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Hans Siebe
TÖDLICHER TRICK In dem Zirkuszelt klangen die Zimbeln zur Amboßpolka, dazu Pferdetrappeln, Peitschenkn...
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Hans Siebe
TÖDLICHER TRICK In dem Zirkuszelt klangen die Zimbeln zur Amboßpolka, dazu Pferdetrappeln, Peitschenknallen und das rhythmische Geläut der Schellen an den Prunkgeschirren. Die Musik brach ab. Beifall brandete auf, danach setzten wieder Musik und Schellenklang ein. Die Nachmittagsvorstellung des volkseigenen »Zirkus Hansa« war gut besucht; seit drei Tagen stand das Rundzelt auf der Schäferwiese, und an den vier Masten flatterten die bunten Wimpel im Wind. Zur Abendvorstellung leuchteten dann noch die Glühlampenketten wie aufgereihte Perlen. Die Wohnwagen bildeten ein Karree, in dessen Mitte die Stallzelte standen, aus denen Pferdeschnauben, Kettenklirren und Tierlaute drangen; abseits davon waren die Käfigwagen mit den Löwen, Tigern und zwei zotteligen Hyänen abgestellt. Im letzten Raubtierkäfig hausten die drei Bären der Kardosgruppe. Hinter der Gardine des Direktionswagens zeichnete sich die massige Silhouette Direktor Glaubtreus ab, des Prinzipals, wie die älteren Artisten ihn nannten. Vom Bärenwagen kommend, strebte eine Gestalt zögernden Schrittes dem Zelteingang zu. Dort teilte sich die Plane, und die zwölf Schecken preschten übermütig heraus und in den Stallgang hinüber. Micha Kardos preßte sich an die Zeltwand. Der scharfe Geruch heißer Pferdeleiber drang ihm in die Nase. Die Amboßpolka brach ab. Aus den Lautsprechern kündigte die Ansagerin die Paulis an: »Vier reizende junge Damen und ein Trampolin!« Der Auftrittsapplaus verebbte. Die Kapelle spielte einen Paso doble.
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Körber, der Inspizient, klein und hager, seines sprunghaften Ganges wegen mit dem Scherznamen »Känguruh« bedacht, blickte über seine Brille hinweg auf die Gestalt im blauen Arbeitsanzug und starrte sie ungläubig an. »Was denn, noch nicht in Kluft?« fragte er. Micha Kardos sah ausdruckslos an ihm vorbei. Durch einen Vorhangspalt blickte er in die Manege, auf das in grelles Scheinwerferlicht getauchte Trampolin und die geschmeidig federnden Artistinnen in den silbern glitzernden Kostümen. Kardos hatte die ausdruckslose Miene mit seinen Bären gemein, von seinem Gesicht war selten eine Gemütsregung abzulesen. Wenn er seine Bären vorführte, trug Kardos eine Phantasieuniform, rote Stiefel, weiße Pluderhosen, eine mit goldenen Schnüren besetzte, scharlachfarbige Litewka und eine weiße Tscherkessenmütze. In seinem blauen Arbeitsdrillich unterschied er sich nicht von den Stallarbeitern. »Ich habe ein Problem, Harry!« Kardos’ Stimme klang so ausdruckslos, wie seine Miene leer wirkte. »Lida ist noch nicht da, sie ist mit dem Auto weg!« »Wohin?« fragte Körber, doch es blieb eine Floskel, mit seinen Gedanken war er längst wieder beim Programm, nach den Paulis waren »Kapitän Cox« und seine jonglierenden Seelöwen an der Reihe. »Ich weiß nicht, wo sie hin ist«, sagte Kardos mit seinem harten Akzent. »Ich muß schmeißen, Harry, ohne Lida, das geht doch nicht!« Im Chapiteau rauschte der Beifall, im Gang wartete Cox in seiner Kapitänsuniform mit seinen Seelöwen; Körber wußte, daß Paul Kleinschmidt, so sein bürgerlicher Name, noch niemals die Planken eines Seeschiffes betreten hatte. »Euer Škoda, das ist doch der letzte Husten!« behauptete der Inspizient und lachte ärgerlich. Er wußte, daß Kardos’ Sparsamkeit schuld daran war, daß sie noch immer den alten Octavia fuhren. »Lida liegt irgendwo fest! Sie kommt schon noch!« Körber verfluchte wieder einmal den Tag, an dem er für den erkrankten Inspizienten eingesprungen war. Das geschah etliche Wochen nach seinem Sturz; der Arzt hatte ihm gesagt, daß der Fuß steif bleiben würde, an Balance auf dem Drahtseil war nicht mehr zu denken. Andererseits erschien ihm ein Leben ohne Zirkus unvorstellbar, er brauchte die Manegenluft, den Raubtierdunst und die unverwechselbaren Geräusche: Löwenbrüllen, Elefantentrompeten, Pferdegetrappel, den Beifall und die Musik.
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»Ich bin um halb neun in die Stadt gegangen, zum Zahnarzt«, sagte Kardos, »da hat sie noch geschlafen.« Wie ist die rassige Schönheit Lida mit dem Aussehen einer Südländerin, obwohl sie in Senftenberg zu Hause war, an den grobknochigen, schwerfälligen Mann geraten, dachte Körber wie schon oft. Sie war ein energisches Persönchen, dem man nachsagte, Micha ebenso an der Leine zu führen wie Pascha, den größten der drei Bären. Körber hatte sich entschlossen. »Hör zu«, sagte er, »du wartest, bis Enrico dran ist, ich ziehe die Hunde vor, und du läßt dir einfallen, wie du umbaust. Sag der Lafour, sie kommt gleich nach Enrico.« Als er den Musikalclown erwähnte, kam Körber ein verrückter Gedanke: Sollte mich nicht wundern, wenn auch Enrico nicht da ist. Lida Kardos und Enrico, Enrico und Lida? Man munkelte allerlei, die Wagenwände waren dünn, wo kein Feuer brannte, gab es auch keinen Rauch. »Geht nicht, ausgeschlossen!« behauptete Kardos mit ausdrucksloser Miene. »Die frische Witterung von den Hunden, da arbeiten meine Bären nicht. Nimm die Arnados!« Körber winkte ab. »Zwei Luftnummern hintereinander? Na los, Tempo! Mach dich fertig. Soll es der Chef entscheiden!« Ein verrückter Tag, dachte Emil Glaubtreu, und er war noch nicht zu Ende; morgens fiel der Haupttrafo aus; die Druckerei lieferte die Handzettel nicht, und der Vorverkauf für den Abend lief schlecht. Schuld daran war das Fußballspiel, das im Fernsehen übertragen wurde. Das Telefon läutete. Direktor Glaubtreu nahm voll unguter Ahnung den Hörer ab. Es war der Dispatcher der Reichsbahn, der mitteilte, daß die Stellzeit des Zuges geringfügig geändert worden sei. Was der Reichsbahner geringfügig nannte, lief darauf hinaus, daß Glaubtreu vom knapp kalkulierten Verladeplan noch eine halbe Stunde abknapsen sollte. Er wußte es ja vorher, der Tag war noch längst nicht zu Ende und mochte weitere Überraschungen bescheren. In das Hin und Her mit dem Dispatcher quakte die Wechselsprechanlage. Es war der Inspizient, der als einziger das Privileg besaß, während der Vorstellung den Chef anzuwählen. Glaubtreu bat den Reichsbahner um Geduld. »Was ist, Harry?« fragte er ahnungsvoll.
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»Die Kardos schmeißt die Vorstellung«, meldete Körber. »Sie ist mit Auto unterwegs. Sicherlich eine Panne. Wir müssen umbauen. Aber wie?« Glaubtreu kniff die Augen zusammen und überlegte, sagte dann: »Die Programmfolge bleibt. Kardos soll ohne Pascha ’raus!« »Das Motorrad weglassen?« quakte es aus der Membrane. »Ja. Nur die beiden Kleinen!« Glaubtreu drückte die Sprechtaste noch einmal und fügte hinzu: »Wenn die Kardos kommt – sofort zu mir. Wie waren die Rollmanns?« »Nur den Zweifachen! Für abends sehe ich schwarz, Cookie ist rausgehumpelt!« Die Leitung knackte, Körber hatte aufgelegt. »Ist das bei Ihnen immer solche Hektik?« fragte der Dispatcher, der mitgehört hatte. »Manchmal ist der Wurm drin«, bestätigte Glaubtreu. Dann gelang es ihm, die Verkürzung der Ladezeit abzuwenden; sein Hinweis, daß kürzlich eine bockende Elefantenkuh die Verladung um eine halbe Stunde verzögert hatte, wirkte.
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Das Klopfen überhörte Glaubtreu; die Wagentür wurde geöffnet. Im Türspalt erschien ein Frauenkopf, der an die Hexe von Hansel und Gretel im Märchen erinnerte. Die Nase stand spitz in dem faltigen Gesicht. Die dick aufgetragene Schminke machte es schwer, das Alter der ehemaligen Artistin zu bestimmen, die das strähnige Haar schwarz gefärbt hatte; statt des Kopftuches der Märchenhexe trug Sonja, die frühere Schlangentänzerin, ein Dutzend Lockenwickler im Haar. »Ist es gestattet?« fragte sie mit rauchiger Stimme. »Komm ’rein«, antwortete Glaubtreu. »Wir sind hier durch die Bank Tierfreunde«, versicherte am anderen Ende der Leitung der Dispatcher, »sonst hätten wir euch gar nicht auf Rampe eins nehmen können. Wegen euch müssen wir einen Schwerlaster in Portionen zerlegen. Sagen Sie, bei Ihnen stehen doch sicher die Kleingärtner Schlange. Das spricht sich doch herum: Zirkus, da gibt’s Pferdeäpfel!« Glaubtreu grinste und meinte gemütlich: »Wenn Sie nicht an einen Kipper dachten?« »I wo, ein Handwagen, für die Erdbeeren.« »Na gut, fragen Sie nach Stallmeister Voigt.« Der Eisenbahner bedankte sich, und Glaubtreu legte auf. »Erdbeeren«, murmelte er, »stimmt ja, ist die Zeit Kalken, Mist aufbringen. Ob mir das wieder mal blüht? Unser Garten war eine Pracht, Sonja. Solche Erdbeeren!« Er zeigte die Größe mittlerer Tomaten. »Und Rosen! Jetzt kommt meine Frau kaum zum Umgraben.« Sonja saß auf dem Hocker vorm Schreibmaschinentisch und rauchte eine Zigarette. »Es blüht dir bald, Chef! Machst noch eine Saison!« Glaubtreu seufzte. »Aus der Hand hast du mir was anderes gelesen!« »Wie soll man nicht verzweifelt glauben nach drei beschissenen Direktoren!« »Bis zu meinem Fünfzigsten bleibe ich erst mal«, tröstete Glaubtreu. »Schade. Hast nicht bei Sarrasani das Laufen gelernt wie ich. Du wärst ein Prinzipal geworden. Soll ich dir schönen Kaffee kochen?« Soso, sie kocht mir einen Kaffee, dachte Glaubtreu und nickte, also will sie etwas loswerden, hoffentlich keinen Klatsch, es war so schon ein verkorkster Tag.
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Sonja hantierte geräuschvoll in der Kochnische; das Wasser nahm sie nicht aus dem Tank, sie holte frisches von draußen, vom Hahn. Der Direktorwagen war eine gelungene Mischung von sachlichem Büro und gediegenem Herrenzimmer, er wirkte heimelig. Die Möbel waren so bemessen, daß sie dem Eindruck von Enge entgegenwirkten. »Bei den Rollmanns dudelt Fernseher«, sagte Sonja, als sie mit dem Wasserkessel wiederkam. »Wird abends bei ihnen schöne Drängelei geben wegen Fußball.« Ohne Atempause fuhr sie fort: »Die Kardos schmeißt Vorstellung, höre ich?« »Sicher ’ne Autopanne«, sagte Glaubtreu. »Panne. Aha. Und du glaubst?« »Wieso?« fragte der Direktor, unangenehm berührt. »Panne? Eine schöne Frau wie Lida Kardos, wird die nicht sofort Kavaliere haben? Panne! Da muß ich doch lachen. Da ahne ich doch Sachen…« »Sonja!« unterbrach Emil Glaubtreu sie ärgerlich. »Wer zum Direktor kommt, um zu klatschen, fliegt ’raus!«
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»Ist keine Sahne?« »Einkaufsbeutel.« Der Duft des frischen Kaffees verdrängte den Tabakrauch; Sonja goß zwei Tassen ein, füllte die Sahne in ein Kännchen und stellte es zusammen mit der Tasse auf den Schreibtisch. »Du solltest ihn ohne Sahne trinken«, sagte Sonja mit einem beredten Blick auf seine füllige Figur. Der Direktor seufzte und nickte zustimmend, goß dabei aber so viel Sahne in den Kaffee, daß der sich hell färbte. »Weißt du, Chef – machst mit uns Versammlungen über alle möglichen Dinge. Tournee von Ungarische Staatszirkus und Prämien und besoffene Stallmeister und diese Burschen, die helfen in jeder neuen Stadt mit tätowierte Fleck unterm Auge. Machst mal Gebrüll, wie es sich gehört, sagst auch ein gutes Wort, kannst noch immer Bravo rufen und in die Hände klatschen, wenn du bei Probe ins Chapiteau reinguckst, was voriger Direktor nie gemacht hat, aber mit deine Ohren, deine Ohren!« Glaubtreu schlürfte seinen Kaffee und fragte halb belustigt, halb ärgerlich: »Wieso? Ich habe nicht das Gefühl, daß es da hapert!« »Hörst nicht durch die Wände! Warum war Petrinelli, Friede seiner Asche, so ein herrlicher Prinzipal? Politik, Hitler und sein Duce hat ihn nicht interessiert. Aber er wußte, daß manche Kratzer von Dompteur Orestes gar nicht von seine Leoparden waren, sondern von seine Frau! Du mußt alles wissen. Nicht bloß, Wiechmann schlägt beim Füttern. Oder daß die Kleine von den Paulis ihren einen Bruder, den großen, haßt wie den Teufel!« Emil Glaubtreu schüttelte zweifelnd den Kopf. »Da sagst du mir ganz was Neues!« »Wohl auch von der Kardos, ja? Was das für eine ist? Daß sie so Geschäftchen macht? Mit Pelze zum Beispiel! Und für zweihundert Mark kannst du mit ihr ins Hotel? Aber Kardos ist ja noch blöder als sein Viehzeug, als seine Bären!« Sonja ignorierte die ärgerliche Handbewegung ihres Direktors und fuhr unbeirrt fort: »Meine Lida, oh, meine Lida! Mußt du hören in der Nacht! Ich hab sie mal gesehen mit geschminkte Brüste. Pfui Teufel!« »Sonja!« knurrte Glaubtreu böse. »Gut, gut, ich sag kein Wort mehr. Willst du einen Kognak?« »Nein, jetzt nicht, aber gieß dir einen ein.«
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»Herzlichen Dank!« Sie wußte, wo die Flasche zu finden war, goß das goldfarbige Getränk ins Glas und hob es dem Mann am Schreibtisch entgegen. »Auf deine Gesundheit! Bleib wenigstens bei uns, bis ich sterbe.« »Und wann wäre das etwa?« Glaubtreu lächelte breit. »Junger Mann, mach dich nicht lustig über alte Menschen. Ich drück mal den Knopf, ja? Wenn Umbau geklappt hat, müßte Enrico dran sein.« Dem Musikalclown im Harlekinkostüm gehörte für acht Minuten die Manege; er musizierte mit komisch verrenkten Gliedern auf einem Dutzend verschiedener Instrumente und erntete Lachstürme. Den Höhepunkt seiner Darbietung bildete eine Unterhaltung mit seinem Papagei Koko, bei der Heinz Bauer aus Pirna, genannt Enrico, mit erstklassiger Bauchredetechnik nachhalf, falls Koko sich nicht herabließ zu sprechen. »Du bist dümmster Papagei auf die ganze Welt!« »Koko liieb!« antwortete der Vogel. »Enrico schämt sich für dich!« »Alter Esel! Alter Esel!« Das Gelächter der Besucher schwoll an, Enrico wußte es im voraus, es geschah in jeder Vorstellung: Er genoß den Beifall und die Heiterkeit seines Publikums, für acht Minuten gehörte es ihm, und er war stolz darauf, daß er einige Hundert Menschen zum Lachen zu bringen vermochte. Enrico bereitete den Höhepunkt vor, wenn Koko mit einer schönen Dame in einer Loge flirtete und er dem Papagei androhte, aus ihm einen Broiler zu machen. Mitten im jubelnden Gelächter schaltete Sonja das Kontrollmikrofon im Chapiteau wieder aus. »Enrico war auch einer!« »War auch einer?« wiederholte Glaubtreu und ärgerte sich, daß er mal wieder auf Sonja hereingefallen war, die es verstanden hatte, seine Neugier zu wecken. »Hat auch geschlafen mit Lida Kardos. Letzte Saison in Prag!« »Enrico und die Kardos?« fragte Glaubtreu gedehnt. »Ist vorbei, er hat längst Neue! Ja – Enrico! Kaum noch Haare. Und hat der Schulter? Hat er Hüfte? Weißt du, in meine frühere Zeit, so eine Schlangennummer, ich bloß bißchen was oben und bißchen was unten, paar Pfund Glitzerzeug aus Gablonz dran und in Öl wie Sardine, und wenn die Schlangen frisch gehäutet hatten. Kaum waren die einen in der Kiste, hatte ich die andern am Hals, du verstehst? Aber so einer wie Enrico war nie darunter. Was hat eine Frau schon an dem?«
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»Na, wenn du nicht mal durchguckst«, brummte Glaubtreu gemütlich. Sonja starrte am Direktor vorbei auf die Artistenfotos an der Wand. Die meisten waren vergilbt und zeigten Spitzenleistungen zirzensischer Kunst; berühmte Namen befanden sich darunter, an die man sich erinnerte, obwohl ihre Träger längst nicht mehr lebten. »Einmal, das muß gewesen sein achtunddreißig in Preßburg«, fuhr Sonjas rauchige Stimme fort, »ein ganz junger Mensch, kommt aus die Dunkelheit hinter meinem Wagen, ein Briefmarkenalbum und einen Zettel und gibt mir zuerst den Zettel: ›Margarita, ich glühe vor Liebe vor Sie. Dieses Album, komplett Niederländisch-Indien, gehört Ihnen…‹ Ein Jüngling, schwarze Locken!« »Na und?« Glaubtreu schmunzelte. »Er wollte etwas Unanständiges. Einmal meine Brust berühren.« »Hast du ihm eine geklebt?« Sonja stieß einen Seufzer aus, und ihr Blick löste sich von den vergilbten Fotos. »Ich habe ihn auf die Stirn geküßt, den Jungen, und ihn mit seine Briefmarken nach Hause geschickt.« Sie erhob sich stöhnend. »Die Wäsche ist da, ich muß sortieren. Danke für Kognak. Ach so: Heute früh hat Enrico ein Telegramm bekommen, und wie Kardos weg ist in die Stadt, ist Enrico ’rüber zu Lida. Sie war beim Strümpfeaufhängen!« Die Tür klappte, Sonja war gegangen, und Glaubtreu starrte ihr hinterher. Und er dachte wieder daran, daß Sonja behauptete, vor einem Jahr, in Prag, hätten Lida und Enrico ein Verhältnis gehabt. Wer weiß, dachte er, vielleicht haben sie es erneuert? So was kam unter Artisten hier und da vor, man lebte eng beieinander, und es blieb selten geheim. Es kam auch vor, daß einer dem andern die Partnerin wegnahm, Glaubtreu rieb unfroh seine Stirn. Solche Dinge brachten Unruhe ins Kollektiv. Er mochte sie nicht. Die Wechselsprechanlage knackte, und der Inspizient meldete: »Emil, ich wollte dir nur sagen, daß Thekla jetzt liegt, die Fruchtblase ist schon geplatzt!« Die Schimmelstute Thekla war ein wertvolles Tier, Madame Tondeur ritt auf ihr »Hohe Schule«: Wenn alles gut ablief, kam das Pferd bald wieder ins Programm. »Ist der Tierarzt da, Harry?« »Noch nicht, Kollege Voigt ist allein.« »Ich komme!« versprach Glaubtreu und erhob sich.
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Der Lastzug nahm dumpf dröhnend die Steigung, der Motor donnerte im Zwischengas, danach lief der Lkw hochtouriger im dritten Gang. Die Pkws schafften den Hügel, ohne heruntergeschaltet zu werden; sie überholten das schwerfälligere Fahrzeug mit dem Hänger auf der linken Fahrspur. »Noch zwölf Kilometer bis zur Grenze«, sagte Hanne Schmieder, der mit aufgerollten Hemdsärmeln das Lenkrad bewegte. Walter Koller, sein Beifahrer, nickte schläfrig. Untätig neben dem Fahrer zu sitzen machte müde. Hinter dem Hügel beschrieb die Autobahn eine sanfte Krümmung. Zu beiden Seiten erhob sich Kiefernwald. Die Spätnachmittagssonne verschwand hinter Wolken. Zwischen den Bäumen wurde es dunstig. In der Nacht gibt es Nebel, dachte Schmieder, hoffentlich nicht zu dick, sie wollten morgens mit der Maschinenladung in Frankfurt am Main sein. Bevor Schmieder wieder in den vierten Gang hochschaltete, überholte sie ein Wartburg mit einem Kennzeichen des Bezirkes Dresden. Der Fahrer gab ein Hupsignal, die Frau neben ihm kurbelte die Scheibe herab und deutete heftig gestikulierend auf die Räder des Lastwagens. »Was hat die denn?« meinte Schmieder. »Bei uns scheint was nicht in Ordnung zu sein; vielleicht was mit der Ladung? Sieh mal gleich nach, Walter!« Schmieder lenkte den Lastzug an den rechten Fahrbahnrand, hielt an und schaltete die Blinkleuchten auf Warnen. Koller sprang hinaus, er war Anfang Dreißig, zwanzig Jahre jünger als Schmieder, und fuhr erst seit drei Wochen beim Autotrans Berlin im grenzüberschreitenden Verkehr. Koller lief um den Lkw herum, und Schmieder sah im Außenspiegel, daß er mit den Fußspitzen gegen die Zwillingsreifen trat; dann kam er hastig nach vorn gelaufen. »Mist«, rief Koller, »wir haben einen Platten hinten rechts, innen!« »Ausgerechnet innen!« Schmieder seufzte. Er war dem Wartburgfahrer dankbar, daß er ihnen den lose hin- und herwalkenden Reifen signalisiert hatte. Der war bereits so heiß geworden, daß sie ihn nicht anfassen konnten; noch wenige Kilometer, und der Reifen hätte angefangen zu brennen. Schmieder war ein alter Fernfahrer, er hätte dann Schlangenlinien fahrend versucht, die brennenden Reifenfetzen von der Felge loszuwerden; anhalten durfte er nicht, denn dann stünde der Lkw sofort in Flammen, und die wertvollen Maschinen aus Marzahn wurden zu Schrott.
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Es galt, eine rasche Entscheidung zu treffen, ein Rastplatz war nicht in Sicht, sie mußten die Panne an Ort und Stelle beheben. Es war die erste Reifenpanne, die Schmieder mit seinem neuen Kollegen erlebte, und er war gespannt, wie dieser sich dabei anstellen würde. Koller verlor kein unnötiges Wort und tat keinen überflüssigen Handgriff. Er riß die Werkzeugkiste unter dem Triebwagen auf und holte die Warnleuchte heraus. Jetzt zahlte sich aus, daß Schmieder ihn gründlich eingewiesen und ihm gezeigt hatte, wie das Zubehör verstaut war. Koller rannte mit dem Autobahndreibock und der Warnleuchte los und stellte beide auf. Die heransausenden Fahrzeuge bogen auf die linke Fahrspur ab. Schmieder räumte Holzklötze, Wagenheber und Radkreuz heraus und legte Hemmschuhe vor die linken Hinterräder. Dann war Koller wieder da, nahm ihm wortlos das Radkreuz aus der Hand und begann die Radmuttern zu lösen. Die Autobahn wurde nur mäßig befahren. Obwohl aus dem Wald Dunst auf die Bahn waberte, entdeckten die Kraftfahrer das gelbe Blinklicht zeitig
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genug und bogen auf die Überholspur ab. Das Tempo reduzierten nur wenige. Schmieder sah den Fiat kommen, der unbeirrt auf der rechten Fahrspur weiterfuhr und an der Stelle vorbeiraste, wo alle übrigen Fahrzeuge nach links hinüberwechselten. Eine ungute Ahnung befiel ihn, und dann passierte alles so schnell, daß er es nur im Unterbewußtsein registrierte. Der Fiat fuhr geradeaus und erfaßte die blinkende Warnleuchte, die scheppernd von der Fahrbahn flog. Schmieder schrie: »Walter –! Weg –!« Gleichzeitig sprang er von der Autobahn und stürzte den niederen Hang hinab. Neben ihm prasselten Zweige, auch Koller war ins Gestrüpp gesprungen. Auf der Fahrbahn krachte es ohrenbetäubend. Es splitterte und barst, und zerreißendes Blech kreischte. Die darauffolgende unheimliche Stille wurde vom Quietschen der Bremsen und dem Kreischen von Reifen unterbrochen. Auf der Gegenfahrbahn stoppte ein Reisebus; zwei Personenkraftwagen fuhren aufeinander, doch gab es zum Glück nur Blechschaden. Schmieder und Koller erklommen keuchend die Fahrbahn. Der Anblick, der sich ihnen bot, lähmte sie sekundenlang: Der Fiat war unter den haltenden Hänger gerast und hatte dessen hintere Achse nach vorn verschoben. Der Anprall war so wuchtig, daß der Lastzug einige Meter vorwärts geschoben wurde. Die Fernfahrer hatten schon manche Unfallstelle gesehen. Der Fiat war auf die Hälfte seiner ursprünglichen Länge zusammengestaucht, und als Schmieder auf den Fahrerplatz blickte, würgte es ihn im Hals. Die Unfallbereitschaft der Volkspolizei kam noch vor dem Rettungswagen der Feuerwehr, die Funkmeldung hatte sie wenige Kilometer entfernt erreicht. Der in beiden Fahrtrichtungen entstandene Stau wurde beseitigt, dann widmete der Oberleutnant sich dem Fernfahrer Schmieder; Koller wechselte stumm, verbissen das Pannenrad, es galt, die Unfallstelle so rasch wie möglich zu räumen, um den Verkehr im dichter werdenden Dunst nicht länger als unvermeidbar zu gefährden. Oberleutnant Richter rief Schmieder in den grünen Barkas-Bus. Auf dem Klapptisch lag eine Brieftasche aus Krokodilleder, die den Unfall unversehrt im Handschuhfach überstanden hatte. In der Schreibmaschine war das Formular für den Unfallbericht eingespannt.
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»Sind beide tot?« fragte Schmieder beklommen; er hatte es nicht über sich gebracht zuzusehen, als die Unfallopfer weggeholt wurden. »Die Frau gab noch Lebenszeichen. Der Sitz war runtergeklappt, sie hatte gelegen, sonst…« »Das waren Italiener?« »Italienische Artisten«, bestätigte der Oberleutnant. Titus Bagnaresi und seine Ehefrau Anna, die Partnerin beim Schulterperche, befanden sich, aus der ČSSR kommend, auf einer Transitfahrt durch die Deutsche Demokratische Republik nach Hannover. In der Brieftasche fand sich eine Fotografie im Postkartenformat, eines der üblichen Künstlerfotos, wie es Agenturen verwendeten. Ein stämmiger, dunkelhaariger Mann mit flottem Oberlippenbart balancierte auf seiner rechten Schulter eine Glasfiberstange von beträchtlicher Länge, an deren Spitze eine jüngere Frau turnte. »Mann, o Mann! Nie einen Unfall gebaut! Ich sitz jetzt achtzehn Jahre auf'm großen Bock. Und davon zehn Jahre grenzüberschreitender Verkehr. Da auch nie was gewesen, nicht mal ’ne Geldstrafe. Westdeutschland, Holland, Belgien, nie was! Und dann so ein Ding!« »Sie trifft keine Schuld, Herr Schmieder«, sagte der Oberleutnant. »Ich glaube ja nicht an Vorahnungen und so was. Aber heute früh macht meine Frau die Thermosflasche zurecht, und ich weiß auch nicht, wie – ein Plauz und kaputt.« Es wurde draußen noch dunstiger. Oberleutnant Richter erkundigte sich nach den Sichtverhältnissen zur Unfallzeit. Schmieder bestätigte, daß die Sicht gemindert war. »Aber die haben uns doch alle gesehen«, sagte er, »alle! Die sind alle weit vor der Warnleuchte auf die linke Spur ’rüber!« »Auch wenn von der Leuchte nicht mehr viel übrig ist – die müssen wir mitnehmen!« »Wozu?« fragte Schmieder. »Bei nicht ausreichender Kapazität der Batterien hört die Leuchte abrupt zu blinken auf. Das Fehlverhalten des italienischen Fahrers muß doch eine Ursache gehabt haben. Nehmen wir an, sie hat nicht mehr geblinkt, er übersieht sie, streift sie, daß sie im Bogen wegfliegt, wie Sie sagten – richtig?« »Genau!« »Möglich, daß er davon irritiert war…«
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»Aber dann trete ich doch auf die Klötzer!« unterbrach Schmieder den Oberleutnant. »Nein, direkt auf uns los. Ich denke, mein Schwein pfeift! ’tschuldigung! Ich begreife das nicht. Paar Kilometer vor der Grenze, da döst doch keiner, da fährt doch keiner angesoffen!« Ein Standscheinwerfer wurde draußen in Stellung gebracht, um beim Eintreffen der Bergungsfahrzeuge und des Kranwagens den Platz auszuleuchten. Beide Fahrbahnen waren jetzt gesperrt und der Verkehr einspurig auf die Gegenrichtung umgeleitet worden. Im Barkas-Bus hörte man, daß die vorbeifahrenden Fahrzeuge die Geschwindigkeit verminderten und daß nach dem Passieren der Unfallstelle wieder Gas gegeben wurde. »Können Sie Angaben machen zur Geschwindigkeit des Fiat?« Schmieder erklärte, daß der keinesfalls unter hundert Stundenkilometer gefahren war, und fragte: »Ob’s die Frau bis zur Klinik geschafft hat? Können Sie das rauskriegen?« »Von hier aus – nein.« »Vielleicht besser, sie schafft’s nicht. Die bleibt doch ewig ein Krüppel. Eine schöne Frau war das!« schloß er leise und zeigte auf das Artistenfoto. Der schleppende Vorverkauf hatte nicht getrogen, es kamen weniger Besucher in die Abendvorstellung als an den Tagen vorher. Dabei war man ausverkaufte Vorstellungen gewöhnt. Emil Glaubtreu verließ den Direktionswagen und lief an den Stallzelten vorbei zu den Wohnwagen; der von den Kardos’ stand als dritter in der Reihe. Glaubtreu klopfte an die Tür, aber es rührte sich nichts. Er drückte die Klinke herab, es war nicht abgeschlossen. Der Prinzipal rümpfte die Nase, als ihm intensiver Schnapsgeruch entgegenschlug. Micha Kardos lag angezogen auf dem Bett, nicht einmal die Schuhe hatte er abgestreift; auf dem Tisch stand eine Wodkaflasche, bis auf eine Neige leer, daneben ein Wasserglas, aus dem er getrunken zu haben schien. »Herr Kardos, was ist los?« Glaubtreu musterte ärgerlich den Betrunkenen, der unverständliche Laute von sich gab; ein Blick umher verriet, daß Lida Kardos augenscheinlich noch nicht zurückgekehrt war. Dies schien der Grund, weshalb der Bärendompteur trank. Glaubtreu hatte ihn niemals in einem ähnlichen Zustand gesehen. Der verkürzte Auftritt der Bärengruppe während der Nachmittagsvorstellung hatte beim Publikum Mißfallensäußerungen
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ausgelöst, da man vergeblich auf Pascha, den motorradfahrenden Bären, gewartet hatte. Glaubtreu verließ den Wagen und sah, daß Sonja ihn aus dem Wirtschaftswagen heraus beobachtete; der Zustand von Kardos war der scharfäugigen Alten nicht entgangen. Auf dem Weg zum Chapiteau, wo er, wie vor jeder Vorstellung, einen Blick durch den Vorhang tun wollte, auf die vollen Bankreihen, in Hunderte erwartungsvolle Gesichter, änderte er plötzlich die Richtung und steuerte Enricos Wagen an. Bevor er an die Tür klopfte, wurde diese geöffnet. Der Musikalclown Enrico war beim Schminken. Dieser Prozedur unterzog er sich gewissenhaft. Für die Vorbereitungen auf seinen Auftritt brauchte er mehr Zeit als für den Auftritt selbst. Koko saß auf der Stange und beobachtete mit schiefgehaltenem Kopf, wie Enrico seinen Mund grellrot bis zu den Ohren verbreiterte. Enrico warf Glaubtreu einen forschenden Blick zu und zeigte stumm auf einen Hocker, auf einem zweiten lag sein Kostüm. Der Prinzipal kannte die Eigenheiten seiner Artisten. Einige liebten es, mit ihrem bürgerlichen Namen angesprochen zu werden, doch zu denen gehörte Heinz Bauer aus Pirna nicht. Der legte Wert darauf, daß man ihn mit seinem Künstlernamen anredete. Glaubtreu ließ sich auf dem Hocker nieder, und Kokos Aufmerksamkeit gehörte nun ihm. »Koko lieb! Quedlinburg – Warnemünde!« krächzte der Vogel und gab sein gesamtes Vokabular zum besten. »Kannst du den abstellen?« fragte Glaubtreu. »Koko tot –!« befahl Enrico – und der Papagei verstummte. »Willst du was von mir?« fragte der Clown. Glaubtreu hörte dessen Besorgnis heraus, doch in welche Richtung sie zielte, blieb ihm verborgen. »Du kommst heute abend vor den Paulis«, erklärte der Direktor, »die Bären fallen aus, Kardos hat sich total besoffen.« »Lida ist noch nicht da?« Etwas an der Frage weckte Glaubtreus Argwohn. Sie klang so, als wüßte Enrico, daß Lida gar nicht dasein konnte. Der Direktor ließ seinen Verdacht nicht merken und antwortete: »Keine Unfallmeldung, kein Anruf von ihr – nichts. Koko, weißt du, wo Lida Kardos steckt?« schloß er mit einem Anflug von Galgenhumor.
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Koko stieß einen schrillen Pfiff aus und krächzte: »Quedlinburg – Warnemünde!« »Na also«, spöttelte Glaubtreu, »dann wissen wir ja Bescheid!« Ohne eine Spur von Humor fügte er an Enrico gerichtet hinzu: »Oder weißt du’s?« Beider Blicke trafen sich im Spiegel, doch das Clownsgesicht war so mit Schminke bedeckt, daß Glaubtreu nichts aus seiner Miene herauszulesen vermochte. »Ich? Ob ich es weiß? Woher denn? Ich bin doch nicht ihr Aufpasser!« In der Stimme schwang jener schrille Mißklang seiner Clownssprache mit. In normalem Ton fügte er beiläufig hinzu: »Also, nachher vor den Paulis!« »Ja, das war’s«, bestätigte Glaubtreu und erhob sich. An der Tür wandte er sich zurück, und entgegen seiner Gepflogenheit, den Clown bei seinem Künstlernamen zu nennen, sprach er ihn mit dem Vornamen an: »Sag mal, Heinz, du kommst mir irgendwie…«, er brach ab, schloß dann: »Hängt das mit dem Telegramm zusammen?« Enrico riß die Augen auf, die angeklebten, bürstengroßen Brauen wanderten in die Stirn hinauf. »Was?« »Du sollst heute morgen ein Telegramm gekriegt haben. Doch nichts Schlimmes?« Die himmelblau bemalten Lider klappten herab. »Ein Onkel von mir«, sagte Enrico. »Gestorben?« »Ja.« »Oh, tut mir leid. Meine Anteilnahme.« »Danke.« Glaubtreu stand sekundenlang unschlüssig, zuckte dann die Schultern und ging. Die Wagentür schloß er behutsam. Enrico saß vor dem Spiegel und rührte keinen Finger, um seine Clownsmaske zu vervollständigen; das halbgeschminkte Gesicht wirkte seltsam leblos, lebendig waren darin nur die Augen. Nach seinem Auftritt schminkte Enrico sich hastiger ab als sonst und verzichtete auf die Gesichtsmassage. Die Haut litt unter der Bühnenschminke und bedurfte gründlicher Pflege, sollte sie nicht vorzeitig erschlaffen.
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Im Kassenwagen wechselte Enrico einen Zwanzigmarkschein in Markstücke, verließ das Zirkusgelände durch die Tierschaupforte und ergatterte ein Taxi, das gerade einer der Tierpfleger verließ. Vom Taxifahrer erfuhr Enrico, daß es eine Telefonzelle für Ferngespräche im Bahnhof gab. Er ließ sich dorthin fahren. Die Verbindung nach Pirna kam rasch zustande, doch benötigte er etliche Markstücke, bis er die Stimme seiner Mutter vernahm. »Heinz? Bist du’s? Na so was! Ich bin beim Plätzchenbacken, da klingelt Frau Schöffler, ich soll ans Telefon kommen. Wie geht’s meinem Koko? Isser hübsch auf'm Posten?« »Ja, Mama, alles in Ordnung! Hör zu, Mama, weshalb ich anrufe! Gib sofort ein Telegramm an mich auf!« »Was soll ich?« klang es verwundert. »Du sollst ein Telegramm an mich schicken. Hast du was zum Schreiben da?« Enrico steckte ein weiteres Markstück in den Zahlschlitz. Seine Mutter hatte nichts zur Hand, er wurde ungeduldig und sagte: »Ach was, das kannst du dir auch merken: ›Onkel Erich gestern friedlich entschlafen. Mutter.‹ Hast du verstanden? Und gib das gleich telefonisch auf!« Seine Mutter wiederholte den Text und fragte: »Was denn für ein Onkel Erich?« »Ein Ulk, Mama, wir haben hier gewettet, ich erkläre dir das später. Geht’s dir gut?« »Ich habe Kümmelplätzchen gemacht, die ißt du doch so gerne. Und heute sind die Kohlen gekommen.« »Ich habe nicht viel Zeit, Mama. Also, mach das gleich: Onkel Erich gestern friedlich entschlafen, Mutter!« wiederholte er eindringlich den Text. Die Sonnenstrahlen wurden durch die Glasmalerei des Fensters gefiltert und malten bunte Kringel auf den blankgebohnerten Boden des Flures. Der Gang zur Intensivstation wurde durch eine Glastür, die sich nur von innen öffnen ließ, von den übrigen Abteilungen des Krankenhauses abgeschirmt. Hellgrüne Wände, strahlend weiße Decken und Türen wirkten steril, und es roch nach Krankenhaus, nach jenem unverwechselbaren Gemisch von Essen, Medikamenten und Desinfektionsmitteln.
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Major Werner stand an der Tür und blickte beklommen auf die schmächtige Gestalt, die durch Schläuche und Drähte mit komplizierten Geräten verbunden war. Der Kopf und die Arme verschwanden unter Verbänden, nur das handflächengroße Stück des Gesichtes blieb frei. Werner empfand das gleiche unbehagliche Gefühl, das ihn jedesmal überkam, sobald er das Behandlungszimmer eines Arztes betrat. Die chromblitzenden Apparaturen flößten Respekt ein, dienten sie doch der Lebenserhaltung und Heilung kranker Menschen; fasziniert beobachtete er den unablässig über eine Mattscheibe dahineilenden Punkt. Die Ärztin, eine junge zierliche Frau mit kurzem blondem Haar, neigte sich über das Bett. »Signora?« Auf dem winzigen Gesicht zeigte sich keine Regung. »Signora? Signora Bagnaresi?« Major Werner sah enttäuscht, daß die Ärztin sich vergeblich bemühte. Er selbst fühlte Unbehagen darüber, daß er in salopper, sportlicher Kleidung dastand, mit der frischen Bräune seines Bulgarienurlaubs, ein Bild strotzender Gesundheit, und dort im Bett ein menschliches Wrack, das mit dem Tode rang. Die Ärztin richtete sich auf und sah ihn an. »Nichts. Sie reagiert nicht. Wenn überhaupt jemals wieder, vor morgen, übermorgen –? Das ist sowieso ein Wunder. Der Milzriß ist noch das Harmloseste.« Sie trat vom Bett zurück, und Major Werner verließ vor ihr das Zimmer. »Artisten sollen hart im Nehmen sein«, sagte er, da standen sie draußen im Flur. »Was hat sie eigentlich gemacht? Waren das Messerwerfer? Narben an Hals und Schultern.« »Ein Perche-Akt. Im Gepäck befanden sich Fotos, wissen Sie, solche Künstlerfotos für Agenturen. Sie turnt an einer Glasfiberstange, die ihr Mann auf der Schulter balanciert.« »Aha, so was«, sagte die Ärztin und blickte auf ihre Armbanduhr. Der Major verstand den Wink. »Zwei Bagnaresi«, sagte er und reichte der jungen Frau die Hand. »Sie informieren uns bitte sofort, wenn die Patientin bei Bewußtsein ist. Sie sprechen italienisch?« Über das sympathische Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Weil ich Signora gesagt habe? Sie müßte englisch verstehen als Artistin, das ginge zur Not.« Werner ließ die Hand los, sie fühlte sich fest und warm an. »Gut, wir kommen dann mit einem Dolmetscher.«
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»Was liegt hier eigentlich vor? Die Staatsmacht so neugierig?« Die junge Frau geleitete Major Werner zur Glastür am Ende des Flures. »Die Frau ist italienische Staatsbürgerin!« antwortete der Major zurückhaltend, es verstärkte die Neugierde der Ärztin nur noch. »Was haben Sie denn außer Fotos noch gefunden. Rauschgift? Was Politisches?« Der Major vermied es, die Frau anzusehen, die auffallend hellblaue Augen besaß. »Sie sagten, die Blutprobe habe einen hohen Barbituratwert ergeben. Können Sie mir das mal…?« Die Ärztin nickte. »Die Patientin stand zum Zeitpunkt des Unfalls unter einer starken Dosis Beruhigungsmittel. Und bevor der Körper die nicht abgebaut hat, läßt sich sowieso nichts sagen über Reaktionen, Leberwert…« Major Werner äußerte die Vermutung, daß die Frau geschlafen habe, als der Unfall passierte; der Beifahrersitz war ja heruntergeklappt. Frau Bagnaresi hatte gelegen. »Also Stauchung. Gut, daß Sie mir das sagen. Das erklärt die Eigenart der Becken- und Unterschenkelfrakturen. Und dann wird wohl auch die Wirbelsäule einen Hieb weghaben.« Das Gespräch endete abrupt, denn aus der Tasche des Arztkittels drang plötzlich ein nicht zu überhörender Piepton und veranlaßte die Ärztin, rasch die Tür zu öffnen. »Tut mir leid«, sagte sie hastig, »Sie hören ja!«
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Der Oberst leitete die Frühbesprechung in der Dienststelle selbst; zwei Dutzend Genossen in Zivil saßen an den hufeisenförmig angeordneten Tischen. Wie erwartet, sprach der Leiter ein Rauchverbot aus und erntete enttäuschtes Murmeln der Raucher. »Punkt eins, Genossen: der Verkehrsunfall auf der Autobahn, zwölf Kilometer vor dem Grenzkontrollpunkt. Untersuchungsführer ist Major Werner. Berichten Sie, Genosse Major!« Werner nickte. Er wußte, daß ihm ungeteilte Aufmerksamkeit sicher war. Das Vorkommnis war bereits bekannt, nicht aber die verblüffende Wendung, die der Fall genommen hatte. »An dem Unfall waren die italienischen Staatsbürger Anna und Titus Bagnaresi beteiligt, ein Artistenehepaar. Der Fahrer, Titus Bagnaresi, wurde tödlich verletzt, die Frau lebensgefährlich!« Major Werner schilderte knapp die Details: Das Ehepaar Bagnaresi kam aus Prag und hatte dort in einer Revuesendung des Tschechoslowakischen Fernsehens mitgewirkt. Die Bagnaresis reisten im Transit nach Hannover, das wurde einem Telegramm entnommen, das die Verunglückten bei sich führten. Sie sollten am heutigen Tag einen Termin wahrnehmen, bei der BRD-Werbefilm-Agentur »Globus« in Hannover. »Das Unfallkommando hat uns über einige Unklarheiten beim Unfallhergang informiert. Das Protokoll stützt sich auf die Angaben der Fernfahrer Schmieder und Koller, die ihren Lastzug wegen einer Reifenpanne ordnungsgemäß abgestellt hatten und auf den der italienische Pkw aufgeprallt war.« Noch deutete nichts darauf hin, daß es sich bei diesem bedauerlichen Unfall um mehr als ein immer wieder vorkommendes Fehlverhalten handelte. Die Untersuchung des Toten ergab, daß Bagnaresi unter Einfluß eines Barbiturats gestanden hatte, das die Fahrtauglichkeit erheblich herabminderte; die gleiche Feststellung traf auf seine schwerverletzte Begleiterin zu. »Doch nun, Genossen, kommt wieder einmal der Zufall ins Spiel: Beim Untersuchen des Fahrzeugwracks fanden die Techniker im Hohlraum der zerknautschten Fahrertür sechs in Folie eingeschweißte Päckchen mit feinem Draht. Die Analyse ergab, daß es sich um Wolframdraht handelt«, Werner las die Beschreibung vom Blatt ab, »Wolframdraht der Stärke fünf My. Wen es interessiert: Wolfram, chemisches Zeichen W. Schmelzpunkt
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dreitausenddreihundertachtzig Grad, gehört zu den seltenen Schwermetallen. Es ist unentbehrlich vor allem für die Glühlampenherstellung!« Der Bericht des Majors fand längst ungeteiltes Interesse. »Wir entdeckten ferner in Papierservietten eingewickelten Granatschmuck, drei Halsketten und zwei Paar Ohrgehänge sowie ein Kuvert A fünf, Inhalt Banknoten der ČSSR-Staatsbank in Höhe von siebenundzwanzigtausendfünfhundert Kronen! Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß nichts von den genannten Dingen in der Zollerklärung ausgewiesen wird! Andererseits verrät die Verschiedenartigkeit des Schmuggelgutes und dessen relativ geringe Menge, daß wir es nicht mit Profis zu tun haben, die auf eine bestimmte Ware fixiert sind und die Grenzüberschreitung des Schmuggelns wegen durchführen, sondern mit Amateuren auf diesem Gebiet, die auf ein zusätzliches Geschäftchen aus sind. Damit soll ihre Wirtschaftsschädlichkeit keinesfalls bagatellisiert werden.« Der Oberst wollte wissen, ob Prag bereits verständigt war. Der Major bestätigte es und erklärte, daß von dort schon eine ausführliche Antwort eingetroffen war. Bei der Aufzeichnung des Tschechoslowakischen Fernsehens kam es mit den Bagnaresis zu einem Zwischenfall. Die Frau war unkonzentriert und benahm sich herausfordernd. Ursache war: Die Bagnaresi ist drogenabhängig. »Sie sagten vorhin, bei der Blutprobe wurde Barbiturat festgestellt«, unterbrach der Oberst den Bericht. »Das ist doch wohl ein Unterschied!« »Ich vermute«, hielt Major Werner entgegen, »daß der mitgeführte Stoff, vielleicht Heroin oder LSD, offenbar ausgegangen war. Deshalb wohl hatte sich Frau Bagnaresi auf der Fahrt im Transit nach Hannover mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt!« »Wie sieht es mit der Vernehmungsfähigkeit aus?« fragte der Dienststellenleiter. »Es ist fraglich, Genosse Oberst, ob Frau Bagnaresi überhaupt durchkommt!« antwortete der Major. »Danke, Genosse Werner! Das wäre wohl erst einmal alles, was zu Punkt eins zu sagen ist!« »Eine Bemerkung noch«, widersprach der Major, »eigentlich sind es zwei!« »Ja, bitte?« »Der Zeitvergleich Einreise Grenzkontrollpunkt Zinnwald und Unfallzeit ergibt eine Differenz von plus anderthalb Stunden! Und zweitens: Am
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Ringfinger der rechten Hand von Bagnaresi steckte ein Herrenring fünfhundertfünfundachtziger Gold mit einem Smaragd in Platinfassung. Der Ring ist vermutlich nicht Bagnaresis Eigentum gewesen, er paßte nicht, war viel zu weit, und der Finger zeigt auch keine Tragespuren.« Die Ergänzung des Berichtes wurde stumm zur Kenntnis genommen, eine Sensation stand nicht zu erwarten. Es handelte sich um eine der tagtäglich vorkommenden Schmuggeleien, die nie ganz zu unterbinden waren. In diesem alles andere als harmlosen Fall von persönlicher Bereicherung war den Schmugglern der Unfall zum Verhängnis geworden. Titus Bagnaresi konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, seine Begleiterin, sofern sie am Leben blieb, würde vermutlich erklären, von der Schmuggelei des Mannes nichts gewußt zu haben – und das Gegenteil konnte ihr kaum bewiesen werden. Der Oberst setzte die Frühbesprechung fort: »Kommen wir zu Punkt zwei!« Es war die bei den Artisten beliebte halbe Stunde zwischen Nachmittagsund Abendvorstellung, ein Aufatmen und Kraftschöpfen vor dem neuen Auftritt. Für das übrige Personal brachte die knappe Zeitspanne vermehrte Hektik. Es galt, die Spuren der ersten Vorstellung, weggeworfene Eisbecher und Bonbontüten, Schokoladenpapier und geknüllte Programme zu beseitigen, kleine Schäden waren zu beheben; das Stallpersonal striegelte die Pferde und putzte die Geschirre. Harry Körber, der Inspizient, saß in der Zeltgasse auf einem Podest der Löwengruppe, er verspürte Schmerzen im Fuß, sie kündigten eine Wetteränderung an. Als er Enrico entdeckte, rief er ihn heran. »Du weißt Bescheid? Du kommst vor den Paulis, klar?« Enrico nickte. »Sag mal, ob die Fleurop auch Kränze verschickt?« »Wieso?« »Ich meine, ob die Fleurop auch Kranzbestellungen annimmt. Ich möchte einen Kranz schicken. Bloß paar Blumen, das wäre mir nichts.« Körber wollte wissen, was denn passiert sei, und Enrico zeigte ihm das Telegramm, das seine Mutter geschickt hatte: Onkel Erich gestern friedlich entschlafen. Mutter. Körber las es und drückte dem Clown sein Beileid aus. »An ihm habe ich mehr gehangen als an meinem Vater. In den Ferien immer zu Onkel Erich. Forstmeister war er.« »Kopf hoch! Lache, Bajazzo!«
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»Hast du was von der Kardos gehört?« fragte Enrico. »Nichts. Aber von ihm. Wieder total blau! Voll wie tausend Ritter! Der Chef war an seiner Stelle zur Polizei wegen der Vermißtenanzeige, stell dir das mal vor! Wenn Kardos morgen so weitermacht, bringt Glaubtreu beide vor die Konfliktkommission, Lida und Micha! Ich verstehe nicht, wie kann man sich so gehenlassen.« Die Abendvorstellung begann mit einem Zwischenfall, ein Schimmelwallach bekam eine Kolik und konnte nicht eingesetzt werden, so kam die Freiheitsdressur gehörig durcheinander. Als endlich die große Schlußparade absolviert war, atmete der Inspizient erleichtert auf. Glaubtreu erwartete ihn in seinem Wagen, um den Tag auszuwerten. Das geschah immer dann, wenn es besondere Vorfälle gegeben hatte. »Setz dich, Harry!« Der Direktor zeigte auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Tut der Fuß weh? Lege ihn hoch!« Körber nickte dankbar und streckte sein Bein auf einem Hocker aus. Der Prinzipal holte zwei Flaschen Original-Pilsner aus seinem Extrabestand hervor, goß zwei Gläser voll und stieß mit ihm an. »Das war bestimmt ein historischer Tag für das VP-Revier: Ein Zirkusdirektor erstattet Vermißtenanzeige anstelle des besoffenen Ehegatten. Eine schöne Visitenkarte haben wir abgegeben: Zirkus Hansa intim!« Glaubtreu schnaufte empört. »Ich verstehe bloß nicht: Warum kippt Kardos derart aus den Latschen? Sonst nie was gewesen, ein wahres Muster an Disziplin. Wenn ich an letzten April denke, jeder Zweite die Grippe, Kardos kam wacklig in die Gasse, seinen Pascha am Halfter, ausgesehen hat’s, als schleppt der Bär seinen Chef ’raus zur Vorstellung. Und jetzt?« Körber schüttelte nichtverstehend den Kopf. »Der ahnt, was die Glocke geschlagen hat, kannst du mir glauben, daß mit d e r Partnerin das nächste Engagement wackelt. Leid kann er einem tun. Hängt sich an so ein Luder!« Harry Körber grinste, trank sein Bier und meinte: »Aber mit exquisiter Figur, Emil! Die bringt doch das Pikante ’rein! Und die Tiere hat sie im Griff. Er weiß schon, was er an ihr hat! Na, Prost!« Er trank den Rest und seufzte genüßlich. Glaubtreu tat es ihm nach. »Wenn man immer genau wüßte, worauf man sich einläßt! Zirkus Hansa sucht einen ökonomischen Direktor! Ich muß mal ’raus, habe ich zu meiner Frau gesagt, ich komme sonst um. Zwei Jahre,
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höchstens! Jetzt geht’s ins fünfte! Der Große muß zur Fahne, die eine läßt nicht von ihrem Rocker, die andere bringt eine Vier nach der anderen heim – und Vater turnt in der Weltgeschichte herum, solchen Heckmeck am Hals! Na ja, Sonja hat mir noch eine Saison prophezeit!« Emil Glaubtreu stemmte sich hoch, räumte die leeren Flaschen fort und holte zwei frische aus dem Kühlschrank. »Wenn du gehst«, sagte Harry Körber, »ich hinterher! Ich komme an jedem Theater unter. Ideal wäre natürlich der neue Friedrichstadtpalast. Sag mal, was hältst du von einer extrafeinen Zigarre?« Er zückte sein Etui, es enthielt zwei Brasil, und Körber betonte, daß das echte wären. »Noch von Monteiro, erinnerst du dich?« Während Glaubtreu die Spitze einfach abbiß und ausspuckte, kerbte der Inspizient seine Zigarre behutsam mit dem Taschenmesser. »So was müßten wir mal wieder einkaufen, so was wie Monteiro. Ich sage dir, diese Feuerspucker und Schwertschlucker, die fehlen im Progamm. Werden die denn bei uns nicht ausgebildet? Da gibt es nun eine pompöse Artistenschule…« »Das hängt sicher mit dem Arbeitsschutz zusammen«, unterbrach ihn Glaubtreu. »Weißt du, was den Monteiro enorm bei uns beeindruckt hat? Wie ich mit ihm zum Zahnarzt bin, als seine Prothese kaputt war, und brauchte keinen Groschen zu bezahlen. Da hat er dem Doktor paar Brasil geschenkt und mir eine ganze Kiste. Und Amigo hinten und Amigo vorne. Vergeß ich nie!« »Meinst du, das bring ich mein Lebtag wieder los? Manegegeruch –! Ich dachte immer, das sind so Erfindungen – Kinkerlitzchen!« Beide rauchten, aber mit Genuß tat es sichtlich nur Körber, während Glaubtreu wild paffte. Der Inspizient gab sich optimistisch: »Morgen ist alles wieder im Lot, die Kardos ist wieder da…« »Das sagte man mir auf dem VP-Revier auch«, unterbrach ihn Glaubtreu, »die haben da wohl so ihre Erfahrungen!« »Und Enrico denkt nicht mehr an seinen toten Onkel«, fuhr Körber fort, »ist ’ne alte Kiste: einmal dick der Wurm drin, kommen danach glänzende Tage!« Glaubtreu schüttelte den Kopf. »Das hat er dir auch erzählt? Was Gescheiteres als ein toter Onkel ist ihm offenbar im Moment nicht eingefallen!«
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Harry Körber versicherte, das Telegramm gelesen zu haben und von Enrico gefragt worden zu sein, ob Fleurop Kränze verschickte. Sonja sah die Silhouetten der beiden Männer hinter der Gardine des Direktorwagens. Sie blieb stehen und hielt lauschend den Kopf geneigt. Glaubtreu war unschwer zu erkennen, nun hörte sie an der Stimme, daß Körber der Besucher war. Worüber gesprochen wurde, verstand sie nicht. Es war ihr auch nicht wichtig, ihr Wissensdurst war gestillt. Lautlos lief sie weiter und steuerte Enricos Wagen an. Beim Musikalclown brannte Licht, hinter dem Vorhang bewegte sich sein Schatten. Sonja klopfte an die Tür. Sie wurde so rasch geöffnet, daß die Alte erschrak. »Du?« klang es wenig erfreut. Enrico schien im Begriff, schlafen zu gehen, sein Gesicht glänzte von dick aufgetragener Fettcreme. Sonja versuchte durch den Türspalt zu blicken. »Dein Onkel, ich habe noch nicht Beileid gesagt, entschuldige! Entschuldige vielmals, Enrico!« Der starrte die Alte verblüfft an, in dem diffusen Licht, das durch die Türscheibe nach draußen fiel, bekam ihre Gestalt etwas Gespenstisches. »Du bist wohl meschugge! Mitten in der Nacht!« sagte er aufgebracht. »Ich habe Licht gesehen bei dir und plötzlich der Gedanke, ich muß etwas Gutes sagen für deinen Onkel. Nun komme ich für Trost und du schimpfst! Pfui!« »Also, danke schön! Nacht!« knurrte der Mann im Pyjama und wollte die Tür schließen. »Du, Enrico«, sagte Sonja mit eigenartiger Stimme, »wieso schickt deine Mama zwei Telegramme?« »Zwei? Wieso denn zwei?« »Eins gestern und eines heute! Warum zwei wegen einen toten Onkel? Oder war das gestern morgen, mit dem du gleich zu Lida Kardos bist, gar nicht von deine Mama?« Enrico atmete schnaufend und machte eine unbeherrschte Bewegung, als wollte er die alte Frau die Stufen hinabstürzen. Er bezwang sich aber und sagte mit mühsam beherrschter Wut: »Du schnüffelst mir nach, du alte Hexe? Was geht dich denn mein Privatleben an? Kümmere dich um dich selber, um einen Platz im Altersheim, du Kröte! Höchste Zeit, daß du dahin verschwindest, daß einer den Vorschlag macht! Dort kannst du herumklatschen und schnüffeln!«
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Sonja reckte den Kopf vor, ihre Nase glich einem Raubvogelschnabel, der hacken wollte. »Mach doch Vorschlag, komm! Chef hat noch Licht! Komm, Enrico! Mußt dich nicht umziehen – Pyjama oder Kostüm – ist bei dir kein Unterschied. Komm –!« Der Clown schnaufte wütend und drohte: »Du – ich kann dir sagen!« »Na, was?« spottete Sonja. »Bist ein Schweinehund! Du weißt was, aber du sagst nicht! Chef hat dicken Kopf, aber es rührt dich nicht! Ist Schweinerei, Enrico! Chef ist wunderbarer Mensch. Hast du kein Gewissen?« Enricos Stimme klang plötzlich nachgiebig. »Bitte – hier ist das Telegramm. Komm ans Licht, kannst selbst lesen!« Sie hielt das Papier dicht an die Augen und schüttelte den Kopf. »Du bist Lügner. Ist nicht von gestern früh –! Daß du Hexe zu mir sagst, Kröte – mir egal! Aber wenn ich zu dir sage, ich verachte dich – ist dir auch egal, ja?« Sie wendete sich ab, tappte die Stufen hinab und rief über die Schulter zurück: »Schlaf schön, du Clown mit Papagei!« Die Alte hastete davon. Das Dunkel verschluckte sie; Enrico stolperte die Stufen hinunter und schrie hinterher: »Sonja, warte! Komm zurück! Paar Minuten, komm!« Wie ein Spuk tauchte Sonja wieder auf und blieb vor ihm stehen; er riß die Tür auf und machte eine einladende Handbewegung. Sie nahm bedächtig die Treppe, und der Papagei begrüßte sie mit einem schrillen Pfiff. Enrico goß Kognak in zwei Schwenker, schob einen Sonja hin; so wie sie auf dem Hocker kauerte, ähnelte sie dem Vogel auf der Stange. Das Glas schob sie fort. Enrico zuckte die Schultern und kippte seinen Schnaps. Er wanderte umher und suchte einen Anfang, Sonja beobachtete ihn stumm. »Sie hat mich reingelegt«, begann er endlich. »Sie wäre zur Vorstellung wieder hier. Es ging um eine Nerzjacke, die ihr Bagnaresi aus Prag mitbringen sollte. Das sei lange verabredet, aber Kardos soll nichts davon erfahren.« »Sagst du Bagnaresi?« »Die Italiener.« »Die mit Rakete?« »Nein, der Schulterperche! Letztes Jahr, Brno und Bratislava. Die beiden außer Saison-Vertrag!« »Weiß ich nicht mehr.« Sonja zuckte die Schultern.
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Enrico berichtete hastig und so, als sei er froh, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Lida habe ihm gesagt, daß Bagnaresi ihr schreiben solle und ob er nicht an ihn schreiben könne, wegen Lidas Mann, damit der nicht dumme Fragen stellte. Es kamen zwei Briefe, darin jedesmal ein Umschlag »Für Lida«. »Gestern das Telegramm: Für Lida Kardos. Sind Mittwoch fünfzehn Uhr Raststätte Dörbach. Gruß Titus.« Sonja ließ den ruhelos Hin- und Herlaufenden nicht aus den Augen. »Zeig’s mir!« Er wehrte ab. »Denkst du, das heb ich auf?« »Ist jetzt Wahrheit, ja?« fragte sie mißtrauisch. »Hätte ich vorher auf der Landkarte nachgeguckt – ich hätt’ der das Telegramm nie gegeben, kannst du glauben. Ich hätte den Braten gerochen!« »Das versteh ich nicht«, sagte Sonja. Enrico goß noch einen Kognak in sein Glas und trank ihn hastig; des Umherwanderns müde, sank er auf den Frisierstuhl nieder. »Wo die sich getroffen haben, das ist kurz vor der Grenze, ’rüber nach Westdeutschland. Kapierst du jetzt? Die ist weg! Illegal! Die hat alles im Stich gelassen. Und Kardos muß was ahnen. Der trinkt doch nie! Sonja! Wenn er erfährt, ich habe da mitgeholfen – der schlägt mich tot! Der läßt Pascha auf mich los!« Sonja schluckte. Sie rückte den Kognakschwenker wieder heran und trank ihn aus. »Was du für Zeug redest«, sagte sie, »hast Sauerkraut im Gehirn!« Doch Enrico berichtete eigensinnig weiter: »Einmal, das ist in Brno gewesen, komme ich ins Chapiteau. Bagnaresi probte mit seiner Frau, aber es war nicht seine Frau, die an der Stange turnte. Es war Lida! Dasselbe schwarze Haar, die Figur, zum Verwechseln. Es sah aus nach einem Jux. Bagnaresi lachte. Prima, prima, drei Bagnaresi! Große Nummer! Sonja, geht dir ein Licht auf?« Der Clown beugte sich vor und starrte die Alte beschwörend an. Sonja schüttelte ratlos den Kopf. »Aber ist doch verrückt. Wie will sie weg ohne Papiere? Ich verstehe nicht viel von Vorschriften, aber ich weiß, man muß Papiere haben, Paß! Ich bin neunundzwanzig mit Sarrasani nach Amerika. Erst haben die Amerikaner meine Schlangen untersucht und meinen Paß. So eine aus Montenegro, Cetinja, und damals war wieder
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einmal große Schießerei auf Balkan, weiß nicht mehr warum.« Sie verstummte. »Pässe kann man fälschen –! Mensch, Sonja, wenn das rauskommt!« »Gib noch einen«, sagte sie. Enrico schenkte ein, und seine Hand zitterte so, daß der Flaschenhals klirrend ans Glas schlug. »Steckst in keine gute Haut«, sagte sie und trank den Schnaps. »Er schlägt mich tot«, murmelte Enrico dumpf. »Warst dumm. Hast bißchen zu lange hingeguckt auf Knie unterm Bademantel, auf schöne Brust. Nein, ich weiß nichts, hast mir nur von deinem Onkel erzählt. Gute Nacht!« Sie erhob sich steif und verließ den Wagen. Enrico blieb mit leerem Blick sitzen. »Quedlinburg – Warnemünde!« krächzte Koko der alten Frau hinterher. Der Streifenwagen der Volkspolizei bog von der Hauptstraße ab auf einen schmalen, aber asphaltierten Waldweg; dem Hinweisschild zufolge führte er zur »Waldsiedlung Hubertushöhe«. Nur wenige der romantisch gelegenen Grundstücke waren ständig bewohnt, die Datschen unter den hohen Kiefern dienten vor allem als Wochenendbehausungen. »Fahren Sie langsamer!« befahl der Streifenführer, Hauptwachtmeister Krüger. Der junge Wachtmeister am Lenkrad, der erst vor kurzem zum Volkspolizei-Kreisamt versetzt worden war, fuhr seinen ersten Einsatz mit dem Streifenwagen; er hob den Fuß auf dem Gaspedal an, und der Lada rollte langsamer. Wenigstens bricht er keine Diskussion vom Zaun, dachte Krüger, welches die ökonomischste Drehzahl in den kleinen Gängen war. Die frisch von der Schule kommenden jungen Genossen neigten dazu, ihr theoretisches Wissen an den Mann bringen zu wollen. Krüger hatte den Abstecher nach »Hubertushöhe« vorgeschlagen, weil es ihm die herrlich gelegenen Gärten angetan hatten. Er war selbst Hobbygärtner in einer Kolonie auf einer früheren Abraumhalde. Dort wirkte noch alles unfertig und neu, die daumenstarken Bäume brauchten Jahre, ehe sie Schatten spendeten, dagegen wirkten die gepflegten Waldparzellen paradiesisch.
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Das schmale Asphaltband endete auf einem Parkplatz im Schatten alter Kiefern; er war für die Besucher bestimmt und für die Fahrzeuge jener Datschenbesitzer, deren Parzellen höher am Hang nur auf Fußpfaden zu erreichen waren; ein halbes Dutzend Pkws parkten hier. »Halten Sie mal!« befahl Krüger. Der Streifenwagen stoppte, der Motor verstummte, und der Wachtmeister sah den älteren Genossen fragend an. Hauptwachtmeister Krüger nahm die Mütze ab und wischte mit dem Taschentuch das Schweißband trocken. Er war über die Fünfzig hinaus und trug das eisengraue Haar streichholzlang. Es hieß, daß Krüger auf eigenen Wunsch im Streifendienst blieb, Innendienst wäre ihm ein Greuel gewesen. »Fällt Ihnen was auf?« fragte Krüger. Wachtmeister Hinze ahnte, daß der Streifenführer nicht zum Spaß fragte, zuckte aber ratlos die Schultern. »Nein, ich wüßte nicht, was.« »Ich meine den Škoda da!« Der war ein älteres Modell, ein blauer Škoda-Octavia. Das Kennzeichen SE 14-16 gehörte zum Bezirk Leipzig. Blitzartig fiel Hinze ein, was Krüger meinte. Vor Antritt der Streifenfahrt hatten sie gemeinsam die Sach- und Personenfahndungen durchgesehen. Krüger suchte nun im Fahndungsblatt. Er irrte sich nicht. Nach dem blauen Škoda-Octavia SE 14-16 wurde seit drei Tagen überbezirklich gefahndet. »Sachfahndungen gibt es ’ne Menge«, erklärte Krüger, »und oftmals handelt es sich um abhanden gekommene Kraftfahrzeuge. Vor allem im Sommerhalbjahr werden Mopeds und Motorräder unberechtigt benutzt, bis der Kraftstofftank leer ist, und dann stehengelassen; dasselbe passiert auch mit Pkws. Die Kennzeichen kann man unmöglich alle im Kopf haben«, versicherte Krüger, »aber im Falle des blauen Octavia ging es um mehr. Der gehörte zu einer Vermißtenanzeige. Eine junge Frau war samt ihrem Auto verschwunden!« Wachtmeister Hinze starrte auf das Auto, das seit Tagen nicht mehr benutzt zu sein schien. Der Staub darauf war nicht zu übersehen. Krüger blätterte im Fahndungsbuch. »Kardos heißt sie, Lida Kardos, eine Artistin vom Zirkus Hansa!« Der Wachtmeister blickte sich prüfend um und drehte die Scheibe herab. Die meisten Grundstücke wirkten jetzt, mitten in der Woche, verlassen. Nur in einem Rosenbeet rauschte ein Sprenger, und irgendwo ratterte ein Rasenmäher.
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Hauptwachtmeister Krüger stieg aus, lief zum Škoda hin und probierte die Türen. Sie waren verschlossen. Der Pkw war demnach kaum unbefugt benutzt, sondern ordentlich abgestellt worden. »Ob die Vermißte hier irgendwo ist?« fragte Hinze. »Schon möglich«, antwortete Krüger. Eine vermißt gemeldete Ehefrau brachte ihn nicht um die Fassung. Im Verlaufe von dreißig Dienstjahren hatte er genug mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt; meist waren die Frauen nach einem Ehekrach davongelaufen und fanden sich wieder ein, sofern nicht ein Mann dahintersteckte, was auch vorkam. Dann endete es gewöhnlich mit einer Ehescheidung. Die Gelassenheit, mit der Krüger über den Fall sprach, verfehlte nicht ihre Wirkung auf den jungen Volkspolizisten. Bei Krüger sei er in den besten Händen, hatte man ihm vorausgesagt, es gäbe nichts, was den aus der Ruhe brächte. Der Streifenführer meldete den aufgefundenen Škoda-Octavia über Sprechfunk dem VPKA und erhielt die Weisung, das Eintreffen der K abzuwarten. Die Sonne wanderte weiter, und Hinze fuhr den Lada wieder in den Schatten. Krüger knöpfte seine Uniformjacke auf und rückte sich auf dem Beifahrerplatz bequem zurecht. »Wollen Sie sich die Füße vertreten? Aber in Sicht- und Rufweite!« Hinze nickte und stieg aus. Die Neugier trieb ihn zum Škoda hin. Welches Geheimnis umgab wohl das hier abgestellte Fahrzeug? Wirre Spekulationen schossen ihm durch den Kopf. Wurde er bei seinem ersten Einsatz mit einem Verbrecher konfrontiert? Bei der Vorstellung bekam er einen trockenen Mund. Die Kriminaleinsatzgruppe traf früher ein, als Krüger vermutet hatte. Der grüne Barkas-Bus rollte auf den Parkplatz und hielt. Der beleibte Oberleutnant Schlicht sprang zuerst heraus, ihm folgten vier Kriminalisten, Schlicht und Krüger kannten sich seit Jahren und begrüßten sich vertraut. Der Oberleutnant breitete eine Karte der Siedlung »Hubertushöhe« auf der Motorhaube des Lada aus und wies die Kriminalisten ein. Die Grundstücke bedeckten ein ausgedehntes Waldgebiet. Da der Škoda auf dem Parkplatz abgestellt war, vermutete Schlicht, daß Lida Kardos sich in einer der Datschen aufhielt, die nur zu Fuß zu erreichen waren. Die Kriminalisten bildeten zwei Doppelstreifen, die über Sprechfunk mit Schlicht im Barkas verbunden blieben.
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»Es könnte nicht schaden«, wandte sich Schlicht an Krüger, »wenn sie beide die Parzellen an der Zufahrtstraße abklappern!« »Geht klar«, sagte der Hauptwachtmeister und machte sich mit Hinze auf den Weg, versehen mit einem Foto der Kardos und dem Funkgerät. »Wir haben genau die Ecke erwischt«, murrte der Wachtmeister, »wo die Vermißte garantiert nicht zu finden ist.« »Ach, weißt du, Jungchen«, sagte Krüger gemütlich, »ich habe schon Pferde kotzen sehen. Es gibt Sachen, die gibt es gar nicht, kannste glauben. Vielleicht finden wir sie gerade hier? Stell dir vor, sie hat ein Rendezvous, meinst du, dann parkt sie den Škoda vor der Gartentür des Liebhabers? Na siehst du!« »So gesehen«, überlegte Hinze laut, »könnte dieser Kavalier motorisiert sein, und die beiden amüsieren sich irgendwo an der Ostsee oder in Suhl!« »Möglich«, sagte Krüger, »uns tut ein Fußmarsch gut.« Danach erklärte er, nun wieder dienstlicher: »Was meinen Sie, was hier läuft, falls wir sie nicht finden? Dann wird die ganze Gegend mit Hunden abgesucht!« Viele Parzellen lagen verlassen da, erst bei der vierten entdeckten sie ein Mädchen im Bikini. Es kam zögernd zur Pforte und schien nicht allein zu sein, hinter einem Fenster der Finnhütte bewegte sich die Gardine. Das Mädchen besah flüchtig das Foto und zuckte die Schultern. »Die Frau habe ich nie gesehen.« Ein Mann in Maurerkluft, der, aus Hohlblocksteinen eine Garage baute, unterbrach seine Arbeit, aber von Hubertushöhe kannte er nur diese Parzelle und den Besitzer. »Die Lauferei können wir uns glatt sparen«, maulte Wachtmeister Hinze. Krüger musterte seinen Begleiter mit einem raschen Seitenblick; der Geduldigsten einer schien der nicht zu sein, aber Geduld und Ausdauer waren wichtige Voraussetzungen für ihren Dienst, beides würde man ihm noch beibringen müssen. Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die von schlanken Birken flankiert wurde. Mit den weißen Stämmen und dem satten Blattgrün verliehen sie der Straße eine heitere Note. Vor einem Grundstück parkte ein Auto. Vor einem anderen saß ein Mann mit aufgerollten Hemdsärmeln auf einem Hocker und strich den Staketzaun. Zwischen seinen Lippen hing eine erloschene Zigarre. Neugierig sah er den beiden Volkspolizisten entgegen.
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Der Mann lüftete die Mütze, rieb mit dem Taschentuch seine Glatze, nahm mit spitzen Fingern das Foto und nickte. »Ja, kenne ich«, sagte er, »die ist manchmal bei Ullmanns, klar, das ist sie! Hübsche Frau!« »Irrtum ausgeschlossen?« fragte Krüger. »Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?« »Kann vier Wochen her sein oder auch länger, aber irren tue ich mich nicht.« Krüger und Hinze waren vorher an der Parzelle Ullmanns vorbeigelaufen und hatten dort vergeblich geläutet. Sie gingen zurück, und der Mann, der den Zaun strich, sah ihnen neugierig nach. Das Grundstück gehörte zu den gepflegtesten dieser Straße; ein Goldfischteich war mit Natursteinen eingefaßt, und zwischen den alten Koniferen gab es eine Vogeltränke aus rotem Marmor. Die Datsche war massiv, und die Veranda besaß eine Wand aus bunten Glassteinen. Nur der Rasen hätte längst geschnitten werden müssen. Krüger drückte wieder den Klingelknopf unter dem Namensschild Ullmann. Sie hörten es wie beim ersten Mal in dem Häuschen schrillen, doch auch jetzt rührte sich nichts. »Da drin ist jemand, Genosse Hauptwachtmeister«, behauptete Hinze leise, »die Gardine hat sich bewegt.« »Das kann Zugluft sein«, erwiderte Krüger ungerührt. Die Gartenpforte besaß nur innen eine Klinke, Hinzes ungewöhnlich langer Arm reichte hinüber, er drückte sie hinab; die Tür war nicht verschlossen und schwang lautlos auf. Die Volkspolizisten liefen den Betonweg zum Haus; dort gab es keine Klingel, Krüger hämmerte mit den Fäusten an die Haustür. Es rührte sich nichts, er bückte sich zum Schlüsselloch hinab. »Innen steckt ein Schlüssel!« Beide liefen um das Haus herum. Hinten gab es eine Tür zur Küche, auch sie war von innen versperrt. Hinze drückte gegen das Klappfenster neben der Tür, es fiel spaltbreit nach innen. »Langen Sie hin? Versuchen Sie’s mal!« forderte Krüger. Erst nachdem er die Uniformjacke ausgezogen hatte, erreichte Hinze den Schlüssel und drehte ihn. Sie traten in die Küche, abgestandene Luft schlug ihnen entgegen, auf dem Tisch standen einige Teller mit Essenresten, daneben lagen benutzte Bestecke.
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Sie liefen in die schmale Diele, die Tür zum Bad stand offen, drinnen brannte Licht. Die Zimmertür war angelehnt. Krüger rief: »Hallo! Ist hier jemand?« Er stieß die Tür auf und trat ein. Hinze drängte sich neben ihn. Der ungewöhnliche Anblick brachte Krüger nicht aus der Fassung. Ein Vorhang trennte das große Zimmer in einen Schlaf- und einen Wohnteil. Die bunten Übergardinen waren zugezogen, daher herrschte ein diffuses Licht, an das die Augen sich nur langsam gewöhnten. Vor dem Fenster stand eine Couch, eine exquisite Sonderanfertigung, auch die übrigen Möbel wirkten gediegen; ein scharlachroter Vietnamteppich bedeckte den Parkettboden. Auf der Couch lag eine Frau, langes schwarzes Haar bedeckte das Kissen. Der Kopf war zur Seite gesunken, als wolle sie aus dem Fenster sehen, woran der Vorhang sie hinderte. Der rechte Arm hing auf den Boden herab, bekleidet war sie mit einem großblumig gemusterten, kurzärmeligen Sommerkleid.
»Die ist tot«, murmelte Hinze und wurde blaß; er hatte noch nie einen Leichnam gesehen. Krüger trat zur Couch, drehte den Kopf der Liegenden und hob die Lider an.
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»Frau Kardos! Hallo!« Er rüttelte die Gestalt, aber sie rührte sich nicht. »Tot ist sie nicht, nur weggetreten«, sagte er, »sieh dir das an!« Er deutete auf den Tisch. Darauf lagen eine Spritze und ein Gummiband, ein Kerzenstummel, Zündhölzer und ein Löffel mit rußiger Unterseite. »Haben Sie so was schon gesehen?« fragte Krüger. »Nein.« Hinze schüttelte den Kopf. »Auf die Art bringt man sich um die Ecke, ist bloß ’ne Frage der Zeit!« Der Hauptwachtmeister erklärte seinem Begleiter die Utensilien der Rauschgiftsüchtigen: Mit dem Gummiband wurde das Blut gestaut, damit die Venen heraustraten; auf dem Löffel wurde das Heroin über der Kerzenflamme erhitzt und danach in die Spritze aufgezogen. »Sehr oft ist das Mistzeug nicht astrein«, brummte Krüger, »oder die Dosis ist zu stark, dann gibt der Fixer für immer den Löffel ab! Das nennen sie den ›goldenen Schuß‹! Noch sind wir bei uns von dieser Seuche verschont – und das muß so bleiben, dafür sorgen wir, mein Junge!« Hinze nickte, vom »goldenen Schuß« hatte er schon gehört. Sie traten auf die Veranda hinaus, wegen des besseren Funkkontaktes, und im Barkas-Bus nahm Oberleutnant Schlicht die Meldung entgegen, daß die Vermißte gefunden sei. Er rief die Streifen zurück und forderte beim VPKA einen Rettungswagen an; wenige Minuten später gab die Leitstelle den Bescheid, daß die Datsche dem Kürschnermeister Ullmann in Dessau gehöre. Oberleutnant Schlicht fuhr nach Dessau, um den Datschenbesitzer zu befragen; von der zuständigen VP-Inspektion wurde ihm ein Kriminalist mitgegeben. Unterleutnant Brand tat den letzten Tag vor seinem Urlaub Dienst. Schlicht fand es verständlich, daß er mit seinen Gedanken mehr bei den vor ihm liegenden Urlaubswochen weilte als bei der Befragung eines Bürgers, in dessen Datsche eine seit vier Tagen vermißte Bürgerin aufgefunden worden war. Die Kürschnerei befand sich in einer belebten Hauptstraße. In zwei Schaufenstern waren dekorative Einzelstücke ausgestellt; das solide wirkende Geschäft ließ gediegene Handwerksarbeit erwarten. Schlicht fuhr mit dem Dienstwagen vorbei, wegen des lebhaften Verkehrs bestand Parkverbot, und bog in eine Nebenstraße ein.
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»Hoffentlich bleibt das Wetter so«, äußerte Unterleutnant Brand, als sie zurückliefen, »nichts ist trister als ein verregneter Ostseeurlaub auf einem Campingplatz.« Sie betraten den Laden. Ein melodischer Gong ertönte. Die Einrichtung schien etlichen Kürschnergenerationen gedient zu haben; Vitrinen und Glasschränke besaßen protzige Holzschnitzereien und boten neben preiswertem Kanin auch wertvolle Stücke. Hinter einer gläsernen Schranktür hingen offensichtlich kundeneigene Pelzmäntel zur Reparatur. Der schwere Vorhang teilte sich, und ein hagerer, hochgewachsener Mann betrat den Laden; er knöpfte den grauen Kittel zu, den er eben erst übergestreift haben mochte. Das Gesicht mit der auffallend großen Nase wurde liebenswürdig verbindlich. »Guten Tag, die Herren! Womit kann ich dienen?« Die Kriminalisten murmelten einen Gruß, nannten ihre Dienstgrade und Namen. »Volkspolizei?« fragte der Kürschner. Es klang beunruhigt. »Soll ich abschließen?« Schlicht nickte. »Es wäre schon gut, wenn wir nicht gestört würden. Sie sind doch Herr Ullmann, nicht wahr?« »Ja, gewiß«, versicherte dieser und lief zur Tür; er drehte den Schlüssel, kehrte zurück, wies einladend auf die beiden Kundensessel und rückte sich einen Hocker heran. »Es handelt sich wohl um den Einbruch im Leipziger Brühl? Da kann ich Ihnen leider nichts sagen. Mir hat niemand Felle angeboten, und ich nehme auch grundsätzlich keine Ware an, von der mir keine Zertifikate vorliegen. Ich beziehe das Material nur von der Genossenschaft!« Ullmann atmete tief ein. Er hatte alles sehr hastig hervorgebracht, wobei er es vermied, die Kriminalisten anzusehen. Sein Blick haftete auf einer silbergrauen Persianerjacke, die in einer Vitrine lag. Oberleutnant Schlicht unterbrach den Redestrom nicht, ging aber auch mit keiner Silbe auf ihn ein. Er fragte vielmehr: »Ist Ihnen eine Frau Kardos bekannt?« »Kardos –?« fragte Ullmann gedehnt. »Lida Kardos. Artistin!«
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»Ah ja, natürlich, die Frau Kardos! Sie hat, glaube ich, mit Bären zu tun. So eine Bärennummer, Zirkus, nicht wahr?« »In welcher Beziehung stehen Sie zu Frau Kardos?« wollte Schlicht wissen. Die Brauen in dem Gesicht mit der gewaltigen Nase zuckten. Der Kürschner massierte seinen asketisch hageren Schädel, bis auf einen spärlichen grauen Haarkranz war er kahl. »Beziehung? Na, meine Herren!« Es klang vorwurfsvoll. »Ich stehe in der allernormalsten Beziehung zu Frau Kardos. Sie gehört zu meiner Kundschaft. Wieso? Ist ihr etwas zugestoßen?« »Sie läßt also bei Ihnen arbeiten? Aber Frau Kardos wohnt doch gar nicht in Dessau?« »Oh, das war so: Vor zwei Jahren gastierte bei uns dieser Zirkus, und Frau Kardos war auf der Suche nach einem Kürschner, eine eilige Reparatur. Dann ließ sie bei mir ein Cape arbeiten, insgesamt drei, vier Stücke, ich hab’s nicht genau im Kopf, ich müßte in der Kladde nachschauen.« Der Kürschnermeister schlang seine gepflegten Hände ineinander. Als er die Finger wieder aus der Verrenkung löste, knackten sie in den Gelenken. »Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Frau Kardos war mit meiner Arbeit sehr zufrieden. Kürschnerei ist ja Vertrauenssache. Tja – mehr kann ich dazu nicht sagen.« Zum ersten Mal wich Ullmann den Blicken der Kriminalisten nicht aus. Weshalb ist er wohl so nervös? dachte Oberleutnant Schlicht. Der Kürschner schlug ein Bein übers andere und umschlang mit gefalteten Händen das Knie. »Sie besitzen bei Tannberg, in der Siedlung ›Hubertushöhe‹, eine Datsche?« »Ja, gewiß«, Ullmann nickte. »Vermieten Sie diese?« »Wie meinen Sie das: vermieten?« fragte Ullmann stirnrunzelnd. »An Dauermieter? Nein, nein. Gelegentlich an Sommerfrischler – oder Wintersportler. Ist ja eine zauberhafte Gegend. Und das sind auch mehr Freundschaftsdienste, ein kleiner Kreis, Leute, die wir kennen.« »Gehört Frau Kardos auch zu diesem Kreis?« »Gott – so würde ich das nicht sagen.« »Na, immerhin – der Škoda-Octavia, den Frau Kardos fährt, ist häufig vor Ihrem Grundstück gesehen worden.«
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Ullmanns Stimme verriet Ungeduld. »Ich weiß nicht, wo Sie das herhaben. Von wegen häufig. Vielleicht fünf-, sechsmal in der ganzen Zeit. Das ist für meine Begriffe selten, aber nicht häufig!« Oberleutnant Schlicht brummte Unverständliches. Ihm lag nichts an Wortklaubereien; außerdem ärgerte ihn, daß der Unterleutnant unbeteiligt tat. Wenn er schon ihm allein die Befragung überließ, sollte er wenigstens interessiert tun. »Frau Kardos entspannt sich dort, wenn sie Gelegenheit dazu hat«, erklärte Ullmann, »und nie länger als ein, zwei Tage.« Schlicht wollte wissen, wie diese Vermietungen vor sich gingen, ob telefonisch oder schriftlich, und wie es mit den Schlüsseln gehandhabt wurde, ob Frau Kardos ihretwegen nach Dessau fuhr. Der Kürschnermeister gab wiederum eine weitschweifige Erklärung ab. Demnach pflegte die Artistin anzurufen, ob die Datsche frei sei. Der Einfachheit halber habe man es so geregelt, daß Ullmann ihr eines der drei Schlüsselbunde überließ, übrigens im Einverständnis mit seiner Frau, wie er betonte. »Ich habe Frau Kardos nach anfänglichem Mißtrauen, das gebe ich zu – Artisten, Zirkusvolk, nicht wahr –, als eine sehr vertrauenswürdige Person kennengelernt«, versicherte der Kürschnermeister und betonte besonders: »Wir mögen sie alle beide, meine Frau und ich. Wenn sie von ihren Tourneen erzählt, von ihren Bären – das ist schon eine eigenartige Welt.« »Wann war Frau Kardos das letzte Mal in Hubertushöhe?« ließ sich der Unterleutnant vernehmen. Ullmann krauste nachdenklich seine Stirn. »Moment. Das muß ein Vierteljahr her sein!« »In den vergangenen drei, vier Tagen hat sie also nicht angerufen?« Die Verwunderung des Kürschners überzeugte nicht. »Nein, bestimmt nicht. Wieso?« »Weil seit drei Tagen der Škoda auf dem Parkplatz der Siedlung abgestellt ist. Können Sie sich darauf einen Vers machen, Herr Ullmann?« Der massierte heftig seine Kopfhaut und sagte ungeduldig: »Nein, das kann ich nicht, absolut nicht! Also, wissen Sie, Ihre Art zu fragen. Was ist denn vorgefallen?« »Frau Lida Kardos wird seit drei Tagen vermißt!« antwortete Oberleutnant Schlicht und beobachtete sein Gegenüber.
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Diesmal schien Ullmanns Überraschung echt. »Vermißt?« murmelte er und zuckte ratlos die Schultern. Plötzlich riß er erschrocken die Augen auf, seine Blicke huschten zwischen den Kriminalisten hin und her. »Sie glauben doch nicht, daß – daß sie in meiner Datsche –?« »Doch, Herr Ullmann, wir wissen es sogar! Frau Kardos ist in hilflosem Zustand darin aufgefunden worden!« Der Kürschner schien fassungslos zu sein, obwohl der Oberleutnant der Grund der Hilflosigkeit nicht erwähnte Schlicht empfahl dem Kürschner, sich um seine Datsche zu kümmern, danach ließen sie ihn recht verwirrt zurück. Sie fuhren zur Inspektion, und Unterleutnant Brand äußerte nachdenklich: »Wenn in dessen Pelz keine Läuse sind, dann verschenke ich meinen Urlaubsplatz an den ersten besten, der ihn haben will!« »Sie sind zwar schon fast an der Ostsee, aber trotzdem, erkundigen Sie sich mal nach dieser Sache in Leipzig, diesem Einbruch auf dem Brühl!« »Geht klar, ich schreibe einen Bericht«, versprach der Unterleutnant. »Gesucht wird eine verschwundene Artistin! Vor vier, fünf Jahren war das…« »Nächste rechts abbiegen«, unterbrach ihn Brand. »… da rotierte in Mecklenburg alles wegen drei verschwundener Kinder. Da wurden Keller durchstöbert und Garagen, reine Routinesache. In einer Garage zentnerweise Kupferkabel, ein Keller vollgestopft mit Säcken Weißzement, und so weiter und so fort. Du hebst einen Stein auf und bist platt, was sich da an Asseln drunter verkrümelt.« Schlicht bog in die gewiesene Straße ab und schloß: »Die Kinder wurden übrigens quietschvergnügt auf Rügen angetroffen. Sie wollten mal ein Abenteuer erleben!« Zwei Stunden später saß der Oberleutnant dem Zirkusdirektor Glaubtreu in dessen Wagen gegenüber. Von hier sah er das Rundzelt mit den vier Masten. Die Stoffwände waren zum Lüften hochgerafft und gaben den Blick frei auf die leeren Bankreihen. In der Manege probte ein Jongleur einen Keulentrick – und die Paulis übten auf dem Trampolin. Im extra eingezäunten Bereich der Tierschau drängten sich mehrere Schulklassen.
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»Endlich ist sie wieder da«, sagte Glaubtreu erleichtert. »Kardos hat zwei Tage lang nur gesoffen. Er hat sich zwar einigermaßen gefangen, aber erst wenn seine Frau wieder mitmacht…« »Das wird noch ein bißchen dauern«, unterbrach ihn Schlicht. »Rauschgift, sagten Sie?« Glaubtreu schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bin von Dessau aus über Leipzig gefahren und war im Krankenhaus. Es gibt gar keinen Zweifel: Heroin!« »Nie etwas gemerkt«, versicherte Glaubtreu und schloß: »Kardos scheint nicht dazusein.« Oberleutnant Schlicht erhob sich. »Wie lange bleiben Sie noch hier?« »Morgen geht’s weiter. Neustrelitz.« Die Türscheibe wurde von einer stattlichen Figur verdunkelt, dann wurde geklopft. »Das ist er. Wollen Sie selbst mit ihm reden?« fragte der Direktor. Der Oberleutnant nickte; Kardos schob sich durch die Tür und sah fragend auf den Prinzipial; sein Gesicht versteinerte. »Polizei –?« Schlicht nahm wieder Platz. Kardos setzte sich zögernd. Bei der Mitteilung, daß seine Frau aufgefunden worden sei, wurde der Bärendompteur leichenblaß. Der Oberleutnant schalt sich insgeheim wegen seiner Ungeschicklichkeit, denn »aufgefunden« klang so, als sei sie tot. Deshalb ergänzte er hastig: »Sie lebt – und wie die Ärzte sagen, geht es ihr den Umständen entsprechend gut.« »Welche – Umstände?« fragte Kardos heiser. »Sie ist zeitweise ansprechbar.« »Was ist mit ihr? Ich verstehe das nicht. Ist sie verunglückt? Reden Sie doch!« drängte er. »Herr Kardos! Sie können unmöglich so ahnungslos sein! Ihre Frau ist drogenabhängig! Das kann Ihnen doch nicht entgangen sein! Heroin!« »Was?« Glaubtreu und Schlicht wechselten einen beredten Blick; obwohl das Gesicht Micha Kardos’ ausdruckslos blieb, verriet seine Stimme, wie verwirrt er war. Noch mehr als der Kriminalist war Glaubtreu überzeugt, daß Kardos seine Verwunderung nicht vortäuschte. Der war kein Schauspieler wie Enrico, der Clown.
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Der Oberleutnant bemühte sich, seine Skepsis nicht anmerken zu lassen, dennoch klang es ungläubig: »Herr Kardos! Ihre Frau hat sich eine starke Dosis Heroin gespritzt – und das nicht zum ersten Mal! Sie wissen es doch, ihre Unterarme sind zerstochen, das ist Ihnen bestimmt nicht verborgen geblieben! Woher bekommt sie das Rauschgift?« »Das ist gelogen!« behauptete Kardos halsstarrig. »Wer das sagt, der lügt! Sie ist nicht süchtig und hat auch keine zerstochenen Arme!« Schlicht musterte den Bärendompteur sehr nachdenklich und sagte: »Der Arzt verspricht sich einen helfenden Einfluß, wenn Ihre Frau Sie beim Erwachen sieht. Ich bringe Sie zu ihr!« Glaubtreu versuchte gar nicht erst etwas dagegen einzuwenden. Bevor Kardos über den Zustand seiner Frau nicht im klaren war, mußte man damit rechnen, daß er wieder zur Flasche griff, und dann war an einen Auftritt auch nicht zu denken. »Es tut mir leid«, wandte der Kriminalist sich an Glaubtreu, »aber Herr Kardos wird erst zur Abendvorstellung zurück sein.« Der Dompteur starrte stumpf vor sich auf den Boden, als berührte das Gesprochene ihn nicht. Die Fahrt nach Leipzig verlief schweigend. Schlicht versuchte vergeblich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch Kardos reagierte nicht darauf und versank in dumpfes Brüten; von seiner Miene war nicht abzulesen, was in ihm vorging. Oberleutnant Schlicht benutzte die Autobahnabfahrt nach Schkeuditz, denn der aus alten Backsteinbauten bestehende Krankenhauskomplex lag an der Ausfallstraße. Der Arzt bedauerte, daß ein günstiger Zeitpunkt verpaßt worden war, Frau Kardos sei etwa zehn Minuten lang ansprechbar gewesen und hatte auf Anreden reagiert. Bald darauf sei sie jedoch wieder in Bewußtlosigkeit zurückgefallen. Im Augenblick, erklärte der Arzt bedauernd, sei Kardos’ Besuch gar nicht hilfreich, man müsse abwarten. Der Oberleutnant trat nahe an den Arzt heran. »Mir liegt daran, daß der Bürger Kardos seine Frau identifiziert!« Der Arzt blickte überrascht auf den Kriminalisten, dann auf den Bärendompteur, der seine Ungeduld nicht länger zügelte. »Wo ist sie?« fragte er drängend. »Kommen Sie!« Der Arzt lief vor ihnen den Gang entlang. Die Türen lagen in tiefen Nischen und verrieten dickes Mauerwerk, vor der
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Jahrhundertwende pflegte man solche festungsähnlichen Bauwerke im Kasernenstil zu errichten. Die Kranke lag in einem Einzelzimmer. Der Stationsarzt trat ein. Eine Krankenschwester erhob sich vom Stuhl neben dem Bett und trat ans Fußende. »Wie geht es ihr?« fragte der Arzt. »Unverändert«, antwortete die Schwester, »manchmal spricht sie, aber ich verstehe es nicht.« Der Arzt nickte Kardos ermunternd zu. Der tat rasch die paar Schritte zum Bett hin. Oberleutnant Schlicht trat auf die andere Seite und beobachtete Kardos und die Patientin. Die schmächtige Frau mit dem üppigen schwarzen Haar, das auf dem Kissen hingebreitet lag, hielt die Augen geschlossen, aber die Lider zuckten, als würde sie von schlimmen Träumen gepeinigt. Mit Kardos passierte eine seltsame Veränderung: Er beugte sich über das Bett, zuckte wie von einem Blitz getroffen zusammen und tat zwei Schritte rückwärts. Der Artist schluckte, rang nach Luft und stieß einen gequälten Laut aus. »Das ist sie nicht!« »Wie bitte?« fragte der Arzt. »Das ist nicht Lida. Nicht meine Frau!« Der einzige, der nicht verwundert schien, war Oberleutnant Schlicht. »Wer ist es dann, Herr Kardos?« fragte er. »Sie sieht meiner Frau ähnlich. Das ist…« Er brach ab und biß sich auf die Lippen, seine Halsschlagader trat wulstig heraus. »Ja? Wer ist es?« drängte der Oberleutnant. »Das ist – eine Fremde!« stieß Kardos hervor, drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Der Oberleutnant folgte ihm und deutete auf den Besucherraum, der um diese Zeit verlassen lag und mit seinen exotischen Pflanzen mehr einem Gewächshaus glich. Kardos sank auf einen Stuhl, sein Gesicht drückte grenzenlose Teilnahmslosigkeit aus. Schlicht zerrte den Reißverschluß seiner Tasche auf und entnahm ihr eine kleine Brieftasche. »Hier ist der Personalausweis Ihrer Frau. Wie soll der in die Hand einer Fremden gelangt sein? Und wieso finden wir Ihren Pkw auf dem Parkplatz der Siedlung ›Hubertushöhe‹? Dort wurde in einer Datsche diese angeblich fremde Frau aufgefunden!«
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»Das weiß ich nicht«, antwortete Kardos tonlos, »ich weiß wirklich nichts!« Major Werner empfing die fernschriftliche Mitteilung des VolkspolizeiKreisamtes über die Ermittlung Oberleutnant Schlichts. Danach fuhr er ins Krankenhaus. Es schien ihm ein gutes Vorzeichen, daß dieselbe Ärztin in der Intensivstation Dienst tat wie bei seinem ersten Besuch. Sie empfing ihn an der Glastür des Flures. »Frau Bagnaresi ist völlig apathisch. Spricht kein Wort, scheint nichts zu verstehen.« »Kann sie nicht oder will sie nicht?« fragte der Major. »Physisch müßte sie in der Lage sein. Wir haben ein EEG gemacht. Wo ist denn Ihr Dolmetscher?« »Wir brauchen keinen«, behauptete der Major. »Stellen Sie mich bitte vor.« Die Ärztin sah ihn erstaunt an und nickte. Sie betraten das Zimmer. Werner sah sofort, daß es der Patientin augenscheinlich besser ging; sie war nur noch mit zwei Drähten an ein Gerät angeschlossen. Die Schläuche waren entfernt worden; die Verbände schienen kürzlich erneuert. Der Kopf auf dem weißen Kissen bewegte sich. Das kleine Gesicht wandte sich zur Tür. Die Ärztin beugte sich zu ihr hinab. »Signora Bagnaresi, here is a officer from the police. His name is Major Werner! Signora?« Die Patientin verriet mit keiner Regung, daß sie verstanden hatte. Die Ärztin sah Werner ratlos an. Der berührte sie am Arm und trat an ihre Stelle. »Wir versuchen es mal auf Deutsch.« Der Major beugte sich über das Bett und sagte ohne sonderliche Betonung: »Sie sind nicht Anna Bagnaresi. Sie heißen Helga König, mit Künstlernamen Lida Kardos! Sie wissen, weshalb ich hier bin! Ich muß Ihnen einige Fragen stellen und bitte Sie, mir kurz und wahrheitsgemäß zu antworten. Die Frau Doktor bleibt dabei. Sagen Sie, wenn es Sie zu sehr anstrengt. Ich nehme das Gespräch auf Tonband auf, das ist so üblich!« Werner blickte fragend auf die junge Frau mit dem kurzen blonden Haar im weißen Arztkittel. Sie nickte zum Einverständnis und rückte zwei Stühle an das Bett. »Fragen Sie«, flüsterte Lida Kardos.
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Die Dienstzeit war lange vorbei, als Major Werner zur Dienststelle zurückkehrte; der Oberst befand sich noch im Hause und erwartete ihn. Im Zimmer des Dienststellenleiters war auf dem Besuchertischchen ein Imbiß angerichtet. »Ich habe was ’raufbringen lassen«, sagte der Oberst, »ich dachte, du wirst noch nicht…« Er brach ab. »Na, alles klar?« »Ja und nein«, antwortete Werner und musterte hungrig die belegten Brötchen. »Lang zu. Wieso?« »Ich bringe knapp zwei Stunden Band mit, das Resultat von sieben Stunden Aufenthalt im Krankenhaus, mal fünf Minuten, mal zwei, mal zehn. Ich bin nicht scharf drauf, so was bald wieder zu erleben.« Er nahm ein Käsebrötchen. »Weshalb? War sie aggressiv?« »Nein, gar nicht. Die Kardos ist übrigens eine ausgesprochene Schönheit, sechsundzwanzig Jahre, aber sie wird sich bis ans Ende ihres Lebens nie mehr ohne fremde Hilfe kämmen können, baden können, Schuhe eigentlich überflüssig, bloß zur Dekoration. Und sie weiß es noch nicht. Aber so, wie sie mich manchmal angesehen hat, so fragend, forschend – ich bin nicht sicher, ob sie aus meiner Miene nicht abgelesen hat, wie es um sie bestellt ist. Das sagt sich so leicht, objektiv bleiben, emotionslos an den Fall herangehen und sachlich urteilen. Und dann siehst du dich mit soviel menschlicher Tragik konfrontiert, stehst da – und schluckst erst ’n paar Murmeln ’runter, ehe du einen Ton ’rausbringst. Wie’n Anfänger kam ich mir vor!« schloß der Major. Der Oberst schenkte eigenhändig das Bier ein. »Soll ich das Band auflegen?« fragte Major Werner. »Morgen. Jetzt ist mir eine Zusammenfassung lieber. Vor allem die Punkte, wo die Aussage der Kardos von der Aussage der Bagnaresi abweicht.« »Da muß ich dich enttäuschen«, versicherte Major Werner. »Die beiden Aussagen sind völlig deckungsgleich. Die Kardos gibt folgende Version: Sie hat die Bagnaresis voriges Jahr in Prag kennengelernt, machte da spaßeshalber bei Proben der Perche-Nummer mit, was bei der frappanten Ähnlichkeit der beiden Frauen Bagnaresi zu der Idee veranlaßt haben soll, die Nummer vielleicht einmal zu dritt aufzuziehen. Aber das hätten sie nie ernst genommen.
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Die Kardos gestand mir ungefragt, daß sie mit Bagnaresi geschlafen habe und mit ihm heimlich korrespondierte. Die Post lief über einen Musikalclown, einen früheren Liebhaber; an den hat Bagnaresi auch das entscheidende Telegramm für die Kardos geschickt. Daraufhin fuhr sie zur Raststätte Dörbach, und dort eröffnete Bagnaresi ihr den irrwitzigen Plan: Er nimmt die Kardos anstelle seiner Frau mit ’rüber nach Hannover, weil sie mal wieder scharf auf dem Trip war und wahrscheinlich die Filmaufnahme geschmissen hätte, wie sie beinahe in Prag die Fernsehaufnahme geschmissen hat. Gestattest du?« Der Oberst nickte, und Werner trank sein Glas in einem Zug leer. Dann fuhr er fort: »Bagnaresi sei längst nicht mehr erste Sahne, meinte sie, nach jedem Engagement müßte er grapschen, ein Mann Mitte Vierzig, eine Drogensüchtige am Hals, die seine Partnerin ist. Die Bagnaresi, sagt die Kardos, sei dann in die Datsche von Ullmann gefahren worden.« »Und zufällig hatte die Kardos die Schlüssel bei sich!« warf der Oberst ein. »Die hätte sie immer bei sich, wenn sie in die Gegend fährt.« »Na, mal weiter!« »Man habe die Bagnaresi wohlversorgt mit Rauschgift zurückgelassen«, fuhr der Major fort, »tauschte Paß und Personalausweis, und in spätestens vierundzwanzig Stunden sollte der Rücktausch erfolgen. Die beiden passieren dann wieder die Grenze, Hannover ist gelaufen, Bagnaresi nimmt seine Frau in Empfang, und die Kardos fährt zurück in ihren Zirkus. Die Konventionalstrafe hätte sie mit links weggesteckt, das Abenteuer hätte ihr ja über tausend West eingebracht. Nein, ihren Mann und ihre Bären hätte sie nie im Stich gelassen, im Traume nicht. Fast jede der Befragungen fängt sie reumütig an: Ja, sie weiß, sie hat was vorgehabt, was nicht in Ordnung war. Aber vor der Grenze wäre sie vielleicht noch abgesprungen.« »Sieh mal an!« warf der Oberst sarkastisch ein. »Ich hatte ihr vorgehalten, daß die Ärztin sagt, sie müsse vor Antritt der Fahrt so viel Beruhigungstabletten genommen haben, daß sie wahrscheinlich schlief, als der Unfall passierte. Ihre Antwort: Ja, Titus gab mir Tabletten und nahm auch selber eine. Es war ja immerhin kitzlig, ich mit Annas Paß. Er sagte: Ich klapp den Sitz ’runter, leg dich hin, damit es so aussieht, du bist vom Fernsehen in Prag noch ganz kaputt. Ich sag denen schon was. Geschlafen habe ich aber nicht.«
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»Und daß sie mit Schmuck behängt war, im Koffer ihr Zobelcape und ihren Nerzmantel?« »Chinchilla! Wenn sie wegfahre, käme sie sich ohne diese Sachen wie nackt vor.« »Und das Zeug in dem Fiat? Der Wolframdraht, die Ketten und Ohrringe, dieser Haufen Kronen?« »Genau wie die Bagnaresi: nicht die geringste Ahnung. Sie regte sich ziemlich darüber auf. Das ist übrigens im letzten Fünftel des Bandes.« Es entstand eine Pause. Der Oberst griff in Gedanken nach einem Schinkenbrötchen und ärgerte sich darüber, als er hineinbiß. »Und was meinst du nun?« fragte er. »Ich glaube, die Kardos gibt genau die Version wieder, mit der die Bagnaresi kirre gemacht wurde. Bagnaresi und die Kardos, das sollten die neuen ›Zwei Bagnaresi‹ werden. Womöglich hat das sogar die Kardos eingefädelt. Zur Zeit wird über sie recherchiert. Sie hat nicht eben die blütenreinste Biographie. Mal in ein Verfahren verwickelt gewesen, da ging es um Pelzdiebstahl, aber sie kam mit Bewährung davon. – Vielleicht sagt sie eines Tages, was sie mit Bagnaresi wirklich vorhatte. Vorläufig kriegen wir kein Wort mehr aus ihr heraus oder immer bloß dasselbe. Für unsere Vermutungen haben wir keine Beweise.« »Na gut, morgen mittag schriftlich, klar?« »Ist klar«, antwortete Major Werner. Der Oberst drückte die Taste und befahl einen Wagen. Der Zirkus spielte seit drei Tagen in Neustrelitz. Alle Vorstellungen waren ausverkauft. Obwohl Kardos nie wieder getrunken hatte, richtete Glaubtreu es so ein, sich kurz vor jeder Vorstellung zu überzeugen, daß der Bärendompteur nüchtern war. Wie zufällig erschien der Prinzipal am Bärenwagen, als Kardos die Tiere für den Auftritt fertigmachte. »Wie nimmt Pascha den kleinen Tommy an? Geht das?« fragte Glaubtreu. »Ja, wenn er nicht mehr bei Wiechmann füttert. Er muß von den Löwen weg.« Der Direktor nickte. »Na klar, Tommy hat doch komisches Talent. Zieh mit dem was auf. Sagen wir mal: Er zittert vor Angst, weil er Pascha das Motorrad bringen muß, fällt dabei auf die Schnauze…« »Ich wollte noch was sagen, Chef!« unterbrach Kardos ihn.
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»Ja?« »Daß ich mich so besoffen habe, die Vorstellungen geschmissen habe…« »Haben wir ja verstanden«, unterbrach ihn Glaubtreu. »Aber um die Konventionalstrafe kommst du nicht herum, Micha. Daß das klar ist!« »Ich hab’s gewußt!« »Um so besser!« »Ich meine – ich hab’s gewußt, daß sie was vorhatte. Daß sie abhaun wollte.« »Wie?« »Sie hat mich bestohlen. Sie hat mir meinen Ring gestohlen! Den Smaragd in Platinfassung! Wie konnte sie das bloß tun?« Glaubtreu schwieg betroffen, sagte endlich: »Melde das der Polizei, Micha! Gleich morgen früh fahren wir hin!« Kardos nickte, sagte dann: »Ist Zeit, Chef!« In dem Zirkuszelt klangen die Zimbeln zur Amboßpolka, dazu Pferdetrappeln, Peitschenknallen und das rhythmische Geläut der Schellen an den Prunkgeschirren. Die Musik brach ab. Beifall brandete auf, danach setzten wieder Musik und Schellenklang ein. Körber und Glaubtreu warteten in der Gasse auf den Abgalopp der zwölf Schecken, die übermütig herauspreschten. Aus den Lautsprechern klang die Stimme der Ansagerin: »Und nun die Bärengruppe Kardos! Micha Kardos und Compagnon: Pascha, Senta und der kleine Stani – drei muntere, dickfellige Burschen. Pascha hat den Ehrgeiz, die Fahrerlaubnis Klasse vier zu machen. Was meinen Sie, verehrtes Publikum, hat er das Zeug dazu? Und hier – Micha Kardos!« Die Kapelle spielte »Über den Wellen«; Prinzipal und Inspizient nickten Kardos und seinem neuen Partner Tommy ermunternd zu und drückten die Daumen; das Publikum empfing sie mit freundlichem Beifall.
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1. Auflage y © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) – Berlin, 1983 y Lizenz-Nr. 5 y Printed in the German Democratic Republic: Druckerei des Ministeriums für Nationale Verteidigung (VEB) – Berlin – 3 2312-5 y Lektor: Helga Paulus y Umschlaggestaltung und Illustrationen: Jürgen Wagnery Typografie: Anne-Katrin Jeschke 00045