Chicago Band 11 Tödliche Schlagzeilen
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›trocken geleg...
7 downloads
202 Views
917KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Chicago Band 11 Tödliche Schlagzeilen
Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›trocken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Menschenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangsterbosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige. In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor, nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen. * Der Sommer hatte gerade angefangen. Jedenfalls stand das im Kalender. Trotzdem war es verdammt kühl an diesem frühen Morgen. Wir froren beide, Brendon Smith und ich, während wir die South Wabash hinunterstiefelten. Ein frischer Wind pfiff mal wieder vom Lake Michigan herüber. Zwischen 50th und 51st Street war der halbe Block der Avenue abgesperrt. Außerhalb der hölzernen Polizeibarrieren war die Fahrbahn jeweils auf der Länge eines weiteren Blocks zugeparkt. Auf den Bürgersteigen drängten sich Schaulustige. Alle starrten zu Lord Nelson's Boxing School hinüber, wo es von Polizei wimmelte. Innerhalb der Barrieren durften nur Fahrzeuge des Chicago Police Department parken. Deshalb hatten Leute wie Brendon und ich einen langen Fußmarsch zu bewältigen. Wir gingen auf der Straßenmitte, wie die meisten anderen auch. Hauptsächlich waren es Journalisten, Kollegen meines väterlichen Freunds. Fotografen überholten uns rennend, mit ihren schweren Kameraausrüstungen beladen. Ich vermutete stark, dass ich der einzige Privatdetektiv in der näheren Umgebung war - und das auch nur, weil Brendon mich darum gebeten hatte. »Und wo steckt der Junge jetzt?«, fragte ich. 4
»Keine Ahnung.« Mein Begleiter vergrub die Hände in den Hosentaschen und hob die Schultern. »Der macht, was er will.« Brendon hatte mir sein Leid geklagt. Sein Chefredakteur bei der Tribune hatte ihm, dem erfahrenen Sportredakteur, einen jungen Reporter aus New York zugewiesen. Dem sollte er beibringen, wie der Laden hier in Chicago lief. »Du bist doch sein Vorgesetzter, oder?« Ich schlug meinen Jackettkragen hoch und zog den Hut etwas tiefer in die Stirn. Dabei half das kein bisschen gegen mein Frösteln. Brendon lachte abgehackt. »Eine Zeitungsredaktion ist keine Armeeeinheit, Sohn.« Ich hatte absolut nichts dagegen, dass Brendon mich so nannte. Wir kannten uns seit einer Ewigkeit. Mein Vater und er waren wie Brüder gewesen. Nach dem Tod meiner Eltern vor zehn Jahren hatte Brendon für mich die Rolle des Vaters und des guten Freundes übernommen. »Also nichts mit Befehl und Gehorsam«, folgerte ich. »Aber wenn du ihn zum Dienst einteilst, müsste er sich doch danach richten.« »Wenn er das täte, ginge es mir besser«, antwortete Brendon und seufzte. »Ehrlich gesagt, ich würde lieber einen Sack Flöhe hüten, als auf diesen New Yorker Klugscheißer aufpassen.« Der Klugscheißer, den Brendon bei guter Laune als ›den Jungen‹ bezeichnete, war indirekter Auslöser des Geschehens in der Boxschule. Der vermutlich direkte Auslöser lugte zusammengerollt aus Brendons Jackentasche - die aktuelle Morgenausgabe der Chicago Tribune. Die Schlagzeile auf der ersten Seite war knallig und einprägsam: Nelson LaRossa: Ich packe aus! Was in ihn gefahren war, konnte sich kein Mensch in Chicago erklären. Der einst berühmte Profiboxer LaRossa hatte stets mit den Wölfen geheult und all die krummen Sachen in seinem Gewerbe mitgemacht. Jeder wusste, dass Rigobellos Italienergang das Boxgeschäft beherrschte. Nelson hatte es schon gewusst, als er noch Amateur gewesen war. Es hatte ihn als Schwergewichtsprofi nicht daran gehindert, ordentlich abzukassieren. Damals, zur Zeit seiner größten Erfolge, hatten ihm die Journalisten den Spitznamen ›Lord Nelson‹ gegeben 5
und ein oder zwei Mal waren in den Zeitungen sogar Fotos erschienen, die ihn zusammen mit Benito ›Il Cardinale‹ Rigobello zeigte, der selbstredend kein wirklicher Kardinal war. Den Beinamen hatte sein Fußvolk ihm gegeben, weil er sich so gern als frommer Mann darstellte. In Wahrheit kümmerte sich Rigobello keinen Deut um seine Mitmenschen. Eines der Ebenbilder Gottes auszulöschen kostete ihn nicht mehr als ein Fingerschnippen. Viel Zeit, über Nelson LaRossas Sinneswandel nachzudenken, hatten wir Menschen in Windy City nicht gehabt. Er hatte die Schlagzeile nicht überlebt. Die Druckerschwärze der Morgenzeitungen war noch nicht richtig getrocknet, da hatten die Radionachrichten bereits die Meldung über den Mord an dem ehemaligen Profiboxer gebracht. Dabei hatte Nelson nicht mehr getan als das, was die Überschrift aussagte. Er hatte lediglich angekündigt, dass er auspacken wollte. Brendon hatte sich noch gestern Abend mit Händen und Füßen gegen den Artikel gesträubt. Beschwörend hatte er darauf hingewiesen, dass nicht nur die Überschrift, sondern auch die Unterzeile wie ein Signal zur Eröffnung der Jagd wirken werde: Eine exklusive Reportage
unseres Sportreporters Danny O'Rourke.
Aber Danny, der Klugscheißer aus New York, hatte großspurig abgewinkt und eine eidesstattliche Erklärung präsentiert, in der Nelson LaRossa sein Einverständnis mit dem Bericht bestätigte. Und ganz ohne Zweifel machte Dannys forsche Unbekümmertheit auf den Chefredakteur mehr Eindruck als die Berufserfahrung seines dienstältesten Sportredakteurs. Der Chefredakteur hatte Danny O'Rourkes Hammerartikel unbedingt veröffentlichen wollen, ohne Rücksicht auf Verluste. Das hatten all die Schleimer in der Redaktionskonferenz gemerkt und deshalb dem Boss Recht gegeben. Wir näherten uns der Absperrung. Die uniformierten Cops standen breitbeinig und grimmig da und waren bereits in Diskussionen verwickelt. Chicago war eine Pressestadt. Entsprechend groß war die Zahl der Journalisten, die hier ihr Brot verdienten und jetzt zur Besichtigung von Nelson LaRossas Leiche vorgelassen werden wollten. Journalisten und Cops schüttelten sich die Hände, als wollten sie einen MassenVerbrüderungsrekord aufstellen. Wenn man genau hinsah, bemerkte 6
man in den Handflächen grüne Papierröllchen, die den Besitzer wechselten. Ein Lincoln war der gängige Eintrittspreis bei Anlässen dieser Art. Brendon brachte zwei Pappschilder zum Vorschein, die mit einer kleinen Wäscheklammer bestückt und dafür vorgesehen waren, an die äußere Brusttasche eines Jacketts gesteckt zu werden. Erstaunt las ich auf dem Stück Pappe meinen Namen in großen, deutlichen Druckbuchstaben unter dem Schriftzug der Chicago Tribune und dem Vermerk, dass ich der Sportredaktion angehörte. Zum Fragenstellen kam ich nicht mehr, denn Brendon erwischte in dieser Sekunde einen frei werdenden Absperrungs-Cop. Schon gestern Abend hatte ich mich über Brendon gewundert. Er hatte mich gleich nach der Redaktionskonferenz angerufen und mir von Danny O'Rourke und seiner Exklusiv-Story berichtet. Was genau er von mir wollte, hatte Brendon nicht gesagt. Aber seltsamerweise hatte es bereits zu dem Zeitpunkt so geklungen, als ob ich mit im Boot sitzen würde. Dabei hatte ich mit Zeitungsangelegenheiten nie direkt zu tun gehabt. Und gestern Abend war Nelson LaRossa schließlich noch nicht tot gewesen. Abgesehen davon, dass mir sowieso niemand den Auftrag erteilen würde, den Mord an Nelson aufzuklären, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, weshalb Brendon mich in alle Einzelheiten dieser Angelegenheit eingeweiht hatte. Selbst heute Morgen, als er mich schon vor dem Frühstück aus meiner Wohnung abholte, hatte ich nicht viel klarer gesehen. An dem Zustand hatte sich auch dadurch nichts Wesentliches geändert, dass ich inzwischen wach war und von dem Mord erfahren hatte. Und jetzt stand ich mit knurrendem Magen vor dem Schauplatz eines Kapitalverbrechens und trug ein Namensschild der Chicago Tribune an der Brust. Ich beobachtete Brendon, wie er mit dem Cop verhandelte. Schneller, als ich hinsehen konnte, war das Tauschgeschäft mit dem zusammengerollten Lincoln abgewickelt. Brendon überragte die meisten anwesenden Cops; er war ein Schrank von einem Kerl mit seinen 185 Zentimetern Körpergröße. Die 55 Jahre sah ihm keiner an, der nicht sein Geburtsdatum kannte. Er ging mühelos als zehn Jahre jünger durch. 7
»Komm schon«, sagte er und winkte mich an dem Uniformierten vorbei. ›Sir, yes, Sir!‹, hätte ich fast geschnarrt, aber wir befanden uns ja nicht bei der Army. Und das Gesetz von Befehl und Gehorsam galt für mich eigentlich auch nicht. Aber einem Mann wie Brendon Smith erwies ich freiwillig Respekt. Das unterschied mich von Danny O'Rourke. Wenn ich darüber nachdachte, ärgerte es mich, dass der Kerl einen irischen Namen trug, wie ich. * Police Lieutenant James Quirrer sah Brendon und mich kommen und verwandelte sich augenblicklich in einen zähnefletschenden Hofhund, Typ Dobermann. Der wesentliche äußere Unterschied bestand darin, dass Quirrer blond und weder schwarzhaarig noch schwarz gekleidet war. In seinem grauen Straßenanzug hätte er fast sympathisch wirken können. Doch seine unangenehm schneidende Stimme machte alles Vorteilhafte an ihm zunichte. »Miller! Roberts!«, bellte er. »Zu mir!« Er reckte den rechten Arm hoch, damit seine Underdogs ihn in der Menge sehen konnten. In der Boxschule herrschte nämlich Gewühl. Aufgeregtes Stimmengewirr sorgte für einen hohen Geräuschpegel. In der Mitte der Halle befand sich der Boxring - für uns allerdings noch verborgen hinter Uniformen und Polizei-Dienstmützen sowie Anzügen und Hüten der zivilen Männerwelt. Wir hatten gerade mal ein paar Schritte in den Zuschauerraum machen können, als es für Brendon und mich auch schon kein Durchkommen mehr gab. Dafür, dass es so blieb, wollte mein Freund Quirrer sorgen. Mit allen Mitteln. Ich kannte das. Er konnte mich einfach nicht leiden, wie er wohl alle nicht leiden konnte, die etwas mehr auf dem Kasten hatten als er. Wenn sein Chef, Captain Morgan C. Hollyfield, nicht in der Nähe war, tobte sich Quirrer nach Herzenslust aus - was seine Abneigung gegen mich betraf. Brendon stand nicht auf seiner Rechnung. Möglich, dass er ihn gar nicht kannte. Denn Brendon war ja kein Polizeireporter und hatte deswegen praktisch nie mit unseren Freunden vom Police Department zu tun. 8
Was aber keinesfalls bedeutete, dass er auf Verschonung hoffen durfte. Lieutenant Quirrer bahnte sich eine Gasse in unsere Richtung. Zwei Uniformierte - Miller und Roberts - folgten ihm willig; ihre Hände ruhten auf den Griffen der Schlagstöcke. Am Rand meines Blickfelds bemerkte ich, wie sich Brendons Gesichtszüge veränderten. Seine Augenlider verengten sich und seine Lippen wurden zum Strich. »Halt, stehen bleiben!«, herrschte Quirrer uns an. Sein wütender Blick fixierte erst mich, dann Brendon und dann wieder mich. Es hörte sich an, als würde Quirrer als Nächstes einen Warnschuss abgeben und uns auffordern, die Hände hoch zu nehmen. Unsere Namensschilder beachtete er demonstrativ nicht. Die Leute in unserer Umgebung wichen nur widerstrebend auseinander; ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, die Hälse zu recken, um einen Blick auf den Boxring zu erhaschen. Ich fragte mich, was es dort zu sehen gab. Einen Wettkampf mit Sicherheit nicht. Ich erblickte Reuben Svensson im Gedränge, links von Brendon. Reuben war Sportfotograf bei der Tribune. Er kämpfte sich auf uns zu und hatte seine liebe Last damit. Erstens wegen der sperrigen Kameraausrüstung, zweitens wegen seiner Kollegen. Pressefotografen verteidigen bei Anlässen dieser Art jeden Quadratinch, den sie erobert haben. Sie von ihrem Terrain zu verdrängen gelingt nur mit roher Kraft. »Raus hier!«, kommandierte der Lieutenant und blieb einen Schritt vor uns stehen. »Verschwinden Sie, Connor. Hier läuft eine polizeiliche Ermittlung. Privatschnüffler sind nicht zugelassen. Also raus!« Er genoss jedes Wort, das sah man ihm an. Bevor ich dem Schwachkopf eine passende Antwort geben konnte, griff Brendon ein. »Mann, wer sind Sie überhaupt?«, schnaubte er. »Woher nehmen Sie das Recht, Journalisten in ihrer Arbeit zu behindern?« Er gab Svensson einen Wink, ohne den Blick von Quirrer zu wenden. Der Lieutenant war fast einen halben Kopf kleiner als der Redakteur und musste daher zu ihm aufblicken. »Sorry«, sagte ich grinsend, während Quirrer noch empört nach Luft rang. »Brendon, das ist Lieutenant James Quirrer. Lieutenant, das ist Brendon Smith, Sportredakteur der Chicago Tribune.« 9
Diesmal beachtete Quirrer mich nicht. »Journalisten?«, fauchte ermeinen Freund an. Quirrers spitzer Zeigefinger zuckte in meine Richtung. »Das soll ein Journalist sein? Dass ich nicht lache!« Bevor Quirrer mitkriegte, was ablief, war Svensson zur Stelle, brachte die Reporterkamera in Stellung und schoss den ersten grellen Blitz ab. Der Lieutenant hob reflexartig den Arm, um seine Augen zu schützen. Svensson steckte seelenruhig eine neue Blitzlichtbirne in den Reflektor. Während er das tat, wechselte er einen Blick mit Brendon und grinste verschwörerisch. Gleich darauf drückte er abermals auf den Auslöser. Quirrer, der gerade den Arm herunternahm, zuckte zusammen, als es erneut blitzte. Er wollte auf den Fotografen losgehen. Doch Brendons eisige Stimme stoppte ihn. »Damit Sie Bescheid wissen, Lieutenant Quirrer. Wir haben zwei verschiedene Verwendungsmöglichkeiten für das Bild, das unser Fotograf gerade aufgenommen hat. Nummer eins: Es wird nicht veröffentlicht, sondern den Anwälten der Chicago Tribune übergeben. Das wäre für den Fall, dass wir Sie vor Gericht bringen müssen - wegen versuchter Einschränkung unserer verfassungsmäßigen Rechte als Pressevertreter. Möglichkeit zwei wäre, wir veröffentlichen morgen dieses Foto zusammen mit einem Artikel unter der Überschrift ›Wie Beamte des Chicago Police Department das Gesetz missachten und dem Bürger Informationen vorenthalten‹. Sie wären die Hauptperson in dem Artikel, Lieutenant. Sie können sich schon mal ausrechnen, wie das auf Ihre Vorgesetzten wirkt - und auf Ihre weitere Laufbahn.« Quirrer erbleichte. Einen Atemzug lang starrte er den Sportredakteur an. Dann ruckte sein Kopf herum und er schrie Svensson an. »Die Kamera ist beschlagnahmt! Her damit!« Miller und Roberts kamen drohend näher, bereit, den Befehl ihres Vorgesetzten in die Tat umzusetzen. Aber Svensson befand sich längst auf dem Rückzug ins schützende Gedränge. »Die Kamera können Sie nicht beschlagnahmen«, belehrte er den Lieutenant noch. »Höchstens den Film. Aber den gebe ich Ihnen nicht. Klar?« Mit diesen Worten verschwand er im Menschengewühl, bevor Quirrer und seine Uniformierten ihn erwischen konnten. 10
Der Lieutenant bebte vor Zorn. »Das wird ein Nachspiel haben«, herrschte er Brendon Smith an. »Und jetzt raus, verdammt noch mal! Wir brauchen hier keine Sensationsgeier. Und Privatschnüffler erst recht nicht.« »Sie wiederholen sich«, entgegnete Brendon. »Im Übrigen - sehen Sie sich mal um. Die Hälfte der Leute hier dürften Journalisten sein. Bevor Sie uns rausschmeißen, müssten Sie die erst mal rausschmeißen. Und zu Ihrer Information: Pat Connor ist nicht als Privatdetektiv hier, sondern als mein Mitarbeiter.« Das wusste ich zwar selber noch nicht, aber ich widersprach nicht. Allerdings sah ich Brendon erstaunt von der Seite an. Das war jedoch nur ein Reflex und ich ließ das Staunen sofort wieder bleiben, damit Quirrer nicht in Zweifel geriet. Er hatte ohnehin seine liebe Not mit dem Begreifen. Er starrte meinen Freund an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dieser Vorgang wiederholte sich mindestens drei Mal, ohne dass er auch nur eine Silbe hervorbrachte. Bevor der Lieutenant seine Hilflosigkeit überwunden hatte, schickte ich ihn endgültig auf die Bretter - nur symbolisch natürlich. Ich hob den Arm und winkte lässig, wobei ich an Quirrer vorbeiblickte, über seine linke Schulter hinweg und dabei so tat, als wäre er gar nicht vorhanden. »Captain Hollyfield!«, rief ich laut genug, dass er mich hören konnte. »Guten Morgen! Freut mich, Sie zu sehen!« James Quirrer erinnerte in diesem Moment an eine Schildkröte, die ihren Kopf ins Gehäuse zurückzieht. Mit dem Unterschied, dass Quirrer dieser Rückzug nur andeutungsweise gelang. Unterdessen schob Captain Hollyfield seine beeindruckende Statur von 190 Zentimetern Höhe und einem Gewicht von mindestens 110 Kilogramm auf uns zu. Miller und Roberts schickte er als Erstes weg. Dann baute er sich neben dem Lieutenant auf und nickte uns freundlich zu. Ich machte ihn mit Brendon bekannt. »Ah, Brendon Smith!«, rief Hollyfield und strahlte. »Schön, Sie mal kennen zu lernen. Ihre Baseball-Berichte lese ich mit Begeisterung.« »Danke«, antwortete Brendon erfreut. 11
Hollyfield legte Quirrer seine schwere Hand auf die Schulter und erteilte ihm eine dienstliche Anweisung in väterlich-freundschaftlichem Ton. »Bereiten Sie schon mal die Räumung des Gebäudes vor, Lieutenant. Alles, was nicht Polizei und Erkennungsdienst oder Mitglied der Boxschule ist, wird höflich, aber bestimmt gebeten, jetzt den Saal zu verlassen.« »Ja, Sir«, erwiderte Quirrer schneidig und offenkundig froh, sich einer Aufgabe zuwenden zu dürfen, der er gewachsen sein würde. »Für Sie gilt das selbstverständlich nicht, Gentlemen«, sagte der Captain. »Ich nehme an, Ihr Fotograf wird seine Bilder geschossen haben - die von dem Mordopfer, meine ich.« Quirrer, schon im Weggehen, kriegte es mit und seine Gesichtsrötung wurde noch intensiver. Während die Arena, in der bei Wettkämpfen Zuschauerbänke standen, sich langsam leerte, waren wir imstande, uns langsam dem Zentrum des großen Raums zu nähern. »Ist es tatsächlich der Tatort?«, fragte ich. »Ich nenne ihn einfach so«, erwiderte Captain Hollyfield. »Sicher bin ich natürlich noch nicht.« Die letzten Leute, die unsere Sicht noch behinderten, wichen auseinander. Unser Blickfeld wurde frei. Während ich Quirrer mit seiner unangenehmen Stimme hörte, wie er Räumungsanweisungen gab, stockte mir der Atem. Ich glaubte, eine eisige Kälte zu spüren, die mich von Kopf bis Fuß in eine Gänsehaut hüllte. Der Tote befand sich an der Seite des Rings, vor der wir standen. Er war vollständig bekleidet und hatte nur wenig Blut verloren, obwohl er von mindestens einem halben Dutzend Kugeln in die Brust getroffen worden war. Doch das war es nicht, was an dem leblosen Körper des Mannes am meisten ins Auge stach. Es war seine Haltung, die geradezu grotesk anmutete. Er schien diagonal über den Brettern zu schweben, in flachem Winkel, wie beim Absprung. Ein Fuß hatte noch Bodenkontakt, während sein rechter Arm schräg nach oben gestreckt war, himmelwärts zeigend. Sein Kopf ruhte auf dem Oberarm, als würde er sich auf diese 12
Weise größtmögliche Windschnittigkeit verschaffen wollen. Er erinnerte mich an eine Statue von Hermes, dem griechischen Götterboten, die ich irgendwo gesehen hatte. Wahrscheinlich in einem der vielen Parks von Chicago. Diesen seltsamen Schwebezustand ihres Opfers hatten der oder die Mörder mit relativ einfachen Mitteln erzielt. Sie hatten Nelson LaRossa in die Seile geflochten. * Ein Mann flog uns entgegen. Wütendes Gebrüll begleitete ihn. Captain Hollyfield hatte die Tür zu den hinteren Räumen geöffnet und konnte gerade noch zurückweichen. Aber der Kerl stoppte seinen Flug aus eigener Kraft. Er ruderte mit den Armen und die erhoffte Wirkung stellte sich ein, als er mit den Händen Halt am Türrahmen fand. Brendon und ich brauchten dem menschlichen Geschoss deshalb nicht mehr auszuweichen. Wer es abgefeuert hatte, sahen wir, als der Mann sich aus dem Türrahmen zurück in die Richtung katapultierte, aus der er gekommen war. Sein Gegner, weiter hinten in dem Korridor, war groß und breitschultrig. Obwohl er einen normalen grauen Anzug trug, konnte ich seine Muskelpakete erkennen. Den Oberkörper vorgeneigt, stand er breitbeinig da. Bevor er die Fäuste in Position brachte, strich er sich noch schnell das schwarze Haar aus der Stirn. Im nächsten Augenblick war der andere zur Stelle - schlank, dunkelblond und auf eine schlaksigere Art und Weise ebenfalls sportlich gebaut. Buchstäblich im letzten Sekundenbruchteil tauchte er unter den Schwingern des Schwarzhaarigen weg und rammte ihm den Kopf und beide Fäuste gleichzeitig in den Leib. Der Getroffene stieß einen Wutschrei aus, streckte die Arme aus und versuchte verzweifelt, sich festzuhalten. Doch da war nichts als glatte Wand zu beiden Seiten. So trieb ihn der Schlaks vor sich her, bis er mit dem Rücken gegen eine Tür prallte. Das Holz knackte bedrohlich, hielt aber stand. Der Schwarzhaarige sammelte sich zu einer Gegenattacke und kam mit einem Uppercut durch. Sein Gegner wankte rückwärts und sah aus wie eine Zitterpappel im Orkan. Sein nächster Abflug in unsere Richtung stand unmittelbar bevor. 13
Captain Hollyfield wollte auf die beiden Streithähne los, um sie zu trennen. Doch Brendon hielt ihn zurück. Er schaffte es mit Lautstärke. »Aufhören!«, brüllte er. »Pariapiano! O'Rourke! Schluss jetzt! Wenn ihr nicht sofort aufhört, schreibt ihr keine Zeile mehr für die Tribune.« Das wirkte. Hinzu kam, dass die beiden die Stimme ihres Herrn kannten. Sie ließen die Fäuste sinken, drehten sich um und sahen aus wie halb gerupfte Kampfhähne. Die Blicke, die sie wechselten, waren hasserfüllt. »Alle Achtung, Brendon«, sagte Captain Hollyfield anerkennend. »Diese Burschen hören auf Sie. Wenn Sie wollen, kann ich sie trotzdem in eine Zelle stecken lassen, damit sie sich beruhigen.« Brendon winkte ab. »Danke, Morgan. Ich bin sicher, die Sache hier lässt sich schnell und einfach regeln. Ein Zuständigkeitsstreit, vermute ich. Raymond Pariapiano ist Polizeireporter bei uns und Danny O'Rourke ist Gast in der Sportredaktion.« »Also ein Nichts«, knurrte Pariapiano, der schwarzhaarige Athlet, ergrimmt. »Reiß die Klappe bloß nicht zu weit auf, Makkaroni«, fauchte O'Rourke ihn an. »Sonst hast du gleich deine Zähne im Hals.« »Verdammter Kartoffelfresser«, konterte der Polizeireporter. »Scher dich zurück in dein Dreckskaff New York. In Chicago brauchen wir nämlich keine Angeber. Hier wird hart und ehrlich gearbeitet.« »Sir!«, rief O'Rourke flehentlich, an seinen Vorgesetzten gewandt. »Erlauben Sie mir wenigstens, diesem Spinner das Maul zu stopfen.« »Nichts da«, erwiderte Brendon energisch. »In unserem Metier brauchen wir keine Fäuste, um uns zu einigen. Wenn Sie das trotzdem glauben - und das gilt für Sie beide -, haben Sie den Beruf verfehlt.« Er ging auf die beiden zu. Ich sah den Captain an und zeigte auf die Tür direkt neben uns. Ein Schild mit der Aufschrift LANGDON war mit Reißzwecken daran befestigt. »Wer ist das?«, fragte ich. »Der Inhaber der Boxschule«, antwortete Hollyfield. »Er ist aber zurzeit draußen in der Halle.« 14
»Der Inhaber?«, entgegnete ich erstaunt. »War das nicht LaRossa?« »Der hat nur seinen Namen beigesteuert. Und in den letzten drei Jahren hat er sich hier sowieso nicht mehr blicken lassen.« Hollyfield sah mich einen Moment lang forschend an. »Haben Sie einen Auftrag, Connor?« »Sie meinen, was LaRossa betrifft?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Brendon hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Warum, hat er mir noch nicht verraten.« Der Captain schmunzelte. »Das wird er bestimmt noch tun.« Er gab sich einen Ruck. »Okay, ich werde wieder gebraucht, schätze ich.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Halle. »Sie können den Aufenthaltsraum benutzen, falls es noch was zu klären gibt. Am Ende des Korridors, rechts.« Brendon hatte die Streithähne inzwischen dazu gebracht, sich die Hand zu geben. Er sah die beiden Hitzköpfe an. »Hier spuckt keiner dem anderen in die Suppe. Ist das klar, Raymond?« »Ja, Sir«, antwortete Pariapiano und reckte das Kinn in Siegerpose. »Sie sind der Polizeireporter und Sie schreiben den Bericht über den Mordfall LaRossa. Alles, was die kriminalistischen Fakten betrifft, ist ausschließlich Ihr Bier. Wir von der Sportredaktion werden Ihnen dabei nicht ins Handwerk pfuschen.« »Danke, Sir.« Pariapiano strahlte. »Dafür brauchen Sie sich nicht zu bedanken. Das ist selbstverständlich. Ich treffe Ihren Chef später in der Redaktion und werde ihm das noch mal bestätigen. Die Zuständigkeiten sind bei uns klar geregelt. Wir berichten ausschließlich über die Dinge, die den Sportler Nelson LaRossa betreffen. Zum Beispiel werden wir noch mal seine sportliche Karriere beleuchten und seine größten Erfolge hervorheben.« Der Polizeireporter nickte. »Werden Sie auch erwähnen, dass Nelson immer von einem Kampf gegen Jack Dempsey geträumt hat? Und wie sehr er darunter gelitten hat, dass dieser Kampf nie zustande gekommen ist?« 15
»Da sehen Sie es, Sir!«, ereiferte sich Danny O'Rourke. Anklagend zeigte er auf den Kollegen. »Wir halten uns aus dem Kriminalfall raus und er mischt sich in unsere sportlichen Angelegenheiten ein.« »Aber dafür interessiere ich mich doch nur privat«, rief Pariapiano aufgebracht. »Sir, das heißt doch nicht, dass ich darüber schreiben werde.« »Schon gut«, antwortete Brendon und klopfte ihm auf die Schulter. O'Rourke wollte aufbrausen. Brendon gebot ihm mit einer Handbewegung, den Mund zu halten. »Gehen Sie jetzt raus und machen Sie Ihre Arbeit, Raymond. Ihnen kommt keiner mehr in die Quere.« »Danke, Sir«, sagte Pariapiano noch einmal und marschierte los nicht, ohne Danny O'Rourke noch einen vernichtenden Blick zugeworfen zu haben. »Nun zu uns«, sagte Brendon, an seinen Schutzbefohlenen gewandt. Bevor der New Yorker loslegen konnte, winkte ich Brendon und ihn in den Aufenthaltsraum, der mit einem langen, abgewetzten Tisch und wackligen Stühlen ausgestattet war. Mit glänzenden Geschäftsergebnissen schien die Boxschule nicht gesegnet zu sein. Ich leistete meinen Beitrag zur Entkrampfung der Atmosphäre, indem ich Luckys verteilte und uns Feuer gab. »O'Rourke«, sagte Brendon kopfschüttelnd, nachdem er den ersten Zug inhaliert hatte. »Was haben Sie hier überhaupt zu suchen? Halten Sie es nicht für nötig, sich bei mir abzumelden? Und überhaupt: Ist es bei Ihnen in New York nicht üblich, sich von seinem Vorgesetzten sagen zu lassen, was man zu tun hat?« »Bei uns in New York«, erwiderte der Schlaks näselnd, »haben wir alle Freiheiten.« »Du lieber Himmel«, stöhnte Brendon und sah mich verzweifelt an. »Womit habe ich das verdient, Pat? Kannst du mir das mal sagen?« Ich grinste. »Hast du deinen Chefredakteur geärgert? Oder sogar deine Verleger?« 16
»Ausgeschlossen«, antwortete Brendon überzeugt. »Die können mich alle gut leiden. So was«, er zeigte auf den amüsiert blasiert lächelnden Nervtöter, »haben sie mir noch nie angetan.« Die inneren Angelegenheiten der Zeitung gingen mich nichts an. Aber Brendon war nun mal mein Freund. Deshalb musste ich mich einmischen. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass dieser Schnösel dem guten alten Brendon auf der Nase herumtanzte. »Korrigieren Sie mich, wenn ich was Falsches sage, Mister O'Rourke«, sagte ich daher. »Sie sind...« »Danny«, unterbrach er mich. »Nennen Sie mich einfach Danny. In New York haben wir keine Zeit für Förmlichkeiten.« »Okay, Danny«, sagte ich und dachte nicht im Traum daran, ihm das gleiche Angebot zu machen. »Sie sind Angestellter der New York Daily News. Richtig?« »Richtig«, bestätigte er und betrachtete das Namensschild, das ich von Brendon erhalten hatte. »Die New York Daily News«, fuhr ich fort, »ist keine selbstständige Zeitung, sondern ein Tochterunternehmen der Chicago Tribune.« »Auch richtig«, erwiderte O'Rourke von oben herab. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Mister Connor. Sie meinen, ich bin quasi auch Angestellter der Tribune und muss mich hier knechten lassen.« Er zeigte auf mein Namensschild. »Wenn Sie das mit sich machen lassen - Ihr Problem. Ich arbeite jedenfalls so, wie ich es gewohnt bin.« »Wir sind keine Kollegen«, klärte ich ihn auf. »Ach, nein?« Sein Lächeln wurde überheblich. »Ist es bei der Chicago Tribune üblich, dass sich Berufsfremde mit journalistischen Federn schmücken dürfen?« »Ich bin gleich wieder da«, sagte Brendon aus einem plötzlichen Entschluss heraus. Er wandte sich ab und eilte mit energischen Schritten hinaus. »Mister Smith und ich sind befreundet«, erklärte ich. »Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Deshalb das Schild.« Ich tippte mir auf die Brust. »Ich bin Privatdetektiv.« »Ach du liebe Güte!« O'Rourke verdrehte die Augen. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und sah mich dabei an. »Nichts 17
für ungut, Mister Connor, aber Ihre Branche hat ja nun wirklich einen noch schlechteren Ruf als meine.« Ich verblüffte ihn, indem ich antwortete: »Dass Journalisten einen schlechten Ruf haben, höre ich zum ersten Mal.« Während er noch verdutzt blinzelte, fuhr ich fort: »Was glauben Sie eigentlich, weshalb Sie nach Chicago geschickt wurden?« Er grinste frech. »Na, überlegen Sie mal, Mister Connor. Ich soll den Jungs hier beibringen, wie man moderne, auflagenfördernde Sportberichterstattung macht. Meinen Einstand habe ich doch gerade geliefert. Nach der Schlagzeile von heute werden sich die Verleger und Chefredakteure der Tribune noch in 50 Jahren alle zehn Finger lecken.« Ich war sicher, wenn ich diesem Spinner noch lange zuhören musste, würde mir das Frühstück, das ich noch nicht gehabt hatte, hochkommen. Ich hatte beim besten Willen keine Lust, ihm zu erklären, dass er die Dinge auf den Kopf stellte. Er war hier, um von Brendon im Besonderen und von der Redaktion der Chicago Tribune im Allgemeinen zu lernen, wie ein Sportreporter von heute zu arbeiten hatte. Nirgendwo war ein junger Mann zu diesem Zweck besser aufgehoben als bei der Tribune. »Sie sehen, was Sie mit Ihrer Auflagenförderung angerichtet haben«, sagte ich. »Nelson LaRossa ist tot und Sie sind schuld.« »Jetzt hören Sie aber auf«, entgegnete er empört. »Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Der Chefredakteur war von meinem Bericht überzeugt und hat entschieden, ihn auf der Eins zu bringen. Also, was wollen Sie?« Brendon kehrte zurück. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich zu uns gesellte. Statt etwas zu sagen, hörte er interessiert unserem Gespräch zu. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung von den Dingen, die hier in Chicago laufen, O'Rourke.« »Danny.« Ich überhörte es. »LaRossa hatte seine Gründe, in der Versenkung zu verschwinden.« 18
»Aus der habe ich ihn herausgeholt«, konterte O'Rourke bissig. »Die Kollegen haben doch alle gepennt, hier, in Ihrem großartigen Chicago. Ich brauche bloß mal eben aus New York rüber zu kommen und schon finde ich den verschollenen Champion. Und was noch viel wichtiger ist: Ich überzeuge ihn davon, dass er gut daran tut, endlich zu reden. Ich meine, er hätte doch das Zeug zum Weltmeister gehabt. Warum hat man ihn nicht gelassen? Weil sie mit den anderen Boxern bessere Geschäfte gemacht haben. Weil er ruhig und bescheiden war und nicht so ein Angeber wie die anderen. Ich habe ihn wirklich überzeugt, Mister Connor. Er war bereit, auszupacken.« »Das Ergebnis sehen Sie jetzt«, knurrte ich. »Ich glaube auch nicht, dass Sie ihn wirklich überzeugt haben. Sie haben ihn besoffen geredet, bis er Ja gesagt hat - nur, um seine Ruhe zu haben.« »Das ist nicht wahr«, empörte sich O'Rourke. »Es war sein freier Wille. Glauben Sie etwa, ich hätte einen Mann wie Nelson LaRossa dazu zwingen können, die eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben? Ich habe ihm ausdrücklich klargemacht, dass er auch Nein sagen kann.« »Wer's glaubt...«, entgegnete ich und war froh, als es eine Störung gab, die mich von dem unergiebigen Wortwechsel erlöste. Die Tür wurde ein Stück geöffnet und eine dunkelhaarige Lady steckte ihren Pagenkopf herein. Ihre großen braunen Augen blickten fragend. »Mister O'Rourke?« »Das bin ich«, antwortete das New Yorker Großmaul erfreut. »Was verschafft mir die Ehre, Madam?« »Ich habe ein Telefongespräch für Sie, Sir. In meinem Büro. Wenn Sie mir bitte folgen wollen...« Danny O'Rourke hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihrer Aufforderung nachzukommen - nicht ohne uns einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, bevor er die Tür von draußen schloss. * »Wer war das?«, fragte ich. 19
»Gemma Daniels«, antwortete Brendon mit einem Zwinkern. »Marvin Langdons Sekretärin.« Ich begriff. »Das Telefongespräch für Dannyboy ist also kein Zufall.« »Überhaupt nicht. Ich habe seinen Chefredakteur in New York angerufen und ihm die Lage geschildert. Im Augenblick wird er dem Jungen wahrscheinlich die Hammelbeine lang ziehen.« »Ob es was nützt?« Ich seufzte. »Wart's ab«, erwiderte Brendon siegesgewiss. »All right«, sagte ich. »Kannst du mir jetzt wenigstens verraten, weshalb ich mit dir noch vor dem Frühstück Leichen besichtige?« Er schmunzelte. »Nun übertreib mal nicht. Es bleibt bei dieser einen Leiche. Die Sache ist die: Ich bin für diesen MöchtegernDraufgänger verantwortlich, also auch dafür, dass ihm hier in Chicago nichts passiert. Aber ich bin Sportredakteur und kein Leibwächter.« »Ist mir bekannt. Und ich bin Privatdetektiv und kein Leibwächter.« »Ist mir ebenfalls bekannt.« »Ja und?« Ich schüttelte den Kopf und furchte die Stirn. »Dann hast du mir eben nicht durch die Blume zu verstehen gegeben, dass ich auf Danny aufpassen soll?« Brendon lächelte entwaffnend. »Sorry, wenn du es so verstanden hast. Fangen wir mal von vorn an: Hast du zurzeit einen Auftrag?« »Nein«, antwortete ich, denn Brendon konnte man nichts vormachen. »Okay, dann hätte ich einen für dich.« Ich blinzelte ungläubig. »Na, da bin ich mal gespannt.« »Es geht um einen Job als Co-Reporter. Du würdest auf Honorarbasis für die Chicago Tribune arbeiten.« Mir blieb fast die Spucke weg. »Ich...«, ich zeigte mit spitzem Finger auf mein Pappschild, »als Reporter? Das glaubst du doch selbst nicht, Brendon. Menschenskind, ich kann nicht mal Briefe schreiben. Dafür habe ich Betty.« 20
»Es geht weniger ums Schreiben, Pat, sondern mehr um das, was unseren beiden Berufen gemeinsam ist. Bei uns heißt es Recherche, bei dir Ermittlung und es ist im Grunde das Gleiche.« Ich nickte und grinste. »Mich stört nur die Vorsilbe ›Co‹. Liege ich richtig, wenn ich vermute, dass ich in der Firma O'Rourke dann der Juniorpartner wäre?« »Nicht Junior. Gleichberechtigt. Und mehr als das. Du hättest sogar das Recht, ihm auf die Finger zu klopfen, wenn er zu aggressiv recherchiert.« »Also so was wie ein Leibwächter mit Sonderbefugnissen.« »Mein Gott!«, stöhnte Brendon. »Wir zahlen dir den doppelten Tagessatz plus Spesen. Also 50 Bucks pro Tag.« »Wer ist ›wir‹?« »Die Tribune.« »Das kann ich nicht annehmen.« Brendon starrte mich entgeistert an. »Wie bitte? Schwimmst du im Geld oder so was?« »Nein. Aber wir sind befreundet. Von einem Freund nehme ich kein Geld.« »Ich fasse es nicht!«, rief Brendon und klatschte sich die flache Hand auf die Stirn. »Kannst du es dir leisten, ein paar Wochen ohne Bezahlung herumzulaufen?« »Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Aber wenn ich es für dich tue, ist es etwas anderes.« Brendon konnte nur den Kopf schütteln. »Darüber reden wir noch«, kündigte er an, denn in diesem Moment schwang die Tür auf. Ein völlig verwandelter Danny O'Rourke kehrte zu uns zurück. »Ich habe gerade gehört, was da draußen erzählt wird«, erklärte er aufgekratzt. »Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass die Leichenstarre eingesetzt hat. Todeszeitpunkt gegen zwei Uhr morgens. Tatort und Fundort der Leiche sind identisch. Man hat ihn im Boxring erschossen und seine Leiche anschließend in die Seile gehängt. Damit er diese komische Haltung behält, haben die Täter seine Arme und Beine und den Kopf zusätzlich mit Schnüren festgebunden.« »Die Täter?«, fragte ich. 21
»Das ist es, was die Cops vermuten«, antwortete O'Rourke. »Sie meinen, einer allein hätte sich nicht die Mühe gemacht, den Toten in die Seile zu flechten. Er war ja kein Fliegengewicht. Aber sie wollten damit wohl ein Zeichen setzen.« »Ich denke, Sie hatten ein Telefongespräch«, sagte Brendon unwillig. »Hatte ich auch.« »Und dann haben Sie draußen in der Halle herumgeschnüffelt?« »Himmel, nein!«, rief der New Yorker. »Ich schwöre es. Die nette Sekretärin hat es mir erzählt. Gemma. Sie wusste es von ihrem Chef.« »Nein«, ächzte Brendon. »Sie durften die Lady auf der Stelle mit Vornamen anreden?« »Ich kann nichts dafür«, beteuerte O'Rourke und hob die Hände. »Die Girls drängen mir das immer sofort auf. Weiß der Teufel, woran das liegt.« »Hat man oft«, sagte ich trocken. »Was?«, fragte mein künftiger Partner interessiert zurück. »Dass die Damenwelt an Geschmacksverirrung leidet.« Er schoss einen zornfunkelnden Blick auf mich ab, sagte aber nichts. »Das war jetzt das letzte Mal«, erklärte Brendon energisch. »Der kriminalistische Teil des Falls geht Sie ab sofort nichts mehr an, das wissen Sie, Danny.« »Auch das wurde mir aufgedrängt«, entschuldigte er sich. »Gemma hat es mir erzählt, ohne dass ich danach gefragt habe.« Brendon und ich wechselten einen Blick. Ich wusste, was er dachte. Es hatte einfach keinen Sinn, diesen Burschen belehren zu wollen. Trotzdem musste das Gespräch mit seinem Chefredakteur eine gewisse Wirkung auf ihn gehabt haben. »Wer war am Telefon?«, fragte Brendon. O'Rourke legte den Kopf schief und lächelte. »Das wissen Sie doch. Mein Chef hat zwei Mal betont, dass Sie ihn nicht angerufen haben. Also haben Sie. Und es hat gewirkt. Wenn ich hier in Chicago nicht artig bin, werde ich in New York gefeuert. Und bei der Tribune 22
kriege ich dann auch kein Bein mehr auf den Boden. Dafür will er sorgen.« »Meine Güte«, sagte Brendon scheinbar bestürzt. »Was für rüde Methoden. Aber das muss wohl so sein - in einer Stadt, in der jeder die Freiheit hat, alles zu tun, was ihm gefällt.« O'Rourke nickte. »Deshalb bin ich jetzt richtig froh, hier in Chicago sein zu dürfen.« Als er bemerkte, dass wir grinsten, fügte er rasch hinzu: »Das meine ich so, wie ich es sage. Wirklich. Ehrlich.« Brendon nickte erfreut. »Na, dann wird es Ihnen ja auch gefallen, ab sofort einen ständigen Begleiter zu haben.« * Betty schmolz dahin, kaum dass sie ihn erblickte. »Sie müssen Danny O'Rourke sein!«, flötete sie entzückt, als ich meinen Schutzbefohlenen über die Türschwelle meines Büros schob. Mit ausgebreiteten Armen kam sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und einen Atemzug lang glaubte ich, sie würde einen völlig Fremden umarmen, wie sie mich, ihren Arbeitgeber, noch nie umarmt hatte. Doch sie beließ es bei einer überschwänglichen Begrüßung, indem sie seine Rechte mit beiden Händen ergriff und nach Herzenslust schüttelte. »Der bin ich«, bestätigte Danny strahlend und ließ sich von ihr in die Mitte des Büros geleiten, wobei sie ihn anhimmelte, rückwärts gehend und nach wie vor seine Hände haltend, als wollte sie Ringelreihen mit ihm tanzen. »Sie glauben nicht, wie viel ich schon von Ihnen gehört habe«, behauptete er, ohne rot zu werden. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Meyer.« »Bitte sagen Sie Betty zu mir«, entgegnete sie und senkte den Kopf wie ein verlegenes Mädchen. »Dann müssen Sie mich aber Danny nennen.« »Einverstanden, Danny.« Sie hielt seine Hand noch immer. Es sah so aus, als hätte sie vor, einen Dauerzustand daraus zu machen. »Nun stehe ich also der besten Sekretärin der Welt gegenüber«, schwärmte er und blickte ihr tief in die Augen. »Nirgendwo auf dem 23
Erdball gibt es eine, die besser wäre als Sie. Aber ich nehme an, das wissen Sie längst.« »Woher denn?«, hauchte Betty ergriffen und wurde nun richtig rot. »Na, von Ihrem Chef«, antwortete O'Rourke prompt. »Der hat es mir doch erzählt. Und er muss es schließlich wissen.« Ich stand wie vom Donner gerührt. Nichts dergleichen hatte ich gesagt. Überdies brachte der Kerl es fertig, dass ich mich schlecht fühlte, eben weil ich es nicht gesagt hatte. Nicht mal zur besten Sekretärin der Detektei Connor hatte ich sie ernannt. Einfach niederträchtig, wie O'Rourke mir das vor Augen führte. Zugleich kam ich mir in meinem eigenen Büro überflüssig vor. Denn Betty stand da, hielt die Hand des Strolchs und die Welt um sie herum schien nicht mehr zu existieren. »Was hat er denn noch über mich erzählt?«, wisperte sie und himmelte ihn an. »Alles, was man von der besten Sekretärin der Welt erwartet«, raspelte er sein Süßholz weiter. »Dass man sich in jeder Beziehung auf Sie verlassen kann, dass dieser Laden ohne Sie schon nach einem Tag nicht mehr laufen würde und...«, er machte eine bedeutungsschwere Pause, »dass Siebet all diesen Vorzügen auch noch die hübscheste Sekretärin der Welt sind. Wovon ich mich in diesem Augenblick überzeugen kann und sagen muss, dass Mister Connor auch in dem Punkt hundertprozentig Recht hat.« Obwohl seine Superlative an Verspottung grenzten, sah ich Betty an, dass sie ihm jedes Wort glaubte. Es war nicht zu fassen. Und hinzu kam, dass sie an diesem Morgen vermutlich schon die zweite Sekretärin war, die er auf diese Weise aus dem seelischen Gleichgewicht brachte. Ich fragte mich, warum ich den Mistkerl überhaupt hergebracht hatte. Aber ich durfte ja nicht mehr von seiner Seite weichen. Das hatte ich Brendon schließlich versprochen. Ich räusperte mich und begab mich mit demonstrativ lauten Schritten hinter meinen Schreibtisch. Das ließ Betty endlich in die Wirklichkeit zurückfinden. Sie wies meinem Zwangsbegleiter einen der Besucherstühle zu und besann sich jener weiteren wichtigen Fähigkeit, 24
die Dannyboy noch nicht mal in seine Lobeshymnen eingeschlossen hatte - des Kaffeekochens. Ich war jedoch überzeugt, dass er das Versäumte in Kürze nachholen würde. Ich sichtete meine Post, ohne wirklich hinzusehen, weil es sich sowieso nur um Mahnungen handelte. Keine Dankesbriefe zufriedener Klienten, keine schriftlichen Aufträge, von Honorarschecks ganz zu schweigen. Also dachte ich darüber nach, ob Betty und Brendon hinter meinem Rücken Vereinbarungen getroffen hatten, die ich nicht wollte. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie telefoniert hatten. Letzten Endes war ich Privatdetektiv und wusste unbeabsichtigte Hinweise zu deuten. Ihren Nachnamen hatte ich O'Rourke auf dem Weg ins Büro verraten. Doch Bettys Worte zum Empfang klangen mir noch in den Ohren. ›Sie müssen Danny O'Rourke sein!‹ Woher kannte sie den Namen des Sprücheklopfers? Doch wohl nur von Brendon. Ich hatte sie nämlich nicht angerufen. Während ich darüber nachdachte, glaubte ich mich zu erinnern, dass Brendon mich sinnierend von der Seite angesehen hatte, als wir unser Gespräch mit O'Rourke beendet hatten. Wahrscheinlich hatte er in dem Moment bereits beschlossen, mit Betty die Abmachung zu treffen, die mit mir nicht möglich war. Aber darüber war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Eine Sekretärin, selbst wenn sie die beste der Welt war, konnte sich schließlich nicht über die Entscheidungen ihres Chefs hinwegsetzen und Verträge im Namen der Firma abschließen. Brendon hatte sich noch in Lord Nelson's Boxing School von uns verabschiedet und mir eingeschärft, das Taxi, das wir nehmen sollten, auf die Spesenrechnung zu setzen, wie all meine anderen Kosten auch. Der Junge müsse seinen Kram natürlich selbst bezahlen, weil er Angestellter des Tribune-Verlags war und ein Gehalt bekam. Ich hatte beschlossen, Brendons Anweisung, soweit sie mich betraf, nicht zu befolgen. Weiter beschloss ich, Danny O'Rourke von Anfang an klarzumachen, wer das Sagen hatte. Deshalb hatte ich gleich nach unserem Abmarsch aus der Boxschule eine Pause angeordnet. Die Frühstückspause nämlich, die mein knurrender Magen immer energischer verlangte. Donovan's Coffeeshop an der South Wabash, nur einen Block von der Absperrung entfernt, war mir gerade recht ge25
kommen. Ich kannte den Laden zwar nicht, aber was einen irischen Namen trägt, kann nichts Schlechtes sein. Und in der Tat bekam ich das beste irische Frühstück meines Lebens. Klar, dass das ein höchst subjektiver Eindruck war, weil ich einen Bärenhunger hatte. Aber Spiegeleier, Toast, Bacon, Sausages und Black Pudding waren dermaßen gut, dass ich den riesigen Berg davon restlos vertilgte. Erst bei der Gelegenheit war ich dazu gekommen, mir wenigstens die Titelseite der druckfrischen Tribune anzusehen. Der Bericht über Nelson LaRossa bestand hauptsächlich aus Bildern; der Text war vergleichsweise kurz:
Jetzt hat er sein Schweigen gebrochen und das drei Jahre währende Versteckspiel beendet: Nelson LaRossa, 34, einst einer der ganz Großen im Boxsport, spricht zum ersten Mal über sein bewegtes Leben und seine sportliche Karriere. Exklusiv für die Leser der ›Chicago Tribune‹ schildert der frühere Publikumsliebling unserem Sportreporter Danny O'Rourke die Höhen und Tiefen seiner Zeit im Ring. Dabei wird Mr. LaRossa auch die schmutzigen Seiten des Boxgeschäfts nicht unerwähnt lassen. ›Ich packe aus‹, bekräftigt er im Tribune-Gespräch ab heute nachzulesen in täglich erscheinenden Fortsetzungen auf unseren Sportseiten. Vor zehn Jahren war Nelson LaRossa Profi im Schwergewichtsboxen geworden. Innerhalb kurzer Zeit errang er mehrere regionale Meistertitel und wurde in seiner Heimatstadt Chicago zum umjubelten Star. Obwohl seine Fans ebenso darauf hofften wie er selbst, hat er es nie zum Weltmeister gebracht. Nichtsdestoweniger hat er in erheblichem Maße dazu beigetragen, dass die USA zum Zentrum des professionellen Boxsports wurden. ›Schon 1919 hätte ich den Titelkampf gegen Weltmeister Jess Willard genauso gewinnen können wie Jack Dempsey‹, beklagt LaRossa heute. ›Und anschließend hätte ich Jack den Weltmeistertitel jederzeit abnehmen können. Aber es gab Leute, die einen Titelkampf bewusst verhindert haben. Leute mit genügend Einfluss auf die National Boxing Association. Dempsey hatte eben die besseren Karten. Ich dagegen wurde gezwungen, an Schiebereien teilzunehmen. Da war eine Menge Geld im Spiel, von dem ich selbst 26
abernte etwas gesehen habe.‹ Zu diesem heiklen Thema wird LaRossa im Laufe unseres Fortsetzungsberichts mit weiteren Einzelheiten aufwarten. Der Artikel wurde von nicht weniger als drei Fotos eingerahmt. Nelson, schwarzhaarig und breitschultrig, hätte es vom Aussehen her mit Rudolpho Valentine aufnehmen können. Eines der Bilder zeigte Nelson vor vier Jahren gemeinsam mit seiner Verlobten Shelly Prudence bei einem Empfang der Stadt Chicago. Auf einem weiteren Bild war er als Sieger im Ring zu sehen, mit Lorbeerkranz und hochgereckten Armen. Das dritte Foto schließlich war während eines seiner Schwergewichtskämpfe geschossen worden, als er seinem Gegner gerade den entscheidenden rechten Haken verpasst hatte. Nach dem Frühstück einschließlich drei Tassen alkoholfreien Kaffees war ich munter genug gewesen, um meinem ersten Arbeitstag an der Seite von Dannyboy ins Auge zu sehen. Er hatte sich während meiner Essorgie auf Kaffee trinken, Zeitung lesen und Schweigen beschränkt. Letzteres hatte ihm einen Pluspunkt eingebracht. Was allerdings nicht viel bedeutete, denn auf meiner Negativliste stand er nach wie vor ganz oben. Und nun saß dieser schwer erträgliche Mensch neben meinem Schreibtisch, schräg vor der rechten Ecke, auf die Betty gleich seine Kaffeetasse stellen würde. Er schien in sich zu gehen, wie er mit gesenktem Kopf dasaß und auf den Fußboden starrte. Doch ich war sicher, es besser zu wissen. Bestimmt brütete er seine nächste Schandtat aus. Aber er sollte mich kennen lernen und zwar von meiner unangenehmen Seite. So leicht wie mit Brendon würde er es mit mir nicht haben. Das nahm ich mir fest vor. Diesen Freundschaftsdienst war ich dem alten Kumpel meines Vaters einfach schuldig. Betty trug ein Tablett herein und versorgte erst O'Rourke und dann mich mit Kaffee. Klar doch, dachte ich, der Gast zuerst. Höflichkeit war nun mal oberstes Gebot, vielleicht das wichtigste auf dem Gebiet der Kundenpflege. Im aktuellen Fall vergaß sie allerdings, dass der Großkotz aus New York keiner besonderen Pflege bedurfte und vor allem auch kein Klient war. Ich nahm mir vor, ihr das bei nächster Ge27
legenheit klarzumachen. Am besten würde sie es wohl begreifen, wenn ich ihr vor Augen hielt, dass wir von Dannyboy keinen Penny an Honorar bekommen würden. Doch es stand zu befürchten, dass dieses Argument wegen ihrer momentanen Verblendung nicht zu ihr durchdringen würde. Ich durfte ja nicht vergessen, dass sie von diesem Besucher etwas bekam, was sie von allen anderen nur gelegentlich bekam: Komplimente. Und zwar die wohlklingendsten, die man sich vorstellen konnte. Ich sortierte meine Mahnungen nach Fälligkeitsdatum, obwohl das wenig Sinn ergab, denn in meinem Büro war es Tradition, dass Zahlungstermine erst dann eingehalten wurden, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Ich nippte an meinem Kaffee und steckte mir eine Lucky an. Betty hatte sich hinter ihren Schreibtisch zurückgezogen und tat, als wollte sie einen Geschäftsbrief schreiben. Wie sie das Blatt Papier in die Remington einspannte, war ein Schauspiel für sich. Das Wichtigste an diesem Vorgang war für sie, ihre perfekt lackierten Fingernägel zur Geltung zu bringen. Dass sie fürs Lackieren den größten Teil ihrer Arbeitszeit verwendete, wusste Mister Süßholz aus New York natürlich nicht. Während die Walze der Schreibmaschine knarrte, blickte sie lächelnd herüber und produzierte einen Augenaufschlag, wie ihn kein Vamp auf der Kinoleinwand besser hingekriegt hätte. Ich sah, dass O'Rourke ihr einen entsprechend tiefen Blick widmete, bevor er sich eine Zigarette aus seiner eigenen Schachtel anzündete und einen Schluck Kaffee trank. Noch während er die Tasse absetzte, geriet er total aus dem Plauschen. »O mein Gott!«, rief er und fuhr auf dem Stuhl herum, um meine Sekretärin besser ansehen zu können. »Das ist ja unglaublich! Einfach himmlisch. Was für ein Aroma, was für ein Kaffee! Ich muss Ihnen sagen, Betty, so etwas Wunderbares habe ich noch nicht genossen. Ich glaube, ich bleibe in Chicago. Ihretwegen.« »Ach, Danny«, erwiderte sie dahin schmelzend. »Jetzt übertreiben Sie aber. Bestimmt gibt es in New York auch Sekretärinnen, die genauso gut sind wie ich.« 28
Er hob den Zeigefinger und zwinkerte. »Aber nicht im Kaffeekochen, meine Liebe. Ist Ihnen klar, dass Sie auch auf dem Gebiet die Beste sind? Gibt es überhaupt etwas, worin Sie nicht Spitzenklasse sind?« Es kam selten vor, dass Betty nicht wusste, was sie sagen sollte. Doch in diesem Augenblick war es geschehen. Ich beschloss, ihr aus der Klemme zu helfen und dem Geturtel ein Ende zu setzen. Später würde sie mir dafür dankbar sein. »Betty?«, sagte ich laut genug, um zu ihr durchzudringen. Ich schichtete die neuen Mahnungen in den Ablagekorb mit den alten Mahnungen. Betty blinzelte unwillig und rang sich ein eben noch höfliches »Ja, Pat?« ab. »Haben Sie Brendon angerufen, oder hat er Sie angerufen?« »Weder noch. Wie kommen Sie denn darauf?« Normalerweise hätte ich ihr erklärt, dass sie sich selbst verraten hatte - dadurch, dass sie den vollen Namen meines Begleiters genannt hatte. Aber O'Rourkes Anwesenheit hinderte mich daran, sie mit der Nase darauf zu stoßen. Schon jetzt bemerkte ich, wie er das sich anbahnende Gespräch wissbegierig zu verfolgen begann. Ich wollte nicht, dass er sich noch wichtiger fühlte - obwohl, was das betraf, vermutlich kaum noch eine Steigerung möglich war. »Betty«, sagte ich daher eindringlich. »Soll ich Brendon anrufen? Wetten, dass er mir sagen wird, wie es gelaufen ist?« »Nein, wird er nicht«, erwiderte sie auftrumpfend. Ihr war noch nicht bewusst, dass sie damit bereits in die Falle getappt war. O'Rourke dagegen hatte es begriffen, denn er sah mich an und grinste verschwörerisch, als hätte ich mich mit ihm verbrüdert. »Woher wollen Sie das wissen, Betty?« Ich nahm einen Zug aus meiner Zigarette und sah die weitbeste Sekretärin an, wobei ich die linke Augenbraue interessiert anhob. »Was?«, fragte sie nach. »Woher will ich was wissen?« »Dass Brendon mir nichts von dem Gespräch mit Ihnen sagen wird.« 29
»Weil er es mir versprochen hat«, antwortete sie trotzig. »Deshalb.« »Aha.« Ich nahm einen letzten Zug aus der Zigarette, drückte sie aus und trank einen Schluck vom hoch gelobten Kaffee. Ich tat es gemächlich, um Betty ein bisschen zappeln zu lassen. »Was heißt das?«, fauchte sie denn auch. »Hören Sie, Pat, glauben Sie, ich weiß nicht, was kommt, wenn Sie dieses ›Aha‹ von sich geben?« Ich lächelte verständnisvoll. »Wenn Sie es wissen, sagen Sie es mir, Betty. Sagen Sie mir einfach, wann und bei welcher Gelegenheit Brendon Ihnen versprochen hat, Stillschweigen zu bewahren.« Sie starrte mich an und ihr Mund öffnete sich langsam. Doch es dauerte lange, bis sie wieder ein Wort hervorbrachte. Mit flehendem Blick wandte sie sich an unseren Gast. »Danny! Warum helfen Sie mir nicht?« »O'Rourke, ich warne Sie«, sagte ich energisch, bevor er antworten konnte. »Ich will kein Wort von Ihnen hören. Betrachten Sie sich als Maus, deren Anwesenheit bedauerlicherweise nicht zu verhindern ist.« Er presste die Lippen zusammen, nickte und warf Betty einen verzeihungheischenden Blick zu. »Wieso darf er nichts sagen?«, beschwerte sie sich. »Um ihn geht es doch letzten Endes. Außerdem müssen wir ihn gut behandeln, weil er uns eine Menge Geld bringen wird.« »Hört, hört!«, konnte er sich nicht verkneifen, in die Debatte zu werfen. Ich sah ihn aus schmalen Augen an und das reichte, um jeden weiteren Kommentar von ihm zu unterbinden. »All right, Betty«, sagte ich. »Brendon hat also hier angerufen, damit Sie mich überzeugen, ich müsse ein Honorar von ihm annehmen.« »Ja, er hat angerufen«, bestätigte sie, noch eine Spur trotziger als vorher. »Aber der Rest ist anders, als Sie denken. Erstens zahlt nicht Brendon das Honorar, sondern die Tribune. Zweitens habe ich auch ein Wörtchen mitzureden, weil Sie mal wieder mit meinem Lohn im Rückstand sind. Drei Wochen, Pat! Und drittens brauche ich Sie nicht 30
mehr zu überzeugen, denn die Zahlung von Honorar und Spesen ist bereits unter Dach und Fach. Brendon und ich werden das abwickeln, ob Sie wollen oder nicht. Das heißt, ich werde es in Empfang nehmen, damit Sie es nicht zerreißen.« Ich bekam den Mund nicht wieder zu. O'Rourke befand sich voll in meinem Blickfeld und es war nicht zu übersehen, dass er mein Streitgespräch mit Betty höchst amüsiert verfolgte. O Mann! Erst jetzt wurde es mir so richtig klar: Dieser Kerl würde ständig in meiner Nähe sein. Verdammt, ich konnte mit niemandem mehr ein vertrauliches Gespräch führen. Ich fing an, zu begreifen, auf was ich mich eingelassen hatte. Vielleicht musste ich Betty Recht geben. Brendon zahlte mein Honorar wirklich nicht aus seiner eigenen Tasche, sondern er hatte bei der Tribune durchgesetzt, was angemessen war. Eigentlich vernünftig, wenn ich es mir recht überlegte. Dannyboy würde ein echter Klotz am Bein werden; diese Erkenntnis dämmerte mir allmählich. Genau genommen hätte ich lieber den Mordfall Nelson LaRossa aufgeklärt. Aber dafür gab es keinen Auftraggeber. Niemand hatte ein Interesse daran, den oder die Mörder des ExChampions zu fassen. Auch die Polizei nicht. Captain Hollyfield am allerwenigsten. Er war zwar ein netter Kerl und ich konnte froh sein, so gut mit ihm klarzukommen. Das änderte aber nichts daran, dass er sich von Rigobello bezahlen ließ. Und von allen drei Millionen Einwohnern Chicagos war ›Il Cardinale‹ vermutlich derjenige, dem am allerwenigsten an der Aufklärung des Falls LaRossa lag. Aber wie, in aller Welt, sollte ich jetzt einlenken, ohne mein Gesicht zu verlieren - und vor allem, ohne dass O'Rourke in schallendes Gelächter ausbrach? »Danny«, sagte ich geradezu sanft und mit einem gewinnenden Lächeln. »Das Bad ist gleich nebenan.« Ich zeigte auf die Verbindungstür. »Ich nehme an, Sie wollten längst danach fragen.« »Klar, wollte ich«, antwortete er und quittierte die Tatsache, dass ich ihn mit Vornamen angesprochen hatte, mit einem strahlenden Lächeln. Ich wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. 31
»So geht das nicht, Betty«, sagte ich, ohne es vorwurfsvoll klingen zu lassen. Und noch eine Spur sanfter fügte ich hinzu: »Wie stehe ich denn da, wenn Sie meine Autorität untergraben?« Sie freute sich, denn sie merkte, dass ich das Kriegsbeil begraben wollte. »Danny ist doch ein netter Junge, Pat. Sehen Sie mal, er hat widerspruchslos getan, was Sie gesagt haben.« Sie zeigte auf die Tür zum Bad. Ich nickte. »Warten wir ab, wie sich der nette Junge entwickelt. Aber was das Honorar betrifft, bin ich zu einem Kompromiss bereit.« »Zu einem Kompromiss?«, wiederholte Betty. »Den wird es nicht geben. Ich habe doch gesagt, dass schon alles unter Dach und Fach ist.« Ich hob mahnend den Zeigefinger. »Sie haben eine Entscheidung getroffen, die eigentlich ich hätte treffen sollen.« Die beste Sekretärin der Welt lächelte. »Es war etwas anders. Aber ich widerspreche Ihnen ja gar nicht, Pat. Brendon hat mir erlaubt, wörtlich zu zitieren, was er gesagt hat. Ich habe es notiert.« Sie hob ein Blatt Papier auf und las vor: »Wenn Pat das Honorar für die Bewachung Danny O'Rourkes nicht haben will, zahlt der Verlag es Ihnen aus, Betty. Sie werden es dann für die Firma Connor verwalten, unbezahlte Rechnungen begleichen und sich auch die überfälligen Lohnbeträge selbst auszahlen. Was Pat dazu zu sagen hat, interessiert mich nicht. Sie sind für heute Mittag zum Essen eingeladen.« Betty ließ das Blatt sinken. »Die Einladung gilt für Danny, für Sie und für mich. Ein Arbeitsessen, sozusagen.« »Wo?«, fragte ich und überlegte, wie ich mit der Tatsache umgehen sollte, dass ich total überrumpelt worden war. »In Henry's Steak Diner«, antwortete Betty. Ihre leuchtenden Augen und ihr verschmitztes Lächeln zeigten an, dass sie mit sich und der Welt zufrieden war. »Lassen Sie unseren Himmelhund aus seiner Hütte«, bat ich. * 32
»Über Geld reden wir nicht mehr«, sagte Brendon und steckte Betty, die neben ihm saß, demonstrativ einen dicken Umschlag zu. Den Ort dafür hatte er geschickt gewählt. Unser Tisch in Henry's Steak Diner befand sich zwar in einer Ecke, sogar am Fenster und mit Blick auf die North Dearborn Street, aber die Leute im Rest des Lokals hätten trotzdem alles mitgekriegt, wenn wir einen Streit über die leidigen Finanzen angefangen hätten. Dass ich inzwischen eingelenkt hatte, wusste Brendon noch nicht. Daher wusste er auch nicht, dass er den Umschlag ebenso gut mir hätte aushändigen können. Ich verspürte einen Hauch von Neid, als ich sehen musste, wie Betty den Umschlag in ihrer Handtasche verstaute. Sie spürte meinen Blick und lächelte mir siegesbewusst zu. Sie kannte mich lange genug, um zu wissen, wie ich mir vorkam. Brendon war der Herr des Geschehens und dass ich mich klein und hässlich fühlte, hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich hatte nicht nur kein Geldkuvert erhalten, ich musste mich auch noch mit Dannyboy als Tischdame begnügen. Deshalb kippte ich die erste Tasse Kaffee in zwei Zügen hinunter, kaum dass sie serviert worden war. Der Kaffee, der keiner war, hatte einen goldbraunen Farbton und brannte sich besänftigend seinen Weg hinunter in den Magen, um von dort aus wohlige Wärme zu entfalten, die bis zu den Fußspitzen und den Haarwurzeln ausstrahlte. Brendon hatte ein mitfühlendes Herz, deshalb bestellte er sofort Nachschub, nur für uns beide. Betty und Danny tranken echten Kaffee, schwarz wie die Nacht. Sie behaupteten, einen klaren Kopf behalten zu müssen, weil noch ein Berg Arbeit auf sie wartete. Bei Betty konnte es sich nur um eine Neupolitur ihrer Fingernägel handeln und was Mr. O'Rourke betraf, so schien er noch nicht begriffen zu haben, dass er seine Vorhaben von nun an erst einmal von mir genehmigen lassen musste. Henrys Restaurant war berühmt für seine Steaks; deshalb hatte er den Laden auch danach benannt und deshalb bestellte Brendon für uns die riesigen T-Bones von texanischen Rindern, wie zumindest wir beide sie gewohnt waren. 33
»Ach, du lieber Gott«, seufzte Betty angesichts der Mengen auf ihrem Teller. »Wenn ich das bewältige, muss ich anschließend drei Tage fasten. Mein Übergewicht macht mir jetzt schon zu schaffen.« »... klagte die Gazelle, als sie zwei Gramm zugenommen hatte«, sagte Danny und schüttelte tadelnd den Kopf. »Wo, in aller Welt, haben Sie Übergewicht?« »Die Stellen verrate ich Ihnen nicht«, antwortete Betty und revanchierte sich für das Kompliment mit einem Augenaufschlag, der einen Gletscher zum Schmelzen gebracht hätte. »Weil es die Stellen überhaupt nicht gibt«, widersprach er beharrlich. »Vom Gegenteil müssten Sie mich schon überzeugen.« »Aber, Danny!«, wisperte Betty verlegen und schaffte es, einen Schimmer von Röte über ihr Gesicht huschen zu lassen. »Achtung, Betty«, sagte Brendon rau. »Lassen Sie sich von diesem Möchtegern-Charmeur nicht einwickeln. Der zwingt Leuten seinen Willen auf und sie wissen nicht mehr, was sie tun. Nelson LaRossa war das beste Beispiel.« Danny grinste geschmeichelt und erntete einen mitfühlenden Blick von Betty. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie sich schon jetzt ausmalte, wie sie ihn damit vertraut machte, wo sie ihre Rundungen für zu rund hielt. Ich meinerseits malte mir aus, wie es sein würde, wenn Betty ihre Kündigung aussprach. Ich beobachtete, wie sie ihr Gegenüber anhimmelte und in meiner Vorstellungswelt hörte ich sie sagen: ›Tut mir Leid, Pat, aber ich gehe mit Danny nach New York. Da verdient eine Sekretärin das Doppelte von dem, was ich bei Ihnen kriege.‹ Brendon holte mich in die Wirklichkeit zurück, indem er über den Stand der Dinge im Mordfall LaRossa berichtete. Zwar ging uns der Mord selbst nichts an, aber daraus ergaben sich ein paar interessante Gesichtspunkte, was die akute Gefahr für meinen Schutzbefohlenen betraf. Unser Sonnyboy wurde neben mir merklich kleiner, während wir aßen und Brendon zuhörten. Jede der sechs Kugeln, die den ExChampion in die Brust getroffen hatten, wäre für sich allein tödlich gewesen. Die bisherigen Feststellungen über Todeszeitpunkt und Tat34
ort hatten sich bestätigt. Nelson LaRossa war ziemlich genau um zwei Uhr morgens im Ring seiner Boxschule erschossen worden. »Moment mal«, sagte ich. »Wir sind bis jetzt davon ausgegangen, dass LaRossa wegen der Schlagzeile in eurer Morgenausgabe getötet wurde. Aber die war um zwei Uhr morgens noch nicht draußen.« »Richtig«, erwiderte Brendon. »Also wusste der Mörder schon vorher, dass der Artikel erscheinen würde.« Ich nickte. »Fragt sich nur, von wem.« Automatisch sahen wir Danny an. Ihm blieb fast der Bissen im Hals stecken, als er es merkte. »Wieso sollte ich jemandem den Knüller von morgen verraten?«, protestierte er. »Der Einzige, dem ich es andeutungsweise gesagt habe, war Nelson selbst.« »Was heißt ›andeutungsweise‹?«, entgegnete Brendon. »Na, dass ich den ersten Artikel über seine Erfahrungen im Boxgeschäft bringen würde. Dass die Story in mehreren Fortsetzungen erscheinen würde und dass ich die Leser zu Anfang mit dem Hinweis auf die weiteren Folgen locken wollte.« »Und Sie sind sicher, dass Anthony Giaccone bei dem Gespräch nicht anwesend war?« »Wer soll denn das sein?«, erwiderte Danny kopfschüttelnd. »Den Kerl kenne ich überhaupt nicht.« Brendon ließ das Besteck sinken und beugte sich vor. »Junge«, sagte er eindringlich. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen? In der Redaktionskonferenz beeindrucken Sie den Chefredakteur damit, dass Sie LaRossas Lebensgeschichte protokolliert haben und jetzt wollen Sie mir erzählen, dass Sie in den Gesprächen mit LaRossa den Namen Anthony Giaccone nicht gehört hätte? Mann, der Name ist so sicher gefallen wie das Amen in der Kirche.« Dannyboybiss sich auf die Unterlippe. »Und wenn? Ich meine, es kann ja sein, dass Nelson diesen Giacomo erwähnt hat...« »Giaccone«, knurrte Brendon. »Stellen Sie sich jetzt nicht dümmer, als Sie sind, Danny.« »Sorry«, antwortete der Junge zerknirscht. »Ich wollte sagen, dass ich den Namen wahrscheinlich einfach vergessen habe.« 35
»Dann sollten Sie ihn sich jetzt umso genauer einprägen.« Brendon sah mich an. »Pat, erklären Sie es ihm.« »Anthony Giaccone«, sagte ich gedehnt, »ist einer der Unterbosse im Rigobello-Syndikat. Er untersteht direkt dem ›Iceman‹ und ist seit Menschengedenken für die Kontrolle des Boxgeschäfts zuständig.« »Iceman?«, wiederholte Danny und seine Angebernatur kam wieder durch. »Was habt ihr hier in Chicago bloß für Witzfiguren herumlaufen?« Er sah Betty verdutzt an, als sie ein erschrockenes »O mein Gott!« hauchte. »Wünschen Sie sich nicht, dieser speziellen Witzfigur jemals zu begegnen«, sagte ich. »Iceman ist der Spitzname von Salvatore Caprese, der rechten Hand des Kardinals.« »Wer ist denn das nun wieder?«, fragte mein Tischnachbar respektlos. »Einer, der seine Gegner auf dem Scheiterhaufen verbrennen lässt?« Ich schmunzelte nachsichtig, erklärte es ihm und fügte hinzu: »Der Iceman ist einer der gefährlichsten Killer in unserer Stadt, aber als Stellvertreter Rigobellos muss er sich nicht mehr selbst die Finger schmutzig machen. Sie werden ihm also voraussichtlich nicht persönlich begegnen, wohl aber seinen Handlangern und die sind keine Spur weniger gefährlich. Wir reden hier also von Anthony Giaccone und seinen Leuten.« »Die schrecken vor nichts zurück«, nahm Brendon den Faden auf. »Ich bin sicher, dass sie Nelson LaRossa auf dem Gewissen haben. Mit dem Mord wollten sie ein Zeichen setzen.« »Ein Zeichen?«, echote Danny mit großen Augen. »Für wen?« »Überlegen Sie mal«, erklärte ich. »LaRossas Haltung in den Seilen stellte den Götterboten Hermes dar, jedenfalls nach dem Vorbild einer Statue hier in der Stadt.« »Ja und?«, erwiderte O'Rourke begriffsstutzig. »Menschenskind, Junge«, sagte Brendon aufgebracht. »Auch von einem Sportreporter kann man etwas Allgemeinbildung verlangen. Götterboten überbringen den Menschen Nachrichten. Klar?« »Ah, ich verstehe!«, rief mein Nebenmann. »Die Zeitung war gemeint. Die übermittelt den Menschen ja auch Nachrichten.« 36
»Nicht die Zeitung«, grollte Brendon. »Sie, mein Junge. Sie waren gemeint. Weil Sie den Bericht mit dieser famosen Schlagzeile geschrieben haben und weil Sie das Protokoll Ihrer Gespräche mit LaRossa besitzen.« Zum ersten Mal erlebte ich, dass Mr. O'Rourke, der Großartige, bleich wie ein Laken wurde. Er hielt sich den Mund zu, wurde grün im Gesicht und ich konnte nur noch aufspringen, um ihn durchzulassen. Zehn Minuten später wussten wir, dass Danny nicht nur ein Aufschneider, sondern auch ein begnadeter Schauspieler vor dem Herrn war. Als ich mich in die gefliesten Räume begab, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen, entdeckte ich nichts als gähnende Leere und ein offen stehendes Fenster zum Hinterhof. * Brendons Anruf erreichte mich im Büro, kaum dass ich mit Betty dort eingetroffen war. Wir hatten uns von einem Taxi in die North Clark Street bringen lassen und meinen Plymouth aus der Laternengarage vor meiner Wohnung abgeholt. »Ich habe einen Termin für dich«, eröffnete er mir. »Wann?« »Sofort.« »In Ordnung«, antwortete ich. »Ich nehme auch noch Termine für gestern an.« »Spaß beiseite«, entgegnete Brendon. »Mister Hennessy möchte dich sprechen.« »Warum?« »Das erfährst du, wenn du hier bist. Fahr sofort los.« Es knackte in der Leitung. Brendon schien in hektischer Stimmung zu sein. Victor Hennessy war sein Vorgesetzter, der Chefredakteur der Tribune. Ich kam nicht mal mehr zu einem Seufzen, da knackte es bereits in der Leitung. Also legte ich kommentarlos auf und erklärte Betty, dass sie ohne mich Feierabend machen müsste, weil ich an diesem Tag möglicherweise nicht ins Büro zurückkehren würde. 37
»Und Danny?«, fragte sie enttäuscht. »Was wird mit ihm? Wollen Sie ihn gar nicht suchen?« Ich grinste unverschämt. »Wenn er so verknallt in Sie ist, wie Sie denken, wird er noch vor Feierabend hier auftauchen. Wenn nicht...« Ich duckte mich unter ihrem vernichtenden Blick. Dann streifte ich mein Jackett ab und legte das Schulterhalfter an. Betty erschrak. »Was wird das jetzt? Ihre Art der Vergeltung?« »Um Himmels willen«, antwortete ich, nahm den 38er Smith & Wesson aus der Schublade und vergewisserte mich, dass die sechs Trommelkammern geladen waren. Ich verstaute den stupsnasigen Revolver im passgenauen Leder des Halfters und machte mich auf den Weg. Weil es früher Nachmittag war, herrschte nur mäßiger Verkehr. Deshalb kam ich zügig voran. Es war wärmer geworden, fast ein richtiger Sommertag. Nur ein paar Schönwetterwolken machten der Sonne den Himmel streitig. Ich hatte das Gefühl, dass der Plymouth beschwingter lief als sonst. Auch die rätselhaften Knack- und Klappergeräusche der letzten Tage und Wochen waren aus dem Motorraum nicht mehr zu hören. Es müsste damit zusammenhängen, dass meine Firma wieder zu Geld gekommen war und das im Grunde sogar gegen meinen Willen. Weil mein fahrbarer Untersatz eine Seele hatte, spürte er wahrscheinlich, dass ihm nun endlich eine Inspektion in der Werkstatt sicher war. Im Tribune Tower an der North Michigan Avenue nahm ich den Fahrstuhl und begab mich direkt in den 20. Stock. Brendon erwartete mich im Vorzimmer des Chefredakteurs und nahm sich nicht die Zeit, mich der hübschen Sekretärin vorzustellen. Wir marschierten sofort in ein pompöses Büro, dessen insgesamt vier Fenster einen rechten Winkel bildeten und einen überwältigen Ausblick boten. Links dehnte sich der Lake Michigan wie ein stahlblauer Spiegel bis zum Horizont, rechts davon reichte der Blick über den Grant Park und den Businessdistrikt The Loop bis hinunter zur South-Side. Chefredakteur Victor Hennessy war die unauffälligere Erscheinung in diesem Office, das meiner Meinung nach ausschließlich dazu diente, Besucher zu beeindrucken und ihnen vor Respekt weiche Knie zu bescheren. Hennessy war ein mittel38
großer, rundlicher Mann mit Halbglatze. Er saß in Hemdsärmeln hinter einem Schreibtischungetüm aus nordamerikanischer Eiche und paffte eine Zigarre, die fast doppelt so lang war wie seine fleischige Hand. Vor ihm, auf der gesamten Breite und Tiefe des Schreibtischs, waren Berge von Manuskripten ausgebreitet. Ob und wie er das Chaos beherrschte, war sein Geheimnis. Brendon machte uns bekannt. »Ah, Sie sind das«, sagte sein Chef. »Dann wollen wir uns mal mit unserem gemeinsamen Sorgenkind befassen.« Einladend wies er auf die Polstermöbel für Besucher. Er verließ seinen Platz und schwenkte ein mit Büchern gefülltes Regal aus dem Aktenschrank. Aus dem Geheimfach nahm er eine Flasche und drei bauchige Gläser und gesellte sich damit zu uns. Das Etikett auf der Flasche trug seinen Nachnamen. Ein Originalimport zu schwindelnd hohem Preis, keine Frage. Frankokanadische Schmuggler hatten so was im Programm. »Verwandtschaft?«, fragte ich und tippte auf das Etikett, nachdem er eingeschenkt hatte. »Vielleicht über hundert Ecken«, antwortete Hennessy. »Meine Eltern stammen aus Cork. In der ganzen Grafschaft ist unser Name so weit verbreitet wie Ihrer.« Er hob sein Glas. »Auf gute Zusammenarbeit!« Wir prosteten uns zu. Das Zeug war um Klassen besser als der Kaffeetassen-Bourbon in Henry's Steak Diner. In den Speakeasys kannten sie so was nur vom Hörensagen. Immer wenn ich an einer der verschwiegenen Theken Chicagos saß und Nicht-Iren erklärte, dass Hennessy ein alter irischer Name sei, erklärten sie mich für verrückt. Aber die Wahrheit ließ sich nun mal nicht verbiegen. Wir Iren verstehen eben mehr vom Brennereiwesen als der Rest der Welt. Dass wir den Whiskey erfunden haben, wird ja gern vergessen, vor allem von den Schotten. Und diese Iren-Sippe namens Hennessy war nun mal in grauer Vorzeit aus dem County Mallow nach Frankreich ausgewandert. Brendon sah mich an, nachdem wir die Schwenker abgestellt hatten. »Ich habe Mister Hennessy über den Stand der Dinge informiert«, erklärte er. »Von Danny O'Rourke fehlt bislang jede Spur.« »Habt ihr die Polizei informiert?«, fragte ich. »Nein«, antwortete Brendon sofort. 39
»Gut«, sagte ich und nickte. »Was meinen Sie?«, wandte sich Victor Hennessy an mich. »Sollen wir es dabei belassen?« »Unbedingt«, erwiderte ich. »Muss ich das näher erläutern, Sir?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, Mister Connor. Ich bin Ihrer Meinung.« Wir wussten, wovon wir sprachen. Mit seinem Leichtsinn hatte sich Danny O'Rourke in größte Gefahr gebracht. Seit heute Mittag trieb er sich auf der freien Wildbahn herum. Das allein war schon riskant genug für ihn. Hinzu kam, dass Chicago für ihn ein völlig fremdes Terrain war. Und die Erlaubnis seines Verlags hatte er für den Alleingang sowieso nicht. Wir mussten sein Verschwinden geheim halten, wenn wir ihn nicht zum Abschuss freigeben wollten. Bei aller Sympathie für das Police Department im Allgemeinen und Captain Hollyfield im Besonderen war es besser, wenn wir Dannys Verschwinden für uns behielten. Weder Hollyfield noch irgendein anderer Cop konnten uns garantieren, dass sie nicht doch schwach wurden, wenn sie erfuhren, dass es Rigobello und seinen Unterbossen ein paar hundert Dollar wert war, Hinweise auf unseren unerschrockenen New Yorker Sensationsreporter zu erhalten. »Ich komme zur Sache«, erklärte Victor Hennessy, legte die Hände auf die Tischplatte und sah mich geradezu feierlich an. »Und ich mache es kurz. Ich habe einen Zusatzauftrag für Sie, Mister Connor. Finden Sie den Mörder Nelson LaRossas.« »Wie bitte?«, fragte ich erstaunt. Hennessy lächelte verständnisvoll. »Sie haben sich nicht verhört. Der Verlag der Chicago Tribune möchte Sie beauftragen, Nelson LaRossas Mörder aufzuspüren. Ich bin autorisiert, einen entsprechenden Vertrag mit Ihnen abzuschließen. Meine Sekretärin hat alles vorbereitet; Sie brauchen nur noch zu unterschreiben.« »Aber ich habe doch schon...«, setzte ich an. Hennessy unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Daran ändert sich nichts. Was Brendon mit Ihnen vereinbart hat, bleibt unverändert bestehen. Sie beschützen Danny O'Rourke und sorgen dafür, dass er keine Dummheiten macht. Das heißt, nach Lage der Dinge 40
müssen Sie ihn natürlich erst einmal wieder aufspüren. Dafür und für den Zusatzauftrag ist der Verlag bereit, Ihnen eine pauschale Erfolgsprämie von 300 Dollar zu zahlen. Zuzüglich Spesen natürlich.« Ich war baff. Ungläubig sah ich Brendon an, der sich zurückgelehnt hatte und still vor sich hin lächelte. Natürlich hatte er das alles in die Wege geleitet. Du lieber Himmel, darauf, dass die Tribune mich als Detektiv beschäftigte, konnte ich mir eine Menge einbilden. Das konnte ich mir sogar auf meine Visitenkarten drucken lassen - als Werbetext für meine künftigen Kunden. Meine innere Stimme ermahnte mich, nicht in überschwängliche Freude auszubrechen. Denn das wäre unprofessionell gewesen. Zum Thema Werbung fiel mir noch etwas ein und ich sagte es meinem Gegenüber unverblümt. »Angenommen, ich schnappe den Killer...«, sagte ich gedehnt. »Daran zweifle ich nicht«, warf Victor Hennessy ein, »nach all den Lobeshymnen, die ich von Ihrem Freund gehört habe.« Ich nickte Brendon dankbar zu und fuhr fort: »Garantieren kann ich natürlich nichts, Sir. Aber falls es mir gelingen sollte, dann möchte ich gern erwähnt werden, wenn Ihre Zeitung darüber berichtet.« »Aber das ist doch selbstverständlich!«, erklärte Hennessy. »Ihr Name wird in der Schlagzeile stehen. Privatdetektiv Connor schnappt LaRossa-Killer. Oder so ähnlich.« Er beugte sich vor und sah mich mit tiefem Ernst an. »Falls Sie es sich nicht noch anders überlegen. Ehrlich gesagt, mir wäre so eine Überschrift zu gefährlich. Jemand muss den oder die Killer beauftragt haben. Was, wenn der Betreffende sich an Ihnen rächen möchte?« Brendon entkräftete den Gedanken seines Chefs, indem er sagte: »Mit solchen Gefahren lebt Pat jeden Tag. So was kann ihn nicht mehr schrecken.« Er übertrieb zwar ein wenig, aber ich nickte dennoch zustimmend. Ich sah den Chefredakteur an. »Eine Frage noch, Sir.« »Gern«, antwortete er und schenkte aus der Cognacflasche nach. »Es ist zumindest ungewöhnlich, dass eine Zeitung einen Mord aufklären lässt. Gibt es einen besonderen Grund dafür?« »Ich denke schon«, erwiderte Hennessy. »Unsere Zeitung nennt sich nicht umsonst ›The Greatest Newspaper of the World‹. Wir sind 41
unserem Ruf also etwas schuldig. Wir tragen eine Verantwortung gegenüber unseren Lesern. Wenn einer der beliebtesten Sportler unserer Stadt ermordet wird - warum sollen wir nicht unseren Beitrag leisten? Zumal jedes Kind in Chicago weiß, dass Morde und andere Verbrechen immer dann unaufgeklärt bleiben, wenn - sagen wir - übergeordnete Interessen dagegen sprechen.« Er hob sein Glas. »Auf Ihren Erfolg, Mister Connor.« Wir stießen an, tranken und ich fragte weiter: »Ich nehme an, Danny O'Rourke hat sich von seinem Interview mit Nelson LaRossa Notizen gemacht. Wo befinden die sich? Hat er einen eigenen Schreibtisch hier in der Redaktion?« »Wir haben seine Notizen nicht gefunden«, antwortete Hennessy. »Danny hat die Notizen also entweder bei sich«, folgerte ich, »oder in seiner Wohnung versteckt.« »Da haben wir nachgesehen«, informierte mich Brendon. »Er hat nur ein möbliertes Zimmer. Die Vermieter waren so freundlich, uns rein zu lassen.« »Okay. Trotzdem brauche ich seine Adresse. Für den Fall, dass er da aufkreuzen sollte.« Ich wandte mich erneut an den Chefredakteur. »Es könnte sein, dass ich Ihrem Polizeireporter in die Quere komme. Wenn er uneinsichtig ist, könnte es passieren, dass ich ihm weh tun muss.« Victor Hennessy lachte und winkte ab. »Sie reden von unserem jungen Heißsporn Pariapiano, nicht wahr? Nun, erstens schadet es ihm nichts, wenn er sich mal die Nase stößt. Zweitens ist die Lokalredaktion, der er angehört, über Ihren Einsatz unterrichtet.« Er leerte sein Glas und faltete die Hände über dem Bauch. »Schon eine Ahnung, wie Sie vorgehen werden?« »Allerdings, Sir«, antwortete ich. »Nur werde ich darüber nicht sprechen.« Hennessy schnaufte, schloss die Augen und nickte. »Akzeptiert. In dieser Stadt kann man nur sich selbst trauen.« Er lächelte wohlwollend. »Sie sind der richtige Mann für den Job.« * 42
Die Lady, die mir öffnete, war ein Vamp. Sie war dieser Typ Frau, der die verlockendsten Sünden entschuldbar macht und zugleich von allen vorstellbaren Sünden die begehrenswerteste ist. Das blonde Haar trug sie als Pagenkopf und das Make-up mit dem überbetonten schwarzen Lidschatten verlieh ihrem Gesicht etwas diabolisch Verführerisches. Hautfarbene Seidenstrümpfe betonten ihre makellos geformten Beine. Das Kleid war beige, eine raffinierte Geringfügigkeit aus nur vermeintlich durchscheinendem Stoff. Es endete über den Oberschenkeln und vermittelte einem den Eindruck, viel zu enthüllen, wobei es in Wirklichkeit alles verbarg. Die grazilen weißen Schuhe stammten aus jener Traumwelt, in der die bezauberndsten Geschöpfe über Laufstege stöckelten und sündhaft teure Textilkunstwerke präsentierten. Sachen, die sich eine Frau nur dann leisten konnte, wenn sie sich vorher einen schwerreichen Kerl geangelt hatte. Als Nelson LaRossas Verlobte hatte sie ohne Zweifel zu dieser Klasse gehört. Die beiden waren seit mindestens fünf Jahren verlobt. Zum Heiraten hatten sie sich aber nie entschließen können. Ich zeigte meine Lizenz und nannte meinen Namen. Ich war angemeldet. Brendon hatte seine Redaktionskollegen, die für Gesellschaftsberichte zuständig waren, um diesen Gefallen gebeten. Gezielt nach Danny O'Rourke zu suchen war unmöglich, weil es noch immer keinerlei Hinweis gab. Deshalb hatte ich beschlossen, zunächst mit den Ermittlungen im Mordfall Nelson LaRossa zu beginnen. Die blonde Lady war dafür die erste Adresse. »Ich würde gern Ihre Mutter sprechen«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das würde ein einseitiges Gespräch werden, Mister Connor. Ein Monolog Ihrerseits. Dazu müssten Sie sich nämlich auf den Friedhof begeben.« »Dann sind Sie Shelly Prudence?«, fragte ich und tat, als würde ich vor Verblüffung Maulsperre kriegen. Während sie lächelte, setzte ich noch eins drauf, indem ich überzeugt hinzufügte: »Nein, ausgeschlossen. Das kann nicht sein. Ich habe Sie doch im Kino gesehen, in dieser wundervollen Liebesszene mit Rudolpho Valentino.« 43
»Sie meinen, auf der Leinwand sah ich aus wie meine eigene Mutter?« Sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund wie ein kleines Mädchen, das seine Albernheit zu dämpfen versucht. »Ich würde sagen, Sie haben sich kein bisschen verändert«, erwiderte ich. »Schon gut«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Sie haben sich den Eintritt verdient. Ihr Kompliment war originell genug.« Sie trat zur Seite und ließ mich herein. Ich hängte den Hut auf einen der Garderobenhaken. Im Vorbeigehen kam ich in den Genuss eines betörenden Parfüms. Nur ein Hauch war es und dennoch von einer Klasse, wie man sie nur bei den Ladys der allerfeinsten Kreise von Chicago zu schnuppern bekam. Shelly Prudence war Schauspielerin und gehörte zu ebenjenen Kreisen, was sie allerdings Nelson LaRossa zu verdanken hatte. Aus eigener Kraft hätte sie es niemals geschafft, so weit nach oben zu kommen. In ihrem Beruf war sie auf Nebenrollen abonniert; das galt für die Theaterstücke, in denen sie mitwirkte und für die zwei oder drei Kinofilme, auf deren Besetzungsliste ihr Name unter der Rubrik ›Außerdem‹ gestanden hatte. Einzig und allein durch Nelsons Ruhm war die Öffentlichkeit auf die Frau an seiner Seite aufmerksam geworden. Die Szene mit Rudolpho Valentine war von den Klatschreportern zur Liebesszene hochstilisiert worden. In Wahrheit war sie nur eine von vielen Haremsdamen gewesen und der Frauenschwarm hatte sie lediglich mit einem Blick gestreift - damals, 1921, in seiner berühmten Rolle als Scheich Ahmed Ben Hassan. Shelly war zu jenem Zeitpunkt schon 32 Jahre alt gewesen und es hieß, dass sie sich den winzigen Filmpart auf dem Weg durch die Betten von Regisseuren und Produzenten erkämpft habe. Es wurde gemunkelt, dass dieser Weg auch durch Valentinos Bett geführt hatte, aber dazu konnte der große Star nicht mehr befragt werden, weil er letztes Jahr gestorben war. Heute war Shelly Prudence noch immer eine Schönheit, trotz ihrer 38 Jahre. Und traurig war sie nicht die Spur. Jedenfalls war ihr das nicht anzumerken. Möglich jedoch, dass ich ihr Unrecht tat. Vielleicht beweinte sie ihren toten Geliebten, wenn sie allein war. Und die Trauer konnte sie durchaus auch tief in ihrem Inneren verbergen. 44
Sie führte mich in den Salon der riesigen Luxus-Wohnung an der South Emerald Avenue. Ich versank fast in dem Ledersessel, in dem ich Platz nahm. Tische, Kommoden und Schränke waren aus schwerem Eichenholz, passend zu den Maßen des Zimmers. Shelly zeigte auf eine Silberschatulle auf dem Tisch. »Wenn Sie rauchen möchten, bedienen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten? Bourbon? Oder lieber etwas Importiertes?« Sie wandte sich einem großen Schrank an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zu. Flaschen und Gläser funkelten dort im hereinfallenden Sonnenlicht, als sie das Geheimfach hinter einer Reihe von Bücherattrappen öffnete. »Bourbon«, entschied ich und klappte den Deckel der Silberschatulle auf. Eine Hälfte enthielt Pall Malls, die andere Orientzigaretten, deren Marke nicht zu erkennen war. Ich nahm eine Pall Mall und benutzte das silberne Tischfeuerzeug. Shelly brachte die Drinks in zwei Kristallgläsern, setzte sich mir gegenüber und prostete mir zu. »Was kann ich für Sie tun, Mister Connor?«, fragte sie dann. »Nur ein paar Fragen beantworten.« Ich stellte mein Glas ab. »Falls Sie sich dazu in der Lage fühlen, Madam.« Sie sah mich ernst an. »Ich weiß es zu schätzen, Mister Connor, dass die Tribune Ihnen diesen Auftrag erteilt hat. Das habe ich auch schon dem Anrufer aus der Redaktion gesagt. Es wäre undankbar von mir, wenn ich nicht meinen Beitrag leisten würde. Und was die Trauer angeht - nun, das ist für mich eine sehr persönliche Angelegenheit. Ich möchte niemanden damit behelligen.« In ihren Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an. »Also fragen Sie.« Ich zögerte nicht erst. »Werden Sie Mister LaRossas Wohnung übernehmen?« »Welche Wohnung sollte das sein?« Ich stutzte. »Na, diese hier«, entgegnete ich mit einer ausladenden Handbewegung. »In den Zeitungsberichten, die über ihn erschienen...« »Zuletzt vor drei Jahren«, ergänzte sie und nickte. 45
»... wurde es immer so dargestellt, als würden Sie bei ihm wohnen.« »Das haben Sie richtig formuliert«, erwiderte Shelly schmunzelnd. »Es wurde so dargestellt. Nelson und ich waren uns darin einig, es so zu belassen. Er war der große Star, ich die wenig bekannte Schauspielerin, die man nie in einer Hauptrolle gesehen hat - weder im Theater, noch im Kino.« Ich beugte mich vor, drückte die Zigarette aus. »Und die Wahrheit...?« »... war genau anders herum.« Sie nahm eine Orient aus der Schatulle und ließ sich von mir Feuer geben. »Ich kann mit Geld umgehen, er konnte es nicht. Wissen Sie, ich war immer das solide, sparsame Mädchen, auch wenn es nie so aussah. Nelson dagegen ließ gern die Puppen tanzen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass wir nicht geheiratet haben. Er verbrachte ganze Nächte mit Saufgelagen und Pokerrunden und als sein Geld aufgebraucht war, habe ich ihn trotzdem nicht vor die Tür gesetzt. Wir haben uns geliebt, aber er hat nicht einen Penny von mir bekommen, um weiter seinen Lastern frönen zu können. Deshalb hat er sich verkrochen. Hier, in dieser Wohnung.« »Seit drei Jahren?« »Richtig.« »Und die Boxschule?«, entgegnete ich. »Dort hat er sich auch nicht mehr blicken lassen, soviel ich weiß.« »Auch das ist richtig. Er hatte sich mit Marvin Langdon überworfen. Das ist der eigentliche Inhaber. Nelson bekam nur ein paar Prozente vom Gewinn, weil er seinen Namen hergegeben hatte. Aber in der letzten Zeit gab es nichts, weil die Boxschule schlecht lief.« Shelly sog an ihrer ovalen Zigarette und sah mich forschend an. »Wollen Sie sich keine Notizen machen?« Ich schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich bin kein Journalist, Madam. Ich muss keinen Bericht über das schreiben, was ich von Ihnen erfahre.« »Aber Sie werden es sich gut merken, nicht wahr?« »Allerdings.« 46
»Bin ich verdächtig?« Ihre blauen Augen ruhten ohne Angst auf mir. »Im Umkreis eines Mordopfers«, erwiderte ich ausweichend, »ist jeder verdächtig - bis das Gegenteil bewiesen ist.« »In Ordnung. Ich kann ehrliche Antworten vertragen, Mister Connor. Lassen Sie mich ein paar Schlussfolgerungen ziehen. Ein Außenstehender könnte annehmen, ich würde von Nelsons Tod profitieren. Beispielsweise durch eine Lebensversicherung, die er abgeschlossen hat.« »Zu Ihren Gunsten.« Shelly schob die Unterlippe vor und überlegte. »Ich könnte es verheimlichen«, sagte sie dann. »Nicht lange«, erwiderte ich. »Die Polizei müsste lediglich bei allen in Frage kommenden Versicherungsgesellschaften nachfragen.« »Ihnen würde man keine Auskunft erteilen?« »Nein. Mir fehlt die offizielle Legitimation.« »Okay. Die Cops würden feststellen, dass es keine Lebensversicherung zu meinen Gunsten gibt. Nelson hätte nicht mal die Beiträge bezahlen können. Also weiter. Ich könnte den Mordauftrag erteilt haben, weil ich Nelson loswerden wollte.« »War er Alkoholiker?« »Sie meinen, dass er unerträglich wurde, weil er auf meine Kosten trank? Nein. Er war ein Trinker, aber sicher nicht das, was man einen Alkoholiker nennt.« Ich leerte mein Glas. »Eben sagten Sie, er hätte fürs Trinken keinen Penny von Ihnen gekriegt.« »Hat er auch nicht. Aber ich bin kein Unmensch. Hier zu Hause hat er seinen Drink bekommen. Von mir. So wie Sie jetzt.« »Haben Sie sonst noch Verdachtsmomente gegen sich selbst?«, erkundigte ich mich. »Eifersucht vielleicht?« Shelly lächelte geheimnisvoll. »Nelson könnte fremdgegangen sein. Mir könnte der Kragen geplatzt sein und ich hätte jemanden aus seinem Bekanntenkreis anrufen können.« »Zum Beispiel Anthony Giaccone.« 47
Shelly hob überrascht die Augenbrauen. »Glauben Sie, er würde sich von mir einen Mordauftrag erteilen lassen?« »Warum nicht?« Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn er vorab erfahren hätte, was heute in der Zeitung steht, hätte er einen guten Grund gehabt, Nelson zu beseitigen - zusätzlich zu Ihrem möglichen Motiv.« »Sie meinen, ich hätte Giaccone vorwarnen können? Wegen des Zeitungsberichts?« »Sicher. Vorausgesetzt, Sie haben davon gewusst.« »Ich wusste es nicht. Okay?« »Einverstanden. Wo war Nelson gestern Abend, letzte Nacht?« Shelly lächelte verbittert. »Er hat es mir nicht erzählt. Es ist bekannt, dass er das Haus so gut wie nie verlassen hat. Höchstens mal zu einem Spaziergang im Dunkeln. Gestern Abend schien er nichts dergleichen vorgehabt zu haben. Wir haben Radio gehört, dieses Hörspiel; das ging bis zehn. Kurz danach, also höchstens eine Viertelstunde später, bin ich zu Bett gegangen. Ich nehme schon um neun meine Schlaftablette, wissen Sie. Ich würde sonst kein Auge zubekommen. Jedenfalls schlafe ich dann wie eine Tote. Also habe ich auch erst heute Morgen gesehen, dass sein Bett unbenutzt war. Erst habe ich gedacht, dass er sich über die Alkoholbestände hergemacht hat und im Sessel eingeschlafen ist. Aber er war verschwunden. Ich wollte herumtelefonieren, aber versuchen Sie mal, morgens um acht bei einem Speakeasy anzurufen.« »Sie dachten, Nelson hätte vielleicht einen Rückfall erlitten und wäre zu seinen alten Säufergewohnheiten zurückgekehrt?« »Ja, das habe ich im ersten Moment gedacht. Aber dann kam es mir doch zu unwahrscheinlich vor. Also habe ich mir erst mal die Zeitung angesehen und überlegt, ob es einen Zusammenhang zwischen dieser Riesen-Schlagzeile und Nelsons Verschwinden geben könnte.« »Haben Sie in der Boxschule angerufen?« »Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen. Es wäre der letzte Ort gewesen, an den Nelson sich freiwillig begeben hätte. Außerdem war ich ziemlich aufgewühlt. Irgendwie habe ich gespürt, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Ich habe Frühstück gemacht, das 48
Radio eingeschaltet, wie immer und gleichzeitig die Zeitung gelesen. Das heißt, nur den Artikel über Nelson. Und dann, plötzlich, wurde die Musik unterbrochen und es kam diese Sondermeldung.« »Über Nelsons Tod.« »Ja. Ich habe in der Küche gesessen und war wie paralysiert. Wie lange das dauerte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich war es so etwas wie ein Schock. Ich könnte Ihnen jetzt nicht mal mehr sagen, was ich anschließend getan habe.« »War die Polizei bei Ihnen?«, fragte ich, um Shelly abzulenken. »Am späten Vormittag«, antwortete sie. »Ein Captain in Zivil. Holloway oder so ähnlich.« »Hollyfield.« »Stimmt. Ein netter Mensch. Sehr mitfühlend.« »Das ist er«, bestätigte ich. Als ich sah, dass Shelly tief durchatmete und wieder lächelte, sprach ich weiter. »Haben Sie die gleichen Bekannten wie Nelson?« »Nein. Ich bin mit Giaccone und Konsorten nicht befreundet. Ich kenne diese Leute nicht mal besonders gut. Aber ich respektiere sie.« »Sie meinen, die Gewalt, die von solchen Männern ausgeht.« »Ich bin nicht weltfremd.« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Damit wären wir bei der anderen Seite der Medaille, nachdem wir das Verdachtsthema abgehakt haben.« »Sind Sie enttäuscht? Ich meine, weil ich als Täterin oder - sagen wir - Auftraggeberin des Mordes nicht in Frage komme?« »Ich bin nicht enttäuscht, sondern erfreut. Ich bin kein Cop, der einen Schuldigen braucht, um ihn der Öffentlichkeit zu präsentieren.« »Das klingt sehr beruhigend.« »Dieses Interview, das Nelson gegeben hat - waren Sie dabei?« »Nein. Er hat sich mit dem Journalisten an einem geheimen Ort getroffen, wahrscheinlich in dessen Wohnung.« Shelly drückte ihre Zigarette aus und ging zum Schrank. Auf dem Weg dorthin fuhr sie fort: »Wir haben zwar nicht darüber gesprochen, aber ich vermute, dass es Nelson um Geld ging. Die drei Jahre in selbst gewählter Klausur waren ihm wahrscheinlich genug. Er wollte raus aus dem Einsiedlerleben.« »Und weg von Ihnen?« 49
Shelly kehrte mit der Whiskeyflasche zurück und schenkte nach. »Schon möglich. Es muss ganz einfach so gewesen sein, dass er plötzlich eine unerwartete Möglichkeit sah, zu Geld zu kommen.« »Der Journalist hat ihm also ein Exklusivhonorar versprochen.« »Natürlich. Anders hätte er Nelson niemals aus seiner Höhle gelockt. Dieser Reporter war ja nicht der Erste, der das versucht hat.« Sie hob ihr Glas und ich tat es ihr nach. Wir tranken. Ich fragte mich, warum weder Brendon noch sein Chef dieses Exklusivhonorar mir gegenüber erwähnt hatten. »Kennen Sie ihn?«, fragte ich. »Nein. Kann sein, dass ich ein oder zwei Mal am Telefon mit ihm gesprochen habe. Aber begegnet bin ich ihm nie.« »Damit erledigt sich wohl meine nächste Frage. Kennen Sie den Inhalt des Interviews? Hat Nelson Ihnen gesagt, was er dem Journalisten erzählt hat?« »Nein«, antwortete Shelly entschieden. »Aber ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Wenn ich den Wortlaut des Interviews hätte, vielleicht sogar als Abschrift, wäre ich in Gefahr. Es könnte ja sein, dass ich jetzt das Geschäft mit der Chicago Tribune machen will. ›Schauspielerin erfüllt Vermächtnis des toten Champions‹ - solche Überschriften auf der Titelseite lassen doch Journalistenherzen höher schlagen, nicht wahr?« »Allerdings«, erwiderte ich. »Die mögliche Gefahr könnte sich auch anders darstellen. Sie müssen den Inhalt des Interviews nicht kennen. Aber Sie haben jahrelang mit Nelson LaRossa zusammengelebt. Also liegt es nahe, dass Sie seine Lebensgeschichte kennen. Und zwar in allen Einzelheiten.« Shellys Miene spiegelte Bestürzung. »O mein Gott«, flüsterte sie. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Kein Mensch wird mir glauben, dass Nelson nie mit mir über seine geschäftlichen Angelegenheiten gesprochen hat. Ich meine, ich wusste, dass er mit Gangstern zusammengearbeitet hat. Aber das war auch alles.« »Nach dem Motto ›Was du nicht weißt, kann dir nicht gefährlich werden‹. Nur gilt das jetzt leider nicht mehr.« Ich steckte mir eine meiner Luckys an. »Was wissen Sie über Marvin Langdon?« 50
»Ein netter Kerl. Er war Nelsons Trainer, früher. Die beiden waren immer dicke Freunde und sind es im Grunde auch geblieben. Dass sie Streit bekommen haben, lag nicht an Marvin und auch nicht an Nelson.« »Hat er Ihnen das gesagt?« »Andeutungsweise. Den Rest konnte ich mir zusammenreimen. Es ging um die Teilnehmergebühren für die Boxschule. Marvin hat sie immer wieder erhöht, damit der Laden Gewinn abwirft. Natürlich war das nicht Marvins Idee, sondern die der wirklichen Eigentümer.« »Giaccone und letztlich Rigobello«, folgerte ich. »Dann ist Langdon nur ein Strohmann.« Shelly nickte. »So wird es wohl sein. Die Gebührenerhöhung bewirkte jedenfalls das Gegenteil. Immer mehr Boxschüler blieben weg, vor allem die jüngeren. Nelson hat gedroht, der Schule seinen Namen zu entziehen. Er hätte die Trainingsstunden am liebsten kostenlos geben lassen, weil er die Jungs von der Straße holen wollte. Er war eben ein Idealist. Marvin hatte zwar Verständnis dafür, aber gegen seine Bosse konnte er nichts machen. Das hat Nelson wiederum nicht einsehen können. So ergab ein Wort das andere und der große Krach war da.« Die Türklingel schrillte. Shelly blickte verwundert. »Erwarten Sie jemanden?«, fragte ich. »Nein«, antwortete sie und schüttelte den Kopf. »Sehen wir nach«, sagte ich und drückte die Zigarette aus. Beim Aufstehen klaffte mein Jackett auseinander. Shellys Augen wurden groß, als sie das Schulterhalfter mit der Waffe sah. Es klingelte erneut, während wir uns der Wohnungstür näherten. Shelly spähte durch den Spion. »Jemand von der Tribune«, sagte sie. »Er hält seinen Presseausweis vor die Linse. Den Namen kann ich nicht entziffern.« »Miss Prudence?«, ertönte eine Männerstimme. »Kann ich Sie kurz sprechen?« Durch den Nachhall im Treppenhaus klang die Stimme verfremdet, sodass ich sie nicht identifizieren konnte. 51
»Lassen Sie die Sicherungskette vorgelegt und öffnen Sie die Tür ein Stück«, flüsterte ich und zog den Revolver. Shelly beobachtete es erschrocken. Ich erklärte ihr nicht erst, dass man Presseausweise mühelos fälschen konnte. Stattdessen stellte ich mich so, dass ich durch den Türspalt blicken und notfalls auch heißes Blei hindurchschicken konnte. »Einen Moment bitte«, rief Shelly laut genug, dass der Mann im Treppenhaus es hören konnte. Sie drehte den Knauf und öffnete die Tür, bis sie von der Kette gestoppt wurde. Draußen stand Danny O'Rourke. * Noch fünf Minuten später war er weiß im Gesicht. Es lag an meinem 38er. Ich hatte ihn zwar sofort wieder im Halfter versenkt, aber der Moment, in dem ihn die Mündung angeglotzt hatte, war für Danny genug gewesen. Mein Anblick allein hatte ihn schon geschockt - und dann noch das Schießeisen in meiner Rechten. Es hatte offenbar bewirkt, dass er mich in einem völlig neuen Licht sah. Vorher hatte er mich wahrscheinlich für alles andere als einen gewaltbereiten Menschen gehalten. Jetzt las ich Furcht in seinen Augen. Er starrte mich an und sah aus, als ob er weglaufen wollte. Mehr als Respekt erwartete ich indessen gar nicht von erklärte Shelly, wer der Mensch war und kehrte auf meinen rück. Ich musste nicht befürchten, dass er die Flucht ergriff. ein Versuch würde es nicht werden. Denn diesmal würde ich entwischen lassen. Auf keinen Fall.
ihm. Ich Platz zuMehr als ihn nicht
»Sie sind das!«, rief die Hausherrin, ergriff fürsorglich seinen Arm und führte ihn zu einem freien Sessel. »Endlich lerne ich Sie persönlich kennen. Kommen Sie, setzen Sie sich. Sie sind ja richtig blass. Geht es Ihnen nicht gut?« »Doch, doch«, antwortete er hastig. »Danke, Miss Prudence. Vielen Dank.« 52
»Bitte sagen Sie Shelly zu mir.« Sie lächelte ihn an und war erkennbar bereit, ihm die ganze Bandbreite ihrer Mütterlichkeit angedeihen zu lassen. Ich war baff. Auch eine Spur von Neid konnte ich nicht leugnen, wenn ich ehrlich zu mir selbst war. Wie machte dieser verdammte Kerl das? Wie, in aller Welt, brachte er die Frauen dazu, ihm die Anrede per Vornamen anzubieten, sobald sie ihn nur sahen? Okay, ich hatte es bislang zwar nur in drei Fällen mitgekriegt, aber es sah mir verdammt danach aus, dass es die Regel war. »Dann müssen Sie mich aber auch Danny nennen«, verlangte er mit Siegergrinsen. »Mister Connor konnte sich zu dem Angebot an mich noch nicht durchringen, aber vielleicht werden Sie ihm ja ein gutes Vorbild sein.« Ich hatte nicht den Eindruck, dass unser New Yorker Gernegroß auch nur im Entferntesten daran dachte, dass Shelly Prudence vor wenigen Stunden Witwe geworden war. Er flirtete mit ihr, als hätten wir uns gerade an der Bar eines Tanzlokals getroffen. So kam es mir jedenfalls vor. Im Übrigen wurde mir zusehends klarer, dass man ihm in New York nicht den Hauch von Benimm beigebracht hatte. »Ach, Mister Connor!«, rief Shelly und sah mich an, als würde sie sich erst jetzt an meine Anwesenheit erinnern. »Bitte verzeihen Sie. Was müssen Sie von mir denken! Natürlich gilt das auch für Sie. Nennen Sie mich einfach Shelly, okay?« »Okay«, erwiderte ich und nickte. »Pat für Sie.« Sie strahlte. »Und was spricht dagegen, unseren jungen Freund mit Danny anzureden?« »Gar nichts.« Ich wandte mich dem Jungen zu und grinste grob. »All right, Danny. Einer, den ich beinahe erschossen hätte, darf mich auch Pat nennen. Auf der Schwelle zum Tod verbrüdert sich's leichter, stimmt's?« »Ja, sicher.« Er schluckte. »Danke, Pat.« Shelly runzelte die Stirn. Sie hatte ein drittes Glas geholt und versorgte uns mit Bourbon. »Hätten Sie den armen Kerl wirklich erschossen?«, fragte sie und setzte sich. 53
»Wenn er Sie angegriffen hätte - natürlich«, antwortete ich todernst. »Dann hätte ich keine andere Wahl gehabt. Aber es wäre ja Notwehr gewesen.« Danny, der gerade wieder etwas Farbe bekommen hatte, wurde erneut blass. »Trinken wir auf das Leben«, schlug Shelly vor. »Ich denke, dazu habe ich das Recht. Oder hält einer der anwesenden Gentlemen mich für eine allzu lustige Witwe?« Danny und ich schüttelten gleichermaßen heftig den Kopf. Wenigstens diesmal waren wir uns einig. Also tranken wir mit Shelly auf das Leben und nach dem nächsten Drink stimmte ich großmütig zu, als Danny vorsichtig bei mir anfragte, ob wir nicht das Kriegsbeil begraben könnten. Das half uns weiter. Mir gegenüber zeigte er sich ebenso offen, als ich Auskunft darüber verlangte, warum er aus Henry's Steak Diner abgehauen und spurlos verschwunden war. Die plötzliche Gewissheit, auf der Abschussliste der berüchtigtsten Gangster Chicagos zu stehen, hatte ihn in Panik versetzt. Erst durch meine offenen Worte war ihm das überhaupt klar geworden. Und dann hatte er sich eingeredet, dass er eine viel zu gute Zielscheibe abgeben würde, wenn er sich in Brendons und meiner Nähe aufhielt. Nur allein, so hatte er geglaubt, würde er eine Chance haben, Giaccones Killerkommando zu entwischen. Es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, dass er einem fundamentalen Irrtum unterlag. Dass er nämlich als Einzelgänger - und zudem als Fremder - in dieser Stadt hoffnungslos untergehen würde. Trotzdem notierte ich mir seine Adresse, für den Fall, dass er noch einmal auf die Idee kommen sollte zu verschwinden. Ich steckte meinen Notizblock ein und sagte: »Jetzt brauche ich noch eine ehrliche Antwort von Ihnen, Danny. Wer hat Sie bevollmächtigt, Mister LaRossa ein Exklusivhonorar anzubieten?« Er sah erst Shelly und dann mich erschrocken an. »Niemand«, versicherte er bestürzt. Nach einem Moment fügte er zerknirscht hinzu: »Verdammt, da habe ich wohl einen Fehler gemacht.« »Also haben Sie es ihm wahrhaftig angeboten?«, folgerte ich. »Himmel, nein!«, beteuerte er. »Ich habe ihm gesagt, dass ich versuchen würde, für ihn ein Exklusivhonorar herauszuholen, wenn die 54
Geschichte gut laufen würde. Natürlich stand ihm das übliche Informationshonorar zu. Das war selbstverständlich, darüber brauchte man gar nicht zu reden. Aber exklusiv - nein, nein. Zugesagt habe ich ihm das wirklich nicht. Mein Gott, hätte ich davon bloß überhaupt nichts gesagt!« »Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe, Danny«, sagte Shelly und lächelte mild. »Das war typisch Nelson. Was Sie nur angedeutet haben, hat er mir sofort als Realität verkauft. Glauben Sie mir, es war nicht das erste Mal. Manchmal hat er versucht mir einzureden, dass er beim nächsten Pokerabend tausend Dollar gewinnen würde. Das hat er sich selbst so sehr eingeredet, dass er felsenfest davon überzeugt war.« »Trotzdem«, entgegnete Danny und seufzte. »Hätte ich das gewusst, hätte ich das Wort Informationshonorar bestimmt nicht in den Mund genommen.« Ich winkte ab. »Geschenkt. Es ändert nichts mehr.« »So sehe ich es auch«, sagte Shelly. »Wir sind die Lebenden und wir müssen an unsere Zukunft denken. So ist es doch, nicht wahr?« Ich nickte zustimmend und steckte mir eine weitere Lucky an. »Im Moment steht erst einmal Dannys Zukunft zur Disposition. Ich meine, ob er überhaupt eine hat.« »Meine Güte, Pat«, stöhnte der Junge. »Jetzt geben Sie es mir aber, was? Vielleicht listen Sie mir mal auf, was Sie mir alles heimzahlen wollen. Dann weiß ich wenigstens, was auf mich zukommt.« »Ich finde auch, dass Sie ziemlich hart zu ihm sind, Pat.« Shelly sagte es vorwurfsvoll. »So schlimm ist er doch nun wirklich nicht. Im Gegenteil.« Sie gönnte ihm ein Lächeln. »Ich finde ihn ausgesprochen nett.« Danny schaffte es, andeutungsweise zu erröten. »Tja, alle hacken immer nur auf ihm herum.« Ich grinste spöttisch. »Dabei ist er die personifizierte Unschuld vom Lande. Stimmt's, Dannyboy?« »Ich weiß nicht«, antwortete er unwillig. »New York ist ja nun nicht gerade Provinz.« 55
»Verglichen mit Chicago schon.« Ich nahm einen Schluck von meinem Bourbon. »Aber lassen wir das. Ihre Zukunft, Danny, liegt jetzt erst mal in den Händen von Anthony Giaccone. Ich nehme an, Nelson hat Ihnen erzählt, was für ein Mensch das ist.« »Ja, hat er«, antwortete der Junge gepresst. Seine Blässe war zurückgekehrt. »Deshalb bin ich ja abgehauen. Weil ich weiß, was auf mich zukommt.« Ich nickte. »Ich fürchte, Sie wissen es nur andeutungsweise. Für Giaccone geht es jetzt einzig und allein darum, Nelson LaRossas angekündigte Enthüllungen zu verhindern. Nun kann er nicht sämtliche Zeitungen und Radiosender in Chicago lahm legen. Also wird er sich an die Schlüsselfigur halten.« »Und das bin ich?«, entgegnete Danny tonlos. »Allerdings«, antwortete ich. Shelly gab einen erschrockenen Laut von sich. Deshalb konnte ich erst nach einem Moment fortfahren. »Aber Giaccone wird Sie nicht einfach umbringen. Er muss sichergehen, dass sämtliche Notizen, die Sie sich von dem Gespräch mit Nelson gemacht haben, vernichtet werden.« »Was nützt ihm das?« Danny zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe doch alles im Kopf. Ich kann das Interview aus dem Gedächtnis wiedergeben.« »Eben drum«, erwiderte ich rau. »Deshalb wird er Sie umbringen, sobald er die Aufzeichnungen hat und ganz sicher ist, dass es keine Abschriften gibt. Außerdem weiß dann jeder Journalist in Chicago, dass schon eine einzige veröffentlichte Zeile über Nelson LaRossa absolut tödlich wirkt.« »Und das soll Pressefreiheit sein?«, empörte sich Danny. »Die Frage ist berechtigt«, warf Shelly in die Debatte und schenkte Bourbon nach. »Dagegen müsste doch etwas unternommen werden. Sind wir denn schon so weit, dass Gangster bestimmen können, was in der Zeitung steht?« »Nicht nur Gangster«, antwortete ich. »Auch alle möglichen anderen Leute. Politiker. Hohe Beamte.« »Aber die bringen keine Journalisten um«, erklärte Danny. 56
Ich ging nicht darauf ein, denn es hätte zu einer fruchtlosen Diskussion geführt. »Wo haben Sie Ihre Notizen?«, fragte ich stattdessen. »In einem Bankschließfach«, antwortete Danny. Er griff in die Tasche und zeigte mir einen kleinen Schlüssel, den er an seinem Schlüsselbund befestigt hatte. »In Ordnung«, sagte ich. »Wir müssen so bald wie möglich Abschriften machen lassen.« »Wir?«, staunte er. »Allerdings«, entgegnete ich und nickte. »Wir sitzen in einem Boot. Ich habe zwei klare Aufträge: Erstens soll ich auf Sie aufpassen, Danny und zweitens soll ich den Mord an Nelson LaRossa aufklären.« »Und?«, entgegnete er. »Wo bleibt Ihr Kommentar? Warum sagen Sie nicht, dass mir unter diesen Umständen nichts passieren kann?« »Weil das gelogen wäre«, antwortete ich und löste damit eine neue Blässewelle aus. Ich bat Shelly, ihr Telefon benutzen zu dürfen. Es stand auf einem Beistelltisch in der Nähe eines der Fenster. Ich rief Brendon an, nannte ihm meinen Aufenthaltsort und teilte ihm mit, dass Danny O'Rourke auf Nummer Sicher sei. »Seine Artikelserie haben wir vorerst gestoppt«, erklärte Brendon. »Wir bringen morgen einen entsprechenden Hinweis auf der Eins. Der Bericht über den Mord an Nelson läuft natürlich ganz normal.« »Also mit einer Riesenschlagzeile«, folgerte ich. »Ja und? Sollen wir uns vor Anthony Giaccone und seinen Kerlen verkriechen? Damit die Konkurrenz das Auflagengeschäft macht?« »Das Thema hatten wir schon«, erwiderte ich. Wir beendeten das Gespräch. Ich kehrte zu meinem Sessel zurück. Ein Blick zum Fenster zeigte mir, dass es auf den Abend zuging. Es war noch hell, aber über den Dächern auf der anderen Straßenseite leuchtete es rötlich von der untergehenden Sonne. »Was machen wir denn nun?«, fragte Shelly mit einem Blick zur Uhr. »Sind wir eine Schicksalsgemeinschaft?« »Das kann man so sagen«, bestätigte ich. »Ich kann weder Sie noch Danny allein lassen. Also müssen wir uns aneinander gewöhnen. 57
Wenn wir in Ihrer Wohnung bleiben dürfen, okay. Wenn nicht, müssten wir in ein Hotel gehen.« »Ich habe genügend Gästezimmer«, erwiderte sie. »Aber ich bin nicht darauf eingerichtet, gleich zwei hungrige Männer zu verpflegen.« »Sehen wir hungrig aus?«, fragte ich zurück. »Ich auf jeden Fall«, meldete sich Danny zu Wort. »Mein Gesicht muss schon ganz eingefallen sein, stimmt's, Shelly? Ich fühle mich wie ein Wolf, der seit vier Wochen kein Schaf mehr gerissen hat.« »Ach, Sie Ärmster«, bedauerte ihn die Hausherrin. »Schräg gegenüber gibt es ein sehr ordentliches kleines Restaurant, das Lake Inn.« Sie wandte sich mir zu. »Können wir das riskieren, Pat?« »Hm«, antwortete ich und überlegte. Danny warf die entscheidende Frage auf. »Würde es etwas ändern, wenn wir uns verkriechen?« »Nicht wesentlich«, antwortete ich. * Ich trat als Erster aus dem Hauseingang und spähte nach links und rechts, wie es auch die zuverlässigen Leibwächter praktizieren. Ich sah nichts Verdächtiges. In der South Emerald Avenue herrschte mäßiger Betrieb. Ein steter Strom von Autos rollte in beide Richtungen, aber nichts stockte oder staute sich. Das Lake Inn war weniger als einen Steinwurf entfernt, der Schriftzug in roten Buchstaben auf weiß gestrichener Fassade gut zu erkennen. Vor dem Restaurant stand ein dunkelgrüner Fleisch-Lieferwagen. Die Hecktüren des kastenförmigen Aufbaus waren geöffnet. Zwei kräftig gebaute Männer in weißen Overalls schleppten Schweinehälften und Rinderteile in das Restaurant. Auf unserer Straßenseite parkten rechts, etwa 100 Yard entfernt, ein Dodge und ein Ford, beide im Standardschwarz, auf das sich die Autoindustrie festgelegt hatte. Zur Linken war der Bordstein frei. Die nächsten Fahrzeuge standen dort vor dem benachbarten Häuserblock. Nur noch wenige Fußgänger waren unterwegs; auf unserem Teil des Bürgersteigs waren wir die einzigen. 58
Shelly und Danny warteten hinter mir im Hauseingang. Nach einem letzten Kontrollblick gab ich ihnen das Zeichen, mir zu folgen. Beide traten neben mir an die Bordsteinkante. Wir warteten auf eine Lücke im Straßenverkehr. Links fiel mir unter den herannahenden Fahrzeugen ein schwerer Cadillac auf, schwarz wie alle anderen, die Fondfenster mit dunkelgrauen Gardinen verhängt. Doch mir blieb keine Zeit, mich auf den Luxusschlitten zu konzentrieren. Denn von rechts näherten sich plötzlich schnelle Schritte. »Elender Bastard!«, brüllte der Kerl, der da heranstürmte. »Du kannst es einfach nicht lassen, was?« Danny O'Rourke zuckte zusammen, ruckte herum. Im selben Augenblick war der Angreifer auch schon bei ihm. Ich packte Shelly und riss sie von der Bordsteinkante weg. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus. Ungewollt grob trieb ich sie zurück zum Hauseingang. Der Mann, der auf Danny losging, war Raymond Pariapiano. Danny duckte sich, um ihn abzuwehren. Ich wollte die Haustür aufreißen, um Shelly in den Eingangsflur zu stoßen. Doch der Cadillac war schon fast auf unserer Höhe. Groß und wie ein drohender Schatten glitt er in mein Blickfeld. »Runter!«, rief ich. Knapp vor den Eingangsstufen packte ich die Schauspielerin und zog sie mit mir zu Boden. Danny hatte den ersten Angriff abgewehrt, doch sein wütender Redaktionskollege setzte sofort zur nächsten Attacke an. Mit Gebrüll und erhobenen Fäusten drang er erneut auf den New Yorker ein. Der Cadillac rollte vorüber. Während ich Shelly mit meinem Körper schützte, registrierte ich erstaunt, dass kein Fenster und keine Tür der schweren Limousine geöffnet wurden. Nicht mal die Gardine bewegte sich. Trotzdem zog ich den Revolver. Shelly schluchzte. »In den Hauseingang!«, zischte ich. »Los, kriechen Sie. Und bleiben Sie unten.« Ich drehte mich zur Seite, sah nur noch das Heck des Cadillacs, wie er nach rechts entschwand. Pariapiano versuchte, auf Danny O'Rourke einzuprügeln, doch dieser kassierte lediglich eine Gerade und schaffte es trotzdem noch, unter den wirbelnden Fäusten seines Gegners wegzutauchen und mit einem gekonnten Sidestep auszuweichen. 59
Pariapiano konnte seinen Schwung nicht bremsen und stolperte über die Bordsteinkante hinaus. Er schrie vor Wut. In diesem Augenblick sah ich den anderen Wagen. Es war der übernächste hinter dem Cadillac. Ein Ford T der neuesten Baureihe. Die rechten Seitenfenster waren geöffnet. Durch die Windschutzscheibe waren die Gesichter der Männer im Fahrgastraum nur als helle Flecken zu erkennen. Ihre Kleidung war so schwarz wie der Autolack. Wie viele es waren, vermochte ich nicht zu erkennen. Fahrer und Beifahrer auf jeden Fall, vielleicht mehr. »Deckung!«, brüllte ich. »Runter mit euch!« Aber Pariapiano vernahm nur sein eigenes Angriffsgeschrei und Danny konzentrierte sich auf die Abwehr. Flach auf dem Boden, drehte ich mich auf der Gürtelschnalle. Der Ford T war auf gleicher Höhe mit uns. Im selben Moment hatte ich den 38er im Anschlag - beidhändig. Waffenstahl schimmerte in den offenen Wagenfenstern. Ich sah die Oberkörper der beiden Männer, Tommy-Guns in den Händen. Ich sah Raymond Pariapiano, wie er zum Bürgersteig hinschnellte und die Arme ausbreitete. Mit einem Riesensatz wollte er sich auf Danny O'Rourke werfen und ihn zu Boden reißen. Als ich durchzog, hämmerten die Tommy-Guns bereits los. Der 38er ruckte in meinen Fäusten, krachte dumpf. Ich hielt auf die Mündungsblitze. MPI-Kugeln prasselten in die Hauswand, hieben Furchen in die Bürgersteigplatten. Es hatte den Anschein, als würde Pariapiano in der Luft gestoppt und empor gerissen werden. Einschüsse schüttelten seinen Körper durch. Schreie gellten. Es waren Shelly und Danny, die da schrieen, aber ich konnte ihre Stimmen nicht unterscheiden. Ich hatte die dritte oder vierte Kugel hinausgejagt, als sich etwas änderte. Das Hämmern der Maschinenpistolen wurde dünner. Im nächsten Atemzug erkannte ich den Grund. Ich hatte den Gangster im Fond erwischt. Die Tommy-Gun fiel aus seinen kraftlosen Händen, sein Oberkörper hing aus dem Fenster und die Arme schlenkerten leblos vor der Tür. Erst nach Sekunden begriff 60
der MPI-Schütze auf dem Beifahrersitz, was geschehen war. Es war der Moment, in dem ich den Revolver schwenkte. Der helle Fleck des Gesichts in der Fensteröffnung war ein gutes Ziel. Gnadenlos nahm ich den Fleck ins Visier und drückte sofort ab. Ich hatte keine andere Wahl, denn die Dauer dieses Atemzugs entschied über Leben oder Tod - für ihn genauso wie für mich. Zweimal bäumte sich der Smith & Wesson in meinen Fäusten auf, dann klickte der Schlagbolzen ins Leere. Ich geriet in Panik, wollte in meinen Taschen nach Munition kramen. Mit fliegenden Fingern schwenkte ich die Trommel aus dem Rahmen und betätigte den Ejektor. Die leeren Trommelhülsen fielen auf den Bürgersteig; die kleinen, hohl klingenden Geräusche kamen mir überlaut vor. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Gesicht aus dem Beifahrerfenster verschwunden war. Die Wucht der Einschüsse hatte den Mann in den Wagen zurückgeworfen, offenbar mitsamt der Tommy-Gun, denn eine zweite Waffe war auf der Straße nicht auszumachen. Ich glaubte zu sehen, wie der Fahrer den erschlafften Körper seines Nebenmannes von sich wegstieß. Gleich darauf dröhnte der Motor auf und der Ford beschleunigte und entfernte sich mit rasch zunehmender Geschwindigkeit vom Ort des Geschehens. Endlich fand ich Reservepatronen in meiner Jackentasche. Hastig steckte ich sechs davon in die Kammern und ließ die Trommel einrasten. Der Ford brauchte nur an der nächsten Einmündung zu wenden und zurückzukehren. In dem Fall wäre ich mit einer ungeladenen Waffe so gut wie tot gewesen. Denn mir würde kaum genug Zeit bleiben, um ins Haus zu flüchten. Ich musste mich um Shelly kümmern, um Danny O'Rourke und um Raymond Pariapiano, den es bestimmt schwer erwischt hatte. Mit dem Revolver in der Rechten wollte ich auf die beiden Journalisten zu kriechen. Sie hockten im Rinnstein, in der Gefahr geeint, wie mir schien. Erst jetzt fand ich Zeit, genau hinzusehen. Und ich war wie gelähmt, hatte jäh das Gefühl, dass das Blut in meinen Adern gefror. 61
Danny O'Rourke hielt den Polizeireporter in seinen Armen, hatte dessen Kopf auf seinen Schoß gebettet. Pariapianos Gesicht und sein Oberkörper waren blutüberströmt. Aber er schien noch zu leben. Wie in Großaufnahme auf einer Kinoleinwand sah ich seine Lippen, die sich bewegten. Fenster wurden geöffnet, auf beiden Straßenseiten. Gaffer lehnten sich auf die Simse, bereit, die Sensation zu genießen. »Ruft einen Arzt!«, brüllte ich, während ich aufsprang. »Wir brauchen einen Arzt, verdammt noch mal! Und die Polizei! Los, macht schon!« Tatsächlich verschwanden zwei oder drei der Neugierigen in ihren Wohnungen. Vielleicht war es der Revolver in meiner Hand, der ihnen Beine machte. Ich bedeutete Shelly mit einer Handbewegung, zu bleiben, wo sie war. Mit wenigen Schritten war ich bei Danny und seinem schwer verletzten Kollegen. Danny hob den Kopf. In seinen Augen standen Tränen. »Er stirbt«, flüsterte er tonlos. »Er sagt, er spürt es. Mein Gott.« Dannys Stimme versagte. Ich ging vor den beiden in die Knie und verstaute den 38er im Halfter. Es war eine fast selbstverständliche Geste, als ich die Danny die Hand auf die Schulter legte. Sein Körper bebte. »Der Arzt ist unterwegs!«, erscholl eine Stimme von der anderen Straßenseite. Ich hob meine Linke zum Zeichen des Danks. Ich hielt Danny fest und beugte mich über seinen schwarzhaarigen Kollegen. Er atmete nur noch flach, seine Augen waren halb geschlossen und die Lippen bewegten sich nicht mehr. »Raymond«, sagte ich. »Können Sie mich hören?« Seine Lippen formten ein »Ja«. »Gleich ist ein Arzt bei Ihnen«, erklärte ich laut und deutlich. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es dauert nur noch einen Moment, dann wird Ihnen geholfen. Ein Krankenwagen wird Sie ins Hospital bringen und dort bringt man Sie im Handumdrehen wieder auf die Beine.« 62
Ich glaubte, in seinen Mundwinkeln einen Anflug von Spott zu erkennen, als wollte er sagen: ›Hören Sie auf mit der Märchenstunde, Mann. Ich weiß es besser. Selbst der beste Arzt kann mir nicht mehr helfen.‹ Danny schluchzte laut. Seine Schulter zuckte. Ich erkannte den Grund. Mit einer letzten Anstrengung erhob Raymond Pariapiano noch einmal seine Stimme. Sein »Good-bye« war nicht viel mehr als ein Flüstern, aber Danny und ich verstanden es dennoch mühelos. Raymonds Kopf sank langsam auf die Seite und seine Augen brachen. »Nein!«, schrie Danny. »Mein Gott, nein!« Sein Gesicht war tränenüberströmt, als er mich ansah. »Warum er, Pat? Warum er, verdammt noch mal? Er ist für mich gestorben, verstehen Sie? Wenn ich stillgehalten hätte, wäre er nicht auf die Straße gestolpert. Dann hätte er mich umgehauen und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Dann hätte es den Richtigen erwischt - mich!« Entgegen meiner Anweisung hatte Shelly ihren Platz verlassen und war zu uns gekommen. Stumm kniete sie sich auf der anderen Seite neben Danny und unsere Arme begegneten sich auf seinen Schultern, als auch sie ihn festhielt. »Reden Sie keinen Unsinn, Danny«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Sie trifft überhaupt keine Schuld.« »Shelly hat Recht«, fügte ich hinzu. »Und wenn Pat nicht gewesen wäre«, erklärte sie und sah mich über Dannys dunkelblonden Haarschopf hinweg an, »dann wären wir jetzt alle nicht mehr am Leben.« Ich konnte ihr nicht widersprechen. * »Halten Sie mich für hartherzig, Pat?« »Warum sollte ich?« »Sie lernen mich kennen und müssen feststellen, dass ich um meinen ermordeten Verlobten nicht trauere. Dann wird vor meinen Augen ein junger Mann erschossen und es berührt mich nicht. Haben 63
Sie nicht den Eindruck, dass das die Wesenszüge einer Mörderin sind?« Ich grinste im matten Schein der Petroleumlampen. »Wollen Sie ein Geständnis ablegen?« Shelly und ich standen am Geländer einer Dachterrasse, die einen traumhaften Ausblick bot. Zu unseren Füßen lag Arthur, ein deutscher Schäferhund, groß wie ein Wolf. Die Dachterrasse war Teil einer Villa am Yates Boulevard in South Shore. Vor dem Villengarten reihten sich die Straßenlampen des Boulevards aneinander, auf der Fahrbahn zogen Autoscheinwerfer und Rücklichter ihre Bahn. Jenseits der breiten Straße glommen die Lichter der Strandpromenade von Rainbow Beach und dann gab es nur noch die endlos scheinende Wasserfläche des Lake Michigan, dunkel und glatt wie schwarzes Glas und mit vereinzelten, weit verstreuten Positionsleuchten von Schiffen. Ausnahmsweise war es windstill. Arthur hatte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderbeine gelegt und blickte von Zeit zu Zeit zu uns auf, als wollte er sich überzeugen, dass wir noch da waren. Bei unserer Ankunft hatte er Shelly freudig begrüßt und Danny und mich sofort als ihre Bekannten akzeptiert. Während der Sommermonate lebte der ausgebildete Wachhund in seiner eigenen kleinen Blockhütte im Garten. Wenn die Hausherrin abwesend war, wie jetzt, wurde er vom Hausmeisterdienst mit Futter versorgt. Nicht nur der Ausblick, der ganze Abend war ein Traum. Um ihn genießen zu können, hätte man allerdings in der Lage sein müssen, total abzuschalten. Denn das Grinsen des Todes drängte sich immer wieder in den Vordergrund des Bewusstseins. So ging es mir jedenfalls. Und Shelly? Hatte sie dieses Problem nicht? War sie wirklich so eiskalt, wie sie mir gerade weiszumachen versuchte? »Ein Geständnis?« Sie lachte leise und gurrend. »Einverstanden. Ich gestehe, dass ich völlig gefühllos bin.« »Ach, was?«, entgegnete ich nur. Ich maß sie mit einem Seitenblick, dann klemmte ich mir eine Lucky zwischen die Zähne und ließ ein Streichholz aufflammen. 64
»Ja, es ist so, wie ich sage, Pat. Wissen Sie, als Nelson auf diese schreckliche Weise sterben musste, hat es mich nicht überrascht. Wahrscheinlich habe ich tief in meinem Herzen gewusst, dass er eines Tages so enden würde. Alle Voraussetzungen dafür hat er selbst geschaffen. Und der junge Mann, Dannys Kollege, hat sich auch selbst in Gefahr gebracht.« Sie erwiderte meinen Blick. »Oder ist es einfach eine Zeiterscheinung, hier in Chicago? Ich meine, auf unseren Straßen werden so viele Menschen erschossen, erstochen und erschlagen, dass es einen schon nicht mehr kümmert. So ist es doch, oder?« »Nein«, widersprach ich heiser. »So ist es nicht. Und Sie sind nicht gefühllos, Shelly.« Ich führte die Streichholzflamme an den Zigarettentabak und inhalierte den ersten Zug. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Shelly leise. In ihren Augen entstand eine Tiefe, wie ich sie zuvor nicht erlebt hatte. Ihr Blick zog mich zu ihr hin. Doch ich widerstand. Sie war eine Witwe, auch wenn sie nicht mit Nelson LaRossa verheiratet gewesen war. Es änderte nichts daran, dass er der Mann ihres Lebens gewesen war. Zu seinen Lebzeiten hatte sie ihn so manches Mal zur Hölle gewünscht. Daran zweifelte ich nicht. Und jetzt, da ihre geheimen Wünsche in Erfüllung gegangen waren, verkraftete sie es nicht. Sie stürzte von einem Gefühlstief ins andere und versuchte, sich an der steinernen Fassade festzuhalten, die sie vor ihrer schwer verwundeten Seele aufgebaut hatte. Ich war nicht der Schweinehund, der die Stimmung einer Frau in einer solchen Lage ausnutzte. »Sie sind verbittert«, sagte ich. »Sie haben in Ihrem Leben getan, was Sie konnten. Für Nelson haben Sie wahrscheinlich mehr getan als für sich selbst. Und trotzdem mussten Sie erkennen, dass Sie gegen seine Schwächen machtlos waren. Das Entscheidende ist jedoch: Sie haben vielleicht damit gerechnet, dass er sich zu Tode trinkt. Aber Sie haben nicht damit rechnen können, dass er ermordet wird. Wofür sollen Sie sich also entscheiden? Dafür, dass er selbst Schuld hat? Oder dafür, dass er Mitleid und Trauer verdient hat?« Ein Tränenfilm bildete sich über ihren Augen, doch sie wich meinem Blick nicht aus. Sie ließ mich teilhaben an dem Kampf, den sie in 65
ihrem Inneren ausfocht und sie streckte zugleich die Waffen, indem sie zu erkennen gab, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte sie sich in meine Arme flüchten. Doch sie war so stark, wie ich vermutet hatte. Nur kurz schüttelte sie den Kopf, dann straffte sie ihre Haltung und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Haben Sie eine Zigarette für mich?«, bat sie. Ich hielt ihr die Lucky-Schachtel hin und gab ihr Feuer. »Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt. Sie blies den Rauch zum Lake Michigan hin und lächelte. »Alles und nichts«, antwortete sie und sah mich an. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich diese Entscheidung treffen kann, die Sie angesprochen haben, Pat. Vor allem muss ich mit mir selbst ins Gericht gehen. Habe ich von Nelson womöglich zu viel erwartet? Kann es nicht sein, dass ich damit meine eigene Unzulänglichkeit kaschieren wollte?« »Seien Sie nicht zu hart gegen sich selbst«, erwiderte ich. »Dazu haben Sie keinen Grund.« »Vielleicht doch«, entgegnete sie, wenig überzeugt. »Sehen Sie sich um. Diese Villa, dieses Grundstück. Und dann halten Sie sich vor Augen, dass Ada eine zweite, noch schönere Villa in Los Angeles ihr Eigen nennt.« »Na und?« Ich drückte meinen Zigarettenrest in den Standaschenbecher. »Sie haben eine wunderbare, luxuriöse Wohnung. Und offenbar verdienen Sie auch genug Geld, um davon leben zu können.« Die Villa, in der wir Unterschlupf gefunden hatten, gehörte Shellys Freundin und Schauspielerkollegin Ada Mariana. Ada hatte in Hollywood Karriere gemacht und war ein Star geworden. Zur Zeit wohnte sie in L.A. Shelly hatte sie dort angerufen. Den Schlüssel hatten wir von dem Hausmeister-Service abgeholt, der die Villa in Adas Auftrag überwachte. Die Polizei konnte uns nicht beschützen; dazu hatte sie einfach nicht genug Leute. Captain Hollyfield hatte uns vorgeschlagen, ein Sicherheitsunternehmen zu beauftragen. ›Brauchen wir nicht‹, hatte Shelly entschieden. ›Pat Connor ist besser als zehn Leibwächter.‹ Ich wäre am liebsten im Boden versunken, aber Hollyfield hatte anerkennend gegrinst und mir auf die Schulter geklopft, dass es krachte. 66
Unterdessen hatte Danny sich kaum noch auf den Beinen halten können. Der Arzt hatte ihm eine Beruhigungsspritze gegeben und wir hatten den Jungen in meinen Plymouth verfrachtet. Shelly besaß kein eigenes Auto. Ich war ein paar Umwege gefahren und hatte darauf geachtet, dass wir nicht verfolgt wurden. Shelly kannte sich in der Villa aus. So hatten wir Dannyboy schleunigst in einem der Gästezimmer untergebracht. Dort schlief er jetzt und bestimmt würde er erst morgen im Laufe des Tages wieder aufwachen. Trotzdem hatte ich mich vergewissert, dass er nicht wieder abhauen konnte. Das Zimmer lag im zweiten Stock. In Fensternähe gab es keine erreichbaren Regenrinnen oder Rankgerüste. Die Terrasse, unten, war mit Terrakottaplatten gepflastert. Nicht gerade das geeignete Ziel für einen Sprung aus acht, neun Metern Höhe. Die Zimmertür hatte ich vorsorglich abgeschlossen, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass es drinnen keine geheimen Luken oder Tapetentüren gab. Arthur seufzte im Schlaf. Es klang sehnsuchtsvoll, geradezu menschlich. Vielleicht träumte er von einer Hundelady, die ihm in seinem ansonsten angenehmen Leben noch fehlte. Shelly sog an ihrer Zigarette und blies den Rauch himmelwärts, indem sie den Kopf in den Nacken legte. »Weiter werde ich es auch nie bringen«, sagte sie dann. »Diese wunderbare, luxuriöse Wohnung ist das Höchste, was ich erreichen kann. Ich werde bald vierzig, Pat und ich habe bis jetzt keine Hauptrollen gehabt. Es wird für mich immer schwieriger, überhaupt Rollen zu bekommen. Und dann kommen auch noch die Talkies auf uns zu. Das heißt, sie sind ja schon da.« »Die Tonfilme?« »Ja. Es heißt, dafür ist unsereins nicht mehr geeignet.« »Das sehen Sie zu pessimistisch«, entgegnete ich. »Gerade Sie bringen die besten Voraussetzungen mit. Akzentfreie Aussprache, melodische Stimme. Was wollen Sie mehr? Sehen Sie es positiv, Shelly. Vielleicht fängt Ihre Karriere mit dem Tonfilm erst an.« Sie nickte nachdenklich. »Pola Negri hat große Probleme. Miserables Englisch, polnischer Akzent - damit ist sie verloren.« 67
»Sehen Sie«, sagte ich. »Bestimmt gibt es noch mehr Stars, denen es ähnlich ergeht wie der berühmten Pola. Jetzt schlägt die Stunde der englischsprachigen Schauspieler. Das ist Ihre große Chance, glauben Sie mir.« Shelly lächelte dankbar. Zumindest hatte ich ihr ein bisschen Mut gemacht, was die Zukunft betraf. Mit der Vergangenheit würde sie ebenfalls klarkommen. Sie hatte in den zurückliegenden Stunden eine Menge durchgemacht. Erst den Mord an ihrem Verlobten und dann das blutige Geschehen vor ihrer Haustür. Victor Hennessy und Brendon Smith waren am Tatort gewesen, hatten Fotografen und Redaktionskollegen mitgebracht. Die morgige Ausgabe der Chicago Tribune würde mit Trauerbalken auf der Seite eins erscheinen. Dazu würde es Berichte über den Feuerüberfall, einen Nachruf auf Raymond Pariapiano sowie Hintergrundstorys geben. Dass der Kugelhagel an der South Emerald Avenue mit dem Mord an Nelson LaRossa zusammenhing, ließ sich nicht verheimlichen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich der Schauplatz des Geschehens vor Shelly Prudence' Wohnung befand. Auf der Dachterrasse standen elegante Gartenmöbel aus weiß lackiertem Holz. Bourbonflasche und Gläser funkelten im Schein der Außenlampe. Wir setzten uns und gönnten uns einen letzten Drink vor dem Schlafengehen. Unsere drei Gästezimmer lagen am selben Flur im zweiten Stock. Ich hatte mich bereits mit den Räumlichkeiten der Villa vertraut gemacht, auch im ersten Stock und im Erdgeschoss. Außer dem Haupteingang gab es zwei weitere Türen, die nach draußen führten. Ich hatte den parkähnlichen Garten erkundet und die Schlösser und Riegel des Tors zur Straße überprüft. Die Einfriedung bestand aus einem gut mannshohen gusseisernen Zaun, dessen senkrechte Streben oben wie Speerspitzen geformt waren. Die Reichen dieser Stadt wussten, wie man sein Eigentum schützte. »Eines müssen Sie mir erklären«, sagte Shelly, nachdem wir unsere Gläser gehoben hatten. »Weshalb führte dieser Zeitungsartikel zu solchen schlimmen Gewalttaten? Jetzt sind es schon zwei Menschen, die deswegen sterben mussten.« 68
Arthur erwachte, als er ihre Stimme hörte. Er hob den Kopf, erhob sich gemächlich und kam zu uns herüber. Zwischen uns, halb unter dem Tisch, ließ er sich wieder auf den Boden sinken, als hätte er gerade eine Anstrengung hinter sich gebracht, die all seine Kräfte gefordert hatte. »Der Zeitungsartikel war nur der Auslöser«, erklärte ich. »Die Ursache war Nelsons Ankündigung, er werde auspacken.« »Ich verstehe es trotzdem nicht«, erwiderte Shelly. »Gut, ich habe mitbekommen, dass es im Boxsport irgendwelche Schiebereien gibt. Nelson hat manchmal Gegner gewinnen lassen müssen, gegen die er normalerweise nie verloren hätte. Aber ist das denn so schlimm, nachträglich gesehen, dass deswegen Menschen sterben müssen?« »Es geht um Wettbetrug«, sagte ich. »Um eine Menge Geld also.« »Wirklich?« Shelly sah mich staunend an. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.« »Menschen wie Giaccone, Rigobello und ihresgleichen leben davon - unter anderem.« »Dann hat Nelson sie mit seiner Ankündigung in ihrem einträglichen Leben gestört?« »Und zwar heftig«, bestätigte ich. »Jemand, der solche Anschuldigungen erhebt und sie auch beweisen kann, spricht praktisch sein eigenes Todesurteil.« »Und ich konnte ihn nicht davor bewahren«, murmelte Shelly und senkte den Kopf. »Glauben Sie ernsthaft, dass Sie das geschafft hätten?«, erwiderte ich beinahe grob. Sie sah mich an. »Nein«, antwortete sie nach einem Moment. * Es war völlig still. Ich lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet, die Ohren gespitzt. Seit zwei Stunden starrte ich die Zimmerdecke an und horchte auf Geräusche, die es nicht gab. Etwas Licht fiel herein, von den Straßenlampen am Boulevard. In flachem Winkel stieg der matte Schein 69
über mich hinweg und ermöglichte mir, das Muster der Stuckornamente zu studieren. Mittlerweile war ich so weit, dass ich die Kringel und Schnörkel aus dem Gedächtnis hätte nachzeichnen können. An Schlaf war noch immer nicht zu denken. Vielleicht lag es an dieser verdammten Stille. Zu Hause, in meiner Bude an der North Clark, war Lärm mein beständiges Schlaflied. Entweder randalierte jemand im Haus, oder draußen tobte der Straßenlärm. Vielleicht fehlte mir das. Dabei war South Shore nicht so weit vom Zentrum Chicagos entfernt, dass man es ein verschlafenes Nest nennen konnte. Im Gegenteil. Das Nachtleben brodelte hier wie überall in der Riesenstadt am Lake Michigan. Doch in Ada Marianas Villa am Yates Boulevard hörte man buchstäblich nichts davon. Nicht mal die Andeutung eines Rauschens von Straßenverkehr. Kein Grölen von Betrunkenen, die es per Prohibitionsgesetz eigentlich gar nicht geben durfte. Auch von Arthur war kein Mucks zu hören. Nicht mal ein Waschbär wagte es, in sein Revier vorzudringen und mit den Mülltonnen herumzupoltern. Nichtsdestoweniger musste das Haus enorm dicke Mauern haben und auch die doppelten Fenster leisteten ihren Beitrag zum Schallschutz. Ich fuhr im Bett hoch. Was, wenn draußen der Teufel los war und ich es nicht mitkriegte? Ein Blick zum Fenster belehrte mich, dass ich auf dem falschen Dampf er war. Die beiden Doppelflügel waren angewinkelt. Ich hatte sie selbst geöffnet, um ein bisschen von der frischen Nachtluft hereinzulassen. Ich begriff. Es war der Villenpark mit seinen Büschen, Baumgruppen und Ziersträuchern, der sämtliche Geräusche von außerhalb des Grundstücks schluckte. Daher die Stille. Unter diesen Bedingungen würde ich jeden Eindringling hören. Allein deshalb, weil Arthur sofort anschlagen würde - falls es überhaupt jemand schaffte, die Einfriedung zu überwinden. * 70
Schweißgebadet erwachte ich. Bevor ich richtig begreifen konnte, dass ich tatsächlich eingeschlafen war, hörte ich Arthur. Unten im Villengarten bellte er sich fast die Kehle aus dem Hals. Schlagartig saß ich senkrecht im Bett. Der Hund war außer sich. Sein Gebell klang heiser und wild. Er war zum Angriff entschlossen. Einer wie Arthur ließ sich in dieser Entschlossenheit selbst von einem überlegenen Gegner nicht beirren. Unvermittelt krachte es dumpf. Arthurs Gebell endete jäh. Es ging in ein klägliches Winseln über. Noch einmal krachte es, dann ein drittes Mal. Erneut kehrte Stille ein. Ich war bereits aus dem Bett, schnappte mir den 38er und rannte aus dem Zimmer. Nur mit Hose und Unterhemd bekleidet stürmte ich barfuss die Treppen hinunter. Die Notbeleuchtung, kleine Lichtpunkte in Schalterhöhe, half mir bei der Orientierung. In rasender Eile kontrollierte ich den Haupteingang. Hier war noch niemand eingedrungen. Alle Schlösser, Riegel und Sicherheitsketten waren intakt. Ich hastete quer durch das Erdgeschoss. Ein Instinkt veranlasste mich, den Hinterausgang zu benutzen. Ich schloss auf und von draußen wieder ab. Dunkelheit schützte mich an der Rückseite des Hauses. Meine Augen gewöhnten sich im Handumdrehen daran. Ich lief vorbei an gemauerten Unterständen, die Mülltonnen und Gartenabfälle enthielten. Kein Waschbär tauchte auf, um die Flucht vor mir zu ergreifen. Ich fand den Durchgang, der nach vorn in den Villenpark führte. Arthurs Blockhütte, die einer Miniatur aus dem Wilden Westen glich, stand nur ein paar Yards abseits der unteren Terrasse. Hier half mir etwas von der matten Helligkeit der Lichtausläufer, die von den Straßenlampen am Boulevard stammten. Ich verlangsamte meine Schritte. Geduckt, den Revolver schussbereit, pirschte ich mich an die Hütte heran. Ich teilte einen süßlich duftenden Jasminstrauch und hatte freien Blick auf Arthurs Behausung. Nichts rührte sich, kein Laut war zu hören. Höchstens vier Schritte trennten mich noch von der Seitenwand der Hütte. Ich schlich darauf zu, bog um die Ecke, nach vorn. Und da sah ich ihn. Leblos lag er auf der Seite, die Beine von sich gestreckt. Blut sickerte an mindestens zwei Stellen aus dem schwarz71
braunen Fell. Die Zunge hing aus dem geöffneten Maul. Arthur war unmittelbar vor dem Eingang zu seiner Hütte erschossen worden. Ich schlich weiter. Immerhin war es denkbar, dass Arthur die Eindringlinge durch sein Gebell vertrieben hatte. Denkbar schon, revidierte ich diese Erkenntnis in Gedanken, aber wenig wahrscheinlich. Zum Boulevard hin fiel das Gartengelände leicht ab, bis hin zu einer Mulde hinter Buschwerk und einer Gruppe von Platanen. Aus der Mulde erhob sich ein weiterer kleiner Hügel, der zugleich als natürliche Barriere vor dem Straßenlärm fungierte. Ich bewegte mich auf die Büsche zu, als ich einen Schatten bemerkte. Es war nicht mehr als ein Huschen, dort, jenseits des etwa hüfthohen Gebüschs. Der Schatten schnellte hinter einen Baumstamm und erzeugte dabei einen matten Reflex, wie er nur von Waffenstahl hervorgerufen wird. Ich warf mich nach vorn. Ein Blitz zuckte auf. Im Fallen spürte ich das Sengen des Geschosses. Es war, als würde es mir einen Scheitel ziehen. Das Krachen des Schusses hallte durch den Park. Es war die Waffe, die ich schon gehört hatte. Verdammt, ich hatte den Bastard vor mir, der Arthur erschossen hatte. Ich verspürte grimmige Entschlossenheit, als ich auf dem weichen Grasboden landete. Sofort rollte ich mich nach links ab. Ich tat verdammt gut daran, denn die zweite Kugel hieb genau dort in den Boden, wo ich eben noch gelegen hatte. Es fühlte sich an, als hätte neben mir jemand einen Vorschlaghammer auf die Erde krachen lassen. Augenblicklich katapultierte ich mich zu einem flachen Sprung hoch. Ich feuerte, den 38er beidhändig nach vorn gereckt. Das Mündungsfeuer stach exakt in die Richtung, in der ich eben noch das Aufblitzen der gegnerischen Waffe gesehen hatte. Ich glaubte, einen Schmerzenslaut zu hören, fast einen kleinen Schrei. Noch bevor der Schuss verhallte, lag ich wieder auf dem Boden. Mein Gegner erwiderte das Feuer nicht. Es konnte ein Trick sein. Ich hatte nicht vor, darauf hereinzufallen. Ich robbte durch das Gebüsch, verursachte so wenig Geräusche wie möglich dabei und schlug einen Bogen, statt direkt auf die Stelle zuzuhalten, an der ich den Angeschossenen vermutete. Dann, als ich die Büsche hinter mir ließ, sah 72
ich die dunkle, zusammen gekrümmte Gestalt am Boden liegen - am Fuß des Baumstamms, den er als Deckung benutzt hatte. Der Mann rührte sich nicht mehr. Im selben Moment hörte ich das Motorgeräusch eines Autos. Ich wirbelte herum und erblickte Scheinwerferlicht - nur den oberen Teil der beiden Lichtkegel, wie sie vom Boulevard her die Einfahrt entlang glitten und sich mit hoher Geschwindigkeit dem Haus näherten. Fluchend rannte ich los, Richtung Vordereingang. Hölle und Teufel, die Mistkerle hatten mich hereingelegt. Oder etwa nicht? Ich sprintete durch Bodenmulden, vorbei an Büschen und über Rasenflächen. Ich war rechtzeitig zur Stelle, um den Wagen, einen Marmon, auf dem Vorplatz der Villa wenden zu sehen. Die Außenlampe war eingeschaltet. Überflüssig, sich das Kennzeichen einzuprägen. Gangster benutzten niemals Fahrzeuge, die auf ihren eigenen Namen registriert waren. Das Geschehen spulte sich innerhalb von Sekunden ab. In dem Auto saß nur der Fahrer. Als er den Wagen mit dem Kühler in Richtung Boulevard zum Stehen brachte, flog die Haustür auf. Mir stockte der Atem. Drei Männer kamen heraus. Zwei von ihnen hielten Shelly gepackt. Sie konnte sich nicht mehr wehren, denn sie hatten ihr die Arme auf den Rücken gefesselt. Dass sie nicht um Hilfe schrie, lag an dem Knebel, den sie ihr in den Mund gestopft und mit einem hinter dem Nacken verknoteten Tuch gesichert hatten. Der dritte Gangster war mit einer Tommy-Gun bewaffnet. Auf dem kurzen Weg zu dem Marmon zerschoss er die Reifen meines Plymouth, der an der Seite des Vorplatzes stand. Mir platzte der Kragen. Ich stieß den Revolver über die kniehohe gemauerte Beeteinfassung, hinter der ich Deckung gefunden hatte und brüllte, was meine Stimmbänder hergaben. »Halt, stehen bleiben! Hände hoch!« Zur Untermalung jagte ich einen Warnschuss über die Köpfe der Mistkerle hinweg. Das wirkte - allerdings nicht ganz so, wie ich es mir gedacht hatte. Der mit der Tommy-Gun machte einen Sprung zur Seite und verharrte breitbeinig und geduckt. Die vollautomatische Waffe hämmerte. 73
Die ersten Mündungsblitze sah ich noch, auch, dass die beiden anderen Männer Shelly hinter den Wagen zerrten. Dann war ich gezwungen, abzutauchen. Denn die Schüsse der Tommy-Gun lagen ungeheuer genau. Die Kugeln prasselten in das Hochbeet, das meine Deckung war. Mauerbrocken, Erdklumpen und Pflanzenfetzen flogen in einem Schwall über mich hinweg. Ich hätte mir selbst in den Hintern treten können. Warum, zum Teufel, hatte ich mir den Luxus dieses Warnschusses geleistet? Warum hatte ich den Burschen mit der Tommy-Gun nicht sofort erschossen? Das wäre meine einzige Chance gewesen, Shelly zu befreien. Jetzt aber, da ich in Deckung gezwungen war, hatten die Entführer Zeit, sie in den Wagen zu stoßen und davonzujagen. So viel Zeit jedenfalls, wie ein Trommelmagazin mit 50 Patronen brauchte, um leer geschossen zu werden. Als das Rattern der Tommy-Gun endete, hielt ich meinen Augenblick für gekommen. Blitzartig kam ich hoch, nur ein Stück über das verwüstete Blumenbeet. Den 38er im Anschlag, erfasste ich die Lage in der nächsten Sekunde. Der MPI-Gangster war auf den Beifahrersitz gesprungen. Der Mann am Lenkrad gab Gas. Ich sah Shellys blondes Haar in der Dunkelheit im Fond des Wagens. Ich krümmte den Zeigefinger um den Abzug, als der Beifahrer die Tür zugeknallt hatte und die Tommy-Gun durch das offene Fenster stieß. Diesmal war ich schneller. Meine Kugel erwischte ihn voll und schleuderte ihn in den Wagen, mitsamt MPI, auf den Fahrer zu. Doch der ließ sich nicht beirren. Vermutlich in zahllosen Straßenschlachten gestählt, duckte er sich über das Lenkrad und gab Vollgas. Mit fünf Personen besetzt, war der Marmon nicht gerade ein Musterbeispiel für Rasanz, aber er beschleunigte immerhin. Ich sprang hinter dem Beet auf und rannte hinterher. Doch der schneller werdende Wagen hängte mich ab, trotz der Kugeln, die ich ihm hinterher jagte. Ich hatte es mit den denkbar widrigsten Umständen zu tun. Zwischen Villa und Boulevard durchfuhr der Marmon eine Senke, in der es fast stockfinster war. Dann, als das Licht der Straßenlampen mir hätte helfen können, war der Wagen mehr als 30 Yard von mir entfernt. Unmöglich, jetzt noch die Reifen zu zerschie74
ßen. Mit einem kurzläufigen Revolver ist es schon der pure Glücksfall, auf mehr als zehn Yard ein Scheunentor zu treffen. Trotzdem dachte ich nicht ans Aufgeben. Ich schoss ich die Trommel leer und lud im Laufen nach. Die Vorstellung, Shelly ihren Entführern zu überlassen, brachte mich fast um. Denn damit geschah genau das, was ich hatte verhindern wollen. Ich baute darauf, dass die Gangster am Tor noch einmal anhalten würden. Nachdem sie es aufgebrochen hatten und auf das Grundstück vorgedrungen waren, hatten sie es bestimmt provisorisch wieder geschlossen, damit es nicht auffiel. Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Als ich die letzte kleine Anhöhe des Gartens überwand, sah ich den Marmon gerade noch zwischen den Torpfeilern, wie er nach links auf den Boulevard einbog. Sie hatten das Tor offen stehen lassen. Ich lief hinunter bis auf den Bürgersteig und spähte in die Fahrtrichtung der Entführer. Zwecklos. Ich ließ die Waffe sinken und stand mit hängenden Schultern da. Es waren immer noch zu viele Nachtschwärmer unterwegs, um ein bestimmtes Paar Rücklichter von den anderen zu unterscheiden. Und selbst wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte es weder Shelly noch mir auch nur das Geringste genützt. Weil ich zu Fuß wohl kaum die Verfolgung aufnehmen konnte. Niedergeschlagen und müde machte ich kehrt. Das Tor war nicht mit einer Brechstange geöffnet worden, sondern mit Werkzeug. Ich konnte Kratzspuren erkennen. Doch was nützte mir diese Feststellung jetzt noch? Ich fühlte mich kraftlos. Es fiel mir schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Doch nun würde ich erst recht keinen Schlaf mehr finden. Solange Shelly sich in der Gewalt der Gangster befand, würde ich kein Auge mehr zubekommen. Danny O'Rourke! O verflucht, was hatten sie mit ihm gemacht? Warum hatten sie ihn nicht auch entführt? Hatten sie ihn...? Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Alle Müdigkeit fiel schlagartig von mir ab. Mit Riesensätzen rannte ich los. Dass die Haustür auf die gleiche fachmännische Weise geöffnet worden war wie das Tor, interessierte mich nicht mal am Rande. Ich brauchte keine 20 75
Sekunden, um den zweiten Stock zu erreichen, die Etage der Gästezimmer. Als ich die Tür zu Dannys Schlafgemach aufstieß, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Den 38er in der Rechten, schaltete ich das Licht ein. Das Bett war leer. Das ganze Zimmer war leer. Nicht mal unter dem Bett hatte Dannyboy sich verkrochen. Bestenfalls hätte er sich noch hinter dem kleinen Schreibtisch verstecken können. Aber auch dort fand ich ihn nicht. * Ich benutzte ein Telefon im Erdgeschoss, um Brendon zu alarmieren. Nach einem herzerweichenden Gähnen war er augenblicklich hellwach, als er meine Stimme hörte. Stichworte genügten zur Schnellinformation. Ich befand mich in einem Arbeitszimmer. Das Telefon stand auf einem Schreibtisch, an dem Ada Mariana vermutlich ihre Fanpost erledigte. Stapel von Briefen lagen säuberlich geordnet nebeneinander, mit kleinen Marmorquadern beschwert. »Ich verständige die Polizei«, entschied Brendon. Kein Wort des Vorwurfs kam von ihm. »Vier Mann, sagst du?« »Jetzt sind es nur noch drei. Wenn wir den Hundekiller mitrechnen, waren es ursprünglich fünf.« »Und Danny O'Rourke? Hast du das Haus schon durchsucht?« »Nur sein Zimmer. Aber ich mache mich sofort an die Arbeit. Bis der Wagen, den du mir schickst, hier ist, werde ich es geschafft haben.« »Ah, gut, dass ich das erfahre.« »Ich dachte, der Kurzhinweis ›Plymouth-Reifen zerschossen‹ hätte genügt.« »Menschenskind, Pat, was erwartest du von einem alten Mann, den du mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt?« »Du und alt? Soll das ein Witz sein? Du bist doch erst 55.« »20 Jahre älter als du. Ich könnte dein Vater sein. Aber okay, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Das Auto für dich ist praktisch unter76
wegs. Die Cops ebenfalls. Und falls du unseren Freund O'Rourke lebend findest, tritt ihm von mir in den Hintern.« »Wird erledigt.« »Und sag ihm, dass ich ihn morgen nach New York zurückschicken werde.« Ich versprach auch das und legte auf. »Was machen wir denn jetzt bloß?«, fragte eine verzweifelte Stimme von der Tür her. Ich fuhr herum. Dannyboy stand auf der Schwelle, mit zerzaustem Haar und halb bekleidet wie ich. »Verdammt noch mal!«, schrie ich ihn an. »Langsam reicht es mir mit Ihnen!« Seine Reaktion war unerwartet. Statt die Klappe aufzureißen, senkte er schuldbewusst den Kopf. »Ich hab mich versteckt«, gab er kleinlaut zu. »Oben in der Besenkammer.« »Umdrehen«, knurrte ich. »Wie bitte?« Er blinzelte begriffsstutzig. »Vergessen Sie es«, erwiderte ich. »Aber falls Brendon Smith danach fragt, habe ich Ihnen einen Tritt in den Hintern verpasst. Das hat er mir gerade aufgetragen.« »Verdient hätte ich es«, antwortete er niedergeschmettert. »Danke für die Nachsicht.« »Blödsinn«, sagte ich grollend. »Das ist keine Nachsicht, sondern Vorsicht. Treten Sie mal jemanden barfuss. Ich habe keine Lust, mir die Zehen zu brechen.« Er nickte und grinste ein bisschen, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich verzeihe mir das nie. Statt Shelly zu beschützen, verkrieche ich mich wie ein Kind.« »Spinnen Sie nicht herum«, entgegnete ich grob. »Die Kerle hätten Sie umgelegt. Auf der Stelle.« »Aber Sie hatten doch keine Angst vor denen. Ich habe die Schüsse gehört.« »Genützt hat es nichts«, erklärte ich. »Also machen wir uns nichts vor. Wir stecken tief in der Scheiße.« 77
Er seufzte tief. »Ich werde Shelly nie wieder unter die Augen treten können.« »Keine Sorge«, sagte ich und grinste breit. »Morgen zittern Sie ab in die Heimat.« »Waaas?« »Haben Sie mich nicht verstanden?« »Doch, schon. Aber ich kapier's nicht. Wieso will Mister Smith mich nach New York zurückschicken?« »Weil er die Schnauze voll hat von Ihnen. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen, oder?« Statt einer Antwort senkte er abermals den Kopf. Ich beobachtete es staunend. Noch vor wenigen Stunden hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich mit dem Jungen eine solche Wandlung vollziehen würde. Doch für Mitleid war keine Zeit. Solange Shelly Prudence in der Gewalt der Gangster war, würde es keine ruhige Minute für mich geben. In der Villa und im Garten gab es für Danny und mich nichts mehr zu tun. Deshalb trabten wir die Einfahrt hinunter und stellten uns in den Schatten der Torpfeiler, sodass wir von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Ich wusste nicht, wie diensteifrig die Beamten vom zuständigen Polizeirevier waren. Sie mussten nicht unbedingt über uns stolpern. Ich erklärte es Danny, damit er kapierte, weshalb es besser für uns war, wenn wir uns unsichtbar machten. Besagter Diensteifer der Cops hatte manchmal unkalkulierbare Folgen. Wir befanden uns allein mit einer Leiche auf einem Anwesen, dessen Einfahrtstor aufgebrochen worden war. Auch die Haustür war ohne einen passenden Schlüssel geöffnet worden. Hinzu kam, dass die berühmte Eigentümerin der Villa sich in Kalifornien aufhielt. Alles zusammen konnte durchaus dazu führen, dass die Cops Danny und mich erst einmal festnahmen, bevor sie Fragen stellten. Die Wartezeit dehnte sich scheinbar endlos. Danny und ich rauchten im Schutz der Pfeiler und sahen abwechselnd nach, ob jemand im Anmarsch war. Mit jeder Minute wurde ich nervöser. Denn jede Minute, die ungenutzt verstrich, erhöhte das Risiko für Shelly. Die Zeit fing an, mir unter den Nägeln zu brennen. Denn ich hatte längst einen Plan 78
entwickelt. Wenn ich ihn endlich in die Tat umsetzen konnte, würde ich in der Lage sein, Giaccone und seinen Halunken Feuer unter dem Hintern zu machen. Dass sie es waren, die hinter der Entführung standen, war für mich so sicher wie das Amen in der Kirche. Endlich scherten zwei Scheinwerferpaare von den Fahrspuren aus und glitten auf die Einfahrt zu. Schon von weitem sahen wir, dass es keine Polizeifahrzeuge waren. Die Cops waren vermutlich anderweitig beschäftigt. In dem ersten Wagen, einem Dodge, saß Brendon am Steuer. Er stoppte zwischen den Torpfeilern und kurbelte das Fenster herunter. »Kommst du mit der Kiste klar?«, fragte er zwinkernd und deutete nach hinten. Am Fahrbahnrand rollte ein schwarzer Plymouth aus. Der Fahrer, ein Redaktionskollege von Brendon, stieg aus und ließ den Motor laufen. »Kein Problem«, sagte ich und bedankte mich bei meinem Freund. »Danny ist wieder aufgetaucht«, fügte ich hinzu. Ich trat ein Stück zur Seite, damit Brendon den Jungen sehen konnte, der noch beim Torpfeiler stand und am liebsten in den Erdboden versunken wäre. Mit todernster Miene fügte ich hinzu: »Willst du ihn sofort in den Nachtzug setzen? Nach New York?« »Was denn sonst?«, ging Brendon auf mein Spiel ein. Ich sah Dannys entsetztes Gesicht und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Vielleicht könntest du ihn mir noch mal kurz ausleihen«, sagte ich. »Aber diesmal steht er unter meinem Kommando. Das hätte für eure Zeitung den Vorteil, dass er einen exklusiven Bericht darüber schreiben kann, was jetzt abläuft - auch wenn er kein Polizeireporter ist.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Brendon scheinbar zweifelnd. »Na los«, drängte ich. »Gib ihm eine Chance.« »Weil du es bist«, seufzte Brendon, blickte an mir vorbei und rief schneidend: »O'Rourke!« »Ja, Sir!«, antwortete Danny und eilte herbei. 79
»Sie unterstehen ab sofort dem Kommando von Pat Connor. Verstanden?«, erklärte Brendon fast militärisch. »Ja, Sir!«, rief der Junge freudestrahlend und stand stramm. Allen Ernstes. Fast hätte er auch noch salutiert. Als wir in den Plymouth umstiegen und losfuhren, sah ich den ersten Polizeiwagen im Rückspiegel. Ich machte mir keine Sorgen mehr. Brendon würde die notwendigen Erklärungen abgeben. Einzig wichtig war für mich, was vor uns lag. Bislang war eine Stunde vergangen, seit die Gangster Shelly entführt hatten. In dieser kurzen Zeit hatten sie noch keine große Auswahl an Verstecken, die sie aufsuchen konnten. Andererseits konnten sie nicht ewig mit ihr durch die Gegend fahren, denn noch vor dem Morgengrauen würde die Fahndung nach Shelly angelaufen sein. Dann mussten die Entführer bei jeder Polizeikontrolle mit der Festnahme rechnen. »Wohin fahren wir?«, fragte Dannyboy. »Zu Marvin Langdon«, antwortete ich. Überrascht sah er mich an. »Glauben Sie, dass die Gangster Shelly in der Boxschule verstecken?« »Nein«, erwiderte ich und erklärte ihm, was möglicherweise geschehen würde. »Das glaube ich nicht«, sagte er fassungslos. »Dann belassen Sie es dabei. Sie dürfen sich nichts anmerken lassen. Okay?« Er nickte entschlossen. »Okay.« Ich fügte hinzu: »Im entscheidenden Moment könnte es auf Sie ankommen, Danny. Verpatzen Sie es nicht. Ich muss mich auf Sie verlassen können. Wenn es geht, halte ich Sie aus allem heraus. Wenn nicht - denken Sie immer daran, dass Shellys Leben auf dem Spiel steht.« Ernickte abermals. Im Augenwinkel sah ich, wie er in eiserner Entschlossenheit die Lippen zusammenpresste. Da wusste ich, dass ich mich auf ihn verlassen konnte. Ich parkte den Leih-Plymouth vor der Boxschule und wir klingelten Marvin Langdon aus dem Bett. Er hatte eine Wohnung hinten, im ersten Stock des Gebäudes. Verschlafen, in einen Hausmantel gehüllt, 80
kam er an die Tür, die in einen Korridor neben der Halle führte. Er ließ die Sicherungskette vorgehängt, öffnete die Tür nur einen Spalt. An Danny konnte er sich erinnern, an mich nicht. Ich erklärte, um was es ging. Langdons Reaktion fiel exakt so aus, wie ich es erwartet hatte. Er bot seine Hilfe an. »Kommen Sie herein«, bat er. »Ich ziehe mir nur schnell was an.« Wir folgten seiner Aufforderung. Langdon war ein untersetzter Mann mit Halbglatze. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. In seinem dunklen Haarkranz war noch kein Grau zu erkennen. Während wir die Treppe am Ende des Korridors hinaufstiegen, erklärte er uns, wo wir Shelly mit größter Wahrscheinlichkeit finden würden. Ich hatte es nicht anders erwartet. Danny dagegen sah mich ungläubig an, als wir den Treppenabsatz erreichten. Ich nickte ihm zu und signalisierte ihm mit einem Lidschlag, dass alles seine Ordnung hatte - so, wie ich es ihm erklärt hatte. Während Langdon sich ankleidete, benutzte ich sein Telefon. Ich erreichte Brendon in der Villa und sagte ihm, wohin wir fahren würden. Gleich darauf kam Langdon ins Wohnzimmer zurück. Während wir uns auf den Weg machten, stellte ich ihm die Frage, von der ich wusste, dass sie Danny auf der Zunge lag. »Warum tun Sie das für uns, Mister Langdon?« »Weil ich es meinem alten Freund Nelson schuldig bin«, antwortete er ohne Zögern. * Lautlos glitt unser Ruderboot durch die Dunkelheit. Danny machte seine Sache gut. Er bediente die Riemen äußerst geschickt; beim Eintauchen in die spiegelglatte Wasserfläche des Lake Michigan verursachten die Ruderblätter nur von Zeit zu Zeit ein leises Gurgeln. Wir hielten auf den Jachthafen zu, der sich in einer kleinen Bucht des 31st Street Beach befand. Ich saß im Bugraum des Boots, nach vorn gewandt. Linker Hand erstreckte sich das Ufer mit der Laternenkette des Lake Shore Drive und dahinter das nachtdunkle Panorama der Stadt. Noch immer brannten viele Lichter; die meisten gingen die ganze Nacht 81
nicht aus. Marvin Langdon hatte den Platz auf der Achterducht eingenommen und gab leise die Richtung an. Auch das Boot hatte Langdon uns besorgt. Es stammte von einem Verleiher ganz in der Nähe, der während der Sommermonate in seinem Bootshaus am Ufer übernachtete. Mittlerweile hatten wir uns dem Jachthafen bis auf 50 Yard genähert. Wohlweislich hatten wir den Umweg über das Wasser gewählt. Von Land her wäre es wesentlich schwieriger gewesen, unser Ziel unbehelligt zu erreichen. Möglicherweise hatte Giaccone am Ufer sogar Wachtposten aufgestellt. »Da liegt sie«, flüsterte Langdon. »Die Estrella. Das ist die erste Jacht am mittleren Steg, auf der rechten Seite.« Ich hatte keine Mühe, das schnittige weiße Schiff zu erkennen. Ein wenig Licht fiel von den Laternen am Ufer herüber. Die Estrella war eine Segeljacht. In der Kajüte brannte Licht. Trotz der zugezogenen Vorhänge schimmerte es durch ein paar Ritzen. An Deck war niemand zu sehen. Der Inhaber der Boxschule schien mit seiner Mutmaßung Recht zu haben. Anthony Giaccone war der Eigner dieser Jacht und es war der geeignetste Ort, um die Entführte zu verstecken. Giaccone und seine Komplizen würden Shelly zwingen, ihnen zu sagen, wie viel Nelson LaRossa ihr gegenüber von seinem Wissen preisgegeben hatte. Eventuell würden die Gangster sie dann noch als Geisel verwenden, um Danny O'Rourke zu zwingen, sich ihnen auszuliefern. Und dann, wenn Shelly nicht mehr gebraucht wurde, mussten die Mistkerle nur kurz auf den See hinaussegeln, um ihre Gefangene zu den Fischen zu schicken. Ich würde mein eigenes Leben einsetzen, um sie daran zu hindern. Danny ruderte das Boot vorsichtig bis ans Ende des Stegs. Langdon und ich gaben abwechselnd Richtungsanweisungen, weil der Junge ja mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß. Ich streckte die Hände aus, damit wir nicht an die Pfähle stießen. Danny zog die Riemen ein und mit dem letzten Schwung glitten wir auf das Heck der Estrella zu. Ich bremste unsere nur noch schwache Fahrt auch hier mit den Handflächen und benutzte die Bugleine unseres Boots, um es an einer Relingverstrebung der Jacht zu vertäuen. 82
Ich hob die Hand und richtete den Daumen nach oben. Danny und Marvin Langdon erwiderten mein Zeichen. Ich verlor keine Zeit, stieg auf den Bug und zog mich an der Reling der Estrella hoch. Einen Augenblick später stand ich auf den Decksplanken, ohne auch nur das leiseste Geräusch verursacht zu haben. Ich horchte. Gedämpft waren Stimmen aus der Kajüte zu hören. Ich glaubte, auch eine weibliche Stimme zu vernehmen. Es schienen Schmerzenslaute zu sein, die Shelly ausstieß. Aber ich war mir nicht sicher. Vielleicht gaukelten meine Sinne es mir vor, ausgelöst durch die Anspannung meiner Nerven. So oder so - Shelly schwebte in größter Gefahr. Ich zog den Revolver und vergewisserte mich, dass ich alle Trommelkammern nachgeladen hatte. Ich schlich auf die Kajüte zu. Die Achterdecksaufbauten würden mir notfalls Sichtschutz bieten. Zwei hüfthohe weiße Kästen waren es, in denen vermutlich Taue oder anderes nautisches Zeug aufbewahrt wurde. Ich hatte nicht mehr als zwei Schritte geschafft, als der Notfall eintrat. Die Tür der Kajüte schwang auf. Licht flutete heraus, die Stimmen verstummten. »... frische Luft«, sagte der, der herauskam. »Ihr macht weiter mit ihr.« Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich glaubte, die Stimme erkannt zu haben. Und mit ›ihr‹ konnte niemand anders als Shelly gemeint sein. Während die Tür zufiel, spannte ich die Muskeln und riskierte einen vorsichtigen Blick über den weißen Kasten hinweg. Anthony Giaccone stand noch halb zur Kajüte gewandt. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Streichholzflamme erhellte die untere Hälfte seines kantigen Gesichts. Deutlich war die Messernarbe zu erkennen, die von der Unterlippe senkrecht zum Kinn hinunter verlief. Giaccone war schwarzhaarig, mittelgroß und athletisch gebaut. Er trug einen weißen Sommeranzug. Ich war sicher, dass sich unter dem Jackett eine Waffe verbarg. In der Kajüte befanden sich mindestens zwei Gangster, wenn ich davon ausging, dass der Fahrer des Marmon den Auftrag erhalten hatte, die Leiche ihres Komplizen zu beseitigen. 83
Ich handelte, als Giaccone das Streichholz ins Wasser schleuderte und die ersten kleinen Rauchwolken in die Abendluft paffte. Ich schnellte hinter dem Kasten hervor und war mit zwei Sätzen bei dem Mann. Er hörte mich noch, zu spät jedoch. Als er herumwirbeln wollte, schlang ich ihm den linken Arm um den Hals - gnadenlos und mit aller Kraft. Er musste das Gefühl haben, in eine Eisenklammer geraten zu sein. Entscheidender war für ihn aber das zusätzliche Gefühl, das ihn erstarren ließ. Es wurde verursacht durch den kurzen Revolverlauf, den ich ihm ins Ohr steckte. Er wagte nicht, auch nur den kleinen Finger zu rühren. »Eine Bewegung«, zischte ich, »und du bist Fischfutter, Giaccone.« »Connor«, wisperte er zurück. »Du verfluchter Hund.« Es klang beinahe anerkennend. »All right«, entgegnete ich halblaut. »Nachdem wir die Formalitäten erledigt haben, kommen wir zur Sache.« Ich drehte mich ein Stück mit ihm, sodass ich Danny und Langdon im Boot sehen konnte. »Du wirst deinen Leuten jetzt befehlen...« »Schlag dir das aus dem Kopf, Connor!«, ertönte eine schneidende Stimme von der Wasserseite her. »Weg mit der Waffe!« Giaccone wagte dennoch nicht zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen. Und ich dachte nicht daran, den Befehl des Boxschuleninhabers zu befolgen. Langdon richtete sich im Bootsheck auf. Seine Rechte fuhr unter das Jackett und brachte einen Revolver zum Vorschein. Langdon hatte mich und Giaccone im Auge, doch er achtete nicht auf Danny. Der Junge tat, was er tun musste. Ich hatte es ihm eindringlich genug eingeschärft. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, was genau er tun musste. Doch jetzt wusste er es. 84
Noch während Langdon sich aufrichtete, hatte Danny einen der beiden Riemen gepackt. Jetzt, als Langdon den Revolver hob, um ihn in Anschlag zu bringen, schnellte das Ruderblatt hoch. Hart traf es das Handgelenk des untersetzten Mannes. Er schrie vor Wut und Schmerz. Die Waffe flog in hohem Bogen davon und klatschte ins Wasser. Danny ließ es nicht dabei bewenden. Ruckartig zog er den Riemen zurück und stieß im nächsten Moment zu wie mit einer Lanze. Die Unterkante des Ruderblatts traf ihn mit voller Wucht vor die Brust. Vergeblich ruderte er mit den Armen. Brüllend vor Wut kippte Langdon hintenüber, tauchte klatschend ins Wasser. Erst als es über ihm zusammenschlug, verstummte sein Gebrüll. Schritte näherten sich dröhnend auf den Planken des Bootsstegs. Trillerpfeifen gellten. Die Kajüttür flog auf und einer der Kerle, die Shelly verschleppt hatten, steckte den Kopf heraus. »Bringt die Frau heraus!«, rief ich schneidend. »Oder er stirbt!« »Tut, was er sagt«, befahl Anthony Giaccone gequält. Die Gangster gehorchten. Shelly war noch gefesselt, als sie sie an Deck brachten. In das ungläubige Staunen in ihrem Gesicht mischte sich Erleichterung, als sie mich sah. Im nächsten Augenblick wimmelte es auf dem Steg bereits von Uniformen. Die Cops machten ihre Arbeit - unter den Augen der anwesenden Journalisten. Brendon und sein Redaktionskollege kamen an Bord, gleich darauf auch Captain Hollyfield, als zwei Beamte mir Giaccone abnahmen und auch die beiden Gangster aus der Kajüte abführten. Danny enterte vom Ruderboot her auf, während weitere Cops den Inhaber der Boxschule aus dem Wasser zogen. Ich befreite Shelly von den Fesseln und sie umarmte mich stürmisch. Brendon klopfte Danny auf die Schulter und sagte ihm, dass er vorerst nicht zurück nach New York müsse. Auf dem Steg, neben der Jacht, blieben die Cops mit dem triefnassen Marvin Langdon stehen. Ein paar Schritte entfernt erschien Lieutenant Quirrer. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte er Anthony Giaccone nach, der soeben abgeführt wurde. 85
»Das war wohl nichts, Connor!«, rief Quirrer höhnisch. »Giaccone bestreitet, Nelson LaRossa umgebracht zu haben. Er sagt, er hat ein Alibi. Und komischerweise glaube ich ihm.« »Das ist gar nicht komisch«, antwortete ich. »Giaccone ist wegen Entführung dran. Und der Mörder Nelson LaRossas steht hier!« Ich zeigte auf Marvin Langdon. Schlagartig verstummten alle Gespräche. Alle Blicke richteten sich auf den untersetzten Mann mit der Halbglatze. Resignierend senkte er den Kopf. »Das wird eine Schlagzeile!«, rief Danny O'Rourke begeistert. »Pat Connor hat mir alles erklärt. Wir sind zur Boxschule gefahren, um herauszufinden, wie Langdon reagieren würde. Wie von Pat erwartet, hat er uns den Aufenthaltsort Shellys verraten und war sogar bereit, uns hinzuführen. Im entscheidenden Moment, so sagte Pat, würde sich Langdon entweder auf unsere oder auf Giaccones Seite schlagen. Er hat sich für Letzteren entschieden, weil die Polizei noch nicht hier war. Deshalb hat er gehofft, Giaccone würde ihn weiterhin decken können. Wenn sie es geschafft hätten, Pat und mich auszuschalten, wäre es wohl auch so gekommen. Wir waren ja nur zu zweit.« Brendon sah mich an. »Wie bist du bloß darauf gekommen, dass Langdon es war?« »Die Boxschule lief schlecht«, antwortete ich. »Vermutlich so schlecht, dass Giaccone sie schließen wollte. Nelson hat davon erfahren und mit der Zeitungsveröffentlichung gedroht, als er nachts in der Schule auftauchte, die seinen Namen trug. Da hat Langdon gehandelt, um seinem Geldgeber Giaccone einen Gefallen zu tun. Die Tatwaffe liegt da drüben auf Grund.« Ich deutete auf die Wasserfläche hinter dem Steg. »Als Langdon Giaccone anrief, um sich mit seiner Tat zu brüsten, hat dieser zur Unterstützung ein paar Männer geschickt, damit sie den Toten gemeinsam in die Seile flechten konnten.« Atemlose Stille war eingekehrt. Und Marvin Langdon widersprach nicht. Es war ein stummes Geständnis. Ende 86