten wir uns nicht um ihn kümmern und einfach weiterfahren. Aber unterwegs passierte nichts. Wir …“ „Ich muß Sie unterbrechen, Frau Leysing“, sagte ich, zumal ich bemerkte, wie sie aus ihrem verhältnismäßig ruhigen Erzählen in nervöse Gedankensprünge verfiel. „Wie war denn das mit Werner Hell? Der war doch auch dabei.“ Sie verzerrte das Gesicht. „Ja“, sagte sie tonlos. „Mit wem fuhr er? Er konnte, wie wir wissen, sowenig Auto fahren wie Sie.“ Frau Leysing erkannte, daß sie nicht ausweichen und nicht um die Sache herumreden konnte. „Ich hatte mich mit Werner verabredet, er sollte mich um vier Uhr vom ‚Elephanten‘ abholen; wir wollten den Nachmittag allein zusammen verbringen. Als er aber an unsern Tisch kam, sagte er sofort zu Jutta: ‚Frau Kufferath, Sie müssen mich zu meinem Bruder mitnehmen. Er hat mir versprochen, daß er mir fünfhundert Mark für meine Mutter mitbringen will.‘ Jutta und mein Mann machten 309
zuerst allerlei Ausflüchte, aber schließlich konnte Jutta nicht anders, sie sagte zu.“ „Warum konnte sie nicht anders?“ „Weil Werner so laut sprach und drängte und meinen Mann, als der sich einmischte, sogar anschrie und der Ober und einige Gäste am Nebentisch schon aufmerksam wurden. ‚Na, schön‘, sagte Jutta deshalb. Mein Mann sagte, das hörte ich noch, als Werner und ich vom Tisch weggingen: ‚Verfluchter Blödsinn!‘ – Abends um halb zehn fuhren wir ab. Ich saß mit Werner hinten in Juttas Wartburg; Ernst folgte uns mit dem BMW.“ „Das ist aber sonderbar, Frau Leysing“, wandte ich ein. „Warum hat Ernst Hell seinem Bruder denn nicht die versprochenen fünfhundert Mark gleich gegeben; das wäre doch einfach und nur natürlich gewesen.“ „Nein. Jutta hatte es so eingerichtet, daß Werner seinen Bruder gar nicht zu sehen kriegte. Werner wußte nicht, daß Ernst uns in dem BMW folgte. Jutta hat mir das auch erklärt. Sie sagte, von dem Moment an, wo der gestohlene Wagen auf der Straße erkannt werden kann, ist es gefährlich, und wenn die Polizei dann herauskriegt, daß Ernst und Werner zusammengehören, weil sie vorher im Restaurant oder auf der Straße miteinander gesprochen haben, dann sind wir alle mit drin. Deshalb nahm sie Werner schon lieber in ihrem Wagen mit. Mein Mann war bereits eine halbe Stunde vorher weggefahren.“ Ich unterbrach sie: „Haben Sie sich denn keine Gedanken darüber gemacht, daß Ihr Vater und Ihre Brüder in die Geschichte hineingezogen würden, wenn die Volkspolizei Ernst Hell mit dem gestohlenen Wagen stellte?“ „Ja. Aber Jutta meinte, die würden sich schon herausreden. Woher sollten sie denn gewußt haben, daß es 310
ein gestohlener Wagen war? Sonst hätten sie doch die alte Zulassungsnummer entfernt.“ Ich mußte im stillen lächeln über die primitive Unverschämtheit selbst intelligenter Gauner: sie wußten nicht einmal, wie leicht es beim heutigen Stand der kriminaltechnischen Untersuchungen ist, gefälschte Motornummern und dergleichen nachzuweisen. Frau Leysing versuchte vergebens, ihre wachsende Erregung zu verbergen. Ich hatte längst erkannt, daß der gleichförmige, gleichgültig wirkende Tonfall ihrer stets etwas rauh klingenden Stimme nur das Ergebnis einer ungewöhnlich starken Selbstbeherrschung war. Ihre Erregung zeigte sich selbst jetzt, wo ihr Widerstand gebrochen war, nur in vielen kleinen, sinnlosen Bewegungen der knochigen Hände und in einem häufig wiederkehrenden nervösen Zucken ihres blassen Gesichts. „Wir kamen an den Wald und bogen von der Straße auf einen Landweg ab. Einige Minuten später fuhren wir von hinten über einen holperigen Weg durch tiefen Sand wieder in den Wald ein. Ernst folgte uns ganz dicht. Er hupte öfter und blinkerte mit den Scheinwerfern: Wir sollten halten. Er hatte bestimmt Verdacht geschöpft, daß er in eine Falle gelockt worden war. Als wir auf eine Lichtung kamen …, da war so eine Art Lichtung, eine Schneise nennt man das, glaube ich, und da war seitwärts Holz aufgestapelt, kleingeschnittene Baumstämme …“ „Wir kennen den Platz, Frau Leysing. Sprechen Sie nur weiter.“ Sie holte hastig und tief Atem. „Da fuhr, als wir anhielten, Ernst neben uns und stoppte. Er sprang aus seinem Wagen und schrie Jutta an: ‚Was soll denn das?‘ Jutta hatte das Fenster heruntergekurbelt und sagte: ‚Wenn du jetzt nicht sofort das Geld zurückgibst, passiert was.‘ –‚Fällt 311
mir gar nicht ein!‘ rief er. –‚Kannst so laut brüllen, wie du willst‘, sagte Jutta, ‚hier hört dich keiner.‘ Ernst machte ein paar Schritte zurück und sah sich nach allen Seiten um. Da sprang Werner, der auf derselben Seite im Wagen saß, heraus, lief auf seinen Bruder zu und rief: ‚Ernst, ich bin’s!‘ Ich weiß nicht, warum, aber Ernst erschrak noch mehr. Plötzlich kriegte er es mit der Angst, wie wenn er Schlimmes ahnte. Er machte kehrt, lief weg. ‚Halt! Halt!‘ schrie Jutta hinterher. Doch da lief er noch schneller. Er wollte gerade in einem Gebüsch verschwinden, da trat mein Mann hinter einem Holzstapel hervor. Benno schrie auch etwas, ich verstand nicht, was, und im nächsten Augenblick schoß er. Ernst brach zusammen. Als Werner, Jutta und ich hinkamen, war er schon tot. Mein Mann hielt noch immer den Revolver in der Hand. Die Hand flatterte nur so hin und her. ‚Das habe ich nicht gewollt‘, sagte er nach einer Weile, ‚ich wollte ihm nur drohen. Ich hatte vergessen, daß der Revolver schon entsichert war.‘ Werner stand kreidebleich zitternd da und sagte immerzu nur: ‚Oh, oh, oh … ‘ Ich führte ihn weg, zum Wagen zurück. Dort saß er dann und hielt beide Hände vors Gesicht gepreßt. Ich streichelte und streichelte ihn. Er merkte gar nichts davon, er rührte sich nicht …“ Frau Leysing schwieg lange. Die Erinnerung hatte sie überwältigt. Ihre Augen waren wie tot ins Leere gerichtet. Ich wartete geduldig. Auch Lorenz und Becker verhielten sich ganz still. Endlich fuhr Frau Leysing fort: „Mein Mann und Jutta trugen den Toten in den BMW. Dann sprachen sie eine Zeitlang leise miteinander. Mein Mann ging, suchte ein paar Stückchen Holz und schnitzelte daran herum. Ich weiß nicht, was das bedeutete. Er bückte sich öfter vorn in den Wagen hinein, als müßte das Holz für 312
irgend etwas passend geschnitzelt werden. Jutta kam zu uns an den Wagen und sagte zu mir: ‚Ihr wartet hier, bis wir zurückkommen; und soviel sage ich euch schon jetzt: Wenn einer jemals ein Wort von dem verrät, was hier passiert ist, ist es mit uns allen aus.‘ Dann fuhr sie mit meinem Mann den BMW, in dem der erschossene Ernst neben ihr saß, durch einen Sandweg zur Chaussee. Ich habe erst später ungefähr erfahren, was sie dort gemacht haben.“ Sie lehnte sich, als hätte alle Kraft sie plötzlich verlassen, auf dem Stuhl zurück. So saß sie bleich, mit geschlossenen Augen, ohne jede Bewegung mehrere Minuten lang da. Im Ascher verglomm ihre Zigarette. Behutsam mahnte ich endlich: „Das ist noch nicht alles, Frau Leysing.“ Ohne die Augen zu öffnen, antwortete sie tonlos: „Nein.“ Und es währte wiederum einige Minuten, bis sie, nachdem sie Kraft gesammelt hatte, fortfahren konnte: „Für mich und Werner begann nun eine furchtbare Zeit. Wir sind nie wieder froh geworden. Er hing zwar nicht sehr an seinem Bruder, aber es war eben doch sein Bruder. Werner sagte immer wieder zu mir: ‚Laß es uns der Polizei melden, Traut.‘ Ich mußte es ihm ausreden. Einmal mußte ich abends zu Kufferaths in die Wohnung kommen, mein Mann war auch da, und Herr Kufferath erklärte mir schroff: ‚Wenn durch dich oder Werner etwas herauskommt, dann schwören Jutta und Benno vor Gericht, daß Werner es getan und du ihm geholfen hast.‘ Ich teilte es Werner mit. Am meisten haßten wir jetzt meinen Mann, denn der wurde immer gemeiner zu Werner. Auch weil er eifersüchtig auf ihn war, trotzdem wir – mein Mann und ich – längst nicht mehr wie Eheleute miteinander lebten. Ich wollte mich scheiden lassen. Er 313
hat mich oft geschlagen. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was für ein brutaler und niederträchtiger Kerl er war. Ihm machte es Freude, andere zu quälen. Weil er jetzt sicher war, daß Werner nichts verraten würde, verspottete und schikanierte er den Jungen, wo es nur ging. Da sagte Werner eines Abends zu mir: ‚Wenn er so weitermacht, bringe ich ihn um!‘“ Sie tastete nach dem Zigarettenpäckchen, ihre Hand zitterte. „Was haben Sie ihm geantwortet?“ fragte ich. Da schrie sie plötzlich, und ihr Gesicht verzerrte sich haßvoll: „‚Ja‘, rief ich, ‚ja, Werner, tu das! Ich helfe dir. Wir wollen endlich wie Menschen leben … ‘“ Sie wurde ohne Übergang wieder ruhig. „Von nun an haben wir allerlei Pläne geschmiedet. Werner sollte, wenn Benno tot wäre, von den Kufferaths weg. Wir wollten in eine LPG, die Rassepferde züchtet, weitab von Berlin. Trotzdem, es wäre wohl nie so gekommen, wie es gekommen ist, Werner war viel zu weich und gutmütig, um so was zu tun. Wir hatten ausgemacht, er sollte Benno niederschlagen, wenn er wieder einmal Krach mit ihm anfinge. Dann könnte er es so drehen, als wäre es Notwehr gewesen. Wenn er trotzdem eingesperrt werden würde, lange könnte es ja nicht sein, dann würde ich bestimmt auf ihn warten und ihn nie wieder verlassen. Aber es bot sich keine Gelegenheit, es zu tun. Die beiden kamen ja nur im Stall zusammen, und es waren immer zuviel Menschen in der Nähe. Aber da wurde wegen zwei drusekranken Pferden die Quarantäne über den Stall verhängt. Jetzt waren die beiden beim Füttern und Tränken immer allein. Aber Werner, der sich schon eine große, schwere Flasche voll Wasser zurechtgestellt hatte – wir meinten, das könnte später gar nicht entdeckt werden –, zögerte und zögerte. Da sollte am 314
nächsten Tag die Quarantäne wieder aufgehoben werden. Ich sagte zu Werner: ‚Wenn du es heute nicht tust, ist es zu spät.‘ So ist es dazu gekommen.“ „Sie haben ihn also dazu angestiftet?“ fragte ich unwillkürlich. Frau Leysing sprang plötzlich auf, trat an meinen Schreibtisch, krallte beide Hände um die Kante und schrie schrill: „Ja! Ja! Verstehen Sie das denn nicht? Und als ich dann abends an die Schranke vorm Stall kam und sah, daß die beiden wieder ganz ruhig und friedlich beim Füttern waren, schickte ich den Nachtwächter, der da herumlungerte, weg.“ Sie hatte kaum noch Atem, aber sie schrie weiter: „Und ich lief hinein. Benno bückte sich gerade über die Futterkiste. Werner sah mich. Ich brauchte nichts zu sagen, er wußte, was das bedeuten sollte …“ Frau Leysings Kraft schien am Ende; sie stützte sich schwer auf den Tisch und sprach kaum noch vernehmlich weiter: „Werner nahm die Flasche vom Regal und schlug zu.“ Ihre Augen standen weit offen, als sähe sie alles vor sich. „Mein Mann richtete sich taumelnd auf und wollte auf Werner losgehen. Da sprang ich hin, nahm die Forke und drückte sie Werner in die Hand. ‚Wehr dich!‘ schrie ich ihm ins Ohr. ‚Stoß zu, Werner, stoß doch zu!‘“ Frau Leysing schloß die Augen. „Und Werner tat es …“ Wir hatten keine Fragen mehr. Beide Morde und der Selbstmord waren aufgeklärt. Staatsanwalt und Gericht hatten nunmehr das Wort.
Den Anlaß zu diesem Roman boten zwei tatsächliche Geschehnisse. Die Handlung und ausnahmslos alle Personen sind frei erfunden. 315
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1974 Lizenz-Nr.: 409-160/89/74 • LSV 7004 Lektor: Helmut Hirsch Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 223 1 EVP: 3,-