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TE Roman Deutsche Erstausgabe
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Scan by Schlaflos MARC OLDEN
TE Roman Deutsche Erstausgabe
V WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/7997 Titel der Originalausgabe TE Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Pfaffinger Copyright © 1990 by Marc Olden Copyright © der deutschen Ausgabe 1990 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1990 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Werksatz Wolfersdorf GmbH Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-03699-9
Für meine geliebte Diane 5
Wirklich intensiv zu leben, die Gaben des Lebens wahrhaftig zu empfinden heißt, nicht nur die Höhen, sondern auch die Tiefen, nicht nur das Glücksempfinden auf dem Gipfel, sondern auch den Abstieg ins Tal gleichermaßen zu akzeptieren und zu genießen. Die Höhepunkte des Lebens spenden Kraft, doch auch im tiefsten Tal gibt es Fruchtbarkeit... Jeder Versuch, dieses Naturgesetz zu ändern, wäre vergebens. Kung Tu, History, Philosophy and Technique von David Chow und Richard Spangler TE: Der chinesische Begriff für das Zusammenwirken von Yin und Yang oder den wechselseitigen Einfluß der positiven und negativen Lebenskräfte aufeinander. Manchmal auch Bezeichnung für: Die Macht. Bushi: Japanische Krieger, die dem Kodex des Bushido folgen, der Ehre, Treue, Pflichtgefühl und Gehorsam verlangt.
1 Manila Der Feuerteufel Leon Bacolod hatte in dreizehn Jahren siebenunddreißig Menschen bei Brandstiftungen umgebracht. Daß er selbst mit viel Glück sowohl Verletzungen als auch Verhaftungen entgangen war, schrieb er der Jungfrau Maria zu. Sie verehrte er mit abgöttischer Hingabe. Bacolod, ein kleingewachsener Filipino von einundzwanzig Jahren, hatte ein ansprechendes, jungenhaftes Äußeres, glattes, am Hinterkopf geschorenes Haar und einen Wolfsrachen, der ihm das Sprechen und Schlucken erschwerte. Vor jedem Feuer stiftete er Unserer Lieben Frau in der Quiapokirche Blumen. Dort betete er auch einen Rosenkranz vor dem Schwarzen Nazarener, einer lebensgroßen Christusstatue aus dem 17. Jahrhundert. Mexikanische Indios hatten sie aus Schwarzholz geschnitzt, ehe die Figur dann auf einer spanischen Galeone nach Manila gekommen war. Die Religion war Bacolods Leidenschaft und Zuflucht. Im Glauben fand er Erfüllung und Ekstase. An einem schwülen Märzabend trat er aus der Quiapokirche, einen Bambusrosenkranz zwischen den Fingern. Bekleidet war er mit der grauen Mütze, dem hellgrauen Hemd und der dunkelgrauen Hose des Werkschutzes von Taaltex Industries. Er trug einen Einkaufsbeutel von Rüsten, einem beliebten Manilaer Kaufhaus, in dem er bis vor kurzem als Wachmann gearbeitet hatte. Weil man ihn bei dem Versuch, kleinere Artikel unter der Hose herauszuschmuggeln, erwischt hatte, war er entlassen worden. Sein Kinn zierte ein kleines fleischfarbenes Pflaster. Heute hatte er sich schon dreimal rasiert. Nicht nur das Gesicht — auch die Beine und die Unterarme, sogar die Handrücken. Im Beutel trug er einen Viertelkanister Benzin, ein Paar 7
Gummihandschuhe, eine Schachtel Gauloises und mehrere Streichholzbriefe. Ferner enthielt der Beutel ein blaues Kleid, schwarze Riemenschnürschuhe, einen wattierten BH, eine rote Lederhandtasche und eine schwarze Nylonperücke. In einem roten Datsun, Baujahr 1983, fuhr Bacolod auf dem Roxasboulevard stadtauswärts in Richtung Süden, vorbei an den hell erleuchteten Luxushotels der Manila Bay und dem Kulturzentrum, einem wirren Komplex von achthundert Hektar auf trockengelegtem Meeresboden. Mit seinen Museen, Ausstellungshallen und Theatern bildete das Kulturzentrum praktisch eine eigene Stadt. Imelda Marcos, die frühere Gouverneurin von Manila, hatte es für ungezählte Millionen bauen lassen. Bacolod betete sie fast genauso an wie die Heilige Jungfrau. Ein moslemischer Restaurantbesitzer hatte einmal behauptet, Mrs. Marcos gebe nichts her, was sie nicht anderen
genommen habe. Dafür ruinierte ihn Bacolod mit einem Feuer, das auch drei vietnamesischen Jungkellnern das Leben kostete. Ein Jahr später ließ er das Haus eines Marcosgegners in Flammen aufgehen. Der gehbehinderte Politiker und seine zwei kleinen Enkelkinder kamen dabei um. Von der gemeinsamen Wohnung in Chinatown hatten Bacolod und seine zwergwüchsige Hure dem Feuer zugesehen und dazu Guava gegessen und Zuckerrohrsaft getrunken. So bedingungslos der Brandstifter auch an seinem Land und dessen Führern hing, in seinen Verbrechen zeigte er kein geradliniges Verhalten. Er arbeitete für Hauseigentümer und andere Geschäftsleute, die ihn dazu anwarben, ihre Häuser abzubrennen, damit sie die Versicherungsprämien einstreichen konnten. Packte ihn andererseits das Verlangen nach einem schönen Feuer, legte er das auch ganz umsonst. Für seine Aktionen hatte er keine rationale Erklärung. Seine Mutter, eine Prostituierte, hatte sich nie um ihr Kind gekümmert, zumal es sowohl mit einem Wolfsrachen als auch mit Epilepsie gestraft war. Sie ließ sich nie wieder 8
blicken, nachdem sie ihn in einem Heim für verhaltensgestörte Kinder abgeliefert hatte. Dort vergewaltigten ihn die größeren Jungen, bis er den Anführer mit Kerosin übergoß und anzündete. Leon Bacolod verließ das Heim, besessen von Feuer - und einem umbändigen Zerstörungsdrang. Allein der Gedanke an eine Brandlegung raubte ihm den Atem. So etwas erregte ihn auch, geilte ihn auf. Die zwergwüchsige Hure, Huziyana de Vega, hielt ihm vor, daß manche Männer sich regelrecht zu Tode fickten. »Würde mich nicht wundern«, sagte sie, »wenn du eines Tages deinen Orgasmus hättest und gleichzeitig draufgehen würdest.« Mit ihr konnte er auch über seinen Wolfsrachen lachen. Die Sprachbehinderung komme von seinem Schwanz, meinte sie. Der sei so groß, daß er ihm die Zunge verschoben habe. Leon Bacolod verließ den letzten Vorort kurz vor 23 Uhr. Auf dem offenen Land, fern von der Stadt, sank die Temperatur plötzlich. Mit ihrem Duft nach wilden Orchideen und regengetränkten Bambuswäldern umwehte ihn die Luft angenehm kühl. Farbenfrohe Schmetterlinge tanzten kurz in das Scheinwerferlicht und wieder hinaus. Bacolod grinste, als sich ein gewaltiger Silberadler, der sich in eine tote Python am Straßenrand verkrallt und verbissen hatte, vor dem heranbrausenden Datsun in die Lüfte hob. Die Straße war vom gestrigen Monsunregen noch ganz naß, weil er sie aber fast allein für sich hatte, fuhr es sich problemlos. Keine Sorgen mehr mit dem Großstadtverkehr, mit verstopften Straßen und hemmungslosen Fahrern. Manilas Kraftfahrer waren eine verrückte Horde. Wie die Henker rasten sie dahin und versetzten jedes Wesen auf zwei Beinen oder vier Rädern in wahre Todesangst. Zauberer nannte sie seine Freundin Huzi; nur durch Zauberei sei es zu erklären, wenn sie niemanden überfuhren. Bacolod fuhr an baufälligen Hütten vorbei, einem chinesischen Friedhof und den Ruinen von im Krieg zerbombten Kirchen und Klöstern. Nur zwei Radfahrern begegnete er und einem Jeepney, einem jener ehemaligen amerikani9 versperrte die Tür und kontrollierte noch einmal nach. In den sechs Monaten als Wachmann bei Taaltex Industries war ihm der Wagen schon zweimal geplündert worden. Dadurch hatte er seinen Kassettenrecorder verloren, ein Paar Eidechsenlederstiefel, eine schwarze Lederjacke und eine kleine Jadestatue der Heiligen Jungfrau, die er auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Auch mit dem Personal Computer, den Bacolod seinerseits bei Taaltex Industries hatte mitgehen lassen, war jemand davonspaziert. Außer dem Personal Computer stammte alles von Huziyana de Vega. Der Verlust ihrer Geschenke traf Bacolod schwer. Vermutlich gehörte der Dieb ebenfalls zum Sicherheitspersonal. Wer sonst hätte Zugang zu jedem Quadratmeter hier? Wachmänner hielten sich überall in der FTZ auf. Von Eigentumsverlusten abgesehen, gefiel Bacolod die Arbeit. Sie bedeutete eine Verbesserung gegenüber früher, als er zum Beispiel Marmorbüsten von Friedhöfen gestohlen, ihre Inschriften heruntergeschabt und sie dann billig weiterverkauft hatte. Am meisten behagte ihm an der FTZ die Landluft und das ruhige Leben. Beides fand man in der Stadt nicht. Auf dem Berg oben brauchte man sich nicht mit den Menschenmassen herumzuplagen wie in Manila, wo die Einwohnerzahl von über acht Millionen noch weiter anwuchs. Die Filipinos scheuten die Geburtenkontrolle. Schuld daran waren ein strenger Katholizismus und das bei Asiaten häufige Bedürfnis nach einer Altersversorgung durch eine große Familie. Wie Huziyana de Vega sagte, glaubten die Filipinos an Babys, nicht an die Antibabypille. Auf der nicht erleuchteten Parkfläche stand Leon Bacolod neben dem Datsun und blickte rasch auf seine Uhr, eine Patek Philippe mit goldenem Gehäuse, goldenem Armband und juwelenbesetzten Zeigern. Bis vor einem Monat hatte er noch nie etwas derart Wertvolles besessen. Die Uhr war Huzis Geschenk zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Sie hatte sie einem ihrer Kunden gestohlen, einem Hongkonger Geschäftsmann auf Dienstreise. Abgenommen, 12
könnte man auch sagen, nachdem sie ihn mittels eines überaus leidenschaftlichen Kusses K.o-Tropfen eingeflößt hatte. Auf der Gehäuseunterseite prangte eine Widmung auf kantonesisch. So ein romantischer Schwachsinn von der Frau des Geschäftsmannes. Bacolod beabsichtigte, sie dieser Tage wegätzen zu lassen.
23.30 Uhr. Nur nicht zu spät kommen. Dies hier war die große Sache. Das heikelste Feuer seines Lebens. Der würdevolle Chinese mit der sanften Stimme hatte ihm das ganz klar gemacht. Keine Fehler, hatte er Bacolod eingeschärft. Schnitzer und Fehleinschätzungen würden nicht geduldet. Der Chinese sagte: »Sie haben mir saubere Arbeit versprochen, und nichts weniger als das erwarte ich.« Natürlich drohte er Bacolod damit, wenn die Warnung auch in der verschlagenen, indirekten Form erfolgte, deren sich die Chinesen in allem bedienten. Die Drohung hinterließ beim Brandstifter ein leichtes Unbehagen. Es war kein Geheimnis, daß der Chinese mit der sanften Stimme zur bedeutenden Triad von Hongkong gehörte. Die Triad. Die mächtigste Verbrecherorganisation der Welt. Wer sie zur Feindin hatte, saß im Glashaus. Für ihn gab es kein Versteck mehr. Bei der Annahme des Auftrags zu diesem Feuer hatte sich Bacolod gefragt, ob er mit der Zunge nicht schneller als mit dem Verstand gewesen sei. Schaufelte er sich jetzt das eigene Grab: Ein, zwei Minuten hatte er ernsthaft erwogen, den Chinesen mit der sanften Stimme sitzenzulassen. Wohl wahr, Bacolod erfüllte die Voraussetzungen für diesen Auftrag - er war ein erfahrener Brandstifter und konnte das FTZ-Gelände betreten, ohne Verdacht zu erregen. Andererseits war er noch nicht bereit zu sterben. Schließlich hatte er sich doch einverstanden erklärt. Das Geld spielte eine wichtige Rolle. »Sie bekommen amerikanische Dollar«, hatte ihm der Chinese versprochen. Heißbegehrte Dollars, keine philippinischen Pesos. 13
Bacolod und Huziyana de Vega lebten beide auf großem Fuße. Mit Geld warfen sie um sich, als läge es auf der Straße. Sie überhäufte ihn mit Geschenken, kleidete sich ständig neu ein und kaufte teuere Medikamente gegen Insuffizienz der Hirnanhangdrüse, den Grund für ihre Zwergwüchsigkeit. Auch bezahlte sie Barkeeper, Taxifahrer und Fremdenführer für die Vermittlung von Freiern, die das ungewöhnliche erotische Erlebnis suchten. Schließlich konsumierte sie auch Drogen. Einer ihrer Stammkunden, ein Kurator vom Museum der philippinischen Künste, hatte sie auf Speedballs gebracht. Die winzige Hure rauchte jetzt diese Mischung aus Kokain und Heroin fast täglich. Bacolod haßte das Zeug. Zwei Züge hatte er einmal getan, und ihm war speiübel geworden. Marihuana genügte ihm. Das beste Kraut weit und breit Kona Gold, Maui Waui, Punabutter — kam aus Hawaii und kostete immer noch weniger als die Speedballs. Bacolod pflegte mit dem Geld seinen Wagen, wettete bei Hahnenkämpfen und nahm Huzi immer wieder zu Ausflügen auf eine der Inseln mit, um dem überfüllten Manila zu entkommen. Schließlich gab er auch Möbel beim Schreiner in Auftrag, Huzis Zwergengröße angepaßte Sonderanfertigungen. Nichts ließ er aus, wenn es um ihr Glück ging. Sie planten auch einen Urlaub in Las Vegas, kombiniert mit einem Ausflug ins Disneyland nach Südkalifornien. Und er dachte an einen neuen Wagen. Bei seiner Zusage an den Chinesen hatte Leon Bacolod der Gedanke an das Geld nachhaltig beeinflußt. Zusammen mit der Vorfreude auf das Feuer. Egal was für eines, egal wo. Das Geschäft mit diesem Chinesen war jedoch eine Herausforderung. Zum einen war er aalglatt, ließ sich auf nichts festnageln. Bacolod bewunderte seine eleganten Kleider und Manieren und seine Art, jedes Wort sorgfältig zu wägen. Er bewunderte auch seinen computergleichen Verstand. Für Bacolod war er ein großer Denker, und zwar von der Art, der man sofort Achtung entgegenbringt. Zog man sich aber den Zorn des Chinesen zu, verwandel14
te er sich in eine tödliche Schlange, in ein Bündel grenzenlosen Hasses. Bacolod vergaß nie die Geschichte vom Informanten: Fünfzehn Jahre hatte der Chinese gewartet, bis er gegen einen Malayen zurückschlug, weil der ihn an die Polizei verraten hatte. Fünfzehn Jahre. Zeit genug, um diesen Verrat als Schnee von gestern zu betrachten. Der Malaye hätte sein Leben darauf verwettet, daß sämtliche Betroffenen die Angelegenheit längst aus dem Gedächtnis gestrichen hatten. Doch der Chinese mit der sanften Stimme verzieh nie. Nachdem er entschieden hatte, daß der Augenblick der Vergeltung gekommen war, ging er in echter Triad-Manier zu Werke. Er ließ dem Malayen Säure in die Augen schütten und die Kniesehnen durchschneiden. Heute kroch der Spitzel als blinder Bettler durch Manilas Seitengassen und ernährte sich von Abfällen - ein lebendes Mahnmahl für die Erbarmungslosigkeit des Chinesen mit der sanften Stimme. Leon Bacolod verließ seinen Datsun und ging auf das FTZ-Tor zu. Über dem Berggipfel hing der Monsunnebel, der die kühle Nachtluft in feinen Sprühregen verwandelte. Der Dunst verbarg auch unwillkommene Besucher, solche, die nur nach Sonnenuntergang um den Parkplatz schlichen — große, schlangenartige Eidechsen; schwarze Ratten mit langem Schwanz; ausgehungert aussehende, verwilderte Hunde. Alle suchten sie ihren Schmaus aus den Mülltonnen, Abfallkörben und herumliegenden Essensresten zusammen. In Nebelnächten konnte der schreckhafte Bacolod nicht über den Parkplatz laufen, ohne fürchten zu müssen, daß Ratten sich für seine Knöchel interessierten oder eine Hundemeute auf ihn losging. Unnötige Sorgen, gewiß. Schließlich war noch keinem einzigen Angestellten in der FTZ wirklich etwas zugestoßen. Wie sagte doch Huziyana de Vega? Bacolod mache aus einer Laus gleich einen Elefanten.
Am Pförtnerhäuschen winkte er den Wächtern zu, drei Negritos mit der untersetzten Statur, der dunklen Haut und 15
dem wolligen Haar ihres Stammes. Alle drei waren mit Uzis bewaffnet und verzehrten gerade ihre späte Brotzeit. Dinuguan, in Schweineblut geschmorte Schweineinnereien. Bauerntölpel waren sie, die zum erstenmal Stiefel trugen; Trottel, die in die große Stadt gekommen waren, um es in der Welt zu etwas zu bringen, die sich aber immer noch nach dem Dschungel im Osten sehnten, wo ihre Verwandten mit Giftpfeil und Bogen kämpften. Bacolod erwiderte ihr Lächeln. Bei dem Anblick der Kerle lief es ihm aber eiskalt den Rücken hinunter. Hinter dem Eingang blieb er im Schatten des Pförtnerhäuschens stehen, stellte den Einkaufsbeutel auf den Boden und blickte sich um. Es war dunkel, die Amerikaner, diese Geizkragen, hatten verdammt wenig für die Beleuchtung ausgegeben. Sie verließen sich auf die veralteten Laternen, die die kaiserliche japanische Armee aufgestellt hatte, als sie das Gelände noch als Kriegsgefangenenlager benutzte. Zur Erleuchtung der Zone trug spärlich ein blaßer, hinter grauen Nebelschwaden fast ganz verborgener Mond bei. Auch wenn die Zone verlassen schien, trog dieser Eindruck doch. Wie Bacolod wußte, war die Nachtschicht vor kurzem zu Ende gegangen. Die Arbeiterinnen schliefen jetzt in ihren Baracken oder waren schon zu Hause. Das kam ihm zupaß. Je weniger Leute auf den Beinen waren, desto geringer die Möglichkeit, daß er beim Feuerlegen gesehen wurde. Die Zone selbst bestand aus Fabrik- und Lagerhallen, Wohnbaracken für die Arbeiterinnen und einem ausgedehnten Stromumspannwerk mit seinen Hochspannungskabeln. Über die gesamte Zone verstreut standen verwitterte Geräteschuppen, morsche Scheunen und zwei Abwasserpumpenhäuser. Bewaffnete Männer mit Taschenlampen drehten in Begleitung von Dobermännern oder Schäferhunden ihre Runden. Die Erde roch nach Schwefel und verbrannten Pflanzen. Von einem Wachtturm vorne an der Mauer strahlte ein Scheinwerfer auf den Parkplatz. Aus dem Kassettenrecor16
der im Pförtnerhäuschen dröhnte jetzt Madonnas >Material Girl
Huziyana? Bei Taaltex geht die Scheiße los, wenn sie dich einstellen und hört erst auf, wenn du tot umfällst. Bacolod hob seinen Einkaufsbeutel auf und ging über den Platz. Plötzlich erstarrte er und blickte nach links. Mit pochendem Herzen lauschte er ein paar Sekunden, dann wich er schnell zurück in die Dunkelheit. In seiner Hast stolperte er beinahe über die eigenen Füße. Im Dunkel fingerte er nach dem Rosenkranz, der ihm noch um den Hals hing, während er einen Golfwagen auf den Platz fahren sah. Im Wagen saßen schweigend zwei Wächter. Bacolod kannte und verachtete sie beide. Der eine, Eddie Pasig, war ein knochiger kleiner Mann, kam sich ungemein witzig vor, war aber eine strohdumme, winzige Kröte. Er zog Bacolod immer wegen dessen Wolfsrachen auf, dabei äffte er ihn nach und lachte, als ob es nichts Lustigeres gäbe. Weil Pasig auch von Bacolods Epilepsie wußte, rief er ihn mit dem Spitznamen Zuckzuck. Der andere, Freddie Bonifacio, ein untersetzter, o-beiniger Sino-Filipino, war der beste Basketballspieler von Taaltex und hielt sich für einen Frauenhelden. Er hing Pasig an den Lippen, wenn dieser Bacolods Sprachfehler nachmachte. Im Augenblick waren diese zwei Scheißkerle die letzten, die Bacolod sehen wollte. Seine Augen folgten dem kleinen Fahrzeug, wie es die Fahnenstange langsam umkurvte. Und dann hielt der Wagen an! Aufgeregt schüttelte Bacolod den Kopf. Herrgott, hilf! Er sah zu, wie der untersetzte Bonifacio aus dem Wagen stieg, in den Dreck spuckte und sich eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche zog. Mit dem
Rücken stand er zu Bacolod, der mit jeder Sekunde unruhiger, mit jeder Sekunde ängstlicher wurde. Eine unterdrückte Blähung verursachte stechende Schmerzen und zwang den Brandstifter fast in die Knie. Den Tränen nahe, biß er sich mit aller Gewalt auf den Daumen, bis er Blut schmeckte. Dann umklammerte er erneut das Kruzifix an seinem Rosenkranz und flüsterte mehrmals den Namen der Jungfrau. Wenn etwas schiefging, brachte ihn der Chinese garantiert um. 18
Am anderen Ende des Platzes stand auf halbem Weg zwischen der offenen Fläche und den Frauenbaracken ein Geräteschuppen. Dieser Schuppen war Bacolods Ziel. Dort mußte er so schnell wie möglich hinkommen. Wenn er den Platz überquerte, gewann er Zeit, dann lief er auch nicht den Fußstreifen der Nachtwächter über den Weg. Pasig und Bonifacio umrundeten den Platz in der Regel alle vierzig Minuten und steuerten dann ihren Golf in Richtung Umspannwerk. In der letzten Woche hatte Bacolod die beiden aufmerksamer als sonst beobachtet, und ihm waren in dieser Zeit weder Umwege noch Verspätungen aufgefallen. Es hatte keinerlei Überraschungen gegeben, diese Arschgesichter von Pasig und Bonifacio hatten sich in schöner Regelmäßigkeit gezeigt. Bis heute nacht. Jetzt auf einmal durchbrachen sie ihr Prinzip, nur aus dem einen Grund, weil sie rauchen wollten - durchbrachen ihr Prinzip und versetzten Bacolod in Panik. In richtige Panik. Er dachte an den Chinesen mit der sanften Stimme. Lieber eine Maus im Rachen der Katze, als ein Gefangener in den Klauen der Triad. Der Schmerz in Bacolods Darm wurde schlimmer. Dann sah er die Frauen, drei junge Filipinas am anderen Ende des Platzes. Schlank und anmutig waren sie in ihren Sommerkleidern mit entblößten Armen und Beinen. Plötzlich blieben die drei stehen und steckten die Köpfe zusammen. Angenehm klang ihr Lachen durch die stille Nacht. Es waren Arbeiterinnen, die nach Schichtende in ihre Baracken zurückkehrten. Bonifacio rief zu ihnen hinüber. Bonifacio, der Schürzenjäger, der trotz Frau und drei Kindern jederzeit für ein paar horizontale Übungen zu haben war. Die Frauen verstummten und drehten sich zu ihm um. Die Hände trichterförmig um den Mund gelegt, rief ihnen der kleine Wächter etwas auf spanisch zu. Zwei Frauen winkten ab. Die dritte reagierte erst gar nicht, und alle gingen schnell weiter. Der Korb schien Bonifacio nicht zu entmutigen. Er stieg wieder in den Golf, setzte sich und deutete auf die Frauen. 19
Grinsend rieb er sich die Hände, während sein Kumpel wendete und die Verfolgung der >Süßen<, wie Bonifacio alle Frauen nannte, aufnahm. Leon Bacolod atmete auf, kam auf die Beine, bekreuzigte sich und dankte der Jungfrau. Wieder einmal hatte sie ihn vor seinen Feinden bewahrt. Dann hob er den Einkaufsbeutel auf. Den Rosenkranz fest an die Brust gedrückt, trat er auf den Platz. Sein Verstand sagte: Lauf. Lauf zum Schuppen. Du weißt, was der Chinese macht, wenn es nicht klappt. Aber er zwang sich zu gehen. Langsam zu gehen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Nicht mit dem Benzinkanister in der Hand. Angenommen, ein Wächter oder sonst jemand roch das Benzin. Angenommen, sie stellten ihm Fragen. Bacolod würde lügen, so gut er konnte. Und hoffen, daß sie ihm glaubten. In diesem Fall müßte er allerdings das Feuer streichen. Allein der Gedanke an eine Brandstiftung, hatte man das Benzin erst einmal entdeckt, wäre Wahnsinn. So dämlich war Bacolod nicht. Er müßte dann natürlich dem Chinesen mit der sanften Stimme den unglücklichen Verlauf erklären. Und hoffen, daß er ihm glaubte. Am anderen Ende des Platzes bog er in einen dunklen Kiesweg ein. Jetzt rannte er. Sekunden später erreichte er außer Atem und leicht schwindlig den Geräteschuppen. Die Hände auf der Türklinke, schaute er um sich und zuckte zusammen, als er einen Hund in der Ferne bellen hörte. Aber Bacolod sah niemanden. Er schlüpfte in den kleinen, dunklen Schuppen hinein und zog die Tür schnell hinter sich zu. Hier roch es nach Maschinenöl, feuchtem Sägemehl, schimmligen Lumpen und Urin von Menschen und Tieren. In dem engen Raum türmten sich beschädigte Waren, zerbrochene Stufenleitern, kaputte Kaffeemaschinen, leere Sauerstoffbehälter. Eine Rumpelkammer, dachte Bacolod. Ein Sammelplatz für Müll. Ein einziges, vollkommen glasloses Fenster ging auf die Frauenquartiere hinaus, einen zweistöckigen, von Stachel20
draht umzäunten Barackenkomplex, der einst der sechzehnten Division der kaiserlichen japanischen Armee als Unterkunft gedient hatte. Wo Nachtschicht gearbeitet wurde, schien hinter den Barackenfenstern Licht. Eine der Baracken war vollständig dunkel. Bacolod starrte sekundenlang dorthin, dann griff er nach dem Einkaufsbeutel. Keine Zeit zu verlieren. Das Mondlicht im Rücken, entkleidete er sich bis auf die weißen Boxershorts, nahm den Büstenhalter und das blaue Kleid aus dem Beutel und schlüpfte hinein. Seine Hände waren schweißnaß, kurz wischte er sie sich am Hemd ab. Zuviel Aufregung, wenn er bloß keinen Anfall bekam. Er zog die geilen Schuhe an, setzte die schwarze Nylonperücke auf und streifte sich ein Armband aus Gold- und Jadeimitat über. Dann ein bißchen Toilettenwasser, billiges Zeug aus einer Drogerie in Chinatown. Die Mädchen von Taaltex konnten sich keine teuren Parfüms leisten, also hatte er nur ein paar Pesos für das seine ausgegeben. Ein Tupfer hinter die Ohren und ein bißchen auf die Oberarme mußten reichen.
Aus der roten Lederhandtasche nahm er einen kleinen Spiegel, eine Puderdose und einen knallroten Lippenstift, den er sich von Huzi geliehen hatte. Unter das Fenster geduckt, hielt er den Spiegel so, daß er das Mondlicht auffing und bemalte sich sorgfältig die vollen Lippen. Als nächstes ein bißchen Puder auf die Backen und einen dicken Strich mit dem dunkelbraunen Augenbrauenstift. Fertig. Er begutachtete sein neues Gesicht und grinste. Absolut umwerfend. Hastig stopfte er seine Schuhe und die Uniform unter eine farbbefleckte Plane. Brieftasche, Uhr und Rosenkranz kamen in die Handtasche. Er mußte in Kauf nehmen, daß man die Kleidungsstücke während seiner Abwesenheit fand, da hatte er keine Wahl. Aber warum sollte er den Verlust seines Geldes und seiner Uhr riskieren? Ganz zu schweigen vom Rosenkranz, den Seine Eminenz, Kardinal Sin, der frommste Mann auf den ganzen Philippinen geweiht hatte. 21
Unter dem Fenster betastete er wieder seine Hoden, während er mit weit aufgerissenen Augen auf einen blaßsilbrigen Mond starrte. Dann lauschte er, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, den sich in alle Richtungen von den Bergen stürzenden Wasserfällen und atmete durch. Sein Penis unter dem Kleid war steinhart. Beim Verlassen des Geräteschuppens flüsterte er den Namen der Jungfrau. 22
2 Manila — 23.45 Uhr in derselben Nacht Beunruhigt kam Angela Ramos zu dem Schluß, daß ihre Informantin sich hatte abschrecken lassen und nicht mehr erscheinen würde. Bei der Informantin handelte es sich um Elisabeth Kuan, eine vierundzwanzigjährige Computeroperatorin bei Taaltex. Angeblich verfügte sie über Beweise, daß die Gesellschaft für einen mächtigen Drogenschieber Geld wusch, der unter dem Namen der Schwarze General bekannt war. Offensichtlich hatte der Gedanke an eine, wenn auch nur indirekte, Herausforderung Elisabeth Kuan eingeschüchtert. Also fühlte sich auch Angela Ramos entmutigt. Der Schwarze General hatte sich durchgebissen auf seinem Weg nach oben, aus den alptraumhaften Slums von Shanghai über die Opium-Anbaugebiete des >Goldenen Dreiecks< bis ganz an die Spitze von Asiens brutaler Unterwelt. Dabei hatte er sich den Ruf äußerster Grausamkeit und raffinierter Doppelzüngigkeit erworben. Die kleingewachsene, immer heisere Miß Kuan, die sich gewöhnlich in einem langen blauen Kleid und schwarzen Riemenschnürschuhen zeigte, hatte allen Grund zum Reden. Sie war im Computerraum von zwei Aufsehern vergewaltigt worden. Beide hatten einander während der Schändung fotografiert und zeigten jetzt die Bilder herum. Miß Kuan sann auf Rache. Der Betriebsführung und der Polizei hatte sie das Verbrechen verschwiegen. Sexuelle Gewalt durch männliche Aufseher, insbesondere die der Nachtschicht, standen auf der Tagesordnung. Die Arbeiterinnen nannten Taaltex >die Matratzenfirma <, weil man ihnen so häufig befahl, sich hinzulegen, wenn sie nicht entlassen werden wollten. Und da sie 23
sich den Verlust des Arbeitsplatzes nicht leisten konnten, ließen sich die Frauen leicht einschüchtern. Miß Kuan gab sich meist unnahbar und etwas hochtrabend, doch war sie auch eine Frau von hoher persönlicher Integrität. Taaltex mußte für die Schändung büßen. Dafür hatte sie sich Angela Ramos auserkoren. Vom vergitterten Küchenfenster in einer dunklen, stillen Baracke sah eine schwitzende Angela auf zwei schon lange nicht mehr benutzte Benzinpumpen und zündete sich wieder eine Zigarette an. In der letzten Woche hatte sie weniger geraucht, nicht mehr inhaliert, sich an teerarme Marken gehalten und sich zu weniger Zügen gezwungen. Näher konnte sie an einen Verzicht nicht herankommen. Sie griff in eine Tasche ihres dünnen Baumwollkleides und fühlte nach dem Mikrokassettenrecorder, einem Geschenk ihres Paten, der in Hongkong lebte. Er war ein Mann von gesundem Urteilsvermögen und praktischer Veranlagung. Gestern hatte er Angela gedrängt, die Philippinen der persönlichen Sicherheit wegen zu verlassen. »Es ist dort viel zu gefährlich geworden, als daß du bleiben könntest«, meinte er. »Bei Taaltex hängt schon die Schlinge vom Baum. Jetzt wird nur noch ein Hals gebraucht, und das könnte durchaus der deine sein.« Er wollte in Kürze als Rentner nach Florida gehen, das befleckte Paradies, wie er es nannte. Dort besaß er in Key Biscayne eine Wohnung direkt am Meer. »Komm mit mir nach Amerika«, sagte er zu Angela. »Geh weg von diesem widerwärtigen Abschaum in diesem gräßlichen Land. Das kann dir doch nicht gefallen.« Gefallen? Nicht, solange sie unter den Folgen eines erbitterten Kampfes mit Taaltex litt, unter Folgen wie Kolitis, Gürtelrose und Herzrhythmusstörungen. Nicht, solange sie den Kampf anführte gegen die Absicht der Gesellschaft, das Anfangsgehalt von 1,25 auf einen Dollar pro Tag zu drücken. Nicht, solange sie im Schilde führte, die Führung einer Gewerkschaft zu übernehmen, die kaum mehr war als der verlängerte Arm der Unternehmerseite. Oder solange sie 24
sich verpflichtet fühlte, Arbeitsniederlegungen und Sit-ins zum Protest gegen die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen bei Taaltex zu organisieren. Oder das Management persönlich anzugreifen, weil es seit langem Freistunden, Krankengeld und Urlaub verweigerte. Sie hatte keinen Mann, keinen Liebhaber und, obwohl ihre Kolleginnen sie bewunderten, wenig Freunde. Solche Beziehungen verlangten Opfer, zu denen sie in dieser Phase ihres Lebens außerstande war. Sie hatte dafür weder
Zeit noch Energie. Gefallen? Keine Rede davon. Dazu fürchtete sie Taaltex zu sehr. Die Gesellschaft hatte mehr Macht als manche Regierung, doch kannte sie kaum Verpflichtungen, es sei denn sich selbst gegenüber. Angelas Pate nannte sie GÜL - Geht-Über-Leichen. »Denen kannst du ungefähr soviel trauen«, meinte er, »wie einem Stier, den du am Schwanz gepackt hast.« Angela war Anfang zwanzig, eine mollige Frau mit einem rundlichen Gesicht und schwarzem Haar, das so lang war, daß sie darauf sitzen konnte. Heute hatte sie es zu einem hüftlangen Zopf geflochten, was angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit seit dem letzten Monsun einfach bequemer war. Mit dem Zopf konnte sich ihr Haar nicht mehr kräuseln. Locken haßte sie, bei sich und bei anderen. Sie hatte bei Taaltex die Aufgabe, die fertigen Schalttafeln zu überprüfen, bevor sie den Weg in die Vereinigten Staaten antraten, wo sie dann in Raketen, Panzer, Bombenzielsysteme und andere Kriegsgeräte montiert wurden. Ihre Arbeit barg kein Geheimnis, keine Ungewißheit. Auch gab sie ihr keinerlei Aussicht, jemals Freude zu erleben. Sie hatte nur die Aussicht auf endlose Langeweile. Zwar fürchtete Angela Taaltex, doch noch mehr haßte sie die Firma. Zuzeiten dachte sie, ihre Abneigung gegen die Gesellschaft könnte die einzige Freude sein, die sie je haben würde. Ihr Pate verstand das. »Klammere dich an deinen Haß«, sagte er, »ohne ihn könntest du wahrscheinlich gar nicht weitermachen.« 25 Angetrieben von diesem Haß hatte sie Proteste, Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen gegen Taaltex angeführt. Er war der Grund, warum sie heute nacht auf Elizabeth Kuans Beweise für die Verbindungen zwischen Taaltex und der asiatischen Unterwelt wartete. Ihr Haß war der Grund für die morgige Totenwache, die sie organisiert hatte und die Taaltex energisch bekämpfte. Die Totenwache sollte auf der unbebauten Fläche abgehalten werden und an zwei Arbeiterinnen erinnern, die vor einem halben Jahr ums Leben gekommen waren. Taaltex hatte sie beide umgebracht. Die Frauen, Nelia und Sarah Ramos, waren Angelas Schwestern gewesen. Schwestern, die sie nach dem Tod der Eltern allein aufgezogen hatte und die keine zwanzig Jahre alt geworden waren. Als erste war die Jüngste, die fünfzehnjährige Nelia gestorben. Die süße, fröhliche Nelia, die sich unter den Annehmlichkeiten des Lebens immer ein neues Motorrad und einen Walkman vorgestellt hatte und die versuchte, sich beides durch die Arbeit für Taaltex leisten zu können. Um die Zahlung von Mutterschaftsgeld zu vermeiden, zwang die Gesellschaft alle Bewerberinnen, sich einem Schwangerschaftstest zu unterziehen. Wer sich als positiv erwies, wurde nicht eingestellt. Jede Arbeiterin, die einer freiwilligen Sterilisierung zustimmte, erhielt eine Prämie. Die ungeduldige Nelia konnte keine Wartezeiten ertragen. Sie wollte schnelles Geld, und eine Woche, nachdem sie bei Taaltex angefangen hatte, stimmte sie der Sterilisierung zu. Aber während des Eingriffs wurde die Harnröhre beschädigt, und sie starb an einer Blutvergiftung. Ein bedauerliches Mißgeschick, sagte Taaltex. Angela Ramos nannte es Mord und weigerte sich, Nelias Sterilisierungsprämie von 100 Dollar anzunehmen. Als nächste starb die neunzehnjährige Sarah Ramos nach fünf Jahren Arbeit bei Taaltex. Der großen, braunäugigen Sarah, einem impulsiven Hitzkopf, war nichts so zuwider wie Regeln, außer sie stammten von ihr. Bei Eilaufträgen oder knappen Fristen zwang Taaltex di 26
Frauen bisweilen, 48 Stunden am Stück zu arbeiten, ohne Schlafpausen. Um die Frauen wach und funktionstüchtig zu halten, stellte das Management Amphetaminspritzen und andere Drogen bereit. Einige Frauen wurden davon süchtig. Einen Monat nach dem Tod ihrer kleinen Schwester fand man Sarahs nackten Leichnam in einer Duschkabine, in der sie an einer Überdosis Amphetamin gestorben war. Taaltex sagte, es sei Selbstmord aus Trauer. Angela nannte es ebenfalls Mord und machte die Gesellschaft dafür verantwortlich. Tränen waren indes kein Mittel gegen Angelas Schmerzen. Im Kummer konnte sie nicht die Kraft finden, das Unerträgliche zu ertragen. Der Himmel hatte Angela beide Schwestern genommen, weil er sie dazu anspornen wollte, Taaltex mit Leib und Seele zu bekämpfen. Das war jetzt ihr Karma, ihr Lebenszweck. Wenn sie ihn erfüllte, würde sie in den Himmel kommen. Ihr Pate begann jetzt eine größere Rolle in ihrem Leben zu spielen. Zuletzt war er Angelas Vater näher gestanden. Die lebenslange Freundschaft zu ihm hatte nach dem Pazifikkrieg begonnen, als sie sich bei dem Prozeß gegen die japanischen Kriegsverbrecher kennenlernten. Angelas Vater war vor einem Jahr an Magenkrebs gestorben. Von da an hatte der Mann in Hongkong väterliche Gefühle für sie entwickelt. »Wende dich an mich, wenn du Hilfe brauchst«, hatte er gesagt. Er wolle als Pate für sie da sein. In der letzten Zeit hatte er ein beträchtliches Vermögen erworben und lud nun Angela ein, bei ihm in Hongkong zu leben. Nicht ihre Schwester, nur sie. Auf Frauen in seinem Haus sei er nicht sonderlich erpicht, sagte er. Angela sei eine Ausnahme. Soviel schulde er ihrem Vater. Mit einem Ticket ihres Paten flog Angela nach Hongkong, wo sie bald merkte, daß sie dort nie würde leben können. Die Stadt war ein Alptraum — laut und furchtbar überbevölkert, scheußlicher als die Philippinen, und die Leute schotteten sich für Angelas Geschmack viel zu sehr ab. Von seinen Familien, 27
Clans und Sekten wurde jedes Individuum vollkommen vereinnahmt.
Keinesfalls konnte sie ihre Schwestern im Stich lassen. Zugegeben, die Philippinen waren ein armes Land. Wenn man nicht für einen multinationalen Konzern arbeitete, war es so gut wie unmöglich, sein Auskommen zu finden. Andererseits liebte sie ihr Land. Den Traum aufzugeben, zusammen mit den Schwestern einmal ein eigenes Geschäft zu gründen, dazu war sie nicht bereit. Als ihre Schwestern starben, verstand der neue Pate ihre Wut nur zu gut. Von seinem Wohnsitz auf Hongkongs vornehmem Victoria Peak aus begann er sogleich, Angela in ihrem Krieg gegen Taaltex zu unterstützen. Er bestellte Gregorio >Gringo< Arbenz, einen Manilaer Staranwalt, zu ihrem Rechtsbeistand. Der grotesk fette, aber scharfsinnige Arbenz tat ohne eine Wagenladung Leibwächter keinen Schritt, sammelte Pfaue und verfügte über etwas, das Angelas Pate verruchtes Wissen nannte. Er war auch nicht billig zu haben. Aber, wie >Gringo< Arbenz Angela persönlich sagte — »Ich bin jeden einzelnen Peso wert, denn mit Nettigkeit ist noch keiner geheilt worden.« Eine Zeitlang hielt der Fette Taaltex mit seiner Trickkiste wirkungsvoll in Schach. Er hinderte die Firma daran, Angela zu entlassen, dann wehrte er ihre Zurückstufung ab. Er unterband den Versuch, sie mit erfundenen Indizien wegen mutwilliger Zerstörung und Diebstahl ins Gefängnis zu bringen. Und er inszenierte um sie ein solches Medienspektakel, daß Taaltex in der Öffentlichkeit so schlecht wie schon seit Jahren nicht mehr dastand. Auch plante er einen Prozeß gegen die Gesellschaft wegen ihrer Rolle beim Tod von Angelas Schwestern. Allem Anschein nach hatte der einmetersiebzig große und fast vier Zentner schwere Arbenz, der sich am Klavier mit Ragtimestücken von Scott Joplin entspannte, das Unmögliche vollbracht. Sein Geschick hatte Angela Ramos vor dem Rauswurf bei Taaltex bewahrt und aus ihr zugleich eine Retterin der philippinischen Frauen< gemacht, wie es in der 28
asiatischen Presse hieß. Der fetteste David der Weltgeschichte, schrieb ein amerikanischer Journalist, sei auf dem besten Wege, den amerikanischen Goliath zu erschlagen. Doch vor zwei Tagen hatte der Fette Angela in ihrer Baracke angerufen und ihr mitgeteilt, er könne sie mit sofortiger Wirkung nicht mehr vertreten. Vollkommen entnervt fragte Angela nach dem Grund. »Sprechen Sie mit Ihrem Paten«, sagte Arbenz. »Er kennt die Antwort. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich aufrichtig leid.« Mit dem Temperament, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, verfluchte ihn Angela auf Tagalog, spanisch und englisch. Sie beschimpfte ihn als fettarschigen Winkeladvokaten und wollte wissen, wie er ihr das antun könne. Sah er denn nicht, daß sie sich umbrachte mit dem Versuch, die geldgierigsten Scheißkerle, die Gott je geschaffen hatte, zu bekämpfen, ohne den Job dabei zu verlieren? Sah er denn nicht, daß sie vor dem Zusammenbruch stand? Als Angela Minuten später den Paten anrief, erklärte er ihr: »Das ist der Schwarze General. Er weiß, was du mit Miß Kuan zusammen vorhast und schlägt zurück. Arbenz zur Aufgabe zu zwingen, war Schritt eins. Schritt zwei geht dich, Miß Kuan und mich an. Von jetzt an sollten wir besser leise treten.« Angela sagte, daß ihr angesichts des beschissenen Gefühls nach der Schimpfkanonade und der Furcht vor dem Schwarzen General zum Kotzen zumute sei. Was sollten sie jetzt tun, und wie hatte der Schwarze General das mit Elizabeth und ihr herausgefunden? Wie hatten sie es herausgefunden? »Ein scheußliches Stück Mensch, dieser Schwarze General«, meinte der Pate. »Sind uns ein-, zweimal über den Weg gelaufen, wir zwei. Du hast >Gringo< gegenüber Elizabeth Kuan erwähnt, und höchstwahrscheinlich wurde seine Leitung angezapft. Jede Wette, daß dich ein Firmenschnüffler überwacht und alles Taaltex meldet, die es wiederum an den Schwarzen General weitergibt. Heute nachmittag haben seine Leute >Gringos< sechs Jahre alten Sohn entführt. Sie ha29
ben eine Botschaft hinterlassen — >Gringo< soll sich von dir fernhalten, und zwar mit sofortiger Wirkung.« »Das wußte ich nicht«, sagte Angela. »Das rechte Ohr des Jungen war der Botschaft beigefügt. Weitere Körperteile sollen täglich geschickt werden, bis sich >Gringo< den Wünschen des Schwarzen Generals fügt.« Angela schloß die Augen. »Mutter Gottes, vergib mir, was ich ihm vorhin gesagt habe.« »Reine Zeitverschwendung, sich nachträglich zu quälen. Zurück zum Thema. Der Schwarze General hat auch mich bedroht. Ich darf dich gegen Taaltex nicht mehr unterstützen, sonst muß ich die Folgen tragen. Ich habe drei Tage Zeit zum Nachdenken. So eine Frechheit — stell dir das vor. Jemanden in meiner Position zu bedrohen!« Der Pate meinte, zum Glück brauche er sich um eine Frau oder Kinder nicht zu sorgen. Aber Angela sei ja da, und sollte ihr etwas zustoßen, wäre er untröstlich. Er habe sie in sein Herz geschlossen, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut. Nichts dürfe ihr geschehen. Krümmten sie ihr ein Haar, würde er den Schwarzen General bis aufs Messer bekämpfen. Angela erklärte ihm, wie schrecklich sie sich fühle, weil sie Arbenz beschimpft und ihren Paten in dieses Schlamassel mit hineingezogen habe. Doch er antwortete ihr: »Ich habe deinem Vater — Gott sei seiner Seele gnädig — versprochen, daß ich mich um dich kümmern würde.« Dieses Versprechen wolle er auch halten. Was ihn betreffe, so gehe er den Weg, den ihm die Vorsehung weise. Er würde ohnehin bald einen geruhsamen Lebensabend in Amerika genießen, weit weg von den Machenschaften und permanenten Betrügereien, die das Leben in Hongkong so reizvoll und so abstoßend machten. Bis es so weit sei, wolle er Angela mit Rat und Tat unterstützen.
Angela wollte sofort >Gringo< Arbenz anrufen, doch ihr Pate verbot ihr das. Gringos Telefone seien nicht sauber. Mußte Angela immer so hartnäckig sein? 30
Sie entschuldigte sich, und er sagte, »vergeben und vergessen, arbeiten wir lieber eine eigene Strategie aus.« Sobald Angela Miß Kuans Material über den Schwarzen General habe, solle sie es unverzüglich persönlich nach Hongkong bringen. »Schicke es nicht mit der Post. Gib es keinem Dritten. Erzähle niemandem davon.« »Wird er dich nicht überwachen lassen?« fragte Angela. »Ich unterschätze den Schwarzen General keineswegs«, antwortete der Pate, »aber in über dreißig Jahren Hongkong habe ich gelernt, es im Mauscheln und Intrigieren mit den besten von ihnen aufzunehmen.« Für den Anfang wolle er Miß Kuans Material an einen Freund in New York weiterleiten. Der Freund sei ein bekannter Fernsehjournalist, ein ziemlich guter sogar. Angelas Pate hatte ihm vor Jahren das Leben gerettet, als der Amerikaner noch bei der Polizei gewesen war. Jetzt sei der Zeitpunkt günstig, daß er ihm den Gefallen zurückzahle. Auf Angelas Frage, ob der Amerikaner denn vertrauenswürdig sei, meinte der Pate, ja, ganz bestimmt. Chinesische Drogenhändler hätten seine Frau und sein Kind ermordet. So etwas vergesse man im ganzen Leben nicht. Außerdem liebe die Yankeepresse ein bißchen Klatsch über ihre großen Männer. Mit der Entlarvung des Schwarzen Generals würde man auch den Direktor bzw. das Führungsgremium von Taaltex in Schwierigkeiten bringen, die diese Geldwaschanlage erst ermöglichten. »Mein guter Freund aus Amerika«, sagte der Pate, »ärgert die Reichen und Mächtigen mit dem größten Vergnügen. Ich traue ihm mehr zu als ein nur vorübergehendes Interesse an einem Konzern, der Geschäfte mit einem verbrecherischen Drogenschieber macht. Und wenn meine Einschätzung stimmt, dürfte das Medienecho in seinem Land die Neugierde weltweit wecken. Danach könnte es für Taaltex und den Schwarzen General ganz schön heikel werden, wenn sie gegen uns vorgehen wollten.« Bis dahin aber schwebe Angela in höchster Gefahr. Sie müsse die Philippinen verlassen. Je früher, desto besser. 31
»Ich bin kein Rambo«, entgegnete Angela. Sie sei auch durchaus nicht tapfer und gewiß nicht glücklich, daß sich der Schwarze General in ihr Leben einmische. Aber sie habe eine Pflicht ihren toten Schwestern gegenüber zu erfüllen. Und so gerne sie auch weglaufen wolle — es gehe nicht. Zwei Wochen noch, dann würde sie ans Fortgehen denken. »In zwei Wochen ist es vielleicht zu spät«, antwortete der Pate. Jeder Wahnsinnige habe seinen Zeitplan, da sei der Schwarze General keine Ausnahme. Wer könne schon wissen, ob er nicht schon diese Woche zum Schlag gegen Angela ansetze? Sie erklärte, auf keinen Fall jetzt verschwinden zu wollen. Elizabeth Kuan könne die Diskette über das gewaschene Geld doch erst bekommen, wenn ein bestimmter Aufseher auf Urlaub sei, und das dauere noch zwei Tage. Ohne diese Diskette sei ans Weggehen überhaupt nicht zu denken. Nicht, solange sie so kurz vor ihrem Ziel stehe, Taaltex für den Mord an Nelia und Sarah büßen zu lassen. »Warum soll man auf Bäume klettern«, rief sie, »wenn man Fische sucht!« Hier sei der Ort, Taaltex zu treffen, nicht in Hongkong. »Du ziehst es also vor, den Rat eines alten Mannes nicht zu befolgen«, stellte ihr Pate fest. »Na ja, daß du ziemlich eigensinnig bist, ist mir nicht gerade neu. Dein Vater sagte immer, du wärest die stärkste unter seinen drei Prinzessinnen. Du wärst die Träumerin und Kämpfernatur. Dir hätte er zugetraut, einen Felsen gegen den Himmel zu schleudern und die Sterne zu treffen. Nein, meine Liebe. Ich will deine und meine Zeit nicht länger verschwenden, indem ich dich zum Weggehen auffordere. Nelia und Sarah bedeuten dir wohl zu viel.« Aber sobald Angela diese Diskette habe, erklärte er, müsse sie sich nach Hongkong absetzen. Keine Widerrede diesmal. Sie solle dann sofort von den Philippinen verduften. Angela vertraue zwar auf die Gerechtigkeit — doch der Schwarze General auf seine Macht. Ein Zusammenstoß sei unvermeidbar. 32
Er rief: »Glaube mir, dem Schwarzen General fehlt absolut jede Toleranz, jede Anteilnahme an seinen Mitmenschen! Leider warst du noch nie der Typ, der schlafende Hunde ruhen läßt. Doch sei bitte so klug und vergiß nicht, daß nur die Vorsehung vollenden kann, was der Mensch geplant hat. Sieh dich vor, liebes Mädchen, sieh dich vor!« In der Barackenküche zündete sich Angela schwitzend wieder eine Zigarette an, dann blickte sie auf die Uhr. Es war fast Mitternacht, und noch immer keine Elizabeth Kuan. Zum Teufel mit dieser kleinen Chinesin. Wenn sie nicht bald kam, würde sie sich resigniert schlafen legen. Es beunruhigte Angela, daß sie Elizabeth Kuan seit gestern morgen nicht mehr auf dem Fabrikgelände gesehen hatte. Da hatten sie in einem hastigen Gespräch in der Duschkabine dieses Treffen vereinbart. Andererseits sorgte sich Angela aus jedem geringfügigen Anlaß. Sie ging vom Fenster weg, drückte die Küchentür auf und schaute auf den dunklen, leeren Korridor hinaus. Keine Elizabeth Kuan. In den Barackenkomplex kam man leicht, vorausgesetzt, man war eine Frau. Man brauchte nur an den Wachtposten vor dem Eingang vorbeizugehen; von den Baracken war keine zugesperrt. Wo, zum Teufel, steckte dann Elizabeth Kuan? Angela schloß die Küchentür hinter sich, setzte sich auf eine Leitersprosse und trat die Zigarette mit dem Absatz aus. Ob sie Elizabeth Kuan anrufen sollte? Elizabeth lebte nahe genug, um bei ihrer Familie bleiben zu können und mit dem Bus in die Arbeit zu fahren. Aber das einzige Telefon in den Baracken, ein veralteter Münzapparat, ging nicht. Es war heute nachmittag kaputtgegangen und wartete noch auf die Reparatur. Auch das kotzte Angela
an. Außer dem Summen der Elektroventilatoren in den Zimmern war die Baracke still. Keinerlei Mädchengeschnatter, Musik aus Kassettenrecordern, Geräusche der Toilettenspülungen oder Türgeknalle. Die einundfünfzig Frauen hier schliefen schon oder waren zu ausgebrannt, um mehr zu 33
tun, als sich aufs Bett fallen zu lassen. Taaltex führte einen Schichtbetrieb, mit dem es die Arbeiterinnen alle zwei Wochen zum Wechsel von Tag- und Nachtschicht zwang. Folglich brachten unregelmäßige Dienstpläne die Schlafgewohnheiten durcheinander und machten die Frauen körperlich und seelisch krank. Jede, insbesondere Angela, bekam weniger Schlaf als sie brauchte. Natürlich hatte ihr Pate recht. Sie konnte stur, bisweilen sogar halsstarrig sein. Aber nie handelte sie blindlings. Wie Taaltex für den Tod ihrer Schwestern büßen sollte, hatte sie gründlich durchdacht. Und da sie über den Verlust von Nelia und Sarah nicht hinwegkommen konnte, gab es keine andere Wahl, als sie zu rächen. Was natürlich nicht hieß, daß sie die Warnung ihres Paten vor dem Schwarzen General in den Wind schlug. Vielleicht war es eine gute Idee, die Inseln zu verlassen, solange sie es noch konnte, und die Einladung des Paten, mit ihm nach Amerika zu gehen, anzunehmen. Ohne >Gringo< Arbenz als Schutzschild zwischen ihr und Taaltex blies ihr hier auf den Philippinen ein zu rauher Wind ins Gesicht. Er war ihr Schutz, ihre Sicherheit gewesen. Angela hatte den Dicken liebgewonnen, der im Stehen auf einem selbstgebauten Klavier Ragtimestücke spielte. Dank ihm war sie die Heilige Angela, ein Liebling der Medien und eine Volksheldin geworden. Geistesabwesend rollte sie die leere Bierdose unter der Stufenleiter zwischen den Füßen hin und her. Der Boden war übersät mit Müll, Zigarettenstummeln, Werkzeug und Gipsstaub von den Mauern. Dazu mischten sich der Geruch nach Farbe und Terpentin und ein fauliger, nicht definierbarer Gestank. Auf ihr Drängen hin wurde jetzt dieser Raum, der zuvor als Möbellager gedient hatte, in eine Küche umgewandelt. Nach seiner Fertigstellung sollte er den Frauen erlauben, ihre Mahlzeiten hier anstatt in der Haupthalle einzunehmen, wo sie häufig sexuellen Belästigungen durch männliche Kollegen ausgesetzt waren. Von den anderen Baracken verfügte keine über eine Kü34
che, noch war eine vorgesehen. Diese Küche hier wurde nur als Zugeständnis an Angela eingebaut. Um solche Installationen in den anderen Baracken würde sie kämpfen müssen. Einen Speisesaal gab es in ihrer Baracke nicht; die Frauen würden in ihren engen Zimmern essen müssen und der Reihe nach kochen. Aber die Frauen und Mädchen — einige waren gerade erst dreizehn Jahre alt — brauchten sich dann wenigstens nicht mehr zur Essenszeit im Versammlungsraum begrabschen lassen. Keine sollte mehr zwischen sexuellem Mißbrauch und Hungern entscheiden müssen. Und wer konnte schon mit leerem Magen arbeiten? Angela ließ die leere Bierdose sein und starrte auf zwei Kühlschränke an der Wand gegenüber. Wo der schreckliche Gestank nur herkam? Nicht einmal zwei offene Fenster konnten ihn vertreiben. Zuerst war er ihr vor lauter Färb- und Terpentingeruch gar nicht aufgefallen; sie war auch vollauf mit ihren Gedanken an Elizabeth Kuan beschäftigt gewesen. Jetzt stieg ihr der Gestank in die Nase. Beide Kühlschränke waren neu. Die Türkanten waren mit braunen Klebebändern versiegelt, schimmerten aber trotzdem im Mondlicht. Angeschlossen war keiner; es gab noch keine elektrischen Leitungen. Der Gestank war einfach ekelerregend. Nicht einmal Scheiße roch so widerlich. Eine Hand vor Mund und Nase haltend, durchquerte Angela den Raum, bis sie vor den Kühlschränken stand. Mein Gott — bei dem Gestank wurde ihr ja speiübel. Anscheinend kam er aus dem Kühlschrank vor ihr, drang durch die versiegelte Tür. Langsam stank es im ganzen Raum wie die Pest. Aus einer Tasche zog sie eine Minitaschenlampe und knipste sie an. Eine Hand für die Taschenlampe, eine für die Kassette. Jetzt könnte sie eine Gesichtsmaske gut gebrauchen. Mit angehaltenem Atem fing Angela an, das Klebeband herunterzukratzen und fragte sich, was auf der Welt so stinken könne. Plötzlich wirbelte sie herum, dabei ließ sie fast die Taschenlampe fallen. Die Küchentür ging auf, und eine Frau stand in der Öffnung. 35 Es war eine schlanke Frau mit einer roten Lederhandtasche in der einen Hand und einem Einkaufsbeutel in der anderen. Den Einkaufsbeutel hielt sie vors Gesicht. Das rechte Handgelenk zierte ein Armreif, der Angela und allen Bekannten der Frau vertraut war. Er war ein Gold- und Jadeimitat, einem italienischen Original abgeguckt. Der Armreif war vermutlich das einzige Schmuckstück der Frau, denn mit anderem Schmuck zeigte sie sich nie. Elizabeth Kuan. »Mach das Licht aus.« Die Stimme vom Eingang her war nur ein heiseres Flüstern. Angela klopfte wild das Herz, während sie die Lampe ausknipste und in die Hüfttasche gleiten ließ. Aber bevor das Zimmer dunkel wurde, sah sie noch das vertraute blaue Kleid und die Riemenschnürschuhe — Elizabeth Kuan, kein Zweifel. Die kleine Chinesin kam verspätet, aber, wie der Pate gern sagte, alles vergessen und vergeben. Mit ausgestreckten Armen lief Angela erleichtert auf sie zu, um sie zu umarmen. In den für sein Gefühl viel zu unbequemen Riemenschnürschuhen stakte Leon Bacolod in die Küche und zog die Tür leise hinter sich zu. Einen Schritt nach rechts, und er stand nicht mehr im Mondlicht. Mit dem Rücken zur Wand wartete er im Schatten. Den Einkaufsbeutel hielt er dicht an der Seite.
Angela hatte ihn fast erreicht, da ließ er die rote Handtasche fallen und schleuderte Angela den Vierliterkanister im Einkaufsbeutel beidhändig und mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Angelas Kopf barst schier vor Schmerz. Unter dem Aufprall wurde sie nach hinten geworfen, taumelte gegen die Stufenleiter und stieß sie um. Sie fing sich wieder und stand nun mit dem Rücken zu Bacolod, der mit dem Beutel erneut ausholte. Diesmal traf er sie an der rechten Schläfe. Im Fallen riß sie mit dem rechten Arm eine offene Dose Farbverdünner um, so daß diese auf sie fiel. Eine hellblaue Flüssigkeit lief auf dem vor Dreck starrenden Bo36 den aus und vermischte sich mit ihrem Blut und ihrem langen Haar. Den Einkaufsbeutel vor der Brust fest mit beiden Armen umklammernd, beugte sich der Brandstifter über die bewußtlose Frau. Ich verlange saubere Arbeit, hatte der Chinese mit der sanften Stimme gesagt. Genau das sollte er bekommen. Bacolod hatte weder etwas für noch gegen Angela Ramos. Zwar setzte sie sich ständig aus irgendeinem Grund in Szene. Andererseits aber war die Arbeit bei Taaltex nicht gerade ein Geschenk des Himmels. Das mußte man den Frauen zugute halten, wenn sie Haare auf den Zähnen hatten. Saubere Arbeit. Bacolod nahm den Kanister aus dem Beutel, hielt ihn mit beiden Händen hoch und schmetterte ihn auf Angelas Hinterkopf. Er schlug noch einmal auf dieselbe Stelle, bevor er den Kanister absetzte und tief einatmete. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen in der Brust; seine Hände zitterten wie die eines alten Mannes. Er schüttelte heftig den Kopf. Eine gute Methode, das Gehirn anzuregen. Dabei rutschte ihm die schwarze Seidenperücke über die Stirn auf die Augen. Er rückte die Perücke wieder zurecht, durchquerte das Zimmer und kauerte sich vor den Kühlschrank, für den sich Angela gerade interessiert hatte. Mit einer Hand tastete er auf dem Boden neben der vorderen Kante umher. Als er den Schlüssel gefunden hatte, richtete er sich auf und riß das restliche Klebeband herunter. Darunter war ein kleines Schloß, das Bacolod selbst angebracht hatte. Er sperrte auf und öffnete die Tür. O Gott, was für ein ekelhafter Gestank. Die Nase angewidert rümpfend, tastete Bacolod nach Elizabeth Kuans nackter Leiche. Die kleine Frau lag genauso da, wie er sie in den Kühlschrank gestopft hatte, und stank entsetzlich. So wie die Knie ans Kinn gedrückt und die Arme um den Kopf geschlungen waren, erinnerte sie Bacolod an ein backfertiges Huhn. Gestern abend hatte er mit einer gefälschten Nachricht 37
in Angelas Namen Elizabeth Kuan in das Hauptlagergebäude hinüber gelockt, das den Japanern einst zum Trocknen von Tabakblättern gedient hatte. Dort hatte er sie hinter all den leeren Verpackungskartons erwürgt und die Leiche in den einen der zwei neuen für Angelas Baracke vorgesehenen Kühlschrank gestopft. Warum mußte Elizabeth Kuan sterben? Weil es der Chinese mit der sanften Stimme so befohlen hatte. Nachdem er dann eilig das Schloß befestigt und die Türkanten mit dem braunen Isolierband zugeklebt hatte, brachte er die Kühlschränke mit Hilfe von drei Arbeitern auf zwei Handwagen an den vorgesehenen Standort. Zwar war den Leuten dieser Kühlschrank etwas schwerer als der andere vorgekommen, doch hatte sich keiner beschwert. Jetzt, in der verdunkelten Küche, zerrte Bacolod Elizabeth Kuans Leiche aus dem Kühlschrank und legte sie auf den Boden. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, sie verharrte steif in ihrer Fötusstellung. Und dieser Gestank! Die kleine Chinesin begann nicht nur bereits zu verwesen, auch ihre Därme hatten sich vor dem endgültigen Eintritt des Todes noch entleert und das Kühlschrankinnere besudelt. Das reichte, um Bacolod für einige Zeit den Appetit zu verderben. Aber dann kam ihm wieder das Feuer in den Sinn, und jenes seltsame Prickeln durchlief ihn. So heftig erregt wie die ganze Nacht noch nicht, goß Bacolod grinsend eine dünne Spur Benzin die Wände entlang, über die Fensterbretter, die Stufenleiter und zwei Holzböcke. Er spritzte auch ein bißchen auf die Tür und schüttete den Rest auf zwei Maurerkittel, die auf dem Kochherd lagen. Dann nahm er eine Terpentindose und sprenkelte fast den ganzen Inhalt auf die Wände, wobei er darauf achtete, daß sein blaues Kleid nichts davon abbekam. Das Kleid von Elizabeth Kuan. Den Rest schüttete er auf die Leiche der Kuan, die Haare, den Rücken, den Hintern. Jetzt zur heiligen Angela. Ihr langer, vom Farbverdünner noch nasser Zopf brachte ihn auf eine Idee. Allein bei der 38
Vorstellung kicherte er leise. Er war schon ein verdammt schlauer Kerl. Mit einem Schraubenzieher stemmte er eine Terpentindose auf und goß den Inhalt auf Angela Ramos' Haar, Gesicht und Rücken. Schließlich hockte er sich vor die Tote und starrte sie ein paar Sekunden lang an. Dazu summte er Material Girl< und wiegte sich sanft hin und her. Endlich atmete er tief ein, griff nach dem Einkaufsbeutel und richtete sich auf. Jetzt ging der Spaß erst richtig los. Auf diesen Augenblick hatte er gewartet. Er nahm die Gauloises und einen Streichholzbrief aus dem Beutel, zündete eine von den französischen Zigaretten an und klappte den Deckel des Streichholzbriefs nach hinten, so daß die Streichhölzer herausschauten. Noch ein Zug an der Zigarette, und es konnte losgehen - er klemmte das Mundende hinter die Zündköpfe und placierte alles vor einem Mauersockel, Millimeter von der Benzinspur entfernt. Genauso verfuhr er auf dem
Fensterbrett, der Stufenleiter, am Rand einer offenen Dose Farbverdünner und an der Tür. Fünf langsam brennende Zünder. Dreiminutenzünder. Bacolod hatte genügend Zeit, sich zu entfernen, bevor das Feuer ausbrach. Noch war es nicht so weit. Er zündete eine letzte Gauloises an, machte einen tiefen Zug, beugte sich nach vorn und warf sie auf Angelas mit Terpentin getränktes Haar. Winzige blaue Flammen rasten um den Zopf und schwärmten dann aus, um die Schultern herum, das Haar, das Gesicht. Gewaltig erregt griff sich Bacolod unter das Kleid, und befriedigte sich in Sekundenschnelle. Unsicher von einer Seite zur anderen schwankend stand er da, atmete durch den geöffneten Mund und war glücklich, glücklich, glücklich... Mit bebender Brust stolperte er schließlich zur Tür. Plötzlich blieb er jäh stehen. Die Handtasche! An so etwas war er nicht gewöhnt. Herrgott, fast hätte er sie liegengelassen. Wo, zum Teufel, war das verdammte Ding? Richtig. Er hatte sie fallenlassen, als er die Ramos erledigen wollte. Was für 39 ein Idiot er doch war. Deshalb mußte er jetzt wertvolle Zeit mit der Suche nach der Tasche vertun. In der Dunkelheit herumzutappen war nicht leicht, aber schließlich stieß er auf sie. Pech. Die Handtasche war in einen metallenen Werkzeugkasten gefallen. Und ging bei Druck auch noch auf. Münzen, Geldbeutel, Rosenkranz, Schlüssel, alles lag jetzt in dem Scheißkasten. Auf den Knien wühlte Bacolod hektisch mit zitternden Händen, warf Nägel, Schrauben, Schraubenzieher, Zangen in alle Richtungen, versuchte verzweifelt, seine Besitztümer zu bergen. Was er fand, stopfte er in die Tasche. Er kämpfte mit den Tränen, weil er sich einen solchen Fehler geleistet hatte. Wusch! Das Geräusch kam von links und ließ den Brandstifter fast erstarren. Bacolod erkannte es sofort, und das Blut gefror ihm in den Adern. Mit einem Blick über die Schulter wurde er Zeuge, wie Angela Ramos' gesamter Körper in Flammen aufging. Plötzlich haßte er sie genug, um sie noch einmal zu töten, haßte sie, weil sie so erschreckend schneller in Flammen aufging, als er gedacht hatte. Haßte sie, weil jetzt die ganze Küche in wenigen Sekunden in Flammen stand. Mit perverser Faszination schaute Bacolod den Flammen zu, wie sie von Angelas Leiche auf den Boden übergriffen. Er hatte damit gerechnet, daß die Baracke sich innerhalb von Minuten entzünden würde, es war ja nur altes, trockenes Holz. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dabeizusein, wenn es losging. Blitzschnell riß er die Tasche vom Boden, rannte aus dem Raum und ließ die Tür zuknallen, raste weiter durch den Versammlungsraum, ängstlich darauf bedacht, in den Frauenschuhen nicht zu stolpern. Binnen Sekunden war er im Freien und hielt nur kurz an, um einen nachgemachten Hauptschlüssel aus der Handtasche zu ziehen und die Tür zuzusperren. Bacolods Hände zitterten. Er mußte es dreimal versuchen, bis der Schlüssel steckte. Ihm war vor Angst schwindlig, als er dann vor den 40
Baracken an dem untersetzten Wachtposten mit den Segel-fliegerohren vorbeiging und dessen Einladung zu einem Joint aus gedrehtem libanesischem Marihuana, gemischt mit Opium, ignorierte. Minuten später hatte sich Bacolod im Geräteschuppen Strümpfe und Unterhose angezogen. Unter das Fenster geduckt, schaute er dem Feuer zu. Sein größter Triumph! Im Augenblick zählte nichts anderes — jede Angst war vergessen. Das Schauspiel der Flammen machte ihn glücklich — körperlich, geistig, seelisch. Und wenn er glücklich war, hatte er für Angst keine Zeit. Das Feuer fegte die Baracke in rasendem Tempo weg, es loderte durch das Erdgeschoß, um oben lichterloh in den Himmel zu steigen. Im Gebäude herrschten Chaos und Grauen. Frauen kreischten hysterisch, flehten Gott und die Jungfrau um Rettung an. Kein Gebet konnte jedoch die Gitter von den Fenstern oder das Schloß von der Tür entfernen. Einige Frauen sprangen aus den Fenstern im oberen Stockwerk, flogen mit rudernden Armen durch die Luft, bis sie schreiend in der vom Regen aufgeweichten roten Erde landeten. Heulende Frauen in den Baracken nebenan schrien nach ihren Schwestern, eine Handvoll Arbeiterinnen rannte zum Feuer. Alles, was Bacolod dabei denken konnte, war: Das solltet ihr nicht tun, meine Kleinen. Was sein muß, muß sein. Der Platz hinter dem Stacheldraht füllte sich immer mehr — mit Wächtern, die sich die Augen gegen den grellen Schein abschirmten, mit tränenüberströmten Frauen, die einander festhielten, mit Managern, die wild gestikulierten und Kommandos brüllten. Das Hundegebell kam Bacolod wie verrückte Hintergrundmusik vor. Der Brandstifter kicherte und griff sich behutsam zwischen die Beine. Das war herrlich. So herrlich wie lange nicht mehr. Bacolod zog sich die Uniform an, nahm den Geldbeutel aus der roten Lederhandtasche, die Schlüssel, den Rosenkranz. Dann schob er die Hand wieder in die Tasche — und 41
machte einen der schrecklichsten Augenblicke seines Lebens durch. Er fiel vor Entsetzen fast in Ohnmacht. Nach Luft schnappend sank er auf die Knie und merkte nicht, wie er sich die Hose näßte. Ihm wurde so übel, daß er zu schwanken anfing und daß er zu würgen begann. Die Tasche war leer. Er hatte seine Uhr in der brennenden Baracke liegen lassen.
42
3 Taipeh, Taiwan Weil er ihren Stolz und ihre Unabhängigkeit bewunderte, hielt sich der Schwarze General Tiger. Die Raubkatzen hatte er auf seinem Grundstück untergebracht. Dort lebte er über den üppig grünen Hängen des Yangming-Berges in einem großzügigen Komplex von zweistöckigen, ziegelüberdachten Häusern, die durch mehrere Garten- und Hofanlagen miteinander verbunden waren. Er hieß Lin Kuang Pao, und Tiger waren sein Ein und Alles. Um diese Tiere zu erforschen, hatte er in den Wäldern und Dschungeln Ostasiens, ihrem natürlichen Lebensraum, kampiert. In Java hatte er Tiger gefilmt, wie sie sich an ihre Beute heranpirschten. In Indien hatte er sie beim Schwimmen in Waldseen gezeichnet. In China hatte er ihr Fauchen und ihr Schnurren aufs Tonband aufgenommen, die Zeichen ihrer Wut und ihrer Zufriedenheit. Tiger, so wußte Lin Pao, waren Einzeljäger, die ein muskulöser, geschmeidiger Rücken und mächtige Hinterbeine dazu befähigten, blitzschnell auf jede Beute zu springen. Sie töteten mit einem Biß ins Genick, hieben die scharfen Eckzähne in das Rückgrat ihres Opfers. Der Tod trat auf der Stelle ein. Ein Tiger wurde mit drei Jahren geschlechtsreif, verzehrte täglich bis zu fünfzig Pfund Fleisch und mochte keine große Hitze. Die Weibchen ließen sich ungefähr alle zwei Jahre begatten und trugen bis zu sechs Junge aus, von denen nur eines oder zwei überlebten. Mit sieben Monaten fingen die Jungen an, selbst zu töten. Lin Pao war klug genug, die jeweiligen Besonderheiten auch anderer Katzenarten zu schätzen. Ihn beeindruckte die Leichtfüßigkeit des Gepard genauso wie die des Luchs', der 43
mit einem schnellen Satz in die Luft sogar tieffliegende Vögel erwischte. Er kannte auch den gnadenlosen Ehrgeiz von Junglöwen, die in Paaren oder größeren Gruppen andere Löwenrudel angriffen und die Führer vertrieben oder töteten. Als nächstes fraßen sie die Jungen, um sich dann mit den verstörten Weibchen zu paaren und ihren eigenen Nachwuchs zu zeugen. Auf diese Weise schufen die Löwen ihr eigenes Sozialsystem und sicherten ihren Fortbestand, indem sie der Art neues, gesundes Blut zuführten. Diese brutale Willenskraft fand die uneingeschränkte Bewunderung des Schwarzen Generals. Trotz der anderen Katzen blieben die Tiger Lin Paos Lieblinge. Er schätzte ihre Selbstgenügsamkeit — Tiger jagten allein — und fand es erholsam, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie lautlos durch ihre Käfige trotteten. Auch wurde er ihrer Schönheit nicht überdrüssig. Die grüngelben Augen, die hakenförmigen Krallen und das rötlichbraune Fell mit den dunklen Querstreifen übten über die Jahre eine unaufhörliche Magie auf ihn aus. Wie viele Chinesen stärkte er täglich seine Gesundheit mit einem Glas Tigerknochenwein. Keines seiner Besitztümer vermittelte dem Schwarzen General die Freude, die er in den Tigern fand. Anfang März bekam er eine im Norden der Volksrepublik China gefangene Schneeleopardin zum Geschenk. Hätte Lin Pao, so wie früher, zu seinen Gottheiten gebetet oder sich an ihre Diener, die sogenannten Dangkis gewandt, hätten sie ihm vielleicht sein Leben und seine Zukunft geweissagt. Und vielleicht hätten sie ihn dazu gedrängt, dieses eine Geschenk nicht anzunehmen. Vielleicht hätten sie Pao, der sich damit brüstete, keine Macht über sich anzuerkennen, davor gewarnt, daß die Schneeleopardin sein Denken und Handeln für den Rest seines Lebens bestimmen würde. Das Geschenk stammte von einem neuen Geschäftspartner und konnte nicht ohne Gesichtsverlust für diesen Mann zurückgewiesen werden. Da er Lin Pao jede Woche dreihundert Kilogramm Rohopium lieferte, forderte der gesun44
de Menschenverstand eine Anerkennung dieser noblen Geste. Die Schneeleopardin erwies sich auch als prächtiges Tier mit kräftigen Flecken auf einem langen, seidenweichen weißen Pelz. Wahrhaftig herrlich, dachte Pao. Ein wirklich passendes Geschenk. Der neue Geschäftspartner war General in der Volksrepublik China, ein ausgemergelt aussehender Mann mit toten-kopfartigem Gesicht. Er war vor kurzem in die Provinz Xin-jiang versetzt worden. Ihre Lage an der pakistanischen Grenze, fern jeglicher zentralen Kontrolle durch Peking, gab dem General die Freiheit zu tun, was er wollte. So zweigte er seiner Division zugedachte Lieferungen nach Afghanistan ab, wo sie die Guerillas in ihrem Kampf gegen die russischen Eroberer gut gebrauchen konnten. Diese Lieferungen ließ er sich mit Krügerrands und Goldbarren bezahlen. Der ungesund aussehende General hielt Gold für den Schlüssel zu allen Türen. Einen Teil des Goldes deponierte er bei Banken in Macao, Panama und Zürich, den Rest investierte er in ein Unternehmen, das seiner Einschätzung nach nicht anders konnte als Gewinne abzuwerfen, eine Heroinfabrik in Pakistan mit einer täglichen Produktion von 100 Kilogramm Rohopium. Die Schneeleopardin machte Lin Pao von Anfang an Ärger. Das scheue und launische Tier schlug nach jedem Wärter, der ihm in die Nähe kam. In der Gefangenschaft verlor sie den Appetit, wurde müde und abgespannt. Lin Pao kam zu dem Schluß, daß sie die kalte Bergluft vermißte und installierte ein großzügiges Kühlungssystem in ihrem Käfig. Er scheute auch keine Ausgaben für Tierärzte und zusätzliche Wärter. Dieses sogenannte Geschenk kam ihn, was Geld und Geduld betraf, teuer zu stehen. Mit der Schneeleopardin hatte Lin Pao das Messer an der
Klinge gepackt. Ihre Anwesenheit brachte auch die sonst ruhigen Tiger durcheinander. Jetzt trotteten sie unaufhörlich im Käfig auf und ab, aßen nicht mehr regelmäßig und machten den Wärtern Angst. Mit ihrem ständigen Gebrüll waren die Raubkatzen keine Quelle des Friedens mehr für Lin Pao. War die 45 Schneeleopardin ein böses Omen? Sollte schlafendes Unheil geweckt werden? Lin Pao war Asiat. In seinem Weltbild verschmolzen jahrhundertealte religiöse und gesellschaftliche Bräuche mit gesundem Menschenverstand, der Glaube an das Übernatürliche mit der Furcht vor dem Unbekannten. Dazu kamen tausend Götter. Die Folge war die tiefverwurzelte Überzeugung, daß stärkere Mächte als der Mensch über das Leben bestimmten. War die Schneeleopardin ein böses Omen? Sollte schlafendes Unheil geweckt werden? Bei genauerem Beobachten und Nachdenken mußte Lin Pao zugeben, daß er seit der Ankunft der Schneeleopardin in der Tat einige Rückschläge erlitten hatte. Rückschläge, die darauf hinwiesen, daß er nicht mehr in der Gunst des Schicksals stand. Rückschläge, die einen Schwächeren vielleicht erschüttert hätten. Letzte Woche hatte er in Manila den Tod von zwei Filipinas befohlen, bevor sie ihn mit dieser amerikanischen Firma, seiner Geldwaschanlage, in Zusammenhang bringen konnten. Die Nachricht über ihre Beseitigung hatte ihm recht gutgetan. Insbesondere die kleine Angela Ramos war ein ziemlicher Störenfried gewesen. Seine Leute in Manila hatten endlich ihr und ihren Streichen ein Ende bereitet. Achtet bei euren Aktionen peinlich darauf, daß kein Aufsehen erregt wird, hatte Lin Pao ihnen eingeschärft. Also hatten sie für ein Feuer gesorgt, das jede Spur von Gewalt an Angela Ramos vernichtet hatte. Die Folge: Ein offizieller Befund auf Unfall als Todesursache. Damit sei ein Hauptproblem aus dem Weg geräumt, ließ sich der Schwarze General von seinen Leuten versichern. Da trat Angela Ramos' Pate auf. Unter Mißachtung der Warnung, sich aus Lin Paos Angelegenheiten herauszuhalten, hatte er mit der Untersuchung des Todes seines Patenkindes begonnen. Ein solches Unterfangen kam nicht allzu überraschend, ließ sich doch ein so beschissener Wicht wie Angelas Pate nicht so leicht einschüchtern. 46 Zu seinen Zukunftsplänen gehörte eine Kampagne gegen Lin Pao in der amerikanischen Presse, eine Strategie, die ihn ruinieren könnte. Der Pate mußte liquidiert werden, je schneller, desto besser. Das war jedoch nicht so einfach. Er war ein stiller, selbstgenügsamer Mann, und solche Menschen sind wie stille Wasser, tief und gefährlich. Weitere Rückschläge in der letzten Zeit: In Amsterdam die Konfiszierung von Heroin im Wert von zehn Millionen Dollar durch Interpol und die holländische Polizei; in Marseille der Tod von drei Triad-Mitgliedern bei einer Messerstecherei mit einer Konkurrenzbande; in London die Beschlagnahmung von einer Million Dollar in Form von Waffen für die IRA; in Sydney die Entführung des Geschäftsführers eines von Lin Paos größten Spielcasinos. Und in New York kam der schlimmste aller Rückschläge. Ein Polizeibeamter der regelmäßig Lin Paos Geld auf Geheimkonten in Übersee schmuggelte, hatte sich gestern den Bundesbehörden gestellt. Wenn er nicht über die Operationen von Lin Paos Triad in Amerika plauderte, standen ihm vierzig Jahre Gefängnis bevor. Der Beamte war bekannt dafür, daß er zunächst einmal auf das eigene Wohl achtete, und folglich wußte der Schwarze General, was er zu erwarten hatte. Der Beamte, ein Kriminalkommissar, war schon klug, gerissen, kühn und geldgierig auf die Welt gekommen, und wie die meisten war er geldgierig geblieben. Vor zwei Wochen hatte er zusammen mit einem Freund 1,8 Millionen Dollar, die der Triad gehörten, nach Atlantic City gebracht und dort 1,5 Millionen beim Roulette und Blackjack verspielt. Paos Leute hatten den Freund hingerichtet. Der Kommissar aber hatte sich aus Furcht um sein Leben den Agenten der DEA gestellt. Was wußte der Mann über den Schwarzen General? Er wußte vom Drogenhandel und kannte die Verteilungswege in Amerika, er hatte Kenntnis von den Spielcasinos, der Erpressung und dem Prostitutionsgeschäft in mehreren Städten. Er wußte über Morde Bescheid, die rivalisierende Triad47
Mitglieder im Zuge des Machtkampfes in Amerika begangen hatten, und ihm war gewiß bekannt, wie Paos Geld gewaschen wurde. Für die amerikanischen Behörden, die nur darauf warteten, Paos Geschäfte in ihrem Land zu unterbinden, war er ein Geschenk des Himmels, die Antwort auf ihre Gebete. Für den Schwarzen General kam dieser Schlag zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt, zumal er den undurchsichtigen Intrigen von Angela Ramos' Paten so dicht auf dem Fuße folgte. Beides konnte verheerende Folgen auf seine Geschäfte in Amerika haben. Beides konnte die Bedeutung seiner Triad in diesem Land mit dem weltweit lukrativsten Markt schwer beeinträchtigen. Beides konnte einen brutalen Machtkampf auslösen, weil genügend Rivalen darauf aus waren, ihn in dem Land mit dem Namen Der Goldene Berg abzulösen. Allein das Wissen des Kommissars um die chinesische Übernahme des New Yorker Heroinhandels, den bis dahin die italienischen Banden kontrolliert hatten, machte ihn für die amerikanische Polizei unbezahlbar. Aber wußte sie auch, wie unbequem der Mann sein konnte? Nach außen ganz angenehm und charmant, war er in Wirklichkeit ein gefährlicher Verräter, ein Mann mit Honig im Mund und dem Schwert im Herzen. Mit dem
hätten die Amerikaner alle Hände voll zu tun. Ihr erstes Problem aber war: ihn am Leben zu erhalten, damit er gegen Lin Pao aussagen konnte. Deswegen wurde er rund um die Uhr bewacht an einem Ort, der als praktisch uneinnehmbar galt. Lin Pao amüsierte der Glaube der Amerikaner an ihre Macht. Er grinste, wenn er ihr Selbstlob hörte. Keiner kommt diesem Kerl auch nur in die Nähe, ohne daß ihm der Arsch weggeschossen wird. Bei uns ist er besser aufgehoben, als der Präsident bei seinem Geheimdienst. Unser Mann wird aussagen und diesen Chinesen dahin jagen, wo der Pfeffer wächst. Die Amerikaner waren ein optimistisches Volk, so wie sie voll Zuversicht und Selbstvertrauen in alle möglichen Geschäfte einstiegen. Schon eine Stunde, nachdem der Kom48
missar in die sogenannte Festung gekommen war, kannte Lin Pao seinen Aufenthaltsort. Und wußte auch, wieviele Agenten von DEA und FBI ihn ständig bewachten. Er hatte sogar erfahren, welche Mahlzeiten der Gefangene im Polizeigewahrsam verlangte. Die Verbindungen des Schwarzen Generals zur Regierung von Taiwan hatten ihm weltweit Macht eingebracht. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und schon ereilte ein Mitglied des Shan-Stammes in Burma, einen Effektenbankier in San Francisco, einen Pariser Restaurantbesitzer, einen Rauschgiftbeamten in Dallas der Tod. Wer glaubte, Lin Pao könne nicht töten, war erstaunlich unbedarft. Lin Pao war Anfang sechzig, ein bulliger Mann mit kahlgeschorenem Kopf, einer Plattnase und einer schwarzen Binde über der rechten Augenhöhle. Die leere Höhle schmerzte ihn noch immer, lange nachdem ihn ein Anschlag dieses Auge gekostet hatte. Verübt hatten ihn Mörder, gedungen von einer Frau, die er geliebt, der er getraut hatte. Seine linke Hand fehlte ebenfalls. Unter einem schwarzen Handschuh versteckt, ersetzte sie eine Prothese. Am künstlichen Handgelenk trug er ein Armband aus Menschenhaut. Es stammte von der Frau, deren Mordversuch ihn diese Hand gekostet hatte. Er war Drachenhaupt, der Führer der Triad, die man auch unter dem Namen Die Hundertschrittvipern kannte, nach der taiwanesischen Schlange, deren Biß so giftig war, daß ihre Opfer starben, bevor sie hundert Schritte laufen konnten. Der General vereinigte außergewöhnliche Energie und Ausdauer mit einem eisernen Willen. Ein barscher Umgangston verbarg seine scharfe Intelligenz und außergewöhnliche Geistesgegenwart. Arrogant und kompromißlos, verachtete er bei anderen jedes Anzeichen von Schwäche. Unter Beleidigungen litt er mehr als die meisten, folglich neigte er zu furchterregenden Wutausbrüchen. Dann vernichtete er jeden, der ihm in die Quere kam und ließ nicht mit sich reden, bis er seinen Zorn abreagiert hatte. In Paos 49 Triad war sein Wort Gesetz. Seine Befehle mußten widerspruchslos befolgt werden. Er traute niemandem. Im Grunde seines Herzens fürchtete er, daß andere mit derselben Gewalt und Arglist, die ihn auszeichneten, gegen ihn vorgehen könnten. Er war ein Einzelgänger, der nie vergaß, daß nicht wenige ihn seines Geldes, seiner Macht wegen töten wollten. Er dachte immer daran, daß der Elefant um seiner Stoßzähne willen umgebracht wurde. Zuzeiten erwiesen sich alle Macht und Gewalt als unzu- j reichend. Dann rief Lin Pao überirdische Mächte an, griff auf den chinesischen Volksglauben mit seiner Ahnenverehrung zurück, auf taoistisches, buddhistisches und konfuzianisches Gedankengut, auf alte Mythen. Vor besonderen i Schwierigkeiten und Herausforderungen wandte er sich an Tempelgottheiten, an Wahrsager, Priester und Geistermedien. So war ihm das Joss, sein Glück, bisher immer hold gewesen. Die Quelle seines günstigen Joss war ein alter taoistischer Priester, der allein am Fuße des Yangming-Berges in einem Tempel lebte, der eigentlich nicht viel mehr als eine Steinhütte war. Über die Jahre hatten die Weissagungen des Priesters Pao vor Fehlschlägen bewahrt, vor Umsturz und schmerzender Reue. Und ihm Zuversicht für die Zukunft gegeben. Die Schneeleopardin, zu diesem Schluß kam Lin Pao, ver- I barg Tücke in sich. Es war Zeit, bei dem alten Mann Zuflucht zu suchen, damit er sein Schicksal wieder wende. Es war Zeit, daß er weitere Rückschläge verhinderte. Der Weise stimmte die Götter gnädig, störte die Drachen nicht im Schlaf und achtete darauf, daß sich die bösen Geister im Wind auflösten. Der Weise wußte, daß die natürliche und die übernatürliche Welt nebeneinander existierten. In der Abenddämmerung verließ Lin Pao den Hauptpavillon seiner Anlage, schritt energisch durch mehrere Höfe und überquerte die Miniaturholzbrücke, die zu seinem Pri50
vatzoo führte. In Erinnerung an frühere Ausbrüche machten sämtliche Diener und Wärter einen großen Bogen um ihn. Wächter senkten den Blick oder schauten einfach in eine andere Richtung. Lieber nackt und unter Wölfen, als ausgerechnet heute den Schwarzen General reizen. Am Zooeingang blieb Lin Pao jäh stehen. Sein Zorn war plötzlich wie weggeblasen. Erstaunlich, dachte er, wirklich erstaunlich. Seine Tiger, der gewaltige mandschurische, der indische Albino, der kleine dunkle aus Bali — alle achtzehn waren still. Das hatte es seit Wochen nicht mehr gegeben. Nicht seit der Ankunft der Schneeleopardin. Einige Katzen, die Augen aufmerksam zu Schlitzen verengt, stolzierten in ihrem Käfig auf und ab. Andere lagen hellwach mit halbgeschlossenen Augenlidern ruhig auf ihren Strohhaufen. Ihr Atem ließ sich kaum wahrnehmen.
Alle warteten gespannt. Rote Fleischklumpen, das Abendmahl der Tiere, lagen unangetastet auf dem Boden. Auch die Reiher, Enten, Fasane und Kuckuckstauben in den Weihern und Gärten gaben keinen Laut von sich. Auf Lin Paos Armen bildete sich eine Gänsehaut. Etwas stand unmittelbar bevor. Die Tiger und Vögel wußten es. Wußten, daß diese unerwartete Stille nur die Ruhe vor dem Sturm war. Plötzlich kam sich Lin Pao verletzlich vor. Dann sah er den Priester. Der alte Mann stand vor dem Käfig der Schneeleopardin. Die Blicke auf die herrliche Katze gebannt, achtete er auf nichts anderes sonst. Er hieß Datschien und erschien bei Lin Pao nicht, wenn er gerufen wurde, sondern nach eigenem Gutdünken, eine Tatsache, die Pao stets auf das Fürchterlichste erboste. Diesmal war der Priester vier Tage nach Paos Ruf gekommen. Und ohne Voranmeldung. Eine Frechheit, ja Unverschämtheit. Ein solches Verhalten ließ sich der stolze, aufbrausende Lin Pao von keinem anderen bieten. Keinem anderen. Datschien war ein kleiner Mann mit einer gewaltigen Stirn über der Brille und einer angenehmen, leisen Stimme. Er trug eine schäbige safrangelbe Kutte, ausgetretene San51
dalen und stand auf einen Stock gelehnt da. Kannte er schon Lin Paos Schwierigkeiten? Pao beobachtete den Priester, wie er schwarze Perlen, die ihm um den Hals hingen, betastete und die Leopardin aus halbgeschlossenen Augen anblickte. Der Priester wußte Bescheid. Davon war Lin Pao überzeugt. Die Leopardin lag auf der Seite, den Kopf dem Priester und zwei Wärtern zugewandt, zwei kräftigen jungen Eingeborenen vom Stamm der Bei Nan. Die beiden Eingeborenen schienen schlecht aufgelegt zu sein, was Lin Pao nicht überraschte. In der Luft hing der Geruch von Essiggurken, Bratklößchen und Fischbrötchen. Offensichtlich hatten die beiden ihr Abendbrot genossen, bis sie der Priester und Lin Pao gestört hatten. Da sie die Reste aus seiner Küche verzehrten, fühlte sich Lin Pao im Recht, wenn er sie jetzt am Essen hinderte. Der eine, ein säbelbeiniger kleiner Bursche mit Kraushaar verzog den Mund, hielt aber seine Eßstäbchen fest mit der Faust umschlossen. Soll er sich doch ärgern, dachte Pao, aber wenn er nicht auf der Stelle sterben will, soll er mir kein Wort von seinem Ärger sagen. Von ihrem Hang zur Übellaunigkeit abgesehen, zog Lin Pao die Eingeborenen als Zoowärter vor. Sie waren arbeitswillig und verläßlich, sofern sie keine raschen Entscheidungen treffen mußten. Primitive waren keine Schnelldenker. Aber was konnte man schon von einem Volk erwarten, das bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein auf Kopfjagd gegangen war. Den Priester Datschien hielt Lin Pao für einen launischen kleinen Gesellen. Ein bißchen zu heftig in der Rede und Debatte, aber hervorragend in der Einschätzung der Zukunft. Anscheinend machte ihn sein Wissen um den göttlichen Willen übermäßig selbstsicher. Wie er es für richtig hielt, gab oder verweigerte er Rat und verschwand bisweilen wochenlang von seinem Tempel, ohne auch nur einem Menschen seinen Aufenthalt zu verraten. Keine Meinung, außer der eigenen, schien ihn zu be52
rühren, und furchtlos sagte er, was er dachte. In seinem Unvermögen, den Priester zu beherrschen oder einzuschüchtern, konnte Lin Pao nur sein Unbehagen und seine Furcht in dessen Anwesenheit verbergen. Paos Gelassenheit war dann stets reine Vortäuschung. Heute hatte er einiges mit Datschien zu besprechen, zuallererst wegen der Schneeleopardin. Seit er das verfluchte Tier hatte, erlitt er einen Rückschlag nach dem anderen. Sollte doch der Priester dieses böse ]oss beenden. Dann sollte es um die Beseitigung von Angela Ramos' Paten und dem Polizeibeamten aus New York gehen. War es möglich, mit dem Heiligen über seine Mordpläne zu sprechen? Natürlich, vorausgesetzt, es geschah diskret. Lin Pao wollte nur fragen, ob bestimmter direkter Widerstand erfolgreich gebrochen werden könne. Diskretion hieß eben, zum Ausdruck zu bringen, was man wollte, ohne zu erkennen zu geben, wie sehr man es wollte. Paos Ethik, oder Mangel an Ethik, schien bei dem Priester auf Gleichgültigkeit zu stoßen. Ohne jedes äußere Zeichen von Leidenschaft, Gefühlsregung oder Befangenheit gab er das Urteil der Götter weiter. »Wir handeln nach Gutdünken, bis uns das Schicksal ereilt«, erklärte Datschien. »Das Schicksal, nicht meine Person, regiert das Heilige und das Unheilige.« Schließlich hatte Pao noch die heikelste von allen Angelegenheiten auf dem Herzen, das Geheimtreffen in Hongkong heute in zwei Wochen mit seinen Feinden. Mit einem gewagten Zug hatte Pao vier Drachenhäupter aus verfeindeten Lagern an den Verhandlungstisch gebracht. Warum hatten seine eingeschworenen Feinde einer solchen gemeinsamen Aktion zugestimmt? Weil Großbritannien in weniger als zehn Jahren Hongkong an das Mutterland China zurückgeben sollte. Weil die Triad ihren Sitz in Hongkong hatte und wie viele andere, die alles verlieren konnten, China nicht zutraute, daß es das Territorium in jenem seltsamen Zustand, bestehend aus Kapitalismus, Dekadenz und Pragmatismus, beließ. 53 Freies Unternehmertum, vor allem in Hongkong, war etwas Großartiges. Aber freies Unternehmertum war nur in einer Demokratie möglich, in einem unabhängigen, selbstverwalteten Hongkong. Ein unabhängiges, selbstverwaltetes Hongkong würde jedoch Pekings Regierung unter keinen Umständen dulden. Die kommunistische Machtübernahme in China 1949 blieb unauslöschlich eine von Lin Paos schlimmsten
Erinnerungen. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Geheimgesellschaft war er dem Tod durch die Hand der Roten entkommen, aber nur dank seiner Gerissenheit und seines guten Sterns. Die Bolschewiken waren Dreckskerle. Hirten der Menschen gewiß, aber nur, solange die Menschen sich wie Schafe verhielten. Geheimgesellschaften hatten in China lange Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Zur Zeit des roten Siegeszugs war die Triad ein enger Verbündeter der Regierung Tschiang Kai-scheks gewesen. Bandenmitglieder — Offiziere, Geheimdienstagenten, Mörder, Drogenhändler, Polizisten, Geschäftsleute — hatten Tschiang Kai-schek ins Amt verholten. Sie agierten als seine Gorillas, die die schmutzige Arbeit erledigten, zu der reguläre Parteimitglieder weder bereit noch fähig waren. Aber mit Tschiangs Niederlage gegen die Kommunisten fanden 300 Jahre Bandeneinfluß auf die chinesische Politik ihr Ende. Die Roten waren blutig an die Macht gekommen und sollten genauso regieren. Sie duldeten keine Opposition, zerschlugen jede Eigeninitiative und bestraften entschlossen alle Feinde. Es überraschte keinen, daß die Triad, die Verbündete des geächteten Tschiang Kai-schek, mit als erste vom Festland vertrieben wurde. Die meisten Mitglieder schlössen sich nach der Flucht in das britische Hongkong der besitzenden Klasse an. Lin Pao erinnerte sich an einige wohlhabende Unternehmer, die mit ganzen Fabrikausrüstungen in die Kronkolonie gekommen waren. Was nun die wirtschaftlichen und politischen Freiheiten betraf, die die Roten China versprochen hatten, erfüllten diese sich nie. 54 Da das Leben unter den Roten der Willkür oder bestenfalls unbekannten Faktoren unterworfen war, verbreiteten sich jetzt die in Hongkong ansässigen Ableger der Triad im Ausland wie nie zuvor. Die achtziger Jahre sahen Lin Pao und andere Drachenhäupter Amerika mit Geld überschwemmen, es in Immobilien, Geschäften, Luxushäusern und Wertpapieren anlegen. Pao hatte auch den lukrativen Rauschgifthandel in New York ausgeweitet. Er war einer von den Chinesen, die den milliardenträchtigen, vormals im Alleinbesitz der amerikanischen Mafia befindlichen Heroinhandel übernommen hatten. Bei seinem Drängen auf eine Konferenz in Hongkong betonte Lin Pao, daß Bandenkriege in Amerika die Aufmerksamkeit auf diese gewaltige Kapitalzufuhr lenken würden. Die Folgen wären für alle verheerend. Es sei schwierig, erklärte er, aber nicht unmöglich, die Geschäfte unter strenger Überwachung zu führen. Strenge Überwachung mache jedoch die Anhäufung großer Profite zu einem Ding der Unmöglichkeit. Das Treffen war ein Versuch, Bandenkriege zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt abzuwenden. Über Bandenkriege seine Gebietsansprüche durchzusetzen und alte Rechnungen zu begleichen, galt als traditionelle Methode. Vor Jahren hatte das Lin Pao die erste Frau und den geliebten Kleinen Bruder gekostet. Doch er als einziger konnte seine Konkurrenten zum Nachdenken über Veränderungen bewegen. Selbst seine heftigsten Feinde mußten Lin Paos Überlegenheit an Geist und Intuition anerkennen. Seine Warnung konnte niemand mißachten; nicht solange die meisten die kommunistische Machtübernahme in China noch frisch in Erinnerung hatten. »Unser zukünftiger Reichtum liegt in Amerika«, erklärte er seinen Rivalen. »Doch hören Sie mir bitte gut zu — wenn wir nicht zu gegenseitigen Zugeständnissen bereit sind, werden wir diesen Reichtum nie erlangen. Wir sind dann nur mit unserem Krieg, jeder gegen jeden, beschäftigt. Und wir ziehen die erhöhte Aufmerksamkeit der amerikanischen 55 Presse und Polizei auf uns. Das kostet uns Geld, Menschen und sogar unsere rechtmäßigen Investitionen. Darum schlage ich eine Lösung vor. Lassen Sie uns eine Übereinkunft erzielen, die uns eine Expansion in Amerika erlaubt, ohne daß wir uns gegenseitig behindern. Das kann geschehen, indem wir die größeren amerikanischen Städte untereinander aufteilen. Hier. Und jetzt. Ohne Blutvergießen. Ich sehe keinen anderen Weg, sinnlose und übermäßige Verluste zu vermeiden, und ich sage Ihnen, meine Brüder in den altehrwürdigen Gesellschaften, mein Kompromißvorschlag ist keine Frage der Wahl mehr.« Und wenn die Konferenz doch scheiterte? Lin Pao konnte nur hoffen, daß ein solcher Alptraum nie Wirklichkeit wurde. Aber gesetzt den Fall, es wäre so, dann verschwand sein Ansehen in der Welt der altehrwürdigen Gesellschaften über Nacht. Seine Feinde würden ihn für unfähig halten. Seine Ideen kämen der eigenen Triad suspekt vor, und sie würde sich von ihm abwenden. So ein Debakel konnte er aber nicht überleben und sich gleichzeitig die Achtung der eigenen Leute bewahren. Ein Scheitern der Konferenz in Hongkong zöge die Todesstrafe durch die Hand seiner Nachfolger nach sich, denn der Tod war das bevorzugte Mittel gegen die Dummheit von Bandenführern. Bei dem Treffen durfte er weder das Gesicht noch Gebiete verlieren. Darum sollte der alte Priester aus dem Buch des Schicksals vorlesen und Pao sagen, ob die Konferenz Erfolg haben würde. Darum sollte ihm der alte Priester Mut und Zukunftsvertrauen zusprechen. In seinem Privatzoo drückte Lin Pao beunruhigt mit dem Zeigefinger gegen einen pochenden Nerv in der rechten Schläfe. Zum Teufel mit dem Priester. Paos Wut auf ihn wuchs mit jeder Sekunde, vor allem weil der Priester es immer noch nicht für nötig befunden hatte, seine Anwesenheit zu registrieren. Statt dessen ließ Datschien seine Blicke nicht eine Sekunde von der Schneeleopardin. Seine Faszina56 tion glich der eines Jungen, der zum erstenmal im Leben seinen Penis entdeckt. Eine solche Gleichgültigkeit ihm gegenüber verstand der schnell aufbrausende Pao als Unverschämtheit. Er hatte schon Menschen aus geringerem
Anlaß umbringen lassen. Plötzlich fröstelte Pao. Das Wetter war mit einem Schlag eisig geworden — ungewöhnlich für den März mit seinen gemäßigt warmen Temperaturen und seiner hohen Luftfeuchtigkeit, die häufig der der Sommermonate gleichkam. Vor Kälte zitternd steckte er die Hände unter die Ärmel. Mit seinem in Goldborten gefaßten Baumwollrock war er gegen diesen verblüffenden Wetterumsturz nicht gewappnet. Auch seine Filzpantoffeln vermochten seine Füße nicht vor der Kälte zu schützen. Seine leere Augenhöhle begann ihn zu schmerzen — ein unfehlbares Zeichen für bevorstehendes Schlechtwetter. Er sah zum Himmel. Sicher, es war Sonnenuntergang, doch die Nacht kam schneller als gewöhnlich. Die Dunkelheit und der Temperatursturz kündigten die Rückkehr der heftigen Stürme und Regenschauer der letzten Woche an. Ein Grund mehr, die Angelegenheit im Zoo zu regeln und wieder ins Haus zu kommen, bevor es schüttete. Er schauderte und merkte, daß er sich nach dem Gefühl von warmen Sonnenstrahlen auf seinem Körper sehnte wie nie zuvor. Zu seiner Rechten erhob sich ein Mandschurischer Tiger. Mit weit ausholenden Schritten begann er im Käfig auf und ab zu stolzieren. Zwei Käfige weiter schlug ein schwarzweiß gestreifter Indischer Albino unbarmherzig nach seinem Weibchen, bis es sich hinter ein Wasserloch verzog. Am Rande des Zoos hüpften Krähen mit lautem Krächzen in einer Gruppe Bambussträucher nervös von Zweig zu Zweig. Krähen. Ein böses Omen. Ein Zeichen, daß Unheil unmittelbar bevorstand. Schon wurden auch die Eingeborenen unruhig. Der mit dem Kraushaar ließ seine Eßstäbchen fallen, um sich sofort hinzukauern und sie zu suchen. Sein Gefährte, ein kleiner, 57 buckliger Kerl mit schwarz verfärbten Zähnen rollte mit den Augen, während er sich die Hände über die Ohren hielt. Höchste Zeit, die Angelegenheit hier zu erledigen, sagte sich Pao, bevor diese abergläubischen Narren noch in Tränen ausbrachen. Pao zog die Hände aus den Ärmeln und schritt auf den Priester zu. Er wollte, daß ihn der alte Mann von dem üblen Joss befreite, das die Schneeleopardin über ihn gebracht hatte. Er wollte, daß der Priester die Schatten wegwischte, die dieses Tier auf Paos Leben warf. Und der Priester sollte sich für Paos Erfolg in Hongkong verbürgen. Datschien sprach, ohne sich umzudrehen. Noch nie hatte seine tiefe Stimme so eindrucksvoll, so drohend geklungen. Lin Pao blieb abrupt stehen. Das Herz klopfte ihm, sein Mund war so trocken wie Staub. Er erschauerte unter den ersten kalten Regentropfen. Und unterdrückte jede Anwandlung, sich von Furcht beherrschen zu lassen. Was ein Mensch fürchtete, trat allzuoft ein. Die Blicke auf die ruhende Schneeleopardin gewandt, sagte Datschien: »Erst tötest du dieses Tier. Dann stirbst du selbst binnen 21 Tagen.« Er drehte sich um und sah Lin Pao ins Gesicht. Wie er so milde lächelte, sah er plötzlich wie ein Kind aus, gelöster, als ihn Lin Pao je zuvor gesehen hatte. Seiner Sprache beraubt, blieb Lin Pao wie angewurzelt stehen. »Du wirst eines gewaltsamen Todes sterben«, sagte Datschien. »Das Werkzeug deines Todes wird ein Junge sein, der im Westen lebt. Er ist Teil deines Lebens und ist dir von Geburt an wie ein Schatten gefolgt. Was aus dir hervorgegangen ist, kehrt jetzt zu dir zurück. Jetzt mußt du dich den Geistern stellen, die deine vergangenen Taten geweckt haben.« Beklommen fand Lin Pao wieder zu seiner Stimme: »Sag so etwas nicht, alter Mann. Ich warne dich. So sprichst du nicht mit mir.« »Ich bin weder der Tuende noch die Tat. Ich bin nur das Sprachrohr. Durch mich wirkt eine höhere Macht.« 58 »Du alter Narr, du willst dich über mich lustig machen, doch gerade jetzt brauche ich...!« »Ich sage die Wahrheit. Du wirst binnen 21 Tagen sterben. Ich rate dir, bereite dich auf den Tod vor.« »Schwachsinniger alter Dummkopf! Wer bist du denn, daß du mir sagst, ich solle mich auf den Tod vorbereiten? So ein Einfaltspinsel denkt also, er könne mir das Leben nehmen ... Was macht mir das schon? Ich habe viele Anschläge auf mein Leben überstanden.« Sein eines Auge bohrte sich in die Augen des Priesters. »Ein Junge, sagst du?« »Ja. Aus dem Westen. Doch er stammt aus dem Reich der Mitte.« Das Reich der Mitte war der alte Name Chinas. Lin Pao drehte den Kopf zu den krächzenden Krähen. »Ein Junge? Nur ein Junge!« Er schüttelte den Kopf und starrte den Priester wütend an. »Und du meinst, daß ich Angst vor ihm haben werde?« Datschien lächelte: »Du hast jetzt schon Angst vor ihm.« Es stimmte. Zum erstenmal seit Jahren hatte Lin Pao Angst und haßte sich dafür. Nichts schwächte das Urteil eines Mannes mehr. In Panik konnte keiner vernünftig handeln. Dieser Priester... Zum Teufel mit ihm, weil er ihn in diesen schrecklichen Zustand versetzte! »Nimm deine Worte zurück, Priester. Ich befehle dir, mir nur die Hilfe des Himmels anzukündigen. Ich befehle dir, mir die Wahrheit zu sagen.« »Der Himmel will es so. Du kannst die Zukunft nicht beherrschen.« »Du sollst meine Zukunft beherrschen, Alter. Du, und nur du. Jetzt verschwende meine Zeit nicht länger. Sorge
dafür, daß das Schicksal mir günstig bleibt. Das ist ein Befehl. Mit deinem Segen gelingt mir alles.« »Bis jetzt war dir das Schicksal in allem gewogen. Und du hast dein Verhalten immer als angemessen und richtig empfunden. Nie hast du innegehalten und bedacht, daß alles, was aus dir hervorgeht, auch immer zu dir zurückkehrt, daß du selbst der Schmied deiner Zukunft bist. Auf deinem Lebensweg, fürchte ich, bist du zum erstenmal jetzt dir selbst begegnet.« 59 Der immer furchtsamer werdende Pao rief: »Sag mir, daß ich triumphieren werde, oder halte den Mund!« »Wer Fragen stellt, kann den Antworten nicht entgehen. Keiner von uns beiden kann jetzt deine Zukunft beherrschen. Solche Dinge liegen in der Hand des Himmels.« Lin Pao tat das einzige, wozu er in der Lage war: Er gelobte sich, das Schicksal herauszufordern. Er war ein stolzer, einfallsreicher Mann. Ein Siegertyp. Die Vorstellung, ein einfacher Junge könne ihn schlagen, war doch lächerlich — . oder nicht? Der Junge lebt im Westen, stammt aber aus dem Reich der Mitte. Die Suche nach diesem Jungen soll in New York beginnen, sagte sich Pao. Sie soll bei den Jadeadlern beginnen, Pao benutzte diese chinesische Jugendbande für Erpressungen und Morde. Für die Bande arbeiteten auch Vietnamesen und Koreaner, doch vor allem Chinesen, illegale Einwanderer aus den schlimmsten Slums von Hongkong. Die Jadeadler — Paos Schwert in New York. Sie wahrten die Interessen seiner Triad in dieser Stadt, sei es beim Glücksspiel, beim Drogenhandel oder bei Schutzgeldern. Die Jugendbande vollzog Lin Paos Urteile und bestrafte seine Feinde in Amerika. Ihr Boß war der achtzehnjährige Benjamin Lok Nein, ein kaltblütiger Mörder und der geborene Führer. Lin Pao mochte ihn und hatte ihn für höhere Aufgaben ausersehen. Benjy Nein bewunderte den Schwarzen General. Die Beseitigung von dessen Feinden erfüllte ihn mit Stolz. Aber mochte die Vordertür auch vor Tigern schützen, vielleicht kam dann ein Wolf durch die Hintertür? War Benjy Nein dieser Wolf, der gekommen war, Lin Pao zu vernichten? Wollte Lin Pao die Voraussage Datschiens ernstnehmen, durfte er Benjy Nein nicht mehr trauen. Alle Jadeadler — insgesamt ein Dutzend Mitglieder — mußten wohl strenger überwacht werden. Einige von ihnen waren erst zwölf Jahre alt, doch solche Kinder wuchsen zu den Lin Paos von Morgen heran. Die größte Bedrohung? Benjy Nein natürlich. Die Vorsicht I 60
gebot Lin Pao jedoch, daß er sich vor allen Jadeadlern schützte. Ein kluger Mann war immer noch sich selbst der beste Verbündete. Paos Lösung für dieses spezielle Problem? Die Worte dieses Priesters als Tatsache hinnehmen. Ohne natürlich auch nur einem Menschen etwas davon zu sagen. Und dann die Gong Nam Bat Hop rufen, die Acht Ritter des Nordens. Ein Geheimbund von Mördern in Taiwans militärischem Abschirmdienst. Gong Nam Bat Hop war nach einer Mörderbande aus dem 18. Jahrhundert benannt, die dem Kaiser Yung Cheng gedient hatte. Die Regierung Taiwans benützte die Organisation oft, um Dissidenten auf der ganzen Welt zum Schweigen zu bringen. Und um ihre gewinnträchtigen Verbindungen mit Drogenkönigen wie Lin Pao zu sichern. Wie ihr Vorbild, nahm auch die zeitgenössische Gong Nam Bat Hop die Köpfe ihrer Opfer mit. Die Voraussage des alten Priesters mußte sich nicht erfüllen. Lin Pao brauchte nur die Übergabe des Kopfes eines jungen Mannes abzuwarten und damit auch die Wiederkehr seines günstigen Joss. Zugleich war es jedoch auch wichtig, daß seine Feinde nichts von der Weissagung erfuhren. Sonst wurden sie kühner und gefährlicher. Selbst die eigenen Gefolgsleute konnten diese Prophezeiung zu ihrem Vorteil nutzen. Die Weissagung war eine Frechheit. Je mehr Pao darüber nachdachte, desto stärker packte ihn die Wut. Wie kam dieser vertrocknete Alte dazu, ihm nur noch 21 Tage zu geben? Bei der Verkündigung seiner Prophezeiung hatte Datschien vor Lin Paos Macht keinerlei Respekt gezeigt. So etwas konnte nicht geduldet werden. Mittlerweile hatten die zwei Eingeborenen beschlossen, daß sie genug gesehen hatten. Alles deutete darauf hin, daß der Schwarze General seiner Wut gleich freien Lauf lassen würde. Beide schauten einander an und nickten sich schweigend zu. Sie machten sich besser davon und ließen diesen Schweinekerl Pao und den alten Priester den Rest allein austragen. * Sie wußten um Paos widersprüchlichen Charakter, wußten, daß seine eiserne Disziplin bisweilen von furchterregenden Schwankungen beeinträchtigt wurde, wußten, was für ein jähzorniges Scheusal er sein konnte und wie schnell seine Stimmungen manchmal umschlugen. Jeder Blinde konnte sehen, daß Lin Pao und der Priester nicht miteinander auskamen. Wenn die Eingeborenen Lin Pao richtig kannten, mußte sich der Priester auf etwas gefaßt machen. Während der Regen auf die metallenen Käfigüberdachungen prasselte, hob Lin Pao die Stimme, bis sie das Krähengekreische, die rastlosen Tiger und den sich zusammenbrauenden Sturm übertönte. Er verlangte erneut, daß der Priester seine Prophezeiung zurücknehme, doch der Alte schüttelte nur den Kopf und sagte: »Ich spreche nur den Willen des Himmels aus. Du hast gegen die Wolken gespuckt. Das alles hast du dir selbst zuzuschreiben.« \ Als sich Datschien wieder der Schneeleopardin zuwandte, ließ Lin Pao den letzten Rest Selbstbeherrschung fahren. Zur Zurückhaltung war er nicht mehr in der Lage. Der Sturm, die krächzenden Krähen, die brüllenden
Tiger hatten ihn entnervt. Ein furchterregender Lin Pao gab sich dem überwältigenden Drang hin, den Priester zu vernichten. Er rannte über die regenglatten gelben Fliesen, schlang den linken Arm Datschien um die Gurgel und drückte so fest zu, daß der Priester keine Luft mehr bekam. Dann hob er Datschien hoch und schüttelte ihn wild, bis die Sandalen des Alten davonflogen. Ohne den Würgegriff zu lockern, bückte sich Lin Pao und packte mit der Rechten eines der Eßstäbchen, die der Eingeborene mit dem Kraushaar verloren hatte. Er rammte den Holzstab dem Priester ins rechte Ohr und tief in den Kopf. Mit brechender Stimme flüsterte der Priester den Namen Gottes und blieb dann schlaff in Lin Paos Armen hängen. So wie es aussah, fügte er sich in den Tod. Nicht, daß das Pao rührte. Im Augenblick verspürte er nur wilde Freude, weil er sich des Alten entledigt hatte. Lin Pao ließ den Toten los und befahl dem großen Einge62
borenen mit dem krummen Rücken zur Hütte des Aufsehers zu laufen und einen Rechen zu holen. Schnell. Keiner rührte sich, beide waren vor Furcht gelähmt. Außer sich wie er war, hatte Lin Pao keine Lust, seine Geduld auf zwei Trottel zu verschwenden und begann zu fluchen. Mit dem linken Fuß trat er nach dem größeren, der sich daraufhin endlich in Bewegung setzte. Als er mit dem Rechen zurückkam, nicht im Laufschritt, sondern im Schlürf gang, riß ihm Lin Pao wortlos das Werkzeug aus der Hand, schob den Eingeborenen beiseite und sah auf den toten Priester hinab. Ein kurzes Zögern, dann packte Lin Pao den Griff mit beiden Händen, schwang den Rechen hoch und ließ die Metallzacken auf den Körper des Priesters heruntersausen. Die Eingeborenen wandten sich ab. »Schleppt ihn zum Käfig«, befahl er ihnen. »Schnell! Schnell!« Sollte man der Schneeleopardin die Schuld für den Tod des Alten geben. Lin Pao hielt sich die Hände als Schutz gegen den prasselnden Regen vor die Augen und sah zu, wie die Eingeborenen Datschien bei den Knöcheln packten und seinen blutenden Körper zum Leopardenkäfig zerrten. Der Sturm nahm zu, die Bambussträucher bogen sich im heftigen Wind, und er spürte die Nadelstiche des peitschenden Regens durch seinen Baumwollrock. Zum Schutz der Tiere sollten die Käfige zugedeckt werden, darum wollte er sich gleich noch kümmern. Aber zunächst mußte er noch eine andere Schwachstelle beseitigen. Lin Pao wandte den Kopf, hielt die Hände wie einen Trichter um den Mund und bellte einen Befehl. Sofort rannten zwei schlanke, mit Ponchos und ellipsenförmigen Strohhüten bekleidete Männer vom taiwanischen Stamm der Paiwans über die kleine Holzbrücke in den Zoo. Bis sie Lin Pao erreichten, mußten sie tiefe Pfützen überqueren. Pao flüsterte den Paiwans etwas zu, dann beobachtete er, wie sie langsam zum Leopardenkäfig gingen. Der große bucklige Eingeborene hatte soeben die Tür aufgemacht. Als er die Schneeleopardin sprungbereit mit gebleckten Zähnen 63 und gekrümmtem Rücken sah, zuckte er zusammen, packte aber doch den Priester am Handgelenk, während ihn der andere an den Knöcheln hielt. Respekt vor dem Alten war nicht mehr nötig. Seine Seele hatte den Körper verlassen und weilte jetzt an einem besseren Ort. Die Wärter schleuderten Datschiens Leiche in den Käfig, fast auf die Schneeleopardin. Erschreckt sprang das Tier zur Seite und schlich zur Tür. Beide Männer gerieten in Panik, und Lin Pao desgleichen. Er deutete auf die Tür und schrie: »Sichert die Tür! Das verdammte Vieh will mich umbringen!« Pao hatte Angst. Große, große Angst. Den Kopf zum Schutz gegen den Regen eingezogen, hatten es die Eingeborenen jetzt sehr eilig. Der eine fummelte nach dem an seinem Gürtel befestigten Schlüsselbund, während der andere die Tür zu fassen bekam. Die Paiwans sah oder hörte keiner. Beide Wächter hoben ihre Maschinenpistolen unter den Ponchos und feuerten aus der Hüfte. Die Feuerstöße schleuderten die Eingeborenen nach vorne gegen die Stangen des Leopardenkäfigs. Ihr Tod bedeutete, daß nun nur noch Lin Pao von der Weissagung des Priesters wußte. Während dieser Gedanke durch seinen Kopf flog, sprang die Schneeleopardin durch die noch immer offene Tür und rannte geradewegs auf Lin Pao zu. Die Wächter feuerten gleichzeitig. Die Geschosse zerschmetterten die Bodenfliesen und bespritzten Lin Pao mit Wasser, bis eine weitere das Rückgrat des Tieres traf und es zu Boden warf. Unfähig zu laufen, kroch die sterbende Schneeleopardin weiter. Den Bauch auf dem Boden, krallte sie sich in den nassen Fliesen fest und bewegte sich Zentimeter für Zentimeter durch das mit Blut vermischte Wasser. Direkt auf Pao zu. Vor Furcht taumelnd, wich Pao zurück, bis die Paiwans sich zwischen ihn und die Schneeleopardin stellten und sie endgültig zur Strecke brachten. Atmung und Herzschlag Paos schienen auszusetzen. Er drückte beide Hände gegen die Schläfen, um die wilden Zuckungen zu unterdrücken, 64 vermochte jedoch gegen das Pochen in seinem Hirn nichts auszurichten. Erst als sein Herzschlag sich verlangsamte, ließ er die Hände fallen. Frei. Er war frei. Er wiederholte das Wort mehrere Male. Frei. Einmal mehr der Herr seines Lebens. Denn außer ihm wußte keiner von den Worten des alten Priesters.
Zitternd ging Pao an den Paiwans vorbei, um sich vor den leeren Käfig der Schneeleopardin zu stellen. Er schloß sein eines Auge, atmete den Geruch des Käfigs ein und lauschte dem Regen, wie er auf die Käfigüberdachung trommelte. Von dem Augenblick an, an dem er sie bekommen hatte, hatte ihn die Schneeleopardin verabscheut. Warum? Gut, die Gefühle des Tieres, egal wie sie gewesen waren, zählten nicht mehr. Was zählte, war der Aufschub, den Lin Pao mit diesem Mord vom Schicksal zurückgewonnen hatte. Oder hatte er lediglich ein Glied aus der Kette der Vorsehung zerstört? Er öffnete das Auge, atmete tief durch, griff nach den Stangen und drückte sie mit aller Kraft. Er war der Schwarze General, und sein Schicksal lag noch immer in seinen Händen. Noch immer. Der Junge, der ihn töten wollte, mußte noch viel lernen. Lin Pao wandte sich den Paiwans zu und erklärte ihnen mit lauter, fester Stimme, was er von ihnen wollte.
New York City Im Hafen von New York liegen unmittelbar südlich von Manhattan drei kleine Inseln. Governor's Island ist eine davon. Fahrten zu dieser Insel, die die Küstenwache der Vereinigten Staaten beherbergt, sind ausschließlich an Tagen der offenen Tür möglich, und auch das nur während der warmen Monate. Einzelreisende haben keinen Zutritt. Gruppenreisende werden nur nach vorhergehendem schriftlichem Antrag beim Büro der Küstenwache genehmigt. Der Name stammt aus dem Jahre 1698, als die Stadtversammlung von New York das Gebiet >zum Nutzen und zur Wohnstatt der Gouverneure Seiner Majestät, des Königs von Englands in Beschlag nahm. Die Insel diente nicht nur als Residenz der Kolonialgouverneure, sondern auch als Wildfreigehege, Schafzuchtfarm, Rennbahn und Quarantänestation für die Einwanderer. Mit ihren Waldgebieten, Gebäuden im Kolonialstil und den Wohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert ist die Insel der einzige Flecken in New York geblieben, der weitgehend einem Dorf auf dem Lande ähnelt. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten zählen Fort Jay und Castle Williams, Befestigungsanlagen, die im 19. Jahrhundert zum Schutz New Yorks vor Angriffen der britischen Marine gebaut wurden. Auf den Wällen reihen sich Dutzende von Kanonen, aus denen aber nie in einem Gefecht gefeuert worden ist. Die Briten machten ihre Drohung nicht wahr, und außer bei Schießübungen und Gedenkfeiern ist der Waffengebrauch auf der Insel seither strengstens unter- j sagt. Governor's Island ist trotzdem ein Schutzschild geblie- * 66 ben, allerdings unter Bedingungen, die nur den wenigsten bekannt sein dürften. Kronzeugen in Prozessen vor dem Bundesgerichtshof, insbesondere in Verfahren gegen das organisierte Verbrechen, werden hier in Sicherheitsgewahrsam gehalten. Nach ihrer Aussage vor einem der Bundesgerichtshöfe in Manhattan gewährt das Justizministerium einigen Kronzeugen das Witness Relocation Program, eine Neuorientierungsmaßnahme. Das bedeutet eine neue Identität nebst Papieren, eine neue Heimat in Amerika oder im Ausland und bisweilen eine Gesichtsoperation. Die auch unter dem Namen >Alias-Programm< bekannte Maßnahme ist nicht unumstritten. Ihre Kritiker meinen, sie reiche zur Sicherheit der Zeugen nicht immer aus. Beanstandungen richten sich auch gegen Zeugen, die, während sie unter dem Schutz der Regierung stehen, weiterhin Verbrechen begehen wie Bankraub, Börsenbetrug, Brandstiftung, Vergewaltigung oder Mord. Die Neuorientierungsmaßnahme für Kronzeugen wird es jedoch auch in Zukunft geben. Kontroversen und selbst massive Kritik scheinen ihr nichts anhaben zu können. Verbrechern wird nach wie vor Straffreiheit als Gegenleistung für ihre Aussagen gegen ehemalige Mittäter gewährt. Und gewisse ethische Fragen werden ignoriert oder bleiben unbeantwortet. Die Maßnahme wird nicht ausgesetzt, da Belastungszeugen, die zur Mitarbeit bereit sind, die wichtigste Informationsquelle bei der Verbrechensbekämpfung bedeuten. Es war spät am Nachmittag, als Frank DiPalma auf die Veranda eines zweistöckigen, aus Ziegeln erbauten Herrenhauses auf Governor's Island trat und sich von zwei Marshals der amerikanischen Behörden durchsuchen ließ. »Ich habe nichts dabei«, sagte Frank DiPalma. Sie wußten, wer er war und daß das stimmte, trotzdem wurde er von oben bis unten abgetastet. Der eine Marshai war ein junger Puertoricaner, dessen Kopf fast ansatzlos auf den breiten Schultern saß. Er trug ei67 ne braune Fliegerjacke, gebleichte Blue Jeans und schwarze, an der Fußspitze silberbeschlagene Cowboy Stiefel. Mit festem Griff hielt er eine tschechische Skorpion-MP, während er DiPalma durchsuchte. Sein Partner war ein hagerer Schwarzer in mittleren Jahren mit braunen Augen, die freundlich wirkten, es aber nicht waren. Er trug einen dreiteiligen Flanellanzug und einen zweireihigen beigen Trenchcoat mit kariertem Baumwollfutter. Seine Aufgabe erledigte er, ohne das automatische Gewehr, Marke Beretta, Modell 12 S abzulegen, das von seiner rechten Schulter baumelte. In diesen letzten Wintertagen trugen beide Marshals keinen Hut, aber immer noch schwarze Lederhandschuhe. Keiner war auf müßiges Geplauder aus. Der Puertoricaner
kam DiPalma vor wie ein Sträfling, sein Kollege wie ein Gerichtspräsident. DiPalma, einsachtzig groß und stämmig, hatte verschleierte Augen, graues Haar und war mit seinem platten Gesicht von solcher Häßlichkeit, daß ihn nur sein Selbstbewußtsein attraktiv machte. Seine Frau — er war zum zweiten Mal verheiratet — fand sein doch etwas seltsames Erscheinungsbild sogar sexy. Als Cop bei der New Yorker Vice hatte er zwanzig Jahre abgerissen. Dann war er in Rente gegangen mit einer Leutnantspension und einem leichten Hinken, einem Andenken daran, daß es, wie es bei Raymond Chandler heißt, in der Welt des Verbrechens nicht angenehm duftet. In den letzten drei Jahren hatte er für eine große Fernsehgesellschaft als Kriminalreporter gearbeitet. Nach Governor's Island war er gekommen, um mit seinem Ex-Partner zu sprechen, einem Kriminalbeamten der städtischen Polizei New Yorks namens Gregory van Rooten, der jetzt ein unter Schutz gestellter Kronzeuge war. Um dem Gefängnis zu entgehen, sagte van Rooten über die Operationen Lin Paos in Amerika aus, jenes Drogenschiebers, der auch unter dem Namen der >Schwarze GeneraL bekannt war. In der Regel war der Kontakt zu Kronzeugen auf Familienmitglie68 der und Staatsanwälte beschränkt. DiPalma hatte diese Regel umgangen. Oder vielmehr, van Rooten hatte sie umgangen, indem er den Beamten des Justizministeriums gesagt hatte: »Wenn ihr nicht nach meiner Pfeife tanzt, hat das unvorstellbar verheerende Auswirkungen auf meine Stimmung.« Was er wollte, war ein Privattreffen mit Frank DiPalma. Und er wollte es jetzt. DiPalma war auf Governor's Island nicht sehr willkommen. FBI und DEA paßte es nicht, wenn Zeugen mit der Presse sprachen. Je weniger über van Rooten bekannt wurde, desto besser. Die Medien waren über seine Verhaftung nicht informiert, und die Bundesbehörden wollten es auch weiter so halten. Und jetzt mußte Frank DiPalma daherkommen, um den Fall in alle Welt hinauszuposaunen. Zumindest sah es so aus. Man bat DiPalma, sich >kooperativ< zu verhalten, freiwillig und ganz von selbst das Treffen mit seinem ExPartner abzusagen. Seine Antwort lautete: »Warum, zum Teufel, sollte ich?« Wäre Frank DiPalma dann wenigstens bereit, sich mit dem Obersten Staatsanwalt an einen Tisch zu setzen und über den Fall zu sprechen? Eigentlich nicht. Ob er sich dann nicht mit dem Obersten Staatsanwalt zum Essen treffen wolle? Wieder nein. Das Treffen mit van Rooten fand statt. Wenn das DEA oder FBI Probleme damit hatten, war der Belastungszeuge selbst die richtige Adresse. Zu guter Letzt erreichte DiPalma ein Anruf von einer Hispano-Amerikanerin, die sich mit eisiger Stimme als FBI-Sprecherin ausgab. Sie hatte kaum mit ihrer Litanei über sein ach so unkooperatives Verhalten begonnen, als er sie unterbrach: »Ich glaube, ich liebe Sie. Gerade hat sich in meiner Hose was gerührt.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. DiPalma wollte sich nicht unter Druck setzen lassen. Er wollte aber auch keine Polizeiuntersuchung stören. Als Cop hatte er genügend Scherereien mit profilneurotischen Ärschen gehabt, darum rief er den Chefankläger der Vereinigten Staaten, Logan Peale, an und versprach ihm, über das 69 bevorstehende Treffen mit van Rooten Stillschweigen zu bewahren. Das Treffen sei persönlicher, rein privater Natur. Ein Stadtgespräch würde garantiert nicht daraus. »Ihre Frau?« fragte Peale. Großartig, dachte DiPalma. Die ganze Scheiß-Welt weiß es. Er ließ die Frage unbeantwortet. »Auch gut«, sagte Peale, »aber Sie wissen, wie zickig die Republikaner sein können.« Damit meinte er, daß bestimmte Beamte von FBI und DEA DiPalma nicht als Ex-Bullen betrachteten, sondern als Zivilisten. Die schlimmste Art von Zivilisten — als so einen dämlichen Journalisten, und nichts weniger. In der Skala des menschlichen Lebens rangierten nur noch Rechtsanwälte und Sittenstrolche dahinter. Kurz gesagt, DiPalma war ein Feind. Aber solange die Bundesleute van Rooten brauchten, tanzten sie nach seiner Pfeife. Sonnenklar, Herr Kommissar, das Treffen zwischen DiPalma und van Rooten konnte steigen. Es konnte steigen, weil van Rooten eine Menge über Lin Pao wußte, den Mann, der jetzt den Heroinhandel in New York beherrschte. Der tolle Gregory hielt alle Trümpfe in der Hand — und er wußte es. DiPalma war eines klar: Egal, wieviel Material van Rooten lieferte, Lin Pao würde nie ein Verfahren in Amerika über sich ergehen lassen. Dazu hatte der Schwarze General zu starke und zu dauerhafte Beziehungen in seiner Basis in Taiwan. Der Tag seiner Auslieferung müßte schon ein außergewöhnlich kalter Tag in der Hölle sein. Jede Wette darauf, daß Taiwans Führer Pao lieber tot sahen, ehe sie ihn in einen amerikanischen Gerichtssaal spazieren ließen! Aber man brauchte nur dem Schwarzen General das Geschäft in Amerika, seiner ergiebigsten Geldquelle, zu vermasseln, und der Dreckskerl konnte einpacken. Einfach den Geldhahn zudrehen, und die Jungs in Taiwan gerieten in Panik. Wenn van Rooten halbwegs gut sang, konnte er Lin Pao vom Goldenen Berg stoßen. Wie DiPalma aufgrund seiner eigenen Recherchen wußte, befand sich die Mafia auf dem absteigenden Ast. Konsequente Strafverfolgung, gute Arbeit durch die V-Männer 7° und hervorragende Informanten hatten sich bezahlt gemacht. Doch kaum hatte man die Italiener in erstklassige Besserungsanstalten gesteckt, traten auch schon neue Mitspieler an ihre Stelle. Raffinierte, zähe, ehrgeizige Spieler.
Die Zunahme der Einwanderungen, der legalen wie der illegalen, schuf den Chinesen ein größeres Reservoir als ihren Rivalen und damit schnellere Expansionsraten. In den Hochburgen des Drogenhandels, der Erpressung, der Prostitution und der Waffenschieberei schnitten sich die Chinesen ein immer größer werdendes Stück vom Kuchen ab, während sie sich von Manhattans Chinatown über das ganze Land nach Philadelphia, Boston, Dallas, Houston, Oregon, Los Angeles ausdehnten. Das von Asiaten organisierte Verbrechen trieb den FBI noch in den Wahnsinn. Ein Informant der Behörde hatte DiPalma gesagt, daß mehr als zwei Dutzend Agenten von den Mafiafällen abgezogen worden seien und jetzt die Chinesen zu bearbeiten hätten. Brauchten die Bundesleute van Rooten? DiPalmas Ex-Partner war ein Scheißdreck, aber als Informant konnte er sich selbst einen Freifahrtschein ausstellen. Der Gewährsmann vom FBI sagte weiter: »Vor ein paar Wochen ist dein Freund van Rooten ausgeflippt. Hat sich ein bißchen Koks, Pillen, Fusel, was du willst reingezogen und ist mit einem Kumpel, einem Detective Sergeant La-Von, losgezogen. Hatten gut eineinhalb Millionen von Lin Pao dabei. Zwei Kuriere, die so stoned waren, daß sie nicht mehr wußten, wer sie waren. Sie sollten das Geld außer Landes nach Panama schaffen und bei einer bestimmten Bank deponieren. Statt dessen brechen sie über Atlantic City herein und verspielen fast alles. Nicht gerade cool. Überhaupt nicht cool.« »Würde ich auch so sehen«, meinte DiPalma. »Wenn Officer La Von noch unter uns weilen könnte, würde er bestimmt zustimmen. Was von ihm übrig geblieben ist, haben sie drüben auf Staten Island vor 'ner Woche oder so gefunden. Hände und Füße waren abgehackt. Und 7* die Moral von der Geschichte? Mach mit dem Geld vom ■ Schwarzen General bloß keinen Blödsinn.« »Ich frage mich nur, warum Greg so ausgeflippt ist, bevor er dieses Ding gedreht hat. Der Mann ist doch nicht total blöde.« »Mein Vater hat mir mal gesagt, daß es auf der Welt zwei Arten von Frauen gibt: Göttinnen und Fußmatten. Van Rooten ist über 'ne Fußmatte gestolpert. Ist wegen 'ner Nutte ausgeflippt. 'Ne chinesische Sängerin, die sich Taroko nennt. Dein Freund war schon immer ein schlimmer Fall von Gelbsucht. Konnte die Finger nicht von den Süßen aus Asien lassen. Konnte überhaupt von Frauen die Finger nicht lassen, Punkt. Egal - Taroko soll die tollste Frau sein, die Gott je geschaffen hat. Sie ist in den chinesischen Gemeinden der Superstar, was, zum Teufel, das auch immer heißt. Ist eine Riesennummer in Atlantic City. Zieht die chinesischen Spieler gleich Karrenweise an. Sag über deine Wuchtbrummen, was du willst, die Casinos lieben diese schlitzäugigen kleinen Luder.« »Du meinst, eine Frau hat Greg so weit gebracht?« fragte DiPalma. »Was denn sonst?« »Van Rooten läßt sich von einer Frau in die Pfanne hauen? Wenn das nicht Ironie des Schicksals ist.« Van Rooten war ursprünglich der New York Vice zugeteilt worden, die ihn wiederum als Geheimpolizist an die Spezialeinheit für Drogenfahndung ausgeliehen hatte. Er sah gut aus, hatte einen ungezwungenen Charme und einen außerordentlichen Sinn für Humor. Doch wie DiPalma bald herausfand, nutzte van Rooten andere Menschen aus, vor allem Frauen. Er benutzte sie, bis nichts mehr übrig blieb, dann ließ er sie schleunigst fallen. Seine ersten Worte an DiPalma waren seinerzeit gewesen: »Ich werde nie auch nur das Geringste von mir selbst hergeben; ich will nicht so werden wie alle anderen.« Genau was die Welt brauchte. Wieder so ein vorlauter Maulheld, hatte sich DiPalma gedacht. Aber die Art des Jun72
gen hatte ihm gefallen. Man mußte so einen Kerl einfach mögen, der so dringend Bulle werden wollte, daß er mit seinem Vater brach, dessen Geschäfte immerhin einen Jahresumsatz von fast fünf Milliarden Dollar abwarfen. Greg, der Großartige. Liebenswürdig und liebenswert, bis man ihn näher kannte, dann erwies er sich als Schlange. DiPalma dachte damals: Der ist jung, der lernt's noch. Doch DiPalma war derjenige, der gelernt hatte. Und zwar, daß van Rooten nicht so wie die anderen war. Der Mann tanzte nach einer ganz anderen Musik. Und hatte auch keinen makellosen Charakter. Seine besondere Stärke war es, wie gesagt, Frauen auszunutzen. Und in ganz Manhattan gab es keinen Cop, der ihn nicht darum beneidete. Ehefrauen, Mätressen, Töchter und Partnerinnen von Drogenschiebern - van Rooten beutete sie alle mit gläubiger Inbrunst aus. Indem er mehr hübsche Hintern als jeder Klodeckel sammelte, lieferte er Missetäter am laufenden Band ab und heimste eine Belobigung nach der anderen ein. Er hatte auch Spitznamen gesammelt. >Romanzen-Ronald<, >Gynäkologe< und >Manni Mösenburger< zum Beispiel. DiPalma nannte ihn >Haifischauge<, weil kein anderer den kaltblütigen, unberührten Blick dieses Raubfisches so zuwege brachte wie er. Wie man ihn auch nannte — der Mann erreichte etwas. Am Anfang machte van Rooten alles richtig. Er hörte auf DiPalma, folgte dessen Beispiel und kam nie auf die schiefe Bahn. DiPalma konnte sich an keinen anderen Cop mit soviel Talent für die Arbeit als V-Mann erinnern. Van Rooten war der geborene Schauspieler und hatte die ihm auf den Leib geschnittene Rolle gefunden. DiPalma, der in seiner Laufbahn einige Partner erlebt hatte, dachte schon, daß van Rooten derjenige war, den er sein Leben lang gesucht hatte. Zusammen brauchten sie wahrlich kein Taschenbillard zu spielen. Für V-Männer gab es nur eine Regel: Alles geht. Man durfte lügen, bescheißen, betrügen, tun, was erforderlich
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war, um die Gauner zur Strecke zu bringen und ihre Organisation zu durchdringen. Der Zweck heiligte die Mittel. Um Moral brauchte man sich nicht zu kümmern. Auf keinen Fall durfte man über den kürzesten Weg zum Ziel zu lange nachdenken. V-Männer, das lernte DiPalma, waren Meisterbetrüger, Vertreter für Schlangenöl, die überlebten, indem sie die Wahrheit verdrehten. Er lernte auch, daß man sich einfach keine Gedanken mehr über ihre Lügen machen durfte, denn sie waren das einzige Mittel, das einem das Leben rettete. Das Leben eines V-Mannes hing an einem seidenen Faden. Ein falsches Wort, und man wurde mit durchschossenen Augen oder dem abgeschnittenen Schwanz im Mund aufgefunden. Lügen waren noch die geringste aller Sorgen. Die Arbeit als V-Mann kannte durchaus ihre Höhepunkte. Verdammt noch mal, in mancher Hinsicht war es schon ein tolles Leben. Wo sonst konnte man seine Macho-Träume so ausleben, genau die Träume, die in der Presse und den Fernsehkrimis jeden Tag verherrlicht wurden? Aber wenn man nicht aufpaßte, konnte einen diese Arbeit in die Tiefe ziehen. Das Leben des Kriminellen hatte seine glitzernden Verlockungen; daran konnte die ehrliche Welt, was Sex, Drogen, Geld und Macht betraf, nicht heranreichen. Und wo sonst brauchte man sich um Regeln, Vorschriften, Moral, um alle anderen Einschränkungen nicht zu scheren? In der Unterwelt machte man, was einem gerade in den Kram paßte, und die anderen gingen einem dann besser aus dem Weg. Verlockend? Unbedingt! Aber DiPalma hatte van Rooten gewarnt: »Überschreite eine bestimmte Grenze nicht. Sonst kannst du nicht mehr zurück.« DiPalma vermochte mit seinen Warnungen van Rooten jedoch nicht davon abzubringen, jede Rücksicht auf die normale Welt mit ihrem Achtstundentag, auf Familie und Freunde, auf ein geregeltes Leben fahrenzulassen. Er glaubte immer mehr an die Maskerade, mochte sie zu sehr. Und an diesem Punkt wurde er einer von den vielen Cops, die ihre eigenen Lügen nicht mehr durchschauen konnten. Be74
sonders die asiatische Unterwelt schien ihn zu faszinieren. Und Asiatinnen wurden seine Leidenschaft. DiPalma hatte als erster gespürt, ab wann aus den kleinen Kompromissen seines Partners große wurden. Ein großer Kompromiß betraf einen unter Schutz gestellten Kronzeugen, einen vierzigjährigen Chinesen namens George Hin, der Jugendbanden in den Chinatowns des ganzen Landes Waffen geliefert hatte. Nachdem er geholfen hatte, einige Leute hinter Schloß und Riegel zu bringen, gab man Hin und seiner Familie eine neue Identität und eine neue Heimat in Arizona. Ein halbes Jahr später, am Heiligen Abend, erschossen zwei maskierte Killer Hin in seinem Garten in einem Vorort von Phoenix. Van Rooten war mit Hins ehemaligen Leuten auf gutem Fuße gestanden - auf zu gutem, wie DiPalma spürte. Dann bekam DiPalma einen Hinweis von einem Informanten namens Honey Fortune, einem kleinen Dealer in Harlem, der ungeschoren blieb, solange er die Cops mit Informationen bediente. Honey sagte: »Euer Junge hat ihn verpfiffen.« Van Rooten habe Hins Adresse an einige ganz üble Leute verkauft. Der Preis: 250 000 Dollar. Aber bevor DiPalma mit dieser Mitteilung etwas anfangen konnte, spielte jemand Honey Fortune sehr übel mit. Honey verschwand spurlos. Ohne seine Aussage hatte DiPalma nichts gegen van Rooten in der Hand. Schließlich kam die Sache mit dem Sohn des Schwarzen Generals. Der Tip stammte von Julie Kurt, einem zigarrenrauchenden Callgirl aus Manhattan, das besonders auf chinesische Kunden aus war, weil sie gut zahlten und sexuellen Experimenten nicht abgeneigt waren. DiPalma hatte einmal einen Zuhälter aus Venezuela daran gehindert, ihr das Gesicht zu zerschneiden, weil sie sich seinem Stall nicht anschließen wollte. Dafür revanchierte sie sich jetzt. Laut einem ihrer Stammkunden war Lin Pao auf dem Weg nach Amerika. Er kam aus Mitleid von seinem Goldenen Berg herab. Wie Julie Kurt erklärte, lag sein einziger Sohn im Sterben, 75 und er wollte ihm einen letzten Besuch abstatten. Der Junge, ein Student an der Harvard Business School, war auf seinem Fahrrad unterwegs gewesen, als ihn ein betrunkener Bostoner Feuerwehrmann namens Ted McDaniel angefahren hatte. Gegen McDaniel, in dessen Blut man auch Spuren von Kokain fand, wurden Ermittlungen und ein Strafverfahren eingeleitet. Vorläufig durfte er sich jedoch unter Auflagen und gegen eine Kaution frei bewegen. Paos Sohn gaben die Ärzte indes nicht mehr als zwei Tage. In Zusammenarbeit mit dem DEA und der Polizei von Boston legte DiPalma im Krankenhaus eine Falle für Lin Pao. Sie schnappte jedoch nicht zu, weil Pao nicht kam. Jemand, vermutlich ein Cop, hatte ihn laut Julie Kurt gewarnt. Van Rooten? Julie Kurt wußte keinen Namen, wollte sich aber umhören. Eine Woche später wurde ihre Leiche im Hof eines Hochhauses im Gramercy Park gefunden. Julie Kurt war vom Balkon ihrer Maisonette gesprungen, gefallen — oder gestoßen worden. Selbstmord, lautete der Befund des Untersuchungsrichters. Einen Monat danach verschwand McDaniel, der noch auf das Verfahren wartete, auf dem Weg zu einer Alkoholikerberatungsstelle in Bostons Innenstadt spurlos. Informanten teilten DiPalma mit, er sei entführt, unter Drogen gesetzt und nach Taiwan geflogen worden, wo ihn Lin Pao mit einer Kettensäge zerstückelt habe. Jetzt weigerte sich DiPalma strikt, noch einmal mit van Rooten zusammenzuarbeiten. Er versuchte auch, bei den Aufsichtsbehörden eine Untersuchung gegen ihn durchzusetzen. Erbost schrie ihn van Rooten an, was er überhaupt von ihm wolle. Van Rooten brauche keinen Vormund mehr, außerdem habe er DiPalma in der letzten Zeit nur mitgezogen. Bei dem mache sich jetzt das Alter bemerkbar. Von jetzt an könne er alles allein
bewältigen. »Ich bin besser, als du je warst«, erklärte van Rooten. Er habe verdammt noch mal was dagegen, daß DiPalma hinter seinem Rücken Material gegen ihn sammle und ihn bei der Revisionsabteilung anschwärze. So etwas mit dem eigenen Partner zu machen, 76 sei absolut beschissen. Wenn DiPalma beweisen könne, daß van Rooten die Fronten gewechselt habe, von ihm aus. Ansonsten solle er ihn am Arsch lecken. Außerdem werde er es ihm eines Tages schon heimzahlen. Dann seien sie quitt. Darauf könne er Gift nehmen. DiPalmas Gewährsmann vom FBI sagte zu ihm: »Das wird dir gefallen. Taroko, die Frau, die van Rooten das Herz gebrochen hat, ist Lin Paos Geliebte. Das ist doch seltsam, wie? Anscheinend hat sie in Lin Paos Auftrag gearbeitet. Und van Rooten hat sich in sie verknallt. Dann ist sie auf und davon und hat den Dandy sitzenlassen. Hat dem Arsch ein richtiges Loch ins Herz gebrannt. Romanzenronald hat das schwer mitgenommen. Er läßt nicht viel über sie raus, aber wir bearbeiten ihn. Die Hitze spürt er allmählich. Jetzt müssen wir ihn nur noch so weit bringen, daß er auch das Licht der Wahrheit sieht.« Haifischauge. Der Mann, der die Wahrheit selbst dann nicht erkannte, wenn sie vom Himmel fiel und ihn in den Arsch biß. Warum hatte DiPalma dem Treffen dann zugestimmt? Weil er instinktiv gespürt hatte, daß van Rooten ausnahmsweise aufrichtig war, als er ihn anrief und ihm sagte, daß eine Frau namens Jan Golden in Gefahr sei. »Es ist meine Schuld, daß es soweit kam«, sagte van Rooten. »Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist dich zu warnen. Am Telefon können wir nicht darüber sprechen. Besser, wir treffen uns. Unter vier Augen. Du und ich. Wir zwei allein in einem Zimmer. Dürfte interessant werden.« Jan Golden war DiPalmas Frau, und van Rooten hatte eine Affäre mit ihr gehabt. Auf der Veranda des Herrenhauses sagte der schwarze Marshai zu DiPalma: »Sie kennen die Prozedur ja.« DiPalma nickte, nahm Hut und Mantel ab und gab sie ihm zur Durchsuchung. Sekunden später bekam er beides zurück. Dann streckte der Schwarze die Hand nach DiPalmas Stock aus und meinte, den könne er wieder mitnehmen, wenn er drinnen fertig sei. Kendo, das japanische Fechten, und Amis, 77 der philippinische Stockkampf, waren DiPalmas Leidenschaft. Dieser Stock war seine Lieblingswaffe. Er war handgeschnitzt aus schwarzer Eiche und hatte einen breiten, wunderschön mit Drachen verzierten Silberknauf. DiPalma hatte ihn in Hongkong bekommen. Eine Krankenschwester, Katherine Shen, hatte ihn ihm geschenkt, als er dort einen chinesischen Heroinhändler namens Nickie Mang hatte festnehmen wollen. Nickie hatte von Manhattans Chinatown aus operiert. Er war ein Soziopath, vollkommen übergeschnappt. Seine Feinde hatte er mit Benzin Übergossen und sie dann in Flammen aufgehen lassen. Er hatte auch DiPalmas Wohnung in Queens überfallen, seine erste Frau und ihre neunjährige Tochter als Geiseln mitgenommen und sie dann erschossen. Vor dreizehn Jahren in Hongkong... Eine schwüle, regnerische Augustnacht. Durchnäßt lag DiPalma mit einem Bauchschuß und einem zerschmetterten linken Arm in der fauligen Brühe eines Abwassergrabens direkt neben der verlassenen Autobahn von Hongkong Island zum Kai-Tak-Flughafen. Vom Blutverlust war er schon wirr im Kopf, doch Nickie Mang hatte er nicht vergessen. Nickie Mang, den ihm soeben vier mit Maschinenpistolen bewaffnete Gelbe weggenommen hatten. Jetzt saßen sie in einem beigen Chrysler, und der fuhr an. DiPalma hatten sie vergessen — er gehörte bereits der Vergangenheit an. Aber er kroch in dem Regenguß aus dem stinkenden Graben auf die Autobahn. Ohne den Chrysler aus den Augen zu lassen, stützte er seine Hand mit der .38er Smith & Wesson auf die Brust des tot niedergestreckten Sergeanten Arnold Yeh von der Royal Hongkong Police Force. Er war der Fahrer der Bande gewesen, die ihn in einen Hinterhalt gelockt hatte, und DiPalma hatte ihm mitten durch das rechte Auge geschossen. Erschöpft feuerte DiPalma mit seiner Smith & Wesson auf die Rücklichter des Chrysler. Und traf den Benzintank. Bruchteile von Sekunden später spürte er die Druckwelle, 78
hörte das Wumm, fühlte die Hitze sein Gesicht versengen, während der Chrysler als brennender Ball in die Luft flog, die Nacht hell erleuchtete und sich in glühende Metallstücke verwandelte, die wieder auf die regenglatte Autobahn herunterklapperten. Nickie Mang verließ diese Welt als Rostbraten. Zehn Tage später versuchte DiPalma zum erstenmal wieder zu gehen, nachdem Nickie Mang ihn fast für immer umgepustet hatte. Es war entsetzlich. Weil er die Krücken noch nicht handhaben konnte, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Ein rasender Schmerz durchfuhr ihn. Ich schaff's nicht, dachte er. Werde es nie wieder schaffen. Was für eine Überraschung, als er zum Bett zurückkriechen wollte. Schwester Katherine Shen versperrte ihm den Weg. »Kriechen Sie zum Fenster«, befahl sie ihm. »Oder rollen Sie sich zum Fenster.« Aber ins Bett kam er ihr nicht. »Gehen Sie mir aus dem Weg, zum Teufel!« schrie DiPalma. »Schlagen Sie mich doch nieder«, sagte sie, »aber ins Bett kommen Sie nicht.« DiPalma sagte, er sei noch nicht so weit, daß er gehen könne. Vielleicht werde er nie wieder gehen können. Auf
dem Rücken zu liegen sei für ihn im Augenblick genau das Richtige. Er verabscheute dieses Dasein als Krüppel, verabscheute seine Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen. Sie war gerade da, warum sollte er sich also nicht an ihr abreagieren. Ein zähes Luder, diese schöne Katherine Shen. Rührte sich nicht von der Stelle, schrie nicht, blieb cool. Die Arme über der Brust verschränkt, stand sie da und schaute auf ihn hinunter. DiPalma kapierte. Er zog die Krücken zu sich heran und haßte sie, weil sie ihn dazu zwang — aber er rappelte sich hoch und humpelte zum Fenster. Drei Meter. Scheiße, sie kamen ihm wie zehn Kilometer vor. Zehn qualvolle Kilometer. Und kaum hatte er begonnen, wollte er schon aufgeben. Aber den Triumph wollte er ihr doch nicht gönnen, also stolperte er weiter, bis ihm vor Erschöpfung schwindlig und übel war. Doch er erreichte das Fenster, erreichte die Sonne. Ein paar Sekunden lang 79 stand er da in den wärmenden Strahlen, hörte die Tauben , draußen auf dem Mauervorsprung gurren, spürte den festen Boden unter den nackten Füßen, spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, weil ihm die Tränen aus den Augen schössen. Er schaute über die Schulter und schämte sich nicht, daß eine Frau ihn weinen sah. Jetzt nicht. Katherine Shen weinte ebenfalls. Diesen Tag sollte er noch oft in der Erinnerung nacherleben und immer daran denken, daß er, wäre er auf den Knien geblieben oder ins Bett zurückgekrochen, nie wieder gelaufen wäre. Und nie wieder geliebt hätte. Als DiPalma nach New York zurückkehrte, wußte er nicht, daß aus seiner Affäre mit Katherine Shen ein Junge, Todd, hervorgegangen war. Sie hatte später einen führenden Hongkonger Bankier mit dem Namen Ian Hansard geheiratet, einen blasierten kleinen Engländer, der zu unbegründeten Wutanfällen neigte und eigentlich nicht viel mehr war als ein egoistischer Intrigant. Erst die Ermordung von Katherine und Ian Hansard durch japanische Ultrarechte führte DiPalma wieder nach Hongkong und mit seinem Sohn zusammen. Todd war da schon zwölf Jahre alt, ein hochaufgeschossener, schlanker Bursche. Die Schönheit seines meist traurigen Gesichts, seiner dunklen Augen war fast schon weiblich zu nennen. Seine Augen verblüfften — das eine war dunkelviolett, das andere von einem außergewöhnlich tiefen Blau. Genauso gegensätzlich waren seine Stimmungen. Im einen Augenblick war er vergnügt, im nächsten mürrisch; auch seine Energie schwankte zwischen Passivität und Hyperaktivität. Nichts zu rütteln gab es an Todds fließendem Japanisch, an seiner Gabe, in die Zukunft zu sehen, an seiner Geschicklichkeit beim Kendo, um die ihn DiPalma nur beneiden konnte, mochte er noch so jung und klein sein. Mit einem Holzschwert oder Stock in der Hand war Todd absolut tödlich. Er konnte Erwachsene schlagen, die bei Turnieren kämpften, machte manchen sogenannten Meister fertig. 80
Selbst DiPalma, einer der besten Kendo-Kämpfer der Ostküste, hatte im Kampf mit dem Kleinen seine liebe Mühe. Unheimlich? Und wie. Aber Todd war ja auch einzigartig. Ein äußerst ungewöhnliches Kind. Wie ungewöhnlich, das vermochten nur DiPalma und seine Frau Jan zu verstehen. Todd war ungewöhnlich, weil in ihn manchmal die Seele Benkais fuhr, eines wilden und kaltblütigen Samurais aus dem 16. Jahrhundert mit phänomenalen Fechtkünsten. DiPalma war immer ein sturer Realist gewesen, darum hatte er sich der Vorstellung widersetzt, daß sein einziger Sohn die Wiedergeburt eines kaltblütigen Killers aus feudalen Zeiten sein könnte. Nie, hatte er sich gesagt. Nie und nimmer! Aber einmal, in einer warmen Nacht in Tokio, hatte ein sehr kräftiger Yakuza, ein Raubmörder mit seinem Balisongmesser Jan und Todd in einer verlassenen Sackgasse den Weg abgeschnitten, und DiPalma wurde Augenzeuge. Da er selbst viel zu weit entfernt war, um helfen zu können, hatte er Todd den Stock zugeworfen und mußte hilflos zusehen, wie der Yakuza zum tödlichen Stich ansetzte. Todd und Jan waren so gut wie tot, sagte sich DiPalma. Um sie beide zu retten, müßte Todd einen mit allen Wassern gewaschenen Mörder bezwingen, der dreimal so groß war wie er selbst. Das war unmöglich. Und war es nicht. Todd war unbezwingbar. Unbezwingbar. Und gnadenlos. Er überwältigte den Yakuza und brach ihm Arme und Beine, bevor er ihn mit einem wütenden Schlag gegen die Kehle hinrichtete. Was DiPalma mit eigenen Augen gesehen hatte, mußte er zwangsläufig glauben. Genauso zwangsläufig mußte er zugeben, daß er seinen Sohn nie wirklich gekannt hatte. Mit dem Verstand war Todd nicht zu ergründen. Er war jenseits menschlichen Begreifens. In Japan zerstörte DiPalma dann Benkais 400 Jahre altes Schwert, das sich in Todds Besitz befunden hatte. Muramasa, ein brillanter, unheimlicher Waffenschmied hatte es gefertigt. Wer eine Klinge von Muramasa besaß, hieß es, konnte nicht mehr lange leben, ohne zu töten. Da Benkais 81
Schwert nun nicht mehr existierte sagte sich DiPalma, daß Todds Dämonen endgültig zur Ruhe gekommen seien. Aber in der letzten Zeit war ihm der Junge bekümmert und rastlos, sogar gequält erschienen. In der Nacht schlief er unruhig, wälzte sich hin und her, schrie manchmal und wachte schweißgebadet auf. DiPalma und Jan hatten jetzt kaum noch Zugang zu dem Jungen. Er zog sich in sich zurück und sagte nur etwas, wenn man ihn ansprach. Besorgt fragte sich DiPalma, ob das Unbegreifliche in Todd wieder hochkam. Wenn ja, wie sollte es weitergehen?
Todd und Jan. DiPalma liebt sie beide. Aber beide zog es von ihm fort. Und dadurch wurde sich DiPalma schmerzhaft seiner Grenzen bewußt. Das Herrenhaus. Als DiPalma in einen großen Raum im zweiten Stock trat, dachte er, Greg hat's mal wieder geschafft. Haifischauge ließ sich von niemand in eine der beschissenen Baracken auf dieser Insel stecken, in denen die Kronzeugen eine Küche und ein Bad teilten und in Etagenbetten die Fürze der anderen rochen. Bei ihm mußte alles erstklassig sein, darum war er auch in einem Gebäude untergekommen, das früher als Offizierskasino der Küstenwacht gedient hatte. Den Mantel über dem Arm und den Hut in der Hand, stand DiPalma mit dem Rücken zur Tür und schaute sich um. Hübsch und gemütlich, um es vorsichtig auszudrücken. Eine niedrige Decke mit blitzsauberen Balken, mit Leder bezogene Stühle, Kirschholzschränkchen und Gedichtbände in Wandregalen. In einer Ecke glühte auf dem glattpolierten Eichenboden ein elektrischer Ofen. Aus einem Transistorradio auf einem kleinen Tisch aus Fichtenholz kam eine Sendung des Nachrichtenkanals. Hinter DiPalma sperrte jemand die Tür zu. Er war allein mit Gregory van Rooten. Der abtrünnige Cop stand vor einem Fenster und schaute auf die kreisförmigen roten Sandsteinmauern des nahegelegenen Castle William. Er war ein hagerer Mann Mitte drei82
ßig, etwas über einsachtzig. Sein braunes Haar, das sich allmählich lichtete, hatte er gefönt, damit es dichter wirkte. Sein ansehnliches Gesicht mit den vollen Lippen sah so aus, als ob er keiner Fliege etwas zuleide tun könne. Wie immer war er exklusiv gekleidet. Heute trug er einen gelbbraunen Kaschmirpullover, ein gelbes Seidenhemd, eine schwarze Freizeithose und schwarze Gucci-Mokassins. An den Fingern glitzerten Diamantringe, das linke Handgelenk zierte eine goldene Rolex. Er hätte genausogut auf der Sonnenterrasse seines Strandhauses in Malibu stehen und unentschlossen sein können, ob er jetzt seine Haut weiter bräunen oder lieber Milchglasscheiben für die Garagenfenster bestellen sollte. Doch er war unrasiert, rauchte nervös, und trommelte mit dem Zeigefinger auf das Fensterbrett und sah den Möwen zu, wie sie über dem Buttermilk Channel, der Wasserstraße zwischen Governor's Island und Brooklyn, schwebten. Schließlich richtete er den Zeigefinger auf die Möwen, rief: »Peng, peng!« und drehte sich lächelnd zu DiPalma um. An seinem Lächeln hat sich nichts geändert, dachte DiPalma. Es war das gewohnte, sympathieheischende Zähneblitzen eines Mannes, der einmal versucht hatte, DiPalma umbringen zu lassen. Ansonsten hatte sich van Rooten in den Monaten, seit ihn DiPalma zum letztenmal gesehen hatte, durchaus verändert. Er hatte zugenommen. Sein brauner Teint verblaßte allmählich, sein Gesicht war jetzt rundlicher, und unter dem teuren Pullover erkannte DiPalma den Ansatz zu einem Bauch. Die Hand, die die Zigarette hielt, zitterte leicht, und auf van Rootens Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet. Seine Augen sahen auch nicht mehr so bedrohlich aus. Der Mann hatte Angst. Obwohl er sich alle Mühe gab, nicht über die Schulter zu blicken. Keiner streckte die Hand zum Gruß aus. Van Rooten räusperte sich und sagte: »Na also, wenn das nicht mein herzallerliebster Zen-Faschist ist. Noch tätig in der so wilden und blöden Welt der Kriegskünste? Ich habe den Kumpels vor der Tür von deinem Stock erzählt, wie du 83 einem mit dem Ding richtig den Arsch aufschlitzen kannst. Nicht, daß ich davor Angst gehabt hätte, daß du mir den Kopf spaltest oder so. Aber ich fühle mich wirklich wohler, wenn ich weiß, daß sie dir dein kleines Spielzeug weggenommen haben. Gibt mir meinen Seelenfrieden, du verstehst schon?« Mit fast geschlossenen Augen legte DiPalma den Kopf zur Seite. »Du wolltest mit mir über Jan sprechen?« »Oho! Hier kommt er, zum Teufel! Der berühmte Blitz von DiPalma. Der Blick, bei dem sich alle Gesetzesbrecher in die Hosen scheißen und versprechen, daß sie ihren Mammis öfter schreiben wollen. Das ist das Problem mit dir, Frank. Du bist wie safer Sex und ein dreiteiliger Anzug — vollkommen berechenbar.« »Du hast gesagt, sie ist in Gefahr.« »Nicht so düster, du Schrecken der Verbrecher. Die nächste Fähre nach Manhattan geht erst in einer Stunde oder so. Wegen mir kommst du schon nicht zu spät in die Heia. Soll ich dir einen Drink machen? Whisky, Remy Martin? Ach ja, richtig! Du trinkst ja nicht. Magen kaputt, seit der Geschichte in Hongkong, als sie dich fast ins Jenseits befördert hätten.« DiPalma sah über die Schulter hinweg zur Tür. Ja, er war bereit zu gehen — bevor er etwas Unüberlegtes und Sinnloses tat. Bevor er zum Beispiel van Rooten niederschlug. Van Rooten sagte: »Ich hab dich nicht verarscht. Jan kriegt Ärger. Jetzt reg dich bloß ab. Du magst mich nicht, ich mag dich nicht. Das läßt sich nun mal nicht ändern. Aber hör mir zu, bevor du gehst. Das schuldest du schließlich Jan.« DiPalmas Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern: »Du schreibst mir nicht vor, was ich meiner Frau schulde, kapiert?« Gehorsam nickte van Rooten mit dem Kopf. Der große Zampano riß nicht nur den Mund auf, wenn er in diesem Ton zu einem redete. Wenn einer zulangen konnte, daß es furchtbar wehtat, dann war es Frank DiPalma. Und wenn einer es fertigbrachte, einen bei seinen kleinen Tricks zu er84
tappen, dann war es derselbe Senor DiPalma. Van Rooten mußte schon etwas entgegenkommender sein, was den Grund seiner kleinen Plauderei mit dem großen Zampano betraf. Konnte man andererseits zu einem Mann ehrlich sein, wenn man seine Frau gestopft hatte? »Laß den Quatsch bleiben und sag mir, warum du mich hierher gelotst hast!« rief DiPalma. Na gut, dachte van Rooten. Er schaute auf den handgewebten Teppich unter seinen Füßen. »Ich hasse es, wenn du dir einbildest, daß du gerissen wärst«, sagte DiPalma. »Ist Jan wirklich in Gefahr?« Van Rooten nickte: »Leider ja. Und du hast recht. Ich will was von dir. Etwas für mich. Dich um einen Gefallen zu bitten, wäre das Letzte für mich, hatte ich mir geschworen. Aber im Augenblick bleibt mir nicht viel anderes übrig.« Er schaute zu der Tür rechts von ihm. DiPalma folgte seinem Blick. Eine Sekunde später erhob sich van Rooten, ging zu der Tür und machte sie auf. Sie führte in ein kleines, enges Badezimmer, dessen Boden mit schwarzen und weißen rautenförmigen Fliesen gemustert war. Jetzt bin ich schon so weit gegangen, dachte DiPalma, warum also nicht. Er ging ins Badezimmer. Als beide Männer drinnen waren, sah DiPalma zu, wie van Rooten die Tür zuzog und die Klospülung betätigte. Dann drehte der abtrünnige Cop sowohl den Wasserhahn des Wasserbeckens als auch den der Badewanne auf. Die schnellste und einfachste Art, unerwünschte Wanzen lahmzulegen. Van Rooten warf seine Zigarette in die Toilette, klappte den Deckel zu und setzte sich darauf. »Sie sagen mir, mein Zimmer sei nicht verwanzt. Ich könne Ihnen ruhig trauen. Schon richtig. Sei mir nicht böse, wenn ich mein Leben lieber selbst in die Hand nehme und mir von keinem dreinreden lasse. Also, sprechen wir über Jan.« Nägelkauend starrte er auf den Boden. »Ich höre, ihr zwei lebt nicht mehr zusammen. Sie ist ausgezogen? So wie es aussieht, ist es auch aus zwischen ihr und mir. Ihre Idee. 85 Die zweite Lady, die mich in der letzten Zeit hat sitzenlassen. Man könnte fast meinen, ich hätte Scheiße zwischen den Zähnen oder so was. Jedenfalls hat man an bestimmter Stelle das Gefühl, daß Jan etwas über Lin Pao weiß, das sie lieber nicht wissen sollte.« DiPalma richtete den Zeigefinger auf van Rooten. »Du willst sagen, daß Lin Pao Jan wegen dir töten könnte? Ich will wissen, was, zum Teufel, du ihr gesagt hast, daß sie so in der Patsche sitzt.« Die Augen immer noch auf den Boden gerichtet, sagte van Rooten: »Nichts. Kein Sterbenswörtchen. Sieh mal, ich bin aufrichtig zu dir, weil ich nicht den Rest meines Lebens ständig über die Schulter spähen will. Ich kenne dich. Jan wird fertiggemacht, und wenn du dann glaubst, daß ich meine Hände im Spiel hatte - Scheiße, dann ist's vorbei mit mir. Egal, wohin sie mich umsiedeln lassen. Du würdest dich reinhängen, bis du mich gefunden hättest, und dann wäre ich ein toter Mann. Einmal im Leben bin ich aufrichtig. Keine Lügen diesmal, das schwöre ich.« »Du lügst ja nur dann, wenn sich deine Lippen bewegen«, erwiderte DiPalma. »Laß mich Luft holen, okay? Laß mich ausreden, bevor du anfängst, mir die Rippen zu zerbrechen. Zunächst einmal ist Lin Pao gar nicht hinter Jan her. Es ist einer von seinen Freunden. Einer, der nicht will, daß alle wissen, was für -sagen wir mal — dicke Freunde er und Pao sind.« »Ein Name.« Van Rooten grinste DiPalma an. »Wir sprechen jetzt ganz schön dienstlich, Partner. Dieser Mann hier steht auf der Fahndungsliste ganz oben. Er ist übrigens Amerikaner, kein Chinese. Und Taroko sagt mir, daß er mit Pao schon seit langer, langer Zeit Geschäfte betreibt. Sie hat geglaubt, ich wäre entsetzt. Ich war es, und ich war es nicht — du verstehst schon? Weil ich so ein hervorragender Polizist bin, habe ich Paos Freund gleich selbst überprüft. Der Kerl ist schmutzig. Äußerst schmutzig. Und jetzt kommst du ins Spiel. Da ist schon einer wie du nötig, um den Burschen zu bekriegen. 86 Was du auch sonst bist, mein Junge, du bist der gute Bulle. Offiziell oder inoffiziell, das ist egal. Wir beide wissen ja: einmal Bulle, immer Bulle.« Immer noch lächelnd, hielt sich van Rooten mit beiden Händen an der Klobrille fest und fing an, mit dem Oberkörper zu schaukeln. »Mannomann, das wird toll. Du hinter ihm her! Übrigens, laß den Puertoricaner da unten an der Tür nicht aus den Augen. Ein Quasselarsch. Heißt Chacon. Paos Freund bezahlt ihn, damit er mich im Auge behält. Will sagen, Chacon ist käuflich. Mein Gott, ist das ein häßlicher Typ. Wenn der nicht der lebende Beweis dafür ist, daß Menschen vom Affen abstammen, dann weiß ich nicht, was sonst.« Van Rooten schaukelte schneller. »Frank DiPalma -Graues Haar, grauer Verstand. Aber ein guter Bulle. Superguter Bulle. Mir geht s vielleicht schlecht, Sportsfreund, aber am Boden zerstört bin ich noch lange nicht. Aus dir mache ich einen großen Mann. Dank mir gewinnst du den Pulitzer Preis, oder was weiß ich, was sie dir geben, wenn du deinen Job gut erledigst. Schnapp den Kerl, Mensch! Bring den Scheißer zur Strecke!« »Ich warte auf den Namen.« »Nelson Berlin, mein Vater.« »Herrgott, hörst du denn nie auf? Und ich soll dir glauben, daß Nelson Berlin mit Lin Pao zusammenarbeitet? Du bist lächerlich, weißt du das?« »Und ich dachte, ihr Italiener wäret schlau. Wahrscheinlich schaust du in die Kloschüssel, bevor du runterspülst. Wenn du mir in deinem Testament irgendwas vermachst, dann bitte nicht dein Hirn. Schau mal, wir wissen doch
beide, daß die bösen Buben nicht mit dem Geldmachen Probleme haben — sondern mit dem Verstecken. Mit dem Waschen. Daß die Bullen und der Steuerfahnder nicht rankommen. Lin Pao ist da keine Ausnahme, du Esel. In dieser Gegend hier kann er jede Hilfe brauchen. Und so kommt mein alter Herr ins Spiel.« Van Rooten hörte mit dem Schaukeln auf. »Nelson Berlin und Pao. Ich meine, mein alter Herr sollte sich schämen 87 oder so, aber so ein Dreckskerl wie der schämt sich wohl nie. Vielleicht sagst du jetzt gleich, ich hätte Taroko provoziert und ihr wäre was entschlüpft, was sie lieber für sich behalten hätte. Ist ja auch egal. Mein Vater ist der Kerl, der Jans Telefon abhört, und ich kann dir nur eines sagen, paß auf deinen Arsch auf, denn mein alter Herr ist ein Barrakuda.« Ein Gedanke nahm in DiPalma Gestalt an. Und daraus entwickelte sich eine Frage, die gestellt werden mußte: »Angenommen, du sagst über deinen Vater und Lin Pao die Wahrheit. Dann wäre dein alter Herr hinter Jan her, weil er das Gefühl hat, sie könnte was an mich weitergeben?« »Du bist gar nicht mal so dumm, wie du aussiehst. Du wirst noch Klassenprimus, Amigo. Er weiß, daß du in der Ehe Schwierigkeiten hast, aber ob du mit Jan noch verkehrst, das weiß er nicht. Vorläufig ist es also einfacher, sie zu beobachten, als einen hellwachen Exbullen, der auch noch als Fernsehreporter eine Wucht ist. Leg dich mit 'nem Reporter an, und du hast den dritten oder vierten Weltkrieg am Hals — Scheiße für dich. Und darauf ist mein alter Herr nicht sehr scharf. Nicht, solange er es vermeiden kann. Darum ist Jan die leichtere Zielscheibe.« »Sie hat mir nichts über Lin Pao gesagt. Über dich übrigens auch nicht, in dieser Angelegenheit. Dein alter Herr macht dich ja ganz schön wild, was?« »Das kannst du mir glauben, mein Lieber, aufs Wort. Seit sie mich hier eingebuchtet haben, sehe ich ihn öfter als vielleicht in den ganzen zehn Jahren vorher. Richtige Freudentränen laufen mir die Schenkel runter, wenn er kommt.« Leute, die ihre Väter haßten, sinnierte DiPalma, war ein verkorkstes Leben beschieden. Haifischauge verabscheute seinen Alten mit aller Leidenschaft. Verabscheute ihn so sehr, daß er seinen Nachnamen aufgegeben und statt dessen den Mädchennamen seiner Mutter angenommen hatte. Laut van Rooten war sein Pappi auch nicht allzu scharf auf ihn. Er dachte wohl, der Job eines Polizisten sei nichts für helle Köpfe. 88
Zuzeiten fragte sich DiPalma, ob sowohl Vater als auch Sohn wirklich etwas von ihren Mitmenschen wußten. Beide hatten den Drang, bewundert zu werden. Beide meinten, sie hätten ein Recht auf Egoismus. Und beide zeichnete eine brutale Eitelkeit aus. Nelson Berlin kannte weder Verständnis noch Mitgefühl. Er hatte den Ruf eines penetranten Schweinehundes, der verlustreiche Firmen aufkaufte, um sie wieder in die Gewinnzone zu führen, indem er hunderte von Mitarbeitern feuerte und die Betriebskosten drastisch beschnitt. Seine Cameron Corporation setzte jedes Jahr beim Verkauf von Hotels, Versicherungspolicen, Elektrogeräten und Süßwaren Milliarden um. Berlin besaß auch Aktien von DiPalmas Fernsehgesellschaft und saß im Aufsichtsrat. Einigen Gerüchten nach hatte er vor, auch sie zu schlucken. Allein beim Gedanken daran, machten sich die Mitarbeiter in die Hosen. Berlins Knauserigkeit und seine kleine Statur — er war gerade einssechzig groß — hatten ihm den Spitznamen Giftzwerg eingebracht. »Warum sprichst du gerade mit mir über deinen Vater?« wollte DiPalma wissen. »Das FBI und DEA würden doch beide liebend gerne hören, was du mir soeben gesagt hast. Ich nehme doch an, daß du deinen Arsch aus dem Gefängnis bringen willst.« »Überlasse die Bundesbehörden nur mir. Der gute Greg weiß schon, wie er sich bei der Stange hält. Mein Alter muß jedenfalls entweder richtig, oder gar nicht angefaßt werden. Hat die allerbesten Beziehungen, mein alter Herr. Fängt beim Weißen Haus an. Kennt jeden — ich meine, wirklich jeden. Füttert die Republikaner, die Demokraten, die Schwarzen, die Schwulen, die Emanzen mit großen Scheinen. Deckt alle Lager ab.« Van Rooten rieb sich das unrasierte Kinn. »Die Art von Geld, wie er sie hat, kriegst du nicht, wenn du nicht weißt, wen du kaufen mußt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er dich kauft oder dich in die Flucht schlägt. Du hast das Zeug, ihn zu kriegen. Du bist der beste Cop, den ich je ge89 sehen habe. Ach was, der beste, den ich kenne. Manchmal wünsche ich mir sogar, daß es zwischen uns beiden ein bißchen anders ausgesehen hätte. Jetzt kann ich auch nichts mehr dran ändern. Aber ich kann mir vorstellen, daß mein Alter das kriegt, was er verdient hat.« DiPalma sagte: »Einige Leute meinen, du hättest dich gestellt, weil dir klar war, daß sie dich über die Klinge springen lassen würden. Du hättest schon überall ihre Schritte gehört, Meister, und darum aus einer beschissenen Situation noch das Beste gemacht. Ihr habt in Atlantic City einen Zwischenhalt eingelegt, du und Detective La Von, habt noch einmal mit Lin Paos Geld um euch geschmissen und euch dann gestellt, bevor euch die Bundespolizei geschnappt hat. La Von hat nicht so viel Glück gehabt.« »So siehst du das also? Ich hätte aus einer beschissenen Lage noch das Beste gemacht? Wie nahe war ich denn der Klinge, wenn ich fragen darf?« »Vor zwei Wochen hat auf Long Island das DEA das Haus eines chinesischen Geschäftsmannes, eines gewissen Samuel Tchai, durchsucht. Dabei ist eine von ihren vertraulichen Akten über die Verbindungen zwischen Tchai
und Lin Pao aufgetaucht. Auf dieser Akte waren deine Fingerabdrücke. Sie haben auch Beutel der DEA gefunden, in denen konfisziertes Heroin aufbewahrt wird. Und sie haben auch die Kombination für den Safe der US-Staatsanwaltschaft gefunden, in dem das Rauschgift lagerte. Und überall waren deine Fingerabdrücke. Ich würde sagen, du hattest da ein Pferdchen im Rennen, oder?« Van Rooten grinste. »Und wenn ich dir sagen würde, die Sieben Zwerge hätten das Zeug in Tchais Haus gebracht?« »Ich würde dir nicht einmal glauben, wenn du mir sagtest, du wärest in einem Zimmer mit mir.« »Ich verstehe. Na gut. Paß jetzt auf, weil ich dir nachher vielleicht ein paar Fragen stelle. Erst einmal — wenn ich mich in den Zeugenstand stelle, dann will ich auch über die beschlagnahmten Betäubungsmittel und Pistolen reden, die wieder auf der Straße landen. Und über Bullen, die Num90
mernschilder mit ihrer Dienstfahrzeugliste vergleichen und dann den Gaunern sagen, ob die Autos, von denen sie verfolgt werden, Bullen oder Zivilisten gehören. Egal, ob DEA oder FBI, wenn ich mit meinem kleinen Liedchen anfange, ist keiner mehr glücklich.« »Wenn du im Loch steckst, solltest du mit dem Graben aufhören«, sagte DiPalma. »Was soll das heißen?« »Das heißt, daß dir Lügen über Bullen in deinem Fall auch nicht weiterhelfen.« »Wer hier lügt, das werden wir ja noch sehen, großer Meister. Du wirst dich fragen, wie ich zu dem Geheimdossier, den beschlagnahmten Drogen und der Kombination des Safes gekommen bin, aber das gehört jetzt nicht hierher. Eines ist gewiß: Außer Lin Pao würde mich noch eine ganze Menge anderer Leute lieber aus dieser Welt verschwinden sehen. Na ja, die sollen mich doch am Arsch lecken, sag ich. Lin Pao, die Cops, die Bundesbeamten, mein Alter. Ich will sie alle reinreiten. Und das wird mir ein Vergnügen sein.« Das glaube ich dir aufs Wort, dachte DiPalma. Was, zum Teufel, aber war bis dahin sein nächster Zug? Der erste Teil von Haifischauges Liedchen war ja leicht zu überprüfen: Jans Hotelzimmer und Büro nach Wanzen durchforsten. Und wenn welche zum Vorschein kamen, herausfinden, wer sie dort versteckt hatte. DiPalma verfügte über erstklassige Informationsquellen, aber daß Berlin und der Schwarze General unter einer Decke steckten, hatte er nirgendwo gehört. Was hatte andererseits van Rooten davon, wenn er jetzt noch log? Er mußte ja wissen, daß DiPalma herausfinden würde, ob Jans Telefon angezapft war. Wenn es sauber war, hieß das, van Rooten hatte alles erfunden. Das mußte der Mann einfach wissen. Langsam hielt DiPalma es im Badezimmer nicht mehr aus. Es war bedrückend eng. Und zu laut. Das ständige Laufen der Spülung ging ihm allmählich auf die Nerven. Außerdem trank und rauchte DiPalma nicht mehr. Damit war es aus, nach all dem, was in Hongkong mit seinem Ma91
gen geschehen war. Darum teilte er Haifischauges Vorliebe für Zigaretten ganz und gar nicht. Van Rooten hatte soeben eine neue Schachtel Winston aufgemacht. Großartig. Van Rooten stand auf; die Zigarette hing aus seinem Mundwinkel. »Du siehst ja langsam grün im Gesicht aus, großer Junge. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir uns ins Zimmer nebenan begeben. Bevor wir gehen, will ich dir aber noch ein paar Sachen zum Nachdenken geben. Damit du merkst, daß ich dich nicht für dumm verkaufe.« DiPalma lockerte sich die Krawatte und fragte sich, warum er das Gefühl nicht los wurde, zum Kampfstier von diesem Kerl gemacht und als solcher auf die Welt losgelassen zu werden. Van Rooten fuhr fort: »Noch etwas. Mit dem, was ich dir gerade gesagt habe, kannst du sofort in die Arbeit einsteigen. Du kannst es aber auch bleiben lassen. Aber wenn Jan etwas passiert, sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Und wenn du es wirklich schaffst, meinen Alten hinzuhängen, könnte für dich vielleicht noch eine preisverdächtige Story rausspringen. Wer weiß, du könntest der strahlende Ritter sein, der ihn daran gehindert hat, den Fernsehkanal zu übernehmen. Mach das, und die Arschlöcher mit den weißen Kragen, mit denen du zusammenarbeitest, lieben dich in alle Ewigkeit. Übrigens — wenn mein Vater erfährt, daß du in seinen Angelegenheiten herumschnüffelst, tritt er auf die eine oder die andere Weise mit dir in Kontakt. Wenn das nicht klappt, bringt er Lin Pao ins Spiel, und in diesem Fall dürftest du dich in dem Zimmer unter mir weitaus wohler fühlen. Gegen Gesellschaft hätte ich auch durchaus nichts einzuwenden.« Van Rooten hob den Klodeckel hoch, warf die zur Hälfte gerauchte Zigarette in die Schüssel und ließ den Deckel zu- 1 fallen. Dann zündete er sich sofort wieder eine Zigarette an. »Laß mich ausreden, großer Junge. Heute in zwei Wochen setzen sich einige mächtige Triad-Führer in Hongkong zu ei- | nem Treffen zusammen. Lin Pao arrangiert das Ganze. Dahinter steckt die Absicht, das schöne Amerika untereinan- I 92
der aufzuteilen, ohne daß sie sich gegenseitig umbringen. Hör dich wegen diesem Treffen um. Mal schauen, was du herausfindest. Du könntest vielleicht auch überprüfen, ob mein alter Herr nicht vorhat, sich dort zur selben Zeit herumzutreiben. Ich sag das dir, bevor ich es den Leuten von der Bundesbehörde verrate. Mal sehen, was du damit anfangen kannst.« Van Rooten nahm die Zigarette aus dem Mund und starrte auf das glühende Ende. »Übrigens, wenn du Jans Hotel und Büro durchforstest und die Wanzen findest, überprüf auch David Stamm. Er ist der Sicherheitschef meines alten Herrn.« »Ich kenne ihn«, sagte DiPalma. »Habe mit ihm ein oder zweimal zusammengearbeitet, als er stellvertretender
Direktor des hiesigen FBI war. Trägt er immer noch diese billigen Lumpen?« Van Rooten lachte. »Das Schlimmste. Ich überlasse es dir, was du mit ihm in dieser Angelegenheit machen willst. Immerhin hört er deine Frau ohne gerichtliche Ermächtigung ab. Warte, da wäre noch etwas...« Van Rooten verstummte mitten im Satz und gebot mit erhobenem Finger Schweigen. Er lauschte. DiPalma hörte es auch. Jemand war im Zimmer nebenan. Männerstimmen. Zwei, vielleicht auch drei. Er sah van Rooten an, der ängstlicher wirkte als je zuvor. »Dieser Hurensohn«, flüsterte der abtrünnige Cop. »Es ist mein Vater.« Sekunden später erklärte er: »Mintzer, mein Rechtsanwalt, ist bei ihm. Und dieser Schwanzlecker, Chacon.« Er blickte DiPalma an: »Das heißt, daß mein alter Herr von unserem Treffen weiß. Scheiße.« Van Rooten beugte sich näher zu DiPalma, bis er dessen Ohr mit den Lippen fast berührte. »Manila«, flüsterte er. »Taaltex. China. Er hat es getan. Seine eigene Schwester.« Van Rooten drückte sich an DiPalma vorbei, schob ihn fast an die Wand, öffnete die Tür und rief beim Eintreten in den Salon: »Was, zum Teufel, machst du denn hier?« 93 DiPalma hörte Berlin mit einer für einen so kleinen Mann erstaunlich tiefen Stimme zurückrufen, ja schreien: »Du hast doch mit DiPalma gesprochen! Habe ich dir nicht gesagt, Du sollst dich von dem Dreckskerl fernhalten? Ich will wissen, worüber ihr zwei geredet habt, und zwar sofort, kapiert?« DiPalma trat in den Raum. 94
5 Manhattan, Chinatown Kurz vor 21 Uhr traten der sechzehnjährige Peter Chen und der vierzehnjährige Bing Fong, beides Mitglieder der Jadeadler, in einen Massagesalon in der Elizabeth Street. Sie trugen Arbeitsjacken, Jogginghosen und kugelsichere Westen. Jeder hatte einen schwarzen Leinenrucksack mit jeweils zwei Kilogramm weißem Heroin dabei. Der schlanke Chen mit dem hageren Gesicht und der gedrungene, schieläugige Fong waren Cousins. Sie stammten beide aus dem gleichen Slum in Kaulan, waren zusammen illegal nach Amerika eingereist und standen einander näher als Brüder. Als Jadeadler hatten sie elf Menschen umgebracht. Um die zwei kümmerte sich weder die Empfangsdame des Salons, eine Frau in den Fünfzigern, die tagsüber als Zahnhygienikerin arbeitete, noch der Türsteher, ein fast schon glatzköpfiger chinesischer Bodybuilder, der in Hongkong bei Pornofilmen für Homosexuelle mitspielte. Empfangsdame und Türsteher saßen an einem metallenen Pult, die Augen auf einen Schwarzweißfernsehapparat geheftet, in dem ein chinesisches Varieteprogramm lief. Auf einer engen, knarzenden Treppe ging Peter Chen voran. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, wobei eine Hand stets auf dem Griff seiner Neunmillimeter Browning ruhte, die er im Hosenbund stecken hatte. Wie gut es doch tat, wieder in Chinatown zu sein, unter den eigenen Leuten und nicht mehr bei den Gweilos, diesen fremdländischen Teufeln. Nicht nur der Massagesalon, das ganze heruntergekommene Haus gehörte den Hundertschrittvipern, unter deren Kontrolle die Jadeadler standen. Was nicht heißen sollte, daß die Cousins Chen und Fong sich hier nicht vorzusehen brauchten. 95 Letzte Woche hatten die Mitglieder Sam Liu und Elvis Chan Chinatown mit drei Kilo chinesischem Schnee in Richtung Washington D. C. verlassen, wo die Slicky Boys, eine Bande von Schwarzen, die Jugendszene beherrschten. Wenige Stunden nach ihrem Aufbruch waren Sam und Elvis mitsamt dem Heroin spurlos verschwunden. Die Triad sah sich gezwungen, die drei Kilo zu ersetzen und den Slicky Boys nach dieser Verzögerung ein Pfund gratis als Zeichen der Wiedergutmachung zu liefern. Hinweise auf Sam und Elvis blieben weiterhin aus. Die beiden hatten Washington nie erreicht und waren auch nirgendwo sonst in Amerika oder im Ausland aufgetaucht. Peter Chen verfiel natürlich auf den nahe liegendsten Gedanken. Sam und Elvis hatten die Hundertschrittvipern zu linken versucht — eine Tat von monströser Beschränktheit, denn die Geheimgesellschaft würde erst ruhen, wenn sie sie gefunden hatte. Dumm, dumm, dumm, hatte der junge Bandenchef, Benjy Lok Nein, zu seinem Stellvertreter, Peter Chen, gesagt. Was aber dann geschah, zwang Peter Chen und Benjy, ihre Theorie über Sam und Elvis zu revidieren. Laut Zeitungsberichten hatte vor zwei Tagen ein Boot der Küstenwache den enthaupteten Körper eines nackten Chinesen aus dem Sund von Long Island gefischt. Außer dem Kopf hatte man ihm auch die Hände abgehackt, so daß eine Identifizierung aufgrund der Fingerabdrücke nicht mehr möglich war. Wie die Polizei jedoch verlauten ließ, wies der Unterleib des Toten vernarbte Messerstich wunden auf. Zudem waren auf Arme und Brust Adler tätowiert. Auch wenn die Polizei im dunklen tappte, Peter Chen und die anderen Jadeadler kannten die Identität des Toten. Die Leiche ohne Kopf war die von Joey Liu, der eben erst seinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert hatte und nicht mehr gesehen worden war, seit er nach Long Island gefahren war, um seine Freundin zu besuchen. Alle Chinesen mißtrauten den Behörden gründlich. In Chinatown begangene Verbrechen, so schwer sie auch sein mochten, wurden 96
gelten der Polizei gemeldet. Aus diesem Grunde sollten die Behörden Joey Lius Identität nie von den Jadeadlern erfahren. Als erster spekulierte Benjy Nein über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Mord an Joey Liu und dem Verschwinden von Elvis und Sam. Peter Chen gegenüber äußerte er, daß die zwei vielleicht gar nicht so dämlich gewesen waren. Vielleicht brachte jemand systematisch alle Jadeadler um. Peter Chen fragte Benjy, ob er an eine Konkurrenzbande glaube. Beunruhigt dachte Benjy lange nach, ehe er antwortete, daß er es nicht wisse. Bei ihrer Drogenlieferung nach Toronto waren Peter Cheng und Bing Fong gestern wachsamer als je zuvor gewesen und hatten sich ständig voller Argwohn umgesehen. Jetzt war es ratsamer denn je, auf der Hut zu sein, die Pistole schußbereit zu halten, sich nicht einlullen zu lassen. Geistig wach und rege zu sein, wie Dai Lau, ihr Großer Bruder, immer sagte. Die Lieferung war erst beendet, wenn das weiße Pulver dem Großen Bruder ausgehändigt wurde. Dieser Große Bruder wartete jetzt in seinem Büro zwei Stockwerke über dem Massagesalon auf Chen und Bing Fong. Und Leute, die später als vereinbart kamen, schätzte er ganz und gar nicht. Wie alle Jadeadler fürchtete Peter Cheng den Großen Bruder. Jede Jugendbande hatte ihren Dai Lau, dem sie mit der einer so hohen Instanz gebührenden Ehrfurcht und Bewunderung begegnete. Die meisten unterwiesen sie in den Kriegskünsten und verschufen sich Respekt durch ihre außerordentliche Geschicklichkeit im Kampf, ihre persönliche Ausstrahlung oder auch durch drastische Maßnahmen, deren Brutalität Mitgliedern wie Chen wohlbekannt war. Der Große Bruder der Jadeadler war ein schlanker, muskulöser Taiwanese um die Dreißig. Er hieß Ivan Ho, hatte ein Vollmondgesicht, kurzes schwarzes Haar und kurzsichtige Froschaugen. Der ehemalige Sergeant der Polizei von Hongkong bevorzugte schwarze Kleidung und Drahtgestellbrillen; er war ein exzellenter Kämpfer in drei südlichen 97 Kung Fu-Systemen und zeichnete sich auch durch erstaunliche Grausamkeit aus. Darüber hinaus war er ein krankhafter Lügner, weswegen seine eigentlichen Gefühle nie zu durchschauen waren. Im Auftrag der Hundertschrittvipern rekrutierte Ivan Ho Mitglieder für die Jadeadler, trainierte sie in den Kriegskünsten und fungierte auch als Kopf der Bande. Die Mitglieder empfingen ihre Befehle von ihm und hatten zur Triad keinerlei Kontakt. Jede Mitteilung über Angelegenheiten der Triad, von Anweisungen bis zur Auszahlung, lief von einem Mitglied in China über Ivan Ho. Da nur zwei Männer Bescheid wußten, Männer, die Geheimhaltung gelobt hatten, bestand für die Polizei keine Möglichkeit, Verbindungen zwischen den Jadeadlern und der Geheimgesellschaft nachzuweisen. Mit Straf- und Vergeltungsmaßnahmen zögerte Ivan Ho nie. Peter Chen war noch nicht lange dabei, als er und die anderen dazu aufgefordert wurden, zuzuschauen, wie Ho das fünfzehnjährige Bandenmitglied Eddie Louie, seinen eigenen Neffen, bestrafte. Der kleine Neffe habe mit den falschen Leuten gesprochen, erklärte der Große Bruder. »Schaut euch die Show gut an.« Und das taten sie auch. Sahen zu, wie er Eddie Louie die Zunge aufschlitzte, dann Arbeitshandschuhe anzog und den Jungen erdrosselte. »Faßt das als euer Training auf«, hatte ihnen Ivan Ho gesagt. Ein Training, das moralische und geistige Besserung nach sich ziehen sollte. Ivan Ho suchte nur die zähesten und mutigsten Jungen zwischen zehn und siebzehn für die Bande aus. Er bevorzugte die Einwanderer, weil er sie für ausdauernder hielt als die in Amerika geborenen Chinesen. Seine Schätzchen - so nannte Ho die Rekruten — stammten aus den Slums von Hongkong, Kaulan, Taipeh und Singapur. Am liebsten hatte er die Chinesen aus Vietnam, Bürschchen, denen die Gewalt in diesem vom Krieg zerrütteten Land in die Wiege gelegt worden war und die ohne Furcht und Zögern zu allem bereit waren; die weder Familie noch Sippe noch sonstige Bindungen an Hongkong hatten; die nichts zu verlieren hatten und sehr, sehr gefährlich waren. Ho stattete die Bandenmitglieder mit Autos, Geld und Waffen aus. Wurden sie verhaftet, konnten sie auf Rechtsanwälte und Geld für die Kaution zählen. Verrieten sie Ho oder die Jadeadler, waren sie so gut wie tot. Im Auftrag der Triad erpreßten die Bandenmitglieder Geschäftsleute, bewachten Spielhöllen und verkauften Rauschgift. Sie trieben auch Schutzzahlungen von Geschäften, Restaurants, Diskotheken, Filmtheatern, Massagesalons ein. Den Zinshaien der Triad dienten sie als verlängerter Arm. Sie brachten penetrante Journalisten und Kommunalpolitiker zum Schweigen und bekriegten andere Jugendbanden. Je mehr Einwanderer, desto mehr Bandenmitglieder. Und je mehr Bandenmitglieder, desto mehr Gewalt in Chinatown. Die Browning jetzt in der rechten Hand und hinter dem Oberschenkel versteckt haltend, nahm Peter Chen die letzten zwei Stufen und betrat einen dunklen Flur. Vor ihm wischte ein grauer Chinese den Boden mit einer Mischung aus Desinfektionsmitteln und Wasser auf. Immer wieder tauchte er seinen Mop in einen zerbeulten Eimer, doch konnte er trotz aller Anstrengungen wenig gegen den permanenten Gestank nach Urin, Zigaretten und Alkohol ausrichten. Als er Chen und Fong erblickte, drückte sich der Chinese gegen eine Sperrholzwand und sah weg. Ohne die Schritte zu verlangsamen, besah sich Chen eine junge, hübsche Hure. Sie stand im Flur vor ihrem Zimmer und hörte einem Chinesen mittleren Alters zu, den sie soeben bedient hatte. Chen kannte ihn als den verheirateten Eigentümer der zwei größten Restaurants in Chinatown, als einen Mann, der seinen Kellnern den Lohn verweigerte. Sie bestritten ihr Einkommen einzig aus Trinkgeldern, und selbst die mußten sie mit ihm
teilen. Das Mädchen konnte nicht älter als achtzehn sein. Sie hatte hüftlanges schwarzes Haar, trug ein dunkelrotes Abendkleid mit einem breiten weißen Saum aus Satin und wirkte 99 schüchtern. Sie gefiel Chen außerordentlich. Er kannte die meisten Mädchen, doch dieses war ihm neu. Wahrscheinlich gehörte es zu dem Dutzend taiwanesischer Teenager, die ein Ring mexikanischer Menschenhändler über Texas in die Vereinigten Staaten geschmuggelt hatte. Diese Burschen machten ein Vermögen, indem sie alles und jeden, selbst Terroristen, einschleusten. Das kam die Kunden natürlich nicht billig. Heute nacht, wenn er das Geschäftliche erledigt hatte, wollte Chen mit dem kleinen Mädchen feiern. Die neuen hatte er am liebsten. Sie gaben sich alle Mühe, es recht zu machen, ließen sich leicht beherrschen, und als Jadeadler brauchte er nichts zu bezahlen. Mit den neuen konnte man machen, was man wollte. Am besten besorgte man sich diese Mädchen sehr früh, bevor Rauschgift, Alkohol oder AIDS sie kaputtmachten. Aber zuerst hatten Cheng und Cousin Fong jetzt einen Termin beim Großen Bruder. Am Ende des Flurs hielten sie vor der letzten Tür links. Chen holte tief Luft, dann klopfte er mit dem Kolben seiner Browning dreimal an die Tür. Er wartete, klopfte noch einmal, zählte lautlos bis zehn und klopfte noch zweimal. Ihnen fragte eine Männerstimme auf kantonesisch: »Hattet ihr eine angenehme Hin- und Rückreise?« Die Cousins Cheng und Fong grinsten sich an. Der Große Bruder, der schon auf sie wartete. Und ihnen sagte, daß alles in Ordnung war. Hätte er gefragt: »War die Reise interessant?« wären Cheng und Fong so schnell wie möglich davongelaufen. Das weiße Pulver mußte unter allen Umständen gerettet werden. Wie ihnen der Große Bruder wiederholt gesagt hatte, war ihr Leben im Vergleich zum weißen Pulver keinen Pfifferling wert. Chen öffnete die Tür und trat in ein kleines Zimmer, das Büro des Massagesalons. Es enthielt einen arg mitgenommenen Schreibtisch, Holzklappstühle, einen Ablageschrank aus Metall und eine kleine braune Ledercouch. Durch das einzige verschmierte Fenster konnte man auf einen rußigen Kamin sehen. Aber für Chen und Fong war das Zimmer ein 100
Palast. Es lag in Chinatown, und dort fühlten sich die Cousins sicher. Ivan Ho, der Große Bruder, war allein. Er saß auf der Tischkante, eine Hand ruhte auf einem gigantischen Kassettenrecorder. Er lächelte. Wie immer, war er schwarz gekleidet. Anzug, Hemd, Krawatte, Seidentuch, Eidechseniederschuhe. Ihr Anblick schien ihn zu freuen. »Keine Probleme, Dai Lau«, sagte Peter Chen. »Die Jungs in Toronto waren pünktlich und haben keine Zicken gemacht. Vier Kilo, wie sie's versprochen hatten.« Ivan Ho erhob sich. »Gute Arbeit. Jetzt, glaube ich, haben sich meine Schätzchen ein bißchen Spaß verdient. Stellt die Rucksäcke auf den Schreibtisch. Was Verdächtiges passiert? Ich meine, hat euch jemand verfolgt oder ausrauben wollen?« Chen ging zum Schreibtisch, legte die Browning neben das Telefon und nahm den Rucksack ab. »Nichts, Dai Lau. Wegen der Sache mit Joey und Sam Liu waren wir ganz schön vorsichtig.« Ivan Ho nickte. Chen half Vetter Fong mit dem Rucksack und fügte hinzu: »Wenn uns einer schräg angeschaut hätte, wir hätten ihn sofort umgepustet. Wir waren vorsichtig, wirklich vorsichtig.« Erst jetzt fiel ihm der Boden auf. »Hey, was ist das denn?« Sie standen alle auf einer grünen Ölplane die den Boden von einer Wand zur anderen bedeckte. »Das Zimmer wird renoviert«, erklärte Ivan Ho. »Ihr müßt zugeben, daß das nötig war. Streichen, neue Möbel, sogar ein neuer Kühlschrank. Die Elektriker waren heute vormittag da und haben die Kabel neu verlegt. Die Ölplane ist für die Maler. Die kommen morgen früh. Jetzt laßt es euch erst mal gutgehen, Jungs. Ihr seid in Chinatown. Wieder daheim.« Ivan Ho nahm den Telefonhörer in die Hand, wählte eine einzige Zahl und erklärte der Empfangsdame auf kantonesisch, was er wollte. Chen unterbrach ihn. »Die Neue!« rief er. »Die in Zimmer vier.« Lächelnd sagte Ivan Ho: »Sie sei 101
dein. Mach sie glücklich, das kleine Schätzchen.« Dann sprach er wieder mit der Empfangsdame, schnippte aber gleichzeitig mit den Fingern, damit Cheng und Fong sahen, wie er auf zwei an der Wand gegenüber zusammengerollte Matratzen deutete. Die Jadeadler grinsten einander an. Minuten später ging die Tür auf, und zwei junge Huren traten ein. Eine davon war der hübsche Teenager, nach dem es Chen so gelüstete. Sie trug ein Tablett mit einer Flasche Remy Martin und zwei Gläsern. Das andere Mädchen, ein Teenager mit rundlichem Gesicht, trug rosa Slipper und ein schwarzes, durchsichtiges Neglige. In der Hand balancierte es ein kleines silbernes Tablett. Das Mädchen mit dem runden Gesicht blieb vor Peter Chen stehen, verbeugte sich und reichte ihm das Tablett. Auf ihm lagen mehrere daumengroße Glasröhrchen mit Kokain und Crack, durchsichtige Plastiktütchen mit Heroin und Amphetamin. Zeit zum Feiern. I Ivan Ho drückte einen roten Knopf am Kassettenrecorder, und schon dröhnte daraus ein Rap von LL Cool J, der mal wieder Liebe brauchte. Ivan Ho zwinkerte mit den Augen: »Meine Schätzchen, ihr könnt euch sicher selbst bedienen.« Sekunden später stand er im Flur und winkte Chen und Vetter Fong zu. Dann schloß er die Tür sanft
hinter sich und war verschwunden. Peter Chen lag nackt auf seiner Matratze in der Mitte des Zimmers. Langsam öffnete er die Augen. Mit einem Blick nach links wurde er Zeuge, wie Vetter Fong sich in einen braunen Metallmülleimer übergab. Seine Augen waren ganz glasig, der Kiefer hing ihm schlaff herunter. Sein nackter, auf die Tischkante gestützter Körper schaukelte sanft hin und her. Die Matratze zu seinen Füßen war übersät mit halbgegessenen Pizzas, leeren Big Mac-Schachteln, Schokoladestücken, leeren Tütchen, Kokainröhrchen und Bierdosen. Vetter Fong, der erklärt hatte, er werde nie wieder in das bescheuerte Hongkong zurückgehen, weil das Leben auf dem Goldenen Berg viel zu herrlich sei, war jetzt splitter-fasernackt und kotzte sich die Seele aus dem Leib. 102
Erschöpft schloß Peter Chen die Augen und gähnte. Bis zum Gehtnichtmehr hatte er sie hergenommen, Joan, die Neue, die erst zwei Tage in Amerika war und vor ihm eine Heidenangst hatte, weil er so ein wichtiger Mann bei den Jadeadlern war. Aber sie gehorchte, und das war ja alles, was Peter von ihr verlangte. Nur zweimal hatte er sie schlagen müssen. Jetzt fühlte er sich ausgelaugt. Gut, aber ausgelaugt. Der Fusel, das Rauschgift, das Essen. Und das Bumsen. Ganz zu schweigen von der dreizehnstündigen Fahrt nach Toronto und wieder zurück ohne zu schlafen. Das alles machte sich jetzt endlich bemerkbar. Zeit zu pennen, für ein paar Stunden wegzutreten und dann aufzuwachen und wieder eine Nummer mit Joan hinzulegen. Mühsam machte er die Augen auf. Wo, zum Teufel, steckte Joan überhaupt? Und wo war Mable, Vetter Fongs Kleine? Chens Augenlider wogen bald eine Tonne. Er wollte Joan neben sich haben. Sofort. Er hörte Vetter Fong den Abfalleimer umstoßen, vom Tisch herunterpurzeln und fluchend auf dem Boden landen. Chen war im ganzen Leben noch nicht etwas so lustig vorgekommen. Er mußte furchtbar lachen. Vetter Fong wieherte ebenfalls. Keiner merkte, wie die Tür gerade so weit aufging, daß zwei nackte Gestalten in das Zimmer schlüpfen konnten. Lautlos schloß sich die Tür wieder. Peter Chen schaute schließlich hoch, sah die nackten Beine auf sich zukommen und grinste. Er stützte den Oberkörper mit den Ellbogen auf und rief: »Los hierher, aber dalli!« Während er noch an das Entzücken dachte, das ihm Joan verschafft hatte, und voll Vorfreude darauf, sie noch einmal zu genießen, mit der Handfläche auf die Matratze klopfte und »Joan!« brüllte, packten ihn die nackten Gestalten. Über die Ölplane waren muskelbepackte Männer gehuscht. Jetzt warfen sie sich auf die Vettern und erdrosselten sie mit bloßen Händen. Einer drehte den Kassettenrecorder lauter. Der andere ging zu einem Wandschrank, holte daraus ein Messer und 103
ging damit zu Peter Chen zurück, über den er sich jetzt beugte. Beide hatten jahrelang beim taiwanesischen Geheimdienst und den Acht Rittern des Nordens Erfahrung gesammelt. Folglich wußten beide, daß es sie billiger kam, wenn sie das Blut der Jungen von ihren nackten Körpern wuschen und so keine Kleidungsstücke zu reinigen brauchten. Wenn sie sich nicht umziehen mußten, verloren sie auch weniger Zeit. Und auf alle Fälle fiel damit auch die Gefahr weg, daß sie belastende Fasern oder Knöpfe zurückließen. Traurig, wenn man so jung sterben muß, dachte der mit dem Messer. Sekunden später fing er an, Chens Kopf vom Rumpf zu trennen. 104
6 Todd schlief wegen seiner Alpträume nicht mehr gerne. Trotz seiner Erschöpfung nach dem stundenlangen Geheimtraining in Kendo und Amis, mit dem er sich jeden Tag allein auf den bedeutendsten Auftrag seines Lebens vorbereitete, fand er in der Nacht keine Ruhe. Bis vor kurzem hatte er mit dem Schlafen nie Probleme gehabt. Er war müde zu Bett gegangen und am nächsten Morgen erfrischt aufgewacht. Jetzt quälten ihn jede Nacht Alpträume, Erscheinungen und düstere Prophezeiungen. Der Schlaf war der Hauptschrecken seines Lebens geworden, das Fenster zu einer Hölle, die ihm die unerledigten Aufgaben vergangener Leben verbarg. Das Leben, soviel wußte Todd, war Karma. Die eigenen Taten in diesem Leben bestimmten das Schicksal im nächsten. Seine jetzigen Leiden konnte er nur in der Vergangenheit verschuldet haben. Wie seine Zukunft aussah, das hing von seiner Reaktion auf die Alpträume ab. Letzte Woche hatte er allein in der Wohnung seines Vaters in Brooklin Heights geschlafen. Plötzlich war er schreiend aus einem unvorstellbar schrecklichen Traum aufgewacht. Seine Haut hatte unnatürlich heiß geglüht, in seiner Kehle hatte pochender Schmerz getobt. Aus seinem linken Auge war Blut getropft. Wieder ergriff Gongoro Benkai aus dem 16. Jahrhundert, der Samurai und Leibwächter des Fürsten Saburo, von Todd Besitz. Der fünfzigjährige Benkai, ein untersetzter, muskulöser Mann mit Vollbart, war von dunkler Hautfarbe und so häßlich, daß man ihn hinter seinem Rücken Kreuzspinne nannte. Seine Augen glänzten wie die eines Wolfes, was Anhänger der Schwarzen Magie auf den Verzehr von Menschenfleisch zurückführten. Er focht mit solch fanatischer Geschicklichkeit, daß manche glaubten, er sei der Sohn von 105
Shinigama, dem Gott der Todessehnsucht und einer Füchsin, jenem Wesen, das sich dämonisch jeder Seele bemächtigen konnte. Benkai, der sechzig Männer mit dem langen und dem kurzen Schwert getötet hatte; der auch mit Hilfe Ikiryos getötet hatte, jenes Geistes, der nicht aus dem Totenreich kam, sondern ständig unter den Lebenden weilte. Dunkle, arglistige Gedanken - Blutdurst, Rachlust, Haß - konnten diesen bösen Geist wecken, so daß er sich aus
der Seele der Menschen befreite und blind alles zerstörte. In Japan, wo alle an Dämonen, Geister, Gespenster und Erscheinungen glaubten, mußte es als sicher gelten, daß Benkais unvergleichliche Fechtkunst nur vom unsichtbaren und tödlichen Ikiryo stammen konnte. Benkais Ehre verlangte es, daß er dem Daimyo, seinem Herrn, in uneingeschränkter Treue diente. Diese Art von Treue bestand auch über das Grab hinaus. Ihretwegen quälten böse Geister Todd in seinen Träumen, böse Geister, die vor 400 Jahren durch hinterhältigen Verrat entfesselt worden waren. Schloß Ikuba, Japan. August 1585, zwei Uhr morgens. Nachdem es zu regnen aufgehört hatte, war die Nacht jetzt feucht und dunstig. Benkai und die Frau waren allein in den fürstlichen Gemächern mit geschliffenen Eichenböden, lackierten Rotholzvitrinen, Windglöckchen und bemalten Wandschirmen. Sie saßen einander auf sauberen Strohmatten gegenüber und hielten beide eine Schale grünen Tee in der Hand. Die Frau, Saga, war Fürst Saburos Lieblingskonkubine. Sie war siebzehn fahre alt, klein und elegant, hatte modisch geschwärzte Zähne und rasierte Augenbrauen; ihr schwarzes Haar war mit zarten Kämmchen aus bemalten Austernschalen zu Knoten gesteckt. Benkai hielt sie für unberechenbar und er dachte, daß sie nur an der unmittelbaren Befriedigung ihrer niedrigsten Bedürfnisse interessiert sei. Kaum einmal hielt sie mit ihrer Meinung hinterm Berg, und stets war sie störrisch wie ein Esel. Für ihre schlechten Manieren war sie berüchtigt, anständig benahm 106
sie sich nur in der Gegenwart des Fürsten Saburo und ihres Onkels Nitta Kiichi, des Befehlshabers von Saburos Heer. Der vierzigjährige Kiichi, ein gedrungener Mann mit tiefliegenden Augen und einem äußerst kleinen Mund, war ein eiskalter Emporkömmling. Er besaß das Talent, vor allen zu katzbuckeln, die seine Karriere fördern oder ihm Geld in die Taschen stecken konnten. Wenige waren so hartnäckig auf die Verfolgung ihrer eigenen Interessen aus wie dieser schmierige Armeekommandant mit der sanften Stimme. Solche Männer, das spürte Benkai, ließen sich gegen Höchstgebot kaufen. Benkai und Kiichi waren Feinde. Der Haß war entstanden, als Benkai Kiichi beim Kauf eines Sklavenmädchens überboten hatte. Nachdem Benkai sich geweigert hatte, sie Kiichi zu überlassen, wurde sie von einem unbekannt gebliebenen Mörder erstochen. Benkai hatte den Verdacht, daß der Mord auf Kiichis Auftrag hin geschehen war. Lieber sah der stolze Kiichi eine Frau sterben, als daß er sie an einen anderen verlor. Benkai und der oberste General des Daimyo hatten sich auch im Hinblick auf die Verteidigung des Schlosses gestritten. Während Kiichi den Standpunkt vertrat, die dafür eingesetzten Kräfte reichten aus, hatte Benkai den Fürsten bedrängt, sie sofort zu verstärken. Seit Jahrhunderten litt fapan unter den Kriegswirren, weil jeder Fürst um die militärische Vorherrschaft kämpfte. Noch immer tobten Gefechte im ganzen Land. Sicherheit gab es weder für die Menschen noch für ihr Eigentum. Fürst Saburo verwarf Benkais Rat und hörte statt dessen auf Kiichi. Das hielt diesen nicht davon ab, Benkai zu beschuldigen, er habe ihn vor dem Daimyo kompromittiert — ohne allerdings von einer Ehrkränkung zu reden. Damit hätte er die Kreuzspinne zu einem Duell gefordert, und zu einem Wiedersehen mit seinen Vorfahren war Kiichi noch nicht bereit. Vergeben und Vergessen würde er trotzdem nicht. Früher oder später sollte der Augenblick der Rache kommen. Bis es so weit war, nahm Kiichi eine recht sichere Stellung im Schloß Ikuba ein. Er überwachte Fürst Saburos Agentennetz, trieb dringend benötigte Steuergelder ein und stand an der Spitze einer disziplinierten Armee. Und war mit Saburos Schwester 107
verheiratet. Auf den Daimyo übte er größeren Einfluß aus als Benkai. Daß er den Leibwächter zugleich haßte und fürchtete, änderte sich dadurch aber nicht. Benkai hatte das sichere Gefühl, daß Fürst Saburo mit Kiichis Rat über die Verteidigungsanlagen des Schlosses nicht gedient war. Der vierzigjährige Glatzkopf Daimyo, ein verfetteter Schwächling und Lüstling, hätte sich dringend um die Verstärkung seiner Mauern kümmern sollen. Er war so unklug gewesen und hatte sich Toyotomi Hideyoshi, den gefährlichsten Mann von ganz Japan, zum Feind gemacht. Trotz Kaiser und Königshof in Kyoto regierte dieser Hideyoshi das Land als Shogun, als Militärdiktator. Der kleingewachsene, aber höchst intelligente Hideyoshi war der geborene Führer. Er hatte den Ehrgeiz, China, Korea und Japan zu einem Reich zusammenzufassen. Japan sollte seine erste Eroberung werden. Unter Einsatz seiner Armee, eines gewaltigen Spionagenetzes und seines beachtlichen Charmes versuchte er, sämtliche Daimyos unter seine Kontrolle zu bringen. Saburo war nicht der einzige Kriegsfürst, der Hideyoshi die Anerkennung als Alleinherrscher verweigerte; doch war er sogar noch weiter gegangen und plante jetzt die Beseitigung des gekrönten Affen, wie man Hideyoshi nannte. Das war ein gewagtes Unternehmen, ein Schuß, der, wie Benkai wußte, leicht nach hinten losgehen konnte. Die Satzung des Bushido schrieb dem Leibwächter jedoch uneingeschränkten Gehorsam vor. Ob es richtig war oder falsch — er war verpflichtet, für seinen Fürsten zu leben und zu sterben. Jetzt saß er in Sagas Gemächern. Benkai war gekommen, weil die Konkubine etwas von einem Mordkomplott gegen Fürst Saburo wußte. Einen Plan, den im Schloß Ikuba lebende Verräter geschmiedet hatten. »Warum gibst du diese Nachricht nicht an deinen Onkel weiter?« wollte Benkai wissen. »Weil der jüngste Sohn meines Onkels in die Verschwörung verstrickt ist«, erklärte Saga. »Der Onkel würde zwar seine Pflicht tun und den
Jungen bestrafen, aber ich möchte ihm die Schande ersparen, dem Daimyo diese Nachricht überbringen zu müssen. Mein Onkel soll nicht erfahren, daß diese Information von mir stammt. Ich flehe dich an, warne den Daimyo.« 108
»Wie bist du zu einer so gefährlichen Information gekommen?« fragte Benkai. »Ich habe sie von meinem Sklaven Ichiro.« Der blinde Musiker habe in dem Stall, in dem er schlief, eine Unterhaltung mitgehört. Gewisse Männer hätten dort vor dem Regen Zuflucht gesucht und hätten nicht auf ihre Worte geachtet. Wie Benkai wußte, durfte ein Sklave sich dem Daimyo nicht nähern. Was Ichiro gehört hatte, konnte er nur an seine Herrin weitergeben. Sie hätte klüger gehandelt, wenn sie damit zu ihrem Onkel gegangen wäre, dachte Benkai. Klüger und viel einfacher wäre das gewesen. Sie denkt doch nur an sich selbst. Warum sollte sie es bedauern, wenn Kiichis Sohn ein Verräter wäre? Unter den aufmerksamen Blicken der Konkubine führte Benkai die Trinkschale an den Mund, roch an dem Tee und runzelte die Stirn. Dann sah er nach links auf einen blauen, mit goldenen Kranichen und Fichten bemalten Wandschirm. Ein Schwärm von Moskitos summte davor. Sie spürten einen Menschen, der sich dahinter versteckt hielt. Benkai starrte in seine Schale. Der Tee sah an der Oberfläche trüb aus. Gifl... Eine Falle! Er schleuderte die Schale zur Seite und sprang auf. Das lange Schwert hielt er mit beiden Händen über den Kopf. Mit einem Schritt war er beim Schirm, und mit einem mächtigen Hieb ließ er das Schwert durch das Reispapier niedersausen. Damit spaltete er auch den Kopf eines dahinter kauernden Ninja, eines mageren, schwarzgekleideten Mannes. »Zu spät, Kreuzspinne!« kreischte Saga. »Du wirst deinen Herrn nicht mehr rechtzeitig erreichen. Er gehört jetzt den Ninja! Den Ninja!« Ninja. Mörder und Verschwörer, die für Kriegskünste, Spionage, Erpressung und Mord ausgebildet waren. Schwarzgekleidete Männer und Frauen, die ihre Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer zu vorzüglichen Athleten und fehlerlosen Mordmaschinen machten. Ihre Überlegenheit hatte viele zu dem Glauben verleitet, sie seien übernatürlich; ihr Gewerbe war die Heimlichkeit oder die Kunst der Unsichtbarkeit. Ninja hieß, >dersich hineinstiehlU. 109
Während der Tote auf den zerfetzten Schirm fiel, fuhr Benkai herum und schlitzte einem zweiten Angreifer, der einen langen Stock aus Hartholz schwang, den Bauch auf. Drei weitere Ninja kamen durch das Fenster geklettert, sprangen auf die Bodenmatten und stürmten brüllend auf Benkai zu. Den Leibwächter packte eine unbändige Wut. Das kurze Schwert in der einen Hand, das lange in der anderen, warf er sich ihnen entgegen. Einem Angreifer trennte er den Unterarm vom Ellbogen ab, gleichzeitig versenkte er die Klinge des Kurzschwertes in der ungeschützten Achselhöhle des zweiten. Als der dritte Benkai eine Kette um die Knöchel warf und versuchte, ihm die Füße wegzureißen, stolperte der Leibwächter zwar, doch im Fallen stieß er dem Angreifer die Spitze des Kurzschwertes in die Kehle. Erneut wirbelte er herum, da bohrte sich ein Pfeil in sein linkes Auge. Der Schmerz war qualvoll. Unerträglich. Er taumelte nach hinten, dann fing er sich. Noch immer griffen sie ihn an. Und er war halb blind. Benkai zehrte von einer dämonischen inneren Kraft. Er zwang sich, auf den Füßen zu bleiben, die schrecklichen Schmerzen in seinem Schädel zu ignorieren. Der Tod war der Weg des Kriegers. Das Leben des Samurai gehörte nicht ihm selbst, es gehörte seinem Herrn, und dieses Leben seinem Herrn zu opfern, war der Ruhm eines jeden Samurai. Im Licht der Papierlaternen und der flackernden Fackeln zählte Benkai die übriggebliebenen Angreifer. Vier Ninja. Und Saga. Er sah die aufgestemmten Bodendielen, unter denen die Konkubine die Mörder verborgen hatte. Er sah ihre Waffen — Blasrohre mit Giftpfeilen, Schwerter, eine Kette mit einem Stahlgriff, Hartholzknüppel. Und einen Hartkyu, ein Bogen, mit dem sie ihm den Pfeil ins Auge geschossen hatten. Keines der tödlichen Werkzeuge aber war der Muramasaklinge ebenbürtig, der Waffe, die nach Menschenleben dürstete. Der Waffe, die ihre Eigentümer zum Töten zwang. Saga deutete mit ihrem Fächer auf Benkai. »Er blutet. Er ist kein Dämon. Bringt die Kreuzspinne um, und ich sorge dafür, daß ihr doppelt soviel bekommt wie versprochen. Er darf nicht bis zu Saburo gelangen!« Benkai hörte Schreie aus dem Hof und den Quartieren der Wachen, von den Befestigungswällen und vom unteren Stockwerk. Die gefürchteten Ninja mit ihren geheimnisvollen Methoden hatten sich in das Schloß geschlichen. Das konnten sie aber nur mit Hilfe von innen geschafft haben. Verflucht sei, wer Schloß Ikuba verraten hatte'. Eine solche Verschwörung lag jenseits von Sagas Möglichkeiten — nur ein ungleich Gerissenerer konnte diesen Verrat ausgeheckt haben. Und dieser eine konnte nur ihr Onkel sein. Selbst jetzt, als er sein eigenes Blut schmeckte, schwor sich Benkai, daß Kiichis Verrat nicht unbestraft bleiben würde. In diesem Leben oder in einem zukünftigen mußte Kiichi dafür bezahlen, was er in dieser Nacht angerichtet hatte. Benkai zwang sich, den Pfeil in seinem Auge zu ignorieren. Er hatte keine Zeit, ihn herauszureißen oder sich um die schlimmsten Wunden zu kümmern. Seine Ehre verlangte, daß er sofort seinen Herrn erreichte oder für immer
von allen Göttern und Vorfahren verstoßen wurde. Benkai schleuderte das Kurzschwert von sich und stürzte sich brüllend auf die vier Ninja. Ohne sich umzudrehen, stieß er das lange Schwert nach hinten, einem Angreifer, der ihn von rückwärts anfallen wollte, in den Bauch. Sofort zog er es wieder heraus und schlug mit einem langen Hieb nach links zwei Gegnern die Köpfe ab. Ein Schwung nach rechts drosch dem letzten seiner Feinde den Holzprügel aus den Händen, dann schlug er mit dem langen Schwert so mächtig zu, daß er den Gegner mit einem Hieb von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte spaltete. In nur drei Sekunden hatte er die letzten vier Ninja getötet. Jetzt drückte er die Schwertspitze gegen die Kehle der entsetzt schluchzenden Saga. »Kiichi?« fragte er. Sie nickte mehrmals. Benkai enthauptete sie mit einem einzigen Streich. Der Morgen dämmerte, als Benkai, den Pfeil noch immer im Auge, gesenkten Blicks in Fürst Saburos Gemach auf dem Eichenholzboden kniete, um Seppuku zu begehen, um sich im rituellen Selbstmord den Bauch aufzuschneiden. Nur so entging der geschlagene Krieger der Schande. Vier Wachtposten sahen zu, wie er das lange und das kurze Schwert aus der Scheide zog und beide Waffen rechts von sich auf den Boden legte. Benkai öffnete den Kimono und entblößte Brust und Bauch. Wenige Meter von ihm entfernt erbebte die schwere Eichenholztür unter den Stößen eines Sturmbocks, mit dem fluchende und schreiende Ninja sie berannten. Unter der Führung Kiichis hatten die Ninja Saburos Offiziere niedergemetzelt und so die Garnison ihrer Führer beraubt. In den Kleidern von Saburos Soldaten liefen außerdem mehrere Ninja frei im Schloß herum und töteten nach Belieben. Die Folge war Panik. Einige von Saburos Soldaten waren jetzt so verschreckt, daß sie den eigenen Leuten nicht mehr trauen wollten, sich in ihren Baracken verbarrikadierten und den Kampf verweigerten. Ob Saburos Armee noch intakt war oder nicht, die Schlacht um Schloß Ikuba war verloren. Die Festung war jetzt in den Händen des verräterischen Kiichi und der Koga Ninja, einem Clan mit genug Macht, um eine ganze Provinz zu beherrschen. Von außen war das Schloß von Tausenden von Hideyoshis Reitern und Fußsoldaten vollständig umzingelt. Seine Verteidiger waren verloren. Seppuku war Benkais einzige Chance, sich der Gefangenschaft zu entziehen und seine Ehre zu bewahren. Nur durch Selbstmord entging er der Schande, in die Gefangenschaft eines verhaßten Feindes zu geraten. Vor Minuten nur hatte Benkai Fürst Saburo unter der vergoldeten Decke, auf der mit Meeresküsten und Wasserfällen bemalte Holzvertäfelungen prangten, beim Seppuku geholfen. Sich den eigenen Bauch aufzuschneiden, verlangte Mut und Gefaßtheit, wie sie nur der wahre Krieger besaß. Ein solcher Mann war Saburo nicht. Er war schwach, und Benkai wußte das. Daß den Daimyo der Mut im letzten Moment im Stich lassen würde, war ihm klar gewesen, darum hatte Benkai seinem Herrn vor dem Tod noch einen letzten Dienst erwiesen. Als Saburo schluchzend und vor Angst zitternd nach dem langen Zeremonienmesser griff, hatte ihn Benkai rasch enthauptet und den Daimyo davor bewahrt, vor den eigenen Wächtern 112
durch Feigheit das Gesicht zu verlieren. Als Kaishaku, der Sekundant und Henker beim rituellen Selbstmord, konnte Benkai die Qualen seines Herrn beenden, wann immer er es für angebracht hielt. Jetzt, als die Eichenholztür unter den Stößen des Sturmbocks bebte, bereitete sich Benkai darauf vor, die Augen vor dieser Welt zu schließen. Giri, seine Pflicht, verlangte die Tötung Kiichis. Sie noch in diesem Leben zu vollbringen, war jedoch nicht mehr möglich. Aber jede Existenz dauerte ewig. Sowohl er als auch Kiichi hatten noch viele Leben vor sich, und Benkai wollte sich nun in der Hoffnung töten, daß die Götter ihm Kiichi noch einmal gegenüberstellen würden, wenn sie die Reinheit seiner, Benkais Seele sahen. Sollten auch tausend Leben nötig sein — Benkai war entschlossen, Blut mit Blut, Böses mit Bösem zu vergelten. Hinter sich hörte Benkai seinen Namen rufen. Er blickte über die Schulter und sah Asano, den Kommandanten der Schloßwache, zwei Schritte nach vorne treten und sich vor ihm verbeugen. Der schweigsame, stämmige Asano war Benkais engster Freund. Tränenüberströmt bot sich ihm der Soldat als Sekundant an, um seine Qualen zu beenden. Der Leibwächter nickte einmal. Er wurde immer schwächer. Der Schmerz in seinem Kopf war unerträglich. Er schwankte, der Ohnmacht nahe. Im nächsten Augenblick barst die Täfelung der Tür. Doch noch hielten die Angeln und Riegel. Benkai hörte wie Kiichi den Ninja zubrüllte, sie sollten ihn und Saburo ergreifen. Kiichi kreischte, der Augenblick seiner Rache an Benkai für den Tod Sagas sei gekommen. Die Tür sprang aus den Angeln, und ohne auf die Wandschirme aus Zedernholz, die Schnitzereien aus Elfenbein und die handgeschnitzten Rotholzmöbel zu achten, stürmten maskierte Ninja aus der rauchverhangenen Vorhalle in die Gemächer des Daimyo. Kiichi rannte voran. Als er Benkai knien sah, schrie er: »Für dich gibt es keinen Ehrentod! Blut für Blut! Dein Leben für das von Saga!« Benkai griff nach der Muramasa. Wenn er nicht die Klinge hob, wurde Kiichi zum Vollstrecker seines Todes. Ein erbärmli113
eher unehrenhafter Tod. Plötzlich sah er Asano, das Schwert hoch über dem Kopf, brüllend an ihm vorbeispringen und Kiichi angreifen, der doch der weitaus bessere Fechter war. Asano opferte sein Leben, damit
Benkai dem seinen ein ehrenhaftes Ende setzen konnte. Die Ninja sahen schweigend zu, wie Kiichi und Asano alle Fechtkunst aufboten, wie beide aufschrien, damit ihr Mut und unbeugsamer Geist sie nicht verließen. Schließlich beendete Kiichi den Kampf auf dramatische Weise, indem er auf Asano zustürmte, einen Angriff auf den Kopf vortäuschte, sich aber tief bückte und die Klinge durch Asanös Leib stieß. Als sich Kiichi Benkai zuwenden wollte, trat einer der Ninja nach vorne, legte ihm eine Hand auf die Schulter und befahl Kiichi, Benkai nicht anzugreifen. Ein Freund hatte soeben sein Leben gegeben, damit Benkai den Ehrentod sterben konnte — das Opfer dieses Freundes durfte nicht vergebens sein. Kiichi riß sich trotzdem los und stürzte auf Benkai zu, doch drei bewaffnete Ninja stellten sich ihm in den Weg. Drohend erhob einer seine Handsichel und drängte Kiichi zur Seite. Benkai kümmerte sich nicht um die Ninja, er packte den Pfeil mit beiden Händen und brach den Schaft ab. Die Spitze blieb in seinem Auge stecken, das blutverschmierte Holzstück warf er beiseite. Nun bückte er sich nach Saburos langem Zeremonienmesser, sein Gesicht war schmerzverzerrt, doch gab er keinen Laut von sich. Außer Kiichi sahen ihm alle voll tiefer Bewunderung für seinen Mut zu. »Ich werde euch zeigen, wie ein wahrer Krieger stirbt«, sagte Benkai. »Und zwar aus eigenem Willen und zum Zeitpunkt meiner Wahl. Mit meinem letzten Atemzug gelobe ich, daß ich zurückkehren und den Verräter meines Herrn bestrafen werde.« Er starrte Kiichi in die Augen, der sich zusammenriß und versuchte, dem Blick des Leibwächters standzuhalten. Schließlich mußte er dem starrenden Auge doch ausweichen. Dann nahm Benkai ohne Zögern Saburos langes Messer und versenkte die Klinge mit beiden Händen tief links in seiner Lende. Er zitterte, blieb aber ruhig, als er das Messer langsam über den Bauch nach rechts zog, und mit einem Mutbeweis, wie ihn weder die Ninja noch Kiichi je erlebt hatten, drehte der Leib114
Wächter die Klinge ein wenig nach oben. Jumjoni hieß dieser Schnitt, den nur die tapfersten aller Samurai wagten. Er wartete kurz, sammelte noch einmal seine ganze Kraft, dann riß er das Messer mit einem Ruck wieder heraus und fiel vornüber auf die Bodenmatte. Während die Ninja ihren Augen nicht trauen wollten, verdunkelte sich der Himmel. Blitze zuckten wild über den fast pechschwarzen Horizont, ein kalter Regen- und Hagelsturm peitschte plötzlich auf das Schloß hernieder, dem ein verheerendes Erdbeben folgte. Es tötete Menschen und Tiere und zerstörte Hunderte von Gebäuden. Nach diesem Beben wüteten Feuersbrünste und Seuchen. Innerhalb von 48 Stunden war ein Drittel von Hideyoshis großer Armee tot. Der Ikiryo, dieser übelste aller Geister, hieß es, habe Rache geübt für den Tod Benkais. Viele weitere Heimsuchungen sollten in den folgenden fahren auf den schrecklichen Verrat zurückgeführt werden. Später schlief Kiichi nur noch in einem erleuchteten Raum in seinem Bett, um das ein Ring von bewaffneten Leibwächtern stehen mußte. Die Gänge seines Schlosses hatten sogenannte Nachtigalldielen; da sie künstlich dafür hergerichtet waren, >sangen< oder knarzten sie, wenn jemand auf sie trat. So kündigten sie das Nahen von Mördern an. An den Decken hingen mit Gewichten beschwerte Netze, die plötzlich auf Kiichis Feinde herabfallen sollten. Falltüren öffneten sich über Abgründen, auf deren Boden Bambuspfähle ihre vergifteten Spitzen nach oben streckten, gewundene Gänge führten in Sackgassen, verborgene Federn lösten Giftpfeile aus. All das zu dem Zweck, ihn vor der Rückkehr Benkais, der Kreuzspinne, zu schützen. Zwei fahre nach seinem Verrat auf Schloß Ikuba starb auch Kiichi von eigener Hand. Allerdings wählte er nicht Seppuku, den Tod des Kriegers. Er schluckte Gift. Wie er einer Konkubine gestand, konnte er nur so Benkai und dem Ikiryo entkommen, die ihn beide bis in die Träume verfolgten und nicht zur Ruhe kommen ließen. "5 Die unerfüllten Pflichten vergangener Leben. In seinem Zimmer schnürte sich Todd im Sitzen vor dem Schreibtisch die Schuhe. Die Digitaluhr vor ihm zeigte 23.09 Uhr an. Er mußte sich beeilen, wollte er noch vor Mitternacht in Chinatown sein. Gut, daß ihm niemand verbot, zu dieser späten Stunde noch auszugehen. Sein Vater war mit einem Freund zum Essen gegangen, und seine Stiefmutter Jan war vor kurzem in ein Hotel gezogen. Todd stand auf, ging zum Kleiderschrank und hockte sich davor. Ein Griff in einen braunen Lederstiefel, und er bekam einen Gürtel zu fassen, den er sich vors Gesicht hielt. Als er die Schnalle berührte, begann er zu zittern, als ob ihn friere. Die Schnalle war aus dem Metall von Benkais Muramasaklinge gefertigt. Todd führte den Gürtel durch die Laschen seiner Blue Jeans und machte ihn zu. Mit geschlossenen Augen stand er schwankend auf den Füßen und zitterte immer noch. Schwitzend und keuchend ließ er sich schließlich neben dem Bett auf die Knie fallen, klammerte sich an ein Kissen und fiel vornüber. Sein Körper wurde steif, dann krümmte sich sein Rücken, und er brach endgültig zusammen. Still lag er da, bis sich sein Atem wieder normalisierte, dann rappelte er sich auf. Er ging zum Fenster und starrte auf den dunklen East River und die Lichter der Brooklyn Bridge. Regungslos stand er da. Sein Gesicht war teilnahmslos, seine Augen unbewegt. Dann verließ er die Wohnung, um die Reise anzutreten die ihn vor Kiichis Angesicht führen würde. 116
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DiPalma war nach Chinatown gekommen, um eine Schuld zu begleichen. In einem Restaurant in der Mott Street speiste er mit Martin Mackie, Chief Inspector der Hongkong Police Force und außer ihm der einzige Nichtchinese an diesem späten Samstagabend. Mackie hatte diesen Ort ausgesucht. Je mehr Chinesen ein solches Restaurant besuchten, erklärte er DiPalma, desto besser das Essen. Immerhin hatte es vor dem Restaurant keine Warteschlangen auf dem Bürgersteig gegeben; und keinen Plastikkitsch in den Fenstern, der das Essen drinnen anpreisen sollte. Gutes Zeichen, erklärte Mackie, der direkt vom Kennedy Airport hierher gekommen war. In fließendem Kantonesisch hatte er den Geschäftsführer um einen Tisch am Fenster und den besten Kellner der Schicht gebeten. Eine kurze Begutachtung der Speisekarte, dann hatte er Rindfleisch mit Spargel in brauner Soyasauce für sich bestellt, für DiPalma Glasnudeln in Rinderbrühe sowie eine Kanne grünen Tee. Mackie gab einem selten die Gelegenheit zu Protest oder Ablehnung. Wie allen guten, chinesischen Restaurants, die DiPalma kannte, fehlte es auch diesem hier an Eleganz und Atmosphäre. Es war ein kleiner, dunkler Raum mit schwarzen Kunststofftischen, Schirmen an der Decke und Sägemehl auf dem Boden. Zu den Stammgästen zählten chinesische Großmütter in langen Seidenhemden genauso wie Jugendliche in Turnschuhen und Blue Jeans mit Bürstenhaarschnitt und tätowierten Unterarmen. »Die gleichen Leute trifft man auch in meinem Jagdrevier«, erzählte Mackie. »Die reden und fluchen alle auf Kantonesisch, Shanghaisch, Mandarinisch und Thai durcheinander, und die Oma nimmt die allerschlimmsten Ausdrücke in den Mund.« Martin Mackie war Ende sechzig, ein schlanker, eierköpfiger Engländer, dessen struppiger blonder Schnurrbart einen narbigen Mund verbarg, die Folge einer Schießerei in Kaulan. In Hongkong arbeitete er bei der ICAC, der Independent Commission Against Corruption, die Fälle von Korruption innerhalb der Polizei untersuchte. Er war ein intelligenter, hartnäckiger Mann, der sich, weil er halbe Sachen haßte, mit voller Kraft der jeweiligen Aufgabe widmete und nie zurückwich, bis er sie gelöst hatte. Rechtzeitig hatte er noch gemerkt, daß die Arbeit bei der Polizei jeden stur und engstirnig machte, wenn man es nicht schon von vornherein war. »Was für ein bitteres und heikles Kerlchen doch aus mir geworden war«, hatte er zu DiPalma einmal gesagt. »Kam aus meiner entsetzlich selbstgerechten Dämlichkeit nie heraus.« DiPalma war ihm vor dreizehn Jahren in Hongkong begegnet. Er war damals von den Wunden, die er von der Schießerei mit Nickie Mang davongetragen hatte, noch nicht ganz genesen gewesen. Wie es bei Cops oft der Fall ist, hatte der gemeinsame Beruf spontan zur Freundschaft geführt. Und als sich herumsprach, daß Freunde von Nickie Mang einen zweiten Versuch unternehmen wollten, DiPalma zu erledigen, hatte Mackie diese Leute aufgesucht und sie mit unzweideutigen Worten davor gewarnt, den Plan auszuführen. Es war damals auch die Rede davon gewesen, daß Mackie selbst umgebracht werden könnte, weil er es gewagt hatte, einem Triad-Mitglied wegen eines Ausländers, noch dazu eines Polizisten, zu drohen. Schließlich mußte der Mann vor der Triad sein Gesicht wahren, und das hieß, daß dieser Ausländer erledigt werden mußte, der einige Triad-Männer umgebracht hatte. Ein Kontaktmann der DEA in Hongkong erzählte DiPalma später, wie ihm ein Kompromiß das Leben gerettet hatte. Der Kompromiß sah so aus: DiPalma durfte am Leben bleiben. Aber die Gegenleistung für sein Leben sollte ein kleiner Dienst sein, den Martin Mackie dem Triad-Mitglied zu einem späteren Zeitpunkt erweisen mußte. Wollte DiPal118
ma über den Preis für sein Leben Bescheid wissen, so hätte er sich deswegen nicht an Mackie wenden müssen. Der Engländer seinerseits hatte von sich aus nichts preisgegeben. So war es auch besser, sagte sich DiPalma. Die Polizei von Hongkong litt unter systematischer und organisierter Korruption, die der Triad eine jahrelange Blütezeit beschert hatte. DiPalma kam zu dem Schluß, daß an dem Engländer etwas war, das er besser nicht herausfand. Deswegen hatte er auch darauf verzichtet, Mackie dreizehn Jahre später auszufragen, als dieser ihm telefonisch mitgeteilt hatte, daß er nach New York kommen wolle, weil er DiPalmas Hilfe brauche. Im Restaurant in der Mott Street fragte DiPalma Mackie: »Es geht um Leben und Tod, sagten Sie?« »Das meine. Leider. Man hat mich aufgefordert, meine Untersuchungen über einen Brand in einer bestimmten Fabrik in Manila abzubrechen, oder mich auf mein endgültiges Verschwinden von dieser Erde einzustellen. Das Feuer hat die Elektronikfabrik Taaltex vor etwa zwei Wochen zerstört. 45 Frauen sind dabei verbrannt. Eine davon war mein Patenkind Angela Ramos.« »Über das Feuer weiß ich Bescheid. Aber ich wußte nicht, daß Angela Ramos Ihr Patenkind war.« »Sie haben anscheinend von ihr gehört?« »Meine Frau, Jan, hat sie sehr bewundert. Sie dachte, Angela Ramos sei die richtige Frau, den Kampf mit den Fabrikbossen aufzunehmen, den alle für absolut hoffnungslos hielten. Die Medien hier hatten angefangen, sich für sie zu interessieren, kurz bevor sie starb. Sie meinen, das Feuer war kein Unfall?« Martin Mackie erklärte, es handele sich um Brandstiftung als Ablenkungsmanöver. 45 junge Frauen wären bei lebendigem Leib verbrannt, um den Mord an Angela Ramos und einer Computer-Operatorin namens Elizabeth Kuan zu vertuschen. »Wer hat Angelas Ermordung befohlen?« wollte DiPalma wissen. 119
»Lin Pao«, sagte Martin Mackie. »Ein Name, der uns allen vertraut ist. Elizabeth Kuan wollte Angela Ramos
eine Diskette geben mit Details über Paos Vereinbarungen mit Taaltex, die besagten, daß der amerikanische Konzern als Geldwaschanlage für ihn fungierte. Aus diesem Grund sind die zwei Mädchen ermordet worden.« DiPalma streichelte mit dem Daumen den Silberknauf seines Stocks. »Ist das nicht eine kleine Welt?« rief er. Dann erzählte er Mackie von seinem kürzlichen Treffen mit Gregory van Rooten. Van Rooten, erklärte er, habe nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sein Vater, Nelson Berlin, einige schmutzige Geschäfte in Manila vorhabe. Der gleiche Nelson Berlin, dem Taaltex Electronics gehörte. DiPalma sah durch das Fenster über Mott Street auf eine lärmende Videospielhalle, vor der es von Jugendlichen wimmelte. »Nelson Berlin und der Schwarze General«, brummte er. Mackie nickte. »Thema von mehr als ein paar Gerüchten, die durch den Fernen Osten kursieren. Der amerikanische Wirtschaftskapitän und der Führer der Triad. Keine offiziellen Verbindungen zwischen den beiden, was aber nicht heißt, daß sie nicht unter einer Decke stecken.« »Lin Pao hat gedroht, Sie kaltzumachen?« »Das hat er. Der Dreckskerl ist in der letzten Zeit ganz schön ekelhaft geworden. Alles scheint ihm jetzt plötzlich anzubrennen. Übles Joss nennen wir so etwas. Er hat ganze Schiffsladungen Waffen und Drogen verloren; dazu ein paar Leute bei Kämpfen mit feindlichen Banden. Eines seiner Spielkasinos in Sydney ist aufgeflogen, und das hat ihn einen schönen Batzen gekostet. Wie ich gehört habe, hätte ihn eine Schneeleopardin aus seinem Privatzoo fast umgebracht. Sieht so aus, als ob aus allen seinen Küken über Nacht Kampfhähne geworden wären. Der Stabilste war er ja nie. Ihm wäre es lieber, wenn ich meine Finger von dieser Sache mit Angela und dem Feuer ließe. Den Gefallen kann und werde ich ihm aber nicht tun.« Martin Mackie langte zur Teetasse. »Nun ja, ich bin hier, um Ihnen etwas aufzu120
drängen — wenn ich darf. Ich wollte sie fragen, ob Sie mir dabei helfen könnten, den Brand ein bißchen unter die Lupe zu nehmen? Dann würde ich vielleicht ein bißchen länger leben.« »Sie meinen, Lin Pao würde es nicht wagen, einen Journalisten umzubringen?« fragte DiPalma. »Genau so sehe ich das, auch wenn man nie sagen kann, worauf sein tückisches kleines Hirn als nächstes verfällt.« »Wenn wir schon bei tückischen kleinen Hirnen sind... Sie sind doch sicher keine 10 000 Meilen geflogen, nur um mich um Hilfe zu bitten, oder?« »Das heißt?« »Das heißt, ich brauche auch den Rest der Geschichte.« Mackie seufzte, zog aus der Innentasche seines Sakkos einen Umschlag und überreichte ihn DiPalma. DiPalma spähte hinein, berührte aber den Inhalt nicht. »Diese Uhr ist eine Patek Philippe«, erklärte Mackie. »Sie wurde an der Brandstelle gefunden. In der Baracke, in der Angela und die anderen umgekommen sind. Funktioniert noch. Man hat mir gesagt, sie sei in einem Werkzeugkasten vor den Flammen geschützt gewesen. Mir ist es gelungen, sie einem vom Kommissariat in Manila abzukaufen.« »Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie in Manila waren.« »Nein? Ein Versehen meinerseits, das kann ich Ihnen versichern. Ja, ich war dort. Habe einen Zwischenaufenthalt auf dem Weg hierher eingelegt, mich umgesehen, ein paar Fragen gestellt und mich allseits recht unbeliebt gemacht, bis man mich schließlich zur Abreise aufgefordert hat. Es wird alles vertuscht. Die Brandstiftung, Angelas Ermordung, die Verbindungen zwischen der Triad und Nelson Berlin. Die Philippinen sind heute in jeder Hinsicht genauso korrupt, wie sie es unter dem Marcos-Clan waren. Alles wird getan, um die Multinationalen aus dem Ausland zu decken, weil sie harte Währung ins Land bringen, verstehen Sie? Gott sei Dank habe ich ein bißchen Geld auf der hohen Kante.« DiPalma fragte sich, was Mackie unter >ein bißchen< ver121
stand. Er hatte von einem Sergeant der chinesischen Polizei gehört, der Hongkong verlassen und sich in Kanada mit sechshunderttausend amerikanischen Dollars zur Ruhe gesetzt hatte. Jeder Bulle aus Hongkong, der im Pensionsalter noch nicht vor Geld stank, hatte es einfach nicht versucht. DiPalma betastete den zweiten Gegenstand im Umschlag, die abgerissene Hälfte eines amerikanischen Tausenddollarscheins. Er konnte das Folgende fast voraussagen. Der Engländer fuhr fort: »Der Mann, der die andere Hälfte hat, ist bereit, die Diskette mit den Details über die Vereinbarungen zwischen Lin Pao und Nelson Berlin im Zusammenhang mit der Geldwaschanlage in Manila zu übergeben.« »Sie haben mit dem Burschen Kontakt aufgenommen? Warum haben Sie die Diskette dann nicht selbst mitgebracht?« »Wie ich gesagt habe - die Reichen dominieren die Philippinen genauso wie seinerzeit unter Ferdinand Marcos. Und sie wollen, daß diese Sache vertuscht wird, bevor die Multinationalen verschreckt werden. Ich wäre gründlich durchsucht worden, bevor ich hätte ausreisen dürfen. Also hielt ich es für klüger, die Unterlagen bei ihrem Besitzer zu lassen. Er wird sie Ihnen zum geeigneten Zeitpunkt aushändigen.« »Wer genau ist dieser Mann mit der Diskette?« »Raul Gutang. Arbeitet in der Computerabteilung von Taaltex. Hat mich aufgesucht. Sagt, daß er ziemlich
aufgeregt ist wegen dem, was Angela und den Mädchen geschehen ist.« »Wieviel wollen Sie ihm für die Unterlagen zahlen?« fragte DiPalma. Nach einer längeren Pause entgegnete Mackie: »Sie werden es ohnehin herausfinden, darum kann ich es Ihnen genausogut jetzt sagen. Einhunderttausend amerikanische Dollar.« Das ist wirklich ein schöner Batzen Geld, dachte DiPalma. »Wie haben Sie die Uhr rausgebracht?« fragte er. 122
Mackie grinste, ganz Edgar Allan Poe. »Wissen Sie, einfach vor den Augen aller versteckt. Ich trug sie am Handgelenk und habe sie so herausgeschmuggelt. Niemand hat zweimal hingeschaut.« Die Uhr, erzählte er, habe man in der Baracke gefunden, doch habe sie bei einem Tageslohn von zehn Dollar wohl kaum einer von den Frauen gehört. Genausowenig hätte sie von einem Aufseher stammen können, denn die verdienten nur unwesentlich mehr. Ein Manilaer Polizist habe sich an eine Anzeige erinnert, die ein gewisser George Mei erstattet hatte. Nach dessen Anschuldigungen sei ihm die Uhr von einer Prostituierten gestohlen worden, einer Zwergin. DiPalma versuchte, nicht zu grinsen. »Eine Zwergin als Nutte?« »Ihr Name ist Huziyana de Vega. Sie lebt in Manilas Chinatown mit einem Sicherheitsmann von Taaltex zusammen. Leon Bacolod heißt der Mann. Huziyana hat jede Verbindung zu Mr. Mei abgestritten; im Endeffekt stand Aussage gegen Aussage. Also ist in dieser Sache nie etwas unternommen worden.« »Sie glauben, daß Bacolod die Uhr in der Baracke verloren hat?« »Als Mann vom Werkschutz konnte Bacolod kommen und gehen, wann es ihm paßte. Als Brandstifter ist er nicht aktenkundig, aber was will das schon besagen?« »Das heißt, wenn er ein Feuerteufel ist, ist er ein verdammt guter.« Als Mackie sich in Manila aufgehalten hatte, waren die zwergwüchsige Hure und Bacolod auf Urlaub gewesen, darum hatte er keine Möglichkeit gehabt, sie zu befragen. Was die Diskette betraf, so hatte er Raul Gutang noch nicht ausbezahlt, sondern ihm nur eine Hälfte des Codes zum Depot in einer Züricher Bank gegeben, in dem die 100 000 lagen. Die zweite Hälfte der Zahl stand auf dem halben Geldschein in DiPalmas Hand. Eine Hälfte war ohne die andere nichts Wert. 123
»Sie wollen also, daß ich nach Manila gehe, das Feuer untersuche und die Diskette mitnehme«, sagte DiPalma. »Genau«, lautete Mackies Antwort. DiPalma betrachtete seine Nudeln. »Übrigens«, sagte Mackie nach einer Pause, »was hat eigentlich Sie und van Rooten zusammengeführt? Ich hatte den Eindruck, es sei eine blutig ernste Fehde zwischen Ihnen beiden.« Als DiPalma erklärte, es handele sich um eine rein persönliche Angelegenheit, strich sich Mackie über den Schnurrbart und nickte. DiPalma dachte an Jan, ihren seltsamen Charakter zwischen Dunkel und Licht. Sie war eine gehetzte, egozentrische und überaus ehrgeizige Frau - konnte aber auch liebevoll, aufrichtig und verletzlich sein. Sie hatte DiPalma über die ersten rauhen Klippen geholfen, als er mit dem Fernsehjournalismus angefangen hatte, und wenn er seinen Erfolg auf dem Bildschirm jemandem verdankte, dann ihr. Aber er mußte auch mit ihrer dunklen Seite leben, ihrer ungehemmten Sexualität zum Beispiel. Ein Trieb, der sie in der letzten Zeit zu gefährlichen Beziehungen mit gefährlichen Männern verleitet hatte. Sie wußte, daß ihre Neigungen für sie selbst am gefährlichsten waren, und hatte deswegen seit ihrer Hochzeit dagegen angekämpft. Nicht nur DiPalma, auch sie hatte gehofft, daß dieser Teil von ihr der Vergangenheit angehöre, daß sie ihre dunkle Seite endlich unterdrückt habe. Doch dann hatte sie sich mit einem Mann eingelassen, der ihre Schattenseite wieder an den Tag gebracht hatte. Nicht irgendeinem Mann, sondern Gregory van Rooten. DiPalma fragte sich, ob er Jan jemals wirklich besessen hatte, ob man überhaupt von einem Verlust für ihn sprechen konnte. Gestern hatte ihm Buddy Bosco Bescheid gesagt, ein Abhörspezialist, der bei der Telefongesellschaft beschäftigt war und in seiner Freizeit schwarz für eine Handvoll ausgewählter Kunden arbeitete. Buddy verlangte sehr viel, dafür hielt er aber den Mund. Es kostete DiPalma einige Scheine, bis er 124
erfuhr, daß Jans Suite im Perigee-Hotel in der sechsundfünfzigsten Straße West verwanzt war. Weil der kränklich aussehende, Nägelkauende Buddy Telefonen nicht traute, erstattete er lieber persönlich Bericht. Wie er DiPalma mitteilte, hatte er Ultraminimikrofone in den Telefonhörern, in einem Wandschrank im Schlafzimmer und auf der Wohnzimmercouch in ein Kissen eingenäht gefunden. Er hatte sie dort gelassen. Ob er herausfinden sollte, wer die Wanzen gelegt hatte? DiPalma sagte nein. Buddy Bosco zuckte die Schultern, riß einen Umschlag voller Hunderter an sich, machte auf dem Absatz kehrt und spazierte aus dem Zimmer. Buddy bevorzugte Bargeld. Vorläufig hieß es eins zu null für van Rooten. Jan wurde also wirklich von Nelson Berlin überwacht. Möglicherweise im Auftrag des Schwarzen Generals. Im Restaurant erklärte Mackie DiPalma: »Ich setze mich jetzt zur Ruhe. Auf mein Altenteil in Florida. In Key Biscayne habe ich so ein Haus direkt am Meer; dort gehört mir auch ein Restaurant mit Meeresspezialitäten. Außerdem habe ich Anteile an einer Fischereiflotte und noch ein paar Kleinigkeiten. Jetzt ist die beste Zeit, es
sich noch einmal richtig schön zu machen.« Aus seiner Stimme klang mit einemmal Anspannung heraus. DiPalma sah Mackie aufmerksam an, während dieser sich auf sein Gericht konzentrierte und mit den Eßstäbchen Reis aus einer kleinen Schale auf den Teller häufte. »Diese verdammte Triad. Der gehört praktisch ganz Hongkong. Ich habe den Kampf gegen sie satt. Verdammt satt.« Er legte die Stäbchen beiseite und erklärte, im Augenblick laufe eine Säuberungswelle gegen die Homosexuellen. In Hongkong seien solche Aktionen etwas sehr Ernstes, weil die Gesetze gegen die Schwulen gelinde gesagt barbarisch wären. Homosexualität gelte als Verbrechen und könne mit Lebenslänglich bestraft werden. Wie nicht anders zu erwarten, würden Polizeirazzien mit der typischen britischen Arroganz und Borniertheit durchgeführt. 125
»Natürlich steckt Lin Pao dahinter. Er hat seinen ganzen Einfluß auf die Polizei — und der ist gewaltig — geltend gemacht, damit die Hexenjagd auf die Schwulen losgehen konnte. Der ganze Zweck der Sache ist, mir die Hände zu binden, damit ich Angelas Tod nicht mehr untersuchen kann.« Martin Mackie war homosexuell. Daß er auch ein exzellenter Polizist war, konnte ihn nicht vor dem Gefängnis bewahren, wenn die Tuntenfänger mit aller Entschlossenheit gegen ihn vorgingen. »Man hat mich gebeten«, fuhr Mackie fort, »die Namen von anderen homosexuellen Polizeioffizieren und hohen Beamten anzugeben, aber ich habe jede Aussage verweigert. Wir beide wissen ja, daß die Polizei von Hongkong mehr als nur ein bißchen korrupt ist, und ich selbst habe an manchen Kompromissen meinen Anteil. Aber ein Informant bin ich nicht. Ich verrate keine schwulen Kollegen, und homosexuelle Mitglieder von Hongkongs führender Schicht werde ich auch nicht verpfeifen. Noch habe ich einen Rest Ehre im Leib. Und davon möchte ich nach Möglichkeit nichts mehr hergeben.« Wenn DiPalma den Brand untersuche und die Ergebnisse veröffentliche, könne Angela wenigstens Gerechtigkeit widerfahren, auf die sie ein Recht habe. Die Kommunisten, die die Machtübernahme in Hongkong vorbereiteten, hätten an negativen Schlagzeilen keinerlei Interesse. Vor allem nicht an solchen, die vielleicht die Amerikaner mit ihrem wirtschaftlichen Know-how und ihrem harten Geld vergraulen konnten. Beides werde dringend benötigt. Allein DiPalmas Einmischung bedeute vielleicht schon das Ende der Tuntenverfolgung. Erwartungsvoll sah Martin Mackie in die Augen DiPalmas. Als DiPalma sich schließlich den Umschlag in die Sakkotasche steckte, ließ Mackie sich erleichtert in seinen Stuhl zurückplumpsen und schaute auf die Mott Street hinaus. »Wußten Sie, daß Lin Pao dieses Restaurant besitzt?« fragte er. »Tatsache, ihm gehört der ganze Block. Jede Türklinke, jede Glasscheibe, sogar jede Teppichfaser.« 126
»Soviel ich weiß«, entgegnete DiPalma, »besitzt Pao auch das größte Kasino von Las Vegas.« Mackie nickte: »Sehr richtig. Daß er der Eigentümer ist, wird hinter einem Geflecht von Gesellschaften vernebelt, aber das ändert nichts an den wahren Verhältnissen.« Auch habe Paos Geld sich Zugang verschafft zur amerikanischen Filmindustrie, zu Schnellimbißketten, zum Autohandel, zur Herstellung von Limonadenflaschen. Der Schwarze General stecke hinter vielen Geschäften. Mackie fuhr fort: »Dann gibt es auch den anderen Lin Pao, dem es das größte Vergnügen zu bereiten scheint, jeden zu vernichten, der ihm im Weg steht. Das ist der Lin Pao, der verbreiten läßt, daß van Rooten nicht mehr lange zu leben hat. Wenn wir schon über brutale Leute sprechen - in diesem Restaurant könnte ich Ihnen ein gutes halbes Dutzend Triad-Mitglieder zeigen. Habe ihre widerwärtigen Visagen einige Male in Hongkong gesehen, und ich könnte mir vorstellen, daß sie auch Sie erkennen. Die werden nicht allzu glücklich sein, daß ich mit einem vom amerikanischen Fernsehen rede.« »Haben Sie von einem großen Treffen läuten gehört, das demnächst zwischen den Triad-Führern stattfinden soll?« fragte DiPalma. »Ich bin beeindruckt. Hat Ihnen das van Rooten gesteckt?« DiPalma nickte. Mackie sagte: »Das stimmt. Wir haben Gerüchte über ein sogenanntes Gipfeltreffen gehört. Aber das ist bis jetzt alles. Nur Gerüchte. Wir ermitteln noch. Lin Pao soll der große Organisator sein. Anscheinend hält er es für klüger, die Angelegenheiten am Konferenztisch zu regeln, statt mit den Schießeisen auf dem Schlachtfeld. Von seinem Standpunkt aus ist das gar nicht so dumm, wenn man daran denkt, daß die Kommunisten bald einmarschieren und sich die von der Triad nach grüneren Weiden werden umsehen müssen. Hier in Amerika können sich Verbrecher eine goldene Nase verdienen, vorausgesetzt, die Neugier der Polizei hält sich "7
in Grenzen. Mit dem Gedanken an einen Kompromiß spielen die Triad-Bosse seit Jahren, aber keiner hat es bislang geschafft, ihn durchzusetzen.« »Van Rooten meint, daß es ihnen ernst sei. Jetzt wäre es endgültig so weit, sagte er.« »Das werden wir uns genauer ansehen müssen. Wenn Lin Pao wirklich vor seinen Kollegen den großen Staatsmann herauskehren will, muß er erst mal van Rooten umbringen, denke ich mir. Pao muß ihnen zeigen, daß er wenigstens in seinem Hause der Herr ist. Sonst noch etwas Bedeutsames von Ihrem Mr. van Rooten?« »Er hat etwas über Nelson Berlin, Berlins Schwester und China gesagt. Daß Berlin dahintersteckt. Was, zum
Teufel, hat er damit gemeint?« »Ich könnte mir vorstellen, er will sagen, daß Nelson Berlin seine Schwester umgebracht hat, als sie im Zweiten Weltkrieg in China waren. Das Dumme ist nur, daß das ein alter Hut und auch nur ein Gerücht ist. Erhärten läßt es sich durch nichts. Jedenfalls wurde ein anderer für das Verbrechen verurteilt.« »War er denn schuldig, der andere Typ?« »Den Eindruck hatten offensichtlich die Chinesen. Sie haben ihn hingerichtet. Er war übrigens Amerikaner, so ein gottverlassener Missionar. Ich würde gern Ihren Mr. van Rooten fragen, was er über die Rolle seines Vaters bei der Ermordung Angelas weiß.« DiPalma stocherte in seinen Nudeln herum. »Man muß sich schon fragen, warum sich ein Nelson Berlin mit so einem Dreckskerl wie Lin Pao auf Geschäfte einläßt.« »China. Der Krieg. Keine Gesetze. Alles geht. Kriegszeiten sind schon sehr aufregend.« Mackie lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Die Augen halb geschlossen, erinnerte er sich: »Ich habe Angelas Vater auf den Philippinen getroffen, unmittelbar nach dem Krieg. Ich war 1947 mit einem britischen Team zu dem Kriegstribunal gegen die Japaner gekommen. Manuel Ramos war mir als Fahrer und persönlicher Betreuer zugewiesen. Wurde 128
schließlich mein Freund. Wir sind über die Jahre immer in Kontakt geblieben, und ich habe mich ziemlich geehrt gefühlt, als er mich bat, Taufpate seiner ersten Tochter zu werden. Ja, die Zeit nach dem Krieg. Wirklich eine sehr schöne und eine sehr schlimme Zeit. An einem Tag hörten wir eine Aussage, daß die Japsen das Fleisch von Kriegsgefangenen gegessen haben, und am Tag drauf waren wir voll wie die Haubitzen vom billigen Rum und buddelten droben auf den Bergen nach den Schätzen, die die Japsen angeblich versteckt haben. Alles, was ich über Asien weiß, stammt aus diesen zwei hektischen Jahren mit Manuel. Eine wunderbare Zeit. Verdammt wunderbare Zeit.« Martin Mackie beugte sich näher zum Fenster vor. »So was. Da drüben... Sieht ein bißchen wie Benjy aus. Bei Gott, genau! Das ist er. Benjy Lok Nein.« DiPalma schaute auf eine Gruppe chinesischer Jugendlicher, die sich vor einer Videospielhalle versammelt hatten. Mackie zeigte ihm Benjy Lok Nein. »Sechzehn Jahre alt. Sieht stämmig und gut aus — der in der schwarzen Lederjacke mit Messingbeschlag, trägt Blue Jeans und Turnschuhe. Er ist der Führer der Jadeadler, einer chinesischen Jugendbande, die berüchtigt ist für ihre Brutalität. Lin Paos kleine Tiger. Pao deutet mit dem Finger, und sie fangen an zu reißen und zu beißen. Benjy ist genau der richtige. Der geborene Führer, Killer und Erpresser. Ist auch in den Kriegskünsten vollendet, ganz zu schweigen von seiner Wirkung auf die Frauen. — Wie so viele von ihnen ist er in Hongkong geboren«, fuhr Mackie nach einer Pause fort. »Ich habe ihn ein paarmal festgenommen. Ist nicht ohne einen gewissen Charme, aber im Grunde durch und durch verkommen. Vor ein paar Jahren haben wir ihn mit einem Erwachsenen in eine Zelle gesteckt. Nur für eine Nacht, verstehen Sie. Aber der Erwachsene meinte, so ein hübscher kleiner Junge wie Benjy sei ein Geschenk des Himmels. Also beschloß er, ihn zu vergewaltigen. Vergessen Sie nicht, daß der Kerl ein hartgesottener Verbrecher war, ein sehr großer, sadistischer und abgebrühter Verbrecher. Gut, am nächsten 129
Morgen schaut der Wärter in die Zelle, und dieser abgebrühte Schwerverbrecher liegt mit gebrochenem Genick tot auf dem Boden. Benjy liegt währenddessen auf seiner Pritsche, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und schaut friedlich zur Decke. Wir haben ihn gefragt, was los war. Er hat geantwortet, er habe geschlafen und habe nicht den blassesten Schimmer. Natürlich konnten wir absolut nichts beweisen. Tatsache ist, daß Benjy dem Knilch das Genick gebrochen hat.« »Sieht so aus, als gäbe es gleich ein Treffen«, sagte DiPalma. »Die Jadeadler sind die brutalste Bande hier in Chinatown. Und Benjy ist der größte Schurke von allen. Jeder Straßenjunge in Hongkong hat schon von ihm gehört. Sie träumen davon, nach Amerika zu kommen und in seine Fußstapfen zu treten. Sieh an, was haben wir denn da?« »Was sehen Sie denn?« fragte DiPalma. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich schwören, daß sie nur auf diesen einen Kerl gewartet haben. Dieses schmächtige Bürschlein, das soeben eingetroffen ist. Der mit der hellen Lederjacke. Mein Gott, die hängen ihm ja an den Lippen. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich den Tag erleben würde, an dem sich Benjy einem anderen unterordnet. Fehlt nur noch, daß er auf die Knie fällt und diesem Kerlchen die Hand küßt!« Den Blick immer noch auf die Szene gerichtet, sprach Mackie weiter: »Der Neue ist kleiner als die meisten anderen. Aber so wie sie ihm zuhören, könnte man meinen, er wäre die Wiedergeburt von Buddha. Na so was, ist das nicht...?« Auch DiPalma hatte ihn erkannt. Bevor Mackie seinen Satz zu Ende sprechen konnte, war DiPalma aufgesprungen und rannte zur Tür. Der Junge, dem Benjy und die anderen so aufmerksam gelauscht hatten, war Todd. 130
8 Mitternacht war vorüber, als Todd den Bandenführer Benjy Nein und drei weitere Jadeadler in den dunklen, schmutzigen Keller eines Massagesalons in der Elizabeth Street führte. Seine Besitzer waren die
Hundertschrittvipern. Ivan Ho, hinter dem ein breitschultriges Triad-Mitglied mit dunkelgrüner Ledermütze und dazu passendem Mantel stand, sah den Jungen zu, wie sie auf der anderen Seite eines vergammelten Billardtisches Stellung bezogen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Todd, den er nie zuvor gesehen hatte. Komisches kleines Entlein, dachte Ho. Scheint ihn überhaupt nicht nervös zu machen, unter so harten Burschen wie uns zu sein. Tritt auf wie so eine Art Prinz. Aber er dürfte gar nicht hier sein, weil er kein Jadeadler ist, und da mußte er mal mit Freund Benjy Klartext reden. Ho mochte den Jungen von Anfang an nicht. Der kleine Dreckskerl kam ihm zu selbstbewußt vor. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Ho und Todd starrten einander nur an. Benjy zupfte an seiner Arbeiterjacke, dann stützte er sich mit den Handflächen auf ein Billardqueue auf dem staubigen Tisch. Sekunden später fing er an, den Stock langsam hin und her zu rollen. Ein anderer Jadeadler griff in die Kugelrinne, nahm die weiße Kugel heraus und warf sie von einer Hand in die andere. Schließlich hatte Ivan Ho das Warten satt und rief auf kantonesisch: »Benjy, du sagst mir jetzt, warum du dieses neue Schätzchen mitgebracht hast, ohne das vorher mit mir abgeklärt zu haben! Mir gefällt nicht, wie er die Leute mustert. Zu respektlos. Schaff deinen neuen kleinen Freund hier hinaus, bevor ich ihm wehtue. Und dann kannst du mir sagen, warum du auf ein Treffen zu dieser späten Stunde bestanden hast. Was für ein großer Notfall ist das, über den du am Telefon nicht sprechen konntest?« 131
Benjy sah immer noch nicht auf. Statt dessen spielte er weiter mit dem Queue. »Benjy!« rief Ivan Ho. »Ich rede mit dir. Du wolltest ein Gespräch, also sprechen wir miteinander. Aber erst einmal verschwindet dieser neue Typ, und zwar sofort.« Ebenfalls auf kantonesisch sagte Todd: »Ich habe Benjy befohlen, dich hierherzuschaffen.« Ivan Ho runzelte die Stirn. »Was hast du gesagt?« Todd starrte ihn weiter an. Wütend fuhr sich Ivan Ho mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare und blickte zur Decke, dann flüsterte er dem breitschultrigen Mann links hinter ihm etwas zu. Der Mann grinste. Der große Bruder wollte ihnen etwas vorführen. Ein Exempel statuieren. Erst den Kleinen mit den Augen einer Frau, und dann Benjy. Benjy und sein kleiner Freund mußten daran erinnert werden, daß man sich nicht über den Großen Bruder lustig machen durfte. Ivan Ho, dessen Augen stärker als sonst hervortraten, richtete den Zeigefinger auf Benjy. »Dein kleiner Freund ist zu blöd, um es besser zu wissen. Aber du hast keine Entschuldigung. Du schleifst mich mitten in der Nacht hierher, nur weil er es dir befohlen hat? Wenn sich das herumspricht, sagen die Leute, ich hätte euch nicht in der Hand. Dann hat man in Chinatown keine Achtung mehr vor mir, ich kann mich dann auf den Straßen nicht mehr zeigen. Darum muß ich dir jetzt beibringen, wie man sich dem Großen Bruder gegenüber benimmt. Und dann bringst du nie, verstehst du, nie wieder ohne meine Erlaubnis einen Fremden zu einem Treffen mit.« Todd rief: »Du verdienst keine Achtung! Du hast die verraten, die dir getraut haben. Sam Liu, Joey Liu, Elvis Chan. Du hast bei ihrer Ermordung mitgeholfen.« Ivan Ho zuckte zurück, als habe ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Schritt für Schritt ging Todd seitwärts den Billardtisch entlang nach rechts. Benjy und die anderen machten ihm Platz. Als er am Ende des Tisches angekommen war, blieb Todd 132
stehen. »Vergangene Nacht wurden Peter Chen und Bing Fong dort oben ermordet. Du wirst Benjy und den anderen jetzt sagen, warum du die Jadeadler verrätst.« Die Fäuste geballt, nickte Ivan Ho mehrere Male, während er sich zwang, tief durchzuatmen. Hätte ihn Todd ohne Vorwarnung angegriffen, wäre Ho nicht so aufgeregt gewesen. Aber heftige Angriffe mit Worten, vor allem wenn sie zutrafen, machten ihn zunächst einmal hilflos. Diese Reaktion stammte aus seiner Kindheit, als ihn Schulkameraden wegen seiner verrückten Mutter ständig aufgezogen hatten. Seine Mutter, die seine beiden Schwestern erdrosselt hatte. Jetzt, da er Benjys Freund gegenüberstand, fiel Ivan Ho wieder ein, daß er sich von Kindern nicht länger schikanieren zu lassen brauchte. Jetzt konnte er mit ihnen umspringen, wie es ihm gerade paßte. Zu Benjy gewandt sagte er: »Ich sehe, daß du einen kleinen Spielkameraden gefunden hast. Ein wirklich hübscher Junge. Was ist los? Magst du keine Mädchen mehr? Ich dachte, du hättest die Mädchen so gern, Benjy?« Er entledigte sich der Jacke und der Krawatte, die er beide dem breitschultrigen Mann gab. Zu Todd gewandt fuhr er dann fort: »Du machst mich also verantwortlich für das, was Sam, Joey, Elvis und den anderen Jungs passiert ist? Schön. Zunächst einmal gehen dich die Angelegenheiten der Jadeadler nichts an. Ich schulde dir für nichts Rechenschaft. Zweitens habe ich etwas dagegen, wenn man mich beschuldigt, ich würde meine eigenen Leute umbringen. Das ist schlecht für mein Image. Mit dem, was den Jungen zugestoßen ist, habe ich überhaupt nichts zu tun.« »Du bist ein Lügner«, sagte Todd. Ho grinste. »Na gut, das werden wir ja sehen. Wir zwei Hübschen werden jetzt eine kleine Showeinlage vorführen, und wenn sie vorbei ist, bist du ein trauriges kleines Schätzchen. Du nennst mich nicht noch einmal einen Lügner. Darauf hast du mein Wort.« Immer noch grinsend, krempelte sich Ho langsam die Är-
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mel hoch. Er war damit fast fertig, da kam ein kleiner Mann mit Gel im Haar und Goldkronen auf den Schneidezähnen in den Kellerraum gerannt, stürzte auf Ho zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als der Mann geendet hatte, nickte Ho, und der Neuankömmling stellte sich hinter Ho neben den breitschultrigen Typen im grünen Leder. »Sieht so aus, als hätten wir ein kleines Problem«, sagte Ho. »Mein Freund Woo erzählt mir gerade, daß er vor wenigen Minuten im Goldenen Fasan war und gesehen hat, wie so ein Fernsehreporter eilig das Restaurant verließ und euch Burschen hinterhergelaufen ist. Es ist euch gelungen, ihn abzuschütteln. Wahrscheinlich müßte ich euch dankbar dafür sein. Wie ich höre, ist er die Mott Street hinuntergelaufen und hat >Todd! Todd!< geschrien. Ich schätze, das bist du, kleiner Bruder.« Zu Benjy gewandt, sagte er: »Verstehst du jetzt, wenn ich euch einschärfe, ihr sollt euch Fremde vom Leib halten? Dieser Dreckskerl, der mit euch hierhergekommen ist, unterhält Beziehungen zu Frank DiPalma, und wenn der anfängt, in unseren Angelegenheiten herumzuschnüffeln, dann kriegen wir Schwierigkeiten. Woher wissen wir denn, daß Todd, oder wie immer er sich nennt, nicht ein Spion ist? Vielleicht will er sich der Bande anschließen, nur um uns für Frank DiPalma zu enttarnen? Wahrscheinlich weiß er mehr als er sollte, vor allem über das Schicksal unserer toten Jungen.« Sämtliche Jadeadler außer Benjy wichen vom Billardtisch in den Schatten zurück und rückten so von Benjy und seinem neuen Freund ab. Der Große Bruder wollte jetzt gleich ein Exempel statuieren. Es war das beste, nicht zu nahe bei den Opfern zu stehen. Ho ging langsam auf Todd zu. »Na, kleiner Bruder? Wir zwei, wollen wir denen nicht eine kleine Showeinlage bieten?« Todd packte das Billardqueue und zerschmetterte es an der Tischkante. Eine Hälfte flog ins Dunkle davon und landete in der Nähe des Gasboilers. Die Augen fast ge134
schlössen, löste sich Todd vom Tisch und bewegte sich auf Ho zu. Die abgebrochene Schlägerhälfte hielt er in der Rechten, tief unten und vom Körper weg. Ivan Ho war ein geübter Choy-Li-Fat-Kämpfer, ein Stil, der die schnelle Beinarbeit des nördlichen Kung-Fu mit dem Kraftsport, wie er im Süden praktiziert wird, verbindet. Choy-Li-Fat schloß das Training mit langen und kurzen Waffen mit ein - Stab, Speer, Dreizack, Stock, Messer, Schlachtkeule, Kurzschwert. In der Tasche hatte Ho ein Sprungmesser, doch dieses schmächtige Kerlchen, das da mit einem zerbrochenen Billardstock vor ihm stand, war ja nur ein Witz. Ho hatte in der Tat den Acht Rittern des Nordens bei der Ermordung der Jadeadler geholfen. Befehle vom Schwarzen General durften nicht hinterfragt werden. Wenn Lin Pao verlangte, daß ihm ihre abgehackten Köpfe tiefgekühlt präsentiert wurden, dann sollte dem auch so sein. Als Ivan Ho am Anfang versucht hatte, den Grund dafür herauszufinden, war er nicht sehr weit gekommen. Die Antwort auf diese seltsamen Praktiken war das Geheimnis des Schwarzen Generals. Diejenigen, die darüber mit sich reden ließen, sagten nur, eine bestimmte Angelegenheit habe Lin Pao seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht, und er verlange die Ausführung seines Befehls binnen 21 Tagen. Im Keller trat nun Ho nach Todds Schienbein. Er hatte vor, sofort zu einem Sow anzusetzen, dem Schwinger, mit dem man im Choy-Li-Fat die Gegner außer Gefecht setzt. Doch er landete keinen Treffer. Auch sonst bekam er keine Gelegenheit zu einem K.o.-Schlag. So schnell wie es Ho noch nie bei einem Gegner gesehen hatte, wich Todd nach rechts aus und traf Ho mit dem Stock auf die Kniescheibe des erhobenen Fußes. Der Schlag war so hart, daß Ho aufbrüllte und sich an die Tischkante klammern mußte, um nicht zu Boden zu gehen. Er stand noch mit dem Rücken zu Todd, als dieser ihm auf den rechten Oberschenkel und dann auf die Nieren schlug. Wieder brüllte Ho, während er mit gekrümmtem 135
Rücken zur Seite taumelte, sich aber immer noch mit den Händen an den Tisch klammerte. In diesem Augenblick gellte Todds markerschütternder Kampfschrei durch das Gewölbe, und der Junge jagte Ho das Ende seines Queue so in den Magen, daß er zusammenklappte, zu Boden ging und sich heftig erbrach. Es dauerte endlos lange Sekunden, bis die Zeugen im Keller ihren Augen trauen wollten. Nie zuvor hatte jemand Ivan Ho besiegt. Doch eben war es geschehen, und seine Niederlage war vernichtend. Ein unerwarteter Schock. Als einziges Geräusch war Hos mühsames Keuchen im Keller zu vernehmen, während er sich aufrappelte und sich, auf dem Boden sitzend, gegen den Billardtisch lehnte. Sein schwarzes Hemd, seine schwarze Hose waren von Erbrochenem verschmiert. Beide Hände preßte er auf das schmerzende Knie und versuchte, mit dem schlimmsten Augenblick seines Lebens fertigzuwerden. Dieser Augenblick brachte nicht nur Schande über ihn wenn er nicht sehr, sehr großes Glück hatte, kostete er ihn auch das Leben. Ungläubig schüttelte der breitschultrige Mann in der grünen Ledermontur den Kopf. Schließlich reagierte er. Seine Hand fuhr unter den Mantel, Benjy war jedoch schneller. Sofort hatte er den Billardtisch losgelassen und unter der Arbeiterjacke eine Uzi hervorgerissen. Er bellte einen Befehl auf kantonesisch, woraufhin die anderen Jadeadler ihre Pistolen zogen. Alle Waffen richteten sich auf die zwei Triad-Mitglieder, die langsam die Hände hoben.
Todd drückte Ho das spitze Ende seines Queue gegen die Kehle und fragte: »Hilfst du dabei, die Jadeadler umzubringen?« Ho nickte. »Sag es ihnen laut.« »Ja, ich helfe den Acht Rittern des Nordens, Paos Befehle auszuführen.« »Sag ihnen warum.« »Ich weiß nicht warum. Ich schwöre bei meiner toten Mutter, daß das stimmt. Ich weiß nur, daß Pao sie fürchtet. 136
Am meisten fürchtet er Benjy. Darum sterben die anderen als erste. Pao will Benjy isolieren.« »Du meinst, wenn er Benjy als ersten umbringt, dann vereinigen sich die anderen, um Benjy zu rächen?« »Ja.« Todd warf den zerbrochenen Billardstock auf den Tisch und rief Ho zu: »Sag dem Schwarzen General, daß es ihm nichts genützt hat, daß er die Schneeleopardin und den Priester umgebracht hat. Für das Böse, das er in diesem Leben und in früheren begangen hat, muß er bezahlen! Die Schneeleopardin war ein Zeichen der Götter. Sie haben sich von ihm abgewandt. Richte ihm aus, daß der Priester die Wahrheit gesagt hat.« Ivan Ho tastete nach seinem Rücken. Der Schmerz war unbeschreiblich. Nie zuvor hatte ihn jemand so schwer getroffen, weder im Training, noch bei Turnieren, noch bei Bandenkriegen. Er mußte der Triad über diesen Jungen berichten. Der Schwarze General mußte gewarnt werden. Dieser Todd war der Junge, den er zu fürchten hatte! Todd, der wie ein Dämon kämpfte. Wie konnte nur jemand auf solche Weise kämpfen und ein Mensch sein... »Sag Lin Pao auch«, ergänzte Todd, »daß Benkai ihn holen wird, ehe 21 Tage vergangen sind.« Dann schritt er über Ho hinweg zur Tür. Als letzter verließ Benjy, die Uzi auf die Leute der Triad gerichtet, den Keller. Oben, wo der Massagesalon war, klopfte Todd zweimal gegen eine Tür in der Mitte des matt beleuchteten, stinkenden Flurs. Er wartete ein paar Sekunden, dann klopfte er noch zweimal. Hinter ihm stand, die Uzi in den Armen wiegend, Benjys Wache. Benjy lauschte, ob nicht jemand die Treppe heraufkäme, doch er vernahm nur die Geräusche aus den Zimmern ringsum - einen Kassettenrecorder, der ein Band von George Benson abspielte, eine Hure, die leise auf mandarinisch sang, einen Mann, der fluchte, weil er zu früh ejakuliert hatte. 137
Benjy spitzte die Ohren wegen der Triad-Leute, die sicher schon die Verfolgung aufgenommen hatten, um ihn und Todd zu töten. Ein Anruf von Ho würde genügen, und ein Dutzend Killer stürmten in wenigen Minuten durch die Eingangstür. Je schneller Todd und Benjy hier verschwanden, desto besser. Todd war nicht wegen Sex hierhergekommen, soviel stand fest. Was machte er dann hier im Flur, anstatt einige Meilen zwischen sich und Chinatown zu legen? Benjy wußte es nicht. Er wußte nur eines: daß er mit Todd zusammenbleiben mußte, selbst wenn es ihn das Leben kostete. Dank Todd wußten die Bandenmitglieder jetzt, wer hinter ihnen her war. Zurückzuschlagen war jedoch gewiß nicht leicht. Dieses Mal nahmen sie es nicht nur mit einer anderen Jugendbande auf, schikanierten sie nicht nur einen Restaurantbesitzer, bis er ihnen freie Mahlzeiten gewährte, schüchterten sie keinen alten Ladeninhaber ein. Die Triad und die Acht Ritter des Nordens waren Gegner von schwerem Kaliber, gegen die selbst die Staatsgewalt nicht viel ausrichten konnte. Zu den Feinden der Jadeadler kam noch Ivan Ho, vorausgesetzt, Lin Pao ließ ihn nach dieser Demütigung durch Todd am Leben. Der Große Bruder war ein mieser Schuft. Selbst Benjy hatte vor ihm Angst. Er würde nicht ruhen, bis er sich an Todd gerächt hätte. Benjy grinste. Vermutlich war Todd in der Achtung des Großen Bruders ein bißchen gestiegen. Benjy hatte Todd bei seinen geheimen Trainingsstunden zugeschaut. Der Kleine war furchterregend, er hatte einen unwahrscheinlichen Kampfgeist. Benjy hatte niemals etwas Vergleichbares gesehen oder davon gehört. Ein-, zweimal hatten sie gemeinsam mit dem langen und dem kurzen Stock geübt. Benjy hatte stets den kürzeren gezogen. Er hatte Todd auch einmal ein Messer handhaben sehen und auf der Stelle beschlossen, nie mit einem Messer auf den Kleinen loszugehen. Nicht, solange er nicht eines plötzlichen Todes sterben wollte. Nichts jedoch hatte Benjy auf 138
das vorbereitet, was Todd mit dem großen Bruder angestellt hatte. Todd gehörte einer anderen Klasse an. Verdammt, er kam von einem anderen Stern, es gab keinen Ebenbürtigen für ihn. Wer Ivan Ho schlagen konnte, hatte sich für das Amt des Roten Pfahls qualifiziert, des oberen Kampfmeisters der Triad. Benjy fiel kein einziger erwachsener Kämpfer ein, der sich gegen Todd hätte behaupten können. Ein Roter Pfahl im Alter von dreizehn Jahren! Das mußte ins Guinness-Buch der Rekorde. Mittlerweile rannten die Jadeadler, die mit Benjy in den Massagesalon gekommen waren, um ihr Leben. Er hatte ihnen befohlen, die anderen Bandenmitglieder vor Lin Paos Arglist zu warnen und dann irgendwo unterzuschlüpfen. Ihre Wohnungen konnten sie vergessen. Jeder mußte untertauchen. Ihre ehemaligen Gönner, der Schwarze General, die Triad und Ivan Ho waren jetzt ihre Feinde. Desgleichen die Acht Ritter des Nordens, heimtückische Killer, vor denen sich Benjy zu Tode ängstigte.
Warum war er selbst dann noch im Massagesalon? Weil Todd ein besonderer Freund war. Todd, den er noch nicht einmal zwei Wochen kannte. Der ihm den Glauben an eine Freundschaft vermittelt hatte, die, wie er sagte, vor über 400 Jahren begonnen hatte. Geistig und seelisch waren sie auf eine Weise verbunden, wie sie Benjy fühlen, aber nicht voll begreifen konnte. Er wußte nur, daß er sein eigenes Leben fortwerfen würde, wenn er sich von Todd abwandte. Die Tür zum Flur öffnete sich, und das Mädchen Joan stand vor Todd und Benjy. Bekleidet war sie mit einem billigen Stoffmantel, einer Pelzmütze und Stiefeln. In der Hand trug sie einen Koffer. Ist die hübsch, dachte Benjy. Wahrscheinlich aus Taiwan, so wie sie aussah. FVB — frisch vom Boot. Liebend gerne hätte sich Benjy mit diesem süßen kleinen Ding vergnügt. Aber sie gehörte zu Todd, also konnte er das vergessen. Laß die Hose oben, Benjy. Wie, zum Teufel, hatten sie und Todd zueinander gefunden? In Amerika konnte sie nicht 139
länger als ein paar Tage sein. Abgesehen davon - war Todd denn noch normal? Wenn sie das Mädchen hier entführten, hatten sie garantiert die ganze Triad auf dem Hals. Sie war deren Eigentum, und keiner bestahl die altehrwürdige Gesellschaft, ohne das Leben zu verwirken. Warum wollte Todd das Mädchen? Benjy hoffte nur, lange genug am Leben zu bleiben, um das herauszufinden. Plötzlich schaute er zur Treppe. Schritte. Kein Kunde, der nur so aus einem der Zimmer spazierte, das waren mehrere Männer, die die Treppe heraufrannten. In einem Höllentempo. In Chinatown gab es keine Geheimnisse. Solange Todd und Benjy hier blieben, konnten sie sich nirgendwo verstecken. Plötzlich bekam es Benjy mit der Angst zu tun. Dann sah er wieder Todd an, und die Angst ließ nach. »Los, weg!« schrie Benjy und rannte als erster zu einem Fenster am Ende des langen Flurs. Von dort führte eine Feuerleiter auf das Dach. Hinter ihnen hallten eilige Schritte über den Gang. Als er Schüsse krachen hörte, blieb Benjy stehen, um die anderen vorbeirennen zu lassen. Er wollte sich gerade umdrehen und zurückschießen, da spürte er, wie ihn eine Kugel in den Rücken traf. 140
9 Frank DiPalma wohnte in den oberen zwei Stockwerken eines Sandsteinhauses in den Brooklyn Heights mit Blick auf den Hafen von New York und die Südspitze von Manhattan. Er zog die Friedlichkeit Brooklyns der Großkotzigkeit von Manhattan vor. Dort, so erklärte er Jan, beschimpften die Kellner einen als Scheißkerl und erwarteten zwanzig Prozent Trinkgeld. Das Sandsteinhaus stand in der Cranberry Street, einer Gegend mit der Gemütlichkeit und dem Zauber des alten New England. Die während der Präsidentschaft Abraham Lincolns errichteten Gebäude standen unter Denkmalschutz. Ohne die Zustimmung der Denkmalschutzbehörde konnte in dieser Gegend nichts abgerissen oder umgebaut werden. Vor den Haien sind wir sicher, meinte Jan; Haie war ihr Ausdruck für die Immobilienmakler. DiPalmas Maisonette hatte hohe Decken, eine Wendeltreppe und vier Kamine aus Granulit. Das Zimmer im oberen Stockwerk, der Grund, aus dem er die Wohnung gemietet hatte, bot einen atemberaubenden Blick auf die Frachter, Touristenschiffe, Müllschuten und Segelboote, die unter der beleuchteten Brooklyn und der Manhattan Bridge vorbeifuhren. Seit Jans Auszug verbrachte DiPalma ganze Nächte allein in diesem Zimmer und schaute von seinem Schaukelstuhl auf die Lichter Manhattans, wo Jan jetzt lebte. Es war fast sechs Uhr abends, als Mrs. Velez, seine dominikanische Haushälterin, eine rundliche Fünfundfünfzig-jährige, an der Tür oben klopfte und rief: La senora estä aqui. Jan war wieder da. Gleichzeitig erklärte Mrs. Velez, daß sie für heute ginge. Sie wolle erst nach Manhattan fahren, um in einem Börsenmaklerbüro in der Wall Street putzen zu helfen, und dann nach Hause gehen, wo sie für ihren Mann und sechs Kinder kochen mußte. 141
Der Job bei den Börsenmaklern hatte Mrs. Velez veranlaßt, selbst in geringem Maße ihr Geld vorsichtig zu investieren. Er hatte sie auch zu der Überzeugung gebracht, sie sei eine Autorität auf dem Aktienmarkt, eine Annahme, die zu bezweifeln DiPalma für durchaus angebracht gehalten hatte. Seine Mappe voller Aktien war ihm schließlich von Experten zusammengestellt worden, so daß er geglaubt hatte, Mrs. Velez Nachhilfe im Finanzwesen entbehren zu können. Dann kam im Oktober 1987 der große Börsenkrach, wie ihn Mrs. Velez korrekt und fast auf die Woche genau vorausgesagt hatte. DiPalma verlor fast 50 000 Dollar und fragte sich jetzt, ob er in Zukunft nicht lieber auf Mrs. Velez hören sollte, auch wenn sie ihr Fachwissen über die Finanzwelt aus Büropapierkörben bezog. Zwischen Tür und Angel war Mrs. Velez Jan begegnet. Seit sie ihr vor etwa zwei Jahren zum erstenmal vorgestellt worden war, hatte sie sie nicht leiden können. La senora war zu gescheit, zu schnell gelangweilt, zu sehr darauf bedacht, ihren eigenen Willen durchzusetzen und — das war vielleicht das Allerschlimmste — zu dürr, um einem Mann wirklich zu gefallen. Es stand Mrs. Velez nicht zu, dies Mr. DiPalma zu erklären, darum brachte sie ihre Meinung zum Ausdruck, indem sie Jan nach Möglichkeit schnitt, wohingegen sie DiPalma mit Freundlichkeiten überhäufte.
Als jetzt Jan zum erstenmal nach zwei Wochen wieder aufkreuzte, ließ Mrs. Velez sie wortlos herein, teilte dann DiPalma Jans Ankunft mit und rauschte davon, nicht ohne sich zu fragen, warum DiPalma seine Frau nicht mit einem Fußtritt hinausbeförderte. Ein Mann und seine Frau sollten auf andere Weise zusammenleben. Mrs. Velez konnte sich nur fragen, wie lange Mr. DiPalma sich noch von diesem dürren Biest zum Narren halten ließ. DiPalma kam ins Wohnzimmer, wo er Jan vorfand, wie sie, eine Zigarette zwischen den langen Fingern, ins Kaminfeuer schaute. Sie war eine hochgewachsene Frau Ende Dreißig, hatte eine kräftige Nase, grüne Augen und kastanienbraunes Haar, das sie sich kürzlich hatte tönen lassen, 142
um die ersten grauen Strähnen zu verdecken. Bekleidet war sie mit einer cremefarbenen Bluse, einem langen rostroten Wildlederrock, dazu passenden Stiefeln und einem breiten, hellbraunen Gürtel. Den Kragenknopf zierte eine edelsteinbesetzte Brosche. Als sich DiPalma ihr näherte, schnippte sie die Zigarette in das erlöschende Feuer. Sie drehte sich zu ihm: »Wann reist du ab?« »Übermorgen«, antwortete DiPalma. »Wir fliegen nach San Francisco und dann ohne Zwischenlandung nach Manila.« »Wir?« »Todd und zwei Freunde von ihm. Das ist eine lange Geschichte.« Eine lange Geschichte. Letzte Nacht hatte Todd zwei Freunde mitgebracht, eine minderjährige Dirne und einen chinesischen Jungen, der zwar noch ein Milchgesicht hatte, aber eine Uzi bei sich trug. Laut Mackie arbeitete der Kleine mit der Maschinenpistole für Lin Pao und hatte schon elf Menschen um die Ecke gebracht. DiPalma hätte am liebsten die Nutte und den Chinesenjungen mit einem Tritt in den fernöstlichen Arsch hinausbefördert, aber Todd wollte, daß sie blieben. Und so waren sie auch geblieben. Jan fröstelte. »Du meinst, daß in Todd wieder die Seele von Benkai gefahren ist?« DiPalma rieb sich den Nacken. »Ich bin ein abgebrühter Bulle, zwanzig Jahre dabei — alles gesehen, alles gemacht, oder nicht? Wenn mir einer mit einem Jungen käme, der sich in einen 400 Jahre alten Samuraikrieger verwandelt hätte, würde ich ihn schwachsinnig nennen und den Kerl in eine Gummizelle stecken. Aber, Herrgott, es stimmt! Verdammt noch mal, mit wem außer dir könnte ich darüber sprechen?« Mit geschlossenen Augen dachte Jan an das, was geschehen war, als Todd sich das letzte Mal in Benkai verwandelt hatte. Vor zwei Jahren hatte sie eine Affäre mit einem japanischen Filmproduzenten gehabt, der sich dann als absolut verbrecherisches Individuum herausgestellt hatte, als Prote143
ge eines wohlhabenden japanischen Geschäftsmannes, dessen Industriespionagering Hunderte von amerikanischen Geschäftsgeheimnissen gestohlen hatte. Gemeinsam hatten sie mehrere Morde auf dem Gewissen. Jan hatte sich mit einem Wahnsinnigen eingelassen. Über den Produzenten und den Industriellen fand sie ein, zwei Dinge heraus, die sie besser nicht gewußt hätte. Frank, der gute Reporter und gute Cop, brachte dann sogar noch mehr in Erfahrung. Von Benkais Geist besessen, tötete Todd schließlich beide, um ihnen das Leben zu retten. Und das erledigte er mit einer Kaltblütigkeit, daß sich Jan der Magen umdrehte. Außerstande, den alten Geist zu beherrschen, der sich seiner bemächtigt hatte, versuchte Todd sogar, Frank umzubringen. Im Wohnzimmer sagte jetzt Jan zu DiPalma: »Wenn Benkai auftaucht, stirbt jemand. Das darfst nicht du sein. Um Himmels willen, das darfst nicht du sein.« Sie lief zu ihm, und er schloß sie in die Arme. »Ich liebe dich«, sagte sie. DiPalma drückte sie eng an sich und küßte ihr das Haar. Und weil er ihr glauben wollte, flüsterte er: »Ich liebe dich auch, Jan.« Ihm fielen die Worte seines Vaters ein: Du liebst eine Frau, oder du kennst sie. Einen Mittelweg gibt es nicht. Im Leben wie in der Liebe sah Frank selten einen Mittelweg. Als Junge war er auf die High School gegangen und hatte in seiner Freizeit im Großmarkt seines Vaters mitgearbeitet, wenn er nicht gerade für sein Footballteam stürmte, das einmal dreißig Spiele hintereinander nicht verloren hatte. Zwei Jahre am College langweilten ihn später dermaßen, daß er sich freiwillig bei der örtlichen Militärbehörde meldete, um den Kriegsdienst hinter sich zu bringen. Auf der Suche nach Aufregung arbeitete er sich beim Militär nach oben bis in die Abteilung für Verbrechensaufklärung, die ihn nach Berlin schickte. In den meisten seiner Fälle hatte er es mit Jungs aus den Südstaaten zu tun gehabt, die zu einsam, zu gelangweilt oder einfach zu dämlich waren, um sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. DiPalma bearbeitete Drogendelikte, Sexualverbrechen und Diebstahl 144
von Armeebesitz. Auch Psychos, die ihre Offiziere umgebracht hatten, und weiße Rassisten, die Negerbars mit Bomben in Brand steckten. Mäßigung wirkte bei den kriminell Veranlagten überhaupt nicht. DiPalma überlebte nur, weil er sich überall Respekt verschaffte. Nachdem er seinen Dienst abgeleistet hatte, kehrte er nach New York zurück, mit einer Abneigung gegen die Südstaatler und gegen den Strafvollzug in der Armee, den er für veraltet und einseitig hielt. Er heiratete ein Mädchen, das er seit fünfzehn Jahren kannte und das ihm jeden Monat zwanzig Briefe während der eineinhalb Jahre seiner Abwesenheit geschrieben hatte. Da er möglichen Arbeitgebern nur seine Erfahrung bei der Armee vorweisen konnte, ging er zur Polizei, wo er in seiner zwanzigjährigen Karriere sechs Straftäter tötete und neben
drei Partnern beim Streifendienst auch seine Frau und seine Tochter verlor. Weil so viele Menschen um ihn herum starben, nannte man ihn auch den >Todesvogel< und >Mr. Good-bye.<. Die Hispanoamerikaner kannten ihn unter dem Spitznamen muerte, Tod. Seine Spezialität waren Drogen. Sehr früh erkannte er, daß das mehr als nur eine Wachstumsbranche war. Sie florierte unaufhaltsam, weil sie unglaubliche Gewinne abwarf. Für verbotene Drogen gaben die Amerikaner mehr aus als für Essen, Sex, medizinische Betreuung, neue Kleider, Autos, Erziehung. Auf der ganzen Welt brachten Drogenschieber Polizisten, Staatsanwälte und Richter um, wenn sie sie nicht bestechen oder einschüchtern konnten. Für DiPalma war das jedoch nicht das Schlimmste. Am schlimmsten war die Erkenntnis, daß amerikanische Geheimdienste den Drogenschiebern mit Geld, Waffen und Hinweisen halfen, und das nur aus dem einen beschissenen Grund, aus dem sie alles machten — nämlich der nationalen Sicherheit wegen. Die Gesetzeshüter kämpften im Drogenkrieg an vorderster Front, während der CIA ihn noch anfachte, indem er Rauschgifthändler als Gegenleistung für Informationen und politische Protektion nach Kräften unterstützte. Nachdem DiPalma Frau und Kind durch die 145
Hand der Drogenschieber verloren hatte, kam er zu dem Schluß, daß es überhaupt nichts einbrachte, unaufhörlich zu scheitern. Da ein Kompromiß nicht in Frage kam, verabschiedete sich DiPalma aus der Polizei mit der Pension eines Detective Lieutenant und vierunddreißig Belobigungen nachdem sein linkes Bein von Gewehrkugeln zerfetzt und mit Muskeln aus seiner rechten Gesäßhälfte wieder zusammengeflickt worden war. Seinen Job als Kriminalreporter beim Fernsehen verdankte er dem Einfluß eines Senators aus New York. Dessen siebzehnjährige Tochter hatte einmal in Schwierigkeiten gesteckt, bis DiPalma die Negative und sämtliche Kopien eines Pornofilms verbrannte, den ihr schwarzer Freund und andere Jungs mit ihr gedreht hatten, als sie von Angel Dust high war. Was DiPalma an Fernseherfahrung fehlte, machte er durch Anständigkeit, Witz und — der Fanpost von Frauen nach zu urteilen — Sexappeal wieder wett. Seine Informationen bezog er aus den Quellen, deren er sich als Polizist bedient hatte. Dazu zählten Politiker, Leute von Spezialeinheiten des FBI oder DEA, mit denen er zusammengearbeitet hatte, ausländische Diplomaten, lateinamerikanische Callgirls, Anwälte vom Justizministerium und drei süchtige Rauschgiftdealer. Die Folge waren hohe Einschaltquoten, große Dollarscheine, Preise für hervorragende Recherchen und ein geräumiges Büro, das er allerdings selten aufsuchte, da er die Straßenarbeit bevorzugte. Er lehnte es ab, sich die Haare für die Kamera färben zu lassen oder Sprachstunden zu nehmen, damit er seinen Brooklynakzent loswurde. Zu einer Hornbrille ließ er sich genausowenig bewegen wie zu einer Weste oder zum Lächeln, wenn ihm nicht wirklich danach war. Anstatt über die angesprochenen Änderungen zu diskutieren, hatte er schon öfter Redaktionsgespräche einfach verlassen. Die Fernsehgewaltigen kapierten dann schon, daß er sie nicht brauchte, also ließen sie ihn in Ruhe. Und brauchten ihn selbst immer mehr. Bei der Fernsehgesellschaft hatte er Jan kennengelernt. 146
Sie war dort für sämtliche Serien und Spielfilme in New York zuständig. Eine gescheiterte Ehe und eine geplatzte Laufbahn als Schauspielerin hatten sie in den Job der Produzentin getrieben. Sie erledigte ihre Arbeit gut — doch machte sie ihr auch Spaß? »Darauf antworte ich dir mit einem eindeutigen >vielleicht<«, sagte sie zu DiPalma. »Jemand hat mal das Filmemachen eine Scheinschwangerschaft genannt. Solange jedenfalls das Bildungsniveau so niedrig bleibt, werde ich wohl ganz gut davon leben können.« Es war fast Liebe auf den ersten Blick. Sie erlebten zusammen eine verrückte, wilde Zeit, wie Jan es nannte. Von ihrem Ehrgeiz und Ego abgesehen, war sie verletzlich und sanft. Sie war ehrlich, zugleich von einer Leidenschaftlichkeit getrieben, die zwischen Liebe und Haß hin und her sprang. Wie sie selbst zugab, lag ihr größter Fehler darin, daß sie Irrtümer beharrlich wiederholte, vor allem, wenn sie Männer betrafen. DiPalma fand sie unwiderstehlich. Ihre Ratschläge über die richtige Kleidung vor der Kamera und den Umgang mit den Fernsehgewaltigen halfen ihm, nahmen ihm ein bißchen die Anspannung in einer Welt, in der er sich niemals wirklich wohlfühlen konnte. Er bekam Gelegenheit, sich zu revanchieren, als ein stellvertretender Direktor Jan mit der Kündigung drohte, wenn sie nicht mit ihm ins Bett ginge. Auf DiPalmas Vorschlag hin sagte Jan einem Treffen mit dem Direktor zu. Es sollte in dem Hotel stattfinden, in dem die Gesellschaft eine Luxussuite gemietet hatte. An ihrer Stelle erschien DiPalma und legte seine .38er Smith & Wesson, für die er auch einen Waffenschein hatte, auf den Tisch. Der Direktor machte große Augen bei ihrem Anblick. So ein blöder Zivilist, dachte DiPalma, der im ganzen Leben noch keine geladene Pistole gesehen hat. Dürfte nicht allzu schwer sein, dem Kerl beim Gewissen zu packen. »Sprechen wir über Jan«, schlug DiPalma dem entsetzten Direktor vor. Das Gespräch dauerte nicht lange. M7
DiPalma willigte auch in eine Unterredung mit Jans ExEhemann Roy Pesta ein. Der schnupfte für sehr viel Geld regelmäßig Kokain und wollte, daß Jan einen Teil davon bezahle. Wenn sie sich weigerte, würde er ihr Säure ins Gesicht schütten. Selbst ohne seinen Nasenkitzler hatte Roy ein hitziges Gemüt. In dem einen Jahr Ehe mit Jan hatte er ihr die Nase, die Rippen und den linken Daumen gebrochen. Daß sie die neueste Drohung ernst nahm, war keine Überraschung. Doch DiPalma sagte zu ihr: »Gibst du ihm das Geld, wirst du den Schweinehund nie
los. Jedesmal wenn er pleite ist, kommt er wieder, oder er hat wegen seiner Schulden die Dealer am Hals. Laß mich mit ihm reden.« Das Apartment in der Houston Street, das Roy Pesta mit einer Tänzerin namens America Coco teilte, war mit seinen zerbrochenen Fensterscheiben und dem Hundedreck am Boden ein Schweinestall, zumal sämtliche Möbel fehlten. Der sonnengebräunte, gutaussehende Roy Pesta, der einst jeden Oberkellner in Manhattan gekannt hatte und einen Stoß Karten einhändig mischen konnte, spürte jetzt die Folgen von zuviel Schnee. Der Schnee hatte ihn auch unberechenbar, wenn nicht ausgesprochen gefährlich gemacht. Er bedeutete DiPalma verächtlich: »Blas die Sache zwischen dir und meiner Ex-Frau bloß ab.« Dann verfluchte er Jan, erklärte DiPalma, daß er Italiener nicht ausstehen könne, machte schließlich den Reißverschluß auf und urinierte gefährlich nahe vor DiPalmas Schuhen. Als DiPalma ihn ein Arschloch nannte, ging Pesta mit einem verrosteten Waffeleisen auf ihn los. Mit seinem Stock zerbrach ihm DiPalma das rechte Handgelenk und brachte ihm eine Schädelfraktur bei. Das hinderte den Kerl jedoch nicht daran, auf das Geld zu bestehen. Sein Rechtsanwalt und der von DiPalma setzten sich zusammen. Das Beste, was DiPalma herausholen konnte, war ein Vergleich, der ihm die Kosten für Pestas Arztkosten auferlegte. Außerdem mußte er fünf Riesen hinblättern. »Vergessen Sie Ihre Notwehr«, sagte DiPalmas Rechtsanwalt. »America Coco ist bereit, vor Gericht zu beschwören, daß 148
Sie Pesta grundlos angegriffen haben.« Der Umstand, daß DiPalma mit Pestas Ex-Frau ins Bett ging, machte die Sache auch nicht leichter. DiPalma zahlte die fünf Riesen. Damit konnten Pesta und America Coco nach Houston fahren, wo er an einem Sonntagnachmittag im Crackrausch nach einem Schraubenzieher griff und Achtundachtzigmahl auf America Coco einstach. Jan war nicht auszuloten und sinnlich, DiPalma treu und ernst, ein beharrlicher Mann, den sein Naturell dazu zwang, einer Frau zu folgen, die sogar dann vor ihm weglief, wenn sie in seinen Armen lag und ihm sagte, daß sie ihn liebe. Sie warnte ihn vor ihrer Rastlosigkeit, vertraute ihm an, daß sie in jedem Augenblick ihres Lebens mit sich selbst kämpfe. DiPalma sei der erste Mann in ihrem Leben, der stärker sei als sie, und das sei entweder das Schönste oder das Schlimmste, das sie je erlebt habe. »Liebst du mich?« fragte DiPalma sie. »Ja«, sagte sie. »Mit dir fühle ich mich sicher. Könnte ich dir nur versprechen, daß ich dir nie wehtun werde! Aber das kann ich nicht. Gott möge es mir verzeihen, aber ich kann es nicht.« DiPalma erinnerte sich daran, daß es in der Liebe keinen Mittelweg gab und bat sie, ihn zu heiraten. Als sie einwilligte, sagte er ihr, daß er im ganzen Leben kein größeres Glück gekannt habe. Zurück zur Wohnung in Brooklyn Heights. DiPalma reichte Jan einen Dewars on the Rocks, den sie nahm, ohne den Blick von Todd zu wenden. Sie und der Junge saßen gemeinsam auf einem Samtsofa. Jan hing Todd, der leise auf sie einredete, schweigend an den Lippen. »Todd soll ruhig seine Geschichte erzählen«, sagte DiPalma. »Der Junge hat diese Sache vierhundert Jahre mit sich herumgeschleppt, wer also könnte besser Bescheid wissen?« Während Todd also Jan von der Beziehung zwischen ihm und Lin Pao erzählte, saß DiPalma in einem Korbsessel. Der Junge sprach von der Zeit, in der er Benkai gewesen war, 149
und Kiichi, der Heeresführer von Benkais Fürst Saburo, sein größter Feind; er berichtete, wie Kiichi Saburo verraten und so die Verwüstung des großartigen Schlosses und das Blutbad unter seinen Bewohnern verschuldet hat. Kiichi hatte auch den Kommandanten von Saburos Schloßwache ermordet, einen tapferen, ehrenhaften Mann namens Asano. Dieser Asano, Benkais engster Freund, sei in diesem Leben als der junge Chinese Benjy Lok Nein wiedergeboren worden. Das Sklavenmädchen, das Benkai gehört hatte und von Kiichi in einem Anfall von Eifersucht vor 400 Jahren ermordet worden war, lebe in der heutigen Welt als junge Taiwanesin mit dem Namen Joan. Die Götter hätten beschlossen, daß Todd, Benjy und Joan jetzt an Kiichi, der sich in diesem Leben Lin Pao nannte, Rache nehmen müßten. Als Krieger müßten Todd und Benjy ihre Pflicht gegenüber Saburo erfüllen und Kiichi für seinen Verrat bestrafen. Die Ehre verlange, daß sie Treue übten, bis sich die Götter zufriedengaben. Die Götter gaben sich aber erst zufrieden, sagte Todd, wenn diejenigen, die den Schutz Saburos gelobt hatten, ihren Herrn rächten. Joan habe eine Verpflichtung sich selbst gegenüber. Sie müsse lernen, richtig zu urteilen, ohne Zögern das Richtige zu tun. Mit ihrer Rache an Kiichi würde sie ein Gespür für das moralisch Richtige entwickeln. Sie würde die Bedeutung der echten Vernunft erkennen und den Mut aufbringen, sich ein weises Urteil zu bilden. DiPalma erklärte, daß die drei Jugendlichen ihn nach Manila begleiten würden, wo er den Beweis erhalten sollte, daß Nelson Berlin für Lin Pao eine Geldwaschanlage betreibe. Er erzählte Jan auch, daß er Martin Mackie versprochen habe, das Feuer in Manila zu untersuchen, bei dem Angela Ramos und Dutzende andere junge Filipinas umgekommen waren. »Und daß meine Hotelsuite abgehört wird, gehört das auch dazu?« fragte Jan. DiPalma nickte. »Ja. Berlin glaubt, daß van Rooten mit dir über ihn und Lin Pao gesprochen hat. Du weißt ja, daß van 150
Rooten und sein Vater sich nicht mögen. Es sieht so aus, als wolle Greg es seinem alten Herrn heimzahlen.« Jan schaute in ihren Drink. »Gregory hat mir nichts erzählt. Was Nelson Berlin betrifft, so weiß ich, daß er ein kleiner Wicht ist, der gleich viel größer wird, wenn er sich auf sein Geld stellt. Ich weiß auch, daß er als Arbeitgeber das Letzte ist. Versteh mich bitte nicht falsch. Mir ist vollkommen klar, daß Gregory van Rooten der Sohn von einem Schweinehund ist und mich benutzt hat, um wieder an dich heranzukommen. Jedesmal, wenn ich daran denke, könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Aber er hat mich nie ins Vertrauen gezogen. Glaube mir, wenn ich irgend etwas wüßte, das ihm den Schlaf rauben könnte, ich würde es dir mit dem größten Vergnügen verraten. Übrigens, wann lerne ich Benjy und Joan kennen?« »In ein paar Minuten«, antwortete DiPalma. »Benjy ruht sich in Todds Zimmer aus, und Joan hat das Gästezimmer. Einer von Lin Paos Leuten hat Benjy gestern nacht angeschossen. Die Kugel hat den Rücken getroffen, ist aber nicht steckengeblieben und hat keinen Knochen zerschmettert. Todd pflegt ihn.« DiPalma berichtete nun über die vergangene Nacht, wie er Todd, Benjy und den anderen in der Mott Street hinterher gelaufen war. Gegen die leichtfüßigen Jugendlichen hatte er nichts ausrichten können. Seine Beine waren nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren. Weit vor ihm waren sie mit dem Tempo einer Olympiastaffel in die Elizabeth Street rechts abgebogen. Bis er die Ecke erreicht hatte, war von Todd und seiner Bande weit und breit nichts mehr zu sehen gewesen. DiPalma hatte sich erschöpft und halbtot gefühlt, wie es eben einem Mann mittleren Alters leider zukam. Um drei Uhr morgens, als Todd mit dem verwundeten Benjy und der jungen Chinesin heimkam, saß DiPalma wach in der Wohnung. Er hatte auf ihn gewartet. Er wartete auf eine Erklärung, warum Todd sich mit Benjy Lok Nein herumtrieb, der schon in Lin Paos Auftrag Menschen umge151
bracht hatte. Todds Augen blitzten. »Erklärungen können warten!« rief er. »Benjy braucht Pflege!« Todd nahm Benjy mit auf sein Zimmer, dann legte er ihn auf den Bauch und fuhr mit den Daumen über Benjys Rückgrat, bis die Blutung auf Benjys Rücken zum Stillstand kam. Anschließend holte er Wurzeln und Rinde aus einem Koffer unter dem Bett, kochte daraus eine Medizin und trug sie auf Benjys Wunde auf. Er braute auch Kuko-Tee, den er schon mit Erfolg DiPalma für dessen kaputten Magen verschrieben hatte; davon flößte er Benjy zwei Tassen ein. Erst als Benjy eingeschlafen war, setzte sich Todd zu DiPalma und erzählte ihm alles. Auf den ersten Blick war die Geschichte zu unwahrscheinlich, als daß man sie glauben konnte. Aber sie kam ja von Todd, und das hieß: DiPalma hatte keine andere Wahl, als sie zu glauben. Genauso wie Todd es sich nicht hatte aussuchen können, daß Benkai in ihn gefahren war. DiPalmas Sohn brauchte Hilfe. Desgleichen Jan und Martin Makkie. Jan sagte: »Ich wußte sofort, daß etwas los war, als ich heute morgen dein Telegramm bekam. Du hättest mich normalerweise nie aufgefordert, dich von einer Telefonzelle aus anzurufen. Der Typ, der anderen Streiche spielt, warst du noch nie. Das alles machst du nur wegen mir, weil ich so dumm war und mich mit Greg eingelassen habe.« »Ich muß nach Manila. Sie zapfen dein Telefon an. Das heißt, die Sache kann noch ungemütlich werden, wenn ich ihnen nicht einen Strich durch die Rechnung mache. Schließlich ist Todd mein Sohn. Ich kann ihn mit der Sache nicht allein lassen. Und auch er wird mich nicht allein ziehen lassen. Das ist alles. Außerdem — wenn ich Nelson Berlin und Lin Pao das Ganze anhängen kann, habe ich eine Mordsgeschichte.« Jan runzelte die Stirn. »Der Polizist aus England, der dir in Hongkong geholfen hat? Hat er dich gebeten, Angelas Tod unter die Lupe zu nehmen?« »Ja.« 152
»Mit anderen Worten — du wärest auch dann nach Manila geflogen, wenn ich so viel Verstand gehabt hätte, die Hände von Greg zu lassen und wenn Todd er selbst geblieben wäre?« Lächelnd hob DiPalma die Schultern. »Kein Mittelweg, weißt du noch?« Er stand auf. »Willst du dir Benjy und Joan anschauen?« Sie erwiderte: »Geh du nur voran. Ich möchte Todd etwas fragen.« Als DiPalma das Zimmer verlassen hatte, fragte sie Todd: »Werdet ihr alle vier von Manila zurückkehren?« Todd ergriff ihre Hand und schüttelte den Kopf. Entsetzt schloß Jan die Augen und wollte ihn schon fragen, wer von ihnen sterben würde. Aber dann beschloß sie, daß sie es nicht wissen wollte. Das war ihre Art, Frank ein bißchen länger am Leben zu erhalten. *53
10 In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts war Shanghai Chinas größte Stadt. Wer nur mit dem Finger auf der Landkarte reiste, sah in ihr ein Symbol für Intrigen, Verschwörungen und Romantik, eine typische Vertreterin des geheimnisumwitterten Ostens. Die Chinesen indes sahen ein ganz anderes Shanghai, eines, das die dunklen Seiten der Ausländerherrschaft symbolisierte, in dem fremde Armeen ausländische Geschäftsinteressen schützten, Kinder dreizehn Stunden täglich in Fabriken arbeiteten, die sich in westlichem Eigentum befanden, und Schilder vor den Parks Hunden
und Chinesen den Eintritt untersagten. In diesem Shanghai ließen amerikanische Fabrikbesitzer chinesische Sklaven für sich schuften, betätigten sich verbannte Komtessen aus Moskau als Prostituierte und Spioninnen, verschrieben sich Opiumdealer, Waffenschieber und britische Bankiers der leidenschaftlichen Jagd nach Geld, lebten verkrüppelte Bettler, kommunistische Eiferer und minderjährige Straßenmädchen ihre unmöglichen Träume aus. Shanghai. Ein Kaleidoskop von Menschen, Wohlstand, Erniedrigung und Intrigen. Die Königin des Ostens und die Hure Chinas. Der schillernde Ruf der Stadt geht auf den Opiumkrieg von 1842 zurück. Damals versuchte China Großbritannien daran zu hindern, das Land mit Opium zu überschwemmen. Die Briten gewannen den Krieg und zwangen China, ihnen Hongkong zu übergeben und weitere fünf Häfen, darunter Shanghai, für die britischen Händler zu öffnen. Amerika, Frankreich und Japan verlangten ähnliche >Zugeständnisse< — Bankhäuser, Import- und Exportniederlassungen, Militärgarnisonen wurden gegründet. Alle diese 154
Zugeständnisse, die Konsulate eingeschlossen, standen nicht unter chinesischem Gesetz. Hundert Jahre danach war Shanghai Chinas reichste und eleganteste Stadt, eine Mischung aus Ost und West. Die Fremden aus dem Westen hatten ihre eigenen Wolkenkratzer und Häuserblocks gebaut, arrogante, häßliche, Festungen gleichende Gebäude entlang einer breiten Prachtstraße am Ufer des Flusses Huangpu. Mit Ausnahme des chinesischen Teils verwaltete sich jedes ausländische Viertel selbst und schützte sich mit eigenen Truppen und Polizeieinheiten. Armee, Marine und Polizei bewachten die damals weltweit größte Ansammlung von Auslandskapital. Allein Englands Anteil in Shanghai betrug vierhundert Millionen Pfund. Die Fremdherrschaft über die Wirtschaft zwang die meisten Chinesen zu erbärmlichen Lebensbedingungen in entsetzlicher Armut. Die Empörung darüber verwandelte Shanghai in eine Brutstätte für Revolutionäre, Radikale und politische Extremisten. 1921 wurde im zweiten Stockwerk einer Mädchenschule in der >Straße des Freudigen Unternehmertums< die Kommunistische Partei Chinas gegründet. Sofort gab es Konflikte mit General Tschiang Kai-schek, dem Zwerg, der mit seiner Fistelstimme an der Spitze der Kuomintang (KTM) stand, Chinas herrschender politischer Partei. Die KTM gab sich fortschrittlich, so als wolle sie die Fremdherrschaft beseitigen und eine modernisierte demokratische Nation schaffen. Tatsächlich aber war sie nicht fortschrittlich, sondern inkompetent und korrupt. Im blühenden Shanghai lag die inoffizielle Macht in den Händen der Triad. Drogenhandel, Glücksspiel, Erpressung und Prostitution hatten die Geheimgesellschaft reich gemacht, ihre Mitgliederzahl ging in die Tausende. Zu den Verbündeten und Fürsprechern zählten Diplomaten, Bankiers, führende Mitglieder der Gesellschaft. Selbst Tschiang Kai-schek zollte als langjähriges Mitglied der unbegrenzten Macht der Geheimgesellschaft seine Achtung. Als sich Tschiang Kai-schek entschloß, Shanghai, Chinas 155
Kronjuwel, zu besetzen, verzichtete er bewußt auf die Armee. Seine eigenen Männer erschienen ihm für eine solch wichtige Aufgabe ungeeignet. Lieber verließ er sich auf die Triad. Und die enttäuschte ihn auch nicht. Wie versprochen, übergab sie dem kleinen General die Stadt, nicht ohne Tausende von Kommunisten, Liberalen und streikenden Arbeitern zu foltern und niederzumetzeln. Tschiang benutzte diese Gelegenheit auch, sich gefurchterer oder verhaßter KTM-Mitglieder zu entledigen. Die Frauen und Töchter der Besiegten wurden an Bordelle oder Fabriken in der Stadt verkauft. Eine Chance sich zu bereichern, die der kleine General nicht wahrnahm, gab es nicht. Als Tschiangs Vollstreckerin erreichte die Triad formelle Anerkennung in der Politik des Landes. Zum alten Mitgliederstamm von Beamten, Journalisten und Geheimagenten gesellten sich immer mehr Botschafter, Bankiers, Industrielle sowie Tschiangs Generäle. Drei Führer der Unterwelt wurden als Regierungsberater geehrt. Einer erhielt den Rang eines Dreisternegenerals. Der Himmel hatte der Geheimgesellschaft einen die kühnsten Träume übersteigenden Erfolg beschert. Tschiang seinerseits ließ den Drogenhandel nicht aus den Augen. Mit der Triad arbeitete er einen Vertrag aus, der ihm auf Jahre die Taschen mit Dollars aus dem Rauschgiftgeschäft füllte. In dem Rennen um Geld kam der kleine General nie als letzter ins Ziel. Lin Pao wurde in einer Kleiderfabrik in Shanghai geboren. Ein jähzorniger Aufseher hatte seiner dreizehnjährigen hochschwangeren Mutter in den Magen getreten, so daß die Wehen sofort einsetzten. Das dünne, dunkelhaarige Mädchen - sein Name war Kon - brachte Pao vor der Maschine, an der es zwölf Stunden täglich arbeitete, zur Welt. In der Nacht schlief es unter einer schmutzigen Baumwolldecke. Keine von den minderjährigen Arbeiterinnen durfte ohne Erlaubnis die von hohen Mauern umgebene und scharf bewachte Fabrik verlassen. 156
Ihre Familie hatte Kon für die Dauer von fünf Jahren als Sklavin an die im Besitz von Franzosen befindliche Fabrik verkauft. Dort hatte sie der Aufseher, Tschung Sung, vergewaltigt. Der stämmige Vierzigjährige, ein ehemaliger Rikschafahrer, bot auch die Jungen in der Fabrik für Geld pädophilen Geschäftsleuten aus dem Ausland an. Erfüllten die Kinder die Tagesnorm bei der Kleiderproduktion nicht, drohte ihm die Entlastung. Sollten doch lieber die kleinen Scheißer bei der Arbeit verrecken, bevor er die Stellung mit dem lukrativen
Nebenjob als Kuppler verlor. Seinen Job zu behalten, bedeutete ihm mehr als Kons Schwangerschaft. Als das überforderte Mädchen im achten Monat vor ihrer Maschine in Ohnmacht fiel, trat sie der leicht reizbare Aufseher mit dem Stiefel und leitete so Lin Paos Geburt in die Wege. Für die erschöpfte Kon und ihr kleines Baby hatte Sung keine Verwendung. Er brauchte ja gesunde Arbeiter, wenn er seinen Job behalten wollte. Schnell waren Mutter und Kind an Teng Sen, einen fünfzig Jahre alten klumpfüßigen Totengräber verkauft. Teng war nicht nur Alkoholiker, er hatte auch nicht alle Sinne beisammen. Jeden Tag grub er die Leiche seiner Mutter aus, wickelte sie in eine Decke, trug sie auf den Schultern durch Shanghais Straßen und zeigte den Leuten die Veränderungen seit ihrem Tod. Er war zudem ein Geizkragen, der im Jahr lediglich drei Kerzen verbrauchte und sich mit den Hunden um Abfälle aus den Metzgereien raufte. Teng lebte unter verkrüppelten Bettlern in der Altstadt, dem Chinesenviertel, in einem fauligen Slum von niedrigen, dicht gedrängten Holzhütten, wo immer wieder die Cholera ausbrach. Die Leichen der Armen, die an Hunger oder Entkräftung gestorben waren, pflasterten die engen Gassen. In den vielen Bordellen der Altstadt arbeiteten Mädchen, die alle nicht älter als vierzehn waren; die meisten von ihnen wurden keine zwanzig. Das Leben bei dem verrückten Teng war so schrecklich, daß kein Mädchen lange durchhielt. Diejenigen, die nicht unter seinen Händen verreckten, rannten entweder weg 157
oder begingen Selbstmord. Kons Hölle dauerte fast drei Jahre, bis ihr Teng in einem Tobsuchtsanfall im Suff mit den Zähnen die Gurgel aufriß. Der ausgemergelte Leichnam wanderte zu den dreißigtausend Leichen von unerwünschten Babys, Hungertoten und Mordopfern, die jedes Jahr in den Flüssen, Kanälen und Seitengassen der Stadt gefunden wurden. Das Leben des kleinen Lin Pao bei Teng war um keinen Deut besser als das seiner Mutter. Mit brutalen Methoden zwang ihn der Totengräber, auf den Straßen als Bettler und Taschendieb zu arbeiten sowie als Führer, der den Touristen auf ihre eigene Gefahr hin das chinesische Viertel zeigte. Er bestahl auch Lebensmittelstände und Betrunkene und kämpfte mit anderen jugendlichen Lumpensammlern um das Erstrecht auf die Abfälle der Stadt. Wenn Pao mit schlecht gefüllten oder leeren Taschen heimkam, setzte es gnadenlos Prügel. In Tengs Augen war der Junge nichts anderes als ein launischer kleiner Trottel mit einem unverschämten Ausdruck in den Augen. Als er zwölf wurde, hatte Lin Pao schon drei Jähre als Totengräber gearbeitet und den Lohn stets an Teng abgegeben. Er war kräftiger als die meisten Jungen in seinem Alter, außergewöhnlich energisch und fest entschlossen, sich des verhaßten Totengräbers zu entledigen. Dem mißtrauischen Hitzkopf Lin Pao fiel es schwer, sich jemandem anzuvertrauen oder die eigenen Gefühle zu beherrschen. Er machte seiner Meinung Luft, suchte sofort Streit und schlug so kräftig zu, daß sogar Polizisten ihn fürchteten. Schon bald fiel er den örtlichen Gewaltverbrechern, Drogenschiebern und Triad-Mitgliedern der Hundertschrittvipern ins Auge. Und da Lin Pao die Triad dem Leben bei Teng vorzog, machte er sich davon. Aber zuerst übte er Rache an dem wahnsinnigen Totengräber, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte. Pao mischte ein Unkrautvernichtungsmittel unter Tengs Lieblingsessen, Schweinefleisch mit Kohl. Auf diese Weise starben der Totengräber und seine letzte Freundin eines 158
qualvollen Todes. Da das Mädchen, das Teng genauso wie seine Vorgängerinnen geschunden hatte, schwachsinnig war, konnte man sich nicht darauf verlassen, daß es ein Geheimnis für sich behielt. Besser er brachte sie also auch um, überlegte sich Pao, als daß er ihr von dem Gift erzählte. Bei Tausenden von Slumbewohnern, die jeden Tag an Hunger, Krankheiten oder durch Gewalt starben, fielen Paos zwei Morde nicht auf. Die Polizei erleichterte sich die Arbeit, indem sie die meisten Todesfälle in der Altstadt als natürliche registrierte, ob das nun stimmte oder nicht. Bei Teng Sen und seiner zurückgebliebenen Sklavin lautete der Befund auf Herzversagen. Beide wurden verbrannt, und ihre Asche wurde in einen nahegelegenen Kanal geworfen. Die Hundertschrittvipern setzten Pao als Läufer zur Übermittlung von Botschaften, Drogen und Geld zwischen Triad-Mitgliedern ein. Er arbeitete hart, hielt den Mund geschlossen und die Augen offen. Den Befehlen gehorchte er ohne zu fragen, bezeugte Älteren seinen Respekt und stand bald im Ruf besonderer Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit. Kurz nachdem er bei der Triad angefangen hatte, lernte Pao seinen ersten wirklichen Freund kennen, Son Sui, einen anderen Läufer. Er war der uneheliche Sohn eines Opiumdealers und eines fünfzehnjährigen Küchenmädchens. Da ihn der Vater im Stich gelassen hatte, lebte der Läufer auf einer Mülldschunke am Fluß Wangpu. Son Sui, ein kleiner, fröhlicher Junge, hatte einen verkrüppelten Fuß und war gerissen. Seine Energie und Lebensfreude, gepaart mit seinem hellen Kopf, zogen Lin Pao an. Obwohl er ein Jahr jünger war als Lin Pao, hatte Son mehr Selbstvertrauen. Er brachte Pao zum Lachen und zeigte ihm die komischen Seiten des Lebens. »Alles ist lustig, solange es anderen passiert«, sagte Son zu ihm. Son war es auch, der dem Analphabeten Pao die ersten Ansätze einer Erziehung vermittelte, ihm erklärte, wie man Zeitungen las, ihm die ersten englischen Worte beibrachte und darauf bestand, 159
daß Pao ins Kino ging, um seinen Horizont zu erweitern. Er brachte ihm auch die chinesische Oper nahe, für die
Pao später eine lebenslange Begeisterung entwickelte. Während er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn klopfte, sagte Son: »Klug sein, heißt auch Glück haben. Also, mein großer Freund: Schau, daß du klug wirst, dann kommt das Glück nach.« Son teilte mit Pao Essen, Kleider und den Müllkahn ebenso wie sein Wissen über die Aktivitäten und die Geschichte der Triad. Wie Son ihm erklärte, war sie eine seit achthundert Jahren bestehende Vereinigung von Geheimbünden der Politiker und Militärs. Der Name kam vom gleichseitigen Dreieck und stand für Mensch, Himmel, Erde. Angefangen hatte die Triad mit der Unterstützung der Armen in ihrem endlosen Kampf gegen die Reichen. Die ersten Mitglieder kamen aus dem Stand der Bauern, Bettler, Diener und Mönche. Vereint waren sie alle durch ihren Patriotismus. Heutzutage, meinte Son, kümmerten sich die Geheimbünde nicht mehr allzusehr um den Patriotismus. »Unser Geschäft ist das Geschäft«, erklärte er Pao. »Die Ausländer nennen uns Verbrecher, aber sie wissen wenig über China. Ist es denn falsch, wenn ein Armer Geld für seine Arbeit will? Und wer kann schon sagen, wie diese Arbeit aussehen soll?« »Wir sind eine Familie«, erklärte Son weiter. »Mitglieder können immer auf die Hilfe ihrer Brüder bauen. Einmal drinnen, immer drinnen.« Bislang hatte Pao sich die Menschen vom Leib gehalten, weil er keinem traute und in jedem etwas sah, von dem mehr Schlimmes als Gutes ausging. Er merkte jedoch, wie sehr ihn Sons Intelligenz anzog und wie freudig er auf seine gutmütigen Neckereien einging. Zum erstenmal fand er Gefallen an der Gesellschaft eines anderen Menschen. Früher war der schmächtige, verkrüppelte Son der Prügelknabe von Schlägern gewesen, die ihm das überlegene Hirn und die Fähigkeit zu lesen nicht gönnten. Lin Pao beendete die Schikanen mit seinen Fäusten, Füßen und Zäh160
nen und auch mit Steinen, Messern sowie einen gestohlenen Polizeiknüppel. Im Kampf war er gnadenlos und ließ nicht locker, bis er gewonnen hatte. Shanghais junge Verbrecher merkten blad, was es bedeutete, wenn sie Son Sui belästigten — sie brachten Lin Pao mit seiner gewalttätigen Energie gegen sich auf. Die zwei wurden unzertrennlich. Zusammen hurten sie herum und rauchten Opium, raubten betrunkene französische Matrosen aus und stahlen die Zobelfelle, mit denen die Reichen den Motor ihrer geparkten Limousinen abdeckten. Weniger als ein Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten, schworen sie den rituellen Eid bei ihrer Blutsbrüderschaft, gelobten, daß sie einander beschützen, ihr Vermögen immer teilen und sich um die Kinder des anderen kümmern würden. Jeder sah im anderen einen Freund, der mehr wert war als zehntausend Verwandte. Juli 1937. Japan fiel in China ein und trieb Tschiang Kai-scheks KMT-Regierung ins Landesinnere. Die heftigsten Kämpfe gab es in den ersten zwei Jahren, in den folgenden sechs Jahren blieben größere Gefechte fast ganz aus. Japan war nicht in der Lage, Chinas gewaltiges Landesinnere zu besetzen oder das eroberte Gebiet wirksam zu kontrollieren. Mittlerweile kämpften die KMT und die Kommunisten Chinas genauso oft gegeneinander wie gegen die Japaner. Bis 1939 hatten die Japaner den Norden Chinas mit Morphium und Heroin überschwemmt, zum einen wegen der Profite, zum anderen weil sie sich davon die Zersetzung der Bevölkerung und die Schwächung ihres Widerstandes versprachen. Unter der Schirmherrschaft der Japaner lieferte die Triad die nötigen Betäubungsmittel. In manchen Teilen Chinas sah es so aus, als habe sich der Krieg von selbst erschöpft, als sei er vollständig zum Stillstand gekommen. Dort wurden aus den verfeindeten Armeen handeltreibende Organisationen, wobei raffinierte Chinesen und Japaner vorsichtig miteinander Geschäfte trieben. Neben den Drogen handelten die zwei Partner auch mit Gold, Silber, Salz, Getreide, Medikamenten und selbst161
verständlich mit Waffen. Diese für beide Seiten lohnenswerte Übereinkunft funktionierte nicht ohne die Triad. Sie galt bis zum Kriegsende. Während des Kriegs wurden Lin Pao und Son Sui in die Triad aufgenommen. In einer dreitägigen Initiationszeremonie wurde das Blut eines frisch getöteten Hühnchens in einen Weinkelch geschüttet. Anschließend wurde Paos und Sons Mittelfinger der linken Hand Blut entnommen, mit dem Inhalt des Kelchs verrührt und von allen anwesenden Mitgliedern als Symbol ihrer Blutsbrüderschaft getrunken. Beide Jungen mußten auch Räucherstäbchen nach unten halten und die 36 Schwüre der Hundertschrittvipern wiederholen. Sie bekamen eine verschlüsselte Zahl zugeteilt und lernten geheime Handzeichen, damit sie in der Öffentlichkeit mit anderen Mitgliedern in Kontakt treten konnten. Pao und Son Sui waren jetzt Mitglieder einer Organisation, die ihnen alles, was sie wollten, verschaffen konnte. Mit fünfzehn war der kräftig gebaute Lin Pao schon wegen bewaffneten Überfalls, Vergewaltigung und Mord festgenommen worden, doch vor Gericht oder ins Gefängnis hatte ihn noch keiner gebracht. Seine Wutanfälle machten es allen außer Son Sui unmöglich, ihn lange zu ertragen. Zu Prostituierten war Pao besonders brutal; aus Wut hatte er im Rausch schon drei umgebracht. Son nannte ihn als erster den Schwarzen General, nach einem Dämonen aus einem chinesischen Märchen, der junge Frauen auffraß. Wegen seiner Grausamkeit erhielt Lin Pao den Auftrag, Morphium und Heroin von Shanghai in die japanischen
Protektorate Wuhan und Nanking zu transportieren. Diese Städte im Osten waren gleich zu Anfang des Krieges gefallen. Pao lieferte auch den Besatzern im Norden Waffen und brachte Gold nach Hause. Zudem erbeutete er Medikamente bei Lieferungen aus Amerika. Die Triad verkaufte sie dann auf dem Schwarzmarkt. Die Vorstöße ins Landesinnere waren ein gefährliches Unterfangen. Den Reisenden drohte Gefahr durch Diebe, bewaffnete Vagabunden, Besatzer und chinesische und ja162
panische Deserteure. Aus diesem Grund nahmen die Triad-Führer Lin Pao immer häufiger als Leibwächter mit, wenn sie das unter den japanischen Besatzern halbwegs sichere Shanghai verließen. Pao war auch ein beeindruckender Erpresser. Ein Besuch von ihm, und die Ladeninhaber, Studentenführer und Bordellbesitzer hatten es plötzlich sehr eilig damit, sich den Standpunkt der Triad zu eigen zu machen. Wer sich weiterhin widersetzte, erhielt die traditionelle Warnung der Triad — ein Sarg wurde ihm vor die Tür gestellt. Gemeinsam nahmen sich Pao und Son Sui eines Journalisten an, dessen wenig schmeichelhaften Artikel über die Hundertschrittvipern die Triad-Führer erzürnt hatten. Pao erdrosselte die Frau des Journalisten, dann sah er zu, wie Son Sui eine Sprengladung unter der Toten versteckte. Als der Journalist wenig später die Leiche seiner Frau aufheben wollte, ging die Bombe los und ließ von ihm nicht viel übrig. »Jemand hätte unserem Freund sagen müssen, das das Leben die Quelle vielen Unheils ist«, meinte Son Sui. Ein anderer Auftrag führte Pao, Son Sui und drei weitere Männer in ein nahe gelegenes Dorf, wo sie den Bürgermeister, einen berüchtigten chinesischen Kollaborateur namens Du, beseitigen sollten. Du, ein kleiner Mann mit großen Füßen und einer langen Nase, war ein Kriegsgewinnler. Seine Leute überfielen mit Flüchtlingen besetzte Züge, die in der Nähe des Dorfes vorbeifuhren, metzelten die Passagiere nieder und rissen deren Wertsachen, Kleidungsstücke, Haustiere und sogar Goldkronen an sich. Dus letzter Zugüberfall hatte sich besonders gelohnt. Seine Männer hatten 200 Passagiere umgebracht; drei davon waren als Kuriere der Triad mit Goldbarren unterwegs gewesen. Auf dem Weg zu Dus Dorf ritten Pao und die anderen über das offene Land, als sie ein japanischer Jagdbomber sichtete. Ohne Zögern eröffnete der Pilot das Feuer und tötete alle außer Pao und Son Sui. »Wir geben nicht nach, bis wir unsere Pflicht erfüllt haben und Dus Dorf erledigt ist!« rief Pao. »Die Triad darf niemals schwach oder träge erscheinen.« 163
Da sie sich ein Pferd teilen mußten, fiel ihnen das Vorankommen schwer. In der Nacht waren sie gezwungen, anzuhalten und ihr Lager in einem Bambuswald aufzuschlagen. Dort teilten sie sich ihr Versteck mit Hirschen und wilden Fasanen. Ein Feuer hätte sie verraten, also nahmen sie ein kaltes Abendbrot ein. Pao hielt die erste Wache. Ein paar Stunden später wurde er brutal aus dem Schlaf gerissen. Als er die Augen öffnete, sah er sich von einem Dutzend Männer umringt. Alle fuchtelten mit Gewehren, Äxten, Knüppeln und Heugabeln herum. Wie ein verdammter Narr war er während der Nachtwache eingeschlafen und hatte sich von Dus Leuten gefangen nehmen lassen. Son Sui war nirgendwo zu sehen. In Dus Dorf verweigerte Pao die Antwort auf alle Fragen. Auch seinen Namen nannte er nicht. Einmal spuckte er Du sogar ins Gesicht und nannte ihn einen häßlichen Zwerg. Selbst wenn er alles erzählt hätte, soviel wußte Pao, wäre er ein toter Mann gewesen. Besser, er starb, ohne Du davor zu warnen, daß die Triad hinter ihm her war. Die Hundertschrittvipern würden Pao rächen und Du mit seiner langen Nase zu seinen Vorfahren schicken, wenn er es am wenigsten erwartete. Für sein Schweigen zahlte Pao einen schmerzhaften Preis. Er wurde bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen, dann wiederbelebt und bekam einen dreckigen, mit Urin getränkten Lappen in den Mund gestopft. Als er sich immer noch zu reden weigerte, schüttete man ihm Benzin in die Kehle und schlug ihm mit Stöcken die Fußsohlen blutig. Das brutale Verhör dauerte zwei Tage, an denen er nichts zu essen und zu trinken bekam. Du drohte Pao schließlich: »Du wirst reden, zäher Bursche, weil wir dir morgen die Hände durchbohren, einen Draht durch die Löcher ziehen und das andere Ende an einen Jeep binden. Dann schleifen wir dich durch das Dorf, bis du mich darum bettelst, dir zuzuhören.« In der Morgendämmerung sprang die Tür von Paos Zelle 164
auf, und man befahl ihm aufzustehen. Er war schon seit Stunden wach. Vor Schmerz hatte er nicht schlafen können. Auch sein Haß gegen Du hatte ihn wachgehalten. Eine Stimme befahl ihm, in der Gegenwart eines japanischen Offiziers aufzustehen. Pao blinzelte durch die verschwollenen Augen und sah drei Soldaten der japanischen Armee und dahinter Du und dessen Stellvertreter stehen. Typisch, wie die zwei Chinesen sich unterwürfig wie geprügelte Hunde vor den Siegern duckten. Pao versuchte, sich auf den ranghöchsten Offizier zu konzentrieren, einen kleinen Mann mit Khakiwaffenrock, Gamaschen und einem Degen, mit dem er herumfuchtelte. In gebrochenem Chinesisch stellte er jene Arroganz und Verachtung zur Schau, mit der sich die Japaner in ganz China verhaßt gemacht hatten. Du Scheißkerl, dachte Pao. Aufgrund des spärlichen Lichts in der Zelle und seiner verschwollenen Augen konnte Pao das Gesicht des Offiziers nicht sehen. Aber die Stimme erkannte er. Und sein Herz pochte wild. Der japanische Offizier war kein anderer als Son Sui. Und die Männer um ihn waren Mitglieder der Triad in japanischen Uniformen. Es
erforderte Paos ganze Selbstbeherrschung, keine Miene zu verziehen. Son Sui spielte seine Rolle im Stil eines guten Kinoschauspielers. Er verlangte, verlangte zu wissen, warum man den Gefangenen nicht ins japanische Hauptquartier im nächsten Dorf Dorf gebracht habe. Du setzte zu einer Erklärung an, doch Son Sui trat ihm in die Wade. »Sprich mich gefälligst mit >Euer Ehren< an«, herrschte Son ihn an. Mit einer tiefen Verbeugung und einem Wortschwall wollte sich Du entschuldigen, doch Son fuhr ihm über den Mund. »Bring den Gefangenen in dein Haus«, befahl er. »Ich wünsche ihn unter vier Augen und mit etwas mehr Komfort zu vernehmen. Hast du ein Telefon?« Du nickte stolz. Er besaß das einzige Telefon im Dorf. In Dus mit Schlamm verputztem Bambusholzhaus befahl Son der Frau von Du, seinen Männern ein Essen zu bereiten, und zwar schnell. Dann verlangte er, daß man ihn zum 165
Telefon führe. Fest entschlossen, ein guter Gastgeber zu sein und sich den fürchterlichen Zorn der Japaner nicht zuzuziehen, führte ihn der Bürgermeister in ein Hinterzimmer. Dort schloß Son die Tür und nickte Pao einmal zu. Während Son die Telefonkabel aus der Wand riß, erwürgte Pao Du mit bloßen Händen. Die Freunde fielen sich in die Arme. Son erklärte nun Pao, daß er sich in jener Nacht vom Lager entfernt habe, weil er ein dringendes Bedürfnis erledigen mußte. In dem Augenblick habe er Dus Männer gesehen, da er selbst aber unbewaffnet gewesen sei, habe er angesichts dieser Übermacht keine andere Wahl gehabt, als sich bis zu ihrem Abzug still zu verhalten. Während zweier Tage habe er dann aus Shanghai Hilfe geholt. Erneut umarmte ihn Pao, was Son Sui zu der Bemerkung veranlaßte: »Hätte ich gewußt, daß du dermaßen stinkst, wäre ich nie zurückgekommen.« Beide lachten. Sie verließen den Raum und traten in die Küche, wo ein Mann Dus Frau gerade die Kehle aufschlitzte. Im oberen Stockwerk fanden sie Dus alte Mutter laut schnarchend und im Schlaf sabbernd vor. Ihr Gebiß lag in einem Glas neben dem Bett. Pao erstickte sie mit einem Kissen. Im Keller trafen sie eine vierzehnjährige Magd an, die gerade Kerzen aus Tierfett herstellte. Lin Pao bestand darauf, sie persönlich zu erdrosseln. Schließlich war er der Schwarze General und die Geißel der Frauen. Bevor er das Haus verließ, ging Lin Pao mit einem Metzgerbeil in Dus Büro zurück und hackte Du die Hände ab. Dann ritzte er ihm den Namen der Triad in die Brust. Ein Dieb verdiente es, die Hände zu verlieren. Und die Welt mußte wissen, daß die Triad weder schwach noch träge war. Auf dem Rückweg verspeisten Pao, Son Sui und die anderen im Jeep die von Dus Frau zubereitete Mahlzeit. Danach sangen Pao und Sui Lieder aus ihren Lieblingsopern. Wie immer lauschten schließlich alle Pao, denn er hatte eine erstaunlich gute Stimme und sang mit viel Gefühl. 166
Chongqing, China. August 1944 Von ihrem in der Nähe des Krankenhauses geparkten Jeep aus konnten Lin Pao und Son Sui den Streit gut beobachten. Die Nacht war fast gänzlich hereingebrochen. Was als ruhige Diskussion zwischen zwei Amerikanern, einem Mann und einer Frau, begonnen hatte, heizte sich zusehends auf. Bei dem Mann handelte es sich um Nelson Berlin, Captain der Armee der Vereinigten Staaten. Die Frau war seine Schwester Rhoda, eine lutherische Missionarin und Krankenschwester. Er versuchte, ihr die geplante Hochzeit auszureden. Soweit Pao das beurteilen konnte, hatte Berlin nicht viel Glück. Das Schwesterlein schien fest entschlossen, sich einen Mann zu nehmen. Das Brüderlein schien nur seine Zeit zu verschwenden. Captain Berlin war Anfang zwanzig, ein kurz geratener, stämmiger Mann mit einem großen Kopf, großen Ohren und einer tiefen Stimme. Er trug eine neue olivgrüne Uniform der U.S.-Armee, einen Stahlhelm und Kampfstiefel. Die Beine weit gespreizt, stand er da und stach, um seinen Worten Nachdruck zu geben, mit dem Zeigefinger in die Luft. Am Stoffgurt um seine Hüfte hingen eine Feldflasche, zwei kleine Patronentaschen und ein brauner Lederhalfter mit einem perlmuttbesetzten Revolver. In Rede und Gebärden war er ungeheuer aggressiv. Weder Pao noch Son Sui machten sich etwas aus ihm. Sie hielten den Captain für ein rechthaberisches, großmäuliges Arschloch. Die um ein Jahr jüngere Rhoda war schlank, hatte braunes Haar, nußbraune Augen, einen breiten Mund und ein Muttermal in der Nähe des Mundwinkels. Ihr ausgebeulter Kittel war blutbefleckt. Sie wirkte müde und in keinster Weise an dem interessiert, was ihr Bruder zu sagen hatte. Als Nelson Berlin nach ihr griff, stieß sie ihn weg. »Die Schwester verachtet den Bruder«, meinte Lin Pao. »Interessant, was? « Pao rauchte seine Zigarette zu Ende, drückte sie an der Tür aus und zündete sich die nächste an. Captain Berlin und 167
das runde Dutzend Amerikaner um ihn waren entsetzliche Narren. Nach zwei Wochen in Chongqing hatten sie noch nichts dazugelernt. Sie glaubten immer noch an das Unmögliche, daß nämlich der Ozean mit einem Sieb geleert werden könne. Die Mission der Amerikaner in Chongqing war zum Scheitern verurteilt. Wenn es die Yankees auch nicht wußten, Lin Pao war es klar. Sie waren hier, um Tschiang Kai-schek dazu zu überreden, gemeinsam mit den Kommunisten die Japaner zu schlagen. Wieder so ein unerfüllbarer Traum. Tschiang war davon besessen, die Roten, deren wachsende Popularität seine Macht bedrohte, zu vernichten. Die Kommunisten, sagte er, seien eine
Herzkrankheit, die Japaner lediglich eine Hautkrankheit. Die im Süden und Nordwesten lagernden Kommunisten waren Chinas schlagkräftigste Kampftruppen. Tschiang hatte sie jedoch von Waffen- und Ausrüstungslieferungen abgeschnitten. Die amerikanische Hilfe lief nur über ihn, und den Roten gab er nichts. Der kleine General blickte nach vorne. Nach der Niederlage der Japaner war ein landesweiter Bürgerkrieg unvermeidlich. Tschiang wollte seinen eigentlichen Feind schwächen, solange die Möglichkeit dazu bestand. Zwar fehlte es den Roten an Waffen und Medikamenten, doch hatten sie eine enorme Moral, ungewöhnliche Disziplin und die Unterstützung von Millionen. Tschiangs Regierung dagegen war korrupt, unfähig und unbeliebt. Männer wurden von der Straße weg einfach zwangsrekrutiert und aneinandergefesselt, damit sie nicht fliehen konnten, bevor das Ausbildungslager erreicht war. Von 1938 an stellten Tschiangs Streitkräfte für die Japaner keine ernste Bedrohung mehr dar. Einige Amerikaner glaubten, daß eine ausreichend versorgte kommunistische Armee die Japaner erledigen könne. Gab man ihr, was sie brauchte, war der Krieg früher oder später vorbei. Berlins Delegation sollte die Roten bewaffnen, verärgerte damit aber unweigerlich Tschiang. Wenn 168
die Kommunisten ins Spiel kamen, war der General schnell beleidigt. Das in den Bergen gelegene Chongqing war während des Kriegs zur Hauptstadt der KMT geworden. Wegen der Flüchtlingsströme war seine Bevölkerung auf über zwei Millionen angeschwollen. Zu Anfang des Krieges hatten japanische Piloten es gnadenlos bombardiert. Sie griffen immer in der Nacht an, wenn der Mond den Fluß Jangtsekiang in einen langen, silbernen, auf die Stadt deutenden Finger verwandelte. Schließlich wurden die Luftangriffe eingestellt. Zurück blieben ausgebombte Wohnungen, Gebäude und Straßen, die noch auf den Wiederaufbau warteten. In Chongqings Missionskrankenhaus pflegte man die Flüchtlinge und verwundeten Widerstandskämpfer Tag und Nacht. Lin Pao und Son Sui belieferten das Krankenhaus mit dem dringend benötigten Morphium zu unverschämt hohen Schwarzmarktpreisen. Gewinne, egal aus welcher Quelle sie stammten, waren immer richtig. Ihre jetzige Morphiumlieferung hatte sich zu einem längeren Aufenthalt in Chongqing entwickelt. Die Triad hatte ihnen befohlen, in der Stadt zu bleiben und sich der KMT zu unterstellen, bis sie neue Befehle erhielten. Chongqing kam Lin Pao unerträglich heiß und übelriechend vor. Die heftigen Regenfälle gingen ihm ebenfalls auf die Nerven. Pao und Son Sui sprachen beide englisch und kannten Rhoda Berlin, deswegen wiesen Tschiangs Leute die zwei Captain Berlin als Dolmetscher, Fahrer und Begleiter zu. Pao und Son Sui sollten ihn und seine Schwester ausspionieren und alle Ergebnisse Tschiangs Geheimpolizei mitteilen. Rhoda Berlin war eine unverhohlene Kritikerin Tschiangs. Sie hielt ihn für nicht viel mehr als einen gemeinen Dieb und Mörder. Auch als Militärkommandanten achtete sie ihn nicht, denn von einer Schlacht zur nächsten wiederholte er nur seine Fehler und gebrauchte seine Männer als Kanonenfutter. Als Politiker konnte Tschiang der Versu169
chung nicht widerstehen, sich an den amerikanischen Lieferungen zu bereichern. Amerika solle endlich aufwachen meinte sie, und damit aufhören, die Lügen zu schlucken die Tschiangs Werbemaschinerie am laufenden Band produzierte. Falls es Rhoda Berlin gelang, ihren Bruder von dieser Ansicht zu überzeugen, wollte die Geheimpolizei das wissen. Im Jeep stellten Lin Pao und Son Sui über die Geschwister Vermutungen an. »Er ist besitzergreifend«, sagte Pao. »Und sehr, sehr besorgt«, meinte Son Sui. Man könnte meinen, mutmaßte Pao, er handle wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Dem stimmte Son Sui zu und ergänzte, sie müßten sehr vorsichtig sein, denn aus Eifersucht würden viele zum Mörder. Aus den Instruktionen von Tschiangs Geheimpolizei hatte Pao ein bißchen über Captain Berlins Werdegang erfahren. Im Washingtoner Außenministerium hatte er eine sichere Position innegehabt, fern von Kugeln, Bomben und dem Gestank verwesender Leichen. Dennoch hatte er um den Auftrag für diese Mission in China gebeten. Die wie immer gut informierte Geheimpolizei teilte mit, Berlin sei nicht in erster Linie nach China gekommen, um den Krieg schneller zu beenden. Vielmehr sei er hier, weil er die Hochzeit seiner Schwester mit einem Missionar verhindern wolle. Captain Berlin, hieß es, liebe seine Schwester sehr. Vielleicht zu sehr. Vor dem Krankenhaus standen zwei chinesische Soldaten in von japanischen Marinesoldaten erbeuteten Uniformen Wache. Beide waren unter zwanzig. Bewaffnet waren sie mit russischen Gewehren, in deren verrosteten Läufen nicht einmal Patronen steckten. Um sie herum stapelten alte Frauen und Männer in verdrossenem Schweigen Sandsäcke aufeinander. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, wobei verwundete Männer, Frauen und Kinder entweder selbst liefen oder getragen wurden. Um die streitenden Amerikaner kümmerten sie sich nicht. Lin Pao hörte Rhoda Berlin ihren Bruder anschreien: »Seit 170
du hier bist, machst du mich verrückt! Seit zwei Wochen schon! Jetzt laß mich bitte in Frieden. Wen ich heirate, geht dich überhaupt nichts an. Ich bin nach China gegangen, um von dir wegzukommen!«
»Du kennst ihn doch gar nicht richtig!« rief Berlin. »Wie kannst du einen heiraten, den du nicht kennst? Ich reise in zwei Tagen wieder ab. Bitte, fahr mit mir zurück.« Es fing an zu nieseln. Lin Pao blickte zum pechschwarzen Himmel empor. Die Götter pinkelten mal wieder auf die Erde. Als er wieder zu den Amerikanern hinsah, hatte Rhoda Berlin ihren Bruder zur Seite gestoßen und eilte zum Krankenhaus. Sie hatte den Eingang noch nicht ganz erreicht, da kam ein athletisch aussehender Mann mit sandfarbenem Haar und großen Händen durch die Tür. Pao lächelte und Son Sui nickte. Der Mann war Thomas Service, ein Missionsarzt, und Rhoda Berlin wollte ihn demnächst heiraten. Pao sah zu, wie Service Miß Berlin umarmte und sie dann über die Schulter zu ihrem Brüderlein blickte. Das Brüderlein war bitterböse. Es blitzte Service mit den Augen an, spuckte dann auf den Boden und ging weg. »Der große Bruder will der Liebhaber sein«, sagte Son Sui. Grinsend sah ihn Pao an. Natürlich. Sekunden später hatte Nelson Berlin mit zornrotem Kopf den Jeep erreicht, kletterte hinein und ließ sich schnaubend wie ein wütendes Tier auf den Rücksitz plumpsen. Sein Kiefer war angespannt, die fest geballten Fäuste drückte er gegen die Schenkel. Plötzlich knallte er mit einer Handfläche auf den nassen Sitz neben sich. »Bringt mich hier weg!« schrie er. »Zu mir zurück. Sofort, verdammt noch mal. Sofort!« Nelson Berlin fragte sich, ob der Regen heute nacht noch aufhören würde, bevor er vollständig durchdrehte. Die tägliche Sintflut in diesem Teil der Welt trieb ihn allmählich in den Wahnsinn. Vorhin, vor dem Krankenhaus, hatte ein leichter Sprühregen angefangen. Jetzt wurde die Stadt wie171
der von den üblichen Sturzbächen überschüttet. Noahs Arche hätte diese Flut nicht überdauert. Tschiangs Leute hatten Berlin in einer engen, gewundenen Seitengasse untergebracht. Sein Häuschen hatte zwei Zimmer mit Betonboden, einem Holzofen und einem einzigen Kaltwasserhahn, den er sich mit seinen Nachbarn teilen mußte. Die Badewanne war eine ehemalige Öltonne; die täglichen Bedürfnisse wurden mit Hilfe eines Holzeimers erledigt, der dann auf die Straße hinaus entleert und unter laufendem kaltem Wasser mit einem Desinfektionsmittel gereinigt wurde. Jeder Weiße, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beisammen hatte, würde sich in diesem Schweinestall nicht einmal aufbahren lassen. Aber welche andere Wahl gab es mitten im Krieg? In China herrschte große Wohnungsnot. Die vorhandenen Räume reichten hinten und vorne nicht aus. Berlins Dreckloch war immer noch besser, als wie ein Flüchtling in den Straßen, Parks oder auf den Friedhöfen zu schlafen, wo einem jeder Strolch die Kehle aufschlitzen konnte, sobald man die Augen schloß. Er teilte das Haus mit seinen gelben Wachhunden, dem gräßlich aussehenden Lin Pao und dessen zaundürrem kleinem Kumpan, einem gewissen Son Sui, den Berlin Chop Suey nannte. Diese zwei Reisfresser, die beide jünger waren als er, sahen so aus, als würden sie einem das Herz für ein paar Pfennige aus der Brust herausreißen. Sie trugen Revolver und hatten überall am Körper Narben von Schuß- und Stichwunden. Keiner konnte über zwanzig sein, doch begegneten ihnen Nachbarn und Mitbürger mit einer schon an Unterwürfigkeit grenzenden Ehrerbietung. An Pao und Chop Suey war mit Sicherheit mehr dran, als einem ins Auge sprang. Berlin saß allein im Vorderzimmer auf einer leeren Holzkiste und füllte erneut eine Teetasse mit Wodka. Der Regen trommelte draußen gegen die Fensterläden. An einigen undichten Stellen tröpfelte es durch das Ziegeldach. Berlin achtete nicht auf die zwei Chinesen, die im Zimmer neben172
an auf niedrigen Hockern saßen und weiß Gott was aßen. Er hatte ihnen die Spitznamen Dick und Doof gegeben. Doof, der kleine, war bei speziellen Wünschen recht brauchbar. Amerikanische Zigaretten, Milkywayriegel, Benzin, Reifen, saubere Socken. Man fragte ihn nur, und schon trieb er alles irgendwo auf. Was Mr. Pao betraf, so war der nicht die Art von Mensch, der er in einer dunklen Gasse begegnen wollte. Berlin traute ihm nicht von zwölf bis Mittag. Dies war Berlins erste Reise nach China, und wenn es einen Gott im Himmel gab, dann war es auch seine letzte. Nichts im Erdkundeunterricht hatte ihn auf das vorbereitet, was er hier vorfand. China war die Hölle auf Erden. Je eher er aus dieser Jauchegrube von einem Land wieder fortkam, desto besser. Berlin verabscheute jeden Zentimeter dieses Paradieses für Reisfresser und Schlitzaugen. Haßte die Menschen, die zwei Gesichter hatten, unzuverlässig waren und zu den grausamsten auf Gottes Erde gehörten. Haßte ihre singende Sprechweise, ihre übervölkerten und schmutzigen kleinen Straßen, haßte ihre widerwärtige Gewohnheit zu spucken, wann immer es ihnen einfiel. Er haßte das Essen mit seinem ewigen Geruch nach Fisch und den Gestank von Exkrementen, dem er nirgends entging. Berlin lebte von der Ration seiner 11. Kompanie, Dosenfleisch, Schokoladenriegel und Cola ohne Eis. Nicht gerade die haute cuisine, aber immer noch besser als das, was sich die Einheimischen den Schlund hinunter stopften. Sein Vater, ein wohlhabender New Yorker Hotelbesitzer hatte seine Beziehungen spielen lassen und Berlin einen gutdotierten Posten mitsamt weichem Arbeitssessel in Washington besorgt. Ginge es ihm nicht um Rhoda, er hätte nie einen Fuß auf chinesischen Boden gesetzt, wo man wirklich beste Aussichten darauf hatte, daß einem der Hintern weggeschossen wurde. Zwei Wochen in diesem Drecksloch waren mehr als genug. Heißen Dank. Was hatte er nicht alles gesehen! Verhungernde Kinder, Männer, denen man den Kiefer weggeschossen hatte, alte
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Frauen, die wegen Kannibalismus verhaftet wurden, weil sie nichts zu essen hatten. In Tschiangs Geheimgefängnissen hatte er Folterungen an Gefangenen beobachtet. Nun, ihre Zukunft mochte gräßlich sein, die von Berlin sah rosig aus. Er beabsichtigte, den Krieg in allem Komfort auszusitzen und dann in der Branche seines Vaters einzusteigen. Nichts sprach dagegen, daß Berlin seine erste Million noch vor dem dreißigsten Geburtstag machte. Wie konnte Rhoda China nur ertragen? Ertragen? Mein Gott, sie blühte richtig auf. Die langen Tage im Krankenhaus, die Bibelstunden, die sie an der Missionsschule hielt..., und trotzdem fand sie genügend Zeit, um Kalligraphie zu üben. Rhoda, das große Wunder, nannte Dad sie immer. Sie war es nach wie vor. Berlin vermißte sie entsetzlich. Zwei Jahre, ohne ihr Gesicht zu sehen, ihre Stimme zu hören, ihren fraulichen Duft zu riechen. Kein Tag war vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hätte. In den zwei Jahren hatte sie ihm einmal geschrieben — eine Postkarte, daß sie heiraten wollte. Eine windige Postkarte, die ihm keine Ruhe mehr ließ. Er liebte seine Schwester, liebte sie mit einer unheiligen, unkontrollierbaren Leidenschaft. Es war eine Liebe jenseits der Vernunft, ein Fieber in seiner Seele. Scham- und Schuldgefühlen hatte er sich längst verschlossen. Mit dem Schmerz fertig zu werden, daß er sie nicht haben konnte, reichte ihm vollauf. So, wie er sich nach Rhoda verzehrte, glich er einem Reiter, dessen Pferd durchging. Vor zwei Jahren hatte er ihr seine Liebe gestanden. Sie wollte seine Beichte als Witz abtun, aber sie wußte, daß es stimmte. Wie er mit den Händen immer ihren Körper streifte, scheinbar ohne Absicht. Wie er oft rein zufällig die Tür zum Badezimmer aufgemacht hatte, als sie in der Badewanne saß. Und wie er nach ihr spähte, wenn sie sich anzog. Was für eine übertriebene Beschützerpose er annahm, wenn sich Jungen für sie interessierten. Berlins Liebeserklärung löste bei Rhoda Tränen aus — und das Versprechen, sie wolle für ihn beten. Sie wolle den Herrn bitten, Nelson seine *74
Gnade zu erweisen, damit er nicht mehr auf diese Weise an sie dachte. Die fromme Rhoda. Die rechtschaffene Moralistin Rhoda. Ging in die Kirche und war gottesfürchtig. Sie wollte zu Jesus beten, damit er Nelson auf einen helleren, besseren Weg führe. Sie wollte auch Dad nichts sagen, denn er verstand es vielleicht nicht. Aber Nelson durfte nie wieder so mit ihr reden. Eine Woche später betrank er sich und versuchte, ihr Gewalt anzutun. Kurz danach verließ sie das Land mit ein paar Missionaren, die nach China unterwegs waren. Kein Wort zu Dad oder zu Nelson. Einfach auf und davon. Seit Jahren trug sie sich mit dem Gedanken, im Namen des Herrn in fremden Ländern zu arbeiten. Die Umstände, so schien es, zwangen sie zur Verwirklichung des Traums. Als Berlin in China eintraf, empfing ihn seine Schwester nicht gerade mit offenen Armen. Er wollte sie nicht verletzen, das hatte er ihr auch klarzumachen versucht. Alles, was er von ihr wollte, war, daß sie sich das mit der Hochzeit noch einmal überlegte. Daß sie nachdachte, bevor sie so einen armen Schlucker von Bibelwichser heiratete, der nicht einmal einen Topf zum Hineinpissen hatte. Wollte sie wirklich in China alt werden? fragte er sie. Zu Hause könne sie doch eine reiche Frau sein. Der alte Herr investiere jetzt auch in anderen Staaten und betätige sich auch in anderen Branchen. Zum Beispiel habe er kurz vor Nelsons Abreise eine Bonbonfabrik gekauft. Nelson könne es gar nicht erwarten, mit seinem Vater zusammenzuarbeiten. Rhoda könne mitmachen. Ihre Zukunft liege doch in Amerika, nicht in China. Jetzt, in seinem kleinen Haus in Chongqing, hielt Berlin die Wodkaflasche in der Hand. Zum Teufel mit dem ganzen Mist. Er schleuderte die Flasche gegen die Steinwand, daß die Scherben in alle Richtungen davonflogen und fing an zu weinen. Er weinte oft wegen Rhoda. War er betrunken? Wahrscheinlich. Auf alle Fälle wollte er sich betrinken. Er öffnete die dritte Wodkaflasche und suchte die Teetasse. *75 Er mußte Rhoda aus China herausbekommen. Wieder in die guten alten Staaten mit ihr gehen, wo sie wieder Licht sehen würde. Mußte sie fortbugsieren von diesem Bibeltrommler und den anderen Psalmen singenden heiligen Heinis, mit denen sie sich herumtrieb. Berlin hatte hier in der Gegend ein bißchen Einfluß, das hatte er Rhoda gesagt. Die Amerikaner gaben Tschiang Geld, Waffen, Seidenstrümpfe für seine Frauen und Penicillin für seine Kumpane, wenn sie sich den Tripper geholt hatten. Warum sollte Tschiang also nicht mal etwas für Nelson tun? Sollte er doch Rhodas Mission zusperren, falls sie nicht mit ihrem Bruder heimfuhr. Die Chinesen verdächtigten Rhoda ohnehin schon, gegen Tschiang Opposition zu betreiben — warum warteten sie dann mit dem Befehl zum Kofferpacken? Warum unterstützte Amerika diesen Tschiang, der nur zu doppeltem Spiel und faulen Tricks fähig war? Sogar Nelson Berlin hatte diesen Dreckskerl durchschaut. Er war nicht mehr als ein Schnellredner, der seine eigene Mutter hinterrücks erstechen würde und den die meisten seiner eigenen Leute verachteten. Warum wurde er dann unterstützt? Weil die Vereinigten Staaten die Wahrheit über Tschiang nicht wußten und sie größtenteils gar nicht wissen wollten. Die Amerikaner brauchten immer Helden, und genau das war Tschiang in ihrer Propagandamaschinerie. Außerdem hatte er prominente und einflußreiche Freunde im Weißen Haus, im Außenministerium und bei den Streitkräften. Wer den kleinen Scheißer angriff, den zerrissen sie in der Luft. Kritik an Tschiang war der schnellste Weg, seine Laufbahn im öffentlichen Dienst zu beenden. Tschiangs Überleben war Nelson Berlin herzlich egal. Ihm ging es allein um Rhoda. Mit einer List wollte er
Rhoda zu einem Urlaub in Amerika überreden. Ein, zwei Monate in den Staaten, dann sah man weiter. Eines stand fest: Ob er anständig handelte oder miese Tricks anwendete, Berlin bekam in der Regel, was er wollte. 176
Im Zimmer nebenan sah Lin Pao Berlin zu, wie er den Wodka direkt aus der Flasche trank. Danach vergrub der Amerikaner den Kopf in den Händen und fing an zu weinen. Pao grinste. Der Captain machte ja ein ganz schönes Theater. Erst schluckt der Mann den Schnaps, dann schluckt der Schnaps den Mann. Pao beobachtete den Captain, wie er mit wackligen Beinen aufstand und seinen Helm mit einem Fußtritt über den Betonboden beförderte. Als der Amerikaner anfing, den Missionar zu verfluchen, schüttelte Pao in gespielter Besorgnis den Kopf. Eifersucht machte einen Mann zum Narren. Plötzlich stolperte Berlin, torkelte nach vorne und fiel auf das Gesicht. Regungslos blieb er liegen. Ohne ihre Mahlzeit zu unterbrechen, schauten Lin Pao und Son Sui zu. Nach ein paar Minuten stöhnte Berlin und rollte sich unter erheblicher Anstrengung auf den Rücken. »Will meine Schöne sehen«, lallte er. Ungerührt stopfte sich Pao mit Hilfe der Eßstäbchen weiter seine Nudeln in den Mund. Berlin ließ er nicht aus den Augen. Der richtete sich mit einem Ruck auf. »Los, ihr Scheißkerle. Willsiejets gleich sehen. Ihr swei schlitzäugigen Wunderknaben, versteht ihr Engliss?« Das Hauptquartier der lutherischen Mission. Im Erdgeschoß saß Rhoda Berlin auf einem hölzernen Klappstuhl und sah durchs Fenster auf den heftigen Regen hinaus. Hinter ihr stand Thomas Service und massierte ihr die Schultern. Sie waren allein. Ihre Mitarbeiter, Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, hatten entweder im Krankenhaus Dienst, hielten Bibelstunden oder holten dringend benötigten Schlaf nach. Sie hatte Thomas von ihrem letzten Gespräch mit Nelson erzählt, von seiner Drohung, die Mission zu schließen, wenn sie nicht mit ihm nach Amerika zurückkehrte. Thomas Service lächelte. »Was auch immer geschieht, es ist der Wille Gottes«, sagte er. »Damit hat dein Bruder nichts zu tun. Die Mission gab es schon, bevor er kam. Und wenn es der Wille des Herrn ist, wird es sie auch geben, lange nachdem er fort ist.« Dem konnte Rhoda nur zustimmen. Mit einemmal hatte sie vor ihrem Bruder keine Angst mehr. Thomas hatte recht. Wir sind alle in Gottes Hand. Sie lauschte dem gegen das Fenster trommelnden Regen. Das menschenleere Missionsgelände draußen war ein einziger Sumpf. So etwas wie Abwasserrohre gab es hier nicht, darum lief das Wasser auf allen möglichen Wegen in die Keller. Die Eimerbrigade des lutherischen Kapitels von Chongqing mußte morgen wieder Einsatz leisten. Durch den Regenguß und die Dunkelheit konnte Rhoda gerade noch das Luftabwehrgeschütz sechs Meter vor dem Fenster ausmachen. Mein Gott, wie sie das Ding haßte. Seine Existenz auf dem Missionsgelände symbolisierte alles, was Rhoda an Tschiang und seiner Räuberbande verachtete. Mit der Behauptung, China kämpfe für ihr Leben, hatte die KMT den Lutheranern das Geschütz aufgezwungen. Sprecher der Mission hatten Protest eingelegt. Ihr Argument war, sie seien hier, um Leben zu retten und nicht zu vernichten. Sie stießen auf taube Ohren. Das Geschütz wurde auf dem Missionsgelände installiert und sollte solange dort bleiben, bis die Japaner wieder ins Meer getrieben worden waren. Das tschechische Geschütz war längst verrostet und kaputt. Einmal hingestellt, hatte man es nie bemannt, nie aus ihm gefeuert. Häßlich stand es da, ein grauer, mit Taubendreck übersäter Metallhaufen, mit dem keiner etwas anfangen konnte. Nur die Waisenkinder in der Mission sahen in ihr ein riesiges Spielzeug. So war sie, die chinesische Lebensart. Alles nur um des äußeren Eindrucks willen, auch wenn es sich als Fehler erwies. Andererseits wußte Rhoda, daß die Lutheraner noch glimpflich davongekommen waren. Tschiangs Gangster hätten genausogut die Mission schließen und damit die Kapelle, den Schlafsaal der Waisen und die Missionsschule an sich reißen können. Und natürlich das Krankenhaus. Die 178
Schlägertypen der KMT mit ihren gierigen Fingern warfen überall ihre dunklen Schatten. Thomas Service beugte sich über Rhoda und küßte ihr Haar. Über die Schulter lächelte sie ihn an. Nur noch sieben Wochen bis zur Hochzeit. Sieben Wochen, bis sie Mann und Frau waren. Sie sehnte diesen Tag herbei. Er war alles, was sie von einem Mann erwartete: christlich, freundlich und arbeitsam, und er achtete ihren Wunsch, bis zur Hochzeit Jungfrau zu bleiben. Die Ärzte, Schwestern und Prediger der Mission waren sich einig, daß Thomas Service der beste Arzt in Südchina, wenn nicht in ganz China war. Er hatte ihr geholfen, sich an dieses schroffe Land zu gewöhnen, das sie erst jetzt zu lieben begann. Am Anfang war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie es länger als eine Woche aushalten würde. Die Fliegen, Moskitos und Ratten machten sie verrückt. Als sie die ersten Leprakranken sah, fiel sie fast in Ohnmacht. Rings um sie erlagen die Menschen reihenweise der Cholera, den Pocken, dem Typhus und zahllosen anderen Krankheiten. Und der Krieg. Mein Gott, die Opfer... Jede Woche wurden Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, mit von Kugeln und Sprengstoff verstümmelten Körpern eingeliefert. Rhoda, die nie zuvor im Ausland gewesen war, hätte Chongqing am liebsten schon mit dem nächsten Flugzeug verlassen. Thomas Service stimmte sie um. Er liebte die Chinesen und diente ihnen mit ganzem Einsatz. Seine Eltern, beide lutheranische Prediger, hatten die Mission in Chongqing gegründet. Sie hatten hier gearbeitet, bis sie 1940 bei einem japanischen Luftangriff das Leben verloren. Seite an Seite lagen sie auf einem Hügel begraben, zu dessen
Füßen Schleppkähne vollbeladene Dschunken, eine nach der anderen, in den Hafen zogen. Thomas Service war in China aufgewachsen. Den Kriegsausbruch hatte er in Oregon erlebt, wo er am Reeds College Medizin studierte. »Ich bin nach China zurückgekommen, sonst hätte ich mich selbst nicht ertragen.« Man hatte ihm 179
einen Posten bei der Marine angeboten. Der Einsatzort hätte in Amerika gelegen, danach hätte er eine lukrative Praxis in den Staaten aufmachen können. Wie er Rhoda erzählte, hatte er schon geahnt, daß seine Eltern den Krieg nicht überleben würden. Ein Grund mehr, zu ihnen zu kommen, solange es noch möglich war. Nach seiner Rückkehr hatten sie noch drei Jahre zusammen verbracht. In China zu bleiben, war die klügste Entscheidung seines Lebens gewesen. China hatte auch Rhoda gutgetan. Hier wurde sie gebraucht. Die Liebe zu ihrem Pflegeberuf verband sie mit dem Drang, Gottes Wort zu verbreiten; nie war sie glücklicher gewesen. In China war sie auch frei von Nelson und seinen unnatürlichen Gefühlen. Als sie Thomas Service zum erstenmal von Nelson erzählt hatte, war seine Antwort: »Das ist sein Gefängnis, nicht das deine.« Jetzt, da der Regen immer heftiger herunterprasselte, umarmte er Rhoda und flüsterte: »Nelson ist kein Teil unseres Lebens. Zerbrich dir über ihn nicht den Kopf. Denk an uns. Wir werden heiraten und in China bis zu unserem Tod arbeiten. Dann werden wir auf dem Hügel neben meinen Eltern beerdigt.« Rhoda stand auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Schön. Dann können wir jeden Morgen gemeinsam aufstehen und frühstücken.« Sie lachten, und während es draußen blitzte und donnerte, küßte sie ihn. Über dem Donner hörte sie noch ein anderes Geräusch anschwellen, einen Ruf, aus dem ein Kreischen wurde. Rhoda fuhr herum und erblickte ihren Bruder. Mit einem Revolver in der linken Hand stand er im Türrahmen. Als gute Spione mußten Lin Pao und Son Sui ihre Pflicht erfüllen, folglich achteten sie nicht auf Nelson Berlins Befehl, im Jeep zu bleiben. Vorsichtig folgten die zwei, mit ihren kegelförmigen Strohhüten und Ponchos der US-Armee beklei180
det, dem zum Missionsgelände torkelnden Amerikaner. Je heftiger der Regen herabprasselte, desto mehr fragte sich Lin Pao, ob solche peinliche Vorsicht seinerseits nötig war. Dem betrunkenen Captain zu folgen, war nicht leicht. Regen und Dunkelheit verbargen ihn fast ganz vor den zwei Männern von der Triad. Zweimal fiel der Captain in den Schlamm. Ein paar Meter hinter ihm warteten Pao und Son Sui, bis er sich wieder aufrappelte und weiterstolperte. Warteten und wurden bis auf die Haut durchnäßt. Doch Lin Pao wußte, in dieser schrecklichen Nacht mußte jede Beschwerlichkeit ertragen werden. Der Captain war seiner Sinne nicht mächtig, deshalb gab er sich mit Sicherheit eine Blöße, bevor diese Nacht vorüber war. Pao und Son Sui mußten dieses besondere Ereignis hautnah miterleben. Das Wissen darüber würde der Triad sehr nützen. Sie wußte, wie man einen Menschen für seine Fehler zahlen ließ. Schließlich gelangten Pao und Son Sui zu dem Luftabwehrgeschütz und kauerten sich hinter die rund um das Geschütz aufgetürmten Sandsäcke. Vorsichtig lugten sie zum Hauptquartier der Mission. Die meisten Fenster waren dunkel. Die meisten, aber nicht alle. Die Hände schützend vor die Augen haltend, stand Nelson Berlin vor einem Fenster und spähte hinein. Was er sah, gefiel ihm gar nicht, denn er torkelte fluchend und mit den Armen rudernd nach hinten. Dann geriet er vollends aus dem Gleichgewicht und setzte sich in den Schlamm. Er schüttelte die Faust gegen das Gebäude, stand wieder auf und torkelte zum Eingang. Nur um die Pistole zu ziehen, hielt er kurz an, dann öffnete er die Tür und stolperte hinein. Dicht gefolgt von Son Sui, rannte Pao zum Haus. Ein Donnerschlag polterte, als sie durch die tiefen Pfützen voranstürmten. Paos linke Sandale blieb im Schlamm stecken, doch er lief weiter. Der Captain mußte genau beobachtet werden. Pao erreichte das Fenster als erster. 181
Im Missionsbüro ging Thomas Service auf Nelson Berlin zu. Er war davon überzeugt, daß er ihn zur Vernunft bringen und ihm klarmachen könne, daß Rhoda ein Recht auf ihr eigenes Leben habe. Beide Arme in die Hüften gestemmt, wollte der großgewachsene Mann mit dem sandfarbenen Haar Berlin erklären, daß er ihm nichts übelnehme. Er setzte gerade zum Reden an, da streckte ihn Berlin mit einem Schuß in die Brust nieder. Vor dieser Nacht hatte Nelson Berlin seine .45er nur zum Scheibenschießen benutzt. Einmal hatte er ein Eichhörnchen auf dem Grundstück seines Vaters in Dutchess County im Staat New York getötet. Überrascht stellte er fest, wie leicht es gewesen war, Thomas Service niederzuschießen und wie ihn das mit Freude erfüllte. Solche Macht hatte Berlin noch nie im Leben verspürt. Mit einer Pistole in der Hand konnte er die ganze Welt besiegen. Wimmernd und schluchzend saß Rhoda auf dem Boden, wiegte Services Kopf in den Armen und schaukelte hin und her. Vom Wodka und von einer Kraft beseelt, die endlich seinem Verlangen gleichkam, fühlte sich Berlin stärker von seiner Schwester angezogen als je zuvor. Er steckte die .45er ein, ging zu Rhoda hinüber und zerrte
sie von Service fort. Als sie schrie, schlug er ihr ins Gesicht. Dann riß er sie auf die Beine und küßte sie. Er schmeckte das Salz ihrer Tränen, suchte ihren Mund und schlug erneut zu, als sie ihm das Gesicht zerkratzte. Sie riß das Knie hoch, doch er war zu schnell für sie. Mit einer Drehung wandte er ihr die Hüfte zu, so daß sein Schenkel den Stoß abbekam. Es schmerzte, reichte aber nicht, um ihn aufzuhalten. Schließlich lag Rhoda auf dem Boden unter Berlin. Mit einer Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der anderen zerrte er an ihrem Kittel. Dann fiel der Strom aus, und sie waren in Dunkel gehüllt. Als Berlin Rhodas Kittel aufgerissen hatte, biß sie ihn in die Hand. Darauf drückte er ihr mit beiden Händen die Kehle zu. Erst als sie zu röcheln aufhörte und schlaff wurde, lockerte er den Würgegriff. Dann verließ Berlin alle Kraft. Ihm blieb nur noch Entset182
zen. Seine Angst war so groß, daß er nur mit Mühe atmen konnte. Ein schwacher Schimmer fiel durch das Fenster, aber im Zimmer schien sich die Dunkelheit zu verdichten und eine grausame Zukunft mit sich zu bringen, die ihn zerstören würde. Berlin kniete sich hin, sah auf das zerschundene, tränenverschmierte, leblose Gesicht seiner Schwester und brach weinend über ihr zusammen. Als Nelson Berlin die Augen öffnete, schauten Lin Pao und Son Sui auf ihn herab. In geheuchelter Ehrerbietung nahm Pao seinen tropfenden Strohhut ab. »Captain, Sir, möchten Sie nach diesem bedauerlichen Ereignis heimgehen, ohne eine Strafe befürchten zu müssen?« Berlin nickte mechanisch. Die Angst hatte ihm die Kraft geraubt. Er hatte kein eigenes Urteilsvermögen mehr. In diesem Augenblick war er zu keiner vernünftigen Entscheidung fähig. Er hätte jedem seine Seele vermacht, der ihn von diesem Alptraum befreite. »Ich... ich will hei-heimgehen u-und keine Strafe fü-fürchten mü-müssen.« Pao hockte sich neben ihn. »Dann tust du das, was wir dir sagen.« »Ich verstehe.« Pao schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nichts, Captain, Sir. Aber die Zeit wird schon noch kommen. Was man von Ihnen verlangen wird, geht über diese Nacht hinaus. Was hier heute nacht geschehen ist, darüber brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Aber wenn Sie diesen Raum verlassen, werden Sie bestimmten Freunden von mir Gehorsam schulden. Eine Hand wäscht die andere.« »Helft mir — bitte. Bitte, bitte helft mir. Ich tue alles, was ihr mir sagt.« »Captain, Sir. Nach dieser Nacht werden Sie lange Zeit das tun, was wir Ihnen sagen.« 183
Nach der Kapitulation Japans im August 1945 drängte Amerika auf einen Waffenstillstand zwischen Tschiang und den Kommunisten. Eine Einstellung der Gefechte zwischen den zwei Seiten kam jedoch nicht in Frage. Keine war zu einem Kompromiß bereit. Die Kommunisten verfügten über eine Armee, hatten ihr Territorium von den Japanern befreit und wurden von Millionen ihrer Landsleute unterstützt. Sie hatten keinen Grund, sich der Herrschaft der KMT zu beugen. Die Roten an seiner Regierung zu beteiligen, hieß für Tschiang, den Fuchs in den Hühnerstall zu lassen. Die wachsende Beliebtheit des Kommunismus, argumentierte er, würde ihn letzten Endes die politische Macht kosten, wenn er die Roten nicht vorher zermalmte. Keinesfalls lag ein Kompromiß in seinem Interesse. Warum sollte man seinem Henker auch noch die Schlinge knüpfen? Ein Jahr nach Kriegsende eröffnete Tschiang mit einem Angriff auf die Kommunisten in der Mandschurei seine Offensive. Aber er war den roten Truppen unter der Führung des charismatischen Mao Tse-tung nicht gewachsen. Unfähig, seine Soldaten zu führen oder zu begeistern, erwies sich Tschiang als erbärmlicher General, zu Tausenden liefen sie zu den Kommunisten über; von den Amerikanern gelieferte Ausrüstungsgegenstände nahmen sie mit. Nach drei Jahren Bürgerkrieg wurde Tschiang entscheidend geschlagen. Er floh nach Taiwan, der gebirgigen Insel vor Chinas Südostküste. Zuvor jedoch hatte er Chinas Museen, Banken und Militärdepots leergeräumt. Zu seiner Beute gehörten bis zum letzten Barren auch die Goldreserven des Landes. Die Triad unterstützte den kleinen General bei diesem Raubzug — einem der schlimmsten, seit die Nazis Europa geplündert hatten. Tschiang war auf Taiwan alles andere als willkommen. Der Widerstand gegen den kleinen General flackerte jedoch nur kurz auf. Auf seinen Befehl folterten und massakrierten seine Truppen tausende von Taiwanesen, bis sämtliche Gegner in den Untergrund oder außer Landes getrieben wa184
fen. In einem blutigen Feldzug, ähnlich dem Angriff auf Shanghai vor zwanzig Jahren, folterte Tschiang das Land bis zur Unterwerfung. Wie immer glaubte der kleine General, eg stehe ihm zu, mit allen nach Belieben zu verfahren. Südwestchina. Hier, in der entlegenen Provinz Jünnan, vertrieben Maos Streitkräfte die letzten KMT-Einheiten vom chinesischen Boden in das Dreiländereck zwischen Burma, Laos und Thailand. Diese Region, die Heimat der Bergvölker von Schan, galt als eines der Hauptanbaugebiete des weltweit verbotenen Opium. Sie war unter dem Namen das Goldene Dreieck bekannt. Aus Sorge, Mao könne auch den Rest von Südostasien zu erobern versuchen, rüstete der CIA die KMT-Truppen
im Goldenen Dreieck mit Waffen aus und plante die Invasion Chinas. Die KMT dagegen hatte keinerlei Absicht, gegen die Rote Bedrohung zu kämpfen. Statt dessen entschieden sich Tschiangs Truppen im Goldenen Dreieck für großflächigen Opiumanbau. Ihr Ziel: die Übernahme des Heroinhandels in Südostasien. Das Goldene Dreieck war ein Niemandsland. Der Stärkste hatte die Macht, und der Stärkste war die KMT. Mühelos unterwarfen Tschiangs Resttruppen die Stämme in den Bergen Burmas und zwangen sie zu einem intensiveren Opiumanbau. Stammesmitglieder wurden von der KMT-Armee zwangsrekrutiert, Eheschließungen mit Frauen aus der Gegend verschafften den Chinesen noch mehr Rekruten und Opium. Mit dem Goldenen Dreieck hielt sich die KMT für die Niederlage im eigenen Land schadlos. Sie überschwemmte Südostasien mit Opium, das von den Chemikern der Triad in Heroin und Morphium verwandelt wurde. Nie hatte Lin Pao mehr zu tun gehabt. Von den Stützpunkten Taiwan und Hongkong aus belieferte die Triad nicht nur ganz Asien, sondern auch Europa und Amerika. Zusammen mit Son Sui begleitete Lin Pao die Führer der Triad als Leibwächter ins Goldene Dreieck. Sie eskortierten auch die Chemiker von Hongkong in die Opiumraffinerien im burmesischen Bergland. 185
Damit sie mit Opium geladene Transportschiffe ungehindert durch ihr Land passieren ließen, überbrachte Lin Pao thailändischen Polizisten Bestechungsgelder. In Thailand entführten er und andere Triad-Mitglieder Kinder oder kauften sie ihren Eltern ab, erstickten die Säuglinge und stopften die winzigen Leichen kiloweise mit Heroin voll. Die >schlafenden Babys< wurden anschließend von Frauen, die sich als Mütter ausgaben, über die Grenze nach Malaysia geschafft. Pao sorgte für Schmuggelstraßen zwischen den Drogenraffinerien in Hongkong und Taiwan zu den Chinatowns in Sydney, San Francisco, Toronto, Amsterdam, Manila und New York. Er schmuggelte Rauschgift auf Containerschiffen, in antiken Tischen, in Fußbällen und Koffern mit doppeltem Boden, in Plastikgliedern, die Stewardessen in der Vagina stecken hatten. Besonders beeindruckt zeigten sich die Triad-Führer, als Pao einmal erfolgreich fünfzig Pfund Heroin von Taiwan nach Brasilien schaffte. Lin Pao war erst Mitte zwanzig, als ihm seine Kampfkunst eine führende Stellung beim Roten Pfahl, dem offiziellen Kampfmeister der Geheimgesellschaft, einbrachte. Sogleich rechtfertigte er das in ihn gesetzte Vertrauen, indem er einen chinesischen Geheimpolizisten, der sich in die Triad eingeschlichen hatte, erdrosselte. In Hongkong setzte er den Belästigungen eines der Triad gehörenden Spielsalons durch Rivalen ein Ende, in Singapur organisierte er die Entführung eines Bankiers und dessen Freilassung gegen Lösegeld. Gemeinsam mit Son Sui reiste er auch nach Honolulu, wo sie einen japanischen Bankier umbrachten, weil er mit dem Guthaben der Triad Mißwirtschaft getrieben hatte. Als Paos Ruf wuchs, unternahmen rivalisierende Unterorganisationen Anschläge auf sein Leben und setzten ein Kopfgeld aus. Der Schwarze General war zur Zielscheibe geworden. In London verlangte die SilberbambusTriad plötzlich von allen Chinesen, die Heroin nach England schmuggelten, Geld. Sie verlangten auch das Alleinrecht auf die Verteilung. Wer sich weigerte, wurde ermordet. Die 186
Leute vom Silberbambus warteten darauf, daß sich Lin Pao provozieren ließe. Sie brauchten nicht lange zu warten. Paos Gleichgültigkeit Drohungen gegenüber war bekannt. Er verachtete alle, die sich einschüchtern ließen. An einem schwülen Juliabend lieferten er und Son Sui dem Besitzer eines chinesischen Restaurants in Soho, Londons größtem Ausländerviertel, zwei Kilogramm Heroin. Als die zwei in der Dämmerung das Restaurant verließen und in die menschenleere Dean Street einbogen, wurden sie von sechs Chinesen überfallen. Die mit Messern und Eisenstangen bewaffneten Angreifer hatten zwei Dobermannrüden dabei. Die Silberbambus-Triad wollte am Schwarzen General ein Exempel statuieren. Pao schoß einem Angreifer durch den Kopf, einem weiteren in die Brust, ehe ihn einer der Dobermänner zu Boden riß. Seine Pistole flog in hohem Bogen davon. Sofort ging auch der andere Hund auf ihn los. Unter den knurrenden Hunden begraben, konnte Pao nur den Kopf verdrehen und zusehen, wie Son Sui einen Silberbambus mit einem Schuß in den Bauch auf den Bürgersteig beförderte. Doch nun zerschmetterte ein gedrungener Chinese, der ein rotes Kopfband trug, Son den rechten Arm mit einer Eisenstange. Die Pistole landete auf dem Straßenpflaster, und Son Sui taumelte, die Zähne gegen den Schmerz zusammengepreßt, nach hinten. Mit der Linken hielt er den verwundeten Arm umklammert. Sein Gegner kam auf ihn zu. Der kleine Bruder würde sterben. Rasend vor Wut warf Lin Pao die Arme um den einen Hund, brach ihm das Genick und schleuderte ihn zur Seite. Kniend schmetterte er dem zweiten Hund die Faust auf den Kopf, packte das winselnde Tier am Halsband und schleuderte es gegen den Mann, der auf Son Sui losging. Der Hund landete genau zwischen seinen Schulterblättern und warf ihn gegen Son Sui. Bevor der Angreifer das Gleichgewicht wiedererlangen konnte, hatte ihm Son Sui 187
die Finger der linken Hand in die Augen gerammt und fuhr nun mit den Nägeln über beide Augäpfel. Mit einem Aufschrei ließ der Mann die Stange fallen. Son Sui bekam sie eher in den Griff und drosch sie dem Gegner gegen das rechte Knie. Als der Mann mit der Hand zur Kniescheibe fuhr, schlug Son Sui ihm die Stange quer
über das Gesicht. Pao kümmerte sich um die verbliebenen zwei Angreifer. Der eine, ein großer Kerl mit einem breiten Gesicht, fuchtelte wild mit dem Messer und stach Pao links in die Brust. Trotz der Schmerzen trat Pao ihm in die Hoden, versetzte ihm einen Schlag gegen die Gurgel und rammte ihm dann die Stirn ins Gesicht. Der letzte Angreifer, ein dürrer Kerl mit Pomade im Haar und Mittelscheitel, schwang brüllend seine Eisenstange gegen Paos Kopf. Doch Pao duckte sich und erwischte seinerseits den Gegner mit einem Tritt gegen den Knöchel. Mit einer blitzschnellen Drehung warf er sich hinter den Dürren und riß ihn an den Schultern zu Boden. Bevor der Mann wieder aufstehen konnte, hatte ihn Pao gegen den Schädel getreten. Der Restaurantbesitzer ließ einen Arzt kommen, einen hageren Chinesen mit einem Katzengesicht. Wortlos versorgte er Son Suis Arm und Paos Messerstich. »Verlaßt England sofort«, warnte sie der Restaurantbesitzer. »Für das, was ihr ihren Männern angetan habt, wird die Silberbambusbande euer Blut trinken. Wir sind alle in Gefahr.« Vorsichtig betastete Pao die verbundene Stelle, dann blickte er Son Sui an. Lächelnd sagte dieser zu dem Restaurantbesitzer: »Mein Bruder und ich gehen hier weg, sobald wir unser Geschäft abgeschlossen haben.« Zwei Tage später wartete der Führer der Silberbambusbande zu Hause auf seine Frau, die zum Einkaufen unterwegs war. An ihrer Stelle statteten ihm zwei Londoner Polizeibeamte einen unangekündigten Besuch ab. Sie hatten die traurige Pflicht, ihm mitzuteilen, daß man seine Frau er188
würgt im Treppenhaus eines führenden Kaufhauses in iightsbridge aufgefunden habe. Als sich der Triad-Führer entsetzt in einen Sessel fallen ließ/ klingelte das Telefon. Eine Stimme meldete sich auf kantonesisch: »Du hast auch zwei Töchter.« Dann war die Leitung unterbrochen. Wie immer, weigerte sich die chinesische Gemeinde, mit der Londoner Polizei bei der Untersuchung des Mordfalls zusammenzuarbeiten. Doch ein Informant stellte eine Verbindung zwischen dem Angriff der Silberbambusbande auf einen chinesischen Gewaltverbrecher mit dem Namen der Schwarze General her, der von Taiwan und Hongkong aus operiere. War der Schwarze General noch in England? Keiner vermochte es mit Bestimmtheit zu sagen. Eines aber wußte der Informant: Der Schwarze General übte an seinen Feinden Rache, indem er ihre Frauen umbrachte. Und sie wußten auch, daß der Silberbambus seine Tributzahlungen an die Triad des Schwarzen Generals eingestellt hatte. Mit vierzig heiratete Pao Ai-Ling Kong, eine wunderschöne und temperamentvolle Sängerin von Hongkongs führendem Opernensemble. Er war jetzt wohlhabend und einflußreich, ein Mann, der dank seiner Position in der Welt der Geheimgesellschaften unbegrenzte Macht besaß. Sie war eine bezaubernde Berühmtheit, seine Belohnung für ein Leben voller Kämpfe. Lin Pao hatte viele Frauen gekannt, doch Ai-Ling war die leidenschaftlichste. Er war in sie vernarrt. Ihre Begierden paßten genau zu den seinen. Im Bett erfüllte sie ihm jeden Wunsch, gewährte ihm jede Lust. In unersättlichem Verlangen verzehrte er sich nach ihr. Nichts, das er nicht tat, um ihr zu gefallen. Wenn er den Gesichtern anderer Männer Neid ablas, sonnte er sich in seinem Ruhm. Sie teilten das Interesse an der Pekingoper. Zu Ai-Lings Überraschung war Paos Wissen über diese populäre Musikform tiefgehender als das ihre. »Das verdanke ich alles dem 189
Kleinen Bruder«, erklärte er ihr. Son Sui habe ihn in die Oper eingeführt, als sie noch kleine Jungen in Shanghai waren. Pao vertraute Ai-Ling an, daß er manchmal davon träumte, mit Berufssängern einen Abend lang öffentlich aufzutreten. Leider fehle ihm dazu das Selbstvertrauen. Er hatte eine ganze Instrumentensammlung: Flachtrommel, Kastagnetten, Zimbeln, große und kleine Gongs und einen Schrank voller Kostüme mit verzierten Rüstungen, Schminkkästen von berühmten Sängern, langen, mit Drachen und Phoenixfiguren bestickten Gewändern. Schon der Gedanke an Musik, sagte er Ai-Ling, bereite ihm Trost. Wenn Pao ihr vorsang, weinte sie vor Rührung. Er hatte eine vorzügliche Stimme. Ihm lagen die Sheng-Rollen, die Partien für ältere oder junge Männer. Auch den fing konnte er gut singen - das waren prahlerische Generäle oder junge Abenteurer. Auf ihr Drängen hin sangen sie manchmal gemeinsam. Für Lin Pao gehörten diese Tage zu den glücklichsten seines Lebens. Dann wiederum warf Pao für die Karriere seiner Frau mit dem Geld nur so um sich. Er finanzierte Produktionen, in denen sie die Hauptrolle spielte, bezahlte Kritiker, damit sie von ihr schwärmten und leitete einen Vertrag mit einer zum Imperium der Triad gehörenden Plattenfirma in die Wege. In allen seinen Häusern nahmen ihre Fotografien einen Ehrenplatz ein. Pao war so verliebt in sie, daß er mehrere Mätressen aufgab. Nur Son Sui hatte den Mut, Ai-Ling das zu nennen, was sie war: ein teures Spielzeug. Gemeinsam hatten sie ein Kind, den Jungen Hin. Er sah Pao so ähnlich, daß er den Spitznamen der Kleine General erhielt. Zusammen mit Ai-Ling war der Junge Lin Paos wertvollstes Besitztum. Mit der Frau und dem Sohn war ein Stück Himmel in Paos wilde Welt gekommen. Seine einzige Hoffnung war, daß dem Jungen nicht so ein gefährliches Leben wie ihm beschieden sein würde. Astrologen und Wahrsager gaben einander die Türklinke in die Hand, um dem Kleinen General eine ungetrübte Zukunft vorauszusagen. Eine günstige Prophezeiung garantierte ihnen einen fetten 190
Lohn und bewahrte sie vor einem Tobsuchtsanfall des schwarzen Generals. Ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes wurde Lin Pao in das Entscheidungsgremium der Triad aufgenommen, was eine hohe Auszeichnung bedeutete. Jetzt teilte er seine Zeit zwischen Hongkong und Taiwan auf. Von diesen Städten sandte er andere aus, um seinen Willen im Goldenen Dreieck, in Thailand, Australien und Amerika durchzusetzen. Da der Führer der Triad immer älter und gebrechlicher wurde, nahm die Mitgliedschaft im Entscheidungsgremium an Bedeutung zu. Der nächste Führer der Hunderschrittvipern würde aus dieser Versammlung gewählt werden. Das augenblickliche Oberhaupt gab zwei Männern den Vorzug. Lin Pao war der eine. Der andere war Paos geschworener Feind. Die Unterschiede hätten nicht größer sein können. Pao stand für Jugend und Erneuerung. Er glaubte, die Hunderschrittvipern sollten sich der gewandelten Zeit anpassen. Sein älterer Rivale, Chan Fau, beharrte ausnahmslos auf den traditionellen Geschäftsmethoden. Wandel, meinte er, sei lediglich die Verfielfachung der Dummheit. Chan Fau kannte immer nur dieselbe Leier. Fau war ein schlanker, leidenschaftsloser Mann Anfang siebzig. Er war ein solcher Reinlichkeitsfanatiker, daß er sich fast stündlich die Hände wusch und sich mehrmals am Tag umzog. Mit seinen begrenzten Fähigkeiten und seinem grenzenlosen Ehrgeiz schwänzelte er um seine Vorgesetzten herum und pries sich bis zum Überdruß an. Pao hielt ihn für einen Langweiler, weil er ständig mit seinen Schlachten aus dem Zweiten Weltkrieg anfing, die er an der Seite Tschiang Kai-scheks, angeblich eines entfernten Verwandten von ihm, geschlagen hatte. Pao sah sich selbst als die Zukunft und Chan Fau als die Vergangenheit. Er zog einen Expansionskurs vor. Warum sollte man nicht die Profite steigern, indem man das Heroin direkt an neue Banden der Schwarzen und der Spanier in 191
Amerika verkaufte? Warum sollte man nur mit italienischen Gangstern Geschäfte machen? »Bleiben wir den Italienern treu«, sagte Fau. »Wenn wir die Schwarzen und die Spanier ansprechen, riskieren wir bei den Italienern böses Blut. Können wir uns einen Krieg auf ihrem Territorium leisten?« Außerdem traute Fau den Schwarzen und den Spaniern nicht über den Weg. Im Drogengeschäft viel zu grün, meinte er. Keine Tradition. Bleiben wir bei den Italienern, die sich unseres Vertrauens als würdig erwiesen haben. Pao und Chan waren auch über Nelson Berlin uneins. Pao wollte mehr Geld in Berlins Firma stecken, die jetzt Hotels überall in Amerika, Mexiko, Kanada und Hawaii betrieb. Der Amerikaner hatte sich auch in andere Wirtschaftszweige eingekauft, Zigaretten, Elektronik, Spielzeugfabriken. Und er plante, weiter zu expandieren. Zu ehrgeizig, warnte Chan Fau. Angenommen, Berlin unterliegt der Versuchung, uns zu bestehlen. Was geschieht, wenn er stirbt oder wenn in Amerika wieder eine Krise ausbricht? Laut Fau bedurfte das Arrangement mit Berlin keiner weiteren Verbesserungen. Er sah keinen Grund, dem Amerikaner zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Pao widersprach. Die Triad wolle Berlin ja nichts geben. Sie profitiere doch von einer Investition, die man gemacht habe, als man dafür gesorgt hatte, daß Thomas Service trotz seiner Verwundung wegen des Mordes an Rhoda Berlin angeklagt und hingerichtet wurde. Ihr Bruder habe seine Schulden sofort zurückgezahlt, indem er vier Kilogramm Heroin in Rhodas Sarg versteckt und aus Chongqing ausgeflogen habe. Jetzt leiste Berlin den Hundertschrittvipern unbezahlbare Dienste, weil er mit seinen Firmen Millionen von Dollars waschen könne. Der Amerikaner sei ein guter Geschäftsmann. Von seiner Expansion könne die Triad nur profitieren. Wenn Berlin Geld brauche, solle es die Triad vorschießen. Expansion, betonte Pao, sei Leben. Schrumpfung bedeute Tod. Er gab gesetzmäßigen Investitionen in Amerika und 192
Europa den Vorzug gegenüber dem bloßen Deponieren der Dollars in Banken, wo das Geld der Triad brachlag. Fau war ja anderer Meinung. Erfolg ließ sich für ihn an gefüllten Bankkonten ablesen und nicht an Einkaufszentren und den Abrechnungen der Maklerbüros. »Beziehen wir unsere Kraft aus unserer glorreichen Vergangenheit!« rief er. »Die Zukunft wird sich von allein entfalten.« Pao und Chan Fau sahen sich jeder im ersten Glied stehen. Ein Kompromiß zwischen den beiden war nicht möglich. Auch würde keiner im Schatten des anderen dienen. Für Zugeständnisse lagen ihre Standpunkte zu weit auseinander. Zu Hins zweitem Geburtstag hatten Lin Pao und Ai-Ling eine Party in Paos Haus in Hongkongs Happy Valley vorbereitet. Das dreistöckige Ziegelhaus mit Blick auf den Hafen hatte vor hundert Jahren ein Offizier der englischen Armee erbaut. Ihre Rivalität hatte Pao und Chan Fau für einen längeren Aufenthalt nach Hongkong geführt. Beide hielten Totenwache, denn der Führer der Triad lag im Sterben. Leukämie und Prostatakrebs. Da er nur noch kurz zu leben hatte, konnte er jeden Augenblick von seinem Sterbebett im Krankenhaus an der Kennedy Road aus den Nachfolger bestimmen. Fau wartete auf die Entscheidung in Shek O'Beach, wo sich viele der einflußreichen Bürger Hongkongs hinter hohen Mauern verbargen. Auf einem Berggipfel teilte er sich ein vierstöckiges, isoliert stehendes Ziegelhaus mit vier Frauen, jede in einer Etage. Pao feierte Hins Geburtstag im kleinen Kreis. Neben Son Sui, dessen Frau und ihren drei kleinen Jungen waren
nur noch Paos engste Vertraute mit ihren Frauen und Kindern geladen. Ein Berater war mit dem Flugzeug aus Singapur gekommen, ein Treuebeweis, den Pao ihm hoch anrechnete. Einzig Ai-Ling enttäuschte ihn mit ihrer Weigerung zu singen. Sie wirkte gereizt. Wie einer von den Tigern in Paos Privatzoo in Taipeh. Aus Müdigkeit, sagte sie. Sie habe stundenlang eine neue Rolle geprobt. Ob er ihr dieses eine Mal verzeihen könne? Natürlich. Weil es ein warmer Aprilnachmittag war, fand die Party auf der Veranda statt. Pao hatte einen guten Blick auf die Rennbahn in der Nähe von Happy Valley, auf der seine Pferde gegen die von Bankiers und Generaldirektoren antraten. Doch während er in dem einen Arm Hin hielt und mit dem anderen gestikulierte, dachte er weder an Ställe noch an Ehrenrunden. Er deutete nach Westen, nach Amerika, wo Hin eines Tages zur Schule gehen sollte. Der Sohn des Schwarzen Generals verdiente nur das Beste. Zeit, die Geschenke auszupacken. Die Bediensteten hatten einen Tisch voller Gaben herausgetragen und vor der Tür abgestellt. Während sich die Erwachsenen und Kinder lachend um den Tisch versammelten, drückte Pao seinen Sohn Hin seinem Paten Son Sui in die Arme und nahm einen Umschlag vom Gabentisch. Ich habe das Glück lange gesucht, endlich habe ich es gefunden, dachte er. Der Umschlag — er stammte von Son Sui - quoll vor Geld über. Die zwei Männer lächelten sich zu. »Kauf meinem Patenkind einen amerikanischen Wagen«, sagte Son. Pao umarmte ihn. »Brüder auf ewig«, flüsterte er. Son flüsterte ihm dasselbe zu. Der vor so langer Zeit geleistete Bluteid galt nach wie vor. Als sich Pao wieder den Geschenken zuwandte, setzte Son Sui den Jungen auf den Boden und trat neben Pao. »Mein Patenkind braucht etwas Süßes«, sagte er. Plötzlich stürmte Ai-Ling durch die Tür, riß Hin an sich und rannte ins Haus. Pao runzelte die Stirn. Was für ein seltsames Verhalten. Doch Ai-Ling war schon den ganzen Tag so seltsam gewesen. Paos Gäste und die Kinder verstummten. Son Suis Frau schaute durch die Türöffnung ins Haus. Als sie sich zu Pao umdrehte und etwas sagen wollte, flog der Tisch mit einem ohrenbetäubenden Knall in die Luft. Pao überlebte die Explosion, weil Son Sui zwischen ihm 194
und dem Tisch gestanden hatte. Die Druckwelle fegte ihn aber von der Veranda auf den Rasen, wo er benommen und blutüberströmt liegenblieb und in die strahlende Sonne starrte. Entsetzliche Schmerzen jagten durch den Kopf und den linken Arm. Er fühlte sich schwach, verwirrt und war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Unter großer Anstrengung sah er nach oben zum Haus. Ein Teil der Veranda war weggesprengt. Überall auf dem gasen lagen Essensreste, Geschenke und tote Menschen. Die Haustür war aus den Angeln gerissen worden und lag jetzt auf dem Gras neben Pao. Flammen züngelten um den Haupteingang. Alle Vorderfenster waren verschwunden oder zerborsten. Auf dem Rasen schrien Männer und Frauen hysterisch um Hilfe. Über dem Haus konnte man Fetzen des Geschenkpapiers durch schwarze Rauchwolken wirbeln sehen. Mühsam richtete sich Pao auf, bis er saß. Sein Gesicht war blutverschmiert, seine Haut fühlte sich kalt an. Vor sich sah er ein kleines Mädchen mit glasigen Augen auf der Treppe zum Haus sitzen. Ihr Kopf war an das Geländer gelehnt, ihr linker Fuß war weggerissen und der Saum ihres Kleides brannte. Son Suis blutüberströmter Kopf lag neben ihr. Sein Körper war nirgends zu sehen. Pao schaffte es, sich hinzuknien, doch zum Stehen reichte es nicht. Das rechte Auge bereitete ihm Schwierigkeiten, und im linken Arm tobten entsetzliche Schmerzen. Er setzte sich wieder auf das Gras und sah, wie zwei Bedienstete sich vorsichtig durch die brennende Türöffnung zwängten und auf ihn zurannten. Lin Pao streckte ihnen die Arme entgegen, brüllte noch Ai-Lings Namen und fiel dann ohnmächtig zurück. Einen Tag später kam Pao in einem Krankenhaus in Kaul-an wieder zu sich. Die Explosion hatte seine linke Hand weggerissen und ihn das rechte Auge gekostet. Son Sui hatte zusammen mit seiner Frau und zweien seiner Kinder das Leben verloren. Ein Berater war tot, der andere lebte, obwohl ihm beide Beine weggerissen worden waren. Auch 195
unter den Frauen und Kindern der Berater hatte es Tote gegeben. Pao konnte die Tränen nicht unterdrücken. Der Verlust des Kleinen Bruders war unerträglich. Größere Trauer hatte Pao nie gekannt. Im Krankenhaus erklärte ihm Constable Martin Mackie von der britischen Polizei, daß jemand einen Zeitzünder zwischen Hins Geschenken verborgen gehabt hatte. Unter den Blicken von sechs schweigenden TriadMitgliedern sagte Mackie, daß Pao mit viel Glück davongekommen sei. Ob er zufällig wisse, wer den Mordanschlag auf ihn verübt habe? Pao schüttelte den Kopf. Er habe keine Ahnung. »Ich bin ein einfacher Geschäftsmann«, ließ er Mackie wissen. »Ich handle mit Grundstücken, Goldwerten und Computerbildschirmen.« Er baue auch einen Tempel für die Armen in der Gegend von Wantschai. Den Tempel wolle er jetzt seinem Bruder Son Sui weihen, der ihm mit seiner letzten Tat auf dieser Welt das Leben gerettet habe. Martin Mackie entgegnete lächelnd: »Wie ich höre, war er auch ein Mitglied der Hundertschrittvipern.« Pao drehte schweigend das Gesicht zur Wand. Als die Polizei fort war, setzte sich Pao auf und betrachtete den bandagierten Stumpf an seinem linken Arm. Dann berührte er den Mull über der rechten Augenhöhle und erklärte: »Chan Fau und meine Frau haben mich umzubringen versucht.« Er hob den verstümmelten Arm, dann senkte er ihn wieder. »Mein Sohn. Ist er bei ihr?«
Der älteste seiner Besucher, Zhang Wu, ein knochiger, kleiner Mann in den Dreißigern mit dem angespannten Blick eines gnadenlosen Jägers, schwieg einige Sekunden, dann räusperte er sich und sagte: »Dein Sohn ist bei ihr, ja.« Paos Stimme ließ sich kaum vernehmen. »Und sie sind beide bei Chan Fau?« »In seinem Haus, und es wird scharf bewacht.« »Hat eines von Son Suis Kindern überlebt?« »Chung, der älteste.« Chung war ein ernster Junge von acht Jahren. Die Intelli196
genz hatte er von seinem Vater, doch fehlte ihm dessen Humor. Er war Paos Patenkind. Pao nickte. »Sorgt gut für seinen Schutz. Bewacht ihn Tag und Nacht.« »Es wird geschehen.« »Ich möchte jetzt schlafen. Weckt mich in genau einer Stunde. Dann werde ich mich mit Chan Fau befassen.« nach langem Schweigen fügte er hinzu: »Der Name meiner Frau soll nie wieder genannt werden.« »Ich verstehe«, erwiderte Zhang. »Von diesem Tag an habe ich keine Frau mehr. Sie existiert nicht mehr für mich.« Zhang Wu kratzte sich ein behaartes Muttermal neben der Unterlippe und starrte eine Wasserkaraffe auf dem Nachtkästchen an. Er fragte sich, ob Lin Pao die Kraft zum Kampf mit Chan Fau hatte - und wenn nicht, wo dann Zhang Wu bleiben würde. Chan Fau kannte seinen Feinden gegenüber keine Gnade. Zhang Wu war Realist. Und er hatte keine Lust, in diesem Krieg auf der Seite des Verlierers zu stehen. Der Schwarze General war ein Krüppel. Vielleicht auch seelisch. Hatte ihn nicht eine Frau beschämt, indem sie einen Mordversuch gegen ihn unternommen hatte und mit seinem Sohn davongerannt war? Nach einer solchen Wendung des Schicksals wäre wohl jeder Verstand verwirrt. Zhang Wu sah Pao an und dachte, das ist kein Krieger. Nicht mehr. Chan Fau, Tschiangs ehemaliger General und Cousin um mehrere Ecken, war jetzt der Mann der Stunde. Fau lebte mit seinen vier Frauen im Schutz einer so gut wie uneinnehmbaren Festung. Dutzende von bewaffneten Männern bewachten das von Steinmauern umgebene Haus auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Wen es gelüstete, den alten General aus dieser Trutzburg zu vertreiben, der brauchte schon eine Armee und eine gehörige Portion Glück. Zhang Wu kam es wohl so vor, daß dem Schwarzen General beides fehlte. Während dieser seine Wunden leckte und sich selbst bemitleidete, liefen die Mitglieder der Triad 197
haufenweise zu Chan Fau über. Einen Sieger liebte eben jeder. Zhang Wu kannte seine Triad nur zu gut. Also wußte er, daß seit dem Anschlag auf Pao weltweit die Telefonleitungen zwischen den Mitgliedern heißliefen. Nur wenige hatten sich beim Schwarzen General gemeldet. Die meisten riefen in Chan Faus Festung an, gratulierten ihm zu seiner kühnen Tat und gelobten ihm ewige Treue. Zhang Wu hatte eigentlich Lin Pao für den besseren Mann gehalten. Jetzt wurde er gezwungen, sein Urteil zu überdenken. Weil einige Mitglieder glaubten, Lin Pao sei bei der Explosion ums Leben gekommen, hegte Zhang Wu den Verdacht, Chan Fau habe dieses Gerücht ausgestreut, um unter Paos Anhängern Panik zu verbreiten. Solch miese Tricks ähnelten dem alten General. Lin Pao lag in seinem Krankenhausbett mit dem Gesicht zur Wand. Soweit Zhang Wu sehen konnte, atmete er kaum. Man hätte ihn für tot halten können. Wäre dem so gewesen, es hätte Zhang Wu mit Sicherheit erleichtert. Er hatte Mitleid mit dem Schwarzen General. So wild sah er jetzt nicht mehr aus. Er wirkte kleiner, verletzlicher. Wo war der Lin Pao mit dem schrecklichen Zorn, der Mann, der immer seinen Willen durchsetzte? Womöglich war dieser Lin Pao mit Son Suis Tod verschwunden. Der schlaue kleine Krüppel hatte sich für Lin Pao bei dessen Aufstieg zur Spitze der Geheimgesellschaft unbezahlbar gemacht. Aber Son Sui war jetzt bei seinen Ahnen. Der Schwarze General müßte erst lernen, sich allein zurechtzufinden. Mit Son Suis Rat und Unterstützung hätte der Schwarze General Chan Fau vielleicht einen heißen Tanz bereitet, so aber stand Lin Pao im Kampf ums große Geld vor der Niederlage. Selbst der Himmel konnte Chan Fau nicht mehr daran hindern, das nächste Drachenhaupt zu werden. Pao rührte sich und holte tief Luft. Stöhnend zog er die Decke näher ans Gesicht. Es sah so aus, als wolle er schlafen. Doch er fing mit so gebieterischer Stimme an zu sprechen, daß Zhang auf jedes Wort achtete. 198
Paos Worte schienen sich einzig an Zhang Wu zu richten. Es war, als könne er die Gedanken dieses kleinen Mannes mit den kalten Augen lesen. Ohne den Kopf zu heben, sagte pao in das Kissen: »Heute in drei Tagen wird Chan Fau tot sein, und ich bin dann das Drachenhaupt.« In dem geräumigen Arbeitszimmer im zweiten Stockwerk, mit Blick auf einen Rhododendrongarten und einen Hof saß Chan Fau vor seinem Teakholzpult und bemalte eine Rolle aus Seide. Das war ein Makemono, eine horizontale Rolle, die sich von rechts nach links aufrollen ließ und immer nur ein Thema behandelte. In diesem Fall waren es Faus Heldentaten im Krieg. Nur hatte es dergleichen nie gegeben. Im Krieg hatte Fau, wie auch viele andere von Tschiangs Mitarbeitern, mit den Japanern zusammengearbeitet, Hilfsgüter aus Amerika für den Eigenbedarf gestohlen und die eigenen Leute
in sinnlosen Schlachten in den Tod geschickt. Als Offizier war er engstirnig, starr und feige gewesen. Seine Soldaten hatten ihn den eisernen Hasenfuß genannt. Das Thema jedes Makemono entfaltete sich wie Dichtung oder Musik. In dem Maße, in dem es aufgerollt wurde, zog es den Betrachter immer tiefer in das Gemälde hinein. Rollen dieser Art wurden nie vollständig ausgebreitet. Sie wurden in Brokattaschen oder Holzschachteln aufbewahrt und nur zu besonderen Anlässen hergezeigt. Chan Fau war ein Meister seines Fachs. Geschickt handhabte er Pinsel und Tinte, trug erst schwarze, dann hellgraue Schattierungen auf, ehe er Klebstoff mit Farbe und ein bißchen Wasser mischte, um die Wirkung zu steigern. Seine sicheren, schnellen Striche verrieten Klarheit. Wie es die traditionellen Regeln verlangten, benutzte er die Luftperspektive, um mehr Plastik und Distanz zum Ausdruck zu bringen. Chan Faus Thema: wie er während eines Luftangriffs todesmutig den Generalissimo Tschiang Kai-schek aus dem brennenden Hauptquartier der KMT rettete. Die Technik des Makemono verlangte vom Künstler, daß er 199
sich emotional mit seinem Thema identifizierte. Das fiel Chan Fau nicht allzu schwer. Im Laufe der Zeit war seine persönliche Sichtweise die einzig gültige über den Krieg geworden. Allein seine Wahrheit eignete sich für die Geschichtsschreibung. Seine Rolle war fast vollendet, als am Nachmittag der Polizeisergeant Peter Yong sich unangemeldet Eintritt verschaffte. Wie alle anderen Störenfriede war Yong nicht willkommen, doch blieb Fau nicht viel anderes übrig, als seine Arbeit zu unterbrechen und mit dem Polizisten, der auch Mitglied der Hundertschrittvipern war, zu plaudern. Yong war ein schmächtiger, nervöser Bursche mit kantigen gespannten Zügen und einem schiefen Grinsen. Chan Fau hielt ihn für einen seichten Menschen ohne Rückgrat, die Sorte, die nie für etwas eintrat oder kämpfte. Wenn man ihm auf die Schuhe pinkelte, bedankte er sich noch. Aber dank seines Zugangs zu den Polizeiakten war er unbezahlbar. In der Begleitung zweier Polizeibeamter in Khakihemden, kurzen Hosen und mit blauen Helmen hatte man Yong auf das Grundstück gelassen und dann in Chan Faus Arbeitszimmer eskortiert. Zwei Leibwächter blieben draußen mit dem Rücken zur geschlossenen Tür stehen. Yongs zwei Polizisten standen im Zimmer auf der anderen Seite der Tür. Yong entschuldigte sich für sein unangemeldetes Eindringen, er müsse aber mit Chan Fau so schnell wie möglich sprechen. Und telefonisch ließe sich das nicht erledigen. Das auf keinen Fall. Erneut müsse er sich entschuldigen. Mit einer Handbewegung wischte Chan Fau darüber hinweg. »Rede doch nicht ständig um den heißen Brei herum, verdammt noch mal!« rief er. Seine Aktentasche in der Hand, näherte sich Yong Chang dem Pult von Fau. »Lin Pao hat Sie bei der amerikanischen Drogenpolizei hier in Hongkong verraten«, sagte er. »Er hat ihnen Hinweise über die Schiffsladungen nach Amerika und Kanada gegeben.« 200
Mit einem Stirnrunzeln legte Chan Fau den Pinsel beiseite. »Warum? Damit schaufelt er sich sein eigenes Grab.« »Nicht seines, das Ihre. Sie sind der erste Anwärter auf jaS Drachenhaupt. Für die Verluste wird man Sie verantwortlich machen. Pao ist zu schwach, um Sie körperlich zu bekämpfen, darum ist er zu den Amerikanern übergelaufen, damit sie für ihn die Schmutzarbeit verrichten.« Chan Fau nickte: »Ja. Weiter.« »Alle konfiszierten Drogen wird man Ihnen ankreiden, pao will, daß Sie das Gesicht verlieren. Er will sie vor den anderen als Versager hinstellen. Als jämmerlichen Führer.« »Ich verstehe.« »Mit amerikanischer Hilfe glaubt Pao, Sie schwächen zu können. Wenn es unter Ihrer Herrschaft Verluste gibt, ist es sicher, daß die Mitglieder sich wieder von Ihnen abwenden. Dann wird er einschreiten und als Retter der Gesellschaft auftreten. Er will auch seinen Sohn wiederhaben.« Chan Fau schnaubte: »Und wie will er ihn mir entreißen? Solange ich den Jungen habe, muß Lin Pao leise treten.« Sergeant Yong nickte mehrmals mit dem Köpf. »O ja, er ist sich Ihres Vorteils bewußt, hoher Herr. Deswegen plant er, gerichtlich gegen Ai-Ling vorzugehen. Er weiß, daß sie mit dem Jungen hier ist. Er glaubt auch, daß sie sich kaum dem Gericht widersetzen kann, ohne sich selbst zu gefährden.« »Erklär das.« »Ai-Ling soll sein Maklerbüro bestohlen haben, weil sie sich ein Privattheater kaufen will.« Chan Fau schüttelte den Kopf. »Jedermann in Hongkong weiß doch, daß er ihr alles gegeben hat, was sie wollte, weil sie ihm im Bett die heißesten Stunden seines dämlichen Lebens geschenkt hat. Kein Gerichtshof wird ihm diese lächerliche Intrige abkaufen.« Yong zuckte mit der Schulter: »Hoher Herr, ich kann nur wiedergeben, was ich gehört habe. Richter Niang, der ja bekanntlich ein besonderer Freund von Pao ist, hat den entsprechenden Haftbefehl erlassen. Ich habe eine Kopie dabei. Ai-Ling wird auch wegen der Entführung des Jungen 201
angeklagt. Sie muß die Anschuldigungen widerlegen oder untertauchen. Und letzteres wird sie wohl kaum
wollen.« Chan Fau saß in seiner Generalsuniform da und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Pult. Er hatte sich in die alte KMT-Kluft geworfen, um sich für das heroische Gemälde zu inspirieren. Wäre Pao jetzt in diesem Zimmer, er würde den erbärmlichen Verräter persönlich erschießen. Immerhin, es war korrekt von Yong, daß er ihm die Nachricht persönlich überbrachte. Faus Erfahrungen als Kriegsstratege hatten sich bei der Triad bezahlt gemacht. Zwar war Paos Ermordung mißglückt, doch sah es ganz so aus, als wolle sich der Schwarze General jetzt das eigene Grab schaufeln. Wenn die Gesellschaft von seinem geplanten Verrat erfuhr, starb er noch diese Woche. Soweit Chan Fau wußte, lag Pao noch im Krankenhaus, und es ging ihm gar nicht gut. Der Dreckskerl und Möchtegernkönig aus Shanghai hatte dank Faus kleinem Überraschungspäckchen eine Hand und ein Auge verloren. Auch zwei Vertraute waren draufgegangen, darunter der gerissene und immer gefährliche Son Sui. Eigentlich hatte er ihm den Boden unter den Füssen weggezogen. Chan Fau, der einen Großteil seines Lebens als Berufssoldat verbracht hatte, bildete sich viel auf seine besondere Schläue ein. Er plante immer auf lange Sicht. Pao hatte er von Anfang an nicht gemocht. Der Dreckskerl aus Shanghai war ihm zu stur, zu eigensinnig. Außerdem war er ungehobelt, unberechenbar und hatte keine Manieren. Er war kein Fuchs, sondern ein Gorilla. Sollte er die Arbeit der Gorillas verrichten, meinte Chan Fau, und die heikleren Kniffe einem anderen überlassen. Da die Führer der Geheimgesellschaft Pao mochten, hatte Fau eben Sympathie geheuchelt. Doch der Gorilla hatte sich von Faus Verstellspiel nicht täuschen lassen. Pao war keiner von denen, die ihren scheinbaren Bewunderern schöntun. Also freute es Fau nicht gerade, als er von Paos Meinung über ihn hörte. Der Dreckskerl aus Shanghai hielt ihn für 202
nicht viel mehr als eine zimperliche alte Jungfer und einen Heuchler, und er machte keinen Hehl daraus, daß er ihn am liebsten an seine Tiger verfüttern würde. Die zwei lebten in verschiedenen Welten. Chan Fau jedoch war der Fuchs, und der Fuchs hatte den Gorilla überlistet. Als Ai-Ling fünfzehn war, hatte Fau ihre Seele und ihren Körper besessen. Damals hatte sie Schlamm im Gesicht und roch nach den Kühen ihres Vaters. Einen Lippenstift hatte sie nie gesehen. Ihre Familie gehörte zu der Million Kriegsflüchtlinge, die nach Chongqing geströmt waren, in dem Chan Fau dem Mitarbeiterstab von Generalissimo Tschiang angehörte. Zerrissene Kleider, eine schmutzverschmierte Haut und die Manieren eines Bauerntrampels konnten Ai-Lings Schönheit nicht verbergen. Chan Fau begehrte sie nicht als einziger, aber er war der Mächtigste. Mit ihrem Vater ging er ein Geschäft ein. Der Vater hatte beschlossen, möglichst viel für sie herauszuschlagen, bevor sie ihm ein anderer nahm und er nichts bekam. Die Familie erhielt Essen, einen verlassenen Stall als Wohnung, Ausweispapiere und - was am wichtigsten war Faus Protektion. Als Gegenleistung wurde ihm Ai-Ling übergeben. Binnen sechs Monaten wurde Fau ihrer überdrüssig und verkaufte das Mädchen einem seiner Offiziere für fünfzig amerikanische Dollar. Vor zehn Jahren hatte sich dann die Wege Faus und Ai-Lings erneut gekreuzt. Jetzt war sie äußerst attraktiv und von wildem Ehrgeiz erfüllt. Nachdem sie in einer Liebesnacht eine erstaunliche erotische Trickkiste ausgepackt hatte, bat sie ihn um Hilfe. Ob er ihr Geld vorschießen wolle, damit sie ihre Karriere als Sängerin an der Oper fortsetzen könne? Sie wolle nicht länger als Verkäuferin arbeiten. Chan Fau ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, während er ihre volle Brust streichelte. Dann beschloß er, ihr den Gefallen zu tun. Das Geld mußte sie allerdings zurückzahlen, und zwar zu seinen Bedingungen. Wäre sie einver203
standen? Aber sicher. Selbst wenn das die Trennung von ihrem Mann bedeutete? Selbstverständlich. In Wahrheit konnte sie sich von dem alten Trottel, mit dem sie verheiratet war, gar nicht schnell genug trennen. Nach dieser Nacht schlief Chan Fau nie wieder mit ihr. Auch sah man sie nie gemeinsam, weder privat noch in der Öffentlichkeit. Das Darlehen erhielt sie über eine Züricher Bank, wohin es auf dem Umweg über Holdinggesellschaften in Panama und auf den Bahamas gelangt war. Ai-Ling war nun ein Rädchen in einer groß angelegten Strategie. Sie war seine Beischläferin, seine Agentin vor Ort, bis er sich wieder meldete. Ai-Lings Schulden und Lin Paos Leidenschaft zur chinesischen Oper erlaubten es Chan Fau, Pao bis zum Tag seiner Zerstörung an der Nase herumzuführen. Die Verkuppelung des Gorillas mit der Sängerin war ein Kinderspiel. Schließlich war Ai-Ling eine von Hongkongs gefeiertsten und begehrenswertesten Frauen. Wie Fau richtig vorhergesehen hatte, sah Pao in ihr eine Trophäe, die er unbedingt haben mußte. Fau hatte sie nicht gebeten, Lin Pao zu heiraten. Mit dem Gorilla zu schlafen und ihn auszuspionieren, hätte vollauf genügt. Die Idee mit der Hochzeit stammte von Lin Pao. Nach längerem Nachdenken gestattete Chan Fau Ai-Ling, den Hochzeitsplan weiter zu verfolgen. Warum nicht? Sie würde immer der versteckte Dolch nahe Paos Herz bleiben. Vorläufig durfte sie den Luxus als Ehefrau eines Führers von Hongkongs mächtigster Geheimgesellschaft genießen. Wie alle guten Pläne war auch dieser auf lange Sicht hin angelegt. Warum sollte Chan Fau den Feind offen angreifen, wenn es heimlich genauso ging? In seinem Büro hörte Chan Fau Sergeant Yong aufmerksam zu, so daß ihm entging, wie die zwei Polizeibeamten
Schalldämpfer auf die Läufe ihrer Pistolen steckten. Dann versteckten sie beide die Pistolen hinter dem Rücken. Der eine, ein kleiner, krummbeiniger Bursche mit 204
dunkler Brille drehte sich kurz um und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Nachdem er den Leibwächtern etwas zugeflüstert hatte, schloß er sie wieder und nahm die alte Position ein Unterdessen fuhr Sergeant Yong mit der Erläuterung von paos geplantem Verrat fort. Schließlich stellte er seinen Aktenkoffer auf Chans Pult und schickte sich an, Beweise vorzulegen. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Der krummbeinige Beamte öffnete, nachdem er zuvor durch einen Spalt festgestellt hatte, wer es war. Beide Beamte traten nun beiseite, um Ai-Ling und die Leibwächter hereinzulassen. Sie trug ein blaues, bis zum Oberschenkel geschlitztes Cheongsam und Strohsandalen. Ihr langes schwarzes Haar fiel bis zu den Schultern. In ihren Armen hielt sie Hin, der ganz still blieb. Ungeschminkt wirkte ihr wunderschönes Gesicht angespannt. Als alle eingetreten waren, machte der krummbeinige kleine Polizist die Tür behutsam wieder zu. Beim Anblick Ai-Lings runzelte Fau die Stirn. Er hatte sie nicht rufen lassen. Sie sagte: »Ich komme, weil du mich gerufen hast. Den Jungen habe ich auch mitgebracht.« Chan Fau erhob sich hinter dem Pult. Was, zum Teufel, ging hier vor? Gerade wollte er Ai-Ling ihre Dummheit vorhalten, da traten die zwei Polizisten hinter Faus Leibwächter und schössen ihnen durch den Kopf. Erschrocken fiel Chan Fau in den Stuhl zurück. Der krummbeinige Polizist rammte Ai-Ling die Pistole in den Nacken und befahl ihr, den Mund zu halten. Die Augen entsetzt weit aufgerissen, nickte sie. Der zweite Polizist sperrte die Bürotür zu, rannte dann durch das Zimmer und drückte Chan Fau die Pistole gegen die Schläfe. Alles zusammen dauerte keine fünf Sekunden. Sergeant Yong sagte mit zittriger Stimme zu dem alten General: »Ich hatte keine andere Wahl.« Der krummbeinige Polizist befahl Yong, den Mund zu halten. Aufrecht saß Chan Fau da. Er hatte einen Teil der Fassung 205
wiedererlangt, die man von einem alten Kämpfer erwarten mußte, der unter dem Generalissimo gedient und einiges erlebt hatte. Noch hatten sie ihn nicht getötet. Das hieß, irgend etwas hatten sie noch vor, und er sollte wohl mitwirken. Nun, das würde sich ja herausstellen. Diesen Aufschub der Hinrichtung wollte er zum eigenen Vorteil wenden. Eine kleine Strategie, und der Tag war gewonnen. Immerhin war er auf eigenem Grund und Boden und unter seinen Leuten. Das war sein Vorteil. Um ihn zu besiegen, bedurfte es schon mehr als zweier billiger Revolverhelden und eines Yong, der kein Rückgrat hatte. Er fragte sich nur, wer die Fäden hinter diesen Marionetten zog. Chan Fau sprach sie an: »Ich will euch warnen. Euer Plan wird nicht klappen. Ihr seid zwar problemlos hereingekommen, aber ich kann euch versichern, daß ihr nicht wieder so leicht herauskommt. Im und um das Haus habe ich Dutzende von bewaffneten Männern postiert. Wie wollt ihr denn an ihnen vorbeikommen?« Chan Fau ließ sich von den eigenen Worten mitreißen. Hatte er nicht gerade ein Heldenepos gemalt? Sein Epos. Er stand auf und fuhr fort: »Wenn ihr versucht, mich aus meinem Haus zu schleppen, gebe ich meinen Männern den Befehl zum Schießen. Lieber jetzt sterben als später. Wenn ihr mich aber tötet verliert ihr eure wichtigste Geisel. Dann habt ihr nichts. Ihr seht, ihr habt das Spiel so gut wie verloren. Ich schlage vor, ihr legt die Waffen nieder. Vielleicht überlege ich es mir und lasse noch einmal Gnade vor Recht ergehen.« Der krummbeinige Chinese befahl Ai-Ling, Hin nach vorne zu tragen und vor dem Pult stehenzubleiben. Dann nickte er Sergeant Yong zu, woraufhin dieser die Aktentasche öffnete, ein Handfunkgerät herausnahm und es dem Krummbeinigen gab. Der schaltete es ein, drehte sich mit dem Rücken zu Fau und flüsterte etwas hinein. Dann hielt er es an das Ohr, nickte und schaltete aus. Grinsend bedeutete er Chan Fau, zum Fenster auf den Hof zu gehen: »Schau hinaus«, sagte er. 206
Wenige Meter vor Chan Faus Grundstück stand unter einer Gruppe Fichten ein dunkelblauer Mercedes. Auf dem Rücksitz saß Lin Pao, links neben ihm Zhang Wu. Zwischen Jen beiden lag ein Handfunkgerät. Zwei Männer mit Maschinenpistolen sahen vom Vordersitz aus zu, wie drei Lastwagen an ihnen vorbeirollten und kurz vor dem Haupttor zur Villa stehenblieben. In den Lastwagen saßen Paos Männer. Als Wächter sich innerhalb des Haupttors sammelten, sprangen Paos Männer vorne und hinten von den Lastwagen, dicht gefolgt von Dutzenden von heulenden und lamentierenden Frauen und Kindern, die alle übereinander stolperten. Schreiend und fluchend trieben Paos Männer sie unter Zuhilfenahme ihrer Fäuste und Gewehrkolben herum, bis sie in einer — wenn auch ungeraden — Reihe dastanden. Die Frauen, etwa vierzig an der Zahl, befanden sich jetzt zwischen der Villa und Paos Männern, die die Gewehre auf ihre Köpfe gerichtet hielten. Die Frauen waren jung, alt, mittelalt. Es waren gesunde und verkrüppelte dabei. Einige waren schon in den Achtzigern. Viele Kinder waren nicht einmal zehn. Alle waren verstört. Und alle waren nackt. Einige versuchten, ihre Blöße mit den Händen zu verdecken, andere drehten sich mit dem Rücken zur Villa. Die Männer auf dem Grundstück rannten zum Tor. Die einen lachten, die anderen riefen ihre Kollegen herbei, damit sie sich das Schauspiel nicht entgehen ließen. Plötzlich jedoch fingen Faus Männer zu fluchen und zu schreien an. Das waren alles ihre Frauen, Mütter, Töchter. Einige Wächter rissen am Gitter, sie wollten hinausstürzen. Mit Schüssen in die Luft trieben Paos Leute
sie zurück. Schluchzend flehten die Frauen ihre Männer um Hilfe an. Einige stammelten, wie sehr sie sich vor dem Schwarzen General fürchteten — und ihren Männern blieb nichts übrig, als machtlos zuzuschauen. Zwar hatte der Schwarze General bei weitem nicht so viele Leute, doch hatte er ihre Frauen. 207
Auf dem Rücksitz des Mercedes nickte Pao Zhang zu, der daraufhin etwas in das Funkgerät sagte. Sekunden später ging einer von Paos Männern vom Lastwagen zum Haupttor. Als Zeichen des Waffenstillstandes winkte er mit einem weißen Tuch. Nachdem er kurz etwas zu Faus Männern gesagt hatte, wich er wieder zurück. Sie nahmen ihn kaum wahr, weil sie gebannt auf den von den Fichten fast verborgenen dunkelblauen Mercedes starrten. In seinem Büro fummelte Fau nervös an den Auszeichnungen auf seiner Brust herum, während er weiter auf die verrückte Szene unter ihm schaute. Nackte Frauen vor seinem Tor — und seine Männer standen nur untätig herum. Etwas war faul an der Sache. Fau bekam es langsam mit der Angst zu tun. Das Sprechfunkgerät in der Tasche des Krummbeinigen fing an zu summen. Schnell stellte er es an und hörte zu, dann blickte er Fau an. Mit dem Kopf deutete er zum Hof. Faus Männer legten die Waffen nieder. Selbst die übrigen kamen jetzt, die Waffen hoch über dem Kopf, aus dem Haus geeilt. Das Haupttor war nun offen. Das Herz pochte Fau zum Zerbersten, als er zusah, wie die Frauen von bewaffneten Männern in den Hof getrieben wurden. Langsam folgten ihnen zwei Lastwagen. Unter dem Bürofenster mußten die Frauen stehenbleiben. Fau wandte sich ab, doch der Krummbeinige strich ihm mit der Pistole sanft über die Backe. »Schau hin«, befahl er. Fau sah zu, wie seine Männer vollständig entwaffnet und dann mit über dem Kopf verschränkten Händen zur Ostwand dirigiert wurden. Erst jetzt fuhr der Mercedes aus dem Schatten der Fichten auf den Hof. Kurz vor den Frauen blieb er stehen. Chan Fau spürte einen stechenden Schmerz im Magen, und selbst mit der Brille verschwamm ihm alles vor den Augen. Seine größte Schwierigkeit war, das, was sich unter seinen Augen abspielte, als Wirklichkeit zu akzeptieren. Es spottete jeder Beschreibung. Wer konnte ihm erklären, warum nackte Frauen aufsein Grund208
stück getrieben wurden? Wer konnte ihm erklären, warum seine fachen erst das Tor öffneten und sich dann widerstandslos ergaben? Vielleicht gab es gar keine Erklärung. Vielleicht war es eine Halluzination, ein unverständlicher Traum. Geistig war er auf einen so widrigen Verlauf der Ereignisse nicht eingestellt. Sicher hatte jemand einen Fehler gemacht. Wenn sich Chan Fau mit dem Verantwortlichen auf der Gegenseite zusammensetzen und ihm gut zureden könnte, ginge diese sonderbare Sache vielleicht noch gut aus. Nur ein, zwei Worte mit den richtigen Leuten dürften für beide Seiten eine zufriedenstellende Lösung bringen. Chan Fau war ein Kriegsheld. Damit würde er sich gewiß Respekt verschaffen. Doch er ertappte sich nur dabei, wie er in den Hof hinunterstarrte und flüsterte: »Warum haben sie ihren General nicht verteidigt?« Hinter ihm rief der Krummbeinige: »Los, wir gehen!« Chan Fau, Sergeant Yong und Ai-Ling sollten in den Hof hinunter. Der kleine Hin war in den Armen seiner Mutter eingeschlafen. Oben am Treppenansatz blieb Chan Fau stehen. »Ich muß mit dem Drachenhaupt sprechen«, sagte er. »Haben Sie die Nachricht nicht gehört, hoher Herr?« fragte Yong. »Das Drachenhaupt ist verschieden, kurz bevor ich zu Ihnen kam. Die Ärzte haben ihr Bestes getan, aber es ist ihnen nicht gelungen, ihn zu retten.« »Warum hat mir das keiner gesagt?« »Nun ja, hoher Herr. Das geht nur Lin Pao und Sie an.« Chan Fau blinzelte. Plötzlich fühlte sich seine Kehle trocken an. Lin Pao — aber natürlich. Laut sagte er: »Er und ich, wir dürften schon zu einer Einigung kommen. Ich muß schon sagen, es enttäuscht mich, daß meine Männer keinen Widerstand geleistet haben.« »Der Schwarze General hat ihnen fünfzehn Sekunden gegeben, um sich zu ergeben. Danach hätte er ihre Frauen erschossen«, erklärte der Krummbeinige. »Hoher Herr«, fügte Sergeant Yong hinzu, »leider habe 209
ich dasselbe getan. Unsere Frauen sind uns wichtiger als Sie. Genau wie der Schwarze General es sich gedacht hatte. Es schmerzt mich, doch meine Frau und Tochter sind ebenfalls dort unten. Man hat mir gesagt, daß die Frauen und Mütter von zwei Ärzten, die kürzlich noch unserem verstorbenen Drachenhaupt beistanden, ebenfalls im Hof stehen.« Zhang Wu ließ die Telefonkabel in Chan Faus Villa zerschneiden. Dann wurde ein Ledersessel aus dem Haus getragen und auf dem Rasen aufgestellt. Zhang Wu stellte einen Kassettenrecorder neben dem Sessel auf den Boden und half Lin Pao aus dem Mercedes. Pao trug einen grünen Krankenhauskittel, einen Pyjama und Pantoffeln. Sein sehendes Auge und die Augenhöhle waren hinter einer dunklen Brille verborgen. Am Vordereingang sahen Chan Fau und Ai-Ling nervös zu, wie Zhang Wu Pao zum Sessel führte. Als Pao saß, nickte er Zhang Wu zu, der sich zu ihm herabbeugte. Die Anweisungen, die er ins Ohr geflüstert bekam, gab er sofort an Paos Männer weiter.
Alle Frauen mit Ausnahme von Ai-Ling wurden mit ein paar Wächtern ins Haus geschickt. Sechs von Paos Männern bezogen rund um das Haus Stellung. Jede Frau, die zu fliehen versuchte, sollte erschossen werden und jeder Wächter, der die Frauen belästigte, würde ebenfalls erschossen. Hätten Faus Männer Widerstand geleistet, Pao hätte die Frauen unverzüglich umgebracht. Aber sobald die Frauen im Haus waren, erklärte Pao seinem neuen Stellvertreter: »Ich will Faus Männer als ergebene Mitarbeiter gewinnen. Es wäre also dumm, wenn ich ihre Frauen unnötig erniedrigen würde.« Dem stimmte Zhang Wu zu. Es war töricht von ihm gewesen, Lin Pao zu unterschätzen. In drei Tagen hatte Pao eine brillante Gegenaktion auf die Beine gestellt. Die Männer, deren Gesichter Fau nicht kannte, hatte er aus Manila und Singapur eingeflogen. Ob mit oder ohne Son Sui, der Schwarze General würde ein Drachenhaupt ersten Ranges abgeben. 210
Als sämtliche Befehle ausgeführt waren, schritt Zhang auf Ai-Ling zu, nahm ihr Hin aus den Armen und trug den Jungen zum Schwarzen General. Die Wiedersehensfreude war groß. Ohne sich um die gebannten Zuschauer zu scheren, küßten und umarmten sich Vater und Sohn immer wieder. Zu Hins Entzücken zog Pao eine kleine Plastikrakete aus der Rocktasche. Ausgelassen klopfte der Kleine damit gegen die Brust seines Vaters. Wieder gab es heiße Umarmungen und Küsse. Einige Sekunden lang war nichts zu hören als das Krächzen und Krähen über ihnen und Ai-Lings Schluchzen. Dann legte Pao seinen Sohn in Zhangs Arme, damit er ihn in das Haus trage. Als Zhang wieder herauskam, rief er den Lastwagenfahrern etwas zu. Sofort ließen beide den Motor an. Zhang nickte kurz mit dem Kopf, und schon zerrten vier Wächter Chan Fau zu den Lastwagen. Fau verlangte mit Pao zu sprechen, verlangte die einem Mann seines Ranges und seiner Verdienste gebührende Achtung. Sicher wollte Lin Pao eine Unterredung nicht verweigern. Chan Fau schrie: Man schuldet mir Respekt, verstehst du? Respekt! Keiner hörte auf ihn. Seile wurden ihm um Arme und Beine gebunden, dann fesselte man ihn an die zwei Lastwagen. Einige von Chan Faus und Lin Paos Männern blickten auf den Boden. Andere schlössen die Augen und hielten sich die Ohren zu. Chan Faus graue Haare waren zerzaust, die Brille hing ihm von einem Ohr herab, und noch immer verlangte er Respekt, als Zhang Wu einen Arm hob und wieder senkte. Die Lastwagen fuhren in entgegengesetzte Richtungen los... Ai-Ling fiel in Ohnmacht. Sie war noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, da schleiften sie die vier Männer, die Chan Fau an die Lastwagen gefesselt hatten, vor Lin Pao. Pao nickte Zhang Wu zu. Dieser ließ sie sofort fesseln und am Boden festhalten. Jetzt schaltete Pao den Kassettenrecorder ein, den ihm inzwi211
sehen jemand auf den Schoß gelegt hatte. Ai-Lings Gesang schallte über den ganzen Hof. Pao legte den Kassettenrecorder auf den Boden und richtete sich unter großer Mühe auf. Seine eine Hand streckte er zu Zhang Wu aus. Mit einem Griff in die Hosentasche brachte der kleine knochige Mann ein Klappmesser zum Vorschein, ließ es springen und überreichte es Pao. Ai-Ling sah zu ihrem Mann empor und flehte um Gnade. Pao schlurfte auf sie zu, die Füße konnte er kaum heben. Als er Ai-Ling erreicht hatte, beugte er sich, von zwei Männern gestützt, über sie und stieß ihr die Klinge in die Brust. Ai-Lings Schrei übertönte ihren Gesang aus dem Kassettenrecorder.
11 Manila/März Mit einem Glas in der Hand stand DiPalma auf dem Balkon seiner Hotelsuite und sah einem Hubschrauber zu, wie er sechs Stockwerke über ihm vom Betondach des gegenüberliegenden Penthouse abhob. Sekunden später drehte der Hubschrauber nach links zur Manila Bay in Richtung Süden zum Flughafen ab. Auf dem Grundstück unten kreischten Tropenvögel, als sich Hotelbedienstete in roten Jacken mit dem Abendbrot ihren Käfigen näherten. Es gab Obst und Körner. Am Horizont war die Sonne schon fast verschwunden. Mit der hereinbrechenden Dunkelheit schalteten andere Bedienstete die Lichter um die vier Tennisplätze und das große Schwimmbecken an. DiPalma trat wieder in seine Suite, setzte sich auf eine gepolsterte Bambuscouch und legte die Füße auf einen Hartholztisch, direkt neben eine Vase mit süßlich riechenden Sa-maguite-Orchideen. Er schluckte den letzten Tropfen Mineralwasser aus seinem Glas und sah auf die Uhr. Fast zwanzig nach acht. Die Nutte hätte vor zwanzig Minuten kommen sollen. Vor drei Stunden, bei der Anmeldung für die fünfhundert Dollar teure Suite mit Blick auf Manila Bay, hatte DiPalma Federico, dem Chefportier erklärt, er brauche Gesellschaft. Federico, ein untersetzter Filipino mittleren Alters mit geschniegeltem Äußeren und einem strichdünnen Oberlippenbärtchen erwiderte: »Gewiß.« »Kennen Sie eine Dame namens Huziyana de Vega?« Lächelnd steckte Federico DiPalmas Fünfzigdollarschein ein und fragte: »Um wieviel Uhr wünschen Sie sie zu
sehen?« 213
»Sagen wir um acht Uhr. Erklären Sie ihr, daß einige Leute aus Hongkong sie wärmstens empfohlen haben. Geld spielt keine Rolle. Wenn sie kommen kann, werde ich es zu würdigen wissen.« Laut Martin Mackie würde sich die de Vega für Zaster nackt ausziehen, sich mit falschen Klunkern behängen und im Gewitter draußen zu tanzen anfangen. »Glücklicherweise ist sie gerade von einer kleinen Urlaubsreise zurückgekehrt«, sagte Federico. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Sir, daß sie Sie mit Sicherheit heute abend aufsuchen wird.« Reiche Amerikaner waren ein Geschenk Gottes für die Armen. Und mit dreizehn Kindern und einem weiteren, das unterwegs war, ging es Federico auch nicht besser als den meisten anderen Hungerleidern auf den Philippinen. Er wollte die kleine Schlampe dem Amerikaner präsentieren, selbst wenn er sie an ihrem Hintern herbeischleifen müßte. »Nennen Sie meinen Namen nicht«, bat ihn DiPalma. »Sagen Sie nur, der Herr in Suite Nummer 557 habe schon viel von ihr gehört und würde sich über ihre Gesellschaft freuen. Richten Sie Miß de Vega aus, daß ich mich erkenntlich zeigen werde, wenn sie eine andere Verabredung absagen muß.« »Sir, ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie sich heute abend der Gesellschaft von Miß de Vega erfreuen werden. Darauf können Sie bauen.« Federico zwinkerte mit den Augen. Da ein Fick mit Miß de Vega nicht auf der Tagesordnung stand, zwinkerte DiPalma nicht zurück. Er hatte vor, sich platonisch mit der kleinen Dame zu befassen, nichts sonst. Sie psychologisch auszumanövrieren. Er wollte ihr die gestohlene Philippe Patek, die man nach dem Brand bei Taaltex gefunden hatte, vor die Nase halten. Vielleicht gab sie dann zu, daß sie die Uhr für Leon Bacolod gestohlen hatte, den Wachmann bei Taaltex, mit dem sie in wilder Ehe lebte. Als nächstes würde er sich verständnisvoll geben angesichts ihrer Schuldgefühle wegen des Feuers. Wenn sie nämlich die Uhr Bacolod geschenkt hatte, machte ihn das zum Hauptverdächtigen, was den Tod der 45 Frauen betraf. 214
DiPalma würde sagen, Bacolod habe die Baracken in Lin paos Auftrag in Flammen aufgehen lassen, und sie wisse davon. Vielleicht belastete das ihr Gewissen? Vielleicht aber auch nicht. Reue war eine Sache, der Selbsterhaltungstrieb eine andere. Sollte er in der Portiersloge anrufen und Federico Dampf machen? Noch nicht. Er wollte dem Fräulein bis neun Uhr Zeit geben und dann dem lieben Freddy Feuer unter dem Hintern machen. Der Telefonservice auf den Philippinen war nicht unbedingt der beste. Seit seiner Ankunft hatte DiPalma erst einen Anruf getätigt, und der hatte seine Geduld und seine Kreditkarte gewaltig belastet. Er hatte nach Hause mit Jan telefoniert, um ihr mitzuteilen, daß sie gut angekommen waren. Da man nicht durchwählen konnte, hatte es vierzig Minuten gedauert, bis die Verbindung stand. Dazu hatte es auch noch einen Aufpreis von 25 Prozent gegeben. Und das in einem ansonsten vorzüglichen Viersternehotel. Zum Glück hatte er die wichtigen Telefonate noch vor seiner Abreise geführt. Als erstes hatte er mit dem New Yorker Senator Joseph Quarequio gesprochen, der daraufhin die amerikanische Botschaft in Manila gebeten hatte, sich DiPalma gefällig zu erweisen. DiPalma sei nicht nur sein Freund, hatte der Senator dort erklärt, er sei auch ein beliebter New Yorker Fernsehreporter. Quarequio hätte nicht drei Wahlen hintereinander gewonnen, wenn er die Presse links liegen gelassen hätte. Als nächstes hatte er direkt in Manila angerufen und mit Barry Omens, dem leitenden Beamten des DEA auf den Philippinen, gesprochen. In der Zeit, als DiPalma noch bei der Polizei war, hatten sie zusammen bei der Drogenfahndung gearbeitet. Einmal hatten sie nach verdeckten Ermittlungen illegal eingeschleuste Sizilianer hochgehen lassen, die an der ganzen Ostküste Pizzabäckereien zur Tarnung ihres Heroinschmuggels betrieben hatten. Omens war ein Experte für die von Asiaten organisierten Verbrechen in Amerika und Übersee. 215
Jetzt stand er drei Monate vor der Pensionierung und freute sich auf eine neue Laufbahn bei der Staatsanwaltschaft des Bezirks Manhattan. DiPalma hatte ihm die Stelle verschafft. »Dein Freund Mackie hatte recht«, meinte Omens. »Keiner hier in der Gegend will etwas vom Brand bei Taaltex gewußt haben. 45 tote Frauen, aber man hört immer nur >schlecht fürs Geschäfte Die Leute hier haben furchtbare Angst, daß der Brand ausländische Gesellschaften abschreckt. Und die bringen ja die harte Währung und die Technologie, an die sie sonst nicht herankommen. Diese Angelegenheit wollen sie eines ganz stillen Todes sterben lassen. Was meinst du, in was für eine Jubelstimmung das Lin Pao und Nelson Berlin versetzt?« DiPalma erwiderte: »Wahrscheinlich hat Lin Paos Mann in Manila das Feuer gelegt. Wer könnte das sein?« »Wer das sein könnte, fragt er. Wir sprechen über Charles Sui, ein äußerst kaltblütiges, äußerst ausgekochtes Schlitzohr. Ist auch als Charlie Snake, die Schlange bekannt. Er ist der Sohn von Paos engstem Freund, oder was mal Paos engster Freund war, bis der Bursche vor gut zwanzig Jahren umgenietet wurde. Offen nennt ihn übrigens keiner Schlange, weil er kontaktfreudig und gesellig ist.« Omens lachte kurz auf. »Unser Freund Charles, alias Chung, ist keiner von denen, die vergeben oder vergessen. Soll noch rachsüchtiger als Lin Pao sein, und das will was heißen. Angeblich hat er mal einem Verräter Säure in die Augen schütten und dem Burschen die Kniesehnen durchschneiden lassen. Ein hübsches Freundchen. Pao ist übrigens sein Pate.« »Also hat Charlie Snake den Feuerteufel angeheuert?« »Darauf kannst du Gift nehmen. Kein angenehmer Arbeitgeber. Erwartet für seinen anständigen Lohn auch
anständige Arbeit. Wenn du Mist baust, landet dein Schwanz in seiner Hosentasche. Unser Geheimdienst sagt, daß er einer von Paos bewährtesten Statthaltern ist. Der Kerl hat auch viele Freunde. Er ist auf alle Fälle eine Hauptfigur. Würde mich nicht überraschen, wenn er eines Tages Häupt216
ling wird. Für den Schwarzen General schmeißt er den Laden auf den Philippinen und beaufsichtigt auch noch die Leute in Australien, Neu Guinea, Borneo und Neu-Kaledonien. Ziemlich junger Bursche. Erst Anfang dreißig. »Irgendwelche Laster?« fragte DiPalma. »Keine. Es sei denn, du hältst es für ein Laster, wenn man auf Tennis spinnt. Fängt jeden Morgen mit einem Match oder einer Privatstunde von einem berühmten Profi an. Fliegt jedes Jahr nach Wimbledon. Wirklich — jedes Jahr. Der Kerl fliegt auch nach Paris, Rom, in die Staaten, überall dahin, wo Ivan Lendl einen großen Auftritt hat. Er ißt, trinkt und schläft mit Ivan Lendls Spielen. Snake ist verheiratet und hat zwei Kinder. Säuft nicht, spielt nicht, fixt nicht, geht nicht fremd. Kümmert sich nur ums Geschäft und spielt Tennis. Übrigens — du könntest mir sagen, was du hier vorhast.« »Im Augenblick ist es etwas Persönliches. Aber sobald ich kann, erkläre ich dir alles.« »Schon recht«, brummte Omens. »Wenn du da bist, laß dich mal bei mir blicken. Wenn nicht, dann sehen wir uns im >Big Apple<. Mensch, ich kann's gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen. Im Moment kannst du mir nichts sagen, wie?« Ich könnte sagen, dachte DiPalma, daß meine Frau und mein Kleiner damit zu tun haben, aber ich will es nicht, ich kann es nicht. Laut sagte er: »Nur soviel, es hängt mit Lin Pao und Nelson Berlin zusammen. Sie sollen im gleichen Bett liegen.« »Du veräppelst mich. Halt, das nehme ich zurück. Du redest nie Unsinn. Mensch, wenn das stimmt... Ich meine, wir hören ständig was über die zwei, aber keiner hat ihnen was anhängen können — und nicht etwa, weil wir es nicht versucht hätten.« »Jemand hat was in der Hand. Deswegen fliege ich rüber.« Omens seufzte durchs Telefon. »Du könntest aus mir einen großen Mann machen. Einen ganz großen Mann.« 217
»Sobald die Zeit reif ist, weihe ich dich ein.« »Jesus, Maria und Joseph. Kann ich mich wirklich mit einem Heiligenschein verabschieden?« »Das wird sich zeigen. Ich könnte ein bißchen Hilfe brauchen, wenn ich da bin.« »Da brauchst du mich nicht zu bitten.« In New York hatte DiPalma sich einen Schlachtplan für Manila zurechtgelegt, einen Plan, dem es nicht an Hoffnungslosigkeit, wohl aber an Brillanz fehlte. Er entschuldigte sich bei Todd, Benjy und Joan, daß er nichts besseres vorweisen könne, aber für lange Besprechungen über die Strategie reiche die Zeit einfach nicht. Sie mußten Manila erreichen, bevor die Triad erfuhr, daß Raul Gutang, der Computer Operator von Taaltex, mittels einer Diskette Verbindungen zwischen Nelson Berlin und Lin Pao nachweisen konnte. Und bevor die Triad etwas gegen eine zwergwüchsige Hure unternehmen konnte, die eine bestimmte Uhr gestohlen hatte. DiPalma verlangte von den Jugendlichen sehr viel. Er sagte, daß er Verständnis habe, wenn sie doch noch verzichten und lieber nicht zu den Philippinen fliegen würden. Das wollte aber keiner. Todd hatte sich der Vernichtung des Schwarzen Generals verschrieben, und Benjy und Joan hatten sich Todd verschrieben. Alle drei waren bereit, DiPalma zu folgen. »Ich kann nicht viel ausrichten«, erklärte DiPalma den dreien. »Die Triad hat mich mit Martin Mackie zusammen gesehen. Ich könnte mir vorstellen, daß Paos Leute mich beobachten werden, sobald ich New York verlasse. In Manila werde ich den Brand bei Taaltex unter die Lupe nehmen und mein Glück mit Huziyana de Vega versuchen. Aber in der Hauptsache bin ich der Lockvogel. Ich werde überall auf dem Präsentierteller stehen. Mir bleibt nicht viel anderes übrig. Das heißt, daß ihr zwei, Todd und Benjy, Gutang wegen der Diskette treffen müßt.« »Wir verstehen«, erwiderte Todd. »Seid unbedingt vorsichtig. Wir kennen Gutang nicht. 218
Wir wissen nicht, was er denkt, was für ein Spiel er spielt. Wir wissen nur, daß er die Hunderttausend will, die Martin Mackie für ihn in Zürich hinterlegt hat, aber das ist auch schon alles.« Todd nickte. »Ich nehme meinen tragbaren Computer mit. Dann kann ich die Diskette gleich einlegen und prüfen. Wenn alles stimmt, gebe ich ihm die andere Hälfte des Tausenddollarscheins mit dem Rest von der Kontonummer. Wenn die Diskette nichts taugt, kriegt er nichts. Ob er lügt, werde ich herausfinden.« »Guter Junge. Noch etwas. Wir fliegen getrennt nach Manila. Jeder mit einem anderen Flugzeug. Ob es die gleiche Gesellschaft ist oder eine andere, ist nicht so wichtig. Aber wir dürften nicht mit der gleichen Maschine fliegen. Todd, Benjy, ihr geht vorher zum Friseur. Und tragt auf dem Flug eine Sonnenbrille. Benjy, kauf dir zur Abwechslung mal einen Anzug und eine Krawatte. Todd, in Manila wartest du am Flughafen auf Joan. Kümmere dich darum, daß sie wohlbehalten in die Stadt kommt. Mit etwas Glück dürftet ihr Manila unerkannt erreichen. Das heißt, wenn sich die Triad auf mich konzentriert. Ob es euch gefällt oder nicht — als Mann vom Fernsehen falle ich immer auf. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich mich nicht verstecken.« »Könnte für Sie gefährlich werden, den Lockvogel zu spielen«, meinte Benjy. »In New York würde es sich die
Triad vielleicht genau überlegen, ob sie einen Journalisten umlegen soll. Vielleicht. In Manila gibt es da gar keine Frage. Dort drüben ist es einen Dreck wert, wenn man Reporter ist. Wenn sie ihren Kopf wollen, dann sind Sie tot.« »Das wäre nicht das erste Mal, daß jemand versucht, mich um die Ecke zu bringen. Wie dem auch sei. Wir Werden in verschiedenen Hotels wohnen. Ihr drei sollt die ganze Zeit zusammen bleiben. Die ganze Zeit. Und noch was — und das ist wichtig: Todd ist der Boß. Alle bekommen ihre Befehle von ihm. Ist das klar, Benjy?« »Aber sicher doch.« 219
»Nicht so flapsig, junger Mann. Wie du gerade gesagt hast — dort drüben sitzt ihnen das Schießeisen viel lockerer als hier, und ich will nicht, daß mein Sohn stirbt, nur weil du auf eigene Faust losgezogen bist und eine Dummheit gemacht hast. Du bleibst mit Joan im Hotel, bis Todd euch eine andere Weisung gibt.« Benjy holte die Uzi hervor und nahm DiPalma ins Visier. »Und wann wäre das, berühmter Journalist?« DiPalma sah Benjy durchdringend an. Freunde und Feinde nannten diesen Blick den Blitz. Schließlich richtete der Junge seine Waffe langsam gegen die Decke. Mit den Worten: »Du kannst sie nicht mit ins Flugzeug nehmen, oder hast du dir nicht die Mühe gegeben, so weit vorauszudenken?« zog DiPalma sie ihm behutsam aus den Händen. Benjy blickte zu Boden und zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, du hast einen Paß«, sagte DiPalma. Benjy hielt sechs Finger hoch. »Sechs Stück. Ich bewahre sie an verschiedenen Stellen auf. Ich komme viel herum.« DiPalma schnaubte. »Das dachte ich mir.« Er sah zu Joan. »Jetzt müssen wir nur noch dir einen Paß besorgen, junge Frau. Nicht ganz einfach. Hier können wir dich auf keinen Fall zurücklassen. Allein würdest du in dieser Stadt nicht einen Tag überleben.« Joan, die Englisch kaum verstand, wirkte plötzlich verängstigt. Todd hatte ihr DiPalmas Ausführungen ins Kantonesische übersetzt. Jetzt drückte sie sich enger an den Jungen, ergriff ihn beim Arm und schüttelte den Kopf, als ob sie DiPalma nicht zustimme. Todd sagte auf englisch: »Sie hat Angst, daß du sie allein hier zurückläßt.« DiPalma verneinte: »Auf keinen Fall. Sag ihr, daß wir lediglich versuchen, ihr einen Paß zu besorgen. Sie kommt mit.« Mit ungewöhnlich sanfter Stimme redete der Junge dem verängstigten Mädchen auf Kantonesisch zu. Seine Worte beruhigten sie allmählich. Schließlich wischte sie sich mit ihren Händchen die Tränen lächelnd aus dem Gesicht. 220
»Jetzt geht es wieder«, erklärte Todd DiPalma. »Es ist wichtig, daß sie mit uns nach Manila kommt.« Die Stimme des Jungen klang plötzlich traurig. »Sie muß dort ihr Karma erfüllen.« DiPalma entging die Besorgnis seines Sohnes nicht, doch er schwieg. Später sollte er nie an Todds Worte denken, ohne daß ihm der kalte Schweiß ausbrach. Im Augenblick sagte er nur: »Karma oder nicht Karma, ohne Paß kommt sie dort nicht hin.« »Kein Problem«, meinte Benjy. »Der Bursche, der in New Jersey für uns arbeitet, kann in wenigen Stunden einen für sie fälschen. Aber er ist nicht billig zu haben.« »Das überlasse ich euch. Besorgt nur den Paß. Wie, das will ich nicht wissen. Ich war mal Cop, vergiß das nicht. Sag deinem Freund in Jersey nicht, daß du und Joan irgendwohin wollt. Hast du Geld?« »Mann, Geld ist kein Problem. Ich habe gleich drei Schließfächer, in denen ich meine Sachen aufbewahre. Ich glaube nicht an Kontos, Mann. Nur mit Bargeld kommt man weiter.« Soviel DiPalma über die chinesischen Jugendbanden wußte, ging eine Menge Geld durch Benjys Hände. Die Triad zahlte Bandenbossen wie Benjy bis zu fünftausend Dollar pro Woche. Kein Wunder, daß er eine Handvoll Schließfächer brauchte. Laut sagte er: »Martin Mackie wird Gutang benachrichtigen, daß er Todd und Benjy erwarten soll. Noch etwas: Solange wir in Manila sind, gibt es keinen Kontakt zwischen uns. Ich werde euch über einen Freund, Barry Omens, erreichen. Merkt euch den Namen. Barry Omens. Er wird sich mit einer Losung zu erkennen geben. Todd wird sie verstehen. Auf dem Rückweg werden wir uns im Flughafen von Manila treffen und die Philippinen gemeinsam verlassen.« Martin Mackie tat das seine. Er benachrichtigte Gutang, daß er Todd und Benjy erwarten solle. DiPalma sagte er, daß der Computer Operator nicht scharf darauf sei, seine 221
Diskette zwei Jugendlichen zu übergeben, aber für 100 000 Dollar sei er bereit, seine Abneigung gegen Geschäfte mit Halbstarken zu unterdrücken. Mr. Gutang liebte Geld. DiPalma seinerseits hatte es gern, wenn alles glatt ablief, obgleich er wußte, daß alles immer anders als geplant kam. Jede Wette, daß seine Reise ein paar Überraschungen parat hielt. Manila. Im geräumigen Wohnzimmer seiner Hotelsuite schritt DiPalma mit dem Stock in der Hand auf und ab. Nach einem vierundzwanzigstündigen Flug von New York tat es gut, die Füße wieder auszustrecken. Er sah auf die Uhr. Huziyana de Vega war seit fast einer halben Stunde überfällig. Sollte er unten anrufen und Federico
verlangen? Er schenkte sich wieder ein Glas Mineralwasser ein, das er mit einem Zug leerte. Im Augenblick vertrug sein kranker Magen nichts anderes. Nicht, solange er sich um Jan und Todd noch zu Tode ängstigte. Er fragte sich, ob Nelson Berlin noch mehr unternehmen würde, als nur Jans Telefon anzuzapfen. Es gab ja auch noch das Treffen zwischen Todd, Benjy und Gutang, und das ging DiPalma nicht aus dem Kopf. Wenn die Jungen die Diskette bekamen, wäre er dann in der Lage, sie aus dem Land zu schmuggeln? Mannomann, dachte er, mit der Frau, die du geheiratet hast, und dem Jungen, den du gezeugt hast, hast du dir ein ganz schönes Kreuz aufgeladen. Das Telefon klingelte. DiPalma riß den Hörer hoch. »Yeah?« »Federico. Miß de Vega ist hier unten bei mir. Soll ich sie nach oben bringen?« »Sofort. Und, Federico, vielen Dank. Für diesen Dienst bin ich Ihnen wirklich sehr verbunden.« In seiner Loge hängte der Portier ein und wandte sich drei Chinesen zu, die rings um ihn standen. Sie trugen jeder ein Barong Tagalog, ein auf den Philippinen sehr beliebtes be222
sticktes Herrenhemd. Unter zusammengefalteten Zeitungen drückten zwei von ihnen Federico ihre Revolver in das Rückgrat und in die rechte Niere. Der dritte, dessen Hand auf der Schulter der verängstigten Huziyana de Vega ruhte, rief: »Los, fahren wir rauf!« 223
12 Kurz vor Mittag stieg Benjy an der Ecke Rizal — Recto Street, dort wo Chinatown beginnt, aus seinem Taxi. Um den Arm hatte er ein Jackett und eine Krawatte hängen. Sein schulterlanges Haar hatte er sich bis auf wenige Millimeter stutzen lassen. Das Gesicht verbarg er hinter einer Sonnenbrille. In der Hand trug er einen braunen Lederkoffer. Ohne sich um Wahrsager, Bettler, Lebensmittelhändler und die Verkäufer von Raubkopien von Kassetten zu kümmern, kletterte er sogleich in eine Calesa, ein von Pferden gezogenes Fuhrwerk, und befahl dem Kutscher, ihn nach Chinatown zu bringen. Autos waren dort nicht erlaubt. »Verlaß das Hotel nicht«, hatte ihm Todds Vater eingeschärft. Aber von einem kurzen Halt, bevor Benjy dort ankam, war nicht die Rede gewesen. Ein kurzer Halt. Wer würde davon schon Wind bekommen? Er hatte New York als erster verlassen. Eine Stunde später war ihm Todd gefolgt, allerdings mit einer anderen Linie und zuerst nach Los Angeles, wo er Anschluß nach Manila bekam. Joan sollte über Honolulu nachkommen. Im Augenblick war Benjy allein in Manila. Nach Chinatown war er gekommen, um sich eine Pistole zu kaufen. Menschenskinder, wie er sich ohne Waffe nackt vorkam. Da Benjy Mr. Gutang nicht kannte, war es vielleicht eine gute Idee, wenn er sich vor dem Treffen eine Kanone besorgte. Benjy verfügte über Durchsetzungsvermögen und neigte bisweilen zu brutaler Härte. Hinzu kam eine explosive Willenskraft. Mit diesen Eigenschaften hatte er sich nicht nur die Führerschaft der Jadeadler erstritten, sondern auch die Bewunderung Lin Paos. Was er begonnen hatte, dem widmete er auch seine ganze Energie und ließ nicht locker, bis es vollendet war. Er konnte aber auch engstir224
nig und rachsüchtig werden, wenn es nicht nach seinem Willen lief. In der Bande war sein Wort Gesetz. Er wußte, wie man Befehle erteilte und erwartete ihre Ausführung sofort. Die anderen respektierten ihn jedoch, auch weil er aufrichtig war, nie angab und weil ihm die Jadeadler wirklich am Herzen lagen. Noch mehr lag ihm Todd am Herzen. Aus diesem Grund wollte er auch die Pistole. Als Zwölfjähriger hatte er für die Jadeadler seine erste Rauschgiftlieferung von Hongkong nach Manila erledigt. Später hatte er von Manila Drogen und Geld nach Sydney, Honolulu, Chicago und New York geschmuggelt. Seit er als neunjährige Waise in Hongkong Führer einer Straßenbande geworden war, nachdem er in einem Kampf auf Leben und Tod den vorherigen Führer vom Dach eines achtstöckigen Hauses geworfen hatte, war er weit herumgekommen. Benjy war der Typ, der immer überlebte, dem kein anderer gewachsen war. Auch deswegen wollte er Mr. Gutang nicht mit leeren Händen entgegentreten. Einige Jadeadler hatten Benjy von Mr. Two erzählt, einem alten Chinesen, der von Manilas Chinatown aus operierte. Man nannte ihn >Two<, weil er zwei Geschäfte betrieb. Seine Pistolen waren nicht billig, aber er bot eine große Auswahl an. Und er stellte keine Fragen. Benjy brauchte keinen Hochschulabschluß, um zu wissen, daß Pistolen auf den Philippinen den Lebensunterhalt sichern konnten. Schuld daran waren Armut und eine hirnverbrannte Landespolitik. Ständig nieteten Katholiken, Moslems und Kommunisten einander um. Nicht zu vergessen die Privatfehden zwischen Todesschwadronen der Armee, Gangstern, Gewerkschaftsbossen und Marcos- und Aquinoanhängern. Wer dabei umkam, überlegte sich Benjy, waren immer diejenigen, die sich keine Waffe leisten konnten. Mr. Two hatte er nie getroffen. Zum Teufel, er war ja schon seit zwei Jahren nicht mehr in Manila gewesen. Damit dürfte das Risiko, erkannt zu werden, noch geringer sein. Er 225
wollte sich ein gutes Stück kaufen und dann zum Hotel fahren, bevor Todd und Joan eintrafen. Mit der Pistole hatten Todd und Benjy wenigstens eine kleine Chance, lebend aus den Philippinen herauszukommen.
Dank Todd war der Plan des Schwarzen Generals, die Jadeadler auszurotten, kein Geheimnis mehr. Nachdem die Bandenmitglieder davon erfahren hatten, waren sie entweder untergetaucht oder hatten New York schleunigst verlassen. Einige waren in Richtung Kanada oder Europa unterwegs, andere hatten sich nach Hawaii, Puerto Rico oder Santa Domingo abgesetzt. Plötzlich kannten die jungen Chinesen, die nach Amerika gekommen waren, um Geld zu schaufeln, nur noch ein Ziel: am Leben zu bleiben. Wußte Benjy schon, was er nach Manila tun würde? Nein, verdammt noch mal. Er mußte einfach darauf vertrauen, daß Todd etwas einfiel. Todds Kampf mit Ivan Ho war unvorstellbar gewesen. Als er zusah, wie Ho zusammengeschlagen wurde, hätte sich Benjy vor Freude fast in die Hose gemacht. Der Große Bruder war ein Schuft, der immer nur Kinder umgelegt hatte. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. Die anderen Jadeadler, die es gesehen hatten, erklärten sich Todds Kampfkunst folgendermaßen: Er sei vom Hasch ganz high gewesen, meinten sie. Oder er habe sich mit Koks angetörnt. Wie sonst hätte sich der Kleine in Rambo verwandeln können. Ach was, sagte sich Benjy, sollen die glauben, was sie wollen. Es gab einfach Wahrheiten, die man nicht erklären konnte. Wenn man es versuchte, schuf man nur Verwirrung. Was seine Beziehung mit Todd betraf, so erklärte Benjy sie damit, daß sie sich in einer Videospielhalle in der Canal Street getroffen hatten und draufgekommen waren, daß sie vor Jahren zusammen in derselben Bande von Waisen in Hongkong vegetiert hatten. »Wir sind entfernt miteinander verwandt«, sagte Benjy Eine kleine Lüge, aber nicht ganz unzutreffend. Waren sie nicht in einem früheren Leben Brüder gewesen? 226
Als Benjy die engen, vollgestopften Kräuterladen an der Plaza Santa Cruz betrag, hatte Mr. Two soeben einer jungen, mit einem weiß-goldenen Sari bekleideten Inderin ein Fläschchen Schlangenmoschus verkauft. Mr. Two war ein grauhaariger kleiner Mann mit Pausbacken und traurigen, sinnlichen Zügen. Er schaute Benjy kurz an, bevor er der Frau das Wechselgeld gab. Benjy drehte sich mit dem Rücken zum Ladentisch und ging zu einem niedrigen, mit Flaschen aller Größen, Formen und Farben vollbeladenen Regal. Ein grünes Glas mit der Aufschrift Eidechsenpulver stach ihm ins Auge. Als die Inderin den Laden verlassen hatte, stellte er das Glas wieder an seinen Platz und drehte sich langsam zu Mr. Two um. Nachdem er die Sonnenbrille zurechtgerückt hatte, schlenderte er zum Ladentisch. Dann legte er das Jackett neben die Kasse, stellte den Koffer auf den Boden und erklärte auf kantonesisch: »Ich will eine Pistole kaufen.« Mr. Two, der eigentlich Yuan Sen hieß, schüttelte den Kopf. Als er sprach, bewegten sich seine Lippen kaum. »Keine Pistolen. Ich verkaufe Kräuter. Alle Kräuter, die Sie wollen. So etwas habe ich.« »Falsch, Alter.« Zu Blödsinn war Benjy nicht aufgelegt. Er war furchtbar müde und hungrig. Der Rücken schmerzte ihn an der Stelle, an der ihn die Kugel gestreift hatte, obwohl Todd gesagt hatte, daß alles ordentlich heile. Je schneller er hier fertig wurde, desto besser. Mr. Two hatte Waffen, und Benjy würde eine kriegen, und wenn er dem Blödmann einen Arm brechen mußte. Er schaute kurz über die Schulter, dann Mr. Two ins Gesicht. »Hör mir zu, Alter. Die Zeit läuft, kapiert? Ich hab's eilig, also halt mich nicht auf. Du verkaufst Pistolen. Du weißt es, ich weiß es. Und du verkaufst sie an die richtigen Leute. Leute, die wir beide kennen. Jetzt führst du mich entweder die Treppe runter, oder ich gehe allein. Und wenn du versuchst, mich aufzuhalten, dann stopf ich dir ein paar von deinen Flaschen in den Arsch. Ist das klar?« 227
Mr. Two sah nicht sehr gequält aus. Im Gegenteil, er wirkte gefaßt, ja gelassen, als ob Benjy nur ein überdrehter Dreikäsehoch wäre. »Es ist nicht immer gut, wenn man es zu eilig hat«, sagte er. »Es ist nicht immer gut, wenn man mich warten läßt. Zeig mir, was du auf Lager hast.« »Du hast etwas von Leuten gesagt, die wir beide kennen.« Benjy hatte dieses Spielchen allmählich satt. Es wurde Zeit, Klartext zu sprechen. »Letztes Jahr hast du Brownings an Sam Liu und Peter Chen verkauft. Du hast jeweils fünfhundert Dollar verlangt.« Mit einem Seufzer legte Mr. Two die gefalteten Hände an die Lippen und fing an, an den Spitzen der Zeigefinger zu kauen. Hinter fast geschlossenen Augenlidern musterte er Benjy. Nach einer Weile kam er hinter dem Ladentisch hervor und ging langsam, die Arme jetzt hinter dem Rücken verschränkt, zum hinteren Ende des Ladens. Vor einer stabilen Metalltür holte er mit einem Griff unter das Hemd einen Schlüssel hervor, der an einer Goldkette um seinen Hals hing. Dann drehte er sich um und schaute Benjy an. Grinsend folgte ihm der Junge. Es war fast zwei Uhr nachmittags am selben Tag, als das kabellose Telefon im Keller von Charles Suis luxuriös eingerichteter Residenz, einem ehemaligen Augustinerkloster in Forbes Park, Manilas vornehmstem Vorort, klingelte. Sui, ein drahtiger, jugendlich aussehender Mann mit schläfrig wirkenden Augen und von eisiger Eleganz, hatte soeben Wagner auf seiner extra für ihn gebauten Orgel gespielt. Dieses einzigartige Instrument war eine kleinere Nachbildung der berühmten, zweihundert Jahre alten Bambusorgel in der Las Pinas-Kirche am Rande Manilas. Sein Musizierstil war genauso wie sein Tennisspiel: beflissen, aber nicht sehr gefühlvoll. Mit der ihm eigenen unerbittlichen Entschlossenheit erfüllte er seine Pflicht für die Triad. Um andere scherte er sich
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kaum. Heilig war ihm nur sein Privatleben, und mit fanatischem Eifer häufte er Reichtümer an. Immerhin war er der Sohn einer legendären Gestalt innerhalb der Triad und das Patenkind des Schwarzen Generals. Das waren handfeste Gründe für seinen gnadenlosen Ehrgeiz. Intrigen und Verschwörungen betrieb er mit Leidenschaft. Ständig schwirrten durch seinen Kopf Pläne, wie er Gegner und Verbündete aus dem Gleichgewicht werfen könnte. Von Natur aus argwöhnisch und paranoid, traute er weder den Hundertschrittvipern noch der eigenen Familie. Trotzdem forderte er von den anderen sehr viel und war schwer enttäuscht, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllten. War Sui einmal unzufrieden, kannte seine Wut keine Grenzen. Wer ihn enttäuschte oder weniger als sein Bestes gab, mußte sich auf unversöhnlichen Haß gefaßt machen. Der Anruf im Keller, der Sui bei einer Arie aus Parsifal gestört hatte, kam von Yuan Sen. Trotz seines vom Rauschgiftkonsum herrührenden Phlegmas konnte Mr. Two die Verärgerung in seinem Tonfall nicht verbergen. Er verlangte zu wissen, warum man ihm nicht vorher mitgeteilt hatte, daß die Triad einen ihrer Jugendlichen zum Waffenkauf schicken wolle. »Normalerweise werde ich gewarnt, bevor einer von euren kleinen Mordgesellen den Fuß auf meine Schwelle setzt!« rief er. »Ich muß unbedingt wissen, mit wem ich es zu tun habe. Darauf bestehe ich!« Dreimal in der Woche verließ Charles Sui sein Maklerbüro um Punkt zwölf Uhr mittags, um zu Hause eine vegetarische Mahlzeit einzunehmen, die ihm seine Frau, mit der er seit zwölf Jahren verheiratet war, zubereitete. Danach spielte er immer exakt fünfundvierzig Minuten lang Orgel. Wenn er übte, durfte er nie gestört werden, es sei denn in dringenden Fällen. Anscheinend hatte seine Frau Mr. Twos Jammern und Lamentieren als solchen Ausnahmefall angesehen. Zu vernünftigen Urteilen war Suis Frau eben nicht in der Lage. Der Kräuterhändler hatte sich während des größten Teils 229
seines Arbeitslebens auf den Verkauf von Zauberölen, ] Wunderkerzen und Liebestränken beschränkt. Das kleine il- I legale Waffengeschäft hatte er vor zehn Jahren von einem älteren Bruder geerbt, den die moslemische Frau eines unzufriedenen Kunden erschossen hatte. Der hatte für teures Geld eine Pistole erstanden, die dann bei einer Schießerei klemmte. Die Frau konnte seinen Tod nicht vergeben. In einem anderen Geschäft besorgte sie sich eine zweite Pistole und verhalf so Yuan Sen zu einem Zusetzeinkommen und dem Spitznamen Mr. Two. Allerdings fürchtete er sich bei diesem Geschäft vor Polizeispitzeln, Überfällen und dem Schicksal seines Bruders, weil er vielleicht an die falschen Leute verkauft hatte. Um dergleichen zu vermeiden, verkaufte er seine Waffen nur an Bekannte oder Kunden, die auf Empfehlung von Leuten seines Vertrauens kamen. »Ich erwarte, daß du mir immer schon vorher Bescheid sagst, wenn jemand von deinen Jungen kommt«, hielt Mr. Two Charles Sui vor. »Mich beunruhigt deine Mißachtung der Abmachungen. Muß ich annehmen, daß du deine mörderischen Welpen jetzt auf mich hetzen willst? Der eine, den du heute geschickt hast, benahm sich ja wie ein kleiner Kaiser.« Verärgert schrie Sui: »Bist du verrückt geworden? Ich habe dir niemanden geschickt!« Was brabbelte dieser erbärmliche Opiumsüchtige nur daher? Aber natürlich. Keiner hatte dem alten Narren gesagt, daß die Jadeadler nicht mehr gebraucht werden. Die Bande hatte von Lin Paos Plänen, sie zu beseitigen, Wind bekommen. Jetzt hielten sich alle versteckt oder versuchten verzweifelt eine sichere Zuflucht. Zwei hatte man schon gefunden und hingerichtet. Aber der gefährlichste des ganzen Haufens, ihr Führer Benjy Lok Nein, trieb sich noch frei herum. Hatte Benjys kleiner Freund den Kopf der Bande, Ivan Ho, wirklich im Kampf zur Schnecke gemacht? Sui hielt das eher für ein ziemlich fantastisches Märchen, zumal Ho ein Meister in den Kriegskünsten und ein vollendeter Mörder 230
war. Wie könnte sich ein solcher Mann von einem einfachen Jungen schlagen lassen? Charles Sui brannten drängendere Probleme unter den Nägeln, als der ständig zugekiffte Mr. Two. Der amerikanische Fernsehreporter Frank DiPalma sollte irgendwann heute abend in Manila eintreffen. Weil man DiPalma und Martin Mackie gemeinsam in New York gesehen hatte, schloß Sui, daß der Amerikaner hier den Tod von Mackies Patentochter Angela Ramos untersuchen wollte. Mittlerweile kannte sein Haß gegen Leon Bacolod, diesen dämlichen kleinen Brandstifter, dem er den Auftrag zu Angelas Beseitigung gegeben hatte, keine Grenzen mehr. Weil er diese verfluchte Uhr am Tatort zurückgelassen hatte, brachte er Sui in höchste Gefahr. Die Spur zu verfolgen, die von der Uhr über Bacolod zu ihm führte, wäre ein Kinderspiel gewesen, wenn die Behörden nur gewollt hätten. Gott sei Dank hatten sie es sich anders überlegt. Ein für die Triad arbeitender Polizeibeamter hatte erklärt, die Uhr sei vermutlich von einer zwergwüchsigen Hure namens Huziyana de Vega gestohlen worden; die mit einem Leon Bacolod in Chinatown zusammenlebe. Sie sei kürzlich von einer Reise zurückgekehrt und sofort von der Polizei verhört worden. Bacolod war nicht mit ihr zurückgekommen. Allem Anschein nach ahnte er, daß Sui vorhatte, ihn zu bestrafen, weil er keine saubere Arbeit geleistet hatte. Wie Sui weiter erfuhr, hatte die Nutte den Diebstahl erwartungsgemäß abgestritten. Angeblich kannte sie auch Bacolods Aufenthaltsort nicht. Die Polizei hatte sie heute morgen freigelassen, anscheinend akzeptierte sie ihre
Version. Sui aber beschloß, sie rund um die Uhr beschatten zu lassen. Sobald er die Gewißheit hatte, daß die Polizei mit ihr fertig war, wollte er die kleine Schlampe zu sich bringen lassen und einem eingehenden, vielleicht sogar peinlichen Verhör unterziehen, bis sie Bacolods Versteck preisgab. Mr. Two herrschte er jetzt an: »Ich habe niemanden zu dir 231
geschickt. In der nächsten Zeit habe ich auch nichts dergleichen vor.« Der Kräuterhändler ließ aber nicht locker: »Ich weiß, daß er einer von deinen Leuten war. Einen Rowdy erkenne ich auf den ersten Blick. Er hat die Namen von bestimmten Mitgliedern genannt, Burschen, die du mir mal geschickt hast. So ein eitler kleiner Pfau. Wollte nur Uzis sehen, nichts außer Uzis.« Charles Sui fuhr hoch. Die Orgel war vergessen. »Uzis?« »Ganz schön wählerisch, der Kerl. Trägt in einer Gurttasche einen fetten Batzen Geld mit sich herum, wie die meisten von euren kleinen Totschlägern. In Zukunft muß man mir einfach Bescheid sagen, wenn einer von den Jungen zu mir kommt!« Sui kniff die Augen zu. »Sein Name. Hat er dir seinen Namen genannt?« »Ist das wichtig?« Sui war aufgesprungen. Die Hörmuschel packte er mit beiden Händen. »Hör mir zu, Alter. Hat er dir seinen Namen genannt?« Etwas an der Stimme des Triad-Führers flößte Yuan Sen Angst ein. Mr. Two legte jetzt mehr Respekt an den Tag. »Nein, er kam mir irgendwie vorsichtig vor.« »In welchem Hotel wohnt er?« »Das weiß ich nicht.« »Ich will, daß du nachdenkst, Alter. Vergiß mal deine Opiumträume und erzähl mir was über den Jungen. Sonst lebst du heute abend nicht mehr.« Mr. Two schwieg einige Zeit. Dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Ich glaube, er kommt aus Amerika. Sein Kantonesisch hat einen leichten amerikanischen Akzent, und auf seinem Jackett steht ein amerikanischer Name. Und in der Tasche hatte er einen amerikanischen Flugschein stecken. So dreist, wie der Bursche war, wird man wohl erst, wenn man in Amerika lebt.« »Beschreib ihn mir.« Während Mr. Two sein Gedächtnis strapazierte und ver232
suchte, mehr Details über das Äußere dieses Jungen hervorzukramen, sagte Charles Sui kein Wort. Das Schweigen erinnerte Mr. Two daran, daß der Patensohn des Schwarzen Generals einen Befehl selten wiederholte. »Er war noch jung«, sagte der Kräuterhändler. »Sah ziemlich gut aus. Wenn ich so nachdenke, würde ich sagen, er ist der geborene Führer.« Charles Sui dankte Mr. Two für den Anruf und legte sofort auf. Dann rief er in seinem Büro an. Er könne heute nachmittag nicht mehr kommen. Seiner Frau und den Dienern befahl er, sie dürften ihn bis auf weiteres nicht stören. Er brauchte Zeit zum Überlegen. Als man ihm am Abend mitteilte, daß Huziyana de Vega auf dem Weg zu DiPalmas Hotel sei, fügten sich die Puzzleteilchen zusammen. Die zwergwüchsige Nutte wollte also Charles Sui an den Amerikaner verraten. Und der steckte mit Benjy Lok Nein, dem Jungen, der Mr. Two die Uzi abgekauft hatte, unter einer Decke. Die de Vega würde die Wahrheit über die Brandstiftung sagen, und Benjy wollte aus Rache für den Verrat durch den Schwarzen General DiPalma zu Charles Sui führen. Sui gab Huziyana de Vegas Beschattern den Auftrag, nicht nur die Hure, sondern auch DiPalma zu verhören. Gemeinsam sollten die beiden unnachgiebig ausgefragt werden. Von der Hure wollte er Bacolods Aufenthalt erfahren, vom Amerikaner den von Benjy Lok Nein, denn ihre gleichzeitige Ankunft in Manila konnte kein bloßer Zufall sein. Vor allem mußte DiPalma damit herausrücken, was er über den Tod von Angela Ramos wußte. Danach sollten der Amerikaner und die Hure umgebracht werden. 233
13 Die drei Chinesen folgten DiPalma in das Foyer seiner Suite und von dort in den feudalen, großen Salon. Auf seinen Kopf waren zwei Pistolen gerichtet. Die Eindringlinge trugen dieselben geblümten Hemden, wie sie DiPalma schon bei vielen Filipinos gesehen hatte. Bei den Pistolen handelte es sich um .22er Magnums mit Schalldämpfern. Die eine ruhte in der Hand eines mageren Jugendlichen. Sein stierer Blick aus weit aufgerissenen Augen drang DiPalma bis ins Mark. Der Anführer, ein kräftiger junger Mann mit Stiernacken, tiefliegenden Augen und mehreren Goldkronen auf den Schneidezähnen, trug keine Waffe. Dafür feixte er unentwegt. Was Huziyana de Vega betraf, so schätzte DiPalma sie auf ungefähr einen Meter zwanzig. Sie hatte einen großen Kopf und eine Stupsnase. Die kurzen Arme waren stark behaart. Sie trug ein gelbes Seidenkleid, dazu passende hochhackige Schuhe, eine dunkle Brille und einen breitkrempigen weißen Filzhut. Von ihrer winzigen Schulter hing eine mit weißen Perlen verzierte Handtasche. Beim Anblick ihrer Kleidung beschlich DiPalma ein unheimliches Gefühl. Irgendwo hatte er sie schon gesehen, aber wo? Und dann kam es ihm. Rita Hayworth in >Lady aus Shanghai. Genauso wirkte sie auf ihn. Jetzt fiel ihm auch der dumme Spruch ein: Lieb lieber 'ne kleine, als überhaupt nie eine. Als Federico vorhin geklopft und seinen Namen genannt hatte, hatte er sich nichts gedacht und geöffnet.
Hereingedrängt hatten sich aber die drei Chinesen mit dem Chefportier und Huziyana de Vega als Geiseln. Was, zum Teufel, ging hier vor? DiPalma sah Federico an, doch dieser schaute weg. Dann sah er die Pistolen mit den Schalldämpfern, und ihm wurde flau in der Magengrube, während er zu schwitzen anfing. 234
Schläger. Killer. Plötzlich war DiPalma eher wütend als ängstlich. Scheiße, dachte er. Nicht einmal unbeliebt hatte er sich machen können, so kurz war er hier. Charlie Snake wollte wirklich keine Zeit verlieren. Wer sonst konnten diese Burschen schon sein, wenn nicht Snakes Leute. Vielleicht waren sie auch nur kleine Gangster, die mit einem Überfall ein paar Kröten verdienen wollten, überlegte DiPalma. Wenn der Sicherheitsdienst in diesem Hotel nicht so recht funktionierte, wäre das für Manila nichts Neues. Vielleicht kam DiPalma davon und wurde nur um ein paar Dollar und seine Kreditkarten erleichtert — und eventuell noch um die neue Rolex, ein Geschenk seiner Fernsehgesellschaft nach der Vertragsverlängerung. Sicher. Aber Einbrecher schleppten keine Zeugen mit sich herum. Außer, es sollte keine Zeugen geben. Die .22er Magnums mit ihren Schalldämpfern konnten bedeuten, daß die Chinesen DiPalma umpusten wollten. Und auch Huziyana de Vega und Federico war wohl kein langes Leben beschieden. Auf dem Weg ins Empfangszimmer lehnte sich DiPalma mit dem ganzen Gewicht auf den Stock, damit er um so hilfloser wirkte. Damit er um so harmloser wirkte, bis seine Chance kam. Wenn ihm die Chinesen eine ließen. Die Chance kam so schnell, daß er sie fast verpaßt hätte. Im Empfangszimmer spuckte Stiernacken auf den makellosen grauen Teppich und fragte DiPalma in passablem Englisch, ob er allein sei. Ohne die Antwort abzuwarten, bellte er dem jüngeren Pistolenheld einen Befehl zu, woraufhin dieser davonschoß und die Suite durchsuchte. Ein zweiter Befehl, und sein zweiter Killer, ein dürrer Kerl mit pechschwarzem Haar, aber bereits hohen Geheimratsecken, trat nach vorne und rammte DiPalma seine Magnum von links in den Hals. Das Feixen des Stiernackigen wurde immer frecher. Die Pistole im Genick machte DiPalma gehörig zu schaffen, Federico aber brachte sie vollends aus der Fassung. Der Chefportier fing allen Ernstes an, um sein Leben zu flehen. 235
Er habe doch dreizehn Kinder und einen verwitweten Vater zu versorgen, der wegen Zuckerkrankheit von Tag zu Tag blinder wurde. Dann war Huziyana de Vega an der Reihe. Wimmernd streckte sie dem Stiernackigen ihre Ärmchen entgegen. Rita Hayworth hätte es auch nicht besser zuwege gebracht. »Bitte, bitte, meine Schilddrüse tut mir so weh! Und mein Herz schlägt viel zu schnell! Ich brauche unbedingt meine Medizin!« Sie machte ihre Handtasche auf. Federicos Flehen wurde immer eindringlicher. Als er seinen Entführer sogar anfaßte, brachte er das Faß zum Überlaufen. Stiernacken gab ihm einen Stoß, daß er die Zwergin mit sich riß und die beiden auf einen Bambustisch krachten. Huziyanas Tasche platzte auf, und Unmengen von Schmucksachen ergossen sich überall auf den Boden. Ringe, Armbänder, Halsketten, Amulette, juwelenbesetzte Haarspangen, Ohrringe. Die in ihrem Gewerbe übliche Ausstattung. Alles sah vollkommen echt aus. Ohne mit dem Lamentieren aufzuhören, suchte die Zwergin auf allen vieren ihre Habseligkeiten zusammen. Stiernacken und Geheimratsecke ließen sich einen Moment lang von den Juwelen blenden. Sie wußten ja nicht, daß es Tand war. Beim Gedanken an Raub und Reichtum bekamen sie glänzende Augen und vergaßen DiPalma für einen Augenblick. Geheimratsecke griff er als ersten an. Blitzschnell stieß er die Magnum beiseite, rammte dem Kerl den Ellbogen ins Gesicht und trieb ihm das Stockende in die Kehle. Unter der Wucht des Hiebs wurde der Pistolenheld herumgewirbelt, seinen Kopf riß es nach hinten und er fiel auf die Knie, würgend am eigenen Blut. Trotz der Juwelen erfaßte Stiernacken sofort die Situation. Mit der Hand fuhr er unter das Hemd. Er zerrte noch am Gürtel, da zerschmetterte ihm DiPalma mit einem Rückhandschlag den Ellbogen. Mit einem Aufschrei ließ der kräftige Bursche seine .45er Automatic fallen. Vor Schmerz drückte Stiernacken beide Augen fest zu236
sammen und knirschte mit den Zähnen, mit der anderen Hand umklammerte er den zerschlagenen Ellbogen. Er hatte die Augen noch nicht geöffnet, als ihn DiPalmas Stock an der Stirn traf. Bewußtlos fiel Stiernacken rücklings auf den Teppich, wo er mit an den Knöcheln überkreuzten Füßen liegen blieb. Jetzt kreischte Huziyana de Vega los, und indem er unaufhörlich »mein Gott, mein Gott!« schrie, steigerte Federico noch den Lärm. Der dritte Ballermann, der jüngste, kam in den Salon gestürzt. Er mußte sich erst einmal orientieren und blieb vor der offenen Balkontür stehen. Nach dem ersten Schreck hatte er jetzt seine Pistole in Anschlag gebracht, bereit auf alles zu schießen, was sein Hirn als Bewegung registrierte. Sein Ziel waren Huziyana de Vega und Federico, weil beide zum Flur rannten. Federico erreichte den Flur auch und entwischte. Wo den Bruchteil einer Sekunde zuvor noch sein Kopf gewesen war, durchschlug eine Kugel die Wandverkleidung. Mit ihren krummen Beinchen konnte Huziyana nicht Schritt halten. Dreimal feuerte der junge Kerl aus seiner Magnum auf sie. In einer Entfernung von sechs Metern ließ sich DiPalma auf ein Knie sinken, schnappte sich die andere schallgedämpfte Magnum und richtete die Waffe auf das größte Ziel, den Oberkörper. Dreimal drückte er ab.
Jeder Schuß traf und schleuderte den Ballermann weiter auf den Balkon hinaus. Noch ließ DiPalma die Waffe nicht sinken. Er stand auf und näherte sich dem Niedergeschossenen, dann bückte er sich, um nach seinem Puls zu fühlen. Keiner zu finden. Jetzt kümmerte sich DiPalma um die anderen zwei. Geheimratsecke, aus dessen Mund noch immer Blut floß, war tot. Stiernacken atmete noch. Soviel Glück hatte Huziyana de Vega nicht gehabt. Zwei von den drei Schüssen hatten sie verfehlt; einer hatte einen Wandspiegel zertrümmert, der andere eine tiefe Kerbe in den Tisch, eine gelungene Imitation von spanischem Ba2-37
rock, geschlagen. Die dritte Kugel schließlich hatte in Huziyanas weißem Filzhut ein kleines Loch hinterlassen und war irgendwo in die Schädelbasis eingedrungen. Die kleine Dirne hatte ihre letzte Nummer geschoben. Was Federico betraf, so verriet die offene Tür, daß der Portier demnächst wieder den Kuppler spielen konnte. DiPalma zog die Tür zu und ging wieder in den Salon, um den Sicherheitsdienst anzurufen. Nachdem er aufgelegt hatte, trat er auf den Balkon. Der Himmel wurde allmählich dunkel. Damit seine Hände nicht so zitterten, umklammerte DiPalma das schmiedeeiserne Balkongeländer. 238
14 Aus Verzweiflung über Huziyana de Vegas Tod blieb Leon Bacolod zwei Tage lang nackt in der Badewanne eines billigen Pensionszimmers in der Nähe der philippinischen Universität sitzen und trank flaschenweise Rum. Einzig ein auf dem Klodeckel postierter tragbarer Schwarzweißfernseher leistete ihm Gesellschaft. In dumpfer Benommenheit versuchte Bacolod den Verlust zu begreifen. Wenn sein Schmerz erneut durchbrach, trank er bis zur Bewußtlosigkeit weiter. Unendliche Trauer quälte ihn. Im wachen Zustand weinte er phasenweise ununterbrochen. Hin und wieder schlug er den Kopf gegen die geflieste Wand und schrie nach Huziyana. Zwei Tage saß er in den eigenen Exkrementen. Die Badewanne verließ er nicht und reinigte sich auch nicht. Bacolod war ein so gefühlsbetonter Mensch, daß Huzis Tod ihn nicht nur seelisch, sondern auch körperlich traf. Bei der Todesnachricht hatten ihn rasende Kopfschmerzen geschüttelt. Stechende Schmerzen waren ihm in beide Beine gefahren, und seine Wirbelsäule war so steif geworden, daß jede Bewegung zur Qual wurde. Sein Herzschlag war plötzlich auf und davon galoppiert und hatte sich genauso schnell wieder verlangsamt, bis der Puls so gut wie unauffindbar war. Huzi. Wie sollte er ohne sie leben? Von Anfang an hatte er alle Kraft aus dieser einen Frau geschöpft. Wenn Bacolod verzagen wollte, hatte sie ihm Mut und Selbstvertrauen gegeben. Leben, Liebe, Kleidung hatten sich nach ihrer Lust und Laune richten müssen, egal ob sie jemanden damit schockierte oder verletzte. Mit ihrer unwiderstehlichen sexuellen Energie hatte sie ihn in immer neue Abenteuer geführt, ohne je innezuhalten und mögli239
che Gefahren abzuwägen. Huzi war eine Frau der Tat gewesen, immer zur Eroberung unerforschter Gebiete bereit. Aufgrund seines Wolfsrachens, seiner Epilepsie und seines Mangels an Bildung war Bacolod überempfindlich, ein gebranntes Kind, das von Huzis beschützendem Wesen abhing. Am Anfang hatte ihm ihr Gunstgewerbe schwer zu schaffen gemacht, doch allmählich, weil sie ihm in dieser Hinsicht keine andere Wahl gelassen hatte. »Du hast an meinem Leben Anteil, ich aber nicht an dem deinen«, hatte sie Bacolod erklärt. »Und frag mich nie, warum ich herumhure«, hatte sie hinzugefügt. »Ich mache es nur, weil es das einzige Spiel ist, das sich lohnt. Und weil ich es beherrsche.« In ihrem letzten Urlaub hatte Bacolod allen Mut zusammengekratzt und ihr gebeichtet, daß er die Uhr, die sie ihm geschenkt hatte, bei dem Brand von Taaltex versehentlich vergessen hatte. Er hätte sich vor einem Krach nicht zu sorgen gebraucht. Sie war verständnisvoll, vergab ihm und zerriß sich förmlich, um ihn wieder aufzumuntern. Als Bacolod murmelte, daß Charles Sui ihn wegen dieses Schnitzers umbringen würde, rief Huzi: »Ich werde dich vor diesem Kerl beschützen. Gemeinsam werden wir mit ihm schon fertig!« Mit dem Daumen im Mund hatte Bacolod den Kopf in Huzis Schoß gelegt und gelächelt. Auf der ganzen Welt war keine wie Huzi. Keine einzige. Die Idee, daß er nach Quezon City unmittelbar vor den Toren Manilas fahren und sich in der Nähe der Universität verstecken solle, stammte von ihr. Um den Campus herum, einen der bekanntesten in Asien, gebe es haufenweise billige Pensionen. Mit seinem Babygesicht könne sich Bacolod ohne weiteres als Student ausgeben. Er dürfe keinen Kontakt zu ihr aufnehmen. Huzi wollte ihn jeden zweiten Nachmittag anrufen, und zwar immer von einem Kunden aus. Nach ein oder zwei Wochen hätten sie sicher ein neues Versteck gefunden. »Aber vorläufig gehst du zu diesen kleinen Arschlöchern, auch wenn sie sich für so viel schlauer als unsereins halten.« 240
An Huzis Beerdigung konnte er nicht teilnehmen. Veranstaltet wurde sie von ihrer Tante, die selbst bis vor kurzem als Prostituierte gearbeitet hatte. Ein paar Telefongespräche hatten Bacolods Vermutung bestätigt. Charles Sui suchte ihn tatsächlich und ließ die Beerdigung nicht unbeobachtet. Bacolods Lage hatte sich sogar verschlimmert; Sui hatte jetzt seine Uhr. Die Manilaer Polizei hatte sie ihm besorgt, nachdem sie sie dem Amerikaner Frank DiPalma abgenommen hatte.
DiPalma. Tödlicher Haß gegen diesen Mann brannte in Bacolods Herz. Allein beim Gedanken an ihn verzerrten sich Bacolods Züge zu einer grotesken Fratze. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre Huzi noch am Leben. Der Haß gegen DiPalma hatte sich so tief in Bacolod hineingefressen, daß er sein einziges Vergnügen zu werden drohte. Sein krankes, zusätzlich noch von Alkohol und Trauer zerrüttetes Gemüt verkraftete keine Zeitungs- oder Fernsehberichte über Huzis Tod. Liebesmädchen bei amerikanischem Journalisten — von Hoteldieben erschossen. Scheißdreck. Sie hatten sie ermordet, weil der Amerikaner versucht hatte, über sie an Bacolod heranzukommen. Auf miese Tricks fiel der Brandstifter nicht herein. Hieß es nicht in den Zeitungen, daß DiPalma für die amerikanische Fernsehgesellschaft Nelson Berlins arbeitete? Desselben Berlin, dem jetzt wegen des Brandes bei seiner Taaltex Electronics ein wahrer Geldsegen von der Versicherung ins Haus stand? Bacolod war nur zu einem Schluß in der Lage: Ein Komplott war gegen ihn im Gange. Die zwei Amerikaner und Charlie, die Schlange, wollten ihn für immer zum Schweigen bringen, damit keiner etwas über das Feuer erfuhr. Nun ja, da hatte Bacolod auch noch ein Wörtchen mitzureden. Er wollte DiPalma umbringen. Und wenn es seine letzte Tat auf dieser Erde wäre, er wollte diesen Mann umbringen, denn er war an Huzis Tod schuld. DiPalma hatte zugegeben, daß er zwei von Suis Leuten erschossen hatte, aber den Mord an Huzi hatte er abgestritten. 241
Mr. DiPalma, du bist ein elender Lügner, dachte Bacolod. Zwei Tote, und dem dritten hast du den Schädel eingeschlagen. Huzi ist tot, und nur dir ist nichts passiert. Dieser DiPalma hatte erklärt, daß er Huzi eingeladen habe, weil er an einer Geschichte arbeite. Angeblich die Wahrheit. Gut, sollte er sagen, was er wollte, Bacolod wußte es besser. In seiner Badewanne schüttete Bacolod mehr Rum in sicher hinein, dann klemmte er die fast leere Flasche zwischen die Füße. Ich kenne die Wahrheit, flüsterte er. O ja. DiPalma war für Huzis Tod verantwortlich, weil sie in seine Suite gekommen war. Auf DiPalmas Einladung hin. Bacolod war es egal, warum DiPalma Suis Männer umgebracht hatte. Nur Huzi war ihm nicht egal. Er schluckte den letzten Rest des Rums, schleuderte die leere Flasche auf den Boden und ließ die Arme über die Seiten der Badewanne hängen. Erneut fing er an zu schluchzen. Huzi, ich liebe dich. Liebe dich, liebe dich, liebe dich. Schließlich fiel Bacolod wieder DiPalma ein. Weit mußte er sich über die Wanne beugen, um ein Feuerzeug vom Boden aufzuheben. Dann ließ er sich in den eigenen Dreck zurückfallen. Zwischen den verschmierten Fingern drehte er das Feuerzeug hin und her, dann rieb er am Feuerstein und gab acht, damit die Flamme nicht ausging. Er kicherte. Das Feuer barg für ihn keine Schrecken, DiPalma aber würde es anders ergehen. Das schwor er bei der Heiligen Jungfrau. Am selben Nachmittag trat Barry Omens, ein gedrungener Ire von vierundvierzig Jahren mit herunterhängenden Augenlidern, vom Treppenhaus in den Flur und folgte Todd zu dessen Hotelsuite. Sie war im spanischen Kolonialstil eingerichtet. Während er sich eine Zigarette anzündete, fragte Omens sich, ob es klug gewesen war, sich mit diesem Frank DiPalma einzulassen. Offen gesagt, DiPalma hielt im Augenblick ganz schlechte Karten in der Hand. Die philippinische Polizei hatte ihn im Zusammenhang mit drei Morden festgenommen. Und einer 242
davon war an einer Nutte verübt worden. Einer Zwergin. Wenn das nicht verrückt war? Der einzige Zeuge, ein Portier namens Federico Laurel, war verschwunden. Bestimmte Teile von DiPalmas Version konnten somit nicht bestätigt werden. Ob DiPalma noch die Chance bekam, die Verbindung zwischen Lin Pao und Nelson Berlin zu beweisen, stand in den Sternen. Omens wußte nur eines: wenn er unmittelbar vor der Pensionierung in eine so heikle Angelegenheit verwickelt wurde, kam das einigen Leuten möglicherweise unüberlegt, wenn nicht gar hirnverbrannt vor. Todd bot ihm einen venezianischen Sessel mit vergoldeter Holzlehne an. Omens setzte sich. Neben ihm stand auf einem Korbtisch ein Aschbecher, in dem er seine Zigarette ausdrückte. Ihm gegenüber saßen drei junge Chinesen. Franks Helfer. Das konnte doch nicht Franks Ernst sein... Zwei Jungen und ein Mädchen aus Asien. Keiner von ihnen war alt genug, um wählen zu gehen, den Führerschein zu machen oder einen nicht für Kinder freigegebenen Film anzusehen. Was, zum Teufel, wollte DiPälma mit dieser Bande anfangen? Wollte er etwa als Schülersprecher kandidieren? Omens lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte einen von den Kleinen, der aber wegschaute. Omens grinste. Tja, tja, der junge Herr Ungezogen persönlich, Benjy Lok Nein. Der Killer mit dem Babygesicht, Rauschgiftverbindungsmann, Erpresser, Folterknecht. Warum gab sich Frank mit so einem kaltblütigen kleinen Schurken ab? Und was wollte er mit dem Mädchen? In einem braunen Ledersessel saß sie da und hatte die Augen auf Todd geheftet, als ob er der wiedergeborene Jesus persönlich wäre. Selbst Benjylein, Mister Gemeingefährlich, schien den ruhigen, selbstbeherrschten Todd als Sprecher der Gruppe anzuerkennen. Omens wandte sich an Todd: »Dein Dad wollte nicht, daß wir zwei am Telefon zu viel reden. Im Augenblick hat er wohl ziemlich Angst, und das kann ich ihm nicht verden243
ken. Aber wie ich dir vorhin gesagt habe, geht es ihm gut. Senator Quarequio bemüht sich um seine Freilassung
und hat auch die Botschaft eingeschaltet. Frank läßt dir ausrichten, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst und in allem wie geplant weitermachen sollst. Du sollst auch mit mir in Verbindung bleiben. So schnell lassen ihn die Cops hier nicht frei. Wenn ihr hier fertig seid, sollt ihr nach New York zurückfliegen. Er hält es für zu gefährlich, daß ihr euch noch länger hier herumtreibt.« Omens wartete darauf, daß Todd durchdrehte, daß er sich weigerte, ohne seinen Vater abzureisen und daß er Omens nach dem nächsten Schritt fragen würde. Erstaunlich, erstaunlich - Todd starrte Omens nur einige Sekunden lang an, dann nickte er kurz. Das verriet einen Menschen, der sich sehr gut unter Kontrolle hatte. Der Kleine war wirklich nicht von Pappe. Was hatte Frank gesagt? Behandle Todd nicht von oben herab. Er ist kein alltägliches Kind, alles andere als das. »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe danken«, erwiderte Todd. »Und ich weiß es zu schätzen, daß Sie meinen Vater im Polizeikommissariat aufgesucht haben.« Omens grinste. »Frank hat mir gesagt, daß du ziemlich helle bist. Du hast recht. Wenn man sich ausgerechnet jetzt mit deinem Vater blicken läßt, ist das nicht ungefährlich. Vor allem, wenn man mit einer satten Pension in Rente gehen will. Ich habe meinem Arbeitgeber gesagt, daß Frank diesem Lin Pao und Nelson Berlin was anhängen will und daß er zur Zusammenarbeit mit uns bereit ist. Darum zerreißen sie mich nicht in der Luft, wenn ich ihn besuche. Früher oder später werde ich meinen Leuten aber etwas vorlegen müssen.« Todd antwortete: »Wir sollen heute noch einen Mann treffen, der im Besitz der Information ist, von der mein Vater gesprochen hat.« Omens wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, doch er hielt inne. »Wann und wo?« »Das wissen wir nicht«, meldete sich Benjy. »Der Heini 244
will Zeit und Ort selber bestimmen. Er hat Schiß. Traut keinem. Das Treffen läuft so, wie er's will, sagt er, oder gar nicht.« Omens machte einen tiefen Zug von seiner Salem, blies den Rauch in die Luft und sagte zu Todd: »Ich denke, ihr solltet eure Abreise mal lieber ohne Frank planen. Nicht, daß sie ihn am Ende nicht freilassen würden, aber verlaßt euch nicht darauf, daß das in der nächsten Zeit der Fall ist. Die philippinische Regierung hängt mit drin. Ich mußte einige Beziehungen spielen lassen, bis ich mit Frank sprechen durfte. Er hat mir dann das Nötigste erklärt, und ich habe mich umgehört und so den Rest erfahren.« Omens fügte hinzu, daß die Regierung ausländische Gesellschaften nicht verschrecken wollte und deswegen kräftig mitmische. Frank dürfe den Multinationalen auf keinen Fall Ärger machen. Martin Mackie habe es schon versucht und sei gescheitert. Und Mackies Freund, Frank DiPalma, würde ebenfalls scheitern. »Bestimmt ist der Chefportier aus genau diesem Grund angeblich nicht auffindbar«, erklärte Todd. Omens hätte fast eine Zigarette fallen lassen. »Wie hast du denn das herausgefunden? Das soll doch ein ganz dickes Geheimnis sein. Die Regierung hat Federico vorläufig aus dem Verkehr gezogen, damit er Franks Geschichte nicht bestätigen kann. Von einer Triad, einem Lin Pao oder sonst etwas, das zu Nelson Berlin führen könnte, soll doch mit keinem Wort die Rede sein. Wie, zum Teufel, habt ihr das mit Laurel herausgebracht?« »Haben Sie mit dem überlebenden Chinesen gesprochen, den mein Vater zusammengeschlagen hat?« erwiderte Todd. Lächelnd schüttelte Omens den Kopf. »Kleiner, hast du schon mal daran gedacht, bei einer Polizeibehörde mitzuarbeiten, sagen wir bei der verdeckten Ermittlung? Dieser Chinese, dem Frank mit seinem Stock eine Nuß verpaßt hat, ist nämlich aus dem Krankenhaus verschwunden. Ist dort auch nie gemeldet worden. Auch davon soll niemand was wis245
sen. Wenn du die Zeitungen liest oder Nachrichten siehst, ist immer nur von zwei Einbrechern die Rede. Zwei, und nicht drei.« Todd sah zu Benjy hinüber. »Laurel wird das sagen, was ihm die Regierung befiehlt. Wir müssen diese Information über Berlin und Lin Pao bekommen, dann kann uns die Regierung egal sein.« Benjy nickte. Wirklich kein alltäglicher Bursche, dachte Omens. Es klopfte an der Tür. Omens sah Benjy und Todd Blicke austauschen, dann ging Benjy zu einem Ledersofa und setzte sich, wobei er die Hand unter ein Kissen steckte. Omens wartete gebannt. Mein Gott, dachte er, jetzt werde auch ich noch in eine Schießerei verwickelt. Dann sah Todd Benjy wieder an und schüttelte den Kopf. Benjys Spannung ließ nach. Er legte beide Hände auf die Knie und senkte den Kopf. Omens folgte Todd mit den Blicken, wie der Junge ins Vorzimmer verschwand. Er hörte, wie die Tür draußen geöffnet und sogleich wieder geschlossen wurde. Sekunden danach kam Todd mit einem weißen Umschlag zurück. Er entnahm ihm einen kleinen Zettel, überflog den Inhalt und sah zu Benjy, der nickte. Sollte es ein Geheimsignal zwischen den beiden gegeben haben, so war es Omens entgangen. Todd steckte den Zettel wieder in den Umschlag, den er in seine Hemdtasche gleiten ließ. Ohne sich um Omens zu kümmern, redete er dann auf Benjy und das Mädchen kantonesisch ein. Natürlich verstand Omens kein einziges Wort, und das sollte er auch nicht. Als Todd zu Ende gesprochen hatte, machte jeder etwas anderes. Joan ging in ein Schlafzimmer und kam wenig später mit einer Umhängetasche zurück. Benjy holte mit einem Griff unter das Kissen eine Uzi hervor und ging dann in ein anderes Zimmer. Er kam mit
entblößter Brust zurück, in der Hand hatte er ebenfalls eine Umhängetasche und ein blaßblaues Hemd. Todd war ihm gefolgt. Was er in der Hand hielt, war in 246
Omens Augen ein Diplomatenköfferchen. Da läuft ja alles automatisch, wie am Schnürchen, dachte der DEABeamte. Jeder bewegt sich nach einem vorher geplanten Schema. Todds Plan. »Dieser Zettel«, wollte er wissen, »stammt der von dem Kerl, den ihr treffen wolltet?« »Ja«, sagte Todd. Omens stand auf. Wenn er sie fragte, ob er mitkommen könne, verschwendete er nur seine Zeit. Todd sah nicht so aus, als ließe er sich zu etwas überreden, das er nicht wollte. Außerdem war noch Benjy mit seiner Uzi da. Omens sagte nur: »Ich möchte mit euch in Verbindung bleiben. Wann kommt ihr wieder zurück?« Wortlos ging Todd zur Tür. Joan trottete hinter ihm her. Omens wandte sich an Benjy, der sich inzwischen das Hemd angezogen, es aber nicht zugeknöpft hatte. Aus seiner Tasche zog der Junge einen Geldbeutel und schnallte ihn um, während er ebenfalls zur Tür eilte. Na so was, dachte Omens. Er probierte es mit seiner Frage bei Benjy: »Wann kommt ihr denn wieder hierher?« Im Laufen rief Benjy: »Überhaupt nicht! Wir treffen den Kerl, kriegen das Zeug und gehen in ein anderes Hotel.« »Laßt ihr das Gepäck hier?« fragte Omens. »Todd meint, daß die Leute dann glauben, wir würden zurückkommen. Im Schlafzimmer ist Geld. Zahlen Sie die Rechnung.« Die Rechnung zahlen? Leck mich doch am Arsch! Omens rannte Benjy hinterher. Ohne eine richtige Antwort kam ihm Meister Gemeingefährlich nicht davon. In der Vorhalle blieb Omens stehen und trat gegen den Schuhschrank. Scheiße. Zu spät. Die Tür stand offen, und die drei waren längst verschwunden. Unten, am Empfang, sah Pedro Sison, der zweite Portier, Todd, Benjy und Joan aus dem Aufzug kommen und auf die Eingangstür zusteuern. Sison, ein klein geratener Filipino, schaute ihnen nach, während er den Telefonhörer in die 247
Hand nahm und die Nummer eines kabellosen Telefons wählte. Es befand sich in einem Wagen, der nur ein paar Häuserblocks entfernt geparkt war. Als sich am anderen Ende der Leitung eine Stimme meldete, flüsterte Sison: »Benjy und seine Freunde verlassen jetzt das Hotel.« Dann legte er auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder einem Cellisten aus Italien und dessen Liebhaber zu, zwei jungen Männern auf ihrer ersten Asienreise. 248
15 Seine Häuser, Bäume, Stromleitungen, Gärten und Briefkästen verliehen ihm das Aussehen eines verträumten Dörfchens. Es hätte genausogut eine friedliche Wohngegend in einem Manilaer Vorort sein können, statt dessen handelte es sich um den chinesischen Friedhof. Seine Grabstätten gehören zu den außergewöhnlichsten der Welt. Diese völlig normal aussehenden Häuser mit ihren Teppichen, Toiletten und Klimaanlagen sind ausschließlich dem Gebrauch durch Tote vorbehalten. In diesen bizarren Grabstätten kommt der Geist der Verstorbenen zu den Hinterbliebenen, die alles nur Erdenkliche tun, um ihre Toten zu erfreuen. Besuche am Sonntag bieten Gelegenheit, die Kühlschränke neu zu füllen, Glühbirnen auszuwechseln, Zeitungen zu bringen und frische Tücher in den Waschräumen aufzuhängen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Lebende sich vor dem leeren Platz der Verblichenen an den Tisch setzen und allein eine Partie Mah-Jong spielen. Neunzig Minuten, nachdem sie Barry Omens im Hotel zurückgelassen hatten, stiegen Todd, Benjy und Joan vor dem Eingang des chinesischen Friedhofs aus einem Taxi. Drei Führer sahen sie näherkommen. Todd fragte sie nach Alfredo Locsin. Der älteste der drei, ein magerer, ergrauender Filipino, gab sich als Locsin zu erkennen. Todd überreichte ihm den Umschlag, der ihm ins Hotel geschickt worden war. Locsin nahm den Zettel heraus und begutachtete ihn einige Sekunden lang, dann nickte er. Nachdem er einen von Todd beigefügten Hundertpesoschein in die Tasche gesteckt hatte, erklärte der Führer: »Ich habe diese Nachricht geschrieben, richtig. Der Mann, den Sie treffen wollen, wartet bereits. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« 249
Leicht gebückt führte sie Locsin durch den fast leeren Friedhof, vorbei an unbelebten Häusern, geschmückten buddhistischen und christlichen Krypten, an Tannen und beschnittenen Pinien. Keiner sagte ein Wort. Joan klammerte sich an Todd und hielt den Kopf gesenkt, als fürchte sie irgendeinen gespenstischen Anblick. Benjy bildete die Nachhut. Dabei blickte er immer wieder über die Schulter, erleichtert, daß es noch hell war und daß sie hier nicht in der Dunkelheit herumstiefeln mußten. Vor zwei Drachentempeln in der Mitte des Friedhofs bog Locsin rechts in einen Betonweg ab und ging eine sanfte Anhöhe hinauf. Oben angekommen, blieb er vor einem kleinen, einstöckigen Ziegelhaus mit einem schmalen, gutgepflegten Vorgarten stehen. Während ihres stillen Marsches waren sie keinem Besucher begegnet. Vom langen Schweigen gereizt, rief Benjy: »Herrgott, noch mal, ist Gutang jetzt da oder nicht?« Verärgert sagte Locsin: »Glauben Sie, ich führe Sie wegen nichts und wieder nichts hierher. Glauben Sie, ich laufe zum Spaß so weit?« Flüche vor sich hinmurmelnd, trat er wieder den Rückweg zum Haupteingang an.
Diese dämlichen Halbstarken. Meinten die denn, daß sich die ganze Welt um sie drehte? Während er dem Führer nachschaute, verkündete Benjy: »Ich traue keinem, der seine Zeit unter lauter Toten verbringt. Was meinst du, Todd? Ist Gutang da drinnen?« Todd trat einen Schritt vor. »Er ist hinter dem Fenster zum Garten.« Benjy sah zum Himmel hinauf. »Sieht nach, ob wir es sind, richtig?« Mit einem Schlag auf die linke Backe erwischte er einen Moskito, der ihn als Schnellimbiß mißbraucht hatte. Moskitos, Schwüle, Verkehrsstaus. Manila änderte sich nie. Benjy fuhr noch aus der Haut. Da stand er hier auf einem Friedhof herum und mußte dauernd an diesen eiskalten, fiesen Dreckskerl von Charlie Snake denken. Je eher Benjy seinen Arsch aus diesem Loch zog, desto besser. 250
Er sah zu Joan hinüber, die noch mehr Angst hatte als er, sich aber alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Sie war schon ein schüchternes Ding. So pechschwarze Haare und so traurige Augen hatte Benjy noch nie bei einem Mädchen gesehen. Auf Benjy wirkte sie ungeheuer attraktiv — ihre Anmut fehlte den Großstadtmädchen. Wer sie so sah, wollte sie gleich vor der großen, bösen Welt beschützen. »Geh respektvoll mit ihr um«, hatte ihm Todd befohlen. »Sei nett zu ihr.« Er hatte erst gar nicht erwähnt, daß Benjy auf keinen Fall versuchen dürfe, sie ins Bett zu kriegen. Benjy hatte schon kapiert. Joan war gerade erst sechzehn geworden. Sie stammte aus Kauhsiung, Taiwans ältester Stadt. Aufgewachsen war sie mit dem Wunsch, Sekretärin zu werden. Vor einem Monat hatte sie ihr Vater in den Norden nach Taipeh geschickt. Dort sollte sie die von einem Freund der Familie betriebene Sekretärinnenschule besuchen. Es war geplant, sie bis zu ihrer Heimkehr vier Monate lang bei einer Tante unterzubringen. Aber bei ihrer Ankunft an der genannten Adresse fand sie nur ein unmöbliertes Büro vor. Drei Männer zwangen sie, ihre Unterschrift unter ein Dokument zu setzen, mit der sie bestätigte, daß sie den Hundertschrittvipern Geld schuldete. Und zwar eine beträchtliche Summe. Joans Vater, Eigentümer einer kleinen Taxiflotte, war Spieler und bei der Triad hoch verschuldet. Um zu überleben, hatte er Joan an seine Gläubiger verkauft. Joan hatte jetzt seine Schulden übernommen. Sie mußte sie in einem der New Yorker Massagesalons der Triad abarbeiten. Zu den eigentlichen Schulden kamen noch der Flug nach Amerika und die Unterhaltskosten dort. Die Art, wie sie Todd anbetete, machte Benjy ein bißchen eifersüchtig, aber damit konnte er leben. Anscheinend war sie glücklich dabei, wenn sie ständig um Todd herumtanzte. Benjy betrachtete sie als Todds kleinen Pudel, behielt diese Meinung aber klugerweise für sich. Joan 251
kümmerte sich um Todds Mahlzeiten, legte ihm frische Kleidung zurecht, ließ für ihn die Badewanne vollaufen und wachte sogar über ihn, wenn er schlief. Ins Bett allerdings gingen sie nicht zusammen. Todd kannte nur seine Pflicht. Und alle anderen waren gut beraten, wenn sie es genauso hielten. Benjy gegenüber war Joan höflich, doch Todd war ihr Herr und Gebieter. Was sonst konnte man schon erwarten? War sie nicht in einem früheren Leben Todds Sklavin gewesen? Benjy, Todd und die kleine Joan mit den traurigen Augen ... Drei Menschen, die da anknüpften, wo sie vor vierhundert Jahren aufgehört hatten. Das Leben war Karma, und das Karma, soviel wußte Benjy, war unabänderlich. Lange hatte ihn die Frage beschäftigt, was sich Todd und Joan eigentlich zu sagen hatten. Ständig flüsterten die beiden miteinander, und Benjy kam sich ausgeschlossen vor. Schließlich hatte er Todd einmal allein erwischt und ihn gefragt, worüber sie denn tuschelten. Zuerst hatte Todd geschwiegen. Jetzt schlägt er mich gleich grün und blau, dachte Benjy, weil mich das ja überhaupt nichts angeht. Als Todd dann doch noch antwortete, war Benjy wie vom Donner gerührt: »Der Tod wird Joan bald ereilen. Ich bereite sie darauf vor.« Benjy kam nie wieder darauf zurück. Auf dem Friedhof klopfte Todd jetzt an der Tür des kleinen Ziegelhauses, in dem Raul Gutang wartete. Die Uzi in der Hand, stellte sich Benjy hinter seinen Freund. Seine Blicke schweiften über den Friedhof. Als die Tür aufging, brachte Benjy die Uzi in Anschlag. Aus dem Haus meldete sich eine ängstliche Männerstimme auf englisch: »Ich bin nicht bewaffnet. Kommt herein.« Als alle eingetreten waren, zog Raul Gutang die Tür hinter den Jugendlichen zu. Dann führte er sie in ein Eßzimmer. Dort machte er erst die Fensterläden zu, bevor er auf einen runden Tisch deutete. Sämtliche Gegenstände — Teller, Tafelsilber, Kerzenständer aus Zinn, frischgeschnit252
tene Blumen — hatte er zur Seite geschoben und so den Tisch halb abgeräumt. Todd und Joan setzten sich. Benjy blieb vor dem Fenster stehen. Er äugte vorsichtig durch die Ritzen, ehe er sich den anderen zuwandte. Auf dem Kaminsims lag ein großer brauner Umschlag. Gutang nahm ihn in die Hand und ging damit zum Tisch zurück. Er war ein hagerer, gut aussehender Filipino in den Dreißigern mit schwarzem Haar, einem Oberlippenbart und einer Fistelstimme. Über seinem linken Auge zuckte es ununterbrochen, mit einem grünen Taschentuch wischte er sich ständig den Schweiß aus der Stirn und dem Genick. Der Kerl stinkt ja vor Angst, dachte Benjy. Todd legte seinen halben Tausenddollarschein auf den Tisch und schob ihn in Richtung Raul Gutangs. Der Computer Operator schleuderte Todd den Umschlag hin, um sich sofort auf den Schein zu stürzen. Seine Hände
zitterten, als er die Brieftasche hervorzog, seine Hälfte herausnahm und sie neben die von Todd legte. Sie paßten. Lächelnd schaute er zur Tür. »Erst überprüfen wir den Umschlag, dann kannst du gehen«, knurrte Benjy. »Ja, ja, aber macht bitte schnell.« Todd stellte seinen tragbaren Computer auf den Tisch. »Es ist schön, daß Sie Ihre Frau mit so einem hübschen Haus ehren«, erklärte er. »Es tut mir leid, daß sie so jung gestorben ist.« Gutang nickte. »Sie war Chinesin. Ihre Familie und ich dachten, daß das Haus...« Er hörte mitten im Satz auf. »Woher wußtest du das mit meiner Frau?« Todd nahm den braunen Umschlag in die Hand. »Sie hat vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall das Leben verloren. Ein Betrunkener ist frontal mit ihr zusammengestoßen. Dabei ist auch Ihr einziges Kind gestorben. Vor kurzem haben Sie sich wieder verlobt.« Bestürzt nickte Gutang. »Elizabeth Kuan. Wir haben zusammen in der Computerabteilung von Taaltex gearbeitet. Die Gesellschaft duldet keine Affären zwischen den Ange253
stellten, darum haben wir unsere Beziehung geheimgehalten. Sie war eine wunderbare Frau.« Tränen traten ihm in die Augen. »Sie haben sie vergewaltigt. Und Fotos gemacht, während sie alle möglichen Sachen mit ihr anstellten, die Dreckskerle.« »Sie wollte Rache«, sagte Todd. »Ich habe sie angefleht, das mit der Rache zu vergessen, aber sie war eine sehr stolze Frau. Also haben sie sie umgebracht. Ich bin nicht sehr mutig, aber so kann ich die nicht davonkommen lassen. Mr. Mackie glaubt, daß ich das aus Geldgier mache. Gut, das Geld ist wichtig. Ich will die Philippinen unverzüglich verlassen. Aber das Geld ist nicht alles. Verstehst du das?« »Ja, die Seelen Ihrer Frau und Ihrer Verlobten sind sehr zufrieden mit Ihnen.« Gutang nahm das Tuch von den tränenden Augen. »Ja«, flüsterte er lächelnd. »Sie sind zufrieden. Ich danke dir dafür. Diese Worte haben mir gefehlt.« Todd nahm eine Diskette aus dem Umschlag und starrte sie an. Sie war doppelt bespielbar und hatte doppelte Länge. Eine dünne Plastikscheibe, und doch vermochte sie soviel Informationen zu speichern. Todd klappte den Deckel auf, schob die Diskette in das Laufwerk und startete das Programm. Gutang ging um den Tisch herum und stellte sich hinter ihn. »Du siehst hier ein Verzeichnis der Gesellschaften, die Lin Pao und Nelson Berlin geschaffen haben, um Paos Geld unterzubringen. Einige davon sind ganz legale Firmen, andere sind Scheinunternehmen. Weißt du, was Scheinunternehmen sind?« Die Augen auf den Bildschirm geheftet, rückte Todd. »Mein Vater war Polizist. Er hat oft mit mir über solche Sachen gesprochen. Er wird mehr davon wissen als ich. Aber ja, ich verstehe das meiste von dem, was Sie sagen.« »Lin Pao handelt mit Bargeld, und dieses Bargeld muß gesellschaftsfähig werden, ehe er es in legale Unternehmungen investieren oder ausgeben kann. Und hier kommt Nel254
son Berlin ins Spiel. Er wäscht das Geld für Pao. Er schleust es für Pao durch seine Anlagen, damit es in der guten Gesellschaft benutzt werden kann.« »Durch Taaltex?« fragte Todd. Gutang drückte die Page Down-Taste, bis eine neue Seite auf dem Bildschirm zu sehen war. »In diesem Teil der Welt läuft jedes von Berlins Geschäften über Taaltex«, erklärte er. »Er benutzt asiatische Hotels, er benutzt asiatische Banken, bei denen er private und geschäftliche Konten unterhält. Manchmal überweist er zusammen mit eigenem Geld auch welches von Pao. Dann transferiert er es von der Bank hier in Manila auf Konten in Europa und Lateinamerika. Nach so vielen Reisen ist das Geld sauber, ist es ganz legal.« »Die letzte Geldlieferung, die ich für Pao erledigt habe, ging nach Panama«, meldete sich Benjy. »Eigentlich sollte es der Bulle, den sie jetzt eingebuchtet haben, van Rooten, dorthin bringen, aber dann ist er ausgeflippt. Und wie ich das sehe, ist Mr. Berlin auch nur ein einfacher Handlanger, so wie der Rest von uns.« Gutang tippte Todd auf die Schulter, dann deutete er auf den Monitor. »Das ist ein Immobilienbüro in Manila. Berlin ist daran beteiligt. Der Chef ist Charles Sui, Sin Paos Mann in diesem Teil von Asien. Die Gesellschaft baut, verkauft und vermietet Häuser und Grundstücke in mehr als zehn Ländern. Sie sorgt auch dafür, daß Lin Pao Geld für seine Drogen und Waffen bekommt. Das muß nicht unbedingt Bargeld sein. Er bekommt es genauso in Form von Öl, Baumwolle, Zinn. Auch so kann man Geld waschen.« Gutang klopfte gegen den Monitor. »Dieser Mann da ist Brasilianer. Lebt in Rio de Janeiro. Er hat Berlins Hotels in Südamerika unter sich. Was ihm Lin Pao als schmutziges Geld schickt, kommt in Form von Smaragden zurück.« »Was bedeuten diese Auflistungen für die Züricher Banken?« fragte Todd. 255
Gutang lächelte. »Das sind Zahlungen von Lin Pao und Mr. Berlin an den früheren Präsidenten Marcos. Die Philippinen sind eine ergiebige Quelle an billigen Arbeitskräften, und das gibt für Mr. Berlin und andere Geschäftsleute den entscheidenden Ausschlag. Es gibt hier auch genug japanische Firmen, die unsere Bevölkerung ausbeuten. Hoffentlich verzeiht mir Gott, daß ich ihnen dabei auch noch geholfen habe. Berlin hat Marcos über Schweizer Banken bezahlt. Und als Gegenleistung hat Marcos dafür gesorgt, daß es hier keine Probleme mit den Arbeitern gibt. Berlin hat Lin Pao dazu überredet, den Politikern finanziell unter die Arme zu
greifen.« Todd nahm die Diskette heraus und schaltete den Computer aus. »Mein Vater wird sich über diese Informationen sehr freuen«, sagte er. »Danke schön, Mr. Gutang. Sie brauchen nicht länger hier zu bleiben.« Gutang sah in alle Winkel des kleinen Zimmers. »Meine Frau war immer sehr anständig. Genauso wie Elizabeth Kuan. Ich habe zwei wertvolle Menschen verloren. Du hast recht. Ich halte ihr Andenken in Ehren, wenn ich Lin Pao und Nelson Berlin entlarve. Bitte richtet Martin Mackie meinen Dank für das Geld aus.« Todd streckte die Hand aus. »Das werde ich tun, Sir.« »Du bist wirklich ein Gentleman. Jetzt verstehe ich, warum dein Vater dir soviel Vertrauen schenkt. Richte ihm aus, daß viele Frauen ermordet wurden, damit diese Daten hier ein Geheimnis bleiben. Auch ihre Seelen müssen geehrt werden.« »Er wird es verstehen.« Sie schüttelten sich die Hände. Dann sah sich Gutang zum letzten Mal im Haus um und ging. Benjy machte hinter ihm die Tür zu, trat an das nächste Fenster und lugte durch die Fensterläden. Todd streckte die Diskette wieder in ihren Umschlag, den er dann Joan reichte, damit sie ihn in der Tasche verstaute. Plötzlich rief Benjy: »Verdammte Scheiße!« Er wandte sich Todd zu. »Vier Burschen haben sich gerade Gutang ge256
schnappt, unten am Fuß des Hügels. Ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich sind es Chinesen. Zehn zu eins, daß es Charlie Suis Leute sind. Wenn sie ihm gefolgt sind, wollen sie sicher auch was von uns. Und wenn sie uns gefolgt sind, wird das auch für ihn garantiert nicht angenehm. Ich meine, wer wird sich schon für uns interessieren außer der Triad?« Benjy schaute wieder hinaus. »Scheiße, Gutang wäre fast entkommen. Sie haben ihn vor dem Drachentempel wieder eingeholt. Menschenskinder, führen die sich auf... Armer Kerl. Der wird ihnen alles über die Diskette sagen, garantiert. Der sagt ihnen, was sie wissen wollen. Wie, zum Teufel, sind sie uns nur auf die Schliche gekommen?« Todd nahm einen Kerzenständer aus Messing vom Tisch und schloß die Augen. Schweigend bat er die Geister des Hauses um Vergebung dafür, daß ihn sein Karma dazu zwang, diesen Kerzenständer zu nehmen und auf diese Weise ein Grab zu entweihen. Schließlich öffnete er die Augen und sah Benjy und Joan an, die auf ein Zeichen von ihm warteten. Schweigend ging Todd voran. Sie folgten ihm durch den schmalen Garten bis zum Weg. Hundert Meter vor ihnen standen am Fuße des Hügels vor dem Drachentempel vier Chinesen über Raul Gutang gebeugt. »Vielleicht sollten wir uns hier schleunigst verziehen«, flüsterte Benjy. Ohne die vier Männer aus den Augen zu lassen, entgegnete Todd: »Noch nicht. Mit Joan können wir nicht so schnell laufen. Sie würden uns mit Sicherheit einholen. Aber ich will die Sache nach meinen Regeln zu Ende bringen.« Mit hastigen Worten erklärte er Benjy und Joan, was sie zu tun hätten. Während Todd redete, versuchte einer von den Chinesen, den blutüberströmten Raul Gutang wieder auf die Füße zu stellen. Die anderen drei, von denen zwei Flinten mit abgesägten Läufen trugen, 257
setzten sich jetzt in Bewegung, den Hügel hinauf auf die Jugendlichen zu. Todd drehte sich um und rannte. Benjy und Joan folgten ihm. Die Chinesen fingen ebenfalls zu rennen an. Dicht gefolgt von Benjy, verschwand Todd hinter dem kleinen Haus. Joan war nicht so schnell, mühsam keuchte sie den Hügel hinauf. Hinter dem Haus führte ein kurzer, grasüberwachsener Pfad den Hügel wieder hinunter zu einer dichten Hecke. Hinter der Hecke stand ein riesiges graues Mausoleum, dahinter lagen weitere Totenhäuser. Als die Chinesen die Rückseite von Gutangs Haus erreicht hatten, war das Mädchen die einzige sichtbare Zielscheibe. Sie versuchte, sich durch die dichte, hüfthohe Hecke zu zwängen, zerriß sich dabei das Kleid und verlor weitere Zeit. Schließlich schaffte sie es doch, büßte aber einen Schuh ein und zerkratzte sich die Waden. Sie kauerte sich hin, um ihre Beine zu untersuchen. Als sie wieder aufsah, stürmten die beiden schon über die Wiese auf sie zu. Im Aufspringen entledigte sie sich des zweiten Schuhs, warf ihn weg und rannte auf das riesige graue Mausoleum zu. Die Gangster konnten hören, wie das Mädchen nach den Jungen schrie, die aber anscheinend ohne sich um sie zu kümmern weitergelaufen waren. Ihre Hilfeschreie bestärkten die Verfolger in dem Glauben, daß sie es mit einem sehr schwachen und furchtsamen Feind zu tun hatten. Das Mädchen würde ihnen als erste in die Hände fallen, dann stünden drei bewaffnete Männer gegen nur zwei Jungen, eine sehr einseitige Angelegenheit. Ihr Anführer, ein Mann mit einer Brust wie eine Tonne und einer dunklen, am Hinterkopf festgebundenen Brille hatte den Auftrag, die Köpfe von Benjy und seinem Kumpan mitzubringen. Und da war noch die Diskette, die Gutang soeben den Kindern gegeben hatte. Charlie Snake dürfte das recht interessant finden. Was die Kleine betraf, so würden er und seine Leute sich noch ein bißchen mit ihr vergnügen, bevor sie sie umbrachten. 258
Am Fuße des Hügels angelangt, hielten die Männer ihre Waffen hoch, um sich durch die Hecke zu zwängen. Grinsend schaute der Anführer auf das weinende Mädchen. Es humpelte jetzt mühsam. Und zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Der Anführer hatte als erster die Hecke überwunden und starb als erster. Als er auf die andere Seite durchgedrungen war, stand schon Todd hinter ihm, der unter den Zweigen versteckt gelegen hatte. Mit dem Kerzenständer in der Hand sprang Todd auf und traf den Kerl mit der Tonnenbrust am Rückgrat, so daß er mit offenem Mund auf die Knie fiel. Ein zweiter Schlag zerschmetterte ihm den Hinterkopf. Er war sofort tot. Wenige Meter weiter lag Benjy auf dem Rücken und drückte sich so fest wie möglich gegen das Dickicht. Einen Finger hatte er am Abzug der Uzi, die auf seiner Brust ruhte. Plötzlich landete ein sandalenbekleideter Fuß auf seinem Bauch. Wieder hatte einer von Suis Männern sich den Weg durch die Hecke gebahnt. Mit einem Schuß in den Knöchel holte Benjy den Killer, einen dürren Chinesen, von den Beinen. Aufheulend flog er zur Seite und landete unsanft links von Benjy, wo er brüllend den Knöchel bis zur Brust zog, ihn mit beiden Händen umklammerte und sich schmerzverkrümmt hin und her warf. Sein Gewehr war außerhalb seiner Reichweite auf den Boden gefallen. Benjy kniete sich hin, richtete die Uzi auf die Brust des Verwundeten und drückte am Abzug. Die Pistole klemmte. Hinter sich hörte er ein scharfes Klicken. Benjy warf den Kopf über die Schulter. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Das Geräusch kam vom Spannen eines Gewehrhahns, und ein abgesägter Lauf war jetzt auf seinen Kopf gerichtet. Der dritte Killer, ein kleiner Mann mit kalten Augen, stand zwischen den Heckensträuchern. Aus dem Hüftgelenk richtete er sein Gewehr auf Benjy. Nicht Joan wird hier 259
draufgehen. Ich bin fällig! Erstarrt wartete Benjy auf den Schuß aus der kurzen, mörderischen Waffe. Todd reagierte sofort. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er die Gefahr für Benjy erkannt und schleuderte dem Mann den Kerzenständer mit solcher Wucht gegen den Unterkiefer, daß er benommen in der Hecke landete. Vergeblich strampelte er mit den Beinen, um wieder hochzukommen, denn nun wurde Benjy zum Berserker. Mit einem wilden Schrei sprang er hoch und stürzte sich auf den Mann, der ihn fast erschossen hätte. Ineinander verkeilt rollten sie von der Hecke weg in eine Grasmulde. Benjy blieb obenauf, denn den Gangster hatte der Schlag gegen sein Kinn so betäubt, daß er wenig zu seiner Verteidigung tun konnte. Dem tobenden Benjy war er in keinster Weise gewachsen. Rittlings setzte sich Benjy auf die Brust des kleinen Kerls, packte ihn am Kopf und brach ihm mit einem scharfen Ruck das Genick. Lange blieb Benjy neben dem Toten sitzen, während er vor seinem geistigen Auge immer noch den auf ihn gerichteten Gewehrlauf sah. Erst als er eine Hand auf der Schulter spürte, schreckte er hoch und merkte, daß Todd und Joan auf ihn herabstarrten. »Der eine lebt, der andere stirbt. Das ist Karma«, sagte Todd. Benjy nickte. Ja, Karma. Er stand auf, nahm die Uzi auf und folgte den anderen zum Ausgang. Hinter ihnen stemmte sich der dürre Chinese mühsam hoch, den verletzten Fuß hielt er immer noch umklammert. Schmerzverzerrt biß er die Zähne zusammen. Warum hatten sie ihn verschont? Benjy hatte ihn umbringen wollen, doch der Jüngere hatte ihm das Leben gerettet. »Es ist vorbei«, hatte Todd gesagt. »Der wahre Krieger metzelt die Wehrlosen nicht nieder. Laß ihn leben.« Und Benjy hatte ihm gehorcht. Widerwillig zwar, aber er hatte gehorcht. 260
Was war das nur für ein Junge, der von Kriegern redete, dem der zornige andere junge Mann anstandslos gehorchte? Der Verschonte sah die Jugendlichen fortgehen. Seine Augen ruhten auf Todd, bis er verschwunden war. 261
16 Frank DiPalmas Aufenthalt im Polizeigewahrsam ließ sich am treffendsten mit >lebhaft< bezeichnen. Er fing damit an, daß ihn der Sicherheitsdienst des Hotels als psychisch gestört einstufte. Demnach hatte DiPalma zwei Chinesen und eine zwergwüchsige Hure umgepustet und einem weiteren Mann den Schädel eingeschlagen. Aus alledem folgte, daß man DiPalma keine Sekunde aus den Augen lassen dürfe. Binnen Minuten waren sechs grimmig dreinblickende Filipinos in grauen Leinenanzügen und weißen Lederschuhen in seine Suite eingedrungen und hielten ihn mit ihren Pistolen in Schach, bis die Polizei eintraf. Die Polizei, acht Beamte in Uniform und sechs in Zivil, trug genug Schußwaffen bei sich, um ganz Costa Rica zu erobern. Was DiPalma in der Folge über sich ergehen lassen mußte, übertraf alles bis dahin Erlebte an Peinlichkeit. In Handschellen wurde er an gaffenden Hotelgästen vorbei zu einem draußen wartenden Polizeiwagen gestoßen, der mit ihm zu einem Revier in der Nähe der Kathedrale an der Plaza Roma davonbrauste. Das Revier betrat er unter dem Donnern der Kirchenorgel, das aus der Kathedrale nebenan drang. Sie habe 4500 Pfeifen, erzählte ihm ein Polizist stolz, stamme aus Holland und sei die größte in ganz Asien. Genau das wollte ich schon immer wissen, dachte DiPalma, dem die Handschellen ins Fleisch schnitten. Im Polizeirevier mußte er sich einer Leibesvisitation unterziehen, die ihm überhaupt nicht schmeckte. Aber die Cops hier sahen nicht so aus, als duldeten sie Sperenzchen. Wenn man sich wehrte, dann wurden sie womöglich noch brutaler. DiPalma war Amerikaner und verdiente als Reporter in einer Woche mehr, als die Burschen in
zehn Jahren. 262
Das allein war Grund genug, um ihn zu schikanieren und ihm die Zeit in der Untersuchungshaft so lästig und unangenehm wie möglich zu machen. Er protestierte auch dann nicht, als sie ihm jegliche Kontaktaufnahme zur Außenwelt verweigerten. Keine Telefongespräche mit Verwandten, der amerikanischen Botschaft oder seiner Fernsehgesellschaft. Genausowenig durfte er einen Rechtsanwalt bestellen oder mit Reportern sprechen. DiPalma brauchte kein Kriminalist zu sein, um zu merken, daß man ihn nur solange festhielt, bis jemand eine passende Version für den Vorfall in der Hotelsuite zurechtgebogen hatte. DiPalmas schlimmstes Szenario sah vor, daß sie ihn im Auftrag Lin Paos oder eines philippinischen Politgurus, der sich um die Interessen der ausländischen Multis in diesem Land sorgte, umbrachten. Als er einmal nach den Anklagepunkten fragte, beschied ihn ein gewisser Detective Firlaca, ein kleingewachsener Schnellredner mit dünnem Schnurrbart, das würden sie ihm sagen, wenn sie fertig seien. Wieder so eine Art, Zeit für die Schadensbegrenzung zu gewinnen, dachte DiPalma. Viel Unterstützung im Hinblick auf seine Forderung nach Verteidigung konnte er wohl kaum erwarten. Der einzige Zeuge, der ihm möglicherweise hätte helfen können, der Chefportier Federico, war anscheinend verschwunden. Zumindest saß er DiPalmas Wissen nach nicht in Untersuchungshaft. Auch nannte keiner seinen Namen. Federico war wohl vorläufig aus dem Verkehr gezogen worden, damit er nichts erzählen konnte. Oder er war tot. In beiden Fällen müßte es in der Hölle schon sehr kalt werden, bis er sich meldete und DiPalma half. Die ersten Stunden seiner U-Haft verbrachte DiPalma in einem Verhörzimmer, einem fensterlosen waldmeistergrünen Kabuff mit Rissen an der Decke, Klappstühlen aus Metall, einem schmutzigen Waschbecken und einem undichten Wasserhahn. Wie in allen Verhörzimmern auf der ganzen Welt roch es hier nach Langeweile, Angst und abgestandenem Essen. 263
DiPalma entschloß sich zur Zusammenarbeit. Er beantwortete jede Frage und warf nie seine Kompetenz in die Waagschale. Nirgendwo war die Polizei auf Klugscheißer erpicht. Wer eine kesse Lippe riskierte, lebte nicht lange in Verhörzimmern. Diese Kerle hereinlegen zu wollen, wäre die reine Zeitverschwendung gewesen. Sie brauchten ja nur sein Zimmer zu durchwühlen und seine Notizen über den Brand bei Taaltex, Nelson Berlin und Lin Pao überprüfen. Spätestens dann hatten die Cops oder andere Interessierte ziemlich genaue Anhaltspunkte für den Grund seines Kommens. Er gab zu, sich mit Huziyana de Vega verabredet zu haben, aber um Sex sei es ihm dabei nicht gegangen. Er habe sie nur über den Brand bei Taaltex befragen wollen, bei dem neben Dutzenden anderen jungen Frauen auch die Patentochter eines Freundes umgekommen sei. Er hätte gehofft, daß sie ihm etwas über den Brandstifter sagen könne. Später fiel ihm auf, daß die Beamten an dieser Stelle nicht nachgehakt hatten. Entweder interessierte es sie nicht, oder sie wußten bereits, wie DiPalma den Zusammenhang zwischen der Zwergin und dem Brand hergestellt hatte. Auf jeden Fall hatte er mit seiner Aussagebereitschaft die richtige Entscheidung getroffen. Nach zwanzig Minuten Verhör zeigten sie ihm die an der Brandstelle aufgefundene gestohlene Uhr, die ihm Martin Mackie gegeben hatte. Zusammen mit den Zeitungsausschnitten über den Brand und seinen Notizen über Lin Pao und Nelson Berlin hatten sie sie in seinem Hotelzimmer beschlagnahmt. Die Polizisten erwähnten allerdings Pao und Berlin mit keinem Wort. Das entging DiPalma keineswegs. Auf die Frage, wie er zu der Uhr gekommen sei, erwiderte DiPalma: »Durch Martin Mackie.« Und wie hatte Mackie sie erhalten? DiPalma schweig. Er wußte, wen Mackie bestochen hatte, um an die Uhr zu kommen: den Schnellredner Filarca, der jetzt nervös neben seinen Kollegen stand und ihn aus seinen sanften braunen Augen anstarrte. 264
DiPalma wußte selbst nicht genau, warum er den Dreckskerl mit dem aufgezogenen Mundwerk nicht verriet. Schließlich hatte er ihn nach Kräften schikaniert. Vielleicht war es eine Laune — oder ganz allgemein seine Abneigung, gegen Cops auszusagen. DiPalma erklärte lediglich — »da müssen Sie sich an Mackie wenden«. Während DiPalma sich fragte, ob er damit Filarca gegenüber den richtigen Ton getroffen habe, gab es im Gang draußen Aufregung. Drei Männer mit unangenehmen Gesichtszügen waren gekommen, um am Verhör teilzunehmen. Zwei trugen dunkle Anzüge und schwarze Krawatten. Alle drei setzten die Miene wichtiger Leute auf, die es nicht gern hatten, wenn man sie am Abend störte, und jeder beäugte DiPalma, als sei er ein tollwütiger Kampfstier. Er nannte sie bei sich Curly, Larry und Moe. DiPalma kam zu dem Schluß, daß sie hohe Tiere von der Regierung oder der Polizeidirektion sein mußten. Sie sollten wohl darauf achten, daß die Interessen der Multis auch gewahrt wurden. Die vier Beamten, die DiPalma verhörten, darunter auch Filarca, wurden nach draußen zu einer Besprechung mit den Neuankömmlingen beordert. Die Tür wurde geschlossen, und DiPalma blieb allein in dem Kabuff zurück. Allmählich wurde ihm elend zumute. Hundeelend. Er hatte die bestmöglichen Beziehungen, doch im Augenblick konnte er niemanden erreichen. Ein paar Minuten später kam Filarca wieder zurück, schloß die Tür und lehnte sich dagegen. »Möchten Sie ein
Glas Wasser?« fragte er. DiPalma klopfte gegen seinen Bauch. »Macht mir hin und wieder Ärger. Mineralwasser wäre mir sehr recht, wenn das möglich ist.« »Ihre Narben am Unterleib und am Schenkel sind uns aufgefallen.« »In Hongkong bin ich mal in Schwierigkeiten geraten, als ich noch Cop war.« Der Beamte grinste. »Diese Schwierigkeiten hatten wohl mit einer Schießerei zu tun?« 265
»Da haben Sie recht.« »Haben Sie Inspektor Mackie in Hongkong kennengelernt?« »Er hat mir damals das Leben gerettet.« »Und jetzt zahlen Sie diese Schuld zurück?« »Ich zahle alle meine Schulden zurück.« Mit dünnen braunen Fingern fuhr sich Filarca über den Schnurrbart. »Wir müssen hier unsere Arbeit erledigen, verstehen Sie. Als Polizisten befolgen wir nur Befehle.« »Genauso wie in meinem Land. Man muß sich eben nach der Decke strecken.« Filarca nickte. »Ja.« Er löste sich von der Tür und ging auf DiPalma zu. »Wie lange waren Sie Polizeibeamter?« »Zwanzig Jahre. Dann bin ich in Rente gegangen.« »Wie wir hören, haben Sie viele Dienstauszeichnungen erhalten.« »Ich mußte meine Arbeit erledigen. Das habe ich getan, so gut es ging.« Filarca verschränkte die Arme über der Brust, schaute kurz zur geschlossenen Tür und dann wieder zu DiPalma. »Sie gehen sehr geschickt mit dem Stock um. Was für eine Ausbildung haben Sie?« »Kendo, Escrima. Ich habe auch ein bißchen Chako geübt.« Filarca ginste. »Chako! Wo haben Sie den Begriff gelernt?« »Von den Filipinos in Amerika, die mir Escrima beigebracht haben. Ihre Landsleute sind die besten Stockkämpfer der Welt, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.« Chako war der philippinische Ausdruck für Nunchaku, eine Waffe, die aus zwei durch ein Seil oder eine Kette zusammengebundenen Hartholzstücken bestand. »Seit dem zwölften Lebensjahr bin ich Escrimador«, sagte Filarca. »Ich übe immer noch zweimal pro Woche damit. Vor zehn Jahren habe ich mir langsam eingebildet, ich sei recht gut. Dann hat mich mein Großvater herausgefordert. Er war dreiundachtzig und hatte über zwanzig Jahre keinen Stock angefaßt. Der hat mir den Arsch grün und blau geschlagen. Was für Stöcke benutzen Sie?« 266
»Rattan. Die sind leicht und biegsam. Und keiner ist bei mir länger als sechzig Zentimeter.« »Genau, sechzig Zentimeter. Das ist gut. Ein bißchen länger macht auch nichts, aber sechzig Zentimeter tun es durchaus.« Erneut blickte Filarca zur Tür, dann wieder zu DiPalma. Die Stimme des Filipinos war fast unhörbar, als er flüsterte: »Die wollen Sie verlegen, verstehen Sie?« Plötzlich bekam es DiPalma mit der Angst zu tun. Wenn sie ihn verlegten, konnten ihn seine Freunde so gut wie nicht mehr erreichen. Diese Reise ins Nichts oder, wie sie ein ehemaliger Partner genannt hatte, klie Tour der magischen Mysterien, war ein bei den Polizisten der ganzen Welt äußerst beliebter Trick. Häftlinge oder Verdächtige wurden von Ort zu Ort verschoben, von hier nach dort und wieder zurück, wodurch jeder, aber auch jeder Kontakt zur Außenwelt unterbunden wurde. DiPalma selbst hatte diesen Trick des öfteren angewandt. Auf diese Weise gewann man Zeit, bis man die nötigen Beweismittel gegen einen schweren Jungen gesammelt hatte, der sich sonst nie hätte überführen lassen. DiPalma war nicht erpicht darauf, diese Prozedur am eigenen Leib zu erfahren, zumal sie sich bedrohlich auf seine Gesundheit auswirken konnte. Die Triad, Nelson Berlins Leute oder sonst jemand gaben womöglich ein paar Dollar aus, damit ihn die Polizei bei einem >Fluchtversuch< erschoß. Oder aber er verschwand ganz einfach in einem Netz unbekannter Gefängnisse mit Geheimzellen oder -kerkern, die Fremden auf ewig verborgen blieben. Bis seine Freunde ihn endlich aufspürten, konnte DiPalma sehr viel zustoßen. Senator Quarequio oder Barry Omens mußten seinen Aufenthaltsort erfahren, und zwar pronto. Er sah zur Tür. Die anderen Beamten standen mit ihren hohen Besuchern schon auf der Schwelle. DiPalma erhaschte Filarcas Blick. »Barry Omens«, flüsterte er. Filarca starrte ihn an, dann wandte er ihm den Rücken zu und stellte sich zu seinen Kollegen. »Du erbärmlicher Dreckskerl!« schrie er. »Versuch nur nicht, dich vor mir auf267
zuspielen. Du bist hier nicht in Amerika! Du bist in meinem Land, und hier bestimmen wir die Regeln, kapiert?« DiPalma rieb sich das Genick und dachte: Die Antwort ist wohl >nein<. Wenn man Licht am Ende des Tunnels sieht, schaut man in die falsche Richtung. Das Verhör wurde fortgesetzt. Im Zentrum stand jetzt DiPalmas Wissen über den Brand. Curly, Larry und Moe standen gegen eine Wand gelehnt. Ständig eine Zigarette im Mund, beobachteten sie ruhig die Prozedur. Nur gelegentlich flüsterten sie miteinander. Nach einer Stunde trat einer von ihnen mit nach oben gestreckter Handfläche vor. Wortlos überreichte ihm ein Beamter die Bänder mit dem bis dahin Gesagten, und Sekunden später war das Trio verschwunden. Trotz seiner Erschöpfung und Heiserkeit hatte DiPalma noch immer kein
Mineralwasser bekommen. Filarca hatte recht gehabt. Er wurde verlegt. Kurz vor Mitternacht wurden DiPalma wieder Handschellen angelegt, und man fuhr ihn zu einem Untersuchungsgefängnis am Rande des Slums von Tondo. Er wurde von den anderen Gefängnisinsassen, Betrunkenen, Taschendieben, Transvestiten und Prostituierten, die man über die Nacht behielt, getrennt. DiPalma bekam alles exklusiv. Er hatte eine Privatunterkunft mit Zimmerdienst. Die Nacht verbrachte er auf dem Beiden eines Zimmers im zweiten Stock, in dem man alte Ablageschränke und alle möglichen Geräte abgestellt hatte. Jemand besorgte ihm eine nach Pisse stinkende Matratze und eine löchrige Decke. Er bekam auch zwei gekochte Eier und eine Tasse lauwarmen Tee, die er sofort hinunterstürzte. Mit ein wenig Nahrung im Magen konnte er sich entspannen. Die Decke faltete er unter dem Kopf zusammen und legte sich auf den Rücken. Er dachte an Todd und Jan. Die Vorstellung, er würde sie nie wieder sehen, kam ihn hart an. Dabei war er um die halbe Welt gereist, um Jan zu schützen und Todd bei Lin Paos Vernichtung zu helfen. Hatte er diese Strecke wirklich nur zurückgelegt, um ein gewaltsames Ende zu finden? 268
Todd würde sagen, daß es Karma sei, etwas, das keinen Aufschub zulasse. Etwas, dem man nicht entkam. Etwas, das auch die höchsten Mauern nicht fernhalten konnten. DiPalma war noch nichts zu seiner momentanen Lage eingefallen, aber soviel wußte er: Er stand bis zu den Augenbrauen in der Scheiße und brauchte dringend einen Strohhalm zum Atmen. Filarca war seine letzte Chance gewesen. Leider schien dem philippinischen Beamten mehr daran gelegen zu sein, die eigene Haut zu retten, als ihm einen Gefallen zu tun. Macht die Lichter aus, dachte DiPalma. Die Party ist vorbei. Als er am nächsten Morgen aufwachte, warteten wieder Tee und gekochte Eier neben der Matratze auf ihn. Nach dem Frühstück las er zwei Stunden lang in zwei älteren Ausgaben des Herrenmagazins Hustler, die er oben auf einem Ablageschrank gefunden hatte. Weil er noch ganz steif war, legte er die Zeitschriften beiseite und machte ein paar Streckübungen. Solchermaßen aufgewärmt, entschloß er sich zu einer Trainingsstunde. Mit einem zusammengerollten Hustler als Stock ging er einige Bewegungsabläufe des Escrima durch. Als er fertig war, schwitzte er, aber er fühlte sich fast genauso wie zu seinen besten Zeiten. Fast. Zweimal holte man ihn aus dem Zimmer, einmal, damit er das Badezimmer benutzen konnte, ein zweites Mal zum Verhör. Ein neues Team fragte ihn aus, drei Cops, die er noch nicht gesehen hatte, aber sonst blieb alles beim Alten. Fragen über den Brand. Drohungen, daß er wegen des Mordes an der Prostituierten und ihren zwei Partnern ins Gefängnis müsse. Sein zwar langweiliger, aber wenigstens genießbarer Speiseplan von zwei gekochten Eiern und Tee blieb ebenfalls der gleiche. DiPalma schälte gerade wieder ein Ei zum Mittagessen, als man ihm den Befehl zum Aufbruch erteilte. Sobald es dunkel wurde, sollte er verlegt werden. Die Nachricht versetzte ihn in panische Angst und verdarb ihm schnell den Appetit. In Begleitung von schwerbewaffneten Cops führte ihn 269
das zweite Vernehmungsteam zur nächsten Station seiner Reise ins Nichts. Sie bildeten einen Konvoi von drei Wagen. Bei Rot fuhren sie weiter, Zusammenstöße vermieden sie nur um Haaresbreite. DiPalma saß stocksteif auf seinem Rücksitz, und daß es aus dem Mund des Beamten neben ihm stank, als kaue dieser alte Socken, machte die Fahrt auch nicht angenehmer. DiPalmas Spannung ließ nach, als es so aussah, als ob sie in der Stadt bleiben würden. Wenigstens fuhr man ihn nicht auf das Land, um ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Noch besser, der Konvoi fuhr nicht allzu weit. Nach zwanzig Minuten hielt er vor einem Revier gegenüber einer Shakey's Pizza in der Mabini Street an. DiPalma hatte heute Riesenglück gehabt. Morgen würde man weitersehen. Nicht allzu sanft drängte man ihn in das Revier, so daß er fast aus dem Gleichgewicht geriet, als ihn jemand von hinten stieß, ein untrügliches Anzeichen dafür, daß seine Glückssträhne bereits wieder riß. Wenn sie sich Brutalitäten herausnehmen konnten, hieß das, daß es ihnen herzlich egal war, mit wem sie es zu tun hatten. Die Hände hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt, wurde DiPalma durch einen dunklen Gang auf eine Tür mit Mattglasscheibe zugetrieben, durch die Licht schimmerte. Ein Polizist stürmte vor, um die Tür zu öffnen. Er machte Platz, als DiPalma, dessen gefesselten Hände bluteten, vorwärts in das Zimmer gestoßen wurde und auf die Knie fiel. Hinter ihm befahl eine Männerstimme: »Nehmt ihm die Handschellen ab.« Im Zimmer stand ein halbes Dutzend Männer. Alle schauten auf einen unrasierten, schmutzigen und äußerst nervösen DiPalma. Einer von ihnen war Barry Omens. 270
17 Im Hotelzimmer war es fast stockdunkel. Todd konnte nicht schlafen. Voller Unruhe lag er in seinem Bett unter dem Fenster mit Blick auf die Mac-Arthur-Brücke. Er fühlte brennende Hitze. Und dann packte ihn gleich wieder so eisige Kälte, daß er mit den Zähnen klapperte. Selbst sein Herz schien zu zittern. Er wußte, was mit ihm geschah, doch stand es nicht in seiner Macht, es aufzuhalten. Wieder ergriff der seit vierhundert Jahren tote Samurai von ihm Besitz. Und damit kam auch wieder die Angst, ein Sklave des Dämons
Iki-ryo zu werden. Der von bösen Gedanken erzeugte Geist Iki-ryo suchte Zuflucht in Seelen, die genauso brutal und wild waren wie er. Todds Furcht machte die Gefahr nur noch größer. Nahe der Tür schlief Joan tief in einem zweiten Bett. Todd zugewandt, hatte sie sich unter ihren lavendelfarbenen Bezug gekuschelt. Benjy hatte das Zimmer nebenan. In sechs Stunden mußten sie am internationalen Flughafen von Manila sein. Ihr Flug nach New York ging um fünf Uhr. Barry Omens hatte sämtliche Reisevorbereitungen getroffen. Am Nachmittag hatten Todd und die anderen den DEA-Beamten in einem Restaurant in der Nähe der jahrhundertealten Ruinen von Fort Santiago in der Aduana Street getroffen. »Frank will, daß ihr drei morgen früh mit ihm wegfliegt«, hatte ihnen Omens eröffnet. »Seine Gesellschaft zahlt die Flugscheine. Ihr holt sie am Reservierungsschalter der Pan-World ab, sie sind dort unter meinem Namen hinterlegt. Frank wird freigelassen, allerdings unter der Bedingung, daß er das Land umgehend verläßt. Deswegen wird er von der Polizeiwache direkt zum Flughafen gebracht. Man wird ihn bis zum Abflug bewachen.« 271
»Und wie steht's mit seinem Gepäck?« wollte Benjy wissen. »Kriegt er nicht einmal Zeit, seine Klamotten zu holen?« Omens schüttelte den Kopf. »Die Cops bringen Franks Sachen zum Flughafen. Wenn er morgen nicht in aller Herrgottsfrüh mit dem ersten Flugzeug verschwunden ist, bekommt er Schwierigkeiten. Die wollen ihn weghaben, am liebsten gestern. Sie lassen ihm nicht mal fürs Postkartenschreiben oder Nasenbohren Zeit. Bon voyage, adios.« Omens schlaffe Lider waren fast ganz geschlossen. Langsam lehnte er sich zurück und spielte mit einer Gabel. »Hör mir mal zu, Todd. Dein Vater hat ganz schön Vitamin B. Das macht ihn für manche zum schlimmsten Alptraum. Sogar ich war beeindruckt. Sobald ich erfahren habe, wo sie ihn versteckten, habe ich es gleich der Botschaft mitgeteilt. Mein Gott, du hättest sehen sollen, wie schnell die gehandelt haben. Sie haben keine Zeit vergeudet und sofort Senator Quarequio alarmiert. Und damit ist der Stein erst richtig ins Rollen gekommen. Inzwischen bin ich zur Polizeiwache gefahren und habe darauf bestanden, Frank auf der Stelle zu suchen. Ich habe den Cops gesagt, daß wir eigentlich hätten zusammenarbeiten sollen. >Und das nennt ihr Zusammenarbeit? Ihr schiebt einen von meinen Kumpels herum?< sagte ich. Während ich noch verhandle, kommt einer von der Botschaft und fängt an über die Art, wie sie Frank behandeln, herumzumosern. Später hab ich dann herausgefunden, daß Quarequio und der Vizepräsident den philippinischen Botschafter in Washington angerufen haben. Am meisten Stunk macht Franks Fernsehgesellschaft. Als nächstes gibt's dann einen Krieg. Franks Freunde haben diese Scheißer ganz schön zur Schnecke gemacht. Das war ein Spektakel, sag ich dir.« Omens warf die Gabel auf den Tisch und grinste. »Wenn es darum geht, Beziehungen spielen zu lassen, dann ist dein alter Herr unschlagbar. Das hat ihn zum großen Cop gemacht. Er kannte einfach jeden.« 272
»Und Sie haben keine Ahnung, wer Ihnen gesagt hat, wo mein Vater zu finden war?« fragte Todd. Omens schüttelte den Kopf. »Vor zwei Tagen habe ich einen Anruf von einer Frau bekommen, die ihren Namen nicht nennen wollte. Sie war eine Filipina, mehr weiß ich nicht. Sagt ihren Spruch auf und knallt den Hörer auf die Gabel. Aber ich glaube, daß jemand hinter ihr stand, der ihr genau erklärt hat, was sie mir sagen sollte. Und ich schätze, daß dieser jemand ein Cop war.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Benjy. »Wenn jemand wußte, was mit Frank gemacht wurde, dann muß er selbst dabei gewesen sein. Dabeisein heißt in diesem Fall Cop sein. Die Frau sagte Sachen wie: >Das verdächtigte Subjekt wird ohne staatsanwaltschaftliche Grundlage festgehalten oder >er wird befehlsgemäß um sechs Uhr verschoben< und so weiter, eben wie ein Polizist sich ausdrücken würde.« Omens sah Todd an. »Hat er etwas von einer Frau in Manila gesagt? Einer Polizistin, einer Sekretärin?« »Nein.« »Nun, sie haben mich und Frank keine Sekunde allein gelassen. Deswegen konnte ich ihn nicht fragen, wer mich denn angerufen hat. Aber ich habe so ein untrügliches Gefühl, daß er genau weiß, wer die Groschen geopfert hat. Apropos Informationen — hat sich euer Treffen gestern gelohnt? Ich meine, ihr seid ja gestern davongerannt, als wäre der Teufel hinter euch her.« Benjy grinste und sagte nichts. Todd gab die Antwort: »Ja.« Omens versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Und? War es viel?« »Es ist wichtig«, sagte Todd. »Es weist auf jeden Fall die Verbindung zwischen Mr. Berlin und Lin Pao nach.« Omens starrte auf die Fingernägel an seiner rechten Hand. »Mein Gott, was gäbe ich nicht, um die zwei Dreckskerle vor Gericht zu bringen. Ich habe schon versucht, sie in einem Bett zu erwischen, als es euch noch gar nicht gab.« Als Omens aufschaute, starrte Todd ihm ins Gesicht. Der 273
DEA-Beamte rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Diese Informationen müssen meinem Vater ausgehändigt werden«, sagte der Junge. Mit einem Achselzucken griff Omens nach der Gabel. »Hey, ich will ja nicht, daß du Befehle ignorierst. Ich
glaube an die Soldatentugenden. Frank hat mir übrigens sein Wort gegeben, daß wir gemeinsam etwas aushecken werden, und das genügt mir.« Todd deutete auf eine zusammengefaltete englischsprachige Zeitung, die vor Omens auf dem Tisch lag. Mit einer abschätzigen Handbewegung rief Omens: »Schrott! Franks Fernsehgesellschaft hatte kaum die Story mit seiner Verhaftung gebracht, da sind die Filipinos auch schon mit etwas ganz anderem gekommen. Sie haben ein Märchen ausgebrütet, daß Frank eine Nutte zu sich eingeladen hätte, und dann wären die drei Nachtvögel auf ihn losgegangen. Laut ihrer Geschichte wurde Frank nur solange festgehalten, bis alle Fakten beisammen waren. Genau. Richtig. Ich schätze, alles geht, wenn man ausländische Geschäftsleute glücklich machen will.« »Und sie haben den Brandstifter immer noch nicht?« fragte Todd. »Mein lieber Freund, sie suchen überhaupt nicht. Für die ist der Fall abgeschlossen. Es gibt nur Gerüchte über einen Verdächtigen, so einen Typen, der mit der toten Pygmäen oder Zwerghure oder was sie sonst war, zusammengelebt hat. Frank wollte vermutlich über sie an diesen Typen herankommen.« Todd nickte. Omens sah Benjy an. »Wohnt ihr hier in der Nähe?« Benjy grinste. »Sie geben wohl nie auf, was?« »Ich frag' ja nur.« Todd sagte: »Richten Sie meinem Vater aus, daß ich froh bin, daß es ihm gut geht und daß ich mich auf das Wiedersehen morgen freue. Es war anständig von Ihnen, daß Sie ihm geholfen haben.« 274
»Vergiß unsere geheimnisvolle Anruferin nicht — oder sollte ich lieber unseren Anrufer sagen? Wer weiß, was sonst mit Frank geschehen wäre.« Omens nippte an seinem Bier und schaute durch das Fenster auf die Touristen, die vor Fort Santiago Schlange standen. Charlie Snake hatte keine Zeit vergeudet und war sofort gegen Frank vorgegangen. Keine zwei Stunden, nachdem sich der Zampano in seiner Dreihundertdollar-Suite einquartiert hatte, hätten sie ihn schon fast ins Jenseits befördert. Der kleine Todd mit den Augen wie Laserstrahlen dagegen schien das Glück gepachtet zu haben. Zusammen mit diesem Abfall von irgendeinem Schülerball in Chinatown hatte er sich von Charlie Snakes Leuten nicht erwischen lassen. Man könnte meinen, die Kleinen wären unsichtbar. Sie hatten Omens verlassen, um mit einem nicht näher bezeichneten Individuum Kontakt aufzunehmen. Der hatte ihnen dann irgend etwas gegeben, das Beziehungen zwischen Lin Pao und Nelson Berlin bewies. War das wirklich so leicht gewesen? Omens fragte: »Sagt mal, habt ihr eigentlich Schwierigkeiten bekommen? Es überrascht mich, daß Charles Sui nicht gegen euch vorgegangen ist.« Benjy grinste. »Doch, das hat er versucht.« Omens zog die buschigen roten Augenbrauen hoch. Er konnte die Fortsetzung der Geschichte gar nicht abwarten. Und Benjy setzte schon zum Bericht an, als ihn ein Blick von Todd erstarren ließ. Todd erhob sich. »Wir sehen Sie dann morgen am Flughafen. Nochmals herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit.« Das Bierglas vor dem Mund, sah Omens den drei Jugendlichen zu, wie sie das Restaurant verließen, und in der Menge verschwanden. Das war also nicht so einfach gewesen. Sie hatten Schwierigkeiten bekommen und überlebt. Es hatte eine Auseinandersetzung mit Charlie Snakes Killern gegeben. Dessen war sich Omens so sicher wie er wußte, daß es auf den Philippinen Riesenmoskitos gab, die einen Truthahn piesacken konnten, bis er Plattfüße hatte. 275
Vor oder nach dem Treffen hatten die Kleinen es mit Charlie Snake aufgenommen. Und überlebt. Benjy hatte ein bißchen aus dem Nähkästchen plaudern wollen, aber Todd hatte ihn mit einem Blick abgeschossen. Und was für einem Blick. Omens kam DiPalmas Kleiner unheimlich vor. Zehn zu eins, daß ihn Charlie Snakes Leute auch unheimlich gefunden hatten. Todd lag zitternd auf seinem schweißgetränkten Bettlaken. Sein Schluchzen hatte Joan geweckt, die sich sofort ihren Bademantel überwarf, um Benjy im Zimmer nebenan wachzurütteln und mit ihm zurückzukommen. Jetzt standen beide vor dem verängstigten Jungen, der nicht mehr wußte, ob er wachte oder schlief. Bibbernd zog er die Knie bis ans Kinn und krallte sich am Laken fest. Mit tränenglänzenden Augen trat Joan an sein Bett. Benjy kämpfte gegen die in ihm hochsteigende Panik an. Er packte Joan am Arm und wich mit ihr langsam zurück. Er wußte, was sich jetzt abspielen würde. In dem nur von einem Fächer an der Decke gekühlten Zimmer wurde es plötzlich eiskalt. Benjy und Joan fröstelten in der eisigen Luft. Dann kam der Geruch. Es roch so stark nach Verbranntem, daß nicht einmal die kalte Zugluft etwas dagegen ausrichten konnte. Vor Angst riß Joan die Augen weit auf. Ein wilder Husten schüttelte sie. Benjy drehte sich der Magen um, daß er meinte, sich übergeben zu müssen. Im Zimmer wurde es winterlich. Verzweifelt zerrte Benjy Joan zu ihrem Bett, riß eine zusammengelegte Decke an sich und wickelte sie um das Mädchen. Dann drückte er sie zu Boden und schob sie unter das Bett. Schnell ließ auch er sich fallen und kroch selbst, so weit es ging, unter das Bett. Mit seinem Körper versperrte er Joan die Sicht. Bald geschah hier etwas, das keiner von ihnen miterleben wollte.
Auf der anderen Seite des Zimmers wußte Todd nicht mehr, ob das nun ein Alptraum war oder die entsetzliche 276
Wirklichkeit. Aber er steckte im Körper eines Mannes. Eines Japaners. Er war bärtig, untersetzt und muskelbepackt, hatte eine dunkle, über und über behaarte Haut und seine Hand ruhte auf dem MuramasaSchwert, das er um die Hüfte gebunden hatte. Er stand nur eine Armlänge von dem Mann entfernt, der mit Feuer mordete, der jetzt zum Schlag gegen Frank DiPalma ansetzte. Ahnungslos schritt Todds Vater auf den in der Dunkelheit lauernden Mann zu, der ihn bei lebendigem Leib verbrennen wollte. Furchtsam versuchte Todd sein Schwert zu ziehen, aber trotz ihrer Stärke waren seine Arme zu schwach. Er brachte das Schwert nicht aus der Scheide heraus. Und warum war er so ängstlich? Er durfte, er konnte sich keine Angst leisten. Plötzlich regte sich in ihm der Iki-ryo, der Geist der Lebenden. Er erschauerte, als der Geist sich seines Verstandes, seiner Seele bemächtigte und ihn mit seinem Haß, seinem Gift und seiner uralten Brutalität und Bösartigkeit durchdrang. Der Iki-ryo schickte sich wieder an, ihn zum Werkzeug seiner Pläne zu machen. »Mein Vater ist in Gefahr!« schrie Todd. »Rette ihn!« »Um seines Überlebens willen muß ich in dir leben«, sagte der Iki-ryo. »Heute nacht bin ich dir zu Diensten, doch bald werde ich dich auffordern, mir zu dienen. Bist du damit einverstanden?« »Ich bin einverstanden.« »Dann gilt es.« Todd hörte und spürte eine mächtige Windböe. Einen Herzschlag später wurde sein Körper von sengender Hitze aufgezehrt. Sich gegen einen wie es schien unüberwindbaren Schmerz aufbäumend, brüllte Todd auf. Es war ein Mark und Bein durchdringender Schrei, und Benjy und joan mußten sich die Ohren zuhalten. So schnell wie sie gekommen war, verschwand die Hitze wieder. Zurück blieb schneidende Kälte. Todd sah sich wieder als das, was er früher einmal gewesen war. Er war kein verängstigter, schniefender Junge. Er war Benkai. Er war ein Samurai. Es war fast 2.30 Uhr morgens, als Leon Bacolod seinen gemieteten Toyota in die menschenleere Mabini Street lenkte und vor einem Eckladen, in dem man geschnitzte Santos, 277
Statuen von den beliebtesten Heiligen kaufen konnte, parkte. Er trug einen billigen Leinenanzug, eine dunkle Brille und braune Lederschuhe mit an der Spitze eingestanzten Löchern. Das alles hatte er an Gebrauchtwarenständen in Chinatown gekauft. Der Bambusrosenkranz hing um seinen Hals. Eine gelbe Rose im Revers stammte aus dem Blumenkranz, den er, wie es bei ihm vor jedem Feuer üblich war, der Heiligen Jungfrau in der Quiapo-Kirche gestiftet hatte. Dort hatte er auch eine Kerze für Huzi angezündet und einem Priester Geld gegeben, damit er zu ihrem Gedenken hundert Messen las. Kaum hatte Bacolod die Zündung ausgeschaltet, ließ er den Kopf auf das Lenkrad fallen und weinte bitterlich. Huzi hatte ihn so geliebt, wie er war. Kein anderer hatte das je getan. Bevor sie in sein Leben getreten war, hatte sich Bacolod immer eingebildet, alle haßten ihn. Erst dank Huzi hatte er sich selbst entdeckt und das Leben so, wie es war, zu lieben begonnen. Ohne sie fühlte er sich erneut ängstlich und bedroht. Er konnte die eigene Angst fast riechen. So leer war er sich seit seiner Kindheit im Waisenhaus nicht mehr vorgekommen. Mit Huzi hatte DiPalma auch sein Selbstwertgefühl getötet. Nur mit der Ermordung DiPalmas konnte er es wiedererlangen. Während der Brandstifter lautlos auf dem Fahrersitz weinte, traten zwei Huren aus dem verdunkelten Eingang des Santosladens und schlenderten auf den Toyota zu. Beide waren jung und zaundürr. Ihre Augen und Zähne funkelten grün im grellen Licht der Straßenlaternen. Sie trugen Miniröcke aus Leder, langärmelige Blusen, Ohrreife und Perücken. Eine wirbelte nervös einen rosa Sonnenschirm durch die Luft, die andere rauchte eine lange Thai-Zigarette, die sie lässig zwischen den Fingern hielt, auf deren Spitzen lange, gebogene, in vielen Farben leuchtende Nägel aufgeklebt waren. Bacolod musterte sie verächtlich. Die breiten Schultern, 278
großen Hände und der Adamsapfel verrieten sie. Gottverdammte Transvestiten! Er verabscheute Perverse. Wenn es nach ihm ginge, würden sie alle in Konzentrationslagern landen. »Zieht bloß Leine, ihr dreckigen Schwuchteln!« schrie er. »Hoffentlich verreckt ihr Schwanzlecker noch an AIDS!« Vor seiner Wut wichen sie, auf ihren hohen Pfennigabsätzen stolpernd, zum Eingang zurück und verfluchten ihn auf englisch, spanisch und Tagalog. Bacolod machte mit dem ausgestreckten Mittelfinger eine ordinäre Geste. »Wichst euch doch selber!« schrie er ihnen hinterher. Er atmete jetzt tief durch. Beim Einatmen stellte er sich vor, wie die Luft sich im Kopf ausbreitete, bevor er sie zum Zwerchfell strömen ließ. Tief Durchatmen beruhigt das Gemüt, hatte Huzi gesagt. Sie hatte es täglich nackt als Yogaübung praktiziert, dazu hatte sie Bänder mit klassischer Musik gehört. Huzi war eine kultivierte Dame gewesen. Als Bacolod tief Luft holte, füllten sich seine Lungen mit Benzingeruch. Der kam aus einem Karton auf dem Beifahrersitz. Auf dem Karton mit der Aufschrift >Sun Gold Bananas< lag ein zerrissenes blaues Handtuch, darin waren drei Streichholzbriefe und ein Vierliterkanister Benzin. Mit dem Kinn auf dem Lenkrad ruhend, stierte Bacolod auf die Polizeiwache zu seiner Rechten am anderen
Ende des Häuserblocks in der Mabini Street. Vor dem Revier stand ein Zivilpolizist gegen einen von drei vor dem Rinnstein geparkten Polizeiwagen gelehnt da und unterhielt sich mit einem Trio weiblicher Prostituierter. In wenigen Minuten, wenn Frank DiPalma herausspazierte, würde ihn Bacolod bei lebendigem Leib verbrennen. An Ort und Stelle. Wenn er selber dabei draufging? Na und? Alles war egal, nur die Ermordung DiPalmas nicht. Zum Teufel mit Charlie Sui, mit der Polizei, mit allen. Bacolod wollte seine Rache haben. Nach ihm die Sintflut. Bei der Erinnerung daran, wie leicht es gewesen war, DiPalmas Aufenthalt herauszubekommen, schmunzelte er unwillkürlich. Die Zeitungen hatten das Hotel des Amerika279
ners genannt, und Bacolod war hingegangen, um den Zeitpunkt seiner Rückkehr in Erfahrung zu bringen. Er war in der Nacht hingegangen, weil sich dann weniger Leute im Foyer aufhielten. In der Portiersloge hatte er seine Sicherheitsdienstkarte aufblitzen lassen und sich als Polizist ausgegeben, der in der Sache DiPalma ermittelte. Ob sich jemand nach dem Amerikaner erkundigt habe? Binnen Minuten hatte Bacolod erfahren, daß DiPalma aus dem Land ausgewiesen werden sollte und schon zwei Polizisten ins Hotel gekommen seien, um seine Sachen zum Revier in der Mabini Street zu bringen. Der Amerikaner sollte von dort um drei Uhr morgens zum Flughafen gebracht werden. Gott sei Dank, sagte der Portier. DiPalma war hier nicht mehr willkommen. Das Hotel sei mehr als der Geschäftsleitung recht sein konnte in die Schlagzeilen geraten — und das nur dank der Reporter, der Botschaftsbeamten und der amerikanischen Politiker. Der Plan, den Störenfried in aller Stille wegzuschaffen, erklärte der Portier Bacolod, sei richtig. Dem stimmte Bacolod zu. Das war wirklich ein exzellenter Plan. Plötzlich packte Bacolod das Lenkrad seines Toyotas mit beiden Händen. Mehrere uniformierte und mit Schrotflinten bewaffnete Polizisten hatten das Revier verlassen und gruppierten sich jetzt um die Einsatzwagen. Vier Männer in Zivilkleidung, darunter zwei Amerikaner, standen vor der Treppe zum Revier und unterhielten sich leise. Einer blickte nervös auf seine Uhr. Auf der anderen Straßenseite wollten sich einige Nachtschwärmer - männliche und weibliche Prostituierte, Taxifahrer, Bettler - das Spektakel nicht entgehen lassen. DiPalma mußte gleich kommen. Das spürte Bacolod. Er leckte sich die Lippen. Mit klopfendem Herz schraubte er den Verschluß von seinem Benzinkanister ab und goß vorsichtig, ohne einen Tropfen zu verschütten, Benzin in eine leere Rumflasche. Als die Flasche zu drei Vierteln voll war, setzte er den Kani280
ster ab, klemmte die Flasche zwischen die Schenkel und schraubte den Verschluß wieder fest zu. Dann stellte er den Kanister auf den Boden, riß einen Streifen vom Handtuch ab und stopfte ihn in die Flasche. Der Gedanke an das Feuer ließ ihn fast Huzi vergessen. Als er wieder zum Revier blickte, war DiPalma schon herausgekommen. Der Amerikaner ließ sich anhand der Zeitungsfotos leicht erkennen. Ein massiver, grauhaariger Mann, der umringt von den vier Männern im Anzug auf der Treppe stand. Bacolods Plan war ganz einfach. Warten, bis DiPalma in einen der Wagen stieg, dann dicht heranfahren, die Benzinbombe in sein Fahrzeug schleudern und wegfahren. In Manila waren nur wenige so gut dran, daß sie sich im Auto Klimaanlagen und geschlossene Fenster leisten konnten. Bacolods Fenster waren alle vier offen. Als DiPalma sich in Bewegung setzte, griff Bacolod nach einem Streichholzbrief. Dann öffnete ein Polizist die Hintertür des mittleren Wagens. Bacolod zündete ein Streichholz an und hielt es gegen den aus der Flasche ragenden Handtuchzipfel. Sofort ging er in Flammen auf. Mit einemmal schlössen sich plötzlich alle vier Fenster des Toyotas und ließen sich nicht mehr öffnen. Alle vier Fenster waren zu. Und alle Türschlösser rasteten ein. Jemand hatte Bacolod in seinem Wagen eingesperrt. Was, zum Teufel, war los? War jemand in seinem Wagen? Während er um sich schaute, überlief es den Brandstifter plötzlich eiskalt. Dann hüllte ihn ein so überwältigender Gestank ein, daß ihm der bittere Geschmack von unverdauter Nahrung in die Nase und den Mund stieg. Wer wollte ihn da hereinlegen? Seine Füße fühlten sich naß an. Heilige Mutter Maria. Der Kanister war offen und das Benzin lief aus! Es machte seine Füße und Knöchel naß und tränkte die Bodenmatte. Etwas Helles stach ihm ins Auge. Flammen flackerten aus dem Karton auf — alle Streichholzbriefe hatten sich entzündet. Der Karton fing schnell Feuer. Von seinem Rand griffen 281
die Flammen auf den mit Benzin getränkten Boden über. Bacolods Verstand sagte: Reiß den Docht aus der Rumflasche. Mach es gleich. Dann brich die Tür auf und renn weg. Aber er konnte die Arme nicht rühren. Die Benzinbombe blieb mit ihrem brennenden Docht zwischen seinen Händen festgeklemmt. Und die Hände konnte er nicht aus dem Schoß nehmen. Er konnte keinen Muskel bewegen. Er sah DiPalma in einen Wagen steigen, sah die Tür hinter ihm zufallen und den ersten Polizeiwagen sich vom Bordstein lösen. Bacolod kreischte gegen die letzte und schmerzhafteste Enttäuschung seines Lebens an. Und während er schrie, verschwand der Toyota in einem ungeheuren Feuerball. 282
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Es war eine äußerst unangenehme Unterredung, die Charles Sui mit dem Schwarzen General hatte. Sie führten sie über Funk, das bevorzugte Kommunikationsmittel der Triad über große Entfernungen. Telefongespräche und schriftliche Botschaften ließen sich leicht mitschneiden oder abfangen. Funkkontakte dagegen konnte man so gut wie nicht abhören. Sui hatte Angst davor, dem Paten schlechte Nachrichten zu überbringen. Auf negative oder unangenehme Mitteilungen konnte der Schwarze General mit blindwütiger, aber auch mit kalt berechnender Grausamkeit reagieren. Vor diesen furchterregenden Extremen graute es Sui dermaßen, daß er von sich aus nur Kontakt zu seinem Paten aufnahm, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Pate Pao haßte es, wenn man ihm etwas verheimlichte. Es wäre der reine Selbstmord gewesen, wenn Sui die Nachricht über die Diskette, die Raul Gutang an Benjy Lok Nein und Frank DiPalmas Jungen ausgehändigt hatte, für sich behalten hätte. Es hatte den Schwarzen General viel Mühe gekostet, seine Beziehungen zu Nelson Berlin geheimzuhalten. Was immer damit zusammenhing, mußte ihm zur Kenntnis gebracht werden. Aber wenn er seinen Paten auf dem laufenden halten wollte, mußte Charles Sui auch sein eigenes Scheitern im Kampf um die Diskette zugeben. Zu diesem unerquicklichen Bericht kam auch noch das Eingeständnis seiner Demütigung, daß er nämlich bei der Verfolgung Benjys und dessen Kumpels zwei Männer verloren hatte. In Suis Schläfe machte sich das Pochen einer Ader bemerkbar. Steif saß er im verdunkelten Kellerraum seines Hauses im Forbes Park da und mußte sich anhören, wie er als unfähig, schluderig, eine Schande für den Namen seines 283
Vaters bezeichnet wurde. Minutenlang gingen die Schimpftiraden und Flüche ununterbrochen weiter. Sui merkte, daß eine Migräne bei ihm im Anzug war. Lin Pao schimpfte weiter: »Du bist ein gut angezogener kleiner Dreckskerl und nicht einmal ein Schatten deines Vaters. Intelligent, ja, das bist du. Aber, mein lieber Patensohn, intelligent sein, heißt auch handeln können. Wie oft muß ich dich noch darauf hinweisen? Ich sage es nicht zum erstenmal: Du verbringst viel zuviel Zeit auf dem Tennisplatz und mit der Orgel. Merkst du denn nicht, was für einen Gesichtsverlust das bedeutet, wenn man sich von Kindern schlagen läßt?« Lin Paos Wut wurde auch keineswegs durch die Nachricht beschwichtigt, daß Charles Sui den Computer Operator von Taaltex geschnappt und ihn so lange gefoltert habe, bis sie alles von ihm erfahren hätten. Wo war die Diskette? »Weißt du, wie teuer es mich kommt, wenn meine Beziehungen mit Nelson Berlin bekannt werden?« schrie Lin Pao. »Sollte Berlins Vergangenheit ans Licht kommen, dann würde ihn nicht einmal sein Geld vor der Schande bewahren. Weiß DiPalma von der Sache mit Berlins Schwester?« »Doch, ja«, sagte Charles Sui. »Dem Material nach zu urteilen, das die Polizei in seinem Hotelzimmer beschlagnahmt und an mich weitergeleitet hat, hat ihm Gregory van Rooten etwas über Nelson Berlin und seine Schwester gesagt. DiPalma kennt die Einzelheiten nicht, aber Bescheid weiß er auf alle Fälle. Weil er im Gefängnis saß, konnte er nicht herumschnüffeln und dumme Fragen stellen. Mr. DiPalma hat Glück, daß ihm Kinder zur Verfügung stehen, die die Arbeit für ihn erledigen.« »Mach den Mund zu und die Augen auf. Glück hat damit überhaupt nichts zu tun. DiPalma ist kein Dummkopf. Er hatte von Anfang an vor, die Jungen einzusetzen. Sie wußten, was zu tun war, ohne daß DiPalma es ihnen gesagt hätte. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest - darf ich dich darauf hinweisen, daß DiPalma ein berühmter Mann 284
ist? Er hat die Rolle des Lockvogels gewählt und uns alle damit hereingelegt.« »Ich verstehe nicht.« »Nach seiner Verhaftung hatte DiPalma zu niemanden mehr Verbindung. Trotzdem haben die Jungen mit einer gewissen Präzision gehandelt. Sie wußten, was sie zu tun hatten, ohne daß DiPalma es ihnen gesagt hätte. Anscheinend hat er noch vor seinem Abflug aus Amerika eine Strategie ausgeheckt. Er war uns immer einen Schritt voraus. Peinlich, so etwas einem aus dem Westen zugestehen zu müssen. Du wärest schlecht beraten, wenn du diesen Mann unterschätzen würdest. Oder seine Helfer.« »Pate, meine Männer haben versucht, Benjy und seinen Freund zu erledigen.« »Du wirst nicht für Versuche bezahlt. Sondern für den Erfolg.« Sui wischte sich die schweißnasse Hand an der Hose ab. »Pate, du weißt doch, wie gewalttätig Benjy sein kann. Und der andere soll noch schlimmer sein. Er ist ein richtiges Phänomen, dieser Kleine. Sie haben meine Männer im chinesischen Friedhof überrascht und... »Du bist noch dümmer als dumm, du bist ein Idiot! Wie oft muß ich dir noch sagen, daß Erklärungen an den Fakten nichts ändern? Warum habe ich wohl vor zwei Wochen befohlen, daß diese Frauen erledigt werden sollten? Doch nur, um Beweismaterial zu beseitigen, das du durch deine Pfuschpfoten hast gleiten lassen. Und was ist deine Lösung für diese mißliche Lage? Nur daß du mir berichtest, wie du dich von zwei Halbstarken hast unterkriegen lassen. Wenn dein Vater noch lebte, würde er vor Scham weinen.« Charles Sui schloß die Augen und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Pate, ich weiß, wo die Jungen sind.« »Und die Diskette?«
»Ich werde sie vernichten und dafür sorgen, daß die Jungen Manila nicht lebend verlassen.« »DiPalma, van Rooten und Martin Mackie können das 285
Haus zum Einsturz bringen, das ich mein Leben lang im Westen aufgebaut habe. Sie könnten mich sogar dazu zwingen, das Treffen mit den anderen Drachenhäuptern abzusagen. Diesen Gesichtsverlust würde ich nicht überleben. Was habe ich nicht alles riskiert, um diese Konferenz zu organisieren? Gerade jetzt wollen die Geheimgesellschaften mich als Führer auf dem Weg zum Kompromiß anerkennen. Aber was geschieht, wenn sie erfahren, daß ich nicht einmal mein eigenes Haus bestellen kann?« »Pate, ich...« »Halt den Mund, du Arschloch, halt den Mund!« Es folgte eine lange, beklemmende Schweigepause, in der Charles Sui die Brille abnahm und sich den Nasenrücken mit dem Daumen und Zeigefinger massierte. Mit dem Alten war jetzt nicht gut Kirschen essen. Es hatte keinen Sinn, ihm mit Engelszungen zuzureden. Da konnte man genausogut ohne Beine zu laufen versuchen. Er war in der letzten Zeit immer so nervös... Warum nur? Sicher, van Rooten hatte ihm und Taroko, der Frau, die sie sich teilten, übel mitgespielt, aber Sui hatte den Verdacht, daß noch etwas anderes Pao belastete. Etwas, worüber der Alte unter keinen Umständen reden wollte. Lin Pao meldete sich wieder: »Bei Benjy war noch ein zweiter Junge, sagst du? Könnte das derselbe sein, der es mit Ivan Ho aufgenommen und ihn tatsächlich besiegt hat?« »Ja. Es ist Frank DiPalmas Sohn.« »Was wissen wir noch über den kleinen Dreckskerl, außer daß er genauso hart ist wie sein Vater?« »Im Kampf ist er ein Dämon, wurde mir gesagt. Der Mann, der den Kampf überlebt hat, war ganz verstört. Er hat den Jungen unheimlich genannt.« »Er hat sich in unsere Angelegenheiten nicht einzumischen, das steht schon mal fest. Seinetwegen konnten sich die Jadeadler dem Zugriff der Acht Ritter des Nordens entziehen. Und sie wissen, daß ich ihren Tod befohlen habe. Du sagst, er sei unheimlich... Inwiefern?« »Er ist sehr stark«, antwortete Charles Sui, »und schlägt 286
ungeheuer hart zu, heißt es. Hat einen meiner Männer mit einem Kerzenständer umgebracht und dann einen anderen halbtot geschlagen. Nennt sich einen Krieger. Mein Mann hat mir gesagt, daß der Kleine aus einer anderen Welt zu kommen scheint.« In seiner mehrere hundert Meilen entfernten Villa in Taipeh schloß Lin Pao sein einziges Auge und dachte an den alten Priester, den er wegen dessen verhängnisvoller Voraussage umgebracht hatte. DM wirst eines gewaltsamen Todes sterben. Das Werkzeug deines Todes wird ein Junge sein, der im Westen lebt, aber aus dem Reich der Mitte stammt. Er ist ein Teil deines Lebens und dir von Geburt an wie ein Schatten gefolgt. Du wirst binnen 22 Tagen sterben. Pao schwindelte. Heftig schüttelte er den Kopf. Das konnte nicht sein. Mit zitternder Hand führte er eine Teetasse an die Lippen und schluckte zweimal. Nachdem er sie wieder hingestellt hatte, nahm er erneut das Mikrophon in die Hand. »DiPalmas Sohn — ist er Asiat?« »Ja, Pate, der Junge ist Halbchinese.« Ein Junge, der im Westen lebt, aber aus dem Reich der Mitte stammt. »Du sagst, du weißt, wo er sich versteckt hält?« »Er und Benjy wollen das Land verlassen. Aber ich kann sie schnappen.« »Tu es sofort.« »Bei meinem verstorbenen Vater schwöre ich, sie und die Diskette zu vernichten.« Lin Paos Stimme verriet keine Regung, als er Sui darauf aufmerksam machte, wieviel von seiner Achtung vor dem Vater wohl auf Furcht beruhte. »Wenn diese Jungen morgen noch am Leben sind«, sagte er, »lasse ich deine Frau töten. Ihr Tod wird eine Woche dauern.« Die Zusammenarbeit mit dem Paten war lange ein Ritt auf dem Tiger gewesen. Jetzt war der Tiger hungrig. Charles Sui biß die Zähne aufeinander, als die Migräne mit aller Gewalt zuschlug. 287
Der internationale Flughafen von Manila. DiPalma legte den Sicherheitsgurt an, dann rieb er sich die wunden Handgelenke. Noch fünfzehn Minuten bis zum Start, hatte der Pilot gesagt. Mittlerweile stand das schlecht besetzte Linienflugzeug unbeachtet im Dunkel auf der Rollbahn. Für DiPalma konnte es gar nicht schnell genug abheben. Gekochte Eier hingen ihm zum Hals heraus. Er sah über den Gang zu Todd hinüber. Der Junge hatte sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt, anscheinend schlief er. Neben ihm saß, den Kopf an seiner Schulter, Joan. DiPalma lächelte. Bedeutete das die Vereinigung zweier junger Herzen? Vor dem Schalter für reservierte Flugscheine hatten sich DiPalma und Todd freudig umarmt. Der Kleine hatte sich an ihn geklammert, als ob DiPalma aus dem Grab zurückgekehrt wäre. Todds sichtliche Erschöpfung
machte ihm Sorgen. DiPalma vermutete, daß die 400 Jahre alte Last seinen Sohn zunehmend niederdrückte. »Mir geht's gut«, sagte Todd, doch DiPalma hatte seine Zweifel. Der Kleine wirkte ohne jede Frage bekümmert. Was, zum Teufel, gab zu Kummer Anlaß? Sie hatten die Diskette, und es ging wieder nach Hause. Sollten Nelson Berlin und der Schwarze General in tausend Ängsten schweben. Benjy hatte die Diskette bei sich. DiPalma wollte sie bis New York nicht berühren, dort wollte er dann Kopien anfertigen lassen und eine in einem Safe und eine andere bei seinem Rechtsanwalt hinterlegen. Er hatte Todds Wort, daß die Informationen zuverlässig waren, und das genügte. Der Kleine hatte fantastische Arbeit geleistet. Nie war DiPalma so stolz auf ihn gewesen. DiPalma bedauerte, daß er van Rootens Behauptung, Nelson Berlin habe seine eigene Schwester umgebracht, nicht nachgehen konnte. Die Arbeit bei der Polizei hatte mit dem gesunden Menschenverstand und mit Beharrlichkeit zu tun. Man klärte Verbrechen auf, weil man nicht locker ließ, immer am Ball blieb, bis man endlich denjenigen gefunden 288
hatte, der etwas wußte. Einen Zeugen. Einen Komplizen. Einen Verwandten des Delinquenten. Das Geheimnis bestand darin, einen Dominostein umzustoßen und zuzusehen, wie die anderen nach ihm umfielen. DiPalma hatte mit der Verfolgung einer Spur angefangen und wollte sich bis zum Ende daran heften. Er würde eben immer ein Cop bleiben. Nichts reizte ihn mehr, als einen vierzig Jahre alten Mord aufzuklären und ihn dann einem von Amerikas großen Tieren anzuhängen. Aber in den letzten Tagen war ihm neben gekochten Eiern und Schaben im Tee noch etwas anderes im Kopf herumgegeistert. Ständig kam ihm ein Name in den Sinn — Taroko. Die verführerische chinesische Sängerin, sowohl Lin Paos als auch Gregory van Rootens Geliebte. Spurlos war sie verschwunden. FBI und DEA konnten sie nicht aufspüren. Allerdings fahndeten sie auch nicht allzu intensiv nach ihr; sie hatten ja van Rooten, und der redete. Was brauchten sie sonst? DiPalma jedoch ließ ihr Verschwinden keine Ruhe. Es ließ ihm keine Ruhe, weil er van Rooten kannte. Sein ehemaliger Partner war ein äußerst stolzer Mensch, einer der nichts so haßte wie Demütigungen. Und genau so etwas hatte ihm, allen Berichten nach zu urteilen, Taroko angetan. Erniedrigungen solcher Art ließ van Rooten nie durchgehen. Deswegen hatte er sich an DiPalmas Frau herangemacht. Haifischauge ließ keine Rechnung offen. Als DiPalma und van Rooten sich letzte Woche auf Governor's Island getroffen hatten, war Tarokos Name nur nebenbei gefallen. Dann hatte van Rooten hastig das Thema gewechselt. Er wollte über die Schlampe nicht reden. DiPalma hatte mit den Schultern gezuckt. Sie war ihm herzlich egal. Aber als er schlaflos in mehreren Manilaer Gefängnissen gelegen hatte, war ihm die Grimasse seines ehemaligen Partners beim Themenwechsel wieder eingefallen. In van Rootens Augen hatte ein seltsamer Schimmer aufgeleuchtet, den DiPalma früher oft genug zu sehen bekommen hatte. Taroko hatte ganze Arbeit geleistet, das heißt, sie hatte 289
van Rooten im Bett völlig verrückt gemacht und damit einige Sicherungen bei ihm zum Durchbrennen gebracht. Wie DiPalmas Kontaktmann vom DEA es ausdrückte, hätte man am Ende an Haifischauge ein Schild mit der Aufschrift Außer Betrieb kleben können. Angeblich hatte Taroko van Rooten dermaßen irritiert, daß er nach Atlantic City abgedampft war und dort versucht hatte, das gebrochene Herz zu flicken, indem er einen fetten Batzen vom Geld des Schwarzen Generals auf den Kopf haute. Zumindest erzählte Haifischauge das herum. Aber van Rootens Mund war kein Gebetbuch. Der Mann konnte lügen wie gedruckt, und schon aus diesem Grund stellte sich DiPalma unweigerlich die Frage, was mit Taroko geschehen war, nachdem sie Gregory, dem tollen Hecht, den Laufpaß gegeben hatte. In Atlantic City hatte sie sich letzte Woche nicht blicken lassen, obwohl ihr ein führendes Kasino für drei Wochen Arbeit 100 000 Dollar zugesichert hatte. Niemand spielte leidenschaftlicher als die Chinesen. In Scharen drängten sie sich um die Roulette- und Würfeltische, wo immer Taroko auftrat. Auch DiPalma glaubte, daß van Rootens Verhaftung sie vielleicht vor einem weiteren Aufenthalt in Amerika abgeschreckt hatte. Aber war sie denn in Kanada, der Karibik oder in Asien aufgetaucht? Taroko war in den chinesischen Gemeinden auf der ganzen Welt ein Superstar. Laut FBI verdiente sie ein Schweinegeld und arbeitete wie ein Pferd. DiPalma konnte sich nicht vorstellen, daß eine solche Frau hundert Riesen einfach liegen ließ. Taroko war auch scharf auf Publicity. Man konnte sie nie von den Zeitungen und dem chinesischen Fernsehen oder Radio fernhalten. Außerdem hatte sie kürzlich ein neues Plattenalbum herausgebracht und machte dafür wo sie ging und stand Werbung. Die Frau hatte genügend Gründe, um im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bleiben. Warum schließlich war sie nicht in Taipeh bei Lin Pao aufgetaucht? Wie DiPalma vom FBI erfahren hatte, war sie auch dort 290
nicht gesehen worden. Warum war sie so vollständig von der Bildfläche verschwunden? Vor seinem Flug nach Manila hatte DiPalma mit Jan darüber diskutiert, warum sich Taroko wohl hatte wegzaubern lassen. Keiner kannte Künstler besser als Jan; schließlich arbeitete sie mit ihnen zusammen. »Kommt mir vor wie so eine Primadonna, die einfach nicht zuhört, wenn man nicht über sie spricht. Wie so eine
verschwinden kann, willst du wissen? Entweder sie ist mit einem Typen durchgebrannt — oder sie ist tot. Von etwas anderem würde die sich nicht aus dem Rampenlicht holen lassen.« Tarokos Verschwinden stand beim FBI und DEA nicht ganz oben auf der Liste. Van Rooten mußte ihren Namen nicht unbedingt nennen. Er brauchte nur mit vorrangigen Informationen herausrücken, und schon tanzten die Beamten auf der Straße. Lin Pao war die Zielscheibe, nicht Taroko. Doch DiPalma wurde den Verdacht nicht los, daß van Rooten über Tarokos schnellen Abgang mehr wußte, als er zu erkennen gab. Wenn das stimmte, herrschte zwischen Haifischauge und dem Schwarzen General nicht wegen zwei Millionen Dollar aus dem Rauschgiftgeschäft Krieg. Vielmehr ging es um eine Frau. Wenn das nicht irrre war? Die philippinischen Behörden hatten nur Barry Omens und einem Botschaftsangestellten gestattet, DiPalma zum Flughafen zu begleiten. Im Revier in der Mabini Street hatte ihm Omens einen Umschlag mit seinem Paß, seiner Brieftasche und anderen Wertsachen überreicht. Es fehlten DiPalmas Notizen über den Brand bei Taaltex, über Lin Pao und Nelson Berlin. Was für eine Überraschung. Der Mann von der Botschaft — sein Name war Tyler — hatte sich am Flughafen sehr nützlich gemacht. Er war ein großer, blonder Bursche aus den Südstaaten mit prächtigen Zähnen und ewig gebräunter Haut. Er hatte darauf bestanden, daß die philippinischen Polizisten von Schikanen ge291
gen DiPalma absahen und ihm ein Telefongespräch mit Jan erlaubten, bevor er das Flugzeug bestieg. Jan hatte ununterbrochen geweint. Von Sorgen sei sie ganz krank gewesen, rief sie ins Telefon. Seit die philippinische Version von Franks Problemen in die amerikanischen Zeitungen gekommen sei, habe sie weder geschlafen noch gegessen. Auf alle Fälle wollte sie zum Kennedy Airport kommen und ihn und Todd abholen. Nachdem sie immer wieder >ich liebe dich< gesagt hatte, rückte sie schließlich damit heraus: »Frank?« DiPalma grinste. Scheiße, jetzt kommt's. Die Gretchenfrage. »Ja, Jan?« »Deine kleine Freundin, die Zwergin?« »Ja?« »War sie sehr nett zu dir?« Zum erstenmal seit langem lachte DiPalma. Der Fernsehgesellschaft war es nicht gestattet, jemanden zum Polizeirevier oder zum Flughafen zu schicken. Aber sie hatte für DiPalma am Abfertigungsschalter eine Flasche Dom Perignon und eine Nachricht hinterlegt. Willkommen zu Hause, großer Junge. Bis später. DiPalma schenkte den Dom Perignon Omens. Am Schalter hatte noch ein zweites Geschenk auf ihn gewartet, eine große Flasche Perrier und zwei neue Escrima-Stöcke. Sie waren aus Rattan, fünzig Zentimeter lang und handgefertigt. Ein Zettel lag nicht dabei. DiPalma fiel ein Ausspruch von Todd ein: Alles auf der Welt ist das Produkt zweier Mächte: Positiv und negativ, hell und dunkel, stark und schwach. Diese positiven und negativen Mächte machen uns zu dem, was wir sind. Sie sind gleichermaßen daran beteiligt. Die Chinesen nennen sie TE. Detective Filarca war käuflich, aber er hatte auch den Kopf riskiert und DiPalma das Leben gerettet. Jan war untreu, aber sie war auch eine großzügige und liebende Ehefrau. Van Rooten war korrupt und ein Schürzenjäger, aber er hatte DiPalma darauf aufmerksam gemacht, daß Nelson Berlin Jans Telefon abhörte. Und Todd? Auf der ganzen 292
Welt gab es keinen prächtigeren Sohn. Aber wie stand es um den Todd, der als kaltblütiger Killer ein unbeschreibliches Übel mit dem Namen Iki-ryo mit sich herumtrug? Vor dem Abfertigungsschalter schraubte DiPalma den Perrier auf und hielt ihn als Toast hoch. Auf das TE, dachte er. Auf das Beste und auf das Schlechteste in uns. Er trank das warme Wasser zur Hälfte, dann machte er die Flasche wieder zu und ließ sie in Benjys Umhängetasche mit der Diskette gleiten. Der Fünfuhr-Flug war nicht einmal zu einem Drittel ausgebucht. Außer DiPalma, den Jugendlichen und einem alleinreisenden Herrn flog niemand Erster Klasse. Sobald das Flugzeug in der Luft war, wollte sich DiPalma auf den leeren Sitzen ausstrecken und etwas Schlaf nachholen. Benjy saß vor DiPalma. Den Sitz hatte er nach hinten geklappt, was gegen sämtliche Vorschriften verstieß, aber Benjy nicht im geringsten störte. Immerhin hatte er aber den Sicherheitsgurt angelegt. DiPalma fragte sich, warum Benjy so zappelig war. Seit der Abfertigung hatte er keine Sekunde ruhig sitzen können. Wenn er nicht sanft mit dem Kopf gegen die Kopfstütze stieß, trat er mit dem Fuß gegen den Sitz vor ihm, knackte mit den Fingern oder schaute zu dem schlafenden Todd hinüber. Einmal beobachtete DiPalma, wie Todd die Augen aufmachte. Bevor DiPalma etwas sagen konnte, schaute Todd Benjy an, schüttelte den Kopf und schloß die Augen wieder. Etwas spielte sich zwischen den beiden ab, und das hatte nichts mit der Rettung der Wale zu tun. Es hatte keinen Sinn, Informationen aus Joan herauszukitzeln. Sie redete ohnehin nicht viel. Ihr Englisch bestand anscheinend aus acht Wörtern. Drei davon waren MacDonald's und Bruce Springsteen. Wenn sie redete, dann fast nur auf kantonesisch und mit Todd. Sie war ihm ergeben. Die Welt, in der sie lebten, war hermetisch abgeschlossen, auch für DiPalma. Bei der Übergabe der Diskette habe es Schwierigkeiten gegeben, hatte ihm Todd gesagt. Sie hätten zwei von
Charles 293
Suis Männern töten müssen. DiPalma erklärte Todd: »Du hast getan, was du tun mußtest.« Einzelheiten wollte er nicht wissen, und von selber redete Todd nicht darüber. So wie DiPalma seinen Sohn kannte, würde der Junge den Vorfall auch nie wieder erwähnen. Die Flugbegleiterin, eine stupsnäsige junge Filipina in einer hellbraunen Jacke, die ein Schild mit dem Namen >Montez< zierte, fragte DiPalma mit nervösem Lächeln, ob er einen Drink wolle. Um fünf Uhr zehn am Morgen? DiPalma lächelte. »Das ist mir zu früh«, sagte er. Mrs. Montez, die einen Ehering trug, bot dann den Jugendlichen etwas zum Trinken an, die ebenfalls dankend ablehnten. Immer noch lächelnd ging sie weiter bis zum Cockpit und klopfte an die Tür. Als die Tür aufging, verschwand sie dahinter. Wenn ich für meinen Lebensunterhalt lächeln müßte, würde ich lieber verhungern, dachte DiPalma. Er schaute zum Fenster. Die Morgendämmerung kroch langsam über die dunklen Hangars. Lieferwagen und Tanklastzüge entfernten sich jetzt von dem Flugzeug, einer Boeing 707. Ein Gepäckwagen rollte gemächlich unter der Tragfläche davon und entschwand den Blicken. DiPalma kehrte nach New York zurück. Er fühlte sich gut. Er drehte sich zu Todd um. Der Junge war verschwunden. Benjy und Joan ebenfalls. DiPalma wirbelte auf seinem Sitz herum und sah den Gang zur Touristenklasse hinunter. So wurde er Augenzeuge der Explosion. Joan sperrte sich in der hintersten Toilette der 707 ein, einen Beutel der Luftfahrtgesellschaft drückte sie gegen die Brust. Sekunden später schaute sie hinein und erblickte die Bombe. Plastiksprengstoff, Drähte und ein Zeitzünder, der so eingestellt war, daß er in einer Stunde hochging, wenn das Flugzeug über dem Ozean war. Dann gäbe es keine Überlebenden. Todd hatte ihr genau gesagt, wo der Beutel sein würde, im Gepäcknetz in der Nähe des Notausstiegs — und dort hatte sie ihn auch gefunden. Joan schloß die Augen und sammelte sich, damit sie ganz rein 294
wurde. Bald waren die Missetaten aller früheren Leben abgegolten. Das eigene Leben für andere zu opfern bedeutete sofort eins mit den Göttern zu werden. Wenn sie Todds Anweisungen folgte, war Joan frei vom ewigen Kreislauf von Geburt und Tod. Sie würde nie wieder geboren werden. Nie wieder leiden. Ihr Karma wäre erlöst. Joan wäre auf ewig frei. Sie öffnete die Augen und beugte das Haupt vor den Göttern. Dann griff sie in die Tasche. Ihre Finger fanden den Zeitzünder... Mit einem Ruck befreite sich DiPalma vom Sicherheitsgurt und raste nach hinten zu dem Rauch, dem Feuer und den schreienden Passagieren. Dort half er dem Flugzeugpersonal bei der Evakuierung. Innerhalb von Minuten war das Flugzeug leer. Die Überlebenden wurden wieder zum Terminal gebracht. Acht mußten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Drei, darunter auch Joan, waren tot. Von Todd und Benjy fehlte jede Spur. 295
19 Rafael Amandos Lieblingstennischläger war ein altes, schon seit langem aus der Mode gekommenes Modell mit Holzrahmen und aus Katzendärmen geflochtenen Saiten. Das Etikett war vor vielen Jahren abgegangen, die Bespannung wurde bei Nässe immer brüchig und mußte deshalb ständig erneuert werden. Amando, ein magerer Exprofi Mitte fünfzig mit spitzbübischem Gesicht und sanftem Wesen, hatte diesen Schläger erstmals vor fünfunddreißig Jahren im Halbfinale von Wimbledon benutzt. In Manila gehörten ihm drei Spezialgeschäfte für Tennisausrüstung, aber er widersetzte sich hartnäckig der Theorie, wonach der leichteste Schläger der jeweils beste sei. Seine Kunden bevorzugten Schläger aus Graphit-, Stahl- oder Keramiklegierungen, weil diese sowohl robust als auch leicht waren. Amando stellte sich natürlich auf die Kunden von heute ein, doch ihren Geschmack wollte er auf keinen Fall teilen. Seine Liebe zum traditionellen Tennis war ungebrochen. Um 6.15 Uhr setzte er sich an diesem Morgen an den Frühstückstisch mit Papayafrüchten, Kokosnußsaft, Rühreiern, Toast mit Guavagelee und schwarzem Kaffee. Er trug weiße Tenniskleidung und eine dunkle Brille. Sein dichtes, langsam ergrauendes Haar war in der Mitte gescheitelt. Wie immer nahm er das Frühstück allein im Eßzimmer seiner im Stil einer Ranch erbauten Villa zu sich. Sein Blick ging durch die gläserne Schiebetür auf den privaten Tennisrasenplatz. Seine Frau und seine Mutter schliefen noch. Seine Tochter war Studentin in Harvard, und einer seiner Söhne studierte Medizin an der Universität der Philippinen. Zwei reinrassige Cockerspaniels lagen unter dem Stuhl. Rafael Amando war nicht mehr der berüchtigte Zehnjährige, der sich im 296
Nachkriegs-Manila mit Zuhälterei für die amerikanischen GIs über Wasser gehalten hatte. Nach dem Frühstück schluckte er eine Multivitaminkapsel, zwei Vitamin C-Tabletten und einen Eßlöffel Weizenkeimöl. Ein Dienstmädchen räumte das schmutzige Geschirr und die Überreste ab. Anschließend kam sie
mit seiner Umhängetasche zurück und stellte sie neben Amandos Smith & Wesson .357er Magnum. Während sie schweigend daneben stand, warf er einen Blick in die Tasche, um sich zu vergewissern, daß alles darin war. Handgelenkschoner, Stirnband, Handtuch, zwei Äpfel, ein Glas mit gemischten gesalzenen Nüssen, zwei Zylinder mit Tennisbällen, ferner ein Fläschchen mit Salztabletten und ein Röhrchen voll Kaliumchloridtabletten. Amando schwitzte immer stark und hatte den Wert wasserlöslicher Substanzen zum Ausgleich für den Flüssigkeitsverlust schätzen gelernt. Er zog den Reißverschluß auf, reichte die Tasche dem Dienstmädchen und nickte kurz. Das hieß, sie sollte sie Felipe, dem Chauffeur und Leibwächter bringen. Felipe konnte dann zur Garage gehen, und in wenigen Minuten würde der Mercedes vor das Haus fahren. Amandos Leben war ein wohlgeordnetes und funktionierendes Ganzes. Amando erhob sich, nahm ein weißes Satinjackett von der Stuhllehne ab und hängte es sich um die Schultern. Nachdem er überprüft hatte, daß sie gesichert war, steckte er die Magnum in den Gürtel. In die Hoden wollte er sich nun wirklich nicht schießen. Auch Felipe war bewaffnet: mit einem Sturmgewehr Marke Beretta sowie einer Taurus PT-92, einer brasilianischen Handfeuerwaffe mit fünfzehn Schuß im Magazin. Amando dachte nicht an die Ursachen der hohen Verbrechensrate in seinem Land. Er wußte nur, daß diese Zeiten zu gefährlich waren, als daß ein Wohlhabender ohne Schutz bleiben konnte. Seine Villa lag in der Nähe des amerikanischen Soldatenfriedhofs, in dem die Leichen von 17 000 gefallenen Solda297
ten aus dem Zweiten Weltkrieg ruhten. Wie einige Nachbargrundstücke auch, war Amandos Anwesen von hohen, oben mit Glasscherben besetzten Mauern umgeben. Zwei bewaffnete Wächter sicherten den einzigen Zugang. Amandos Frau hatte einmal gesagt, daß er sein Leben entweder mit dem Kampf um Reichtum oder mit dem Kampf um dessen Schutz verbracht habe. Wie jeden Wochentag machte sich Amando zeitig auf den Weg, um Charles Sui eine private Tennisstunde zu erteilen. Sie sollte pünktlich um 7.15 Uhr auf Suis eigenem Platz beginnen und sechzig Minuten später enden. Dann würde sich Sui duschen, anziehen und noch vor neun Uhr in seinem Immobilienbüro erscheinen. Der knausrige Sui saß auf seinem Geld wie eine Glucke auf ihren Küken. Er zahlte Amando nur die Hälfte des üblichen Preises; das rechtfertigte er mit dem Argument, Amando sei ja ein Freund, und Freundschaften seien bei weitem wertvoller als Geld. In all den Jahren hatte Amando das aber nie bestätigt gefunden. Freundschaft war nur ein Wort — Geld dagegen eine andere Form von Blut. Schließlich nahm der ehemalige Halbfinalist von Wimbledon den Triad-Führer als Privatschüler zum Billigtarif an. Anderenfalls hätte er es auf eine äußerst kostspielige Privatstunde ankommen lassen müssen, die ihm Charlie Snake erteilt hätte. Den Holzschläger im Arm, trat Amando aus der Vordertür seiner Villa. In der kühlen Dämmerung fröstelte ihn. Felipe kam heute morgen ein bißchen spät. Er sprach ihn wohl besser darauf an, bevor er diese Nachlässigkeit zur Gewohnheit werden ließ. Der Wetterbericht hatte sehr viel Sonne und Luftfeuchtigkeit, aber keinen Regen vorausgesagt. Mein Gott, wie sehnte Amando Regen herbei. Dann könnte er nämlich seine morgendlichen Rendezvous mit dem unsympathischen, gefühllosen Charles Sui absagen und sich statt dessen den ganzen Tag mit den eigenen Geschäften befassen. Amandos dunkelblauer Mercedes mit dunkelgrün getön298
ten Fenstern fuhr langsam den Kiesweg hinauf zum Ranchhaus. Als er anhielt, schlenderte Amando den kurzen Kalkweg in seiner säbelbeinigen Gehweise hinunter, die ihn im Laufe seiner erfolgreichen Karriere bei den philippinischen Fans so beliebt gemacht hatte. Als er sich jetzt dem Mercedes näherte, ging die Tür auf der Fahrerseite auf. Amando war in Gedanken ganz bei Charles Suis beträchtlichen Problemen mit der Rückhand. Er ging davon aus, daß Felipe aus dem Wagen steigen und ihm wie immer die Hintertür öffnen würde. Aber statt dessen glitt ein anderer vom Fahrersitz. In der einen Hand hielt er einen halb gegessenen Apfel und in der anderen Felipes Beretta. Der junge Mann schleuderte den Apfel fort und zerrte die Magnum aus Amandos Gürtel. »In den Wagen, oder ich bring dich auf der Stelle um«, bellte Benjy. Er trug Felipes Chauffeurkäppchen und dessen dunkles Jackett. Auf dem Rücksitz fand sich Felipe zu seiner Bestürzung neben einem weiteren Jungen mit sonderbaren Augen wieder. Die Bestimmtheit seines Blicks brachte Amando aus der Fassung. Was war denn das für ein junger Mann? Der Wagen fuhr zum Tor. Amandos Angst vervielfachte sich. Würde er seine Frau jemals wiedersehen? Warum konnte ihn sein guter und enger Freund Charles Sui jetzt nicht beschützen? Amando bohrte den rechten Daumen in die Fläche der linken Hand, eine Technik der chinesischen Akupressur, die er oft zur Selbstberuhigung angewendet hatte. Er begann zu schwitzen. Am ganzen Körper. »Ist Felipe tot?« fragte er. Todd schüttelte den Kopf.
»Wohin bringt ihr mich?« Benjy schaute in den Rückspiegel. »Da, wo Sie hin wollten. Soviel steht fest.« Todd fragte: »Treffen Sie Charles Sui in seinem Haus oder auf dem Tennisplatz?« Amando machte große Augen. »Sui? Hinter dem seit ihr her? Ihr wißt nicht, was ihr da tut!« 299
Todd beugte sich zu ihm herüber. »Beantworten Sie meine Frage.« Amando spürte den Schweiß das Rückgrat und auf beiden Seiten des Brustkorbs heruntertropfen. Warum fürchtete er sich dermaßen vor diesem Jungen? »Wir treffen uns in einem Bungalow bei seinem Tennisplatz«, antwortete er. »Sui benutzt ihn als Umkleideraum. Sui lebt sehr abgeschieden. Sein Haus ist eines der schönsten in Forbes Park, aber wenige kennen es von innen.« Benjy grinste. »Ich schon. War dort schon zweimal. Habe sogar das Klo benutzt.« »Entführt ihr mich, weil ihr Lösegeld wollt?« »Sagen Sie uns etwas über die Wächter am Eingang zu Forbes Park«, entgegnete Todd. Der Mercedes näherte sich dem Eingangstor. Amando fühlte eine Spannung in sich aufsteigen, ähnlich der bei einem Spielball in Wimbledon. Würde den Wächtern auffallen, daß er einen anderen Fahrer hatte? Er räusperte sich. »Die Wächter...« Er unterbrach sich. Die Fenster des Mercedes waren ja getönt. Seine Wächter würden nichts sehen. Niedergeschlagen wischte sich Amando mit dem Ärmel seines weißen Satinjacketts den Schweiß von der Stirn. Und warum waren die Tore zu seinem Grundstück offen? Er und seine Nachbarn zahlten doch für ihre Sicherheit ein Heidengeld. Was, zum Teufel, war hier los? Und dann, als der Mercedes durch die Einfahrt zur Hauptstraße fuhr, sah Amando die Wächter. Mit dem Gesicht nach unten lagen sie im Gras. »Sie leben«, sagte Todd. »Tun Sie, was wir Ihnen sagen, und Ihnen wird kein Haar gekrümmt. Wenn Sie sich mir widersetzen, bringt mein Freund Sie auf der Stelle um. Ist das klar?« Die Hände fest gegen die Knie gedrückt, schaute Amando über die Schulter zu dem Haus zurück, für das er so hart gearbeitet hatte und das er vielleicht nie wieder sehen würde. »Ich verstehe schon.« 300
»Erzählen Sie mir alles über die Wächter von Forbes Park«, befahl Todd. Zweiundzwanzig Minuten später griff Charles Sui nach der Klinke an der Vordertür seines Bungalows im Hof. Benjy öffnete die Tür und richtete Amandos Magnum auf Sui, der einen grauen Rock und Sandalen trug und zwei beige Handtücher über dem Arm hängen hatte. Sekundenlang starrten sie einander haßerfüllt an. Jetzt zählte nichts mehr außer dem Wunsch, den anderen tot daliegen zu sehen. Benjy hatte im Augenblick die Macht auf seiner Seite, die Pistole — aber Sui baute auf die Macht seiner Erfahrung. Er fühlte sich dem Jungen überlegen. Warum aber war Benjy nicht im Flugzeug? War etwas mit der Bombe schiefgelaufen? Mit der Pistole winkte Benjy Charles Sui in den Raum, dann trat er die Tür mit dem Fuß zu und stellte sich hinter Sui. Vor einer Reihe Metallspinde saß auf einem Metallklappstuhl Rafael Amando. Sui vergaß Benjy ganz und starrte den Tennisprofi wütend an. Amando richtete den Blick beharrlich auf den Holzschläger, den er aus der Tasche genommen hatte und jetzt mit beiden Händen fest drückte. Dann bedachte Charles Sui Todd mit einem kalten Blick. »Du bist der Kerl, der mit Kerzenständern tötet?« Todd strich mit den Fingern über seine Gürtelschnalle. »Und du bist der Kerl, der Frauen verbrennt und in Flugzeugen Bomben legt.« Durch Suis rechte Stirnhälfte jagte ein stechender Schmerz, ihm folgte sofort leichte Übelkeit. Migräne. Ohne sich darum zu kümmern, wo sie landeten, schleuderte er die Handtücher von sich. Dann steckte er die zu Fäusten geballten Hände in die Rocktaschen. »Da ihr wißt, wer ich bin, müßt ihr auch wissen, wen ihr zu fürchten habt.« »Ich fürchte keinen. Dein Pate fürchtet mich.« Sui stockte der Atem. Natürlich. Sein Pate war in der letzten Zeit so seltsam gewesen. Und dieser gespenstische Junge war der Grund. Auf irgendeine Weise waren sie miteinander verbunden — aber wie? Vielleicht bestand ein Zusam301
menhang mit dem alten Priester, den sein Pate umgebracht hatte? Diese exklusive Nachricht stammte von einer Spionin, die Sui in Lin Paos Haushalt eingeschleust hatte. Den Grund für die Ermordung des Priesters wußte die Spionin nicht. Sie wußte nur, daß unmittelbar danach der Befehl ausgegeben worden war, die Mitglieder der Jadeadler zu töten. Bringt jeden einzelnen um. Obwohl Benjys Pistole auf ihn gerichtet war, fühlte sich Charles Sui immer noch obenauf. Den Paten ausgestochen zu haben, bereitete ihm Genugtuung. Der Denker und Orgelspieler hatte das Geheimnis des Schwarzen Generals gelüftet: Das am meisten gefürchtete Drachenhaupt Asiens hatte vor einem Jungen Angst! Charles Sui nahm sich vor, diesen Jungen zu vernichten und sich auf diese Weise den unendlichen Dank seines Paten zu sichern. Er drückte auf das Piepsgerät in der rechten Rocktasche. Durch regelmäßiges Drücken mit dem Zeigefinger gab er das Signal für Gefahr. Im Haus waren bewaffnete Wächter. Sie müßten den Bungalow innerhalb von Sekunden erreichen. Todd trat vor Sui, griff in dessen Tasche und holte das Gerät hervor. Benjy grinste. Während Charles Sui gegen die zunehmende Migräne die Zähne aufeinanderbiß, erklärte Todd: »Es sendet nicht.
Auch deine Telefone funktionieren nicht, wie du sicher schon gemerkt hast. Seit dem frühen Morgen hat es heute von oder zu deinem Haus keine Telefonverbindung gegeben.« Benjy fügte ergänzend hinzu: »Wetten, daß jemand gerade in diesem Moment versucht, zu dir durchzukommen? Sie können es gar nicht erwarten, dir das mit der Bombe zu sagen. Sie ist zwar losgegangen, nur hat sie nicht die richtigen Leute getötet. Ich meine, wir stehen quicklebendig vor dir.« »Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet.« »Yeah, richtig.« Sui setzte sich auf einen Klappstuhl, schlug die Beine übereinander und atmete tief durch. Sekundenlang beäugte 302
er Todd und versuchte, etwas über die rätselhafte Verbindung zwischen diesem Jungen und Lin Pao herauszubekommen. Er brauchte auch Zeit, um die Fassung wieder zu gewinnen. Er durfte sich doch nicht von diesem sonderbaren Kind in die Knie zwingen lassen. »Nun, mein kleiner Krieger«, sagte Sui. »Allem Anschein nach hast du mühelos den Weg auf mein Grundstück gefunden. Jetzt wollen wir doch sehen, ob du genauso leicht wieder hinausfindest. Hat dir mein lieber Freund Rafael gesagt, daß ich nach dem Tennis zum Haus zurückzugehen und zu duschen pflege? Wenn ich nicht zurückkomme, werden meine Männer mich suchen, das kann ich dir versichern.« Todd erwiderte: »Vor einer Stunde hat deine Bombe ein Mädchen namens Joan getötet. Es war ihr Karma, ihr Leben für andere als Buße für Vergehen in vergangenen Leben zu opfern. Jetzt mußt du für den Mord an ihr zahlen.« Sui rieb sich das Genick und schmunzelte. »Ich verstehe. Und du bist gekommen, um Blut mit Blut wegzuwaschen, ist es das?« »Bevor du stirbst, erzählst du mir noch von dem Mord an Nelson Berlins Schwester.« Sui zog eine Augenbraue in die Höhe. »Bevor ich sterbe? Vergessen wir da nicht etwas, kleiner Krieger? Meinetwegen seid ihr an den Wachen vor der Mauer vorbeigekommen, aber wenn ich nicht innerhalb der nächsten Minuten auf dem Tennisplatz gesehen werde, wissen meine Männer, daß etwas nicht in Ordnung ist. Und das bedeutet euren Tod.« Grinsend trat Benjy rechts neben Sui und richtete die Magnum auf seinen Unterleib. Sui lehnte sich zurück. »Und du weißt, daß ich es tun werde«, sagte Benjy. Sui nickte. Eine Ader pochte in seiner Schläfe. »Ja, das ist mir klar.« Die Magnum im Anschlag, trat Benjy zurück. »Sing dein kleines Liedchen, großer Mann.« Draußen schlug das Wetter um. Auf einmal schien es, als wäre die Nacht hereingebrochen. Unheimlich. Die Sonne 303
war verschwunden, und die Vögel flatterten, anscheinend auf der Suche nach Schutz, aufgeregt an dem kleinen Gebäude vorbei. Leichter Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Gleich darauf rüttelte böiger Wind am Glas. Das Netz auf dem Tennisplatz löste sich an einer Seite aus der Verankerung und wehte wie ein langes grauweißes Banner über den Platz. Frischer Kreidestaub stieg von der Grundlinie auf und wirbelte zusammen mit vertrockneten Blättern und Zeitungsfetzen durch die Luft. Im Bungalow herrschte Schweigen. Die zwei Männer und die Jungen schauten durchs Fenster oder zum Dach hinauf, auf das jetzt zunehmend heftiger Regen herniederprasselte. Auch im Bungalow war es eiskalt geworden. Nur Todd brachte der bizarre Wetterumschlag nicht aus der Ruhe. Die Augen auf die Decke gerichtet, erklärte Sui: »Nelson Belin hat seine Schwester vergewaltigt und ermordet. Das ist in China kurz vor dem Ende des Kriegs gegen Japan geschehen. Mein Vater, mein Pate und die chinesische Regierung haben die Fakten nach eigenem Gutdünken hingebogen. Und nach ihren Bedürfnissen.« »Jemand wurde für das Verbrechen bestraft!« rief Todd. »Wer war es?« Sui wischte eine eingebildete Fussel vom Rock. »Ein amerikanischer Missionar namens Thomas Service. Unmittelbar bevor er sich an seiner Schwester verging, hatte Berlin ihn angeschossen. Die Wunde war schlimm, aber nicht tödlich. Im Krankenhaus hat man Service unter Betäubungsmittel gesetzt und ihn so daran gehindert, die Wahrheit zu sagen. Sowohl die amerikanische als auch die chinesische Regierung suchten nach einer schnellen Lösung für diese doch sehr schmutzige Sache. Mein Vater und mein Pate ließen sich dann eine einfallen, die für alle Seiten annehmbar schien. Das heißt für alle, außer Thomas Service. Eines Tages hat man ihn aus dem Krankenhaus geholt, vor Gericht gestellt und unverzüglich hingerichtet. Wie mir gesagt wurde, hat das Ganze keine fünfzehn Minuten gedauert.« 304
»Und Nelson Berlin arbeitet seitdem für die Triad«, ergänzte Todd. »Man hat ihn als Gegenleistung für bestimmte Gefälligkeiten am Leben gelassen. Generalissimo Tschiang und unsere Organisation erkannten beide den Wert dieser Vereinbarung. Verstehst du, kleiner Krieger? Ohne unseren Beistand hätte Nelson Berlin nie diesen ungeheuren Erfolg gehabt. Wir sind der Hauptinvestor in seine Gesellschaften. Das hilft ihm genauso, wie es uns nützt.« »Euer Nutzen beruht auf dem Tod von Miß Berlin und Mr. Service!« rief Todd. Sui zuckte mit den Schultern. »Miß Berlin und Mr. Service wollten China dienen. Man kann wohl mit Recht sagen, daß ihnen das gelungen ist, vor allem, weil unsere Gesellschaft ein nicht wegzudenkender Teil Chinas ist
und es immer sein wird. Junger Mann, glaubst du ernsthaft, du kannst Berlin oder meinen Paten für etwas bestrafen, das vor so langer Zeit geschehen ist?« Donner grollte, ein Blitz zuckte in der Ferne. Mit der Wucht von Hagelkörnern trommelte der Regen gegen den Bungalow. Verängstigt drückte Amando den Kopf gegen den Tennisschläger und betete darum, seine Frau wiedersehen zu dürfen. Sogar Benjy war das Grinsen vergangen. Dennoch tippte er Sui mit der Magnum auf die Schulter, weil er bestätigt haben wollte, daß einer in diesem Raum mehr Angst hatte als er selbst. »Was meinst du, großer Mann? Ich kann mir nicht vorstellen, daß uns ein Mensch bei diesem Mistwetter weggehen sieht. Richtig?« Sui schloß die Augen gegen die Migräne. Natürlich war das alles unvorstellbar. Aber zugleich auch unbestreitbar. DiPalmas Sohn hatte von vornherein den Sturm eingeplant. Nur darum konnte er seiner so sicher sein. Nur darum war er jetzt von so eiskalter Ruhe, wie sie Sui außer bei seinem Paten noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Sui schüttelte heftig den Kopf. Er würde durch die Hand eines Kindes sterben. Eines windigen Kindes. Grotesk. Wirklich zu paradox, um es in Worte zu fassen. 305
Mit einem Schrei sprang er vom Stuhl hoch und rannte zur Tür. Todd riß Amandos Holzschläger an sich und raste hinterher. Sui erreichte die Tür, riß sie auf und sprang ins Freie. Todd folgte ihm auf dem Fuß. Sofort hatte sie die tosende Dunkelheit verschluckt. Benjy und Amando starrten zur offenen Tür, durch die der Regen jetzt hereinbrach und den Teppich, ein Frottiertuch und eine Standwaage vollspritzte. Zwei Minuten später kam Todd tropfnaß zurück. Mit einer Hand schleifte er Suis Leiche hinter sich her. Mit der anderen hielt er Amandos Holzschläger, an dessen Rahmen Blut klebte. Amando drehte sich auf seinem Stuhl herum und übergab sich. Benjy zuckte nicht mit der Wimper. Er sah erst Sui, dann Todd an. »Karma«, sagte Benjy. Todd nickte. Benjy saß hinter dem Steuer, der immer noch würgende Amando und Todd auf dem Rücksitz des Mercedes. Sie hatten fast das Haupttor erreicht, als ein Blitz in den Bungalow einschlug und ihn in Brand steckte.
20 An einem Märzmorgen, genau eine Woche bevor er sich dem FBI stellte, hatte Detektive Gregory van Rooten seinen 1985er BMW in der West End Avenue in Manhattan angehalten. Er öffnete die Fahrertür und übergab sich vor einer neugepflanzten Ulme vis ä vis einer von New Yorks fortschrittlichsten Privatschulen, die 7000 Dollar im Jahr kostete. Minutenlang hielt er den Kopf zwischen den Knien und fragte sich, ob er wirklich noch zu dem Gerichtstermin um 10 Uhr fahren oder lieber heimgehen solle. Im Augenblick war er erschöpft, fühlte sich hundeelend und hatte neben rasenden Kopfschmerzen auch noch wildes Herzklopfen. Das Gurren einer Taube, einen Meter vor ihm auf dem Bürgersteig, hörte sich an wie eine außer Kontrolle geratene Kettensäge im eigenen Kopf. So kaputt war er noch nie gewesen. Gemeinsam mit Taroko hatte er das Wochenende mit wahren Drogen- und Sexorgien verbracht. Die chinesische Sängerin wohnte für ein paar Tage bei ihm in seiner Wohnung am Riverside Drive. Sie war eine kleine Person Ende zwanzig mit einem großen, sinnlichen Mund und langem schwarzem Haar. An der Innenseite ihrer Schenkel waren lavendelfarbene Spinnen eintätowiert. Sie trug blaue Kontaktlinsen. Ihr Verhältnis bestand seit einem halben Jahr. Von dem Augenblick an, in dem er Taroko kennengelernt hatte, war van Rooten entschlossen gewesen, sie für sich zu gewinnen. Was er dann bekam, war mehr, als er sich vorgestellt hatte — sie wurde sehr schnell zur Quelle all seiner Freuden und Qualen. Zum erstenmal im Leben erfuhr er, was es hieß, zu lieben und zu leiden. Vergangene Nacht hatten sie sich in seiner Wohnung mit 307
Cachaca vollaufen lassen, einem brasilianischen Rum, der erst genießbar wird, wenn man ihn mit Fruchtsaft mischt. Taroko hatte vier Flaschen aus Rio de Janeiro mitgebracht; dort hatte sie mehrere Konzerte vor ausverkauftem Haus gegeben. Das Publikum, alles Asiaten, hatte sie begeistert gefeiert. Der Rum war ungeheuer. Er hatte van Rootens Energie und Reflexe ins Unglaubliche gesteigert. So erregt hatte sich der Cop schon lange nicht mehr gefühlt. Er konnte sich nicht erinnern, wie oft er über Taroko hergefallen war. Irgendwann hatten sie Barbiturate nehmen müssen, um sich ein bißchen zu beruhigen. Taroko hatte dann die Idee gehabt, die Wasserpfeife anstelle von Rosenwasser mit dem brasilianischen Rum zu füllen und Hasch daraus zu rauchen. Es hatte aufregend geschmeckt. Van Rootens Empfindungen ließen sich nicht in Worte fassen. Keine Frau hatte ihm je einen so wilden Ritt verschafft wie Taroko. Sein Vater hatte ihn einmal einen eigenmächtigen Primitivling genannt, der mit einem animalischen Drang nach Sex gestraft sei. Wie recht der alte Herr doch hatte. Van Rooten war all das und noch mehr. Er sah gut aus, war charmant und zugleich rücksichtsloser als ihm guttat; mit Leuten, die nicht mit ihm Schritt hielten, hatte er keinerlei Geduld. Sein Vater war sehr ernst und arrogant, der Menschenschlag, den der Eigensinn des einzigen Kindes schwer enttäuscht. Jeder fürchtete das Wesen des anderen. Bald hatte sich diese Furcht zu einem anhaltenden,
unterschwelligen Haß entwickelt, der sich eines Tages - das spürten beide -in einer gewaltigen Explosion entladen mußte. Sein gutes Aussehen und sein ungezwungener Charme rückten van Rooten stets in den Mittelpunkt. Sein Vater beneidete ihn darum und verzieh es ihm nie. Von Geburt an hatte der Junge von Frauen bekommen, was er wollte, egal ob er Babysitter betörte, Cousinen, Schulkameradinnen oder Fremde. Als Erwachsener fühlte van Rooten sich nur wohl, wenn er über andere bestimmte oder sie herumkommandierte. Flogen seine Manipulationen auf und kam es 308
zum Krach, ließ sich das nicht ändern. Was es auch kostete, die anderen mußten nach seiner Pfeife tanzen. Teri, seine zweite Frau, hatte ihm einmal ihre Erkenntnisse auf diesem Gebiet anvertraut: »Du bist Skorpion. Lieber würdest du dich selbst totbeißen, bevor ein anderer dich umbringen dürfte.« Sehr richtig, kleine Teri. Sein Vater war ein eiskaltes, geldgieriges Arschloch. Die Mutter, eine frömmelnde und überhebliche Dame aus besseren Kreisen, war nur auf Bridge, Wohltätigkeitsbälle und Partys mit Republikanern vom ultrarechten Flügel versessen. Folglich war van Rooten sehr selbständig aufgewachsen. Durch die Beobachtung seiner Eltern hatte er eines gelernt: Die Männer nahmen sich, was sie wollten, und die Frauen nahmen jeden Dreck, den man ihnen gab. Sowohl das College als auch die Geschäftswelt ließen ihn kalt. Einer von vielen zu werden, wäre das Letzte für ihn gewesen. Was er benötigte, war ein Ventil für seine überschüssige Energie. Was er brauchte, war eine stete Herausforderung, etwas das sich nie abnützte, das seinen schnellen Verstand immer beschäftigte, wo immer etwas los war und wo er alle Frauen, die er wollte, auch bekam. Aus diesem Grund war er Polizist geworden. Bald kam ihm jedoch die Unterwelt viel aufregender vor. Er hatte seit jeher die Gabe; die Fronten schlagartig zu wechseln und nur noch Fußspuren und eine Staubwolke hinter sich zu lassen. Genau das tat nun van Rooten, als er merkte, daß die Unterwelt mehr Aufregung, Freiheit und Sex bot. Die Erkenntnis, daß sein Vater seit Jahren Geld aus dem Drogengeschäft wusch, überraschte ihn nicht. Der alte Herr war schon immer rundum ein Heuchler gewesen. Das Verbrechen war nur eine logische Fortsetzung von Nelson Berlins tagtäglichen Geschäftsmethoden. Van Rooten hatte sich zweimal scheiden lassen. Beide Ehen hatte er durch seine Untreue und brutale Direktheit zerstört. Seiner zweiten Frau hatte seine Ansicht nicht behagt, daß es seinen Seelenfrieden total kaputt machen würde, wenn er tagein, tagaus zum selben Menschen nett wäre. 309
Bis dahin hatte sie geglaubt, sie sei zu endlos verzeihender Hingabe fähig. Achtzehn Monate mit ihm hatten sie von dieser Vorstellung kuriert. So wie er das sah, tötete die Ehe die Liebe ab. Es erforderte einfach zuviel Anstrengung, sie in Gang zu halten. Genausowenig wie er sich mit einer Frau bescheiden konnte, war er in der Lage, für das Glück eines anderen Menschen zu sorgen. Das Vergnügen in der Liebe lag in der Abwechslung. Die Ehe war eine offene Männerfalle. Wer Liebe suchte, tappte hinein. Vor Taroko hatte er zwischen den Frauen wenig Unterschiede gesehen. Zwar hatte er einen schlimmen Fall von >Gelbsucht< entwickelt und fast ausschließlich Asiatinnen nachgestellt, aber Taroko war etwas Besonderes und hätte ihn in jedem Fall unaufhörlich beschäftigt. In seinen Fantasien stellte ihr voller Mund unglaubliche Dinge mit seinem Schwanz an. Und ihr Blick war so durchdringend, daß er ihr kaum in die Augen sehen konnte. Und dann Tarokos Haare: Er brauchte sie nur anzusehen und fühlte schon seine Erregung. Bläulich schwarz und überwältigend. Sie waren ein glänzendes Schmuckstück und schienen den Nachthimmel und die Sonne in sich zu vereinen. Mein Gott, wie lang sie waren! Van Rooten stellte sich vor, wie sie auf seinem Gesicht saß und seine Brust damit rieb. Genau das geschah drei Stunden, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Sie verfügte sogar über noch mehr sexuelle Energie als er, und wie er ließ sie sich vom ersten Eindruck leiten. Entweder sie akzeptierte einen von Anfang an, oder man war Luft für sie. Kennengelernt hatten sie sich in Chinatown. Lin Paos Leute hatten dort eine Party gegeben. Als Sängerin, die in der ganzen Welt auftrat, war sie für den Schwarzen General sehr wertvoll. Er förderte ihre Karriere nach Kräften und war angeblich auch ihr Liebhaber. Pao hatte für Sängerinnen etwas übrig, und in diesem Fall konnte ihn van Rooten gut verstehen. Vor Taroko hatte sich van Rooten nicht allzusehr mit dem 310
Schwarzen General eingelassen. Er hatte nur Informationen über Zeugen, Wanzen, Beschattungen und bevorstehende Razzien und Verfahren weitergeleitet; Geld und der Nervenkitzel waren der Grund dafür gewesen. Als Taroko dann in sein Leben trat, bat sie ihn, mehr für die Triad zu tun. Und er stimmte zu, tat es aber ihretwegen, allein ihretwegen. Er wurde Kurier, schaffte Geld nach Europa und in die Karibik. Er bedrohte Zeugen und beseitigte Beweismaterial. Darüber hinaus stahl er Geheimakten und ermordete Feinde des Schwarzen Generals. Nichts konnte van Rooten Taroko verweigern, denn ohne sie hatte sein Leben keinen Sinn. War sie bei ihm, entfaltete er mehr Elan, als er sich je hätte träumen lassen. Taroko hatte ihn in der Hand. Begriffe wie richtig und falsch waren vergessen.
In dieser Zeit verschaffte sie ihm jede denkbare sexuelle Befriedigung. Waren sie getrennt, betrog er sie bisweilen. Aber er bestand darauf, daß sie ihm stets die Wahrheit sagte. Wie er zugeben mußte, war sie ihm auf diesem Gebiet vollkommen ebenbürtig. »Ich kann nie dir allein gehören«, sagte sie zu ihm. »Entweder du akzeptierst das, oder du verschwindest aus meinem Leben.« Dazu war es zu spät. Er wollte Taroko, und wenn er etwas wollte, mußte er es auch haben. Sein Plan war, solange dranzubleiben, bis sie es so sah wie er. Also blieb er und weigerte sich, den Gedanken, er liebe sie möglicherweise unter falschen Voraussetzungen, auch nur in Betracht zu ziehen. Er blieb und litt unter quälender Eifersucht — ein völlig neues Gefühl für ihn. Denn er haßte die Vorstellung, Taroko mit einem anderen teilen zu müssen. Wenn sie Taiwan besuchte, lebte sie bei Lin Pao. Van Rootens wiederholten Vorwurf, sie schlafe mit dem Dreckskerl, stritt sie jedesmal ab. Die Beziehung zwischen ihr und Lin Pao sei rein geschäftlicher Natur. Ihre Heimat sei ja Hongkong, und wenn sie Taiwan besuche, komme es sie eben billiger, wenn sie bei ihrem alten Mäzen wohne. Außerdem könne sie Pao nicht beleidigen und seine Gastfreundschaft ausschlagen. 3«
Van Rooten wurde den Verdacht nicht los, daß sie log. Aber er sagte nichts. Nur so konnte er sich Gewißheit verschaffen. Er redete sich ein, daß Paos Schutz und Einfluß kostenlos nicht zu bekommen waren. Bei ihrem Aussehen und der Macht des Schwarzen Generals war ein Handel einfach nicht zu vermeiden. Die Welt war nun einmal hart, und ein Mädchen mußte sehen, wo es blieb. Auf ihrer letzten Brasilientournee, erzählte sie, habe ihr ein achtzigjähriger General eine Handvoll Smaragde angeboten, wenn sie sich nackt vor ihm auf eine Schüssel voll Eis setze. Lachend behauptete sie, sie habe das Angebot des alten Generals natürlich abgelehnt, weil seine Haut viel zu unrein gewesen wäre. Eifersüchtig dachte sich van Rooten — mein Gott, sie soll es nur nicht wagen, so über mich zu lachen. Auf dem Vordersitz seines BMW atmete van Rooten tief ein und massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. Mal ehrlich, alter Junge, dir geht's einfach nicht gut. So kannst du dich nirgends blicken lassen. Der Bundesgerichtshof lag eine halbe Autostunde von hier in der Stadt. Und wenn er dorthin kam, stand ein ganzer Tag mit Aussagen und Treffen mit dem Generalstaatsanwalt auf dem Plan. Ganz schlecht, Herr Specht. Der Fall: Er und sein Partner, Detective Olonzo La Von, hatten sich mit dem FBI zusammengetan. Sie sollten ein paar ungewaschene, verschissene Schieber aus New Jersey hopsnehmen und Amphetamin im Wert von zehn Millionen Dollar beschlagnahmen. Im Verlauf der Untersuchung hatte van Rooten aber mit der Frau des Oberschiebers geschlafen. La Von hielt das für einen Fehler. »Das wird es dem Staatsanwalt nicht gerade erleichtern«, meinte La Von. »Wer wird es schon weitersagen?« fragte van Rooten. »Meine Lippen sind versiegelt, und wenn die Schlampe den Mund aufreißt, wird ihr Alter noch viel mehr tun, als ihren Arsch auf Weltreise zu schicken. Bleibst also nur du übrig, Kumpel.« 312
Nicht, daß LaVon, ein massiv gebauter rothaariger Schwarzer von 36 Jahren, nicht seine kleinen Geheimnisse gehabt hätte. Wie van Rooten stand er auf der Gehaltsliste des Schwarzen Generals und konnte sich deswegen eine Jacht mit Kabine leisten. Mehr als nur ein paar Wochenenden hatte er damit verbracht, mit seiner minderjährigen puertoricanischen Freundin über den Sund von Long Island zu kreuzen, während Mrs. La Von ihn an vorderster Front im Krieg gegen die Drogen wähnte. Am Ende ihres Streits über die Folgen seiner Ferkeleien mit der Alten des Schiebers hatte La Von seinen Kollegen in der typischen Harlem-Manier angestiert und ihn für einen Einfaltspinsel voller Todessehnsucht erklärt. »Nur weil du nicht verliebt bist«, hatte van Rooten gemeint, »brauchst du nicht mit Scheiße gegen den Mond zu werfen.« Jetzt schielte van Rooten in den Rückspiegel seines BMW. Mein Gott, war er häßlich. Er sah aus, als hätte man ihn zerkaut, ausgespuckt und zertrampelt. Und fühlte sich noch viel schlimmer. Verdammt, er fuhr lieber heim und feierte krank. Nach einer Mütze Schlaf konnte die Party weitergehen. Taroko sollte Ende der Woche vier Abende lang in Atlantic City in einem Top-Casino für hundert Riesen auftreten. Sie war mehr als ein Star. Die Frau war eine Welt für sich. La Von konnte den Fall mit den Schiebern schließlich auch alleine regeln. Van Rooten wischte sich den Mund mit Taschentüchern aus dem Handschuhfach ab, dann setzte er eine Spiegelbrille auf, die immer auf dem Armaturenbrett lag. Irgendwie mußte er diese Augen verbergen, die aussahen wie in abgestandener Pisse gekochte Zwiebeln. In diesem Augenblick merkte er, daß eine Schwarze in Krankenschwesterntracht in seinen Wagen schielte. Sie führte einen kleinen Alten mit wäßrigen Augen und Leberflecken auf der Glatze. Während sie sich auf dem Bürgersteig vorankämpften, klammerte sich der Alte an ihren stämmigen Arm, als ginge es ums liebe Leben. Der Schwe313
ster war der krank aussehende van Rooten in seinem BMW aufgefallen. Jetzt wollte sie sich um ihn kümmern. Er grinste. Dazu ließ er genügend echte Wärme und Freundlichkeit aufblitzen, um ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie zu beherrschen, einfach weil ihm danach war. Mit seiner Macht konnte er sie zum Schmelzen bringen, und das tat er auch. Zähnebleckend lächelte sie zurück und beugte sich in den Wagen. Lawinenartig nahm ihre Besorgnis um sein Wohlergehen zu.
»Malaria«, erklärte van Rooten. »Vietnam. Bin jetzt auf dem Weg zu meinem Doc. Nur 'ne Untersuchung.« Yeah. Genau. Das quadratische, wie Ebenholz glänzende Gesicht mit seinen breiten Nasenflügeln wurde traurig. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« Van Rooten schüttelte den Kopf. »Wenn ich erst mal im Krankenhaus bin, wird es schon wieder. Brauche ein paar Chinintabletten, das ist alles. Mit Drogen wird die Welt gleich besser, sage ich immer.« Sie kicherte. Eine Hand ruhte auf ihrem gewaltigen Schoß, an die andere klammerte sich immer noch der Alte, der unterdessen die Schule anstarrte, allerdings ohne sie zu sehen. Plötzlich fuhr van Rooten hoch, so sehr hämmerte es in seinem Kopf. Mein Gott, die Schmerzen! Er sollte im Bett liegen und nicht hier auf der Straße mit so einem Gespenst herumalbern, dessen Arsch so breit war, daß jeder Reißverschluß platzen mußte. Er hob die Hand zum Abschied, dann schloß er die Tür und fuhr nach Hause, um Taroko zu überraschen. Van Rootens Wohnung lag in einem hundert Jahre alten rotbraunen Backsteinbau am Riverside Drive, der früher ein Waisenhaus für Schwarze und Indianer gewesen war. Gegenüber lag der Joan of Are-Park mit seinem Reiterstandbild der Jungfrau von Orleans in voller Rüstung. In seinem Granitsockel eingemauert waren Steine aus Rouen, wo man das Mädchen seinerzeit eingekerkert und angeklagt hatte. 314
Die Wohnung hatte zwölf Zimmer mit hohen Decken, eine Terrasse mit einem kleinen Wintergarten und ging auf den Hudson River hinaus. Teris Vater, ein wohlhabender Gesichtschirurg aus Darien, Connecticut, hatte sie ihnen zur Hochzeit geschenkt. Damit die Scheidung schnell und glatt über die Bühne ging, hatte er die Bude dann van Rooten zugestanden; sein hohes Ansehen hätte sonst vielleicht Schaden gelitten. Van Rooten parkte seinen BMW in einer Garage zwei Wohnblocks vom Haus entfernt und ging den Rest zu Fuß. Der Türsteher, ein Indianer mit dem Namen Aborpa Joydeep, was soviel wie >Reine Freude< hieß, war nicht da. Das war nichts Neues. Joydeep war ein gutaussehender, freundlicher junger Dandy mit lockigem Haar und großen Zähnen. Aber als Türsteher war er eine Niete. Er kam zu spät zur Arbeit, ging zu früh heim und verließ seinen Posten sehr oft, weil er beim Wettbüro um die Ecke Lotto spielte oder auf Pferde setzte. Joydeep plagte sich wahrlich nicht von früh bis spät. Van Rooten nahm den Aufzug zum neunten Stockwerk, dann ging er über den Flur mit Parkettboden zu seiner Wohnungstür. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Schlüssel fand und geräuschlos aufsperrte. Er hatte einen brutalen Kater. Damit der Schmerz nachließ, brauchte er mindestens ein Pfund Aspirin. Am besten, er sagte Taroko gleich, daß er wieder da war. Er fand sie im Bett mit Joydeep vor. Beide waren viel zu beschäftigt, um van Rooten zu bemerken. Mit geschlossenen Augen lag Taroko stöhnend auf dem Rücken und wand sich auf dem schwarzen Seidenlaken hin und her, während der schlanke, dunkelhäutige Indianer ihr den Nabel abschleckte. Gleich darauf lag sein Kopf zwischen ihren Schenkeln. Still sah van Rooten einige Sekunden lang zu, dann verschwand er durch die offene Tür und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er drückte die Augen fest zu und biß sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Ein-, zweimal hatte ihn irgend so ein Ehemann oder 3*5
Freund mit einem Frauenzimmer im Bett erwischt. Und es war witzig gewesen, van Rooten hatte darüber gelacht. An ihrem zweiten Hochzeitstag hatte ihn seine erste Frau dabei ertappt, wie er es mit ihrer jüngeren Schwester trieb. Betrunken hatte van Rooten seiner schockierten Frau geantwortet: »Wem willst du jetzt glauben? Mir oder deinen Augen?« Diese Scheiße mit Taroko war etwas anders. Er war jetzt der Betrogene, und das tat höllisch weh. Weil er sie so absolut liebte, ließen sich der Schmerz und die Wut nicht ertragen. Durch sein Hirn zuckten wilde Gedanken. Ich hätte ihr nicht so trauen dürfen. Nie hätte ich zulassen dürfen, daß sie so wichtig für mich wird. Als erste Frau hatte sie in ihm das Bedürfnis nach Liebe geweckt. Sie aber hatte diese Liebe nie erwidert und war sich dessen von Anfang an bewußt gewesen. Auch jetzt, als er vermutete, daß er Taroko verloren hatte, begehrte van Rooten sie nach wie vor. Dieses Wissen machte ihm Angst. Zum Teufel mit der Schlampe! Er zog die .38er Smith & Wesson aus dem Halfter, trat wieder in das Zimmer und sagte: »Klopf, klopf.« Sofort tauchte Joydeeps Kopf über Tarokos Lenden auf. Fast gleichzeitig setzte sie sich auf. Zuerst war sie konsterniert, doch schnell gewann sie ihre Fassung zurück. Mit gespreizten Fingern schob sie das lange Haar aus dem Gesicht und vom Körper. »Wie lange stehst du schon da?« fragte sie. Van Rooten schritt langsam zum Bett und sah auf den Indianer hinab. »Na, Joydeep, haben wir unserem Namen alle Ehre gemacht, was?« Die Augen vor Angst weit aufgerissen, schaute der Türsteher von van Rooten zu Taroko und wieder zu van Rooten. »Bitte, bitte, ich will keinen Ärger. Ich gehe ja schon.« »Du bleibst«, befahl ihm van Rooten. Mit einer Handbewegung tat Taroko van Rooten ab. »Werde doch erwachsen, Gregory. Ich habe dir von Anfang an gesagt, daß ich dir nicht gehöre. Ich gehöre keinem. Au3i6 ßerdem wissen wir doch beide, das ich nur das tue, was mir mein Freund in Taiwan befiehlt. Und dazu gehört
auch meine Beziehung zu dir. Jetzt steck bitte das Ding da weg, sonst tut sich noch jemand weh.« Van Rooten nickte. »Mit Pao hast du recht. Das mit dir und ihm wußte ich schon. Aber gleichzeitig wollte ich es nicht wissen. Der Sachverhalt läßt sich wohl am besten mit >dämlich< bezeichnen. Nun gut, du hast mich so tief hineingezogen, daß ich nicht mehr raus kann, selbst wenn ich es wollte.« Taroko zog die Knie an die Brust. »Du willst nicht raus, Gregory. Du magst die Gefahr. Außerdem wirst du gut bezahlt.« Mit der Bezahlung hatte sie recht. Dieses Wochenende sollten er und Detective Alonso La Von für Lin Pao einen Koffer voller Geld nach Panama City bringen, wo es eine elektronische Reise durch Banken in sechs Ländern antreten würde, bevor es in einer kanadischen Investment-Firma auftauchte. Für 36 Stunden Arbeit sollten van Rooten und La-Von jeweils 50 000 Dollar erhalten. »Warum mußtest du diesen Idioten mit dem klapperdürren Arsch ausgerechnet in meiner Wohnung hernehmen?« fragte van Rooten Taroko. Sie lächelte. »Auch ich liebe die Gefahr. Das haben wir gemeinsam, erinnerst du dich? Nimm das Leben nicht so ernst, Gregory.« »Willst du mir nicht sagen, warum Lin Pao dich beauftragt hat, mich zu ködern? Ich dachte, der Dreckskerl würde mir trauen.« Taroko schaute auf ihren linken kleinen Zeh, dann zupfte sie mit dem Daumennagel daran. »Du bist ein Gweilo. Ein Ausländer. Ein Außenstehender. Kein Chinese wird dir je trauen. Vielleicht glaubst du, du wärest einer von uns, du wärest in den Club aufgenommen worden. Aber du täuschst dich. Mein Freund traut keinem. Er meinte nur, du solltest dich mehr für ihn einsetzen. Sagen wir es mal so: Die Gefahr, daß du ihn hinhängst, ohne dich selbst zu verraten, ist wohl sehr gering.« 3V »Ich verstehe. Ich wurde also die ganze Zeit benutzt. Von dir, von ihm, von allen.« »Wie gesagt, du wurdest gut bezahlt. Außerdem hast du dein ganzes Leben lang andere benutzt. Vor allem Frauen. >Wer mit dem Schwert lebt, kommt durchs Schwert um.<« Um van Rootens linkes Auge zuckte es plötzlich. Mensch, wie er es haßte, daß man ihm den Laufpaß gab. Verdammt noch mal, er haßte es. Dir zahl ich's heim, dachte er. Sofort, an Ort und Stelle. Und für den Schwarzen General bleibt auch noch was übrig. Er grinste. »Ihr Chinesen drückt das doch anders aus: >Wer gegen den Wind spuckt, spuckt sich ins eigene Gesichte Und wir sagen: >Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.<« Taroko legte sich zurück und lächelte ihn an. »Gregory, zieh dich aus, und wir machen es zu dritt. Ich liebe Dreier.« Joydeep schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Ich muß jetzt gehen. Vielen Dank für alles.« Van Rooten wandte sich an Joydeep: »Ich möchte dir gerne eine Frage stellen. Soll ich dir das Hirn auspusten oder die Eier wegblasen?« »Ich verstehe nicht. Sir! Sie hat mich hierher eingeladen.« Van Rooten grinste. »Ich hab' 'ne Idee. Wie wär's, wenn ihr zwei einfach weitermachen würdet? Tut so, als ob ich nicht da wäre.« Taroko setzte sich auf. Van Rooten richtete die .38er auf ihren Kopf. »Das ist mein Ernst.« Ihr Gesicht spannte sich an. Der Detective nickte. »Genau, Mami. Ich will, daß du und Joydeep euch betätigt. Ab und zu werde ich euch erklären, was ich gerne von euch sehen würde. Und das macht ihr dann auch, oder ich werde furchtbar böse.« Er ging rückwärts zu einem Wandschrank und nahm aus der obersten Schublade eine Polaroidkamera heraus. »Showtime, Jungs und Mädels.« 318
Er befahl Taroko und Joydeep loszulegen, und da keiner dazu Anstalten machte, ging er zum Bett und trat dem Indianer gegen das Bein. Tränen in den Augen sprang Joydeep beiseite und schaute Taroko an, die van Rooten wütend anblitzte. Aber sie zog den Indianer sanft auf das Bett zurück und ihre magische Zunge brachte ihn schnell auf Touren. Während van Rooten fotografierte, vollzog Taroko alles in düsterer Ruhe; bisweilen schien sie van Rootens Anwesenheit gar nicht wahrzunehmen. Ein, zweimal wurde er fast heiß, aber er unterdrückte es. Höchste Zeit, daß er es der Chinesin zeigte. 45 Minuten später gab er den Befehl zum Aufhören. Inzwischen konnten sie ihre Wut kaum noch zügeln. Die Eisprinzessin hatte es nicht gern, wenn man sie demütigte. Ach, war das schlimm. Nachdem sie sich den Mund mit einem Kissen abgewischt hatte, warf sie es auf van Rooten. Er wehrte es ab und rief: »Wie ungezogen!« Dann zeigte er auf den Stapel Fotos von ihr und Joydeep, die er auf die Kommode gelegt hatte. »Wenn die erst mal herumgezeigt werden, wirst du ein ganz schön begehrenswertes Mädchen sein. Dein Telefon wird keinen Augenblick stillstehen. Und wenn einer wissen will, ob du wirklich so gut bist wie auf den Bildern, soll er mich anrufen. Ich werde dich ungemein empfehlen.« Mit hinter wutglänzenden Augen verfluchte ihn Taroko. »Du und dein Vater! Ihr seid beide krank. Wenn Pao erfährt, was du mir angetan hast, wirst du dir wünschen, du wärst nie geboren worden.« »Ich weiß alles über die Verbindungen zwischen meinem Vater und Pao«, erwiderte van Rooten. »Das ist doch
ein alter Hut, mein Mädchen. Ich und mein Papi, wir sprechen nur nicht darüber, weil wir nicht miteinander reden. So gefällt es uns am besten.« »Einen Dreck weißt du«, entgegnete sie. »Wie, meinst du denn, ist dein Vater Paos Sklave geworden?« »Geld. Genauso, wie du seine Sklavin geworden bist.« »Ach ja? Dann wird es wohl Zeit, daß du die Wahrheit 319
über Nelson Berlin erfährst. Wußtest du, er er seine eigene Schwester ermordet hat?« Van Rooten schüttelte den Kopf. Davon glaubte er kein Wort. »Du lügst.« »Wirklich? Warum kann wohl ein Chinese einen so wichtigen Geschäftsmann aus Amerika beherrschen? Das ist dein Problem, Mister van Rooten. Das Unangenehme willst du nie glauben.« Taroko erklärte ihm den Ursprung der Beziehungen zwischen seinem Vater und Lin Pao. Schweigend hörte der Polizist zu. Als sie geendet hatte, rief er: »Ich wußte, daß mein alter Herr Dreck am Stecken hat! Aber daß er so weit gegangen wäre, hätte ich mir nie träumen lassen.« Um ihre Lippen spielte ein triumphierendes Lächeln. »Es gibt vieles, was du nicht weißt. Vielleicht ist die Polizei auch hinter dir her. Wußtest du das? Du hältst dich für so schlau, für so unwiderstehlich für Frauen, für so außergewöhnlich. Das bist du eben nicht. Du machst Fehler. Du wirfst mit Geld um dich, du beleidigst andere, du trinkst zuviel, du sprichst zuviel. Lin Pao prüft nach, wieviel Fehler du dir schon geleistet hast, und wenn er zum Schluß kommt, daß die Polizei eine heiße Fährte hat, dann...« Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. Van Rooten schwankte leicht, denn ein Schwindelgefühl packte ihn und verging wieder. In seinem Hals pochte es. Um sein Schwanken zu verbergen, hielt er sich mit den Händen an der Kommode hinter ihm fest. Dann schloß er die Augen, holte tief Luft und machte die Augen auf. Er war wieder ruhig. Bereit, das Geschäftliche zu erledigen. Unter den Blicken von Taroko und Joydeep legte van Rooten die Kamera zu den Fotos auf die Kommöde. Dann zog er die .38er aus dem Halfter, hob das Kissen vom Boden auf und drückte es gegen den Pistolenlauf. Taroko setzte ihren durchdringenden Blick auf, und einige Sekunden lang wurde van Rooten fast schwach. Fast. »Du würdest es nicht wagen«, sagte sie. »Nicht mit mir.« Van Rooten schoß Joydeep zweimal in den Kopf. Dann kniete er sich auf das Bett und rutschte langsam auf die wimmernde Taroko zu, bis er auf ihren langen Haaren kniete. Schluchzend drückte er das Kissen gegen ihre Brust und zog den Hahn dreimal durch. 321
21 In der Morgendämmerung trat DiPalma in ein kleines Zimmer am Ende des Flurs. Durch das Fenster konnte er die Sonne langsam über die Brooklyn-Brücke klettern sehen. Es war Ende März, der Frühling war eine Woche alt, doch auf dem Fensterbrett lag noch gefrorener Schnee und durch die Straße unten heulte ein kalter Wind. DiPalma schaltete das Licht ein. Wegen der plötzlichen Helligkeit kniff er die Augen zu. An den Wänden hing eine großartige Sammlung von Samuraischwertern: Daito, Waki-zashi und Tantos, den japanischen langen, mittellangen und kurzen Schwertern. In kleinen Behältern und Glastruhen waren Zeichnungen von japanischen Schwertträgern sowie Halsketten, Schwertknäufe und verzierte Dolche ausgestellt. DiPalma kam hierher, wenn er allein sein und nachdenken wollte. Durch das Training im Kendo hatte er nach der Verwundung seine Kraft wiedererlangt und hatte sich Beidhändigkeit antrainiert. Der Umgang mit dem Schwert war ihm zur Leidenschaft geworden. Für Kendo und Escrima hatte er eine natürliche Begabung, aber bei der Beherrschung der Techniken war er nicht stehengeblieben. Er hatte sich zudem neben der Geschichte des Samuraischwerts auch die der Schwertschmiede und -fechter angeeignet. Als Sammler der Schwerter war er oft nach Japan gereist. Dort hatte er auch Forschungen über die Waffen angestellt, ein Buch über die japanischen Schwerter und Schwertkämpfer verfaßt und sich so in Amerika als Kapazität auf diesem Gebiet etabliert. Amerikanische Antiquitätenhändler, Privatsammler und sogar manche Japaner baten ihn um sein Urteil über die Authentizität eines Schwerts. DiPalma wurde auch zu Vorträgen an Colleges, vor Geschäftsleuten und anderen an der japanischen Kultur interessierten Kreisen 322
eingeladen. Manche nannten ihn einen Experten. Das erinnerte ihn nur an einen Ausspruch seines Vaters: »Wenn du Experte bist, hast du mit dem Denken aufgehört.« In dem kleinen Raum fröstelte DiPalma. Er schlug den Kragen seines Bademantels hoch. Der Grund, warum er sich mit Schwertern und sonstigen Waffen beschäftigte, war ihm klar. Sein ganzes Leben hatte er auf der Hut vor Täuschung und Verrat verbracht. Sich anderen zu öffnen, fiel ihm schwer. Seine Berufswahl hatte sich zwangsläufig aus dem Mißtrauen gegenüber der Welt schlechthin ergeben. Zunächst waren die Beherrschung der japanischen Kriegskünste lediglich eine zusätzliche Methode der Selbstverteidigung für ihn gewesen. Aber bald lehrte die Beschäftigung damit DiPalma mehr als nur Kampftechniken. Er begriff die Wichtigkeit der Tradition, die Notwendigkeit der Bewahrung einer lebendigen Geschichte und Kultur, etwas, das, wie sein Vater gesagt hatte, auch für das sizilianische Erbe der eigenen Familie galt. Aufgrund seiner Studien des Kendo und der
Samuraischwerter erkannte DiPalma nun auch den hohen Wert der Vergangenheit für die Gegenwart. Die Kriegskünste lehrten ihn, wie wichtig es war, die Erkenntnisse aller Zeiten für die Gegenwart zu gewinnen und auch zu nutzen. Durch das Fenster sah DiPalma auf eine Polizeibarkasse im leeren Hafen von New York. Langsam tuckerte sie an der Südspitze von Manhattan vorbei, die im Morgendunst dunkel und halb verborgen blieb. DiPalma mußte grinsen. Unbemerkt von den Beamten war eine Möwe auf der Steuerbordreling gelandet und fuhr kostenlos mit. DiPalma wandte sich wieder vom Fenster ab und berührte ein Langschwert zu seiner Linken. Es war eine der Lieblingswaffen von Todd und ihm. Vor über 300 Jahren war es in der Shinto-Am gefertigt worden, damals hatte sich ein neuer Stil in der Schmiedekunst durchgesetzt. Doch war dieses Schwert hier trügerisch. Dem ungeübten Auge kam es sehr gefährlich vor, tatsächlich aber hatte es mehr ästhetischen Zwecken gedient als dem Kampf. 323
Auf der Klinge hatte der Schmied Blumen und Vögel eingraviert und nicht die üblichen Worte in Sanskrit, die zu Mut und Treue bis in den Tod verpflichteten. Auch wies die Klinge nicht gut einen Meter Länge auf, wie es bei den vergleichbaren Schwertern üblich war, sondern lediglich sechzig Zentimeter. Das Daito war eben eher hübsch als nützlich. Der Schein trog. Das traf auch auf van Rooten zu. An ihn dachte DiPalma jetzt ständig im Zusammenhang mit Tarokos Verschwinden. Haifischauge hatte sich an DiPalma gewandt, weil er das Jan schuldete. Das behauptete er zumindest. Haifischauge wollte aber auch seinen Vater vernichten. Aus diesem Grund war DiPalma auf den Philippinen gelandet und wäre dort fast drauf gegangen. Jetzt, da er wieder in New York war und Zeit zum Nachdenken hatte, drängten sich DiPalma einige Fragen über van Rootens eigentliche Absichten auf. Trieb Haifischauge nur sein Spielchen mit ihm? Sollte DiPalma nur dazu benutzt werden, um von Taroko abzulenken, die sich so rar gemacht hatte? Haifischauge war glatter als ein geölter Aal. Der Kerl hatte es gern, alles und jeden zu kontrollieren. Intrigen waren ihm so lieb wie einem Schuljungen das Pausebrötchen. Die ganze Welt war für ihn nichts anderes als ein Privattheater. Und Haifischauge war der Hauptdarsteller. Wenn Taroko ihm die Schau gestohlen hatte, dann konnte sie sich auf etwas gefaßt machen. Van Rooten war so empfindlich wie eine Mimose. Wer ihn angriff, bekam postwendend seine Wut zu spüren. In den letzten Tagen ihrer Partnerschaft hatte DiPalma gegen ihn ermittelt und ihn beschuldigt, er habe Informationen an die chinesischen Banden weitergeleitet. Van Rootens Antwort war ein Mordversuch gewesen. Zunächst warnte er eine Dealerbande von der Lower Eastside vor einem geplanten Treffen DiPalmas mit einem Informanten auf ihrem Gebiet. DiPalma parkte an einem Spätnachmittag im Oktober seinen unauffälligen Dienstwagen vor einem leerstehenden Gebäude in der Lower Eastside. Er 324
stieg auf den Bürgersteig und wollte gerade den Wagen zusperren, da sträubten sich ihm die Nackenhaare. Aus dem Augenwinkel spürte, fühlte, sah er die Gefahr. Das Kendo hatte seine Instinkte geschärft, und er reagierte schnell. Er sprang beiseite, Bruchteile von Sekunden, bevor ein alter Kühlschrank, den jemand vom Dach oben heruntergestoßen hatte, das Wagendach unter sich zermalmte. Nachdem er ein paar Tage herumgefragt hatte, nicht ohne an den richtigen Stellen den Geldbeutel zu zücken, trieb DiPalma jemanden auf, der die Verbindung zwischen van Rooten und dem Kühlschrankattentäter bestätigte. Dieser jemand war ein schwarzer Junkie und Gelegenheitsdieb, der sich Captain Marvel nannte. Seiner Aussage nach waren die verhinderten Mörder Puertoricaner und beherrschten den Rauschgifthandel in der Avenue A. Und van Rooten war ein dicker Freund dieser Bande. Leider war Captain Marvel kein Held. Er weigerte sich, die Anschuldigung vor Gericht oder in der Gegenwart des Bezirksstaatsanwalts zu wiederholen. Der Anschlag auf DiPalmas Leben blieb ungesühnt. Kollegen mußten ihn daran hindern, auf van Rooten loszugehen. Auf keinen Fall wollte er aber noch einmal mit dem Mann zusammenarbeiten. DiPalma schwor sich außerdem, ihn aus dem Polizeidienst zu jagen. Für van Rooten war die Sache einigermaßen heikel. Schließlich hatte man hier in der Gegend großen Respekt vor DiPalma. Viele Cops glaubten ihm sofort, daß van Rooten nicht sauber war. DiPalma bekam einen neuen Partner zugeteilt, was allein Bände sprach. Schwer gekränkt gelobte van Rooten Vergeltung. Und er hielt Wort. Jan arbeitete damals an der Vorbereitung eines Films, einer romantischen Komödie, die in der Wall Street spielte, und hatte den Bürgermeister zu einer Miniaturrolle überredet. Als van Rooten gelesen hatte, daß der Bürgermeister sich auf dem Bildschirm die Ehre geben wollte, suchte er Jan in ihrem Produktionsbüro auf und gab sich dort als vom Polizeipräsidium bestellter technischer Berater aus. Wäre Di3*5 Palma dabei gewesen, hätte er Jan gesagt, daß van Rooten log. Aber er fand die Produktion von Filmen langweilig und besuchte deswegen nie Jans Arbeitsstätte. Da hätte er genausogut Fliegen beim Geschlechtsverkehr zuschauen können. In ihren Leidenschaften kannte Jan keine halben Sachen. Sie spürte schneller als sie dachte. Ihr Gefühlsleben war un-auslotbar, und mit dem Instinkt eines Jägers für die Beute nutzte van Rooten ihre Schwäche aus. Als sie später erfuhr, aus welchem Grund er die Affäre begonnen hatte, machte sie ihm in seiner Wohnung eine entsetzliche Szene. Sie brüllte ihn nicht nur an, sondern zerschlug auch einen Spiegel im Wert von 2000 Dollar,
schleuderte seinen Geldbeutel und seine Polizeimarke auf die Straße und drohte schließlich, sie werde ihn umbringen. Kein Mann hatte sie je zuvor so unverfroren ausgenützt. Und wer war schuld? Ahnungslos hatte sie den Kopf ins Feuer gesteckt. Und hatte sich böse verbrannt. Und auch Frank verletzt. Sie verdiente Strafe, Frank aber nicht. Jan genoß das Leben in vollen Zügen, wenn sie sich ihren Leidenschaften hingab. Aber damit begab sie sich auch in tiefste Knechtschaft; das war ihr klar. Das Problem war nur, sie konnte sich nicht zügeln. Was sie sah, das wollte sie, vor allem wenn ein sinnlicher, herausfordernder Mann vor ihr stand. Daß solche Männer sie unvermeidlich unglücklich machten, war eine Ironie ihres Schicksals, die ihr nicht verborgen blieb. »Ich habe eben nur die Illusion, daß ich weiß, was ich will«, sagte sie zu Frank. Frank und sie wußten beide, warum er sie nicht verließ. Ohne Jan, fürchtete er, würde er nie wieder lieben können. Vor dem herrlichen Daito streckte DiPalma die Hand aus und glitt mit den Fingern über den mit Haifischhaut bespannten Knauf. Er wollte gerade das Schwert aus der Scheide ziehen, als Jan sagte: »Ich wußte doch, daß ich dich hier finden würde.« DiPalma blickte über die Schulter. Jan stand im Türrahmen. Wegen der Kälte hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trug einen roten Flanellmorgenrock und Filz326
pantoffeln. Ihr Gesicht sah vom Schlaf noch ganz verquollen aus. Er breitete die Arme aus, und sie kam zu ihm und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. »Ist der Magen noch durcheinander?« fragte er. »Schon besser. Vor ein paar Stunden konnte ich endlich einschlafen.« »Als ich aufgestanden bin, hast du wie eine Tote geschlafen. Habe ich dich geweckt?« »Nein. Du hast dich wie eine Katze bewegt. Oder wie eine Möwe im Flug. Was dir lieber ist. Auf alle Fälle habe ich dich nicht gehört.« DiPalma streichelte ihr das Haar. »Wie kommt es dann, daß du auf bist?« »Hab dich vermißt. Es ist so kalt in dem großen Bett, wenn mich keiner warm hält. Außerdem habe ich mir gedacht, daß du dir wegen diesem oder jenem Sorgen machst und wollte dir ein bißchen die Last von der Seele nehmen.« Er kniff sie in den Po. »Das hast du schon getan.« Sie biß ihn sanft in die Brust. »Es gibt mehr im Leben als bloß Sex. Nur fällt mir im Augenblick nichts anderes ein.« Eng umschlungen standen sie eine gute Minute schweigend da. Schließlich fragte Jan: »Machst du dir Sorgen wegen Berlin?« DiPalma schüttelte den Kopf. »Nein. Ich stelle mir nur vor, daß er über die Diskette Bescheid weiß. Lin Paos Leute in Manila haben ihn wahrscheinlich gewarnt. Das Material sieht vielversprechend aus, aber ich kann es erst benutzen, wenn ein paar Dinge bestätigt worden sind, und auf die habe ich ein halbes Dutzend Anwälte angesetzt. Die Gesellschaft will unumstößliche Beweise, vor allem dafür, daß Berlin seine eigene Schwester ermordet hat.« DiPalma seufzte. »Ich könnte mir vorstellen, daß sie mir deswegen die Hölle heiß machen. Wenn ich erst einmal meine Story eingereicht habe, rennen die zu Berlin und fragen ihn, wie er die Sache sieht. Ich meine, der Mann ist der Hauptaktionär der Gesellschaft! Herauskommen kann dabei doch nur eines: Bis das Ganze über die Bildschirme flim327
mert, müssen wir noch eine Weile warten. Zumindest zwei Wochen. Und in der Zeit kann Berlin leider zum Gegenschlag ausholen.« »Und was macht dein Untersuchungsteam? Hat es schon etwas herausgebracht?« »Nein, noch nichts. Aber die bleiben dran. Sie lassen alles andere ruhen und kümmern sich ausschließlich um Berlin und Lin Pao. Sie untersuchen auch den Mord an Rhoda Berlin und die Hinrichtung ihres Verlobten. Schließlich wollen sie auch noch etwas bei der Regierung in Peking und der Armeeverwaltung herausbekommen.« DiPalma kraulte Jans Haare. »Charles Sui hat Todd gesagt, daß Tschiang Kai-schek mit in die Sache verwickelt war. Das betrifft heute Taiwans Regierung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die mit uns zusammenarbeiten. Warum sollten sie auch zugeben, daß sie bei einer Vertuschung die Hände im Spiel hatten und einen Mörder ungeschoren ließen, weil er für die Triad nützlich sein konnte?« Das Gesicht nach wie vor an DiPalmas Schulter vergraben, ließ Jan ihre Hände in seine Bademanteltaschen gleiten. »Hast du etwas über Charlie Snakes Tod in Erfahrung gebracht? Charlie Snake, die Schlange... Wo nehmen sie nur diese Namen her?« »Barry Omens hat gesagt, daß eine Autopsie an seinen sterblichen Überresten vorgenommen wird. Weiter sagt er, daß der Tennisprofi immer noch verschwunden ist.« »Rafael Dingsbums?« »Yeah. Anscheinend ist er zur Tennisstunde angetreten, hat sich aber gleich nach dem Ausbruch des Sturms davongemacht. Genau als der Blitz das Haus in einen Mikrowellenherd verwandelte.«
Sie sah zu ihm auf. »Genau als Todd und Charlie Snake ihren Schwatz miteinander hatten. Hast du mit Todd schon über Charlie Snakes Tod sprechen können?« DiPalma schüttelte den Kopf. »Nein. Der Kleine ist ziemlich erschöpft. Er hat gestern den ganzen Tag lang geschla328
fen und das Zimmer nicht verlassen. Benjy hält sich bei ihm auf wie ein elendiger Wachhund.« Jan fröstelte. »Vielleicht kommt diese Sache wieder.« »Der Iki-ryo?« Sie nickte. »Kann sein«, brummte DiPalma. »Das ist wohl der Grund für seine Müdigkeit. Diese Sache nimmt ihn arg mit. Er spricht nicht darüber, aber wer kann ihm das schon verdenken. Schließen wir mal nicht aus, daß Todd etwas mit dem Blitz zu tun hatte. Immerhin hat er Charlie Snake wegen Berlins Schwester aufgesucht. Erst konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie an den Wachtposten vorbeigekommen sein sollten. Dann ist mir Rafael Amando, der Tennisprofi, eingefallen. Charlie Snake ist heute früh gegrillt worden, um die Zeit, zu der seine Tennisstunde anfängt. Ohne Amando wären Todd und Benjy nicht an Snake herangekommen. Irgendwie müssen sie ihn bearbeitet haben, bis er zugegeben hat, daß Berlin seine Schwester ermordet hat. Anscheinend haben Pao und Tschiangs Regierung die Sache vertuscht. Danach waren Todd und Benjy nicht mehr besonders redselig.« »Warum wohl würde Charlie Snake so etwas zugeben?« DiPalma schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Halt, klar. Todd hat ihn dazu gebracht. Auf die eine oder andere Weise hat er es geschafft.« »Und Joan? Warum mußte sie sterben?« »Karma, meint Todd. Vor 400 Jahren war sie seine Sklavin. Sie mußte noch ein Sühneopfer für ihre Sünden in früheren Leben bringen. Indem sie sich für andere geopfert hat, ist sie sofort eins mit den Göttern geworden. Todd sagt, daß sie jetzt frei ist.« »Das arme Mädchen. Aber wäre sie nicht gewesen, wäre das Flugzeug über dem Meer explodiert und du hättest sterben müssen. Das ist wohl der eigentliche Grund, warum sie mit euch nach Manila geflogen ist. Todd hat nichts davon gesagt, weil er nicht wollte, daß du dich schuldig fühlst. Aber sag mal — du kommst doch normalerweise in dieses 329
Zimmer, wenn du dir wieder mal über Gott und die Welt Gedanken machst. Was liegt dir jetzt auf dem Herzen?« »Van Rooten.« Sie verkrampfte sich in seinen Armen. DiPalma schüttelte den Kopf. »Ich habe über diese chinesische Sängerin, mit der er ein Verhältnis hatte, nachgedacht. Sie ist verschwunden. Vermutlich hat er sie umgebracht.« Jan sah ihn an. DiPalma fuhr fort: »Greg hält sich für besonders schlau. Das ist einer der Gründe, warum er die Chinesen so mochte. Er bewunderte ihren Verstand und glaubte, er wäre ihnen gewachsen. Das war er nicht. Herrgott noch mal, keiner ist es, wenn du die Wahrheit wissen willst. Wie sollen wir denn die älteste Zivilisation auf dieser Welt schlagen?« »Frank«, sagte Jan. »Wenn er ihre Ermordung gesteht, kommt er doch nicht ins Gefängnis. Er ist ein Kronzeuge, und sie brauchen ihn. Du hast mir von Männern erzählt, die Dutzende umgebracht haben und auch nicht einen Tag hinter Gitter gekommen sind, weil sie in einem Verfahren gegen einen anderen sehr wichtig waren.« Mit dem Zeigefinger berührte DiPalma ihre Nasenspitze. »Ja, aber du triffst es nicht ganz. Greg macht es Spaß, wenn er den Rest der Welt an der Nase herumführen kann. Im Augenblick reicht es ihm, daß er unbemerkt eine Hauptfigur in diesem Spielchen umgebracht hat. Er hat die Regeln gebrochen, verstehst du? Das gibt ihm sein Machtgefühl. Später wird er sicher irgendwann damit herumprotzen wollen, aber nicht im Augenblick. Vorläufig reicht es ihm, daß er etwas weiß, das wir nicht wissen.« »Sag mal«, hakte Jan nach. »Wenn Greg wirklich so ein Gauner war, warum hat das keiner eher gemerkt? Allerdings - ich selbst bin ja ein paar Wochen lang auf seine Masche hereingefallen.« »In dieser Stadt hat die Arbeit der Polizei ziemlich viel mit Politik zu tun. Man muß sich sehr viele Leute bei der Stange halten. Den Bürgermeister, den Gouverneur, die Schwarzen, die Spanier, die Juden. Vom ersten Tag an muß ein 33° New Yorker Cop auf einem Drahtseil tanzen, und wehe, wenn er stolpert und fällt. Um zu überleben, muß man raffiniert sein, muß Glück und an hoher Stelle die richtigen Freunde haben. Van Rooten hat nur SQ lange überlebt, weil bei ihm das alles gestimmt hat.« DiPalma schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie Leute bei jeder Schweinerei von diesem Kerl die Augen zugedrückt haben. Ein Grund dafür liegt darin, daß er die Leute um sich herum hat gut aussehen lassen. Er hat sie auf dem Drahtseil festgehalten. Noch etwas: Die Cops lassen die eigenen Leute nicht so schnell fallen. Wir stehen von allen Seiten unter Beschuß, darum halten wir auch zusammen, wenn wir wissen, daß ein Kollege Dreck am Stecken hat. Es gibt Cops, die glauben, daß van Rooten im ganzen Leben kein Unrecht getan hat. In ihren Augen wird er ganz einfach von irgendwelchen Kommunisten oder rosaroten Liberalen verfolgt.« Jan nickte. »Sieht wohl so aus, als hätte unser lieber Greg immer einen, der ihn aus dem Schlamassel zieht.«
»Bis jetzt zumindest. Aber ich möchte ihn mit dieser Taroko-Affäre konfrontieren und seine Reaktion beobachten. Ich möchte, daß er weiß, daß man ihm auf die Schliche gekommen ist, daß er nicht so schlau ist, wie er immer meint. Wenn ich sein Spielchen platzen ließe, würde sein Ego einen hübschen Knacks bekommen.« »Bevor ich ihn kennenlernte«, erklärte Jan, »wußte ich gar nicht, wieviel Kunst zum Lügen gehört. Mein Gott, wenn er morgen sterben würde, ich würde keine Träne vergießen. Er hat vielen Menschen wehgetan. Sehr vielen. Übrigens, wie geht's Martin Mackie?« »Gut, denke ich. Er ist seit zwei Tagen in Florida. Bevor er nach Hongkong zurückfliegt, kommt er noch einmal nach New York. Seit ich von Manila zurück bin, haben wir ein paarmal miteinander telefoniert. Er meint, Angela Ramos wäre glücklich, wenn sie wüßte, daß die Diskette in Amerika ist.« »Angela war ein prächtiges Mädchen. Wenn aus sonst 33i keinem Grund, dann verdient Lin Pao den Tod für das, was er ihr angetan hat. Wenn wir schon bei Lin Pao sind, warum sind Todd und Benjy hierher und nicht nach Taiwan weitergeflogen? Haben sie nicht mit dem Schwarzen General eine Rechnung zu begleichen? So wird er doch genannt?« »Todd nennt ihn Kiichi«, antwortete DiPalma. »Ja, sie hätten wohl nach Taiwan weiterfliegen können. Aber wenn sie hierher zurückgekommen sind, dann hat das seinen Grund. Was für ein Grund das ist, weiß ich nicht, aber sie haben einen.« Jan küßte ihn auf die Backe. »Lassen wir es mit dem ernsten Gerede genug sein. Weißt du, worauf ich im Augenblick Lust habe?« DiPalma umspannte ihre Brüste mit der Hand: »Dann wären wir ja zu zweit.« »Stimmt nicht, mein lieber Zampano. Das hat noch bis zum Schlafzimmer Zeit. Ich habe jetzt große Lust zu tanzen. Ganz langsam zu tanzen.« »Hier? Aber wir haben doch keine Musik.« »Ein bißchen mehr Spontaneität, mein Lieber.« Sie nahm ihn bei der Hand, legte einen Arm um seine Hüfte und fing an, sich langsam zu wiegen. Mit ihrer leisen, heiseren Stimme sang sie All The Things You Are. Es war DiPalmas Lieblingslied. Er drückte sie an sich, und während die Tauben auf dem Fensterbrett gurrten und die Morgensonne in das Zimmer schien, tanzten sie. 332
22 Taipeh, Taiwan In Begleitung zweier bewaffneter Leibwächter verließ Lin Pao in der Abendröte sein Grundstück am YangmingBerg. Langsam schritten sie den Berg hinauf. Ein Wächter trug einen kleinen Käfig mit Schmetterlingen. Pao hielt eine blaue Vase voller weißer Orchideen und Pflaumenblüten. Knapp unterhalb des Gipfels hielten sie vor einem kleinen, rund um eine Pinie gepflanzten Bambushain an. Alle Bäume waren frisch zum Andenken Tarokos eingesetzt worden. Die Asche der Sängerin lag unter der Pinie begraben. Ein Wink von Paos Hand, und der Wächter mit den Schmetterlingen trat nach vorne und stellte den Käfig unter dem Baum ab. Ohne daß es eines Befehls bedurfte, gingen die Wächter danach einige Meter den Berg hinunter und ließen Pao allein, der nun die Vase auf den Käfig stellte und den Kopf in stiller Andacht neigte. Weiße Orchideen waren Tarokos Lieblingsblumen gewesen. Und mit Schmetterlingen hatte sie sich bestens ausgekannt, was man einer minderjährigen Prostituierten nicht unbedingt zutrauen würde. Das aber war Taroko gewesen, als Lin Pao sie kennengelernt hatte. Geboren und aufgewachsen war sie in Sun Moon Lake, wo ihr Vater eine berühmte Schmetterlingsfarm leitete; Hunderte von verschiedenen Arten waren dort in riesigen Drahtkäfigen untergebracht. Pao hatte Taroko den Spitznamen Madame Butterfly gegeben. Erst hatten sie ein Verhältnis miteinander gehabt, dann waren sie Freunde geworden, die einander alles verziehen. Freunde, die zwar andere Liebesbeziehungen pflegten, aber bisweilen miteinander schliefen, weil sie nicht gern allein 333
waren. Diesen erbärmlichen Tod hatte sie nicht verdient. Van Rooten hatte sie und einen jungen Indianer erschossen, die Leichen in eine Gefriertruhe gesteckt und ihm diese nach Taiwan geschickt. Er hatte darüber hinaus obszöne Fotos von Taroko und dem Indianer beigefügt. Zum erstenmal seit Jahren hatte Lin Pao geweint. Daß van Rooten ihm Tarokos Leiche geschickt hatte, war abstoßend und barbarisch. Selbst den eiskalten und unbarmherzigen Lin Pao hatte das aus der Fassung gebracht. Aber van Rooten war trotz allem ein von Gefühlen bestimmter Mann. Wenn man ihn verletzte, konnten ihn blinder Haß und Zerstörungswut packen. Weil er in Taroko so vernarrt gewesen war, hatte ihn Pao beherrscht. Sie war gestorben, weil van Rooten ohne das Gefühl der Macht über andere nicht leben konnte. Ihre Ermordung war sein letzter Versuch gewesen, mit Lin Pao gleichzuziehen. Tatsächlich weinte dessen Herz unablässig über Tarokos Verlust. Jetzt haßte der Schwarze General alles, was irgendwie mit van Rooten zusammenhing. Für die Asiaten war die Drei die bedeutungsvollste aller Zahlen. Es gab drei Welten des Menschen: Körper, Geist und Seele. Es gab die Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kannten die himmlischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Barmherzigkeit. Die Triad schließlich hatte das
Dreieck aus Himmel, Erde und Mensch zum Fundament. Leider traten auch die Schicksalsschläge im Dreierschritt auf. Der Gewalt waren Taroko und Charles Sui zum Opfer gefallen, zwei Menschen, die er innig geliebt hatte. Und wenn Todd nicht starb, konnte durchaus Pao selbst der nächste Tote sein. DiPalmas Sohn hatte das nur allzu deutlich gemacht, als er in New York vor Ivan Ho die Vorhersage des Priesters wiederholt hatte. War der Junge ein Teufel? Oder hatte er von jemandem aus Paos Haushalt von dem Priester und der Schneeleopardin erfahren? Wußte jemand mehr als er durfte? Was die Namen Benkai und Kiichi betraf, so sagten sie ihm nichts. Er 334
verstand nur, daß ihm zur Vernichtung des Jungen gerade noch eine Frist von neun Tagen blieb. Vor der Pinie zündete Pao drei Räucherstäbchen an und steckte sie in die Erde. Während die Schmetterlinge in dem Käfig herumflatterten, senkte er den Kopf und betete leise buddhistische und taoistische Sprüche für Tarokos Seele. Eine Träne trat in den Winkel seines einen Auges. Er war an diesem Tag schon zum Ma-Tzu, einem der Meeresgöttin geweihten Tempel gegangen und hatte dort für Taroko und auch seinen Patensohn Kerzen angezündet. Charles war das letzte Bindeglied zu Son Sui gewesen. Nur wenige waren so wild und gnadenlos wie Lin Pao, doch selbst er war über Trauer nicht erhaben. Charles und Taroko würden ihm sehr fehlen. Daß Charles von dem Sohn DiPalmas ermordet worden war, hatte Pao schnell herausgefunden. Offiziell war Paos Patensohn nach einem Blitzeinschlag verbrannt. Der Polizei war nichts Außergewöhnliches aufgefallen, also erkannte sie auf einen Unglücksfall. Höhere Gewalt, hieß es. Doch der ohnehin mißtrauische Pao wußte, daß der Tennislehrer Rafael Amando bei Charles gewesen war. Er fragte sich also, warum diese höhere Gewalt nicht auch ihn dahingerafft hatte. Paos eigene Nachforschungen hatten bald Früchte getragen. Seine Leute konnten Amando und dessen Leibwächter Felipe nachweisen, daß sie ihr Wissen der Polizei verheimlicht hatten. Felipe hatte Amando nicht zu Charles Haus begleitet, weil ihn die zwei Jungen bewußtlos in der Garage hatten liegen lassen. Daß es sich dabei um DiPalmas Sohn und Benjy Lok Nein handelte, war Pao sofort klar gewesen. Wie Amando in einem Verhör zugegeben hatte, war er von den zweien gezwungen worden, mit ihnen zu Charles zu fahren. Unter dem Druck der hartnäckigen Fragen gestand er schließlich, daß der Junge Charles mit einem Tennisschläger umgebracht hatte. Mit Amandos Schläger. Vor seinem Tod war Charles mit vorgehaltener Pistole gezwungen worden, die Wahrheit über Nelson Berlins Ver335 gangenheit zu offenbaren. Das lange gehütete Geheimnis des amerikanischen Geschäftsmanns war an den Tag gekommen. Pao nahm Felipe von der Verantwortung für Charles Ermordung aus. Doch Rafael Amando gegenüber war er nicht so nachsichtig. Der Tennislehrer hatte sich an der Bluttat zwar nicht beteiligt, aber er hatte den Mörder zu Charles geführt. Und dafür mußte er jetzt büßen. Gestern nachmittag hatte Pao sein Verschwinden angeordnet. Der Befehl war sofort ausgeführt worden. Amando würde man nie wiedersehen, sei es tot oder lebendig. Seine Frau würde ebenfalls bestraft werden, allerdings nicht sofort. Mit ihr wollte er in zwei, drei Jahren abrechnen, wenn sie es am wenigsten erwartete, wenn sie und alle anderen die Angelegenheit für vergessen hielten. Charles Tod bot Ivan Ho, der sich von dem kleinen DiPalma hatte besiegen lassen, die letzte Chance, seine Haut zu retten. Er sollte sich den Acht Rittern des Nordens anschließen und den Jungen so schnell wie möglich aus dem Weg räumen. Auch Benjy mußte sterben, denn er hatte sich mit dem kleinen DiPalma gegen Lin Pao verbündet. Die Jadeadler zählten nicht mehr. Nur ihren Führer und den dämonischen jungen Mann, dem er jetzt diente, sollten sie erledigen. Daneben hatte er das Problem, das Geld auf einem anderen Weg in die Philippinen und von dort zu Nelson Berlins Unternehmen in Asien zu schaffen. Frank DiPalma hielt jetzt Beweise für die Zusammenarbeit Paos mit Berlin in der Hand. Bislang hatte er damit noch nichts angefangen, aber das war nur eine Frage der Zeit. Er genoß ja einen guten Ruf als Kriminalreporter. In vier Tagen sollte Nelson Berlin in Taiwan eintreffen. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Bei dem Telefongespräch heute morgen hatte Pao den lautstarken Widerspruch des egoistischen und selbstherrlichen Berlin nicht beachtet. Mochte er so viel zu tun haben wie er wollte, der Amerikaner mußte alles stehen und liegen lassen und ihm 336 in Taiwan Rede und Antwort stehen. Sein Sohn, dem man bestenfalls Leichtsinn zugute halten konnte, war so töricht gewesen und hatte DiPalmas Frau verführt. Berlin hatte selbst die Frau abhören lassen und damit noch größeren Schaden angerichtet. Jetzt hatte DiPalma einen Grund mehr, in den Angelegenheiten der Triad herumzuschnüffeln. Eine Konsequenz machte sich schon bemerkbar: Der Fluß der Gelder, der zu Paos Vorteil viele Jahre ungestört gewesen war, funktionierte nicht mehr. Inspektor Mackie hatte die Fronten gewechselt und machte Ärger, aber vor allem Gregory van Rooten sorgte dafür, daß Frank DiPalma eine zentrale Figur bleiben würde. Sollte also
Berlin den Unfug seines Sohnes ausbügeln und für neue und sichere Verbindungen sorgen, über die Paos Geld durch den Fernen Osten geschleust werden konnte. Berlin freilich bekümmerte am meisten die Nachricht, daß Frank DiPalma jetzt die Wahrheit über den Tod seiner Schwester kannte. »Wie hat er das herausgefunden?« fragte Berlin. Pao erklärte ihm kurz die Umstände von Charles' Tod. »DiPalmas Aufzeichnungen entnehmen wir, daß er es zuerst von Ihrem Sohn erfahren hat. Wenn Sie sich das nächste Mal mit Gregory unterhalten, könnten Sie ihn fragen, wie er das in Erfahrung gebracht hat. Vorausgesetzt natürlich, er spricht mit Ihnen.« Pao vermutete, daß Taroko in diesem Fall van Rootens Informationsquelle gewesen war. Aber wozu sollte er Berlin etwas davon sagen. Van Rooten war das Problem. Und damit sollte sich der Vater herumschlagen. »Meine Rechtsanwälte werden DiPalma einen heißen Tanz bereiten«, kündigte Berlin an. »Was diese Geldwaschanlage betrifft, wird er mit Sicherheit einige hohe juristische Hürden zu überspringen haben. Aber mit Gregory ist das anders. Er läßt einfach nicht mit sich reden. Er will mich unbedingt vernichten.« »Dann sollten wir für uns selbst sorgen, bevor das Schicksal uns ereilt«, entgegnete Pao. 337
»Dieser verfluchte Gregory. Es würde mich über alle Maßen freuen, wenn er krepieren würde und sich über uns nicht mehr den Mund zerreißen könnte.« »Sein Karma und sein Schatten folgen einem Menschen überall hin«, entgegnete Pao. »Hat DiPalma wegen der Sache mit Rhoda schon mit der Regierung Taiwans Kontakt aufgenommen?« »Meines Wissens nicht.« Das sei ein weiterer Grund, warum Berlin nach Taiwan kommen müsse, erklärte Pao. Er könne mit den ehemaligen KMT-Leuten sprechen, die damals den Mord an seiner Schwester vertuscht hatten. Einige von ihnen lebten noch und partizipierten an Paos Heroinhandel mit einem hübschen Batzen Geld. Diese Schatten vergangener Zeiten könnten Berlin garantieren, daß sein Geheimnis in den alten Akten sicher verwahrt sei und von dort nie ans Tageslicht kommen würde. Urplötzlich sorgte die Konferenz in Hongkong für Komplikationen. Neun Tage vor ihrem Beginn wollten es sich einige von Paos Rivalen auf einmal anders überlegen. Der Unterwelt war van Rootens Verhaftung nicht verborgen geblieben, und Paos Feinde befürchteten nun nachteilige Folgen. Sie sahen schon Paos Leute ihre Aktivitäten einschränken und sogar untertauchen, um einer Verhaftung zu entgehen. Geld und Drogen, so ahnten sie, würden bald beschlagnahmt. Auch wußten sie, daß einige von Paos Stammkunden sich schon bei anderen Heroinimporteuren erkundigt hatten. Nur für den Fall der Fälle, sagten die Kunden. Und warum wütete der Schwarze General gegen die Jadeadler, seine eigenen jungen Tiger? Einige von Paos Rivalen dachten laut darüber nach, ob er noch stark genug sei, seine eigenen Interessen zu wahren. Andere wollten wissen, ob er noch bei Trost sei. Wozu sollte man mit einem Mann Kompromisse schließen, der vielleicht auf dem absteigenden Ast saß? War es nicht klüger, ein bißchen abzuwarten und sein Imperium zu 338
übernehmen, wenn er keinen Widerstand mehr leisten konnte? Jetzt brauchte Pao das Treffen dringender als je zuvor. Damit konnte er beweisen, daß er von seiner Stärke und Überzeugungskraft nichts eingebüßt hatte, daß seine Körper- und Geisteskräfte nach wie vor zur Verteidigung seines Eigentums ausreichten. Die Konferenz mußte wie geplant stattfinden, und er mußte sie dominieren. Mit der Ermordung van Rootens konnte Pao seine Macht auf dem Goldenen Berg sichern, und sein eigenes Leben würde er fetten, indem er den kleinen DiPalma umbrachte. Unter dem Gipfel des Yangming kehrte er jetzt dem Bambushain den Rücken und trat den Heimweg an. Unten, auf seinem Anwesen, wurden gerade die Lichter im Hauptpavillon und in den Verbindungshöfen eingeschaltet. Er hörte das Gebrüll seiner Tiger, die ungeduldig auf die Abendfütterung warteten. Eine einzige weiße Orchidee in seiner Hand erinnerte ihn daran, wie er und Taroko in der Abenddämmerung hier immer in trauter Zweisamkeit spazierengegangen waren. Ungestört von Leibwächtern hatten sie ihre Erinnerungen an die Vergangenheit ausgetauscht und Fragen an die Zukunft gestellt. Sie hatte ihr Leben als Hure begonnen und sich zu einer großen Unterhaltungskünstlerin entwickelt, die Millionen von Herzen, darunter auch das von Lin Pao verzaubert hatte. Van Rooten mochte ihm über eine Million Dollar geraubt haben, mit dem Mord an Taroko hatte er ihm mehr genommen. Viel mehr. Van Rooten. DiPalmas Sohn. Martin Mackie. Sie alle mußten so schnell wie möglich sterben. Der Engländer allein deshalb, weil Pao seinen Tod beschlossen hatte, und ein Triad-Führer durfte sein Wort nicht brechen. Zur vollständigen Vergeltung für den Tod von Taroko und Charles mußte noch jemand anderer liquidiert werden. Jemand, der nach Paos Überzeugung van Rooten und DiPalma, dessen Sohn ja Paos Patenkind umgebracht hatte, gleich viel bedeutete. Dieser jemand war DiPalmas Frau. 339 Die Rache des Schwarzen Generals sollte beginnen mit dem Blutopfer einer Frau. Auf halber Höhe drehte er sich noch einmal kurz zu dem Bambushain, zu Tarokos Grabstätte um. Danach befahl er seinen Leibwächtern, vor ihm herzugehen. Er wollte nicht, daß sie seine Tränen sahen. 340
23 Manhattan Nelson Berlins Geschäftsmethoden waren so knallhart, daß die sogenannten Nelson Berlin-Witze in Mode kamen. Der Teufel bietet Berlin einen Geschäftsabschluß nach Wunsch an und mit soviel Gewinn, wie er will. Das Ganze ist steuerfrei. Und die Regierung wird ihn in Ruhe lassen. »Aber als Gegenleistung«, sagt der Teufel, »verlange ich deine unsterbliche Seele.« Berlin denkt darüber ein paar Sekunden nach, dann fragt er: »Und wo ist der Haken?« In der Wirklichkeit konnte Nelson Berlin jetzt nur dann überleben, wenn er seine eigene Rücksichtslosigkeit noch übertraf. Seine Existenz war gefährdet, und die allein wegen der Feindschaft seines Sohns. Sollte von Berlins erfolgreichem Leben wirklich nur noch eine Flut peinlicher Anklagen übrigbleiben? Gab es denn Schlimmeres als die Verbreitung dieser Sache mit Rhoda in den Revolverblättern? Lieber ein stiller Tod als öffentliche Schande. Ein Kompromiß mit Gregory war unvorstellbar. Beide gingen beim geringsten Anlaß in die Luft, beide waren impulsiv und dickköpfig. List und Hinterhältigkeit jedenfalls sagten Berlin nicht zu. Was er jetzt war, verdankte er seiner Stärke und Entschlossenheit. Eine Lösung dieses Problems konnte nur darin liegen, daß er es mit Gregory direkt aufnahm. Er mußte sich in die Schlacht stürzen und nichts als den Sieg wollen. Sein Einfluß bei der Fernsehgesellschaft konnte die Ausstrahlung von DiPalmas Enthüllungen verzögern, vielleicht sogar verhindern. Seine Rechtsanwälte müßten DiPalma eigentlich genügend juristische Knüppel zwischen die Beine werfen können. Nach Berlins Überzeugung ließ sich eine 34i Sendegenehmigung für den Bericht über ihn und Pao kaum durchsetzen. Mit Gregory verhielt es sich da schon ganz anders. Er spuckte gerade sein ganzes Wissen vor der Staatsanwaltschaft aus, und die ließ sich nicht so leicht kontrollieren. Wenn Gregory seine Geschäfte mit Lin Pao aufdeckte, konnte dies eine unter Umständen äußerst unangenehme Untersuchung auslösen. Der Vollzugsbeamte Chacon, der mit seinen regelmäßigen Mitteilungen an Berlin gut verdiente, sagte, Gregorys Material beschränke sich bislang auf Details über seine Tätigkeit als Kurier und die Verflechtungen Paos mit Heroinbanden. Gregory habe auch gestanden, daß er Informationen an den Schwarzen General weitergeleitet habe, Berlins Name sei dabei aber nicht gefallen. Ebensowenig sei von Rhodas Ermordung die Rede gewesen. Wieviel wußte Gregory eigentlich über diesen Mord? Vielleicht wartete er auf Beweismaterial von DiPalma, mit dem er augenscheinlich irgend etwas ausgeheckt hatte. Vielleicht spielte er bewußt mit Berlin und verunsicherte ihn nur, indem er mit seinem Wissen über Rhoda noch zurückhielt. Bei dem Jungen war alles möglich. Sofort nach seinem Telefonat mit Lin Pao befahl Nelson Berlin seinen Sicherheitschef Dave Stamm zu sich ins Büro im Rockefeller Center. Es lag hoch über den Teichen mit Granitbecken, den Brunnen und der je nach Jahreszeit verschiedenen Blumenpracht der Channel Gardens. Berlins drei Sekretärinnen erhielten die Anweisung, keinen Anruf durchzulassen. Die Konferenz der beiden Männer dauerte fast eine Stunde. Am Ende erklärte Berlin: »Es gibt keine andere Lösung. Setzen Sie Chacon darauf an. Der Schleimer soll was für sein Geld tun. Ich sehe keinen anderen Ausweg.« »Verdammt riskant«, antwortete Stamm. Er war ein gedrungener Mann Anfang fünfzig, hatte ein flaches Gesicht und trug ein graues Toupet. Unbesonnenheit haßte er. Und was er gerade in diesem Büro gehört hatte, war viel zu impulsiv und gefährlich, um risikofrei funktionieren zu kön342
nen. Andererseits bekam er eine viertel Million jährlich, dazu noch Zulagen und Spesen, damit er Befehle exakt ausführte. Schlaflose Nächte hatte ihm bislang noch kein Auftrag bereitet. »Yeah«, sagte er schließlich. »Das ist 'ne harte Nuß. Aber wer weiß. Vielleicht läßt sie sich knacken. Mit ihrem chinesischen Freund haben Sie noch nicht darüber gesprochen, nehme ich an?« »Zum Teufel mit dem Arschloch. Was das beste für mich ist, entscheide immer noch ich.« »Aber Sie fliegen trotzdem nach Taiwan?« fragte Stamm. »Danach. Erst wenn diese Angelegenheit endgültig bereinigt ist. Vorher fliege ich nicht.« »Man muß tun, was man tun muß. Meinen Sie, daß Pao eigene Pläne hat?« »Was weiß ich. Scheißchinesen. Die sagen einem nie alles. Denen fällt vielleicht ein, daß sie dir die Bude leerräumen, und du merkst es erst beim Aufwachen, weil die Matratze weg ist und du auf dem nackten Boden liegst.« »Chacon ist geldgierig. Der Dreckskerl verlangt für den Job am Ende noch Gefahrenzulage.« »Soll er bekommen. Aber wenn er Schwierigkeiten macht, dann ist das Ihr Problem.« »Wann soll es losgehen?« »Sofort.« Stamm hatte seine Zweifel. Er kämpfte mit sich, ob er sie vorbringen sollte. Am Ende hieß es sonst, er habe gepatzt, wenn die Sache in die Hose ging. Doch Berlin entschied kategorisch. »Ich will es so.« Der Sicherheitschef zuckte mit den Schultern. »Ich fange tout de suite damit an. Aber Sie wissen, was Sie da tun?«
»Ich sagte, daß ich es so will.« Eine Zigarette in der Hand, stand Martin Mackie vor einem Fenster in George Aaarons winziger Wohnung und sah über die Vierundsechzigste Straße und den Broadway auf die zehnstöckige Metropolitan Opera hinüber. 343
Hinter ihm stand George und deutete auf die Fassade des Opernhauses. Zwischen Küssen auf den Nacken erklärte er ihm, normalerweise könne man zwei göttliche Wandbilder von Chagall sehen — aber nicht heute morgen. Bei Sonnenschein ziehe man nämlich die Vorhänge zu, um die Gemälde zu schützen. Es war fast Mittag. Um zwei Uhr sollte Martin Mackie DiPalma im Haus der Fernsehgesellschaft in der Siebenundfünfzigsten Straße West treffen. Sie hatten noch einiges zu besprechen: die Diskette, Charles Suis Tod, Nelson Berlins barbarischen Umgang mit der lieben Schwester und schließlich DiPalmas Theorie, daß van Rooten etwas zu verheimlichen habe. Mit dem Taxi war das Fernsehstudio nur einen Katzensprung entfernt. Mackie hatte also genügend Zeit, mit dem jungen George zu turteln. Und wie er turteln wollte! Mackie war heiß darauf. Er hatte George heute morgen am Abfertigungsschalter der American Airlines in Miami kennengelernt. George, ein schlanker Blonder Mitte Zwanzig, genoß anscheinend Klatsch und anstößige Gerüchte. Er kannte viele erschreckende, aber ergötzliche Details über das Sexleben einiger Rockstars, Profisportler und Politiker. Wie die meisten, die Klatsch angeblich nicht mochten, hatte Mackie ihn unwiderstehlich gefunden. George bezeichnete sich als Fotografen und Liedermacher. Nach einem Kurzbesuch bei einem Onkel in Key West war er auf dem Rückflug nach New York. Mackie hielt ihn für eine kleine Tunte, die in Florida ein schmutziges Wochenende mit einem Sugar Daddy, einem reichen alten Knacker verbracht hatte. Aber gegen käuflichen Sex hatte Mackie nichts einzuwenden. Mit zunehmendem Alter war er jetzt öfter darauf angewiesen, als er sich eingestehen wollte. George war attraktiv und bezaubernd. Bisweilen ein bißchen frech, aber davon mußte man bei einem Amerikaner ausgehen. Irgendwie steigerte diese Dreistigkeit seinen Reiz. Und er hatte wirklich einen herrlichen Hintern. 344
Ihr erstes Gespräch vor dem Schalter hatte keine Minute gedauert, da wußte schon jeder, daß der andere homosexuell war. In jeder Hinsicht flogen sie in die gleiche Richtung. Wie viele Amerikaner hatte George sich sofort einem vollkommen Fremden anvertraut, Mackie dagegen wählte die Rolle des der Welt überdrüssigen Geschäftsmanns, der mal kurz in Florida wegen verschiedener Investitionen nach dem Rechten sah. Um Georges Vertrauen zu gewinnen, war eine kleine Täuschung nicht fehl am Platze — nicht ohne Grund lehnten Homosexuelle die Polizei ab. Zudem war George dermaßen von Mackies englischem Akzent bezaubert, daß sich Angaben über sein Leben erübrigten. Im Flugzeug saßen sie nebeneinander und verbrachten die Reise mit herrlich anzüglichen Gesprächen. Bis zur Landung im LaGuardia-Flughafen von New York brachte George seinem neuen Freund Mackie den ordinären Limerick von einem Mädchen namens Alice aus Dallas bei, das noch nie einen Phallus gespürt hatte. Mackie seinerseits erzählte die wahre Geschichte über einen Investmentbankier in Hongkong, der einem Liebhaber zur Strafe für dessen Untreue den Penis mit einem Spezialleim am Schenkel festgeklebt hatte. Mackie beeindruckte George auch mit den Fotos von seinem Haus in Key Biscayne, seinen zwei Restaurants, dem Blumenladen und dem Grundstück am Strand. George sah von den Fotografien auf. Sein Wimpernklimpem und scheues Lächeln zeigten an, daß er sich wieder auf dem Schoß eines großzügigen Sugar Daddy fühlte. Geld und Liebe — die reichsten Quellen menschlicher Freuden. Vom LaGuardia Airport fuhren sie gemeinsam mit dem Taxi in die Stadt. Das Gespräch verebbte allmählich und wich wortloser erotischer Spannung. Als George dann Mackie zu sich in die Wohnung auf einen Kaffee einlud, wußten beide, was jetzt kam. Mackie hatte es gut getroffen. In Key Biscayne hatten ihn andere Dinge als Sex beschäftigt. Er hatte viel am Haus gearbeitet, um es für seine endgültige Übersiedlung fertigzubekommen. Gleichzeitig war 345 er vor Lin Paos Schlägertypen auf der Hut gewesen. Zum Glück war er dabei nicht auf sich allein gestellt, denn er unterhielt zur örtlichen Polizei exzellente Beziehungen, nachdem er großzügig für ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen gespendet hatte. Waren Gesetzeshüter aus Florida nach Hongkong gekommen, hatten sie in ihm stets einen hervorragenden Gastgeber und Führer gefunden. Als Mackie also sagte, daß er mit bestimmten chinesischen Heroinschiebern Schwierigkeiten habe, verstanden die Amerikaner. Von sich aus boten sie ihm Rückendeckung an, solange er in Key Biscayne weilte. Während seines Aufenthalts in Hongkong wollten sie sein Haus und seine Angestellten, ein ehemaliges Professorenehepaar, das illegal aus Haiti eingereist war, beschützen. Bei so viel Obhut brauchte Mackie nicht einmal eine Pistole. Vermutlich war er der einzige unbewaffnete Einwohner, denn die Waffengesetze dieses Staates grenzten an Wahnsinn. Hier unten war es leichter und billiger eine Pistole zu kaufen als einen Kaugummi. In New York würde ihn dann DiPalma unter die Fittiche nehmen und ihm Lin Paos Schläger vom Leibe halten. Vorläufig war Mackie noch in Georges enger Wohnung. Er sah dem jungen Mann zu, wie er einen Wasserkessel auf den Herd stellte, die Gasflamme anzündete und dann zwei Löffel schwarzen Instantkaffee in zwei auf einem
Sideboard stehende Tassen gab. Zwar machte Mackie der Anblick des wunderschönen George mit jeder Sekunde lüsterner, doch von der Wohnung war der Engländer nicht ganz so begeistert. Sie bestand aus zwei winzigen Zimmern. Die Möbel waren unvorstellbar windig, und George gab zu, daß er einen Teil davon vom Sperrmüll hatte. Anscheinend richteten viele New Yorker ihre Wohnungen so ein. Mackie fand die Vorstellung entsetzlich. Eine Ecke des Wohnzimmers diente als Kochnische, direkt neben dem Kühlschrank stand ein Klosett. Wie schaffte man es nur, nicht in die Milch zu pissen? Das Schlafzimmer 346 war so dunkel, daß man darin Champignons züchten konnte und ging auf einen Luftschacht — ein wirklich düsterer Ausblick. Die Wände waren mit großen Schwarzweißfotos beklebt, Georges Arbeiten. Sie zeigten Hochhäuser, übel aussehende Leute von der Gosse, herrenlose Hunde und alle möglichen häßlichen Gesichter von New Yorkern. Vollkommener Schund. Und der kleine Schwule hielt das tatsächlich für Kunst! Mackie beschloß, sich dem Fleischlichen und nicht der Kritik zu widmen. Seite an Seite auf einer lila Samtcouch mit wackligen Beinen und hervorstehenden Federn sitzend, tranken sie ihren Kaffee. Ihre Beine streiften sich, ihre Blicke fanden sich und Mackie spürte erwartungsfrohe Wärme in seinem Unterleib aufsteigen. Er konnte sein Glück, einen so hübschen Mann kennengelernt zu haben, gar nicht fassen. Mackie war in einem Alter, in dem es hieß: ohne Finanzen keine Romanzen. Bezahlung bitte sofort nach Lieferung, werter Herr. George verlangte sicher keinen Stundenlohn, doch langfristig käme er ihm zweifellos teuer zu stehen. Mackie schwebte aber kein gemeinsamer Haushalt mit dem Jungen vor. Er dachte vielmehr an eine schnelle Nummer nach dem Motto: rein und raus, danke aus. Nun ja, Mackie war einsam und heiß. Ein Fremder in einem fremden Land. Eine Stunde nur oder so wollte er in den Armen dieses Jungen liegen und die Sorgen und Leiden dieser Welt vergessen. Er stellte seine Tasse ab, zog George an sich und küßte ihn behutsam. Auf den Lippen schmeckte er seinen gezuckerten Kaffee. Mackies Herz klopfte ein bißchen schneller, und der Kuß wurde eindringlicher. Fordernder. Lächelnd löste sich George. »Den Streit sollten wir wohl woanders austragen«, sagte er. Beide lachten. George hatte Mackie einen Witz über zwei betrunkene Homosexuelle erzählt. In einer Bar waren sie in Streit geraten und hatten beschlossen, ihn draußen mit den Fäusten auszutragen. George stand auf. Er reichte Mackie die Hand und zog ihn 347
zum Schlafzimmer. Der Boden dort war mit einer grünen Ölplane ausgelegt. Wieder so eine von Georges Eigenheiten, sagte sich Mackie und strich den Gedanken sofort wieder aus dem Gedächtnis. Sie zogen sich aus, küßten sich, dann schob George ihn sanft von sich und murmelte: »Muß noch die Zähne putzen. Bin gleich wieder da. Lauf nicht weg.« Nackt setzte sich Mackie auf das Bett und rieb die Füße auf der grünen Ölplane. Ein ziemlich bizarrer Teppich, gelinde gesagt. Allerdings waren die New Yorker auch ein verrückter Haufen. Mackie hörte Schritte näherkommen. Als er aufsah, erblickte er zwei Chinesen in der Türöffnung. Beide waren nackt. Einer hielt eine Kettensäge in der Hand. 348
24 Es war fast Mittag, als DiPalma auf der Schwelle einer Telefonzelle an der Ecke Siebenundfünfzigste Straße und Neunte Avenue wartete. Über die Straße blickte er auf einen rechteckigen Koloß von Bürogebäude, die Zentrale seiner Arbeitgeberin, der Fernsehgesellschaft. Er trug einen Mantel. Einen Hut hatte er nicht auf. Aus einer Plastiktasse schlürfte er schwarzen Kaffee. Ein Bote, ein Schwarzer, der mit dem Fahrrad unterwegs war, erkannte ihn und grinste ihn an, zum Gruß hob er die geballte Faust. Als Antwort schwenkte DiPalma die Plastiktasse. Genau in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Als es zum zweitenmal läutete, hob er ab. »Greg?« »Schön zu hören, daß es dir gut geht, Frank. Daß du atmest, rumläufst und so. Wie war die Reise?« »Sagen wir mal, ich habe mich nicht gelangweilt.« »Das habe ich gehört. Hätte mich fast totgelacht, als ich das mit dir und der Zwergin gelesen habe. Ich habe mal mit 'ner Dreieinhalbzentnerfrau gevögelt. Wollte nur wissen, wie das so ist. Die Dame hatte mehr Körperhaare als ein Gorilla. Mein Anwalt hat mir gesagt, du willst mit mir reden. Was ist los?« »Ich weiß daß du Taroko ermordet hast.« Lange Sekunden herrschte Schweigen. Dann sagte van Rooten: »Scheiße, Mann. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt umbringen oder Bowling spielen soll. Was weißt du denn, Frank? Sag mir, was du weißt.« »Du hast sie ermordet.« »Ach ja?« »Ich kann's nicht beweisen. Aber ich hab's im Urin, daß du sie um die Ecke gebracht hast. Das Fräulein ist wie vom Erdboden verschluckt. Sie hat für das nächste halbe Jahr
349 Auftritte für insgesamt 850 000 Dollar im Terminkalender stehen, und keiner kann sie auftreiben.« »Weißt du, was ich denke, Frank?« fragte van Rooten. »Sie macht wohl irgendwo so einen Computerkurs. Das ist das große Ding heutzutage. Computer! Das lernt man, verdammt noch mal, und dann kriegt man überall einen Job.« »Du und La Von, ihr habt mit dem Geld des Schwarzen Generals ein doppeltes Spiel getrieben. Aber deswegen bist du nicht zur Staatsanwaltschaft zum Vorheulen gegangen. Ich schätze eher, daß alles zusammengebrochen ist, nachdem du Taroko kaltgemacht hattest. Und von da an war dir einfach alles egal.« »Scheiß La Von. Wir waren in jener Nacht am Ende ganz high. Und das Hotel hat uns dann vier Tussis in die Suite rauf geschickt. Es hatte ja nicht schlecht an uns verdient, beim Roulette und so. La Von ist dann vollkommen durchgedreht; hatte 'ne richtige weiße Mieze vor sich. In der Nacht hat es ihm die Sprache verschlagen. Ich habe ihm auch gar nichts aufschwatzen brauchen. Er hat dann den Rest des Programms allein abgewickelt.« »Er ist gestorben, weil er mit dir herumgezogen ist!« rief DiPalma. »Wenn du mit einer Pistole auf ihn geschossen hättest, es wäre genau das gleiche gewesen.« »Wie gewonnen, so zerronnen.« »Apropos Verlierer... Vielleicht hast du Wind davon bekommen, daß das FBI und die DEA hinter dir her waren. Also hast du dir gesagt, besser, ich stelle mich selber — aber bevor ich das mache, zahl ich's Taroko heim. Du wußtest genau, daß du immer den Kronzeugen machen konntest. Und bei so einem Handel kommst du sogar mit einem Mord ungeschoren davon.« »Frank, Frank, Frank — das ist nur eine Behauptung, Herr Hauptmann. Deine Frau hat mich auch sitzen lassen. Habe ich etwa die kaltgemacht?« DiPalmas Kiefer wurde starr. »Jan war dir scheißegal. Mit Taroko war das anders.« 350
»Das war es, mein Lieber, das war es. Den kleinen Schwatz nehmen wir nicht zufällig auf, oder?« »Nein. Was würde es auch nützen? Die Staatsanwaltschaft braucht Pao so dringend, daß sie auf fast jede Forderung von dir eingeht. Mit Taroko haben die nichts am Hut.« »Wieso kommst du mir dann damit?« »Die Wirklichkeit hat in deinem Leben nie eine große Rolle gespielt. Du lebst in deiner kleinen Welt, in der du die Fäden in der Hand hast und die anderen zappeln läßt. Du solltest nur wissen, daß du dieses Mal nicht so davonkommst. Ich hoffe, daß das der Staatsanwaltschaft zu Ohren kommt und sie dir dann vielleicht, aber nur vielleicht, mal ein paar unangenehmere Fragen stellt.« Aus van Rootens Stimme klang jetzt Anspannung. »Mann, mach mir das nur nicht kaputt. Ich habe alles einkalkuliert. Ich mache das Richtige und kann den Rest meiner Tage in Ruhe und Frieden verbringen. Vielleicht schicken sie mich in eines von diesen kleinen Ländern, wo sie die Flagge aus Papier machen und an einen Besenstiel stecken. Dort kann ich dann vierundzwanzig Stünden am Tag Fleisch grillen, meinen Hund damit füttern und dann den Hund essen.« DiPalma grinste boshaft in seine halboffene Kaffeetasse hinein. »Du hältst die Staatsanwaltschaft hin, Greg?« »Wovon, zum Teufel, sprichst du da?« »So wie du redest mußt du dich sicher fühlen, weil du etwas weißt, von dem die anderen keine Ahnung haben. Darum rennst du herum und denkst: >Ich habe Taroko um die Ecke gebracht, und alle suchen sie — aber nur der gute Gregory van Rooten weiß, daß sie tot ist. < Das ist so ein Fall von: >Schau, Mama, mir gehört die ganze Welt!<« Van Rooten lachte. »Etwas übersiehst du, mein Lieber. Lin Pao weiß, wo sie ist. Glaub mir, wenn ich dir das sage, er weiß es.« »Klar, er weiß bestimmt, daß du sie umgebracht hast. Wenn ich sage, du hältst sie hin, dann meine ich, du hast ihnen nichts von deinem Mord an Taroko erzählt. Nehmen 35i wir jetzt mal an, sie merken, daß du etwas wirklich Heißes zurückhältst. Nehmen wir auch an, ihnen kommen Zweifel an deiner Geschichte. Wir wissen beide, daß sie mit der Suche nach Taroko nicht ihre Zeit verschwenden. Du weißt, daß sie tot ist, ich weiß es, Lin Pao weiß es. Er müßte es doch wissen, oder? Mein Gott, klar. Du hast sie erledigt, damit du mit Pao quitt bist. Darum hast du es getan!« »Scheißkerl, Mann, du Scheißkerl.« DiPalma schmunzelte. »Wenn einem von der Staatsanwaltschaft Zweifel kämen, dann würdest du ganz schön in der Tinte sitzen. Irgend etwas sagt mir, daß sie sauer werden, wenn sie rauskriegen, daß du die Wahrheit über Taroko von Anfang an gewußt und ihnen nichts gesagt hast. Hast du dir in letzter Zeit schon mal Gedanken darüber gemacht, wie das Leben in einem Bundesgefängnis so ist?« Van Rooten bemühte sich um einen überzeugenden Tonfall. »Du kannst mich nicht treffen, Mann. Nie. Wenn ich über die Ziellinie laufe, hockst du noch in den Startlöchern. Ich bin ein richtiger Düsenjäger, und du willst mich zu Fuß fangen und hast noch nicht einmal Schuhe an. Du kriegst mich nicht, Junge. Du nicht.« DiPalma schlürfte seinen Kaffee. Schließlich sagte er: »Ich kann's versuchen. O ja, ich kann's versuchen. Ich kann ihnen das mit Taroko sagen und sie auf neue Gedanken bringen. Ich kann dir dein Spiel kaputtmachen.
Wann wolltest du denn die Welt in dein kleines Geheimnis einweihen? Ist ja auch egal. Wenn du es nicht machst, bringe ich es ihnen eben bei. Dann werden sie dir schon Feuer unter dem Hintern machen. Nun gut, ich bin einer, der dich verarscht, während du die Welt verarschst. Das gefällt mir.« »Ich warne dich, Mann. Laß deine Hände aus meinem Leben. Laß deine Hände da raus.« »Und wenn ich's nicht tue? Es ist vorbei, Junge. Ob so oder so, dein Spiel ist aus. Du hast deine Lieder gesungen und den Wein ausgetrunken, und jetzt ist es an der Zeit, daß du den Löffel abgibst, weil du erledigt bist. Erledigt.« 352
Van Rooten rief: »Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist! Noch kann ich einiges von hier aus tun. Ich kann noch einiges tun. Ich...« DiPalma hängte ein. So gut hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. 353
25 Ivan Ho war ein ungeduldiger Zuhörer. Unaufhörlich zwinkerten seine hervorstehenden Augen, während Yip Woo sprach. Im Keller des Massagesalons in der Elizabeth Street stand Ho, die Hände über der Brust verschränkt, gegen den Billardtisch gelehnt da. Danny Chan, der breitschultrige Chinese, der auch dabeigewesen war, als Ho in diesem Zimmer seine Niederlage erlitten hatte, stand links von ihm. Er hatte dieselbe dunkelgrüne Lederjacke an und dieselbe widerwärtige Visage auf. Der kleine Woo, dessen mit Pomade befeuchtetes Haar und dessen Goldzähne im Zwielicht glänzten, sprach ha: stig; fast zusammenhanglos sprudelten die Worte aus ihm. Und Ho konnte nicht stillhalten. Von den Verletzungen, die ihm Benjys Freund in diesem Raum zugefügt hatte, hatte er sich noch nicht erholt. Das rechte Bein und die gebrochenen Rippen bereiteten ihm nach wie vor Schmerzen. Als Woo erzählte, wie sie Todd und Benjy bis zu einem Kendo-Club in der Eastside gefolgt waren, nickte Ho. Dann erklärte Woo, die zwei Jungen hätten den Club durch eine Hintertür verlassen und seien spurlos verschwunden. Hos Augen zwinkerten schneller, seine Nasenflügel blähten sich, er biß sich auf die Unterlippe und hörte gar nicht mehr auf, die Stirn zu runzeln. Als Woo fertig war, rief Ho: »Das sind doch Vollidioten! Lassen zwei Kinder einfach so verschwinden! Ist denn keiner von euch auf die Idee gekommen, ihnen ins Haus zu folgen?« Woo blickte auf den Boden. »Du hast uns doch befohlen, immer draußen zu warten. Du hast gesagt, wenn wir ihnen zu nahe kämen, würde uns Benjy erkennen.« Ho knallte mit der Hand auf den Billardtisch, daß die 354 Kugeln und Schläger klapperten. »Verflucht noch mal, erzähl mir nicht, was ich gesagt habe! Hoffentlich kann ich bald wieder mit den Jadeadlern zusammenarbeiten. Mit euch neunmalklugen Erwachsenen ist das ja zum Kotzen.« Er blickte auf die Uhr. Fast neun Uhr. Wenn man nicht wußte, wo Todd und Benjy sich aufhielten, so war das so, als säße man mit zwei Schlangen in einem dunklen Zimmer. Daß man selber nichts sehen konnte, machte die Schlangen noch gefährlicher. Es war Hos Absicht gewesen, noch heute abend gegen die Jungen vorzugehen. Spätestens morgen früh. Er wußte, wo sie wohnten. Auch die drei Mörder vom Geheimdienst Taiwans, die im obersten Stock warteten, kannten den Ort. Aber solange er ihren momentanen Aufenthalt nicht ausfindig machte, konnte Ho weder Todd noch Benjy töten. Unter den Blicken der schweigenden Männer zog Ho ein Fläschchen aus einer Innentasche seiner Jacke, drehte den Verschluß auf und nahm einen großen Schluck Brandy. Dann schraubte er die Flasche wieder zu, steckte sie in die Tasche zurück und starrte zur geschlossenen Tür. Er wollte den kleinen DiPalma selber umbringen, hatte aber Angst davor. Die Schläge, die er von ihm bezogen hatte, wirkten nach. Sie hatten nicht nur Hos Knie beschädigt und seine Rippen gebrochen, sondern auch sein Selbstbewußtsein verletzt und ihm in Chinatown einen schweren Gesichtsverlust zugefügt. Ihretwegen trank er jetzt mehr, als er vertrug. Der Schwarze General hatte ihm noch einmal eine Chance gegeben. Eine dritte würde er nicht bekommen. Entweder Ho erledigte Todd und Benjy, oder die Mörder aus Taiwan, die Acht Ritter des Nordens, mußten einen weiteren Chinesenkopf nach Taipeh zurückbringen. Die Lösung sah so aus: Er mußte die Mörder in DiPalmas Wohnung nach Brooklyn Heights schicken und sie dort auf die Jungen warten lassen. Früher oder später würden die 355 Vögel schon in ihr Nest zurückkehren. Ho mußte nur mit Bestimmtheit und Selbstvertrauen handeln, dann konnte er am Ende doch noch gewinnen. Plötzlich klopfte es. Woo ging zur Tür und machte auf, er rechnete mit der Empfangsdame oder dem Rausschmeißer von oben. Statt dessen stürzte Todd an ihm vorbei in den Raum. In der Hand schwang er einen Shinai, einen Bambusstock von knapp einem Meter Länge. Im Kendo ersetzte das Shinai das eigentliche Schwert, damit der Kämpfer mit voller Wucht angreifen konnte. In den Händen eines Spezialisten konnte es zur tödlichen Waffe werden, vor allem, wenn der Gegner keine Rüstung trug.
Brüllend sprang Todd auf Ivan Ho und Danny Chan los. Chan griff nach der fünfzehnschüssigen Browning in seinem Gürtel, einer Pistole, die insbesondere die schwarzen Drogendealer mit Vorliebe benutzten, doch Todd war so schnell, daß von seinem Shinai nur ein flirrender Strich zu sehen war. Er traf Chan am Handgelenk, an der Stirn und der Schläfe. Wie Pistolenschüsse knallten die Hiebe gegen seine Knochen. Chan fiel nach hinten gegen einen verstaubten Boiler, landete auf der Seite und rührte sich nicht, mehr. Benommen sah Ivan Ho zu, wie der Raum sich mit immer mehr Jadeadlern füllte. Er fürchtete sich zu sehr, als daß er zählen konnte, aber ein Dutzend waren es sicher. Fast alle trugen Pistolen. Er wandte sich Todd zu. Die Augen auf Benjy gerichtet, nickte Todd. Auf kantonesisch bellte Benjy einen Befehl. Sofort drängten sich zwei Jadeadler, zwei grimmig dreinblickende Jungen, durch die Gruppe und schoben ein Bündel auf den Billardtisch. Einer legte eine Kettensäge neben das Bündel, eine grüne Ölplane. »Aufmachen«, forderte Benjy Ho auf. Da Ho zögerte, schlug ihm Benjy ins Gesicht und wiederholte den Befehl. Ho zog das Bündel näher und breitete die grüne Ölplane zögernd auseinander. Der Inhalt war grauenhaft, Ho schau356 derte. Was ihn vom Billardtisch aus anstarrte, waren die blutverschmierten Köpfe der drei taiwanischen Mörder. Hinter Ho warf Todd etwas anderes auf den Tisch. Todd erkannte die Brieftaschen und Dienstausweise der Toten. Seine Augen begegneten denen Todds. Wenige Sekunden danach schaute Ho weg. »Du hast meine Freunde verraten«, sagte Todd. »Darum übergebe ich dich jetzt ihnen.« Ho wurde gepackt und gegen den Tisch gestoßen. Er schrie auf, doch jemand steckte ihm einen schmutzigen Socken in den Mund. Dann wurde er mit dem Rücken auf die Tischplatte gedrückt. An den Armen und Füßen hielten ihn die Jungen fest. Er sträubte sich, wand sich und zerrte, doch sie ließen nicht los. Zentimeter vor seinem Gesicht lag ein abgesägter Kopf. Jemand warf die Kettensäge an. DiPalma stand im Umkleideraum des Kendo-Clubs vor seinem Spind. In der Hand hatte er sein Keikogi, eine schwere, handgefertigte Baumwolljacke mit Daunenfutter, die im Kampf als Schutz dient. Seine Rüstung — Taillen- und Brustschützer und eine Gesichtsmaske — lagen auf einer Holzbank. Seine Armschützer und das Shinai waren schon im Spind. Das Hakama, das zweiteilige Baumwollhemd, hatte er noch an. Er schnürte es gerade auf, als er sie erblickte. Zwei glattrasierte Männer in Hut und Mantel, die auf ihn zusteuerten. So wie sie aussahen, konnten sie genausogut zwei alternde Haudegen auf einem Parteitag der Republikaner sein. In Polyester verarbeiteter Käse. Das Feinste vom FBI. DiPalma schnürte weiter sein Hakama auf. Als sie ihn erreichten, hatte er es gerade ausgezogen und legte es sorgfältig zusammen. Peinlich achtete er darauf, daß es keine Falten gab. Die Arme, Beine und der Rücken taten ihm weh. Seit der Rückkehr aus Manila hatte er nicht mehr so hart trainiert. 3>57
Jetzt hatte er es gebraucht, um klar denken zu können. Was er nicht brauchte, war ein Gespräch mit dem FBI. Das hinderte die Beamten aber nicht daran, ihn anzusprechen. DiPalma erwartete, daß die Bundespolizisten etwas über van Rooten erfahren wollten. Oder die Diskette. In Gedanken aber war er jetzt bei Todd und Benjy. Sie waren durch den Vordereingang hereingekommen und bis zur Hintertür durchgelaufen. DiPalma hatte sich beim Training nicht stören lassen. Er hatte sich ein bißchen gesorgt, aber weitergekämpft. »Mr. DiPalma, ich bin FBI-Agent Cross und das ist mein Partner, Agent Schoenstein. Können wir Sie irgendwo in Ruhe sprechen?« DiPalma legte das Hakama beiseite, sah Cross' Marke an und sagte: »Yeah, da drüben in der Ecke.« Mußte wegen Haifischauge sein, überlegte DiPalma, mußte einfach. Cross blickte sich um. Zu einem vertraulichen Gespräch lud die Ecke nicht gerade ein, aber in dieser Welt mußte man alles nehmen, wie es kam und das Beste daraus machen. In der Ecke trocknete sich DiPalma das Gesicht mit einem Handtuch ab und wartete. Cross blickte wieder um sich, holte tief Luft und flüsterte: »Es ist wegen ihrer Frau. Sie ist im Eastside-Krankenhaus und schwebt in Lebensgefahr. Leider hat sie ihr Baby verloren.« DiPalma erstarrte. Schoensteins Augen wichen keinen Augenblick von ihm. »Es tut uns leid, daß wir Sie so kalt erwischen müssen, aber wir hatten keine andere Wahl. Man hat sie und van Rooten gefunden...« DiPalma drückte das Handtuch mit beiden Händen. »Van Rooten und meine Frau?« Cross schaute in den Raum und rieb sich das Genick. »Van Rooten ist tot. Sieht nach Mord aus. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« 358
26 Um 8.32 Uhr abends trat DiPalma im Krankenhaus aus dem Aufzug und ging zum Dienstraum der Schwestern.
Er war leer. Die Schwester, die ihn eigentlich ständig besetzen sollte, war nicht da. Aufleuchtende Signale auf dem Schaltpult fielen ihm ins Auge. Jedes Licht bedeutete, daß ein Patient eine saubere Bettpfanne, Schmerzmittel, ein Glas Wasser oder einfach nach der Schwester verlangte. DiPalma fragte sich, ob auch Jan Hilfe anforderte, die nicht zu bekommen war. Er eilte zu ihrem Zimmer. So schnell es sein Bein erlaubte, lief er den Gang hinunter und bog nach links in einen Flur mit vier Zimmern. Jan lag im ersten rechts. DiPalma erblickte eine große Frau mit langem, schmalem Gesicht. Aufgrund einer Chemotherapie hatte sie sämtliche Haare eingebüßt. Langsam plagte sie sich mit einem Laufstuhl vor und zurück. Vor Jans Zimmer sah er drei Blumensträuße und einen Teewagen mit dem Abendessen in mehreren Metalltellern. Die zwei uniformierten Polizisten, die Jan eigentlich hätten bewachen sollen, konnte DiPalma nicht sehen. Mit pochendem Herzen humpelte DiPalma weiter. Sein Stock hämmerte gegen den Linoleumboden. Die Tür zu Jans Zimmer stand sperrangelweit offen. Ihr Bett war leer. Langsam trat er in das Zimmer und blickte sich um. Licht und Fernsehapparat waren eingeschaltet. Auf dem Bildschirm zeigte sich Bill Cosby wunderbar herzlich und allwissend. Im Schrank hing neben dem Mantel und dem Kleid, die Jan vor drei Tagen bei der Einlieferung ins Krankenhaus getragen hatte, ein sauberes Nachthemd. Er hatte es ihr von zu Hause mitgebracht. Auf dem Fensterbrett und auf dem Fußboden standen Obstkörbe, Blumenvasen und Pralinenschachteln von den Besuchern. 359 DiPalma war schwindlig vor Angst. Er öffnete die Badezimmertür und schaltete das Licht an. Jetzt sah er die Cops. Der eine lag in der Badewanne, der andere, um den Toilettensockel gekrümmt, auf dem Boden. DiPalma trat ein, bückte sich und befühlte den Puls des Cops in der Badewanne. Er lebte. Genauso wie sein Kollege. DiPalma fand keine Einschüsse, keine Stichwunden und keine Spuren eines stumpfen Gegenstands. Was, zum Teufel, war hier los? Er schaute den Polizisten in der Badewanne genauer an. Aha, das war es. Ein Bluterguß auf dem linken Backenknochen. Beide Cops waren bewußtlos geschlagen worden. Jemand hatte die Burschen in eine Falle gelockt, war ihnen auf den Leib gerückt und hatte sie zusammengeschlagen. Dann hatten sie sich Jan geschnappt. DiPalma wurde übel. Er ging in das Zimmer zurück und setzte sich auf das Bett. Jan hatte ohnehin schon die Hölle hinter sich. Warum mußte sie auch noch das hier durchmachen? »Er hat mich reingelegt, der Dreckskerl«, hatte Jan zu DiPalma am ersten Tag im Krankenhaus gesagt. »Greg hat darauf bestanden, daß ich nach Governor's Island komme. Mein Gott, von dem Ort habe ich zum erstenmal gehört. Er habe die ganzen Bestimmungen umgangen, hat er gesagt. Am Telefon könne er darüber nicht reden, hat er behauptet. Er hat mir gesagt, daß er dir das Leben retten wolle, daß sein Vater dich umbringen wolle und daß du nicht auf ihn hören würdest. Er hat behauptet, daß du ihn haßt wie die Pest und seine Anrufe nicht entgegen nimmst.« »Daß ich ihn auf den Tod nicht ausstehen kann, stimmt«, entgegnete DiPalma. »Aber alles andere ist erstunken und erlogen. Seit unserem Plausch über Taroko hat sich Greg nicht mehr mit mir in Verbindung gesetzt.« »Wie konnte ich denn wissen, daß er log? Ich dachte, ich würde es dir schulden, alles herauszufinden und es dir dann zu sagen. Mein Gott, er klang so überzeugend... Er meinte, du würdest mich daran hindern, wenn du von unserem Treffen wüßtest. Darum sollte ich dir erst davon er360
zählen, wenn es vorbei wäre. Er wolle nur seine Gemeinheit mir gegenüber wiedergutmachen. Ich bin ihm wirklich auf dem Leim gegangen. Ich wußte, daß du von ihm Informationen hattest, darum dachte ich, er wüßte vielleicht noch etwas.« »Was ist auf Governor's Island geschehen?« »Ich war keine zwei Minuten dort, da wußte ich, daß er log. Und weißt du was? Er hat es zugegeben. Er sagte, er wolle mich nur dahaben, um dir eins auszuwischen. Genauso hat er es ausgedrückt. Wenn du erfahren würdest, daß ich ihn besucht habe, würdest du durchdrehen. Mit der ganzen Sache wolle er nur dich treffen. Und da bin ich ausgeflippt.« DiPalma grinste. »Ich weiß. Deine Stimme hat recht weit getragen, habe ich mir sagen lassen.« »Das war mir scheißegal. Ich hab's ihm wirklich gegeben. Ich habe ihn alles geschimpft, was mir eingefallen ist. Ich habe ihm sogar ins Gesicht geschlagen. Wie eine Verrückte habe ich mich aufgeführt. Plötzlich ist mir schlecht geworden. Ich war schon halb ohnmächtig, da hat mir Greg einen Drink gegeben. J & B war's, glaube ich. Und an mehr kann ich mich nicht erinnern, bis ich dann hier im Krankenhaus aufgewacht bin.« »Jemand hat Gift in die Flasche getan. Greg hat auch davon getrunken. Offensichtlich hat er ein bißchen mehr erwischt.« Das Gesicht unter den Händen verborgen, setzte sich Jan auf. Das Baby, dachte DiPalma. Sie hatte es nicht nur verloren, sie war sich auch über die Vaterschaft nicht sicher. DiPalma ergriff ihre Hand. »Todd hat mir gesagt, daß das Kind von mir war.« Sie sah ihn an. »Das hat er gesagt?« DiPalma nickte. Mit der freien Hand wischte sich Jan die Tränen aus den Augen. »Sag deinem Sohn, unserem Sohn, daß ich ihn sehr gern habe. Sehr, sehr gern,«
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»Das werde ich. Mein Gott. Was für eine Last mir vom Herzen fällt. Wenn Todd nicht nach New York zurückgekommen wäre, wenn ich ohne Gewißheit, ob so oder so, durch's Leben gehen müßte...« Sie verbarg wieder das Gesicht unter den Händen. DiPalma nahm sie in die Arme. Nach einer Weile fragte sie: »Seid ihr jetzt miteinander fertig, du und das FBI?« »Mehr oder weniger. So ungefähr zehn Sekunden lang hatte ein Schlaumeier die Idee, ich hätte van Rooten erledigt und hätte versucht, dich auf die gleiche Weise loszuwerden. Der eifersüchtige Ehemann und so. Schließlich konnten ihn die anderen zur Raison bringen.« »Und wir finanzieren diese Leute für unseren Schutz! Wen haben sie jetzt unter Verdacht?« »Lin Pao. Wenn van Rooten am Leben geblieben wäre, hätte für ihn viel auf dem Spiel gestanden. Gregs Aussagen haben an Paos Lack gekratzt, aber das ist nichts auf Dauer. Zum größten Teil bleibt ihm sein Amerikageschäft erhalten. Mehr noch, jetzt kann er sogar bei der Konferenz in Hongkong ein Lächeln aufsetzen und sein übriggebliebenes Auge funkeln lassen.« »Und was ist mit Todd und Lin Pao?« »Du kennst doch Todd. Er hält, was er verspricht.« »Und du hältst zu ihm?« »Er ist ja mein Sohn.« Jetzt saß DiPalma auf Jans leerem Krankenbett und kämpfte um Ruhe. Lange konnte Jan noch nicht fort sein. Vor zwei Stunden hatten sie erst miteinander telefoniert. Jeden Tag hatte er sie mindestens einmal besucht. Mein Gott, sie haßte doch Krankenhausaufenthalte so. DiPalma griff zum Telefon. Er mußte die Polizei alarmieren, sagen, daß Jan verschwunden war und daß sie sofort eine Suchaktion einleiten sollten. Das Telefon schrillte. DiPalma nahm den Hörer ab. »Hallo? Spreche ich mit Frank DiPalma?« »Wer sind Sie?« 362 »Hector Chacon. Der Marshai. Ich habe bei Ihnen in der Wohnung angerufen und diese Nummer von einem Jungen, der sich Benjy nannte, bekommen. Ich habe ihm gesagt, daß ich dringend mit Ihnen sprechen muß. Wir haben uns kennengelernt, als...« »Ich weiß, wer Sie sind. Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen. Meine Frau ist entführt worden. Ich mußt das der Polizei melden.« »Ich weiß, wo sie ist.« DiPalma sprang auf. Der Stock fiel von seinen Schenkeln auf den Boden. »Reden Sie!« »Sie soll in ein anderes Land gebracht werden. Vermutlich ist sie inzwischen schon weg.« »In ein anderes Land? Was, zum Teufel, sagen Sie da? Sie können doch nur etwas darüber wissen, wenn Sie mitgemacht haben!« »Mit der Entführung habe ich nichts zu tun, aber ich weiß, wer es war. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Jemand hat heute nacht schon einmal versucht, mich umzubringen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es wieder probieren, bis es klappt. Wie gesagt, Sie helfen mir, ich helfe...« »Chacon, wer hat meine Frau?« »Sie verschwenden Ihre Zeit, Mr. DiPalma. Und besonders viel Zeit haben Sie nicht. Je früher wir zusammenkommen und uns etwas ausdenken, um so früher erfahren Sie, wo Ihre Frau ist.« DiPalma schloß die Augen. »Wann können wir uns treffen?« »Jetzt wäre ein idealer Termin, würde ich sagen.« Neunzehn Minuten später stand DiPalma im hinteren Teil einer Bodega an der Ecke 105. Straße, Lexington Avenue, Hector Chacon gegenüber. Um sie stapelten sich Pappkartons voll mit Ananas, Kokosnüssen, Tarowurzeln mit brauner Schale und halbreifen Bananen. Chacon hatte auf ein Treffen in East Hartem, seinem Gebiet, bestanden. Der Laden gehöre seinem Onkel, erklärte er DiPalma. Die 363 vier mit Pistolen und Macheten bewaffneten Spanier vor der Tür seien Cousins. Chacon hatte Leibwächter. Schließlich fürchtete er Nelson Berlins Macht und Geld. Er steckte in der gleichen braunen Fliegerjacke und silberbeschlagenen Cowboystiefeln, die er vor zehn Tagen auf Governor's Island getragen hatte. Nur war er diesmal nicht so großspurig. Jetzt sah man ihm an, daß er sich vor Angst fast in die Hosen machte. »Wo ist meine Frau?« fragte DiPalma. Chacon zog den Reißverschluß seiner Fliegerjacke herunter und ließ DiPalma seinen .45er Colt im Gürtel sehen. »Ist jetzt auf dem Weg nach Taiwan. Lin Paos Leute haben sie im Krankenhaus geschnappt und in ein Flugzeug gesteckt. Ich hätte eigentlich mitfliegen sollen - deswegen weiß ich das alles. Wir sprechen übrigens über einen Flug der Art, von der man nicht zurückkommt.« »Warum Jan?« Chacon zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sieht so aus, als hätten Sie Pao was getan. Drum will er Sie mit Ihrer Alten treffen.«
Nachdenklich runzelte DiPalma die Stirn. Jetzt hieß es nicht mehr van Rooten und DiPalma, sondern DiPalma und der Schwarze General. Etwas sehr Persönliches. War es wegen der Diskette? Wenn ja, warum ging er dann nicht auf ihn los? Was, zum Teufel, hatte er getan, daß Pao so reagierte? Aber das war ja nicht so wichtig. Wichtig war nur, daß er Jan zurückholte. »Was wollen Sie von mir?« fragte DiPalma. Chacon zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich will Ihre Hilfe, um am Leben zu bleiben. Nelson Berlin hat heute nacht versucht, mich kaltzumachen. Der verfluchte Dreckskerl wollte mich umlegen!« »Sie wissen zuviel über van Rootens Ermordung«, sagte DiPalma. Der überraschte Gesichtsausdruck des Puertoricaners verriet DiPalma, daß er ins Schwarze getroffen hatte. DiPalma fuhr fort: »Das einzige Bindeglied zwischen Ih364 nen und Berlin ist van Rooten. Warum sollte er sonst Ihren Tod wollen? Mußte ja von einem Insider gemacht werden. Es war hirnverbrannt von Ihnen, zu glauben, Sie würden ungeschoren davonkommen. Wieviel hat Ihnen Berlin für die Ermordung seines Sohns gezahlt?« Chacon schüttelte den Kopf. »Ich nicht, Mann. Darüber müssen Sie mit Stamm reden. Er hat mir die Flasche gegeben. Ich bin nur in das Zimmer gegangen, habe die eine Flasche weggenommen und die andere dafür hingestellt. Das war auch schon alles. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten.« »Yeah, genau. Wenn man Fleisch so dünn serviert wie Sie die Wahrheit, gibt's ne Hungersnot. Glauben Sie wirklich, daß auch nur einer Ihnen diese windige Geschichte abkauft?« »Ich kenne die Spielregeln. Wer als erster im Ziel ist, hat gewonnen. Wenn ich mich stellen kann, gleich am nächsten Tag oder so und dann alles sage, dürfte mir nichts passieren.« »Sie und van Rooten - da sind schon zwei so Leuchten am Werk. Wissen Sie, was ich glaube? Sie wollten sich ein eigenes Treuhandkonto eröffnen. Was sie Ihnen auch gezahlt haben, war nicht genug. Sie sind gierig geworden und haben mehr verlangt.« Chacon schaute auf seine silberbeschlagenen Stiefeln. »Manchmal muß man es eben probieren. Sie verstehen schon.« »Berlin läßt nicht mit sich spaßen. Aber das wissen Sie wohl inzwischen selbst.« Chacon griff nach dem Kokosnußkarton. »Ich war auf dem Weg zu meiner Frau. Sie wohnt unten in der 23. Straße West, gleich beim Park. Drei Jungs haben vor ihrem Haus gewartet. Stamms Leute. Verfluchte Klugscheißer. Haben gesagt, ich hätte den ersten Preis gewonnen, eine Reise nach Taiwan. Ohne Rückfahrt. Ich und meine Frau. Die Besatzung seien lauter Chinesen. Und der Name des Piloten wäre Kopf weg. Furchtbar witzig.« 365 Er grinste. »Mit den Stiefeln ist das so — du trittst einen, und der weiß dann auch, daß er einen Tritt gekriegt hat. Seit meinem vierzehnten Geburtstag mache ich Karate. Shotokan. Der härteste Stil, den es gibt. Damit kann man wirklich bööööse zuschlagen. Die Kerle haben mich zu ihrem Auto gedrängt, da hab' ich dem einen in die Eier getreten, daß sie ihm zum Kopf rausgekommen sind. Den zweiten hab' ich k.o.-geschlagen und dann hab' ich meine Knarre rausgeholt und dem dritten Schwanzschlecker mitten auf die Nase gedrückt. Mann, den hätten Sie vielleicht zusammenklappen sehen sollen. Wie ich weg bin, hatte der die Hose voll.« DiPalma war in Gedanken bei Jan, nicht bei Chacons Geschick in den Kampftechniken. Sie sollte sterben, und er konnte nichts dagegen tun. Absolut nichts. Sein Magen bereitete ihm quälende Schmerzen. »Wurde etwas über meine Frau gesagt?« wollte er wissen. Chacon schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte den Eindruck, daß Berlin mit dieser Sache nichts zu tun hat. Bei den Witzen, die die Kerle gerissen haben, kann das nur eine rein chinesische Unternehmung sein. Auch das Flugzeug. Zumindest wollten sie mich nach China bringen. Und das ist schon seltsam, denn Nelson Berlin fliegt heute nacht nach Taiwan ab. Man könnte meinen, daß er sie mitnimmt.« DiPalmas verschleierte Augen blitzten auf. »Woher wissen Sie, daß Berlin nach Taiwan fliegt?« »Stamm hat es mir gesagt. Er fliegt mit Berlin. Vor ein paar Tagen hat er mir gesagt, daß er lieber die Spitze von seinem Schwanz abschneiden würde, als nach Taiwan zu fliegen. Aber jetzt fliegt er. Wahrscheinlich hat er vor Lin Pao Schiß.« DiPalma schnippte mit dem Finger. »Berlin muß vom Kennedy Airport abfliegen. Wo ist das Telefon?« »Und unsere Abmachung? Ich will mich stellen. Im Augenblick kann ich keinem trauen. Berlin hat Geld. Wer weiß, wen der Schweinehund noch alles bezahlt — FBI, DEA...« »Marshals vom FBI.« »Yeah, okay. Aber hinter Ihrem Wagen ist der Gerichts366 Vollzieher nicht her, Mann. Und Ihr Vermieter droht Ihnen auch nicht, Sie mit einem Arschtritt auf die Straße zu befördern, wenn Sie nicht brav sind und die Bude kaufen.« »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Chacon. Sie sind zur anderen Seite übergelaufen. Keine Ausreden.« Der Puertoricaner sah auf den Boden. »Mir geht es allein um meine Frau«, sagte DiPalma. »Sie führen mich jetzt zu einer Telefonzelle, und zwar sofort. Nachdem ich ein paar Gespräche geführt habe, werden Sie eines führen. Ich will, daß Sie Nelson Berlin
anrufen.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Chacon ihn an. »Sind Sie übergeschnappt?« »Wenn ich Berlin zur Strecke bringe, haben Sie eine Überlebenschance. Deswegen haben Sie mich doch angerufen, oder?« »Ja, aber...« »Kein aber. Sie holen Berlin ans Telefon und reden mit ihm.« »Scheiße noch mal, der Mann ist entweder am Flughafen oder auf dem Weg dorthin.« DiPalma nickte. »Ich weiß. Darum brauche ich Sie ja. Ich muß schnell drei oder vier Gespräche führen, und dann gehen Sie ans Telefon. Bleiben Sie dran, bis Sie Berlin an der Strippe haben. Und wenn Sie ihn haben, dann reden Sie. Egal worüber, Sie dürfen nicht aufhören. Kapiert?« In der Abflughalle saß Nelson Berlin in der VIP-Lounge vor dem Schalter und starrte das Telefon an. Als es klingelte, sah er Stamm an, der ihm gegenüber auf der Tischkante hockte. Die zwei waren allein. Lächelnd ließ Berlin das Telefon klingeln. Nach einer vollen Minute nahm er den Hörer ab und sagte. »Ja? Ah — Chacon?« /»Sie wollen mich verarschen, Mann! Warum sind Sie so lange nicht rangegangen?« Berlin, ein untersetzter Mann mit verschwommenen blauen Augen und einer geäderten Nase, strich sanft ein noch verbliebenes Büschel rötlich-weißer Haare zum Ohr hin. 367 »Sie sind derjenige, der ständig auflegt, Mr. Chacon. Ich dachte, Sie wollten mit mir eine Art Vereinbarung treffen.« »Ihre Leute wollten mich umbringen, Mann. Und das gefällt mir nicht. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihrem dreckigen reichen Arsch nicht traue.« Berlin lächelte noch immer. »Vor einer Minute haben Sie aufgelegt, weil Sie sagten, jemand sei Ihnen gefolgt. Ist Ihnen jemand gefolgt, Mr. Chacon?« Stamm schüttelte den Kopf. Berlin nickte, als wolle er sagen: »Ich verstehe. Wir müssen diesen Trottel schnappen, also lassen wir uns auf dieses Spielchen ein.« Chacon rief: »Sie sollten wissen, daß mich keiner so schnell fertigmacht!« »Das habe ich gehört. Gut, kommen wir zum Kern, ja? Wegen Ihrer Eskapaden da hat mein Flug schon zwanzig Minuten Verspätung. Wenn wir nicht in den nächsten Sekunden zu einer Einigung kommen, dann fürchte ich, daß ich Sie sich selbst überlassen muß.« »Es geht um Geld, Meister. Ihr Geld. Und ich krieg' was davon.« Berlin spitzte die Lippen und zeichnete jetzt mit dem manikürten Zeigefinger imaginäre Kreise auf die Tischplatte. »Sprechen Sie weiter.« »Ich will für meine Dienste eine Bezahlung.« »Die haben Sie schon erhalten.« »Aber nicht genug für das, was passiert ist. Nicht annähernd genug. Ein Mann ist gestorben, während ich auf ihn aufpassen sollte. Und ich denke mir, das ist viel mehr wert, als Sie mir gegeben haben.« »Wieviel mehr?« »Hundert Riesen.« Berlins Augenbrauen krochen zur Glatze hoch. »Na, na. Da stufen wir uns aber sehr hoch ein, nicht wahr?« Die Wut folgte auf dem Fuß. Stamm fiel fast vom Tisch. Berlin, der jetzt aufgesprungen war, packte den Hörer mit beiden Händen. »Hör zu, du Dreckskerl von Spanier. Niemand, legt sich mit mir an, kapiert? Ich kann dich ausradieren 368 lassen, bevor du einen Ton gesagt hast, und die Welt wird es weder wissen noch wissen wollen.« »Regen Sie sich lieber ab, Mr. Berlin. Ob so oder so, ich bekomme, was mir zusteht.« »Sie Arschloch verstehen wohl kein einziges Wort? Die Sorge kenne ich schon. Wenn ich jetzt zahle, wo ist dann die Garantie, daß Sie nicht wieder kommen und mehr verlangen? Wo ist die Garantie, daß Ihre Hand nicht in meine Tasche fährt und drinbleibt?« »Hey, ich will doch bloß hier weg. Ich hole für Sie die Kohlen aus dem Feuer und will jetzt meinen Anteil. Scheiße, die wissen mehr oder weniger, daß es keiner von draußen gewesen sein kann. Alle, die Dienst hatten, sind schon mindestens zweimal verhört worden, und es sieht nicht so aus, als ob das so bald aufhören würde. Ich...« Berlins Gesicht war knallrot angelaufen. »Ich scheiße auf Ihre Probleme. Wie gesagt, Sie halten mich schon lange genug auf. Jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muß mich schließlich um meine Geschäfte kümmern.« Er knallte den Hörer auf die Gabel und blickte Stamm an. »Sie hätten sich doch um das kleine Arschloch kümmern sollen.« »Meine Leute haben sich nicht richtig reingehängt. Er...« Berlin beherrschte sich nicht mehr. Das hatte er noch nie getan. »Sie werden nicht für Entschuldigungen bezahlt! Wenn Sie damit nicht fertig werden, muß ich einen besseren finden. Und das ist ein Versprechen, Mister.« Stamm fühlte sich kleiner als ein Hundehaufen. Sorgfältig setzte er seinen Hut auf sein graues Toupet und folgte Berlin in die kalte Nacht hinaus. Für Berlin tat er alles. Höchstens in dessen Nase bohrte er nicht für ihn — und selbst das würde er tun. Nimm nie einem von Berlins Leuten die Kacke weg. Sie könnte sein Mittagessen sein.
Ihre Limousine stand hinter zwei anderen vor der Halle. Ansonsten war das Gelände leer, nur zwei uniformierte Chauffeure waren neben ihren Wagen zu sehen. Einer stand mit dem Rücken zu ihnen, der andere kauerte vor sei369 nem Auto und untersuchte den Vorderreifen auf der Fahrerseite. Berlins Fahrer war nicht ausgestiegen. Stamm stürmte voran, öffnete Berlin die Rücksitztür und ließ ihn einsteigen. Je früher sie flogen, desto besser, dachte er. Wenn sie sich nämlich Taiwan näherten, würde sich der Alte mehr wegen Lin Pao sorgen. Das hieß, er würde ihm nicht mehr in den Hintern treten. Stamm stieg ebenfalls ein, schlug die Tür zu und erkannte auf dem Notsitz ihm gegenüber Frank DiPalma. DiPalma hielt eine .38er Smith & Wesson in der linken Hand. Der Griff ruhte in seinem Schoß. Um seinen schwarzen Eichenstock hatte er die rechte Faust geballt. Stamm schaute über DiPalmas Schulter. Auf den Vordersitzen saßen zwei asiatische Jungen. Er erkannte einen als DiPalmas Sohn. Auf Berlins Seite ging die Tür auf, und Benjy, der eine schlecht sitzende Chauffeursuniform trug, ließ sich in den Wagen gleiten. Nachdem er sich Berlin gegenüber gesetzt hatte, nahm er die Mütze ab, warf sie auf den Boden und zog unter dem Jackett eine Uzi hervor. Stamm nickte. »Hallo, Frank.« »Hallo, Dave. Wie geht's der Frau?« »Auf dem Wege der Besserung. Sie haben einige Zysten im Eierstock gefunden. Die Eierstöcke sind gerettet, und das ist die Hauptsache.« »Freut mich zu hören. Wir würden gerne mit dir und Mr. Berlin nach Taiwan fliegen, wenn es nichts ausmacht.« Stamm grinste. »Mich stört das nicht. Und Sie, Mr. Berlin?« »Wie kommen Sie darauf, ich ließe es zu, daß Sie gewaltsam in mein Flugzeug eindringen?« schnauzte Berlin DiPalma an. DiPalma beugte sich näher zu ihm. »Weil Lin Pao meine Frau hat und ich Sie auf Ihrem Sitz hier umbringe, wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage.« Berlin sah Stamm an, dessen Augen noch immer auf DiPalma ruhten. 37° »Irgendwelche Wachleute im Flugzeug?« fragte DiPalma. Stamm schüttelte den Kopf. »Das ist keine Vergnügungsreise. Nur das Nötigste. Pilot, Copilot, das ist alles.« Er schaute nach rechts durch das Fenster auf ein halbes Dutzend chinesischer Jugendlicher, die auf dem Gehweg standen und in den Wagen gafften. Einer trug eine Chauffeursuniform und einen Mantel, beides viel zu groß. »Gehört er zu dir?« fragte Stamm. DiPalma nickte. »Alle.« Etwas gedämpfter sagte Berlin: »DiPalma, selbst wenn ich Sie in das Flugzeug lasse und wenn Sie nach Taiwan kommen, stehen Sie immer noch vor einem erheblichen Problem. Offensichtlich wollen Sie sich dort mit Lin Pao anlegen. Nehmen wir an, Sie überleben, was äußerst unwahrscheinlich ist... Wie wollen Sie dann wieder aus dem Land herauskommen? Oder haben Sie überhaupt schon so weit vorausgeplant?« »Vor ungefähr vierzig Jahren«, erwiderte DiPalma, »haben Sie Ihre Schwester umgebracht. Und vor drei Tagen haben Sie Ihren eigenen Sohn ermordet. Ich schlage vor, Sie machen sich darüber Gedanken.« DiPalma seufzte. »Auf dem Weg hier heraus habe ich mich ständig gefragt, warum nicht Sie Jan mitgenommen haben. Dann ist es mir eingefallen. Sie haben eine Frau umgebracht und sind seitdem in Paos Hand. Also haben Sie sich überlegt, es wäre ganz schlau, wenn sie sich nicht wieder in den Mord an einer Frau verwickeln ließen, sonst könnte der Schwarze General seine Krallen noch tiefer in Sie graben.« Berlins Kopf knallte nach hinten auf die Lehne. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es all die Jahre war. Noch einmal darf er mir das nicht antun. Das würde ich nicht aushalten.« »Das können nur Sie sich vorstellen.« DiPalma streckte seine Hand David Stamm entgegen, der ganz langsam unter seinen Mantel griff. Mit Hilfe des Daumens und des Zeigefingers holte er eine Beretta hervor und reichte sie DiPalma. »Irgendwo hat der Mann recht, Frank«, sagte Stamm. 37i »Man kommt da leicht rein, aber raus, da tut man sich schwer. So eine Art Ehe gewissermaßen.« DiPalma machte die Tür auf, warf die Beretta einem der jungen Chinesen zu und schloß die Tür wieder. »Warum warten wir es nicht ab und sehen, wie ich es erledige? Was für Arrangements habt ihr denn dort drüben?« Stamm zuckte mit den Schultern. »Wir landen im Bereich für Privatflugzeuge. Kein Zoll, nichts. Der einzige Kontakt, den wir haben, ist der zu Paos Leuten. Zwei Wagen von ihnen werden wohl auf uns warten. Die fahren uns dann zu ihm. Das ist alles.« Berlin packte Stamm am Arm. »Verflucht noch mal! Ich bezahle Sie, damit Sie was tun. Also tun Sie was!« Stamm schaute auf seinen Hut hinunter, den er nervös in den Händen hin und her drehte. »Mr. Berlin — hier ist ein Mann, der seine Pistole auf mich richtet. Mit Frank DiPalma kämpft man nicht so ohne weiteres, Mr. Berlin. Dem geht man aus dem Weg, vor allem, wenn er derjenige mit der Pistole ist.« Stamm schmunzelte. »Sie haben den Schwarzen General auf der einen Seite und Frank DiPalma mit seiner Rasselbande auf der anderen. Ich schlage vor, wir lehnen uns zurück und schauen zu, was bei der Sache herauskommt. Vielleicht werden Sie es
interessant finden. Ich jedenfalls bin gespannt.« 372
27 Taipeh Im Morgengrauen des einundzwanzigsten Tages nach seinem Mord an dem alten Priester saß Lin Pao auf dem Rücksitz eines schwarzen Chryslers. Sein Ziel war der Ma-Tzu-Tempel. Vorne saßen zwei bewaffnete Leibwächter. Zwei weitere mit Leibwächtern besetzte Wagen folgten dem Chrysler. Im Tempel trotteten drei Leibwächter hinter Pao her, der sich zu einer Handvoll Gläubigen gesellte und mit ihnen Opfergaben auf die Altare legte. Heute war er besonders großzügig. Er opferte zwei Bratenten, mehrere Flaschen Wein, süße Kuchen, zwei Obstkörbe und mehrere Stangen Zigaretten. Eine Stunde blieb er im Tempel, verweilte vor den prächtigen Steinskulpturen und Bronzegüssen und sprach aus tiefstem Herzen zu den Göttern. Als Pao zu Ende gebetet hatte, fühlte er neue geistige Energie. Er hatte die Vollendung seiner Visionen und Ziele vor Augen. In den rings um ihn aufsteigenden Weihrauchschwaden senkte er den Kopf. Nie war er so sehr davon überzeugt gewesen, sämtliche Hindernisse, welcher Art sie auch seien, aus dem Weg räumen zu können. Sein Kampfgeist war ungebrochen. Der alte Priester hatte gelogen. Pao würde das Ende dieses Tages und noch viele Tage danach erleben. Dennoch blieb er weiter auf der Hut vor dem kleinen DiPalma, der sich irgendwo in New York herumtrieb. Der Kleine war ein Floh zwischen den Zähnen eines Hundes und ließ sich nur schwer erwischen. Doch die Acht Ritter des Nordens dürften Todd bald aufspüren und seinen Kopf vom Rest des Leibes abtrennen. Ein totes Kind war bedeutungslos. 373
Trotzdem ließ Pao sein Grundstück Tag und Nacht schwer bewachen. Bis auf weiteres sollte jeder Jugendliche,, der sich ihm näherte oder dort aufgegriffen wurde, ohne Vorwarnung erschossen werden. Seine erwachsenen Angestellten mußten solange ihre Kinder fernhalten. »Du wirst binnen einundzwanzig Tagen sterben«, hatte der alte Priester zu ihm gesagt. Gut, heute war der einundzwanzigste Tag, und Pao war nach wie vor quicklebendig. Um Mitternacht würde sich die Prophezeiung endgültig als falsch erweisen. Der Schwarze General unterstand keinen anderen Gesetzen als den eigenen. Die Nachricht von Martin Mackies Beseitigung hatte ihn mit Genugtuung erfüllt. Auch wenn er Paos Geld genommen hatte, war ihm Mackie doch stets ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte sich gegen Aufgaben verwahrt, die ihm zu kriminell erschienen waren, Mord beispielsweise. Und weder Drohungen noch sonstiger Druck hatten ihn zu einer anderen Haltung bewegen können. Mackie hatte seine dunklen Seiten gehabt. Als Asiate konnte Pao das gut verstehen. In der ganzen Menschheit wirkte die Macht des TE. Ein neues Problem entstand im Hinblick auf Ivan Ho, der immer schneller zum Sicherheitsrisiko wurde. Er trank auf einmal zuviel und hatte offensichtlich die Nerven verloren. Allem Anschein nach hatte die Niederlage gegen Todd seinen Geist gebrochen. Wenn das stimmte, hatte die Triad keine Verwendung mehr für ihn. Wie es aussah, war er untergetaucht. Höchstwahrscheinlich war er irgendwo auf einer Sauf tour. Früher oder später würde er sich schon mit wortreichen Entschuldigungen für sein Fehlverhalten melden. Wichtiger als der betrunkene Ho war das heutige Treffen mit Nelson Berlin in seinem Haus. Unbedingt mußte in Asien für Paos Geld ein neuer Kanal erschlossen werden, und zwar so schnell wie möglich. Und dann kam nächste Woche in Hongkong das Treffen mit den feindlichen Drachenhäuptern. Jetzt war die beste Zeit für die Eroberung neuer Territorien. Nie zuvor hatte er sich für so befähigt gehalten, sämtliche Widersacher herauszufordern. 374
Vor dem Verlassen des Tempels spendete er eine beträchtliche Summe für die Instandhaltung des >Berges<, das heißt des Tempeldachs. Dort hausten nämlich die Geister, und aus diesem Grund befanden sich unter dem Dach jedes chinesischen Tempels kunstvolle Reliefs von Tigern, Helden, Göttern und Drachen. Pao bat darum, daß man an der Decke des Ma-Tzu weitere Tigerreliefs anbringen solle. Dann verließ er den Tempel und fuhr nach Hause. Unverzüglich wollte er mit der Hinrichtung von Frank DiPalmas Frau beginnen. Für DiPalma war von Anfang an alles schiefgelaufen. Als die Sonne über dem nahegelegenen Yangming-Berg aufgegangen war, hatte er auf dem Rücksitz eines in einer schmutzigen Straße geparkten grauen Cadillacs gesessen und Lin Paos Haus beobachtet. Wie war er nur darauf gekommen, er könne das hier schaffen? Er mußte übergeschnappt gewesen sein. DiPalma und die Jungen saßen in der Falle. Sie konnten weder vor noch zurück. Vor ihm lag Lin Paos kleine Armee. Sie war ihnen mindestens im Verhältnis sechs oder sieben zu eins überlegen. Hinter ihnen wurde der Weg immer schneller verbaut. Ganze Wagenladungen von taiwanischen Polizisten rollten mit Nelson Berlin, Dave Stamm und weiß Gott wieviel Waffen an. Das, worauf sich DiPalma eingelassen hatte, war wohl eine Nummer zu groß für ihn. Zehn Minuten nach Paos Rückkehr hatten sich ihre zwei Wagen dem luxuriösen Haus bis auf hundert Meter genähert. Im ersten saß, aufgeregt und nach vorne gebeugt und sich an der Lehne des Fahrersitzes festhaltend, Frank DiPalma. Vor ihm hielt ein chinesischer Fahrer, ein pummeliger junger Mann mit lockigen Haaren, das Lenkrad nervös umklammert.
Benjy saß neben dem Fahrer. Mit der rechten Hand richtete er eine Uzi gegen dessen rechte Hüfte. Vor Benjy lag auf dem Handschuhfach ein Handfunkgerät. Todd saß neben DiPalma auf dem Rücksitz. Im anderen Wagen, einem grü375 nen Eldorado, saßen drei Jadeadler, sowie ein von Lin Pao bestellter Chauffeur. Beide Wagen waren in voller Sichtweite der Leibwächter, die ihre automatischen Gewehre bereithielten und darauf warteten, daß die Fahrzeuge näherkamen. DiPalma hatte nur seine halbe Streitkraft dabei. Drei Jadeadler waren zur Bewachung Berlins, Stamms und der zwei Piloten im Flugzeug geblieben. Drei hatten gemeinsam mit ihm, Todd, Benjy und Paos zwei Chauffeuren den Tschiang Kaischek-Flughafen verlassen. Es verstand sich von selbst, daß es Todd und den Mächten, die er seit vierhundert Jahren mit sich herumtrug, überlassen bleiben sollte, in Paos Haus zu gelangen. Nach wenigen Minuten war die Kacke am Dampfen gewesen. Die Nachricht hatte sie aus Benjys Funkgerät erreicht: Flughafenbedienstete bahnten sich ihren Weg zum Flugzeug. Die Maschine müsse gereinigt und aufgetankt werden. Auch sei eine Untersuchung auf Seuchenerreger vorgesehen. Sie war gesetzlich vorgeschrieben, und weder Berlin noch Stamm hatten sich die Mühe gemacht, darauf noch in New York hinzuweisen. »Sag den Jungen, sie sollen keinen Widerstand leisten«, befahl DiPalma Benjy. »Es gibt keinen Grund, warum sie sich erschießen lassen sollten.« »Sind Sie sicher?« fragte Benjy nervös. »Berlin braucht bloß loszulegen und schon haben wir lauter Bullen auf dem Hals. Wenn Sie den Befehl geben, halten meine Jungs die Kerle ab.« Todd sah DiPalma schweigend an. Der zögerte keinen Augenblick. »Kein Widerstand«, erwiderte er. »Für das Leben eines Jungen kaufe ich Jan keine fünf Minuten oder fünf Stunden Leben. Das mit Berlin und der Polizei müssen wir eben riskieren.« Er sah kein Lächeln auf Todds Gesicht. Bald hatte sich Benjys Voraussage als richtig herausgestellt. Über Funk gab sich eine Stimme als taiwanischer Po376 lizeioffizier aus und forderte DiPalma namentlich auf, sich zu ergeben. Ansonsten riskiere DiPalma, daß man auf ihn und seine Begleiter das Feuer eröffne. Als DiPalma eine Antwort verweigerte, rief der Offizier: »Wir kommen!« In seinem geparkten Cadillac ließ DiPalma jetzt den Kopf müde hin und her rollen. Er wollte das steife Gefühl vertreiben. Aus Sorge um Jan hatte er im Flugzeug kein Auge zumachen können. Diese Sorge war auch der Grund, warum er Todd nicht über Jans Schicksal befragt hatte. Solange DiPalma nichts Definitives wußte, hieß das, sie war noch am Leben. Benjy und die Jadeadler hatten problemlos geschlafen. Die hätten auch im Stehen auf einer Hängematte schlafen können, sagte sich DiPalma. Todd hatte die Reise allein im Heckteil des Flugzeugs beim Notausgang verbracht. Eines von DiPalmas mittellangen Schwertern hatte auf seinem Schoß gelegen. DiPalma wußte, daß er sich geistig auf die Schlacht einstellte. Sich auf die Rache für jene entsetzliche Nacht vor vierhundert Jahren vorbereitete. Im Flugzeug war aus Stamm ein ergebener Beobachter Todds geworden. Da ihm der Respekt, den der Junge den anderen Jadeadlern einflößte, nicht entgangen war, hatte er versucht, DiPalma über ihn auszuquetschen. DiPalma jedoch hatte sich in keinerlei Gespräch über seinen Sohn verwickeln lassen. »Todd ist Todd«, hatte er kategorisch gesagt, »und damit hat es sich.« Gereizt hatte derweilen Nelson Berlin seine Mitreisenden ignoriert. Wer ihm zu nahe kam, wurde mit einem wütenden Blick bedacht. Die ohnehin schon nervösen Piloten trieb er zu noch mehr Eile an. Einen großen Teil des Flugs verbrachte er auf der winzigen Toilette, auf der er frustriert Dutzende von Papierhandtüchern zerfetzte. Wenn die anderen dem Ruf der Natur folgen mußten, bedurfte es schon enormer Überredungskunst, bis Berlin aufmachte. Während des Flugs war DiPalmas Achtung vor Benjy ge377
stiegen. Der Kleine war ein Rüpel, kein Zweifel, aber er konnte einem ans Herz wachsen. Charisma war ein überstrapaziertes Wort, aber wenn es einer hatte, dann Benjy. Die Jadeadler folgten ihm überall hin. Mit nur ein paar Telefongesprächen hatte er fünfundzwanzig Jugendliche zum Schlag gegen Pao zusammengetrommelt. Die Gefahr für ihr Leben hatte anscheinend keinen beunruhigt. Kein Wunder, daß die Gesetzeshüter in den Kriminellen aus Asien die Gefahr Nummer eins sahen. Weil ihm eine kleine Truppe lieber war, hatte DiPalma Benjy gebeten, die sechs besten auszuwählen. Von denen, die nicht mit durften, heulten ein paar vor Enttäuschung. Wie Benjy DiPalma erklärte, war jeder ganz versessen darauf, es Pao für den Mord an ihren Freunden heimzuzahlen. Selbst wenn es den Tod bedeutete, waren sie zu allem bereit. Ob sie gewannen oder verloren, die Kleinen hielten einander die Treue. Etwas Stärkeres hatte DiPalma nie gesehen, nicht einmal bei Polizisten. Und Benjy hatte genausoviel Sinn für Humor, wie er Mut besaß. DiPalma hatte er erklärt: »Unter Teamwork stelle ich mir vor, daß alle das machen, was ich sage.« Jetzt, im Cadillac, hörte Benjy dem verängstigten Chauffeur zu, dann übersetzte er dessen Kantonesisch für DiPalma: »Er sagt, daß Pao lauter Männer in den Höfen hat, um den Hauptpavillon herum. Er sagt, daß es kein
Geheimnis mehr ist — Pao hat vor Todd Angst. Der Mann will nicht einen Jugendlichen auf seinem Grundstück sehen.« »Und Jan?« fragte DiPalma. »Was ist mit ihr?« »Er sagt, daß vor wenigen Stunden eine Giveilo ins Haus gebracht worden ist. Eine rothaarige Frau in einem Krankenhauskittel.« Die nächsten Worte kamen stockend: »Lebt sie?« Benjy übersetzte die Frage, dann erklärte er: »Er weiß es nicht. Mit solchen Dingen hat er nichts zu tun.« »Sie lebt!« rief Todd. »Aber Pao fängt jetzt mit der Folter an.« DiPalma schlug mit der Handfläche auf den Sitz. »Gehen 378
wir. Ich kann nicht hier sitzen bleiben und sie sterben lassen.« Todd legte eine Hand auf seine Schulter und deutete nach oben. Der Himmel verdunkelte sich. Es sah aus, als breche die Nacht herein und nicht der Morgen an. Erst dachte DiPalma, der Zeitunterschied habe ihn durcheinandergebracht. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Dann spürten er und alle anderen im Wagen den kalten Wind. Soeben hatten noch milde Temperaturen geherrscht, jetzt war es plötzlich eisig kalt. Benjy und die Jadeadler zogen ihre Jacken, die sie im Flugzeug abgelegt hatten, wieder an. DiPalma griff nach seinem Mantel. Nur Todd rührte sich nicht. DiPalma sah seinen Sohn an und fing an zu bibbern. Nicht wegen der plötzlichen Kälte, sondern weil er wußte, was sich jetzt in dem Jungen abspielte. In Todd fuhren wieder Benkai und der Iki-ryo. Mit halbgeschlossenen Augen starrte der Junge geradeaus. Sein Griff um das Schwert wurde fester. Dann trommelte plötzlich, ohne Vorankündigung, alptraumhafter Regen auf den Wagen. Mit der Gewalt von Hämmern schlug er gegen das Dach und verdunkelte vollständig die Windschutzscheibe. Der Chauffeur hielt sich die Hände über die Ohren und heulte los, dazu schaukelte er auf und ab. Jedesmal kam sein Kopf dabei in bedrohliche Nähe des Lenkrads. Beunruhigt ließ DiPalma seinen Sohn keine Sekunde aus den Augen. Todd achtete nicht darauf, sondern deutete über seine Schulter auf näherkommende stecknadelkopfgroße, in der regengepeitschten Dunkelheit kaum zu erkennende Lichtstreifen. In einer Entfernung von einem Kilometer schimmerten die Lichter oben auf dem Berg. »Polizei«, sagte DiPalma. »Wenn sie uns kriegen, sind wir tot!« rief Benjy. »Ich kenne diese Leute. Die decken Pao seit Jahren. Sobald sie uns erwischen, ist es aus mit uns.« 379 »Wie mit meiner Frau!« rief DiPalma. »Entweder wir werden >auf der Flucht gestellt^ oder wir landen im Zuchthaus, wenn wir Glück haben. Aber dann ist keiner da, der Pao daran hindern könnte, Jan umzubringen.« Todd zog das Schwert aus der Scheide. Und in diesem Augenblick erleuchtete ein Blitz den gesamten Himmel. Der Donner krachte so laut, daß die Erde unter dem Wagen erbebte. Wieder und wieder polterte der Donner mit der Gewalt von Kanonen los. Entsetzt schlug der Chauffeur mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Benjy herrschte ihn an, er solle damit aufhören. »Der Hauptpavillon«, sagte Todd. »Im Erdgeschoß.« Ohne eine Bestätigung abzuwarten, sprang er aus dem Wagen in den herabprasselnden Regen. Benjy drückte auf die Hupe, das vereinbarte Signal für die im anderen Wagen zum Sturm. DiPalma stieg ebenfalls aus. Mit der Gewalt von Felsbrocken peitschte ihm der Regen ins Gesicht. Bis zu den Knöcheln stand er im Schlamm. Mit der einen Hand klammerte er sich an den Stock, die andere blieb in der Jackentasche und packte die .38er. Mein Gott, laß die Pistole nicht naß werden; auch wenn er mit ihr hier nicht viel ausrichten konnte, war sie besser als nichts. Nachdem er die Deckung verlassen hatte, spannte er jeden Muskel an. Er erwartete, daß die Leibwächter das Feuer eröffneten. Aber sie waren verschwunden. Mittlerweile herrschte im Tiergehege Chaos. Verzweifelt rannten Männer und Frauen im Sturm umher. Ihre Schreie gingen in dem tosenden Donnern fast unter — aber nicht einmal der Donner konnte das Tigergebrüll übertönen. Der Lärm ließ DiPalma das Blut in den Adern gefrieren. Er war zu nahe, viel zu nahe. Im Gehege geschah etwas Schreckliches, DiPalma spürte das, fürchtete das. Im Augenblick jedoch hatte er alle Hände voll zu tun. Für den Sturm, der ihn schon bis auf die Haut durchnäßt hatte, blieb keine Zeit. Er durfte jetzt den An380
Schluß nicht verlieren. Die Jadeadler, die ihre Pistolen unter den Jacken vor der Nässe zu schützen versuchten, hatten wesentlich jüngere Füße. Sie rannten an DiPalma vorbei und hatten Todd schon fast eingeholt. DiPalma, der jetzt die Nachhut bildete, schaute über die Schulter. Die Polizeiwagen kamen immer näher. Der Hauptpavillon. In einem Raum, der etwas tiefer als das Erdgeschoß lag, sah Lin Pao auf die nackt daliegende, weinende Jan herab. Vier Männer hielten sie an den Armen und Beinen auf dem Steinboden nieder. Der Krankenhauskittel war zerfetzt und lag neben ihrem Kopf. Vor jedem der vier Männer lag auf dem Boden ein kleines Messer. Pao bückte sich, um eines aufzuheben. Natürlich stand ihm der erste Schnitt zu. Mehrere
Sekunden lang richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die gegen die Fensterläden trommelnde Sturzflut. Seltsam. Im Wetterbericht war nie von Regen die Rede gewesen, das hatte er sogar zu Nelson Berlin gesagt, der Angst vor dem Fliegen hatte, wenn das Wetter nicht wunderbar war. Pao hatte ihm strahlenden Sonnenschein versprochen. Jetzt schaute er auf Jan hinunter, deren Tod er seinem Patensohn gelobt hatte. Plötzlich kreischte eine Frau ganz in der Nähe auf, dann flehte sie die Götter um Schutz an. Ihr Schreien und Beten waren so hysterisch, daß jeder im Raum, auch Pao, unwillkürlich hochschaute. Draußen rannten mehrere Männer in wilder Verzweiflung an den Fenstern vorbei, deren Furcht sich greifbar auf alle übertrug. Jemand gab einen Schuß ab, dem sofort eine zweite Detonation folgte. Unaufhörlich kläfften die Wachhunde. Nicht weit vom Haus schrie ein Mann um sein Leben. Pao packte das Messer, stürzte zum Fenster und öffnete die Läden. Die Tiger waren los. 381
Im Haupthof standen DiPalma, Todd, Benjy und die drei Jadeadler in der Sintflut. Keiner rührte sich. Sie waren lebende Statuen, in ihrer Stellung festgefroren. Ihr Leben hing von ihrer Regungslosigkeit ab. DiPalma klopfte das Herz bis in die Kehle. So etwas hatte er im ganzen Leben noch nicht gesehen. Und er hoffte, daß er es auch nie wieder sehen würde. Dies war schrecklicher als alles je Erlebte. Vom Regen war ihr Fell ganz dunkel. Ihre gekrümmten Krallen kratzten über den gepflasterten Hof. So trottete über ein Dutzend Tiger wenige Zentimeter an DiPalma und den Jungen vorbei. Schweigend und anmutig liefen die Tiere weiter. Ihre hellwachen grünen Augen blitzten nach links, dann nach rechts. DiPalma und die Jungen waren mitten unter die Tiger gestürmt. Ich bin tot, dachte DiPalma. Mausetot. Todd hatte ihnen den Befehl gegeben, reglos stehenzubleiben, keine Bewegung. Und keinen Schuß. In der Nähe der Miniaturholzbrücke gerieten zwei Wärter in Panik und schössen aus ihren Pistolen auf die Tiger. Auf der Stelle verschwanden sie unter mehreren knurrenden Raubkatzen und wurden zerfetzt. Es war unheimlich, wie sich die blutverschmierten Tiere dann sofort wieder einreihten und weiter auf den Hauptpavillon zuliefen. Vor dem Gebäude ließen sich ein paar von ihnen auf der Veranda nieder. DiPalma hätte schwören können, daß sie als Wachtposten Stellung bezogen. Aber das konnte nicht sein. Oder etwa doch? Die anderen Tiger verschwanden im Haus. Wer hatte sie aus ihren Käfigen befreit? Und warum waren sie ausgerechnet zum Hauptpavillon gelaufen, zu DiPalmas Ziel? Schlimmer konnte es nicht kommen. Voller Angst legte DiPalma den Kopf in den Nacken und ließ den Regen über sein Gesicht strömen. »Ich liebe dich, Jan«, flüsterte er. »Ich liebe dich.« Hinter sich hörte er ein Hupkonzert. Die Polizei. Todd schritt auf den Hauptpavillon zu. Einfach auf ihn zu! Die Jadeadler zögerten. 382
Benjy folgte als erster. Schließlich setzten sich auch die anderen in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. DiPalma, den Stock und die .38er noch immer fest mit den Händen umklammernd, humpelte hinterher. Am Pavillon angekommen, trat Todd langsam auf die Veranda, blieb stehen und sah die Tiger an. Ein indischer Albino, der vor einem Bambussofa kauerte, brüllte aus tiefster Kehle — aber er rührte sich nicht. Todd ging in das Haus. Vorsichtig folgten ihm DiPalma und die Jungen. Sie wagten keinen Blick zur Seite. DiPalma war sich nicht sicher, ob er sich nicht in die Hose machen würde. Im Inneren rannten sie einen schmalen, langen Flur entlang, an dessen Wänden überall chinesische Kalligraphien hingen und kamen bald in einen großen Raum voller asiatischer Kunstgegenstände. DiPalma blieb wie angewurzelt stehen. Links vor ihm saß ein kleiner Bali-Tiger unter einem Buddha aus lackiertem Holz. Zähnefletschend sah ihn die Raubkatze an. DiPalma packte die .38er noch fester und wich zurück. Plötzlich kamen drei mit Gewehren bewaffnete Leibwächter hereingestürzt. Zwei Jungen ließen sich fallen. DiPalma riß die .38er heraus und feuerte dreimal. Einen traf er mit zwei Schüssen im Kopf, den dritten verfehlte er. Mit seiner Uzi tötete Benjy die anderen zwei. Jetzt wurden die Tiger wild. Einige stürzten sich auf die Wächter, die anderen gingen drohend auf DiPalma und Benjy zu. »Werft eure Waffen weg!« schrie Todd. »Sofort.« DiPalma gehorchte, wenn auch ungern. Benjy tat es ihm nach. Immer noch knurrend, wichen die Tir zurück; ein paar allerdings hatten sich in die niedergeschossenen Wachen verbissen und ließen von ihnen nicht mehr ab. Am anderen Ende des Raums hörte DiPalma von rechts Schritte auf dem Flur. Er und Benjy waren ohne Pistolen wehrlos; DiPalma hatte zwar den Stock, aber damit konnte er gegen eine Maschinenpistole nichts ausrichten. 383
Vor Furcht empfand DiPalma eine seltsame Leichtigkeit im Kopf. Er sah Todd zurückschleichen und sich flach gegen die Wand drücken, so daß man ihn vom Flur aus nicht sehen konnte. Das Schwert hielt er mit der rechten Hand tief nach unten. Sekunden später tauchte ein Mann im T-Shirt im Flur auf und rannte in das Zimmer. Todd
stand jetzt seitlich hinter ihm. Der Mann, der eine schwere Pistole in der Hand hielt, blieb abrupt stehen. DiPalmas Anblick brachte ihn so durcheinander, daß ihm die Tiger gar nicht auffielen. Er richtete seine Pistole auf DiPalma, und der spannte alle Muskeln an in Erwartung der tödlichen Kugel. Todd löste sich von der Wand. Mit einem Hieb trennte er dem Mann die Hand am Gelenk ab. Während er noch schrie, schlitzte ihm Todd den Bauch auf, und er sackte zu Boden. Todd drehte dem gefallenen Leibwächter den Rücken zu und trat in den Flur. Vorsichtig drückte sich Benjy an den Tigern vorbei. Erst als er die Tür erreicht hatte, ging er schneller. Angespannt lugte DiPalma nach hinten zu den Tigern. Auch er verließ jetzt den Raum. Vor einer kleinen roten Tür holte er die anderen ein. Todd drehte an dem Türknopf, bis sie aufsprang und den Blick auf einen engen Durchlaß eröffnete. Sofort begann er den leicht abfallenden Gang entlangzurennen. Benjy folgte, und DiPalma bildete die Nachhut. Am Ende fanden sich die drei in einem spärlich erleuchteten aus Stein gehauenen Raum mit niedriger Decke wieder. Ein Teil dieses Raums barg eine Funkanlage, in dieser Ecke sah man auch einen Boiler, einen Ofen und mehrere Holzstapel. Vor dem Holz standen vier Männer und hielten Jan auf den Boden nieder. Lin Pao riß eine Beretta aus der Jackettasche und zielte auf Todd. Weder DiPalma noch Benjy rührten sich. Ein paar Sekunden lang runzelte Pao nachdenklich die Stirn, dann flüsterte er: »Ivan Ho sagte mir, daß du dich auch Benkai nennst.« 384 Todd, der das blutverschmierte Schwert nach unten hielt, erwiderte: »Hai.« Hai. Das japanische Wort für >Ja<. »Kennen wir uns?« fragte Pao. »Jawohl. Von einer anderen Zeit her.« »Und meine Tiger? Hast du sie befreit?« »Dein Karma hat sie befreit. Sie dienen dir nicht mehr. Nichts, was du hattest, gehört dir mehr.« Pao schaute zu den Fenstern hin. »Meine Tiger scheinen nicht mehr zu wissen, wem sie Treue schulden. Du bist an ihnen vorbeigegangen, als wären sie zahme Hauskatzen? Nun, du bist wirklich ein besonderer Junge. Ivan Ho hat mir gesagt, du würdest mich Kiichi nennen. Warum eigentlich? Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Inzwischen habe ich herausgefunden, daß Benkai und Kiichi japanische Namen sind. Ein japanischer Gelehrter in meinem Bekanntenkreis hat mir erklärt, daß es einmal einen Samuraikrieger mit diesem Namen gab. Lebt seine Seele in dir?« »Deswegen bin ich gekommen. Ich will dich töten.« »Du kannst den Schwarzen General nicht töten.« Pao spannte den Finger um den Abzug. Und während er das tat, warf Benjy sich vor Todd. Pao drückte dreimal ab, und jedesmal traf er Benjy in die Brust. Tödlich verwundet taumelte der Junge auf den Rauschgiftkönig zu, der langsam zurückwich und sein Magazin Leerschoß. Vor Paos Füßen brach Benjy zusammen. »Bringt die Frau um!« schrie Pao. Die über Jan gebeugten Männer hoben ihre Messer, doch da griff DiPalma ein. Mit einem Rückhandschlag seines Stocks ins Gesicht schleuderte er einen von den Mordgesellen gegen seinen Kumpan und traf einen anderen so an der linken Kniescheibe, daß er gegen den Holzstapel geworfen wurde. Dann machte er einen Ausfallschritt nach rechts, faßte den Stock am unteren Ende und schlug dem dritten Mann den Silberknauf gegen die Schläfe. Als der vierte DiPalma von hinten angreifen wollte, stach ihm Todd blitzschnell das Schwert in den Nacken. Mit einem schrillen Schrei fiel der Mann auf den Steinboden. 385 DiPalma drehte sich um und sah, wie Todd mit dem bluttriefenden Schwert auf den entsetzten Lin Pao losging. Sein. Kriegerschrei füllte den ganzen Keller, als er die alte Klinge in einem großen Bogen schwang und Paos glattrasierten Kopf vom Rumpf trennte. Auf den Hof fiel kühler Sprühregen. Jan, die lediglich mit ihrem zerfetzten Krankenhauskittel und DiPalmas Jackett bekleidet war, klammerte sich an ihren Mann. Sie beide standen Nelson Berlin, Dave Stamm und mehreren bewaffneten taiwanischen Polizisten gegenüber. Ein Beamter hielt DiPalmas Stock und Todds Schwert. Hinter DiPalma stand Todd auf der Veranda und schaute auf Benjys Leiche hinab, die jetzt auf dem Bambussofa aufgebahrt war. Um sie herum lagen drei tote Tiger. Die Polizisten hatten sie erschossen. Die übrigen Tiger machten sich im Hauptpavillon lautstark bemerkbar und streiften dort rastlos hin und her. Im Augenblick schien die Polizei froh zu sein, daß sie im Haus blieben. Grinsend strich Nelson Berlin eine Strähne rötlich-weißes Haar über ein Ohr. Dann deutete er auf die Leiche des dritten und letzten Jadeadlers. »Eine Schande. Er wollte fliehen. So wie ihr drei, aber es ist ihm nicht gelungen. Zumindest wird es so im Polizeibericht stehen. Spiel, Satz und Sieg, Mr. DiPalma. Ich nehme an, Sie haben Lin Pao beseitigt?« DiPalma legte einen Arm um Jan. »Er ist tot.« »Nun gut, dann gewinnen Sie in dieser Gegend keine Freunde. Das steht fest. Ich habe Sie ja gewarnt. Es ist leicht, hereinzukommen, habe ich gesagt, aber schwer, wieder herauszufinden.« »Haben Sie der Polizei befohlen, diesen Jungen zu erschießen?«
Beschämt zog Dave Stamm den Hut über die Augen. Berlin sah auf den toten Jadeadler, dann zu DiPalma hin. »Sagen wir einfach, ich halte nichts von einem Schluß, bei dem alles offenbleibt. Die drei, die sie im Flugzeug zurückgelassen haben, sind auch tot. Jemand hat einmal Geheimnisse 386 etwas Häßliches genannt, und dem stimme ich zu. Auch bin ich der Meinung, sie sollten privat bleiben. Was Sie und Ihre Freunde über mich wissen, bleibt hier begraben.« »Sie bringen uns um«, sagte DiPalma. »Ist es das, was Sie uns sagen wollen?« »Adieu, Mr. DiPalma, Mrs. DiPalma.« Berlin sah Todd an. »Und du, junger Mann? Hast es ja faustdick hinter den Ohren. Wenn du weg bist, wird die Welt sicher besser sein. Davon bin ich überzeugt.« Dave Stamm trat nach vorne und ergriff Berlin am Ellbogen. »Ich glaube, Sie machen da einen Fehler. DiPalma ist nicht irgendein Arschloch, das man zwei Sekunden nach seinem Tod vergißt. Wir sollten uns lieber in aller Ruhe darüber unterhalten. Vielleicht kommt etwas dabei heraus.« Berlin sah seinen Sicherheitschef nicht an. »Stamm, Sie haben soviel Rückgrat wie ein Spaghetti. Von jetzt an arbeiten Sie nicht mehr für mich. Für meinen Geschmack sind Sie ein bißchen zu sehr auf DiPalmas Seite.« »DiPalma und ich, wir sind beide Profis. Wir wissen, wie das Spiel läuft. Wenn Sie in eine heikle Situation geraten, dann werfen Sie einfach den Tisch um. Ein Problem kann man aber nicht immer lösen, indem man einen verschwinden läßt.« »Adieu, Stamm. Ich wünsche Ihnen einen sicheren Rückflug.« Stamm sah DiPalma an. »Ich hab's probiert, Frank. Mehr kann ich nicht machen.« »Ich verstehe«, antwortete DiPalma. Und zu Berlin gewandt sagte er: »Bevor Sie und Ihre Schlägerbande uns wegblasen, möchte ich Ihnen noch etwas sagen, das Sie sich meiner Meinung nach durch den Kopf gehen lassen sollten.« »Sie haben nichts, das ich überdenken könnte, Mr. DiPalma. Ich wünsche Ihnen und den Ihren Lebewohl.« »Ihr Spiel ist aus«, erwiderte DiPalma. »Alles, was Sie verbergen wollten, kommt jetzt ans Licht. Sie stehen bis zum Hals in der Scheiße und wissen es nicht.« 387
»Dummes Geschwätz, Mr. DiPalma. Ihr lächerlicher Bluff über meine Privatangelegenheiten wirkt überhaupt nicht auf mich.« »Ich bluffe nicht, Berlin. Fragen Sie Stamm.« Stamm trat näher und sah DiPalma an. »Frank ist ein Stehaufmännchen. Er ist nicht jedermanns Fall, aber eines ist sicher. Wenn er was sagt, dann kann man es sich hinter die Ohren schreiben. Und wenn er sagt, daß Sie tief in der Scheiße stecken, Mr. Berlin, dann sollten Sie lieber zu einer großen Schaufel greifen.« Berlin schnaubte. »Ich werde noch ganz naß hier draußen. Wir sollten uns wohl lieber im Wagen darüber unterhalten und den Fall ab jetzt besser der Polizei überlassen.« Stamm versperrte ihm den Weg. »Den Teufel werden Sie. Sie bezahlen mich für meinen Rat, und den bekommen Sie, ob es Ihnen paßt oder nicht. Nur, daß ich dieses Mal auch mich selbst schütze. Ich will wissen, was für einen Trumpf DiPalma im Ärmel stecken hat. Weil, Mister, wenn Sie gehen, dann stehe ich auf unsicherem Boden. Und darauf bin ich nicht allzu scharf, Mr. Berlin. Ab-so-lut nicht!« Berlin starrte ihn mehrere Sekunden lang an. »Also gut. Eine Minute mehr macht das Kraut auch nicht fett. Mr. DiPalma, Sie haben sechzig Sekunden Zeit, um ein Wunder aus dem Hut zu zaubern. Allerdings ist das letzte schon einige Zeit her. Und dazu waren, glaube ich, drei Weise aus dem Morgenland und eine Jungfrau vonnöten. Und um dafür in Frage zu kommen, ist Ihre Frau wohl nicht rein und unbefleckt genug.« »Wenn ich meine Schwester umgebracht hätte«, rief Jan, »wäre ich vielleicht genauso geworden wie Sie!« Auf Berlins Schläfen erschienen rote Flecken. Mit Mühe zwang er sich zur Ruhe. »Jetzt haben Sie nur noch fünfzig Sekunden, Mr. DiPalma«, sagte er. DiPalma sagte: »Meine Innentasche, Dave. Greif für mich hinein. Ich will nicht riskieren, daß ich bei einem Fluchtversuch erschossen werde, bevor meine fünfzig Sekunden vorbei sind.« 388
Stamm trat nach vorne, griff in die Innentasche von DiPalmas Jackett und nahm eine Brieftasche heraus. »Dazu gehört auch noch ein Ausweis«, sagte DiPalma. Stamm griff noch einmal hinein und brachte den Ausweis zutage. »Was ist das?« wollte er wissen. DiPalma deutete auf Berlin. »Zeig es ihm.« Stamm ging zu Berlin zurück. Nachdem er den Ausweis und den Inhalt der Brieftasche untersucht hatte, sagte Berlin an DiPalma gewandt: »Was Sie da haben, gehört also jemandem vom Geheimdienst Taiwans. Erzählen Sie mir nicht, daß Sie seit neuestem Ihr Einkommen mit Taschendiebstahl aufbessern.« »Diese Papiere«, erklärte DiPalma, »deuten darauf hin, daß der taiwanische Geheimdienst in Amerika eine Geheimoperation laufen hat. Und ich glaube nicht, daß das unserer Regierung gefällt. Eigentlich bin ich mir dessen ganz sicher. Das bedeutet, Mr. Berlin, daß bald der Teufel los sein wird, wenn die ganze Geschichte herauskommt.« »Nun, Mr. DiPalma, sie wird eben nicht herauskommen. Da müßte schon Ihre Stimme aus dem Grab sprechen.« »Ich habe bereits gesprochen. Und was ich gesagt habe, hat niemandem gefallen.«
Berlin schüttelte den rot angelaufenen Kopf. »Das sagt mir nichts. Rein gar nichts.« »Na gut, vielleicht sehen Sie die Sache in einem anderen Licht, wenn Ihnen das FBI einen kleinen Besuch abstattet.« »Wahrscheinlich sagen Sie mir als Nächstes, daß Ihr Rechtsanwalt ein Brieflein einwirft, wenn Sie nicht wieder an dem und dem Tag in Amerika sind, und so weiter, und so weiter. Wie schön, Freundchen. Das kaufe ich Ihnen nicht ab! Mich tricksen Sie nicht aus.« »Sie haben nicht zugehört. Ich trickse nicht. Drei taiwanische Agenten waren an der Sache beteiligt, und es sind einige ganz häßliche Morde geschehen. Die Brieftaschen und Ausweise der anderen zwei sind bereits in den Händen von Senator Quarequio. Sie müßten jetzt jeden Augenblick von ihm oder der Regierung Taiwans hören.« 389 »Sie meinen wohl, ich glaube...« In einem der Polizeiwagen quakte ein Funkgerät los. Der Beamte im Wagen nahm das Mikrophon ab, hörte hinein und rief dann seinen Vorgesetzten. Der Einsatzleiter lief über den Hof. Keiner sagte ein Wort, als er auf den Beifahrersitz kletterte und das Gerät an sich nahm. DiPalmas Magen brannte. Mit beiden Händen drückte Jan seine Rechte. Drei Minuten später lief der Einsatzleiter auf sie zu und stellte sich vor Berlin hin. Der Industrielle sah ihn zornig an, seine Nasenflügel bebten. »Und?« fragte er. »Meine Vorgesetzten wollen mit Ihnen sprechen«, sagte der Beamte. »Sie müssen sofort mitkommen. Die anderen dort sollen freigelassen und unverzüglich nach Amerika geflogen werden.« Er befahl, daß man DiPalma das Schwert und den Stock aushändigen solle. DiPalma atmete auf. Sein Kopf sank auf die Brust. Jan klammerte sich an seinen Arm. Sie bebte am ganzen Körper, während sie lautlos vor Erleichterung weinte. »Da muß ein Fehler vorliegen!« rief Berlin. »Sie wissen nicht, wer ich bin!« Zwei Polizisten hatten ihn bereits in ihre Mitte genommen. DiPalma legte den Arm um Jan, dann lächelte er Berlin an. In diesem Lächeln steckte keinerlei Wärme. »Das nennt man Politik«, sagte er. »Das größte aller Spiele! Und Sie haben soeben verloren. Es hat lange genug gedauert, Mr. Berlin, aber soeben haben Sie ausgespielt.« 390
Epilog April Es war an einem Mittwoch spät am Abend. Der erste Frühlingsschauer hatte aufgehört. DiPalma und Jan standen vor dem Fenster des Schwertzimmers und betrachteten einen Regenbogen über New Yorks Hafen. Beide trugen Hausschuhe und Bademäntel. Jan nippte an einem verdünnten Scotch, DiPalma trank Kräutertee. Lange standen sie schweigend da. Schließlich sagte Jan: »Du wirst mir das hoffentlich verzeihen, aber nach Asien treibt mich keine überwältigende Sehnsucht mehr.« »Schon vergeben.« »Apropos vergeben... Wie kommt es, daß Berlin jetzt doch nicht wegen der Ermordung seiner Schwester angeklagt wird?« »Kuhhandel. Die anderen Verfahren haben mehr Gewicht. Immerhin hat er seinen Sohn ermorden lassen und sehr lange Geld aus dem Rauschgifthandel gewaschen. Die Staatsanwaltschaft will eben gewinnen/ da sind sie nicht anders als wir. Und alte Sünden sind einfach nicht ihre Sache.« Jan blickte ihn an. »Aber im Verfahren wird doch ans Licht kommen, was er ihr damals angetan hat, oder?« »Nein. Darüber wollte ich ja mit dir sprechen. Wir haben heute die Vereinbarung getroffen.« »Vereinbarung?« »Ich, Quarequio, die Staatsanwaltschaft und die Regierung von Taiwan. Wir verhandeln schon, seit wir zurück sind. Heute haben wir uns endlich geeinigt. Ich könnte mir bessere Ergebnisse denken, aber es war das einzig mögliche.« »Ich werde das Gefühl nicht los, daß Nelson Berlin einiges erspart wird.« 391
»Wie du weißt, war das erste Abkommen ein Tausch: drei Tote gegen drei Lebende. Taiwan hat seine drei Geheimagenten zurückgekriegt — oder was von ihnen übriggeblieben ist. Und ihre Ausweise. Als Gegenleistung konnten du, ich und Todd Taiwan unversehrt verlassen.« »Der letzte Teil davon gefällt mir«, meinte Jan. »Zweitens: Vor der Staatsanwaltschaft zeigen Chacon und Stamm mit den Fingern aufeinander und auf Berlin. Daß Berlin den Tod seines Sohnes angeordnet hat, ist ziemlich sicher. Nicht so sicher ist, wer das Strychnin in den Fusel gegeben hat. Früher oder später wird das FBI schon auf eine Antwort kommen. Und jetzt wird das Ganze heikel.« Jan nippte an ihrem Drink. »Ich bin schon sehr gespannt.« »Bevor wir nach Taiwan geflogen sind, habe ich Quarequio gebeten, mit den Taiwanern, dem CIA, dem FBI und der ganzen übrigen Scheißwelt Kontakt aufzunehmen, und zwar noch vor der Landung unseres Flugzeugs.«
»Guter alter Junge.« »Wir haben die Taiwaner dazu bewegt, nachzugeben und uns gehen zu lassen. Aber danach haben sie auf stur geschaltet. Ich wollte die Rehabilitierung von Thomas Service erreichen. Sie sollten mit der Wahrheit darüber herausrücken, was eigentlich zwischen Berlin und seiner Schwester passiert ist.« »Aber dazu waren sie wohl nicht bereit?« DiPalma nickte. »Sagten geradeheraus nein. Sonst hätten sie ihr Unrecht eingestanden. Sie hätten damit an Tschiang Kaischeks Lack gekratzt.« »Das können wir doch nicht zulassen!« rief Jan. »Warum gehst du nicht einfach hin und veröffentlichst die ganze Geschichte ohne sie und rehabilitierst Service im Alleingang?« DiPalma schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Soviel ich weiß, liebte er China. Liebte es mehr als selbst viele Chinesen. Ich wollte, daß die Chinesen seinen guten Ruf unter den Chinesen wiederherstellen. Ich will auch, daß Martin Mackie in Frieden ruhen darf. Hätte ich denn unter die Leu392
te bringen sollen, daß er nicht astrein war und Schmiergelder bekam? Ich schulde ihm doch so viel.« Er sah Jan an. »Martin ist keines schönen Todes gestorben.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »So eine kleine Tunte hat ihn hereingelegt, habe ich gehört.« »Richtig. Aber ohne Gegenleistung bekommt man nichts. Die Chinesen sind damit einverstanden, die Akte Service zu bereinigen. Offiziell ist er jetzt kein Mörder mehr. Offiziell ist er jetzt das Opfer einer sozialistischen Verschwörung. Offiziell bedauert die Regierung Taiwans diesen Irrtum und will ihn gerne, soweit ihr das möglich ist, berichtigen. Da, wo es zählt, wird der Name von Service rehabilitiert.« »Und Mackie?« »Die Regierung von Taiwan will ihren Einfluß auf die Polizei in Hongkong geltend machen, damit sie über sein Privatleben den Mantel des Schweigens deckt. Sein guter Ruf bleibt erhalten.« »Du hast also bekommen, was du wolltest?« »Wie gesagt - ohne Gegenleistung ist das nicht abgegangen. Ich habe meinerseits den Taiwanern versprochen, wegen Berlin und seiner Schwester nichts zu unternehmen. Ade, du Story des Jahrhunderts.« Er starrte zum Fenster hinaus. »Über den Begriff der Treue habe ich von Todd und Benjy einiges dazugelernt. Das Wort ist heutzutage nichts mehr wert. Aber die zwei... Mein Gott, jedesmal wenn ich an sie denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Die haben mir wirklich die Augen geöffnet.« »Das mit Mackie verstehe ich«, sagte Jan. »Aber Thomas Service? Was schuldest du ihm?« »Du hättest alles über ihn lesen müssen, so wie ich. Seine Briefe und was seine Eltern und chinesischen Freunde über ihn geschrieben haben. Du hättest die Aufzeichnungen der Mission über ihn lesen müssen. Was das für ein Mann war... So etwas gibt es heute nicht mehr. Der war mehr als treu. Der Kerl war ein Heiliger. Da muß einfach einer aufstehen und sagen, daß sein Leben nicht umsonst war.« 393
Mit Tränen in den Augen küßte Jan seine Wange. »Ich liebe dich. Und jetzt verstehe ich dich.« Dann runzelte sie die. Stirn. »Was ist los?« DiPalma deutete mit dem Finger auf die Straße. »Da unten. Ist das nicht...?« »Mein Gott, du hast recht. Das ist Todd. Himmel, er hat einen Koffer dabei. Wo geht er hin?« »Ich weiß es nicht.« »Frank...?« Er hörte den besorgten Tonfall ihrer Stimme und drehte sich schnell um. Sie deutete auf eine leere Stelle rechts von ihr an der Wand. Ein Schwert fehlte. DiPalma schaute auf den leeren Fleck. »Das, mit dem Todd den Schwarzen General umgebracht hat, ist weg.« Er schaute zum Fenster hinaus. »Der Koffer bedeutet, daß er dieses Mal endgültig geht. Mein Gott, hoffentlich habe ich unrecht. Ich liebe den Kleinen doch. O Gott, er schaut zu uns herauf! Als ob er sich verabschieden wollte.« DiPalma versuchte das Fenster zu öffnen, aber es ließ sich nicht bewegen. Er brüllte Todds Namen. Der Junge wandte sich ab und schritt in die zunehmende Dunkelheit hinein. »Er hat das, was er hier zu tun hatte, zu Ende geführt«, flüsterte Jan. »Für ihn ist es vorbei. Sein Karma ist erfüllt, denke ich.« Sie vergrub ihr Gesicht an DiPalmas Brust und weinte. »Armer Junge. Armer Junge...« Lange blieb es still. DiPalma brach das Schweigen schließlich: »Wenn sein Karma erfüllt ist, warum hat er dann das Schwert mitgenommen?« 394