Uwe Anton und Susan Schwartz
SunQuest Band 6
Tenebrae
Fabylon
Die Ereignisse überschlagen sich. Shanija Ran, die i...
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Uwe Anton und Susan Schwartz
SunQuest Band 6
Tenebrae
Fabylon
Die Ereignisse überschlagen sich. Shanija Ran, die ihr Ziel fast erreicht hat, steht im Zentrum der Ereignisse, als die Passage sich öffnet und Finsternis das Licht der drei Sonnen auslöscht. Die Trägerin der Sonnenkraft muss die Entscheidung treffen … Der letzte Band des sechsbändigen Zyklus um die DreiSonnen-Welt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier einmal gestrandet ist, kommt nie mehr weg.
Die Macher UWE ANTON Geboren 1956 in Remscheid. Bereits während der Schulzeit professionelle Veröffentlichungen. Nach Abitur und Studium der Anglistik und Germanistik ab 1980 als Schriftsteller und Übersetzer tätig. Er hat über 20 Romane, Anthologien und Sachbücher, 100 Kurzromane bzw. Kurzgeschichten und 600 Essays publiziert und über 200 Romane und Erzählungsbände sowie über 500 Comics aus dem Amerikanischen und Englischen übersetzt. Gilt als der deutsche Experte für Philip K. Dick. 1991 wurde nach einer seiner Geschichten das Tanztheater WILLKOMMEN IN DER WIRKLICHKEIT an den Städtischen Bühnen Münster uraufgeführt. Seit 1998 Autor im Perry Rhodan-Team. Nachdem er lange Jahre mitten in einem der beiden Zentren Wuppertals gewohnt hat, ist er nun wieder mit Familie und ein paar Büchern in einem grüneren Teil dieser Stadt ansässig, zwei Fußminuten von einem weitläufigen Wald und zehn Autominuten von der Innenstadt entfernt. Den Büchern ist der Wald egal, der Familie und vor allem dem Hund nicht. SUSAN SCHWANZ Unter diesem Künstlernamen begann die 1961 in München geborene Uschi Zietsch einst, für Perry Rhodan zu schreiben. Seither behielt sie den Namen für Serien bei, unter anderem bei Bad Earth, Maddrax, Das Volk der Nacht, Raumschiff Promet und nun aktuell in der Serie Elfenzeit, für die sie zudem als Chefautorin tätig ist und verantwortlich fürs Konzept zeichnet. STEFAN LECHNER Der 1959 in Steyr (Oberösterreich) geborene Künstler lebt und arbeitet in Innsbruck. Bereits als Schüler begann er mit der SF-Malerei und entwickelte mit der Zeit eine eigene Maltechnik (Gouachemalerei auf Karton, gemischt mit Acryl, Airbrush und 3D-Modelling). 2005 erhielt er eine Nominierung für den Kurd-Lasswitz-Preis für ein Cover. Lechner gestaltet Titelbilder für verschiedene Verlage. Homepage: ooge.com
Elfter Teil Uwe Anton
Perditus
1. Shanija blieb stehen. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, stellte sie fest. Natürlich war sie glücklich, weil Darren wieder bei ihr war. Aber das war es nicht allein. Die Stadt Choc hatte etwas an sich, das sie ihre Sorgen vergessen ließ. Seit sie und Mun aus der Kutsche des Transportkontors Transless-Express gestiegen waren, war Shanija leicht und beschwingt zumute, und das gefiel ihr nicht. Je tiefer sie in die Stadt vordrangen, desto gelöster fühlte sie sich. Das war unnatürlich. Doch damit wollte sie sich jetzt nicht beschäftigen. In diesem Moment wollte sie sich nur eng an den athletisch gebauten Gefährten schmiegen, während die kleine Gemeinschaft von den Außenbezirken zum Zentrum der Stadt gelangte. Mun war überzeugt, dort eine gute Unterkunft für sie zu finden. Ein alter Bekannter von ihm betrieb eine angesehene Herberge. Die Freunde hatten sich eine Menge zu erzählen gehabt, nachdem sie sich hier in Choc wiederfanden. Mittlerweile war Shanija davon überzeugt, dass die Mitglieder der Gruppe aneinander gekettet waren, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. Darren, Mun, Seiya, As'mala und sie selbst – sie alle spielten eine wichtige Rolle bei den Vorgängen auf Less, die sich nunmehr dramatisch zuspitzten, und Shanija konnte und wollte nicht mehr glauben, dass nur der Zufall sie zusammengebracht hatte. Zweimal. »Choc ist ein seltsamer Name«, sagte Shanija. »Er erinnert mich an das gleichnamige Süßzeug, wie ich es von der Erde her kenne.« Darren lachte und zeigte auf eins der Häuser vor ihnen, genauer gesagt auf dessen Dach. »So ist es auch. Siehst du diese zähe dunkle Flüssigkeit, die beständig heruntertropft?« »Klar doch.« Shanija lachte. Die Masse sah aus wie ihre köstliche, beglückende irdische Schokolade, wenn auch nicht wie die Weiße mit Minzfüllung, sondern wie die klassische Braune aus Kakaoboh-
nen. Wenn sie als Kind soviel Schokolade gehabt hätte, wie hier auf die Dächer geschmiert wurde … … wäre sie wahrscheinlich ein kleines, dickes Mädchen geworden, das es niemals auf die Militärakademie geschafft hätte. Sie hätte vor dem Holovid gehockt, sich mit Süßigkeiten vollgestopft und ihr Heil in Holospielen gesucht, bis sie sich den letzten Rest Verstand aus dem Kopf gezockt hätte. Und sie hätte ihren Vater vielleicht geliebt. Oder er hätte sie lieber gehabt. »Das ist dafür verantwortlich.« »Wofür? Für den Namen der Stadt? Ja, Schokolade macht einen glücklich, aber …« »Nicht von ungefähr nennen die Chocer das Zeug Schokolade«, sagte Darren. »Jeden Tag tragen Arbeiter es von neuem auf die Dächer auf, und gegen Nachmittag verflüssigt es sich, rinnt über spezielle Regenrinnen in den gut ausgebauten Untergrund der Stadt und wird dort von den Arbeitern neuerlich in Platten gepresst, die nach der Nachtkühlungsphase wieder auf die Dächer gebracht werden.« »Mun hat so etwas verlauten lassen«, sagte Shanija, »aber ich habe nur mit halbem Ohr zugehört, es nicht ernst genommen. Das klang so verrückt, dass ich nicht wusste, ob er mich veräppeln wollte …« »Und diese Schokolade sorgt dafür«, unterbrach Darren sie, »dass die Bürger von Choc glücklich und zufrieden …« Der Rest seiner Worte ging in lautem Trompetenschall unter. »Platz für Maximus Xam!«, vernahm Shanija aus einiger Entfernung. »Macht Platz für den Herrn der Schokolade! Platz für Xam den Süßen! Den Großen! Den Vierten! Den Einzigen! Platz für Xam! Xam! Xam! Platz! Platz! Platz!« Die Passanten hatten es auf einmal eilig. Sie liefen zu den Häusern, drückten sich gegen die Mauern, um den geforderten Raum zu schaffen. Sie wirkten dabei keineswegs unwillig, ganz im Gegenteil; ihre gute Laune schien sich noch zu verbessern, als wäre es eine große Ehre, einen Blick auf Maximus Xam werfen zu können. Plötzlich wurde es ganz still, und Shanija vernahm rhythmische Schritte, die sich langsam näherten. Dann bogen vier menschliche
Soldaten vorn um die Ecke. Sie wirbelten mit ihren Hellebarden, tänzelten vorwärts und zur Seite, liefen zusammen, bauten sich Rücken an Rücken auf, reckten die Waffen in die Höhe, sprangen wieder auseinander und gingen mit Paradeschritten weiter. Soldaten war der falsche Begriff, wurde Shanija klar. Operettenkrieger wäre angebrachter gewesen. Ihre Rüstungen waren protzig, aber hinderlich und viel zu unpraktisch. Der Tand, das bunte Zierwerk würden sie bei einem Kampf nur behindern. Shanija hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie diese vier lächerlichen Schauspieler im Ernstfall in weniger als zehn Sekunden kampfunfähig gemacht hätte. Dennoch ging ein Raunen durch die Menge. »Der kleine Prinz!«, hörte Shanija. »Der Prinz kommt!« Die lachhaften Söldner blieben in etwa zehn Metern Entfernung stehen, drehten sich um, schienen auf etwas zu warten, bis … Shanijas Beschwingtheit verwandelte sich in Verwirrung, aber nur kurz. Dann wurde Fassungslosigkeit daraus. Zwei Frauen folgten den Gardekriegern, auf ihre Rücken war ein Gestell geschnallt, und darauf … Shanija rieb sich die Augen, konnte nicht glauben, was sie sah. Die Frauen – ebenfalls Menschen – trugen scheinbar mühelos eine Sänfte auf den Schultern, ein schweres, breites, samtbezogenes Ding mit einem kleinen thronartigen Sessel, auf dem ein großer, schlanker Junge saß. Das muss ihre Psimagie sein, dachte Shanija, sie müssen schwere Lasten tragen und ertragen können. Ein normaler Mensch würde darunter zusammenbrechen. Um dieses Ding zu tragen, sind normalerweise mindestens sechs kräftige Athleten notwendig. Ein Kuntar rempelte sie an, als er von der Straße zur nächsten Hauswand lief, um dem kleinen Prinzen Platz zu schaffen. Shanijas rechte Hand fuhr an den Schwertgriff, mit der Linken überzeugte sie sich gleichzeitig davon, dass das Echsenwesen sie nicht bestohlen hatte. Gemeinsam mit den anderen trat sie nun ebenfalls an den Straßenrand. »Das sind starke Frauen, was?«, bemerkte Seiya beeindruckt und
stieß As'mala leicht an. »Die haben mehr Muckis als du.« »Ich setze meine Muckis lieber anderweitig ein«, erwiderte die blonde Frau. Die vier Operettenkrieger setzten den Weg fort, und Shanija konnte bald die beiden Frauen mit der Sänfte auf den Schultern gut erkennen. Sie sahen einander ziemlich ähnlich, waren wahrscheinlich Schwestern. Ihre Gesichter waren zu frohlockenden Masken erstarrt, doch die Zeichen der Anstrengung waren unübersehbar. Beide Trägerinnen ächzten unter ihrer gewaltigen Last. »Der kleine Prinz!«, jubilierten sie im Singsang. »Der kleine Prinz!« Die Stimme der größeren, jüngeren Frau war einigermaßen ausgebildet und konnte zumindest den Ton halten, was Shanija von der kleineren, etwas älteren Trägerin nicht behaupten konnte. Na schön, dachte Shanija, wenn ich singe, muss das Schiff nicht sinken, damit die Ratten es verlassen. Die Passanten störten sich nicht daran. Sie applaudierten und jubelten, als das seltsame Gespann an ihnen vorbei zog. »Was … hat das zu bedeuten?«, fragte Shanija. »Das ist der Herr der Schokolade«, antwortete Darren. »Der nominelle Herrscher über die Stadt, auch wenn er de facto nicht die geringste Macht ausübt. Er hat nur repräsentative Pflichten. Solange er sein Amt ausübt und sich hauptsächlich von Schokolade ernährt, besagt die Legende, wird die Stadt ein blühendes Dasein führen, und ihm wird jeder Wunsch erfüllt. Allerdings endet seine Herrschaft, sobald seine Dienerinnen ihn nicht mehr tragen können.« »Ist das dein Ernst?«, rief Shanija. »Sie stopfen ihn mit Schokolade voll, und wenn er zu viel zugenommen hat, wird er abserviert? Das ist verrückter als alles, was ich bisher erlebt habe.« »Kann schon sein.« Darren grinste jungenhaft. »Aber das System funktioniert.« »Dieser kleine Prinz ist allerdings gertenschlank!« Darren zuckte mit den Achseln. »Das ist wohl seine Psimagie. Er nimmt nicht zu und verlängert auf diese Weise seine Herrschaft.« »Und … die beiden Frauen?« »Sind seine persönlichen Dienerinnen. Sie müssen ihn kreuz und
quer durch die Stadt befördern, ihm den Rücken kraulen, ihn mit Schokolade versorgen, ihm … nun ja, jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Vermutlich werden sie ihm auch den Hintern abwischen.« »Oder Zucker in denselben blasen. Und wie oft ziehen sie die Show mit diesem Prinzen ab?« »Zwei-, dreimal in der Woche. Eine uralte Tradition, um den Aberglauben zu bestärken. Wie gesagt, seit die Stadt einen Herrn der Schokolade hat, blüht sie im friedlichen Miteinander. Und das Choc selbst, diese schokoladenartige, semiorganische Flüssigkeit, sorgt letzten Endes für den Wohlstand der Stadt.« »Was hat es nun genau mit dieser Substanz auf sich, abgesehen davon, dass sie durch ihre Strahlung jeden glücklich macht?« »Sie nährt sich von Ungeziefer aller Art, reinigt die Luft, verströmt Wohlgerüche. Sie erzeugt also in jeglicher Hinsicht ein tolles Klima. Natürlich ist es sauteuer, jede Nacht das Choc neu zu pressen und morgens auf die Dächer zu hieven. Aber die reichen Bewohner, die das Privileg haben, im Zentrum leben zu dürfen, leisten dafür gern ihren Tribut, weil sie letztendlich wieder davon profitieren. Jede Stadt lebt von den Steuern ihrer Bürger, und je reicher die sind, desto höher sind die Erträge.« Shanija schüttelte den Kopf. »Und als Symbol muss sich ein Schokoprinz opfern, der das Zeug vermutlich morgens, mittags und abends in sich hineinstopft.« Sie schüttelte sich angewidert, ihr wurde allein bei dem Gedanken daran schon übel. Auch Seiya und As'mala zogen kritische Mienen und wölbten die Hände bezeichnend über ihren Bauch. »Und nimmt noch sieben bis zehn Zwischenmahlzeiten pro Tag.« Darren lachte. »Der Schokoprinz ist der lebende Beweis dafür, dass Schokolade nicht schädlich, sondern gut für den Körper ist. Solange er nicht zunimmt, natürlich, und die Dienerinnen nicht unter seiner Last zusammenbrechen. Dann wird es Zeit für einen neuen Repräsentanten.« »Und der bisherige Amtsinhaber dankt freiwillig ab?« »Das glaube ich nun nicht. Ich weiß nicht, was mit den ausgedienten Prinzen geschieht. Vielleicht jagt man sie aus der Stadt, vielleicht
ertränkt man sie in einem riesigen Bottich mit Schokolade …« »Jetzt willst du mich aber wirklich auf den Arm nehmen!« »Aber gern, meine Schöne …« Darren drehte sich um und sah der seltsamen Prozession nach, die sich nun langsam von ihnen entfernte, begleitet von den sich fortsetzenden Rufen: »Der kleine Prinz!«, »Xam der Große!« und »Unser Herr! Unser Herr!« Die hier gerade noch vorherrschende Begeisterung ließ allerdings rasch nach. »Wir sollten uns beeilen«, ergriff Mun das Wort. »Sonst kommen wir hier nicht mehr unter.« »Es ist doch noch heller Tag«, sagte Shanija verwundert. »Trotzdem. Bald werden wir kein Quartier mehr bekommen. Das besondere Klima in Choc ist am Vormittag am besten. Zum Nachmittag hin, wenn die Verflüssigung stattfindet, lässt das atmosphärische Hochgefühl allmählich nach. Die Bewohner der Stadt gehen zeitig schlafen. Niemand von ihnen will an die Tristesse eines normalen Lebens erinnert werden.« »Du musst es ja wissen«, sagte Shanija. »Also gut, gehen wir weiter.« Sie hatte genug vom kleinen Prinzen gesehen und richtete den Blick gen Himmel. Täuschte sie sich, oder zogen am Horizont dunkle Wolken auf? Und sie schienen sich Choc rasend schnell zu nähern …
2. Sie waren keine fünfzig Meter weit gekommen, als die Wolken sich schon über der Stadt zusammenballten, und kurz darauf erhellten die ersten Blitze den plötzlich nachtschwarz gewordenen Tag mit trügerischem rotem Zwielicht. Shanija rannte los, suchte einen Unterschlupf, fand keinen, lief über die Straße, die sich sekundenschnell in einen Sumpf verwandelte, spürte die Einschläge von Regentropfen auf ihrer Haut, die so schmerzhaft waren, als stammten sie von kleinen, scharfen Steinchen, fürchtete, buchstäblich vom Blitz getroffen zu werden … und da klarte der Himmel wieder auf. Das Unwetter war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Entgeistert stand Shanija da und starrte empor, als Mun ihr eine Hand auf die Schulter legte. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit. Nur noch ein paar Meter.« Sie ließ zu, dass er sie mit sich zog. »Was war denn mit dir los?«, fragte Darren verwundert, als er zu den beiden aufschloss. Seiya und As'mala blieben hinter ihnen, in eine Diskussion über den sinnvollen Einsatz von Schokolade vertieft. »Ich weiß nicht, ich dachte … das Unwetter …« Was war gerade hier passiert? Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, dachte Shanija verwirrt. Die Passage … Mun hatte es ihr unterwegs erklärt, nachdem sie das Zentralarchiv verlassen hatten: Die drei Sonnen, Fathom und die drei Monde schoben sich langsam in eine Linie. Eine totale Finsternis würde stattfinden, und die beginnende, nur alle 257.000 Jahre stattfindende Konstellation löste bereits jetzt Veränderungen aus. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, dachte Shanija. Alles ist unterwegs und im Fluss. Je mehr ich versucht habe, mich zu beeilen, desto langsamer bin ich geworden. Und bald werde ich überhaupt keinen Einfluss mehr auf die Geschehnisse haben … Mun blieb stehen. »Da ist die Herberge«, sagte er. »Ich bin mit
dem Wirt gut bekannt. Wir werden die Nacht hier verbringen, suchen nach geeigneten Transportmitteln, und morgen geht es dann zum Endspurt. Jetzt wendet sich alles zum Guten.«
* Das Haus war nicht groß, die Fassade leuchtete in einem hellen, sauberen Weiß, das der Platzregen regelrecht zum Strahlen gebracht hatte, und der Bürgersteig davor war sauber gefegt … bevor der Wolkenbruch ihn mit einer feinen, dünnen Schlammschicht überzogen hatte, die langsam trocknete. Mun öffnete die Tür und ging voraus. Shanija war angenehm überrascht, als sie einen sauberen, ordentlichen Schankraum sah. Robuste Holztische, an der hinteren Wand eine lange Theke, dahinter ein deckenhohes Regal mit Dutzenden, wenn nicht sogar Hunderten Karaffen. Und ein glatt gefegter Boden. Sie sah sich nach einer Klingel oder Glocke um, mit der man dem Wirt kundtun konnte, dass Kundschaft eingetroffen war, als durch die Tür in der hinteren Wand ein Mann in den leeren Schankraum stürmte und wie vom Schlag getroffen stehen blieb. »Mun!«, stieß er hervor. »Bist du hier, um mich zu retten?« »Eigentlich nicht, Haak Tenhaaken«, antwortete der Adept. »Gut siehst du aus, alter Freund, ein wenig grauer zwar als damals, aber so schlank wie vor zwanzig Jahren. Und Herbergswirt bist du auch noch – deswegen sind wir hier. Wir suchen eine Unterkunft.« »Aber weißt du denn nicht, was hier in Choc geschieht? Siehst du nicht die Zeichen der Zeit?« »Wir wollen nur eine Nacht bleiben«, erwiderte Mun. »Wir haben eine Pause dringend nötig, da wir morgen unsere anstrengende Reise fortsetzen müssen.« »Bete mit mir. Wenn die Gilde der Wissensträger schon einen Adepten des Zentralarchivs schickt …« Shanija hatte den Eindruck, dass die beiden geflissentlich aneinander vorbei redeten.
»Ich verstehe den Grund für deine Sorge«, sagte Mun, »aber …« »Sieh doch einmal hinaus! Unberechenbares Wetter, innerhalb weniger Minuten bricht ein Sturm los, gleich darauf scheinen wieder die Sonnen … Das alles schlägt uns aufs Gemüt, macht uns mürrisch und verzweifelt. Nichts ist mehr wie früher … große Veränderungen stehen an … Kannst du das aufhalten, Mun?« »Ist es so schlimm?«, fragte der Adept und legte dem Alten tröstend eine Hand auf den Arm. »Kannst du uns nun Unterkunft geben oder nicht?«, mischte Shanija sich ungeduldig ein. Der Alte wandte sich zu ihr und musterte sie, als würde er sie und die anderen Begleiter jetzt erst bemerken. »Unterkunft? Ihr solltet die Stadt so schnell wie möglich verlassen, das Weite suchen, solange ihr es noch könnt. Flieht, ihr Ungläubigen, flieht!« »Nicht heute«, sagte sie. »Morgen reisen wir weiter, wie Mun gesagt hat.« Haak Tenhaaken sah wieder Mun an. »Und du gehörst du ihnen? Du wirst …« »Die Unterkunft«, sagte Shanija nachdrücklich. Der Alte lachte. »Seht euch um! Mein Haus ist leer! Der Sturm verweht alles, woran ich mich mein Leben lang festgehalten habe. Selbstverständlich kann ich euch Unterkunft geben, wenn ihr unbedingt in euer Verderben rennen wollt!« »Wie viel verlangst du für ein Zimmer?« »Geld?« Er schüttelte den Kopf. »Kann Geld mich retten, wenn die Welt untergeht? Ihr könnt kostenlos hier wohnen und euch verköstigen, solange es euch gefällt … wenn Mun mir bei meinen Gebeten beisteht.« »Natürlich«, sagte der Adept sanft. Verwundert schüttelte Shanija den Kopf. Fast jedes Mal hatten sie auf ihrer langen Reise um Sicheln, Halbmonde oder Sonnen feilschen müssen. Da war das doch eine angenehme Überraschung. »Vielen Dank«, sagte sie. »Wir werden deine Großzügigkeit nicht über Gebühr beanspruchen.« Der alte Tenhaaken nickte geistesabwesend. »Wie ihr meint. Ich
gehe die Lhasas versorgen. Danach findet ihr mich in meinen Privatgemächern. Kommt ruhig zu mir, wenn ihr mit mir beten wollt.« »Später vielleicht«, sagte Mun. Fragend sah Shanija den Adepten an, nachdem der alte Mann ihnen die Zimmerschlüssel ausgehändigt und sich dann zurückgezogen hatte. »Siehst du es nicht als deine Pflicht an, ihm in dieser Krise beizustehen?« »Wie ich schon sagte, vielleicht später. Ich vermute, dass es hier eine Außenstelle des Zentralarchivs gibt. Die sind in mancherlei Städten vorhanden, die so exponiert sind wie Choc. Dort können sich Adepten auf Reisen melden, wenn sie Probleme haben, oder wichtige Mitteilungen hinterlassen. Ich werde mich auf die Suche nach dem Büro machen. Vielleicht erfahre ich dort, wo genau die Stele von Majakar sich befindet … oder was es mit ihr auf sich hat. Im Zentralarchiv durfte ich ja nicht mehr danach forschen.« »Ich komme mit«, sagte Seiya schnell. Dann zögerte sie, anscheinend erschrocken über ihren Ausbruch. Unsicher sah sie Mun an. »Ich meine, ich mache mich kurz frisch, und …« »Dafür ist leider keine Zeit«, sagte der Adept streng und wollte sich abwenden. »Dann … komme ich so mit.« Mun richtete die schwarzen Augen auf sie. »Hältst du das für klug?«, fragte er. »Das vielleicht nicht«, antwortete die Prinzessin. »Aber ich befürchte, es muss sein.« Der Adept zögerte und nickte schließlich knapp. Seiya folgte ihm hinaus.
* Missmutig sah As'mala sich im Gasthaus um. Sollte sie sich einen Spaß machen, zu dem Wirt gehen und zusehen, wie er seine Gottheit um Vergebung, Erlösung oder Rettung anflehte? Oder nach
dem Weinkeller suchen, den es in solch einem guten Haus mit Sicherheit gab? Sie schaute aus dem Fenster. Kurzzeitig hatte es wieder geregnet, aber auch diesmal war es nur ein kurzer, eher milder Schauer. Nachdenklich blickte As'mala zu Shanija und Darren, die leise miteinander flüsterten, sich tief in die Augen sahen, Nasen, Fingerspitzen und andere Körperteile aneinander rieben. As'mala vermutete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die beiden übereinander herfielen. Wahrscheinlich würden sie es nicht mal bis in ihr Quartier schaffen. As'mala verspürte allerdings keine Lust, ihnen dabei zusehen zu müssen, wie sie sich miteinander vergnügten. Oder vielleicht doch? Vielleicht konnte sie ja mitmachen, das würde sie auf andere Gedanken bringen. Aber nein, sie bezweifelte, dass Shanija oder Darren sie dazu einladen würden, und es wäre auch falsch. Die beiden waren ihre Freunde, und so etwas tat man nicht mit Freunden, auf die man sich verlassen musste. Das brachte nur Ärger und zerstörte Beziehungsgefüge, die aufzubauen man sich lange abgeschuftet hatte. »Ich glaube …«, sagte sie. Weder Shanija noch Darren richteten die Aufmerksamkeit auf sie. As'mala sah ein, dass die beiden in ihrer gemeinsamen Welt versunken waren und nichts um sich herum wahrnahmen, Wiedersehensfreude hin oder her. Nun ja, sie hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt, wäre nach so langer Zeit ihr Lover ihr erneut über den Weg gelaufen. »Ich glaube, ich gehe mir jetzt einen ansaufen«, setzte sie zu Ende und ließ den Inhalt eines Beutels klimpern, den sie hinter der Theke gefunden hatte. Allzu viel würde sie ihm allerdings nicht entnehmen. Der alte Mann hatte zwar gesagt, sie sollten sich bedienen, aber so hatte er das bestimmt nicht gemeint. Doch ein bisschen zu nehmen entsprach As'malas Diebesehre, das durfte sie nicht vergessen. Nicht nach all dem – und dem, was noch bevorstand. Zu ihrer Überraschung löste Shanija sich von Darren und drehte sich zu ihr um. »Bei diesem Wetter?«, murmelte sie. As'mala deutete aufs Fenster. »Es hat aufgehört«, antwortete sie.
»Ihr habt das nicht mitbekommen, der Spuk dauerte nur ein paar Minuten …« »Nur ein paar Minuten …« Shanija sah sie halb bedauernd, halb erwartungsvoll an. Offensichtlich kämpfte sie mit sich. Wahrscheinlich hätte sie liebend gern gesagt: Ach, bleib doch bei uns, Mun und Seiya sind bestimmt bald zurück, und wir haben uns noch so viel zu erzählen … Dann lenkte Darren sie durch eine leichte Berührung ab, und As'mala wusste, was Shanija im Grunde wollte. Leichtfüßig sprang sie auf. »Viel Spaß!« »Den wünsche ich dir ebenfalls«, sagte Shanija, und Darren nickte ihr grinsend zu. As'mala war froh, als sie die Herberge verließ. Sie bekam gerade noch mit, wie Shanija und Darren Hand in Hand aus der Schankstube nach oben stürmten, und trat kopfschüttelnd und lächelnd auf die Straße.
* Shanija spürte, wie Darren in ihr erschlaffte, blieb noch einen Augenblick auf ihm sitzen, den Rücken zurückgebogen, damit sie ihn so lange wie möglich in sich behalten konnte. Aber irgendwann entglitt er ihr, und sie sank langsam nach vorn, suchte seinen Mund und küsste ihn. Er murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte, in diesem Moment auch nicht verstehen wollte. Jetzt genügte es ihr, Sex mit ihm zu haben. Zum zweiten Mal binnen einer Stunde, und es war besser als das erste gewesen, weil es viel, viel länger gedauert hatte. Seine Hände lagen noch immer auf ihren Brüsten, die leicht schmerzten, ein süßer Schmerz. Wie schön Sex doch ist, dachte sie. Wie schön, dass ich Spaß daran habe. Viel hatte nicht gefehlt, und es wäre alles anders gekommen. Shanija wusste nicht, wieso sie sich ausgerechnet jetzt, in diesem köstlichen Augenblick, daran erinnerte. Daran, wie sie als Kind … Sie versuchte, den Gedanken, die Erinnerung, zu verdrängen, aber
es gelang ihr nicht.
* Zwischenspiel (Washington-York-State, Februar 3197 Noch sieben Jahre) »Was suchst du denn noch hier?«, fuhr Mutter mich an. »Solltest du nicht längst in der Schule sein?« Sie wirkte seltsam nervös; normalerweise war sie viel geduldiger mit mir. »Mein A…« Mein Unterarm tat fürchterlich weh. Seit ich ihn mir gebrochen hatte, schmerzte er immer wieder. Mutter reagierte jedes Mal komisch darauf, wenn ich es ihr sagte. Als wäre es ihr peinlich. Als wolle sie nicht, dass mein Arm wehtat. Aber sie unternahm nie etwas, schickte mich auch nicht zu einem Arzt. Und mit Vater konnte ich ohnehin nicht darüber sprechen. Wenn ich nur das Wort Arm erwähnte, schlug er zu. Dann tat mir was anderes weh. Seine Art, mich zu trösten. »Mein Aufsatz … ich habe meinen Aufsatz vergessen.« »Dann hol ihn, aber schnell, und verschwinde. Ich hab heute viel zu tun.« Was denn?, dachte ich. Sie hatte nie etwas zu tun. Mutter hing doch immer nur vor dem Holovid und sprach mit ihren Freundinnen, die es gar nicht gab. Zumindest glaubte ich das. Nie war eine von ihnen hier vorbei gekommen. Manchmal tat sie mir leid. Sie wollte eigentlich gar nicht so zu mir sein, aber … sie konnte nicht anders. So kam es mir zumindest vor, wenn ich ihre schuldbewusste Miene sah. »Mach ich.« Ich ging zurück in mein winziges Zimmer, blieb einen Moment lang unschlüssig stehen. Ich wollte den Unterricht wirklich nicht verpassen. Wenn ich einmal ein anderes Leben als Mutter und
Vater führen wollte, musste ich gut in der Schule sein. Aber die Schmerzen im Arm waren wirklich unerträglich. Ich hörte, wie Mutter etwas sagte, ging zur Tür, um zu lauschen. »Ich warte seit Wochen auf den Handwerker.« Sie hatte tatsächlich eine Holovid-Verbindung bekommen! Heute musste ihr Glückstag sein. Die hausinterne Sprechleitung funktionierte ausnahmsweise. Normalerweise hatten wir einen ständigen Ausfall des Betriebssystems. Alle Einheiten in der Wohnung liefen über das Netzwerk des Wohnblock-Vermieters, und der dachte gar nicht daran, es instand zu halten. Auf dem Holovid sah ein Mann Mutter gelangweilt an. »Wir haben im Moment einen Engpass bei unserem Fachpersonal. Wir schicken jemanden vorbei, sobald ein Termin frei ist.« »Ich kann zahlen«, sagte Mutter. »Überprüfen Sie unseren Kontostand.« Sie nannte ihm die Nummer. Der Mann blickte kurz zur Seite. »Der Überziehungsrahmen ist ausgeschöpft«, sagte er und unterbrach die Verbindung. Mutter murmelte etwas und trank eine ölige Flüssigkeit aus einem Glas. Vater trank das Zeug öfter. Dann wurde er meistens fies zu mir. Zu meinem Bruder Aaron nie, nur zu mir. Mir war klar, was los war. Vater hatte Geld abgehoben, ohne Mutter darüber zu informieren. Nicht das erste Mal. Wenn denn überhaupt was von der Grundversorgung übrig blieb. Mutter fluchte leise, trank einen weiteren Schluck und sah sich um. Hoffentlich hatte sie vergessen, dass ich noch nicht zur Schule gegangen war. Wenn ich Glück hatte, würde sie sich vors Holovid setzen und gar nicht merken, dass ich in meinem Zimmer war. Natürlich kam es nicht dazu. Aufs Glück konnte ich mich nie verlassen, nur auf mich selbst. Mutter schüttelte sich, als wüsste sie nicht, wo sie war, drehte sich um und ging zu meinem Zimmer. Sie durfte mich nicht erwischen! Ich fuhr herum, warf mich auf den Bauch und rutschte unters Bett. Das war mein bevorzugtes Versteck. Nicht nur für mich, sondern für alle möglichen Sachen. Keine Ahnung, wieso Mutter und Vater so blöd waren und dort nie nachschauten. Andererseits interessierte es sie kaum, was ich so machte.
Nur Aaron ärgerte mich manchmal damit, dass er mich auffliegen lassen würde. Aber er hatte es noch nie getan. Kein Wunder. Wenn ich erzählen würde, was mein sauberer älterer Bruder so trieb, würde es ihm dreckig ergehen. Wir hassten uns wie die Pest, doch es gab unsichtbare Grenzen, die wir nicht überschritten. Wir wussten, wann wir zusammenhalten mussten. Ich würde Aaron nie bei Vater ausstechen können, aber ich könnte ihm alles heimzahlen, und das wollte er nicht riskieren. Ich hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde, und schloss die Augen. Wenn ich nichts sehen konnte, konnte man mich auch nicht sehen, stellte ich mir vor. Manchmal funktionierte das tatsächlich. »Komisch«, murmelte Mutter vor sich hin. »Hab gar nicht gehört, dass sie gegangen ist.« Ich hielt den Atem an. Nach einer Weile drehte Mutter sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Mist, dachte ich. Jetzt konnte ich schlecht aus dem Zimmer marschieren und an Mutter vorbei hinaus stolzieren. Vielleicht … wenn Mutter genug von dem stinkenden Zeug trank, würde sie bald einschlafen. Oder mich nicht bemerken, wenn ich mich an ihr vorbeischlich. So leise wie möglich verließ ich das Versteck und schlich zur Tür. Ich lauschte, hörte Mutter sprechen. Gleichmäßig, monoton. Ich sah sie vor dem Holovid sitzen, auf dem jetzt ein anderer Mann zu sehen war. Ich kannte ihn, er war schon hier bei uns gewesen. Ein Handwerker. Keine Ahnung, wie er hieß. Er hatte nie ein Wort mit mir gewechselt, war immer sofort gegangen, wenn ich nach Hause kam. »Mir wurde eine sofortige Behebung zugesichert, Jack«, sagte Mutter. »Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.« »Heute ist es schlecht, Raja, ich …« Wieso öffnete Mutter den obersten Knopf ihrer Bluse? »… ich sehe in den Unterlagen nach.« Die Verbindung klickte, dann rauschte es nur noch. Mutter stellte seufzend ihr Glas ab. Im Reiniger standen die dreckigen Gläser vom
Vortag. Das Ding war kaputt, trotzdem spülte keiner ab. Ich hasste den Anblick verschmutzter Gläser in der Küche, wusste, wer sie früher oder später reinigen musste. Jeden Tag fiel ein anderes System aus. Wenn das so weiterging, würde ich bald alles machen müssen! Shanija, die Allesmaschine. Wurde sowieso nie wie ein menschliches Kind behandelt. Dieser Jack erschien wieder im Holovid. Er grinste breit. »Sie haben Glück, Ma'am«, sagte er geziert förmlich, »ich kann sofort kommen. Danke für den Auftrag.« Die Stimme der Erlösung, dachte ich. Mutter ließ sich in den Sessel zurücksinken und klinkte sich ins Freundinnen-Programm ein. Wahrscheinlich wollte sie den neuesten Tratsch hören. Ich würde nie Hausfrau werden, das stand fest. Und ich wollte nie die Glückseligkeit empfangen, die LICA angeblich brachte. Meine Eltern waren Anhänger, und die meisten ihrer Freunde und Bekannten auch. Sie waren vollkommen davon überzeugt, dass LICA die einzige Wahrheit ist. Wenn das die Glückseligkeit sein sollte, dieses Leben, das wir hier führten, wollte ich nicht daran teilhaben. Das Gemurmel ihrer 128 Freundinnen erklang gleichzeitig und beruhigte Mutter offensichtlich. Ich sah, wie sie sich etwas entspannte und den Neuigkeiten lauschte. Manchmal meldete sie sich zu Wort. »Der V-Tech-Rob aus der Serie 35/B ist der Renner, seine neuronalen Schnittstellen sind das Höchste, seit es Comps gibt.« Das war Abbie, Mutters beste Freundin. Sie hatte einen neuen Typen kennengelernt, der diese Dinger vertrieb. Er war der Dreizehnte in diesem Monat. Sie veralteten so schnell. Manchmal fragte ich mich, ob Mutter Vater nicht zum Teufel jagen und ebenfalls einen Typen kennenlernen sollte, der uns aus diesem beschissenen Wohnblock herausholte. »Du hast großes Glück, mein letzter Kontakt war ein absoluter …« Rauschen, dann nichts mehr. Mutter schaute auf die Uhr, anstatt auszuflippen, weil das Holovid zusammengebrochen war. Sonst reagierte sie sehr empfindlich darauf. Aber jetzt nestelte sie an ihrer Bluse, schloss den obersten
Knopf und öffnete ihn wieder, sah in den Spiegel, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, stand auf und ging unruhig auf und ab … Das akustische Türsignal erklang. Das visuelle war schon seit Jahren hinüber. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie es war, einen Besucher tatsächlich sehen zu können, bevor man die Tür öffnete. Mutter betätigte den Türöffner. »Außer Betrieb«, erklang eine kalte Stimme. »Empfehle Serviceeinheit Null-sieben.« Ein seltsames Geräusch drang aus Mutters Kehle. Steif fuhr sie sich mit den Händen über ihre … Brüste, hieß es, auch wenn die Jungs in meiner Klasse nur Dinger dazu sagten, und ging zur Tür. Manuelles Öffnen war meistens erforderlich, in fast allen Wohnungen des Blocks. Mutter starrte den Mann an, der vor ihr stand. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie sich nicht besonders wohl fühlte. Aber dann lächelte sie. »Schön, dass es so schnell ging«, sagte sie. »Hoffentlich geht es gleich nicht so schnell«, raunte der Techniker. Er blickte sich um und fügte laut hinzu: »Sie haben Probleme mit dem Haussystem? Mein Spezialgebiet, ich repariere Ihnen das im Handumdrehen.« Und wieder leise fügte er hinzu, während er hereinkam: »Andere Sachen dauern bei mir aber länger.« Er lachte. Das Geräusch kam mir furchtbar falsch vor. Mutter schloss die Tür, und der Techniker fasste sie von hinten an ihren Dingern an und rieb seinen Unterkörper an ihrem Hintern. »Ich habe auf deinen Anruf gewartet«, flüsterte er. »Geht denn gar nichts mehr bei dir kaputt?« »Ich … In letzter Zeit nur wenig.« Er ließ sie los. »Was soll ich denn reparieren? Bringen wir's hinter uns, dann haben wir Zeit für uns.« Er legte seine rechte Hand auf ihren Hintern. »Wo war gleich der Zentralanschluss?« Er schob sich an ihr vorbei. Sie wich ihm aus, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Auf seinem blauen Overall stand ein Name, wie ich nun sah. Jack Mogin, Servicetechniker. »Weißt du das etwa nicht mehr?« Mutter ging in den Wohnraum
und goss zwei Gläser mit der öligen Flüssigkeit jeweils zur Hälfte voll. Unser Vorrat an sauberen Gläsern schrumpft weiter, dachte ich. Aber wen interessiert es, wenn alles vor die Hunde geht? Konnte es schlimmer kommen? »Ist schon lange her, dass du dich gemeldet hast, Schätzchen. Du weißt doch, ich bin allzeit bereit. Musst dich nur melden, Raja.« Mutter stand still hinter Jack, sie atmete ziemlich heftig. Es war komisch. Einerseits schien sie zu verabscheuen, was sie tat, andererseits aber auch zu genießen. Er nahm das Glas, trank einen winzigen Schluck und stellte es ab. »Danke. Ich sollte aber zuerst arbeiten.« »Nichts funktioniert mehr«, sagte Mutter. Ihre Stimme klang gequält. »Nicht mal mehr die Türöffnung.« »Wohnblocks, finanzielle Grundsicherung«, sagte Jack. »Was erwartest du? Da draußen herrschen achtzig Prozent Arbeitslosigkeit. Jeden Moment kann ein Bürgerkrieg losbrechen, wenn sich genug Verzweifelte zusammenfinden. Oder Europa beschließt, seine Grenzen zu erweitern. Meinst du, da kümmert sich noch jemand um die Türöffner von Leuten, die von der Grundversorgung leben? Wir haben wirklich andere Sorgen.« Ich schreckte zurück vor seinem begehrlichen Blick, davor, wie er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als er Mutter ansah, davor, wie er seine Hände über ihre Dinger gleiten ließ, und tiefer, über ihren Bauch, zwischen ihre Beine. Dann wischte er seine Hände am Overall ab. »Ich glaube, ich repariere das doch nachher. Jetzt kann ich mich nicht so richtig darauf konzentrieren. Später wäre besser, meinst du nicht auch?« Mutter hielt ihr Glas mit dem öligen Rest hoch. »Aber du bringst das wieder in Ordnung?« »Versprochen, Schätzchen. Auf jeden Fall. Und damit es länger dauert …« Er trank sein Glas mit einem Zug leer. »Kompliment, gutes Zeug.« Er öffnete seinen Overall, wackelte mit den Schultern, ließ ihn an seinem Körper hinabgleiten. Mutter wollte sich bücken, doch er hielt sie fest. »So nicht, Schätz-
chen. Zieh dich erst aus, ja?« Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihr Körper wirkte verkrampft. Sie knöpfte die Bluse auf, streifte sie ab, öffnete den BH – den hatte ich mal anprobiert, nur sah es komisch an mir aus, weil ich noch platt bin –, ließ ihn fallen, zog die Hose aus und den Slip darunter. Ich hatte Mutter noch nie nackt gesehen und fragte mich, wieso dieser Jack sie so sehen durfte und ich nicht. Dann ging sie vor ihm auf die Knie, zog ihm die Unterhose herunter und machte irgendwas, ich konnte es nicht sehen. Ich wusste nur, dass es nicht richtig war. »Ich repariere dir alles«, murmelte er, und Mutter nuschelte Unverständliches. Es war falsch, was hier geschah, das begriff ich. Na schön, dachte ich und fällte in diesem Moment meine Entscheidung. Mutter tut es, und ich werde es auch tun. Etwas Falsches. Ich würde es an meinem zehnten Geburtstag tun. Dann würde ich heimlich durch die Stadt fahren und mich ins Palmenhaus schleichen. Und endlich einmal Pflanzen sehen. Das hatte Vater strengstens verboten und war mindestens so falsch wie das, was Mutter gerade tat.
3. Seiya hatte das Gefühl, das Gasthaus in einer anderen Stadt zu verlassen. Innerhalb kürzester Zeit hatte das Straßenbild sich völlig verändert. Nichts mehr erinnerte an die ausgelassene Freude, mit der die Chocer ihrem kleinen Prinzen zugejubelt hatten. Die Straßen waren fast leer; die wenigen Stadtbewohner, die sich noch draußen aufhielten, verrammelten und verriegelten ihre Häuser. Sie beeilte sich, zu Mun aufzuschließen. Am Himmel ballten sich Wolken an mehreren Stellen zusammen, bildeten brodelnde Knäuel, die sich ausdehnten und wieder auftürmten. Das hatte mit einem normalen Unwetter nichts mehr zu tun; es war unnatürlich. Was geschieht hier?, fragte die Prinzessin sich. Ist das tatsächlich der Untergang der Welt? Ein Geräusch drang an ihre Ohren, ein monotoner Singsang. Mun drehte sich langsam um, und sie tat es ihm gleich. Ein Zug von Sektierern näherte sich ihnen auf der breiten Straße. Die meisten hatten die Köpfe gesenkt und schritten leise betend aus, doch einige, darunter humanoide Frauen, hatten die Oberkörper entblößt und geißelten sich mit Schnüren, Stricken, Peitschen, was ihnen wohl gerade in die Finger gekommen war. Diese verdammten Sekten, dachte Seiya. Die eine verkündete den Weltuntergang, die andere rief Gott den Allmächtigen herbei, und die dritte … was die wollte, hatte die junge Frau nie so richtig begriffen. Jedenfalls waren alle hinter ihnen her und wollten verhindern, dass Shanija Less verließ. Die meisten trachteten nach dem Tod der Frau von der Erde. »Warte hier«, sagte Mun und ging zu den Gläubigen hinüber. Er sprach einen an, doch der Mann achtete gar nicht auf ihn. Als Mun seinen Versuch wiederholte, schlug er mit seinem Tau nach ihm. Der Adept wich ihm ohne Mühe aus. Anschließend versuchte er es mit einer menschlichen Frau, die sich
ebenfalls geißelte. Ohne in ihrem Tun innezuhalten, antwortete sie ihm. Seiya kniff die Augen zusammen. Täuschte sie sich, oder war Mun bemüht, nicht auf die bloßen Brüste der Büßerin zu blicken? Er drehte sich um und kam zu ihr zurück. »Ich weiß jetzt, wo sich die Niederlassung des Zentralarchivs befindet«, erklärte er.
* Zwei Kuntar hielten an der Pforte des mehrstöckigen, durchaus schlichten und unauffälligen Gebäude des Zentralarchivs Wache – einerseits eher gelangweilt, weil so gut wie niemand mehr auf den Straßen unterwegs war, andererseits beunruhigt, weil ihnen nicht verborgen blieb, dass sich die unnatürlichen Schauspiele am Himmel beständig verschlimmerten. Ein Unwissender hätte nicht ahnen können, dass beide derselben Art angehörten – der eine war über zwei Meter groß und grünbraun gefärbt, der andere eher graufarben, und nur gut halb so groß. Beide verfügten jedoch über langgezogene Echsenschnauzen, und ihre winzigen roten, tiefliegenden Augen musterten Mun und Seiya misstrauisch, als sie sich dem Eingang näherten. Der kleine Kuntar ergriff seinen Speer fester und trat einen Schritt vor. »Sieh an, der menschliche Adept«, zischte er geringschätzig. »Was willst du hier?« Mun bedeutete Seiya, hinter ihm zurückzubleiben. »Was mag ich wohl hier wollen? Ein Adept des Zentralarchivs sucht eine Niederlassung eben dieses Archivs auf. Ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, nicht wahr?« Das kleine Echsenwesen sah Mun verwirrt an, und das größere kam an seine Seite und versperrte den Zugang. »Mun, so ist doch dein Name, nicht wahr?« »Eilt gar mein Ruf mir voraus?« Der Kuntar spuckte beiläufig aus. Es hätte sich um ein zufälliges Reinigen der Nasenöffnungen handeln können, musste nicht unbe-
dingt eine Beleidigung sein. Seiya hegte jedoch nicht den geringsten Zweifel daran, dass es sich genau darum handelte. »Das kann man so sagen. Wie mir zu Ohren gekommen ist, halten die Mitarbeiter des Zentralarchivs nicht viel von ihrem einzigen menschlichen Adepten.« Da geschah etwas, das Seiya niemals erwartet hätte, und sie wich erschrocken zurück. Konnte es sein, dass Mun … dass er tatsächlich die Fassung verlor? Mit einer so schnellen Bewegung, dass Seiya ihr kaum mit Blicken folgen konnte, sprang er vor und packte mit beiden Händen ihre Waffen. Dem großen Kuntar war es zwar gelungen, seinen Speer hochzureißen und Mun unter die Nase zu halten, doch nun konnte er ihn um keinen Millimeter mehr bewegen. »Und ich halte nicht viel von niedrigen Chargen, die es sich erlauben, die Waffen gegen einen Adepten zu heben. Zumal er vielleicht wichtige … lebenswichtige … Neuigkeiten bringt.« »Was … willst du?«, fragte der große Kuntar unsicher. »Natürlich hinein.« »Wen willst du sprechen?« »Den, der für diese Niederlassung des Zentralarchivs die Verantwortung trägt.« Seiya hatte Mun noch nie mit solchem Nachdruck sprechen hören. Seine tiefe Stimme klang so drohend, dass sich ihre Nackenhärchen aufrichteten. »Meinst du etwa, er empfängt jeden dahergelaufenen Adepten?« »Mich wird er willkommen heißen«, sagte Mun. »Obliegt euch etwa die Entscheidung darüber, mit wem ich sprechen darf? Geht hinein und meldet mich!« »Das … das wird nicht nötig sein«, stotterte das Echsenwesen. »Man wird es bereits wissen.« Der große Kuntar wich einen Schritt beiseite, und Mun ließ die beiden Speere los. Der Weg ins Gebäudeinnere war nun frei. Der Adept gab Seiya ein Zeichen, und sie folgte ihm in die große Eingangshalle, die an anderen Tagen vielleicht sonnendurchflutet gewesen wäre. Die Halle war leer, ungewöhnlich für solch ein großes, bedeutendes Gebäude. »Man wird dich nicht vorlassen!«, rief der Kuntar ihnen hinterher.
»Deine Mühe wird vergeblich sein! Der Vorsteher empfängt niemanden mehr!« Er lachte gackernd. Mun achtete nicht darauf. Zielstrebig ging er auf die Treppe zu, die zu den oberen Etagen führte. Unwillkürlich bewunderte Seiya, wie federnd seine Schritte waren, mit welcher Kraft seine Finger sich um das goldverzierte Geländer schlossen. Er atmete ruhig und gleichmäßig; die Auseinandersetzung mit den beiden Wachen schien ihn nicht im geringsten angestrengt zu haben. Seiya musste sich beeilen, um auf der Treppe aufzuschließen. Oben mündeten mehrere Türen in einen langen Korridor. Suchend ging Mun weiter. Vor einer Tür, auf der in goldenen Buchstaben ein Name funkelte, blieb er stehen. Er drückte die schwere Klinke und betrat den Raum, ohne anzuklopfen. Seiya wartete am Pfosten. Hinter einem breiten Pult blickte ein Uriani überrascht zu Mun auf. Mit misstrauischen Blicken musterte das grünhäutige Krötenwesen den Eindringling. »Der menschliche Adept«, sagte es. »Mun. Ja, ich habe bereits gehört, dass du in dieser Gegend bist. Die Gerüchte schwirren nur so in der Stadt. Man spricht auch über die Sonnenkraftträgerin, die jemand im Hospiz am Golgan-Pass gesichtet haben will. Und nicht nur das. Angeblich hat sie die Wiedergänger aufgemischt und diesen scheinheiligen Kerl Raban beseitigt. Was zu begrüßen gewesen wäre, wenn nicht umgehend sein eifrigster Jünger Syptus das Zepter übernommen und die zerfallende Sekte wieder zusammengeführt hätte, die uns nun hier das Leben schwer macht.« Das waren wichtige Neuigkeiten, und Seiya lauschte aufmerksam. »Auf einmal glaubt jeder an die Legende der Sonnenkraft, manche klammern sich daran, andere verfluchen sie, und die Erlöser und Wiedergänger tun das Ihrige dazu, die Stimmung aufzuheizen. Sollen wir uns geehrt fühlen, dass angesichts der beginnenden Passage plötzlich Choc in den Mittelpunkt der Geschehnisse rückt?« Der Uriani lehnte sich auf einer Bank zurück, die aus einem völlig anderen Material als das Pult gefertigt war und offensichtlich nicht in diesen Raum gehörte.
»Du bist nicht der Vorsteher«, sagte Mun ungerührt. »Es ist mir zwar ein Rätsel«, fuhr der Uriani fort und überging diese Äußerung, »wie du es geschafft hast, ohne Verabredung hier einzudringen, aber wenn du schon mal da bist, kannst du mir auch dein Anliegen vortragen.« »Ich muss den Vorsteher sprechen. Es ist wichtig. Von äußerster Bedeutung.« »Er wird dich nicht empfangen.« Erneut reagierte Mun so, wie Seiya es nicht erwartet hätte. Mit einem Satz war er hinter dem Pult und legte einen Arm um den Kopf des Krötenwesens. »Habt ihr alle den Verstand verloren?« Er schüttelte den Uriani. »Seht ihr nicht, was da draußen geschieht? Wollt ihr wirklich abwarten, bis die Passage unsere Welt in den Untergang reißt? Ich brauche Informationen, und ich werde sie bekommen.« Er hatte kaum lauter als zuvor gesprochen, doch Seiya fröstelte plötzlich. »Glaubst du mir, dass ich notfalls Gewalt anwenden werde?« »Ich«, das Krötenwesen stieß einen Schwall übelriechender Luft aus dem breiten Mund, »glaube dir.« Mun lockerte seinen Griff etwas, und der Uriani atmete tief ein. »Was willst du wissen?« »Die Stele von Majakar. Die Urmutter. Was ist euch darüber bekannt? Ihr müsst etwas wissen, sie soll ganz in der Nähe leben …« »Was hat das mit der Passage zu tun?« Mun verstärkte seinen Griff, und der Sekretär gab ein blubberndes Stöhnen von sich. »Ich … weiß nichts über die Stele … und auch nicht über die Urmutter. Vielleicht weiß der Vorsteher etwas, aber er …« »Bring mich zu ihm!« »Wie du willst. Aber …«, fügte der Uriani hinzu, kaum dass Mun den Griff wieder etwas gelockert hatte. »Keine Einwände mehr.« Das Krötenwesen rutschte von der Bank und watschelte zur Tür am anderen Ende des Raums. Mun folgte ihm, und Seiya wiederum ging dem Adepten nach, wenngleich auf Abstand. Ein kurzer Gang führte zu einer einzigen weiteren Tür. Ein eben-
falls mit einem Speer bewaffneter Kuntar stand vor dem Portal aus massivem Holz und sah die Neuankömmlinge überrascht an. »Schon gut«, sagte der Uriani. »Unser … Gast will zum Vorsteher. Ich nehme nicht an, dass sein Besuch noch irgendeinen Schaden anrichten kann, nicht wahr?« »Nein. Er schläft.« Der Echsenmann öffnete die Tür. Mun trat einige Schritte vor – und blieb kurz wie vom Blitz getroffen stehen. »Alman?«, sagte er. »Alman a Sant?«
* Seiya schlich vorwärts, bemüht, kein Geräusch zu machen, obwohl sowieso niemand auf sie achtete. Ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte zusätzlich. Sie blieb neben Mun stehen, und obwohl der Adept den Blick in den Raum gerichtet hielt, streckte er zögernd die Hand nach ihr aus, als habe er ihre Annäherung gespürt. Scheu legte sie ihre Hand in seine und spürte den Druck seiner kräftigen Finger. Der Raum war abgedunkelt, und es dauerte einen Moment, bis Seiyas Augen sich an die düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Ein großes Bett stand in der Mitte des Zimmers; an dessen Himmel lange, halb durchsichtige Vorhänge befestigt waren, die sich wie von einer leichten Brise bewegt schwach kräuselten. In dem Bett lag ein Mann … ein Mensch. Nein, verbesserte Seiya sich bei genauerem Hinschauen, ein humanoider Peerer, der kaum von einem Menschen zu unterscheiden war. Die transparenten Vorhänge ließen seine blasse Gestalt wie einen Geist wirken, und nun wurde Seiya klar, wieso Mun den Vorsteher im ersten Augenblick für Alman a Sant gehalten hatte; jenen Adepten, der Mun überredet hatte, als erster Mensch die Prüfungen abzulegen, und der von seinem Schüler schließlich getötet wurde. Der Schädel des alten Peerers kam Seiya vor wie ein Totenkopf, über den sich blasse Haut spannte, die genauso durchsichtig war wie die Vorhänge. Sie konnte das feine Geflecht der Adern erkennen. Von den Schultern abwärts wurde der Körper von einem dün-
nen Laken bedeckt, unter dem er winzig und zerbrechlich wie der eines Kindes wirkte – oder eines Skeletts. Wenn ein Moment dafür geschaffen ist, Gespenster sehen zu lassen, dann dieser, dachte Seiya. Mun löste sich von Seiya, trat an das Bett und sah auf den Peerer herab. »Ich habe mich getäuscht«, sagte er tonlos. »Das ist nicht Alman. Wie dumm von mir.« Aus den tiefen Schatten löste sich eine Gestalt, ein weiterer Peerer, groß und hager, nicht mehr ganz jung. »Hat Garon dich freiwillig eingelassen?«, fragte er Mun leise. »Nein«, antwortete Mun. »Aber meine Anwesenheit ist von Bedeutung, das wisst ihr.« Er deutete auf den Bettlägerigen. »Wie geht es ihm?« Der hagere Peerer schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin mit meinem Wissen am Ende. Sein Herz ist zu schwach. Ich kann nichts mehr für ihn tun.« »Wie lange noch?« »Das kann ich nicht sagen. Es kann jeden Augenblick soweit sein. Ich habe den Eindruck, Ferasin hält sich mit aller Kraft am Leben fest, weigert sich zu sterben …« »Als müsse er eine letzte Aufgabe erledigen?« Der Adept wandte sich dem Medikus zu. »Vielleicht hat er gewusst, dass ich komme. Vielleicht will er unbedingt mit mir sprechen. Die Gerüchte sind mir vorausgeeilt.« Der Peerer machte ein fragendes Gesicht. »Worauf willst du hinaus?« »Kann er mich hören?«, fuhr Mun fort. »Ich weiß nicht, ob sein Geist noch in dieser Welt weilt oder schon die nächste erreicht hat.« Plötzlich bewegte der Sterbende den Mund, doch Seiya konnte nicht verstehen, was er sagte. Mun kniete neben dem Bett nieder und ergriff eine Hand des Vorstehers. Er zuckte kurz zurück, als würde sie glühen, dann schloss er sanft die Finger darum. Kann es sein, dachte Seiya, dass Mun die Nähe des Todes zu schaffen
macht? Er ist so aufgewühlt, ganz anders als sonst. Ich habe ihn noch nie so unausgeglichen und emotional erlebt. Sonst hätte er diesen Ferasin niemals für seinen Peiniger Alman a Sant gehalten, auch nicht in einem Augenblick wie diesem. »Ferasin«, sagte Mun, »ich bin hier, weil ich alles über die Urmutter wissen muss, und über die Stele von Majakar …« Der Medikus trat zu dem Adepten und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Bitte, lass ihn in Frieden sterben. Quäle ihn nicht mit Fragen.« »Vielleicht kann er erst in Frieden sterben«, sagte Mun behutsam, »nachdem er mir meine Fragen beantwortet hat.« Der hagere Peerer zögerte und zog sich wieder zurück. Mun beugte den Kopf über Ferasins Gesicht, hielt das Ohr dicht über dessen Mund, um kein Wort des Sterbenden zu versäumen. »Die Stele …« Der Vorsteher sprach nicht leise und unverständlich, sondern klar und deutlich, und doch schien seine Stimme nicht mehr von dieser Welt zu sein. »Das brandende Meer, das gegen die gewaltigen roten Steilfelsen donnert … Auf der höchsten Klippe … in dem runden Kreis … dort findest du die Stele …« Der Sterbende riss die Augen weit auf und hob den Kopf vom Kissen. »Führe die Prophezeite dorthin …« Die Worte kamen zunehmend abgehackter über die Lippen, und einen Augenblick lang befürchtete Seiya schon, der Sterbende habe seine letzte Kraft verbraucht. Doch dann fuhr er fort: »Es ist sehr wichtig … erfülle deinen Auftrag …« Ein krampfartiger Husten schüttelte den Vorsteher, und sanft drückte Mun dessen Hand. »Warte«, sagte der Medikus, trat heran und flößte dem Sterbenden aus einer Tasse eine Flüssigkeit ein. »Etwas Stärkendes, Beruhigendes.« Er warf Mun einen strengen Blick zu. »Es ist genug.« »Die Urmutter«, bat Mun. »Wo genau finde ich sie?« »Nach Osten … wo das brandende Meer gegen den Steilfelsen schlägt … nur noch fünfzig Kilometer von hier entfernt …« Ferasin schüttelte den Kopf. »Aber du kommst zu spät … zu spät … sie lebt nicht mehr …«
Seiya hörte, wie Mun scharf einatmete.
* »Zu spät«, wiederholte der Sterbende, »zwanzig Jahre zu spät …« »Dann … hat die Urmutter hier gelebt?« »Ja, sie hat hier gelebt … sie hat Boten geschickt … immer, wenn sie dies oder das brauchte … durch die Jahrhunderte …« »Was für Boten?« »Seit zwanzig Jahren gibt es keine Nachricht mehr von ihr … sie ist gestorben … die Menschenfrau muss gestorben sein …« »Die Menschenfrau?« »Wir haben immer wieder Adepten ausgeschickt, um nachzusehen und nach ihr zu suchen, aber sie haben sie nicht gefunden … die Menschenfrau muss inzwischen gestorben sein …« Der Kopf des Sterbenden sank zurück ins Kissen. Erschüttert hörte Seiya, dass Ferasins Atem nun rasselnd ging, röchelnd, gequält, unregelmäßig. Der Medikus ergriff seinen Arm und tastete nach dem Puls. »Er wird immer schwächer. Es wird jetzt schnell gehen.« Er blickte Mun an. »Vielleicht hast du recht. Ferasin besaß einen unglaublich starken Willen. Vielleicht hat ihm wirklich nur der Wunsch, dir dies mitzuteilen, die nötige Kraft gegeben, den Tod warten zu lassen. Ich befürchte, jetzt, da er seine letzte Botschaft überbracht hat, wird sein Lebenslicht erlöschen.« Aber der hagere Medikus hatte sich erneut getäuscht. Ein Zittern durchlief den Körper des Sterbenden, und er richtete sich noch einmal auf. »Geh zur Stele!«, rief er. »Suche nach der Botschaft der Urmutter! Oder die Welt, wie wir sie kennen, wird untergehen!« Dann fiel er in sich zusammen. »Ich werde deinen Wunsch erfüllen«, sagte Mun. »Ich werde alles tun, was nötig ist, um …« Der Medikus zog die Hand von Ferasins Arm zurück und schüttelte den Kopf. »Adept, er hört dich nicht mehr«, sagte er leise und
drückte dem Toten die Augen zu. Mun erhob sich langsam, neigte den Kopf und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Seiya konnte nicht hören, was er sagte. Dann drehte er sich um, ging zu ihr, ergriff ihre Hand und zog sie wortlos aus dem Zimmer, in den Korridor.
4. Aliandur betrachtete den von wildem Unkraut umwucherten Opferstein, in dessen glatten, schwarzen Wänden sich tiefe Risse gebildet hatten. Sie konnten gerade erst entstanden sein; als er vor wenigen Minuten mit seinen Vertrauten hier gewesen war, um sich einen Überblick zu verschaffen, waren sie noch nicht vorhanden gewesen. »Kannst du es dir erklären?«, fragte er den Prior. Der alte Mensch zerrte an der Alba, dem leinenen Chorhemd, das er über dem langen Leibrock trug, und schob das Almutium zurecht, die Fellmütze, die seinen Kopf, den Hals und die Schultern bedeckte. Dann schüttelte er resigniert den Kopf. »Ihr Glaube schwindet wie Eis in der Sonne«, sagte er. »Sie haben Angst.« »Das hat nichts mit Glauben zu tun.« Aliandur hörte ein Geräusch an der Tür, die zum Klostergarten führte, und drehte sich langsam um. Zwei Kinder hatten den Garten betreten, ein Kuntar und ein Mensch. Sie blieben stehen, als sie ihn sahen, und tuschelten leise miteinander. »Siehst du, Herr, sie haben Angst.« Der Verkünder lachte leise. »Vielleicht vor dem, was da draußen vor sich geht«, sagte er, »aber nicht vor mir. Das ist die ganz normale Scheu vor mir. Ich weile ja nicht oft in diesem Kloster, dem man nachsagt, sein Opferstein sei der mächtigste in allen Stätten, die der Orden des Erlösers errichtet hat.« Und durch den sich plötzlich Risse zogen, als wollten sie ihn spalten. Er winkte die Kinder zu sich heran. Zögernd traten sie näher. Der Kuntarjunge fasste als Erster Mut und streckte die Hand aus. Aliandur kannte das. Er ging in die Hocke und bog den Kopf zurück. So war es immer. Alle Kinder wollten seine Halssegmente berühren, die in einem kräftigen Violett leuchteten; diese Farbe schien eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie auszuüben.
Der Vorsteher des Ordens des Erlösers genoss die Berührung der kleinen Hände, das neugierige Tasten und Streicheln. Behutsam entfaltete er die Schwingen ein wenig und fächelte Luft. Das Menschenmädchen trat erschrocken einen Schritt zurück, und Aliandur öffnete den Mund und zeigte ihr die gespaltene Spitze seiner bläulich schimmernden Zunge. Die Kinder faszinierte vor allem, dass fast alles an ihm so farbenfroh war. Der Verkünder hob die rechte Hand und zeigte dem Mädchen die Greifklaue. »Nicht berühren«, sagte er. »Sie ist sehr scharf.« Die Kleine starrte ihn an. »Stimmt es, dass die Welt untergeht?« Er hob den Kopf und blickte in den Himmel. Ja, der Sturm schickte seine ersten Vorboten. Die Windböen wurden immer stärker, ein grelles Heulen quälte seine Ohren. Bald würde ihnen Regen ins Gesicht peitschen. »Die Passage naht, doch das bedeutet nicht das Ende«, antwortete er. »Ganz im Gegenteil. Dur, der Ewige, wird unser Universum und sein eigenes miteinander verbinden, damit sich beide Schöpfungen an seinem Wirken laben können. Das wird nicht ohne gewisse Veränderungen vonstattengehen, aber Dur wird seine Kinder behüten. Sobald die Schöpfungen verschmolzen sind, werden wir auf Less in seinem Namen herrschen. Hab keine Angst, Kind. Davor musst du dich wirklich nicht fürchten.« Zögernd nickte das Mädchen. Aliandur richtete sich zu seiner vollen Größe von fast drei Metern auf und entfaltete die filigranen Schwingen vollends. Eine beeindruckende Zierde – doch leider nicht zum Flug geeignet. »Jetzt geht, Kinder«, sagte er. »Ich muss Vorbereitungen für den großen Moment treffen. Geht und harret der Dinge, die da kommen werden.« Die beiden Kleinen drehten sich um und liefen aus dem Klostergarten. »Und frohlocket vielleicht schon ein wenig«, rief er ihnen hinterher und drehte sich wieder zu dem Prior um. »Lass die Seher kommen, Somile. Sie alle. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Ja, Herr.« »Und …«
»Ja, Herr?« »Dieses Menschenmädchen … es gefällt mir …« »Herr, du hast dir Zurückhaltung auferlegt …« »Ich glaube, ich werde es mögen.« »Herr, du hast mich ausdrücklich darum gebeten, dich daran zu erinnern, dass du deinen fleischlichen Gelüsten entsagen willst und …« »Eine Ausnahme, Somile. Wer weiß, wann ich mir wieder etwas gönnen kann. Ja, ich glaube, ich werde dieses Mädchen mögen.« »Herr, es ist zu gefährlich. Du kannst nicht ständig …« »Lass es verschwinden und heute Abend zu mir bringen«, sagte der Verkünder hart. »Ja, ich werde es mögen. Aber vergiss nicht, Somile … gut durchgebraten. Immer gut durchgebraten.«
* »Ich bringe dir nun mein Opfer und erbitte im Namen Aliandurs den Blick in die Welt. Meine Augen sind seine Augen. Verrate dem Verkünder, was er zu erfahren wünscht!« Der Seher trat vor und zog die scharfe Klinge mit der rechten Hand über den linken Arm. Blut tropfte aus dem schmalen Schnitt auf den Stein. Aliandurs Tastfühler an beiden Kopfseiten pendelten nach vorn, den winzigen Tropfen entgegen. Dieses Ritual war uralt – nicht er hatte es eingeführt, beileibe nicht –, und er mochte es, so wie er gelegentlich zartes, junges Fleisch mochte. Der Geruch des Blutes weckte etwas in ihm, eine tief verschüttete Erinnerung an jene Zeit, als sein Volk noch nicht zivilisiert gewesen war und keine Raumfahrt betrieben hatte. Fasziniert beobachtete Aliandur, wie das Blut von der schwarzen Oberfläche des Steins aufgesogen wurde. Das war die spezielle Psimagie der Seher des Ordens, weswegen sie in hohem Ansehen standen. Ihre Affinität zu den Steinen ermöglichte es dem jeweiligen Vorsteher, Blicke auf die ganze Welt zu werfen.
Die schwarze Oberfläche des Steinquaders erhellte sich, wurde zuerst grau, schimmerte dann transparent. Schwarze und rote Schlieren breiteten sich auf der Oberseite des gut einen Meter hohen, glattgehauenen Brockens aus. Sie flossen wieder zusammen und erloschen. »Ich kann Raban noch immer nicht sehen, Herr.« Erschöpft trat der Seher zurück, und zwei Novizinnen führten ihn fort, in die Ruhegemächer, wo er sich erholen konnte. Der Vorgang war ein wirkliches Opfer und verlangte jedem derart Begabten das Äußerste ab. Raban! Aliandur spürte, wie Zorn in ihm emporstieg. Der Erhabene Prophet des Ordens der Wiedergänger, der sich aus vielen Völkern zusammensetzte, war wahrscheinlich der mächtigste religiöse Führer auf Less – oder war es zumindest gewesen. Aliandur hatte Bilder gesehen, wie er von seinen Jüngern zumindest ver jagt, wenn nicht gar umgebracht worden war; aber sie waren unscharf, und Rabans endgültiges Schicksal war ihm verborgen geblieben. Dass der Opferstein Raban nicht mehr zeigte, sprach allerdings dafür, dass der Erhabene Prophet nicht mehr unter den Lebenden weilte. Der Orden der Wiedergänger verfolgte den Glauben, dass es sich bei dem Wesen, das während der Passage in diese Welt eintreten wollte, um den Schöpfer dieses Universums handelte, der sich nach Beendigung der Schöpfung zurückgezogen und sein Werk in einem anderen Universum fortgesetzt hatte, und der nun zurückkehren wollte, um den Fortgang seiner Schöpfung zu bewerten und nötigenfalls zu vollenden. Aliandur hatte für diese Auffassung nur ein verächtliches Schnauben übrig. Warum hatte der angeblich allmächtige Schöpfer es bisher nicht geschafft, zu seiner eigenen Schöpfung zurückzukehren? Diesen Widerspruch hatte bislang kein einziger Erhabener Prophet des Ordens erklären können. Aliandur winkte den nächsten Seher heran. Raban mochte dem Vergessen anheimgefallen sein, doch im Prinzip war nur ein Übel durch ein anderes ersetzt worden. Sein Jünger Syptus hatte den endgültigen Zerfall verhindert. Er war ein absoluter Fanatiker und hatte Rabans Stelle eingenommen. Der Verkünder zweifelte nicht daran,
dass Syptus unbedingt vollenden wollte, was Raban begonnen hatte. Der zweite Seher trat vor. »Ich bringe dir nun mein Opfer …« Wieder tropfte Blut auf den Stein, wieder wurde seine schwarze Oberseite transparent, wieder breiteten sich schwarze und rote Schlieren aus, doch diesmal lösten sie sich nicht auf, sondern verdichteten sich zu einem Bild. Es zeigte eine wilde Vorgebirgslandschaft. In weiter Ferne brandete ein Meer gegen hohe roten Steilfelsen. Aliandur fluchte leise. Er sah, was Syptus sah. Der Opferstein hatte ihm schon vor geraumer Zeit verraten, dass Syptus Kenntnis von der Urmutter, der Stele und dem Ort, wo sie zu finden waren, erlangt hatte. Er befand sich auf dem Weg dorthin, und wie es aussah, würde er ihn als Erster erreichen – noch vor der Frau mit der Sonnenkraft, der die Prophezeiungen eine bedeutende Rolle bei der Passage und ihrem Ergebnis zugewiesen hatten. Das konnte Aliandur nicht zulassen. Er musste diese Frau in seine Gewalt bekommen. Kein anderer durfte sie haben. Das Bild verblasste, und Novizinnen führten auch diesen Seher fort. Auf einen Wink des Verkünders trat der Dritte vor. Aliandur musste sich überwinden, nun den verhassten Namen auszusprechen, den seines Erzfeindes, seiner Nemesis. Doch es musste sein. »Corundur«, sagte er. So wie er Aliandur genannt wurde, Sprecher des Dur, war Corundur der Feind des Dur. Der Abtrünnige mit seinen Anhängern hatte sich vor über zwanzig Jahren von dem ursprünglichen Orden abgespalten und bezeichnete seinen neuen Orden als »die Warner«. Die Warner hielten Dur für eine grausame, dunkle Gottheit und prophezeiten den Untergang der Welt, sollte die Verbindung gelingen. Das Universum würde sich dem anderen angleichen und sich in eine Hölle verwandeln. Ihr Anführer Corundur, »der Widersacher«, war ein humanoides Wesen, das sein Gesicht unter einer Maske verbarg. Seine Psimagie musste stark sein, denn niemandem war es bislang gelungen, unter diese Maske zu schauen. Auch Aliandur kannte seine Identität nicht, obwohl er einst ein Anhänger gewesen sein musste.
»Ich bringe dir nun mein Opfer …« Blut und Bilder. Aliandur sah eine Stadt, wurde geradezu von ihr geblendet. Goldene Dächer und bunte Wandbemalungen raubten ihm die Sinne. Herrlich geschwungene Dachgiebel ragten in ihrer wertvollen Pracht in den Himmel. Die Säulen, die diese Dächer trugen, waren kunstvoll bemalt oder geschnitzt. Alles wirkte so echt, dass Aliandur fast damit rechnete, die Darstellungen würden zum Leben erwachen. Dann schwenkte der Blick, der nun der seine war, und die Stadt wich einer steinigen Ebene. In weiter Entfernung erblickte Aliandur nun eine andere, schlichtere Siedlung. Der Seher zog sie heran, und der Verkünder machte nun Dächer aus, von denen eine schwarze Substanz tropfte. Choc. Die Stadt, die die Frau mit der Sonnenkraft vor kurzem erreicht hatte. »Er ist ihr dicht auf den Fersen«, murmelte Aliandur. Damit hatte er nicht gerechnet; er hatte gedacht, dass noch etwas mehr Zeit blieb. Er musste sich eingestehen, dass sein Plan nicht so funktionierte, wie gehofft. Raban, dieser dumme Raban … Aliandur hatte ihm ursprünglich ein Bündnis vorgeschlagen, da sie beide dieser Shanija habhaft werden wollten. Natürlich hatte er nicht vorgehabt, die Vereinbarung zu achten. Er hätte Raban eine Falle gestellt, um ihn und seine Jünger zu töten. Doch Raban war nunmehr aus dem Spiel, und dieser Syptus wusste wahrscheinlich nichts von der Übereinkunft; und falls doch, interessierte sie ihn augenscheinlich nicht. Sonst hätte er sich längst mit den Erlösern in Verbindung gesetzt. Eile war also geboten. Syptus war Shanija auf den Fersen und Corundur ebenfalls nicht mehr weit entfernt. Aliandurs Gesandte waren gescheitert, die Frau war immer noch frei. Es war an der Zeit, persönlich einzugreifen. Aliandur schlug mit den Schwingen, und der Seher brach kraftlos zusammen. Es würde Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern, bis er sich von dieser Kraftanstrengung soweit erholt hatte, dass er wieder einsatzfähig war. »Lass die Tiere vor die Kutsche spannen, Somile«, befahl der Ver-
künder. »Rufe unsere besten Kämpfer zusammen. Wir brechen sofort auf.« »Wir können niemals rechtzeitig an der Küste eintreffen, Herr«, wandte der Prior ein. »Wir fahren zum See.« »Zum … See, Herr?« »Zum See. Es ist so weit. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
* Das starke Holpern der Kutsche bereitete Aliandur Unbehagen. Hatte er zu lange gezögert? Waren die Auswirkungen der Passage schlimmer, als er erwartet hatte? Oder aber … hatte sein Glaube ihn verraten? Konnten die Warner recht haben? Würde Dur Less, vielleicht sogar das gesamte Universum in eine Hölle verwandeln? Nein. Aliandur glaubte an das, was er zu dem Menschenmädchen – das ihm übrigens auch kalt, als Bestandteil des Reiseproviants, ausgezeichnet gemundet hatte – im Klostergarten gesagt hatte: Das wird nicht ohne gewisse Veränderungen vonstattengehen, aber Dur wird seine Kinder behüten. Trotzdem sah er mit sorgenvoll geöffnetem Mund aus dem Fenster. Die grauen Wolken wurden immer schwärzer, der peitschende Regen weichte das Erdreich auf. Sie würden länger als vorgesehen für den Weg zum See brauchen. In der Ferne erklang dumpfes Grollen. »O nein«, jammerte Somile, »ein Gewitter zieht auf.« Er war im Gesicht ganz weiß geworden. »Kein Gewitter«, sagte Aliandur. »Ein Orkan. Es ist ein Orkan.« »Dur sei mit uns! Wir sind verloren! Hier auf der Ebene sind wir ihm hilflos ausgeliefert!« Aliandur hatte nur Verachtung für den Prior übrig. Schätzte er sein Leben so hoch ein, dass es über die Erlösung ging? Er hörte die lauten Rufe des Kutschers, mit denen er die Tiere zu wildem Galopp
antrieb, musterte Somile und wusste, was der alte Mensch dachte: Es ist aussichtslos, einem Orkan entkommt man nicht. Nun erklang das Grollen schon ganz nah. Ein Blitz zerteilte den dunklen Himmel. Somiles Gesicht wirkte in dem weißen Licht gespenstisch. Täuschte Aliandur sich, oder schüttelte ein Schluchzen den Körper des Priors? Er hat den Glauben verloren, dachte er. Bei nächster Gelegenheit werde ich ihn ablösen oder beseitigen lassen müssen. Es konnte nicht mehr weit sein, trotz der widrigen Umstände mussten sie den See bald erreicht haben. Den See, in dem das Geheimnis des Ordens der Erlöser ruhte. Lebte. Wartete. Denn es ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt, dachte Aliandur. Für einen Moment war er hin- und hergerissen … da empfing er das Signal. Es war also soweit, der bedeutende Augenblick nahe, und seine Anwesenheit war erforderlich. Keine Zeit mehr zu verlieren. Ich muss etwas unternehmen, auch wenn es mich vielleicht mehr Kraft kostet, als mir gut tut. Er hämmerte gegen Tür der Kutsche. »Halt an!«, rief er. »Halte sofort an!« Der Kutscher schien ihn nicht gehört zu haben, oder er hatte die Tiere nicht mehr in der Gewalt, die mit hoher Geschwindigkeit vor dem sich nähernden Orkan flohen. Jedenfalls musste Aliandur noch einmal klopfen, bis sich die rasende Fahrt verlangsamte und das Gefährt schließlich stoppte. Der Verkünder riss die Tür auf, sprang aus der Kutsche und entfaltete die Schwingen. Der Sturm zerrte an ihnen, und er achtete darauf, sie nicht vollständig auszubreiten, um sie nicht zu verletzen. Die dunklen Wolken über ihm wurden von einem irrlichternden Schein erhellt, von Blitzen, die nicht mehr senkrecht, sondern waagerecht durch den Himmel zuckten. Aliandur riss die Hände mit den Klauenfingern hoch und den Mund auf. Seine Zunge peitschte vor und schmeckte die Luft. Sie
roch falsch. »Dur«, brüllte er und reckte alle Arme in die Luft. »Ich bin dein ergebener Diener, damit dein Reich komme und dein Wille geschehe wie in deinem als auch diesem Universum.« Das Toben des Sturms hielt unvermittelt an. Dann sprach Aliandur die geheimen Worte des Ordens der Erlösung. »K'lyeh wgah'nagl fhtagn …« Der Orkan verstummte endgültig. Aliandur stellte fest, dass er am ganzen Leib zitterte. Er öffnete die Augen. Sonnenlicht blendete ihn. Strahlende Helligkeit, als wäre der Sturm nur in seiner Einbildung aufgezogen. Mit letzter Kraft richtete er sich auf. Da sah er ihn. Wie ein riesiger Spiegel lag er da, eingebettet in den Schoß der Berge, einem riesigen Auge gleich, das starr und offen in den Himmel blickte. Der See, in dem das lag, was sein legendärer Vorgänger, der erste Verkünder des Ordens, gefunden hatte. Das, was die letzte Passage angeblich von den anderen unbewohnten Monden oder Fathom selbst gerissen und nach Less gezerrt hatte.
* Die stille Pracht des Sees raubte ihm für einen Augenblick den Atem; von den Nachwirkungen des Sturms war nichts mehr zu bemerken. Aliandur breitete die Schwingen aus, richtete sich auf, ging langsam die letzten Schritte bis zum Ufer. Dur hat mich erhört, dachte er. Erhört und gerettet. Jede Bewegung war eine Qual; nie gekannter Schmerz durchfloss seinen Körper. Doch die Erniedrigung, kriechen zu müssen, wollte er sich ersparen. Mit einer Würde, die ihn selbst erstaunte, trat er ans Ufer. Ein leichter Wind brachte die Wasseroberfläche zum Kräuseln. Sein Blick suchte das andere Ufer, das irgendwo im fernen Dunst lag.
»Ich brauche deine Hilfe!«, rief er. Seine Stimme wurde von den Bergen zurückgeworfen. »Deine Hilfe! Deine Hilfe!«, klang es klar und hohl zurück. Langsam sank er auf die Knie; die Kraft hatte ihn endgültig verlassen. Vorsichtig beugte er sich vor und erblickte das Gesicht, das ihm der See entgegenhielt. Ein völlig fremdes Gesicht, ohne Nüstern auf der Maulspitze und Knochenwülsten über den Augen, aber mit Tränen und Schatten darunter. Ein Bild von Leid und Ernüchterung. »Ph'nglui mglw'nafh Cthulhu«, murmelte er den ersten, den noch stärkeren geheimen Satz des Ordens, und als es dann geschah, wusste er, dass sein kurzer Zweifel ihn erniedrigt und entwürdigt hatte. Aber Dur war gnädig, Dur verzieh, denn Aliandur bereute zutiefst. Der Verkünder wusste, was er zu tun hatte. Er hielt die Hand über den See, und die Wolken, die schon längst verschwunden waren, zogen sich von neuem zusammen und bildeten eine Säule, die den Himmel teilte und sich hinter ihn schob. Und er sah, dass sie dort Finsternis über das Land brachte und vor ihm den See erleuchtete, und ein starker Ostwind kam aus der Wolke auf und ließ das Wasser des Sees zurückweichen. Genauso haben die Altvorderen des Ordens es beschrieben, dachte Aliandur. Und aus dem Boden des Sees erhoben sich Gebilde. Das Erste rollte heran, und der Verkünder spürte, wie neue Kraft ihn durchströmte. So etwas hatte er noch nie erblickt, und es war wunderschön. Es sah aus wie eins der Fahrräder, die in manchen Städten auf Less in Mode gekommen waren. Aber es hatte vorn und hinten jeweils zwei Räder, die dem Gefährt zusätzliche Stabilität verliehen, vor dem Fahrersattel waren zwei Tanks angebracht, und hinter dem Sattel zwei große Düsen, aus denen eine nebelähnliche Substanz quoll, die das Gefährt antrieb. Dampf, dachte Aliandur. Durs Geschenk wird mit Dampf betrieben! Aus dem sandigen Boden des Sees formte sich ein zweites solches Gefährt, ein drittes, viertes, fünftes, und es schien noch keine Ende
zu nehmen. Und alle waren gepanzert, und vermutlich – Aliandur bezweifelte es keinen Augenblick lang – schnell. Er richtete sich zu voller Größe auf, und es fiel ihm nicht schwer. Seine Kraft war zurückgekehrt. Die Psimagie des Herrn im See bewirkte Wunder, wie schon seit Urzeiten. Seit es den Orden des Erlösers gab. »Auf die Gefährte, meine Krieger!«, rief er. »Wir werden Shanija Ran ergreifen und alle töten, die sich uns in den Weg stellen!« In diesem Augenblick wusste er mit absoluter Sicherheit, dass sie den Ort des letzten Gefechts rechtzeitig erreichen würden. Und er verdrängte den Gedanken, dass das, was seit langem in diesem See lebte, nicht für Dur eintrat, sondern nur dem Orden zu Gefallen sein wollte. Denn Dur würde bald kommen, und seine Herrschaft würde glorreich sein.
* Ein leichter Druck hatte sich über Shanijas Kopf gelegt, während sich der Schlaf einfach nicht einstellen wollte, so, als würde der Vorbote eines schweren Migräneanfalls seine dunklen Schwingen ausbreiten und sie langsam einhüllen. Dabei fühlte sie sich wunderbar entspannt und erschöpft, gleichzeitig leer und erfüllt. Der Sex mit Darren war anstrengend und wundervoll gewesen. Sie sah zu ihm; er hatte keine Probleme gehabt, war sofort eingeschlafen, nachdem sie sich zum letzten Mal geliebt hatten. Männer, dachte sie, aber nicht abfällig oder gar zornig. Vielleicht konnte sie nicht einschlafen, weil etwas in ihr nagte. Während Mun in der Schankstube nach der Möglichkeit der Unterkunft gefragt hatte, war Shanija etwas klar geworden. Sie war das Zentrum der kleinen Gruppe, und ohne sie würde die Gemeinschaft zerbrechen, eher früher als später. Nur Shanija gab ihr Halt. Während der langen Reise von Westen nach Osten hatten sie sich
mehrmals getrennt und wieder zusammengefunden, und nun sah Shanija gewisse Strukturen. Darren und sie bildeten ein Paar, auch wenn sie sich fragen musste, ob sie beide irgendeine Zukunft hatten. Zwischen Seiya und Mun hatte sich ebenfalls etwas getan, wenngleich die beiden es verborgen halten wollten, vor allen anderen und vor allem vor sich selbst. Obwohl Shanija vermeintlich nur Augen für Darren gehabt hatte, war ihr nicht verborgen geblieben, welche Blicke die Prinzessin dem Adepten zuwarf, und wie er ebenfalls häufig verstohlen zu ihr schaute. Von ihrer Herkunft und Lebensauffassung waren sie jedoch wohl zu unterschiedlich, sodass sich bisher nicht mehr daraus entwickelt hatte. Und As'mala … Shanija tat es zutiefst leid, wie sie sich ihrer Freundin gegenüber verhalten hatte. Wie ein verliebtes Schulmädchen hatte sie unten im Schankraum mit Darren geturtelt, es kaum abwarten können, mit ihm in die Kiste zu steigen, während die Diebin und Leibwächterin, selbst kein Kind von Traurigkeit, sich bestimmt immer überflüssiger vorgekommen war. Verdammt! Shanija fragte sich, warum sie sich so unmöglich benommen hatte. War sie denn wirklich schon so abhängig von Darren geworden? Und sie fragte sich, wie es Seiya und Mun inzwischen ergangen war, ob As'mala einen Lover für die Nacht gefunden hatte, warum noch keiner von ihnen zurückgekommen war, und … Und warum diese Gedanken zwischen Schlaf und Wachsein einfach nicht von ihr ließen und sie nicht einschlafen konnte, obwohl sie wusste, wie schwer der morgige – oder schon der heutige? – Tag werden würde. Um sich abzulenken, dachte sie an etwas anderes, an ihre Eltern, ihren Bruder, den Wohnblock, in dem sie aufgewachsen war, doch das war wohl nicht die beste Wahl gewesen, denn der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen, und irgendwann dachte sie an das Klopfen, und an Fiara …
*
Zwischenspiel (WY-State, August 3200 – noch vier Jahre) Dumpf schlich das Klopfen in meinen Kopf, wurde immer lauter, bis es schließlich geradezu dröhnte und mich endgültig weckte. Müde drehte ich mich um und starrte auf die Leuchtanzeige des Weckers. Drei Uhr nachts. »Nicht schon wieder.« Ich zog die Decke über den Kopf, doch das Geräusch hämmerte beharrlich in meinem Schädel. Seit einigen Wochen raubte mir das Pochen den Schlaf, den ich dringend brauchte. In aller Herrgottsfrühe musste ich hart ran. Quer durch drei Blocks von Washington-York State und in die Computer-Konstruktion. Wenn ich müde war, machte ich Fehler. Fehler kosteten Geld, und das wurde mir von meinem Hungerlohn abgezogen. Auf die zwei Stunden Schlaf, die mir noch blieben, bis ich aufstehen musste, konnte ich einfach nicht verzichten. Das Geräusch erklang nicht jede Nacht, aber mehrmals in der Woche, und ich fragte mich, warum sich sonst niemand daran störte und der Sache auf den Grund gegangen war. »Diesmal bist du dran«, flüsterte ich, öffnete die Schublade des Nachttischs und holte die Taschenlampe heraus, die ich mir vor kurzem besorgt hatte. Die Verwaltung unseres Wohnblocks stellte um 21 Uhr den Strom ab. Energie war kostbar. In den Häusern und auf den Straßen unseres Viertels wurde es also stockdunkel, bis die Sonne aufging und den Himmel grau färbte. Anständige Menschen, hieß es, hatten des Nachts draußen sowieso nichts zu suchen, sollten schlafen, damit sie frisch und ausgeruht zur Arbeit kamen. Wenn sie denn Arbeit hatten. Nur wer einen Nachtschicht-Job ergattert hatte, hatte meistens Geld, um sich Batterien zu kaufen. Mir wurde schwindlig, als ich mich aus dem Bett schwang. »Nichts Ernstes«, sagte Mutter immer, wenn ich ihr beichtete, dass es mir nicht gut ging. »Nur ein Wachstumsschub. Geht von selbst weg. Zum Arzt müssen wir deshalb nicht.« Wir gingen sowieso niemals zum Arzt, und wenn ich noch so
krank war. »Ärzte kosten Geld, und Geld haben wir keins«, sagte Mutter, doch das war nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte bestand darin, dass mein Vater gemeinsam mit Mutter, Aaron und mir zu der verdammten LICA-Sekte konvertiert war. Die verbot den Einsatz von medizinischer Hilfe bei Krankheiten und stellte den Organismus und seine Selbstheilungskraft in den Vordergrund. Ich hatte versucht, meinem Arm etwas von Selbstheilungskräften zu erzählen, als ich ihn mir damals gebrochen hatte, aber genauso gut hätte ich gegen eine Wand reden können. Seitdem passte ich auf, was meine Gesundheit betraf. Ich hatte die Lektion gelernt. Vielleicht früher, als irgendein Mensch solch eine Lektion lernen sollte. Und seitdem konnte mir LICA gestohlen bleiben. Mich hatte niemand gefragt, ob LICA mein Seelenheil war. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich aus der Sekte austreten und selbst über mein Seelen- und körperliches Heil bestimmen konnte. Spätestens, sobald ich auf die Militärakademie ging. Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Ich war oft nachts unterwegs, um mit Vater Reparaturen durchzuführen, wenn er sich bei einem Mieter im Wohnblock verdingt hatte, dem es etwas besser ging als uns. Bei manchen Arbeiten brauchte Barn Hilfe, und es gefiel ihm, einen Handlanger zu haben, der die schweren Sachen für ihn schleppte. Aaron wollte er das nicht zumuten. Aaron brauchte seinen Schlaf, damit er in der Schule klarkam. Aus ihm sollte schließlich was Besseres werden. Aber wir hatten das Geld, das Vater auf diese Art und Weise heranschaffte, dringend nötig. Die staatliche Grundsicherung reichte vorn und hinten nicht. Wenn wir mal etwas anderes als den Einheitsfraß runterschlingen wollten, mussten wir nebenbei etwas verdienen. Ich verfluchte Barn, weil ich ihm die Hälfte der paar Kröten, die ich während der Ferien bei der Computer-Konstruktion heranschaffte, abgeben musste. Es war unglaubliches Glück gewesen, dass ich diesen Job bekommen hatte. Erwachsene stellten sie für solche Hilfsarbeiten nicht mehr ein, denn Zwölfjährige konnten sie für ein Drittel des üblichen Lohns anheuern, ohne dass jemand Fragen stellte.
Wer sich beschwerte … Kein Problem. Dann nicht. Danke für die Bewerbung. Bist ja nur eine von Hunderten für diesen Aushilfsjob … Seit einigen Wochen hatte Vater mich nicht mehr aufgefordert, ihn zu begleiten. Eigentlich, seitdem das Klopfen angefangen hatte. Trotzdem brachte er ab und zu Geld mit nach Hause. Vielleicht hatte er ja einen anderen, besseren Gelegenheitsjob gefunden, einen, den er allein erledigen konnte. Ich schaltete die Taschenlampe nicht ein. Wenn die Batterie leer war, musste ich mir von meinem eigenen Geld eine neue besorgen; außerdem kannte ich mich in dem Verschlag, der mein Zimmer war, blind aus. Verlaufen konnte ich mich hier wirklich nicht. Die Tür war abgeschlossen. Wütend drückte ich die Klinke noch einmal hinab, doch der Weg in den Flur blieb versperrt. Ich fluchte leise. Entweder hatte Aaron mir wieder einen dummen Streich gespielt, oder meine Eltern schienen ihre Drohung wahr gemacht zu haben, mich in meinem Zimmer einzuschließen, damit ich »keinen weiteren Unfug mehr« anstellte. Fragt sich nur, wer mich dann um Fünf rausgelassen hätte, damit ich zur Arbeit konnte. Ich war nämlich die Einzige, die so früh aufstand. Aber so leicht ließ ich mich nicht übertölpeln. Ich tastete mich zurück zum Bett, hob die Matratze an und stöberte nach dem Werkzeug, das ich dort schon lange gut versteckt hatte. Mühsam zusammengesammelt oder getauscht; man wusste ja nie, wofür es eines Tages gut war. Ich sammelte alles, was mir hier raushelfen konnte. Kurz darauf war die Tür offen. Nun wollte ich herausfinden, wer diese nächtliche Störung verursachte, und warum. Geklopft wurde immer nur ein paar Mal. Einbrecher oder Diebe würden wohl kaum so geräuschvoll fremde Wohnungen durchstöbern, während alle schliefen. Ich schüttelte den Kopf. Viel zu holen gab es hier ohnehin nicht, weder in diesem noch einem anderen Block der Gegend. Wir lebten alle am Rande des Minimums. Allerdings hatte Aaron mal zu mir gesagt: Es gibt Leute, die haben noch weniger als wir … Das war nicht von der Hand zu weisen. Manche hatten nicht einmal eine Wohnung. Ich schlich leise durch die Diele, entriegelte die Wohnungstür, öff-
nete sie, schlüpfte hinaus und zog sie leise hinter mir zu. Ich verharrte, hielt die Luft an und lauschte. Wieder tönte das Klopfen leise durch den Korridor des Wohnblocks. Ich konnte nicht lokalisieren, woher es kam. Vielleicht von dieser Etage, 54, vielleicht auch von der darüber. Langsam schritt ich den Gang entlang, schaltete kurz die Taschenlampe zur Orientierung ein und gleich wieder aus. Im Lichtkreis wirkten die vielen anderen Türen wie bedrohliche Schatten, die manchmal nach mir zu greifen schienen. Ich drehte den Kopf hin und her. Natürlich war es keine gute Idee, wenn ein kleines Mädchen um diese Nachtzeit allein durch den Wohnblock zog. Aber die Neugier war stärker. Irgendwo quietschte eine Tür. Ich blieb stehen. Im dumpfen Rhythmus klopfte es weiter. »Was machst du denn hier?« Das bleiche Gesicht einer jungen Frau erschien unerwartet vor mir. Ihr Kopf schwebte körperlos im Dunkeln. Ich hielt erschrocken den Atem an, schaltete die Taschenlampe ein und richtete sie auf die Frau. Ruhig bleiben, das ist nur eine optische Täuschung. Der Versuch eines Grinsens gelang mir nur kläglich; ich kniff die Augen zusammen. Im Schein der Taschenlampe sah ich, dass sich unter dem Kopf tatsächlich ein Körper befand. Kein Geist, ich hatte recht behalten. Jetzt erkannte ich die Frau. Fiara hieß sie. Sie war viel älter als ich, fast doppelt so alt, jedenfalls schon über zwanzig. Wir hatten uns manchmal auf dem Gang getroffen, aber kaum jemals ein Wort miteinander gewechselt. Sie wirkte immer so … geistesabwesend. Wie aus einer anderen Welt. Aaron hatte erwähnt, dass sie was schluckt. Und zu manchen Sachen bereit war. Dabei hatte er vielsagend geblinzelt, und mir war klar geworden, was er meinte. Schließlich war ich schon zwölf, längst kein Kind mehr und bestimmt nicht blöd. »Du solltest dich um diese Zeit nicht rumtreiben!«, fauchte sie. »Ein Kind hat hier nichts verloren.« Ich sah, dass sie eine schwarze Jacke ohne was drunter und einen
kurzen roten Rock trug. Ihre Dinger waren viel größer als meine, lugten durch die halb offene Jacke. »Und was hast du zu der Zeit hier zu suchen?«, fragte ich mutig zurück. »Woher hast du überhaupt gewusst, dass ich hier hin?« Gefallen lassen würde ich mir von ihr jedenfalls nichts. Plötzlich änderte sich ihr Verhalten, und sie lächelte mich an. »Es ist leer und kalt in meinem Zimmer. Hier bist du, und ich kann mit dir sprechen. Dann fühle ich mich nicht mehr so nutzlos.« Ihre blauen Augen blickten melancholisch durch mich hindurch. Oder einfach nur traurig. Vermutlich hatte sie was geschluckt, weil sie so wirr redete. Wo kriegte sie das Zeug her, und woher hatte sie vor allem das Geld dafür? Aaron erzählte immer Schauergeschichten von Leuten, die Drogen nahmen. Und Vater wandte dann jedes Mal den Blick ab und sagte ihm, er solle damit aufhören. Sie trat einen Schritt auf mich zu, und ich spürte, dass ich zu zittern anfing. »Hast … hast du etwas Ungewöhnliches bemerkt?«, fragte ich. »Oder jemand gesehen?« Es war eine sinnlose Frage. In ihrem Zustand bekam sie kaum was mit. Dennoch hoffe ich wider besseres Wissen, dass sie ja sagte. Dass sie diesen körperlosen Fremden gesehen hatte, der mir mit seinem Klopfen den Schlaf raubte. Aber sie schüttelte langsam den Kopf. Als hätte sie es nicht selbst getan, sondern ein lauer Wind ihn bewegt … »Leider nicht, Kleines. Sha … Shasta? Ich würde dir gern helfen.« Ihre Stimme wisperte zart gegen das Klopfen an. Das Klopfen … Mit ruckartigen Bewegungen sah Fiara sich um. Einen Moment lang stand sie unschlüssig da. »Shanija«, sagte ich. »Komm, ich bringe dich in deine Wohnung zurück.« Ich streckte die Hand aus, doch sie wich zurück. »Du solltest wirklich reingehen. Am besten schließt du die Tür ab. Zweimal, wenn du kannst.« Es klopfte erneut, und ein Ruck ging durch die junge Frau. »Nein«, sagte sie. »Ich muss … ich will dir beim Suchen helfen.« Ich nickte gleichmütig. Wenn sie es so wollte … Natürlich belog
sie mich. Sie wollte etwas ganz anderes, das spürte ich. Ich war ihr völlig gleichgültig. Aber ich hatte schon vor einiger Zeit gelernt, dass es manchmal einfacher war, die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren, als gegen sie zu kämpfen. Manchmal jedoch nicht. Manchmal musste man kämpfen. Inzwischen war das beständige Klopfen lauter geworden, ungeduldiger, und ich konnte nun hören, dass es genau über mir war. »Komm«, sagte Fiara und griff nach meiner Hand. Zuerst schreckte ich vor der Berührung zurück, doch dann ließ ich sie zu, und Fiara zerrte mich mit sich. Ihre Hand war kalt, eiskalt. Um auf die nächste Etage zu gelangen, mussten wir die Treppe benutzen. Der Zehn-Etagen-Aufzug war nachts wie alles andere außer Betrieb. Wer jetzt zur Arbeit ging, musste wohl oder über bis zur 50. oder 60. Etage hinauf- oder hinabgehen. »Ein Glück, dass ich mich hier so gut auskenne«, murmelte Fiara. »Die Tür zum Treppenaufgang würde niemand im Dunkeln finden.« Ein bisschen Eigenlob stinkt nicht, dachte ich. Mir war schon mulmig bei dem Gedanken, allein mit dieser Süchtigen ins Treppenhaus zu gehen. Doch wenn ich dem Spuk ein Ende bereiten wollte, blieb mir nichts anderes übrig. Jetzt erst recht! Ich musste dem Unbekannten ins Gesicht lachen und durfte keine Angst zeigen. Wie theatralisch, dachte ich. Die kleine Shanija macht sich Mut! Vielleicht würde es ja auch genügen, nur herauszufinden, was dieses Klopfen zu bedeuten hatte. Vielleicht würde es mich ja nicht mehr in meinem Schlaf stören, wenn ich das wusste. »Hilf mir! Steh nicht nur dumm rum!« Fiara zeigte auf die schwere Tür vor mir, die im Licht der kleinen Lampe wie ein Tor in eine andere Welt wirkte. Die Frau drehte an einem Rad und drückte gegen das Metall. Mit leisem, schrillem Kreischen gab die schwere Tür unter unserer gemeinsamen Anstrengung nach. Fiara zog mich mit sich, und schwitzend stand ich in Dunkelheit und abgestandener Luft.
Nach draußen gingen meistens nur diejenigen, die Arbeit hatten. Alles, was wir brauchten, war hier im Haus, in nächster Nähe. Jede fünfte Etage bot denen, die Geld hatten, Einkaufspassagen, Arztpraxen und Bildungsstätten. Auf dem Dach sollte es sogar einen Park geben. Ich war noch nie so weit oben gewesen. Ich wollte gern daran glauben, dass es so war, fürchtete aber die Enttäuschung. Und ich ging lieber hinaus, darin unterschied ich mich von meinem Bruder und meinen Eltern. An meinem zehnten Geburtstag war ich, wie ich es mir vorgenommen hatte, heimlich durch die Stadt gefahren und hatte mich ins Palmenhaus geschlichen. Einen Strand hatte ich dort leider nicht gefunden. Was würde ich dafür geben, mit nackten Füßen über Sand zu gehen und das Rauschen des Meeres zu hören! Ich stieg hinter Fiara die Treppe empor. Heute bist du dran, dachte ich. Ich rannte fast die letzten Stufen zur nächsten Etage hoch, und meine Wut vertrieb die Angst. Keuchend blieb ich vor der schweren Zugangstür stehen und sah meine Begleiterin an. Sie lächelte, nickte. Hier ist es, dachte ich, dahinter steht er und lacht über mich. Ich schob Fiara zur Seite, drehte an dem Rad, doch es bewegte sich nicht. Keinen Millimeter, obwohl ich meine ganze Kraft einsetzte. Fiara lachte leise. Als sie verstummte, hörte ich, dass unter uns Schritte erklangen. Sie waren nicht weit entfernt. Ich fuhr herum, richtete den Strahl der Taschenlampe in die Dunkelheit. Er huschte über einen Körper, ein Gesicht. Bevor ich es erkennen konnte, wurde ein Armpaar hochgerissen. Ich vernahm ein gedämpftes Fluchen, und die Gestalt fuhr herum und polterte die Stufen hinab. Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. Wir waren nicht allein! Verdammt sei LICA, was hatte ich denn erwartet? Weshalb hatte ich mein Zimmer überhaupt verlassen? Um den zu finden, der mich um den Schlaf brachte! Aber wenn der nun ein wahnsinniger Mörder war? Der Gedanke pumpte noch mehr Adrenalin durch meine Adern. Hinter mir ein leises Surren. Ich drehte mich um. Die Tür zur
nächsten Etage öffnete sich wie von Geisterhand, ohne dass jemand sie schob oder zog. Verfügte sie etwa über so einen automatischen Türöffner, wie sie in besseren Wohngegenden gang und gäbe waren? Zum Beispiel in der Firma, bei der ich arbeitete. »Fiara, wo bleibst du denn? Was machst du für Sachen? Fünf Kunden warten schon!«, hallte eine nasale Stimme durch die Türöffnung. Sie kam mir bekannt vor, doch ich konnte sie nicht genau einordnen. Der Klopfer! Ich hatte ihn tatsächlich gefunden! Nein, hatte ich nicht. Im nächsten Moment dröhnte das Klopfen lauter als je zuvor durch den Treppenschacht. Also war ich zumindest auf der richtigen Spur. Und ich würde dem Unbekannten nicht den Gefallen tun und das nervöse kleine Mädchen spielen. Solange Fiara bei mir war, konnte mir ja nichts passieren. Ich richtete die Taschenlampe auf die Türöffnung. »Wer ist da? Zeig dich! Ich will dir ein paar Fragen stellen!« Die Schritte im Treppenhaus entfernten sich schnell. Ich konnte ein leises Keuchen hören. Vor mir kamen andere Schritte näher. Die Tür wurde aufgerissen, und ich schloss die Augen, als ein Lichtschein durch die Öffnung fiel. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, wem die nasale, vertraute Stimme gehörte. Jerat, dem Sektenbeauftragten an meiner Schule. Er starrte mich mindestens genauso entgeistert an wie ich ihn. »Das ist doch … Barn Tovans Tochter, oder? Hast du dir dein Gehirn jetzt völlig gegrillt, Fiara? Was soll das?« Plötzlich veränderte sich sein Blick, wurde ganz seltsam … lüstern. So, wie mich manche Jungs in der Schule anstarrten, die aus den höheren Klassen, wenn sie mich zu irgendwas einladen wollten. Ich wusste natürlich, was sie in Wirklichkeit von mir wollten. »Oder hast du eine Kollegin mitgebracht? Schaffst du es nicht mehr allein? Dann musst du den Stoff mit ihr teilen.« »Spinnst du?« Fiara lachte hoch und gellend. »Sie ließ sich einfach nicht abschütteln. Ihr Idioten habt sie mit eurem ständigen Klopfen geweckt. Ich hab euch gesagt, dass wir uns was anderes einfallen
lassen müssen. Das ist Scheiße!« »Sollen wir etwa Brieftauben schicken? Wir leben hier nicht bei den Reichen, und das Holovid fällt ständig aus.« Jerat zog an der Tür, und ich sah, dass er nicht allein war. Zwei Männer standen neben ihm. Ich kannte sie nicht, sie kamen mir verdammt kräftig vor. Damit waren wir zu fünft. Das gefiel mir gar nicht. Frechheit siegt, dachte ich. »Was soll dieses Klopfen jede zweite Nacht?«, fragte ich. »Das raubt mit den letzten Nerv!« Jerats Gesicht lief rot an. Er sah mich mürrisch und ungläubig an, als könne er nicht glauben, was ich da gesagt hatte. »Es weckt mich jedes Mal«, fuhr ich fort, doch er achtete nicht auf mich. »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte er Fiara. »Habt ihr den Stoff?« Sie schien ihn nicht gehört zu haben. »Natürlich«, sagte er geistesabwesend, nachdenklich. »Hätten wir sonst geklopft?« »Und ich habe, was ihr wollt«, sagte Fiara und zog den Rock hoch. Darunter trug sie nichts. Ich fragte mich, wieso sie da unten keine Haare hatte. Sie war viel älter als ich, und ich hatte schon welche. »Du blöde Schlampe bist ja zugedröhnt!«, sagte Jerat und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Was sollen wir jetzt mit der Kleinen machen, frage ich!« Ich bewegte den Kopf langsam hin und her. Ich überlegte, welche Möglichkeiten mir blieben. Eigentlich nur eine, und die kam mir nicht besonders angenehm vor. »Nehmen wir sie mit, als Star des heutigen Abends, und dann schaffen wir sie uns vom Hals!« Fiara grinste breit. »Wär doch mal 'ne Abwechslung!« »Spinnst du? Das ist Barns Tochter, und er …« Jerat schlug sich buchstäblich die Hand vor den Mund, und sein Blick flackerte plötzlich. »Du blöde Kuh«, sagte er zu Fiara und wollte nach meinem Arm greifen. Ich wich ihm aus. Fiara war so schwach und untrainiert, wie sie aussah. Mein Ziel war es, zur Militärakademie zu gehen, und ich tat schon jetzt alles dafür, um angenommen zu werden. Die Aufnahme-
bedingungen waren hart. Was Fiara tat, war mir jetzt klar, und dafür musste man sich nicht großartig fit halten. Nur einigermaßen gut aussehen und den Brechreiz unterdrücken können, vermutete ich. Ich stieß Fiara heftig an. Sie stolperte und kippte zur Seite, sah mich dabei an – traurig, kam es mir vor – und prallte dann gegen Jerat, obwohl sie mit etwas Geschicklichkeit hätte ausweichen können. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da hatte ich mich schon umgedreht und hetzte die Treppe hinab. Ich hatte beim Aufstieg gewohnheitsmäßig die Stufen gezählt und schaltete die Taschenlampe aus. »Hinterher«, ertönte oben eine Männerstimme, die ich nicht kannte, und dann eine andere, Jerats: »Nein, wartet! Wir haben keine Taschenlampen! Und das ist Barns Tochter! Das müssen wir anders regeln.« Zwo, vier, sechs, acht, zehn, zwölf Stufen, Treppenabsatz, drei Schritte links herum, zwo, vier, sechs, acht, zehn, zwölf Stufen, Tür. Sie war noch so halb geöffnet, wie wir hindurchgeschlüpft waren. Ich schlüpfte durch die Öffnung, drückte die Schultern gegen die Tür und schob sie zu – als würde mir das irgendeine Sicherheit geben, irgendeinen Schutz. Ich schaltete die Taschenlampe ein und rannte weiter, bis zu unserer Wohnungstür, öffnete sie, schloss sie hinter mir und verriegelte sie. Ich blieb stehen, lauschte. Ich wusste nur allzu gut, wer der Mann gewesen war, der nach Fiara und mir die Treppe emporgestiegen und dann Hals über Kopf geflohen war. Dem das Klopfen gegolten hatte. Hammerschläge gegen alte, freigelegte Rohre, bis alle Männer auf den drei Etagen, denen das Angebot galt, Bescheid wussten. Vater, Barn Tovan, musste schon längst zurück sein. Ich fragte mich, wieso er nicht auf mich wartete. Wahrscheinlich lag er neben Mutter im Bett, stellte sich schlafend, während seine Gedanken rasten, was er jetzt tun sollte. Ich schlich weiter zu meinem winzigen Zimmer, schlüpfte hinein. Jetzt wusste ich, warum meine Tür vorhin abgeschlossen gewesen war. Sehr lange stand ich in dem dunklen Raum, bewegte meinen Oberkörper leicht nach vorn und hinten. So konnte ich am besten
nachdenken. Was würde jetzt geschehen? Was würde Vater unternehmen? Und was hatte er überhaupt damit zu tun? Besorgte er den Stoff oder die Freier? Wie sollte ich ihm je wieder auch nur ein Wort glauben können, wenn er mich über die Redlichkeit des Menschen belehren wollte? Ich legte mich auf das Bett und schloss die Augen. Gar nichts würde ich tun, wurde mir klar. Und Vater ebenfalls nicht. Nichts war passiert, keiner würde etwas sagen. Wenn mir etwas zustieß, würden Mutter und Aaron zu viele Fragen stellen. Und wie sehr ich Vater auch hasste, so ein schlechter Mensch war er nicht, dass er mich in Gefahr bringen würde. Aber ich war überzeugt, von jetzt an würde das Klopfen mich nicht mehr aus dem Schlaf reißen. Die Angehörigen der Hausgemeinschaft, die sich mit Fiara vergnügten, mussten eine neue Kommunikationsmethode entwickeln. Vielleicht waren Brieftauben nicht die schlechteste Wahl. Und wenn sie doch weiterhin klopften, würde es mich nicht mehr stören. Jetzt wusste ich, was das Geräusch zu bedeuten hatte. Und ich hatte gelernt, dass man seine Nase nicht in alles hineinstecken musste, was einen nichts anging. Nur noch vier Jahre, dachte ich, während ich auf den Schlaf wartete. Vielleicht gelang es mir ja sogar irgendwie, schon vorher zur Aufnahmeprüfung anzutreten.
5. Bei allen Meeresteufeln, nichts ist mehr wie noch vor wenigen Tagen, dachte As'mala, während sie langsam durch die Straßen Chocs schlenderte, die sich merklich geleert hatten. Lag es daran, dass die Wirkung der zähen, dunklen Flüssigkeit auf den Dächern nun spürbar nachließ, wie Mun es vorhergesagt hatte, oder an dem Unwetter, das so plötzlich aufgezogen war und sich mit urtümlicher Gewalt entladen hatte? Die Passage stand unmittelbar bevor, und ihre Auswirkungen wurden immer deutlicher. Am Himmel herrschte ein Aufruhr, der mit dem in ihrem Inneren vergleichbar war. An diesen großen Konflikt, in den sie hineingeraten war, mochte As'mala erst gar nicht denken. Ihr genügte der, der in ihrem Inneren tobte. As'mala die Lockere, die Leichtlebige, die geglaubt hatte, in sich zu ruhen, niemals etwas an sich heranzulassen, allen anderen überlegen zu sein, das Leben zu genießen, ohne sich binden zu wollen, vielleicht auch, um bei einer Enttäuschung keinen Schmerz zu erleben … diese As'mala gab es nicht mehr, befürchtete sie. Die Geschichte mit Raban saß ihr tief in den Knochen. Sie hatte sich übertölpeln lassen, war einer Gehirnwäsche unterzogen worden, hätte fast zwei Freunde auf dem Gewissen gehabt. Wie hatte ihr das nur passieren können? Beim Gestank Hosindas, nie hatte sie auch nur in Erwägung gezogen, dass sie einmal solchen Mist bauen könnte. Sie war noch längst nicht darüber weg. Und … die Zukunft. Was sollte nun werden? Wie würde es weitergehen? Sie brauchte nur in den Himmel zu schauen, um zu sehen, dass buchstäblich große Ereignisse ihren Schatten vorauswarfen. As'mala war keineswegs überzeugt davon, dass sie – sie alle! – die nächsten Tage überleben würden. Vielleicht, wenn sie viel Glück hatten. Und dann? Was würde nach der Passage geschehen? Sollte, konn-
te As'mala so weiterleben wie bisher? Schon kurz nach dem Wiedersehen hatte sie sich sehr allein gefühlt, und in der Herberge erst recht. Nachdem die Freude abgeklungen war, war ihr einiges klar geworden. Im Grunde war sie doch nur das fünfte Rad am Wagen. Shanija und Darren, wohl auch Seiya und Mun, wenn sie nur ihren Mut zusammennehmen würden … diese beiden Paare hatten sich gefunden, und sie stand irgendwo dazwischen. Und wenn das alles hier vorbei war, würde sie vermutlich ganz allein dastehen. Andererseits hatte As'mala sich bislang ihr gesamtes Leben allein durchgeschlagen. Eins nach dem anderen, sagte sie sich. Es wird sich schon ergeben. Zuerst einmal würde sie alles daran setzten, Shanija an ihr Ziel zu bringen. Aber was danach kam … davor hatte die junge Frau Angst. Eines war ihr jedenfalls klar – wenn sie überlebte, würde eine große Veränderung auf sie zukommen. As'mala ließ den Blick zum Himmel schweifen. Der nächste Gewittersturm würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wenn sie sich also betrinken wollte, sollte sie so schnell wie möglich nach einer Schenke suchen. Eigentlich hatte sie nicht mehr die geringste Lust darauf. Einen Mann aufreißen, sich von ihm ins Vergessen vögeln lassen und dieses Vergessen dann mit einem schweren süßen Wein allumfassend werden zu lassen, hatte zwar einen gewissen Reiz, aber wenn sie an den morgigen Tag dachte … Shanija wollte morgen in aller Frühe aufbrechen, und As'mala wollte sie nicht enttäuschen. Sie wollte nicht schon wieder jemanden enttäuschen. Also musste sie ihre Sinne beisammenhalten. Sie sah sich um. Nun erst merkte sie, dass sie mehr oder weniger ziellos ausgeschritten war. Sie hatte sich vom exklusiven Stadtzentrum entfernt und war in die ärmlicheren Außenbezirke gewandert. Eigentlich sogar in ein sehr ärmliches Viertel, wenn man es genau nahm. Von prächtigen Häusern war hier nichts mehr zu sehen, geschweige denn von einem Schokoladen-Überzug auf den Dächern. Niedrige Hütten umgaben As'mala, und sie steckte bis zu den Knö-
cheln im zähen Schlamm, der sie ebenfalls an Schokolade erinnerte, aber bestimmt nicht dessen gerühmte Eigenschaften hatte. Und sie war nicht allein. As'mala kniff die Augen zusammen, war plötzlich wieder hellwach, blickte sich verstohlen um, ob sie es nur mit diesem halben Dutzend vor ihr zu tun hatte oder sich irgendwo Verstärkung verbarg. Sie konnte keine entdecken. Die sechs Menschen starrten sie an, als hätte sie zwei Köpfe. Was kein Wunder war. Sie war zu normal, zu gut gekleidet. »Wo kommst du denn her?« Der Größte der Gruppe sprach sie an, ein gewaltiger Mann, mindestens zwei Meter groß und genauso viele Zentner schwer. Er war der Einzige, der Fleisch auf den Rippen hatte. Die anderen waren klein und schmächtig … deshalb nicht minder gefährlich, weil zäh, mit verschlagenem Ausdruck. »Aus dem Zentrum.« As'malas Antwort entlockte ein Brummen. »Was hast du dann hier zu suchen, so fern den Privilegien?« Das Misstrauen hing greifbar zwischen dem vierschrötigen Mann und As'mala. Nein, nicht nur Misstrauen. Neid und Gier. Sie deutete zum Himmel, ohne den mächtigen Knochenbrecher aus den Augen zu lassen. »Die Dinge ändern sich rasant. Habt ihr wirklich keine anderen Sorgen? Lasst es lieber bleiben, an mir beißt ihr euch die Zähne aus.« Der Riese verzog das Gesicht. Sein einfältiger Blick verlieh ihm etwas Groteskes. »Wen sollen wir denn um Hilfe bitten? Sieh uns an, wir sind der Abschaum der Stadt. Wir müssen sehen, wo wir bleiben. Ob es nun stürmt oder die Sonne scheint, wir haben nichts von Choc.« Die anderen nickten zustimmend. Einige reckten wütend ihre Fäuste. As'mala spürte ihre Not. »Ich verstehe. Trotzdem, legt euch besser nicht mit mir an. Wenn du so weitermachst, spielen wir bald Murmeln. Wie können wir uns also einigen?« Der Mann schaute sich demonstrativ um. »Willst du damit sagen, dass du nicht allein bist? Ich sehe aber keine Gefährten, die dir hel-
fen könnten.« Sein Grinsen zeigte As'mala ein paar schwarze Zahnstummel. Sie atmete tief durch. Ein halbes Dutzend abgerissener Gestalten stand vor ihr, mehr oder weniger bewaffnet mit primitiven Stöcken und Beilen. As'mala wusste, sie konnte jetzt sagen, was sie wollte, man würde ihr alles ins Gegenteil verkehren. Es gab keinen Ausweg. Sie spürte, dass sie wütend wurde. Diese Leute stehen mir im Weg. »Verlasst lieber die Stadt. Flieht, solange ihr es noch könnt. Bringt euch in Sicherheit.« Schön gesagt. Aber wo auf Less gab es wohl jetzt Sicherheit? Der Riese krächzte, und einige seiner Kumpane fielen mit den gleichen merkwürdigen Lauten ein. Sie lachen, dachte As'mala. Sie lachen mich aus. Ihr Zorn wuchs. »Wie naiv bist du? Hör dir doch die Priester an! Ganz egal, wen sie verehren, sie sagen alle dasselbe. Bald werden unsere Knochen in den Sonnen bleichen.« »Falls sie je wieder scheinen.« As'mala musste sich beherrschen, um ihm nicht an die Gurgel zu gehen. Der Mann kratzte sich den kahlen Schädel. »Keine Ahnung, was du meinst. Aber ich sehe deine rosige Haut und deinen weichen Körper. Du gehörst nicht hierher, und dir ist klar, was das bedeutet.« Er drehte sich kurz um und hob einen Arm. »Welchen Wegzoll sollen wir von ihr verlangen?« »Hat sie denn irgendwas, das wir gebrauchen können?«, rief der schmächtige Kerl neben ihm. »Nehmen wir sie!«, schlug sagte ein anderer, etwas fülligerer Mann vor. »Wenn wir mit ihr fertig sind, wird sie uns dankbar sein. Dann weiß sie, was das wahre Leben ist!« Die Rufe der anderen wurden lauter und drängender. As'malas Zuversicht sank. Das würde sich wohl nicht mehr vernünftig regeln lassen. »Lasst sie in Ruhe! Ich habe sie in Begleitung der Sonnenfrau gesehen, als ich betteln ging! Ja, sie ist hier in der Stadt, jeder spricht nur
noch darüber! Sie kann uns retten!« Eine kleine, alte Frau humpelte auf sie zu. Ihr ausgemergelter Körper war nur notdürftig von zerrissener Kleidung bedeckt. »Sag uns, wo die Sonnenfrau ist, und du darfst weiterziehen.« Sie grinste As'mala an, und die schwärende Fäulnis ihres Atems schlug der blonden Frau entgegen. As'mala zuckte zurück. Damit konnte nur Shanija gemeint sein, und das war nicht gut, gar nicht gut. Was wussten die Chocer über ihre Freundin, und woher wussten sie vor allem, dass sie in der Stadt war? Die alte Frau kicherte und kam As'mala immer näher. Strähnige Fäden blonden Haares tanzten auf ihrem Schädel. Ihre blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Sie muss einmal eine schöne Frau gewesen sein, dachte As'mala unwillkürlich. »Lass den Blödsinn!«, sagte der Riese. »Du erschreckst die arme Frau noch zu Tode. Sie soll zahlen und verschwinden!« Er zerrte die Alte zurück. Kichernd warf sie sich zu Boden. »Die Priester verkünden es überall! Nur die Sonnenfrau kann uns retten! Und diese da gehört zu ihr!« Traurig sah As'mala sie an, dann den Riesen. »Lasst mich gehen, und euch passiert nichts.« »Was?« Der Anführer trat nach der alten Frau, die versuchte, aus seiner Reichweite zu kriechen. »Du verkennst deine Lage. Sollen wir richtig böse werden?« »Nein«, sagte As'mala. »Bei der Kehrseite Anamas, ich verkenne meine Lage nicht.« »Ihre Schuhe!«, rief die alte Vettel. »Ich will ihre Schuhe!« »Ich will ihre Waffen!«, krächzte der Schmächtige dazwischen. »Ruhe!« Der Hüne baute sich vor As'mala auf. »Noch bestimme ich den Zoll.« Plötzlich wedelte er mit einem Speer vor ihrer Nase. Woher hatte er ihn so schnell bekommen? Auf jeden Fall war er flinker und geschickter, als sie gedacht hatte. Sie hatte sich von seinem Äußeren täuschen lassen – und war vor allem nicht aufmerksam genug gewesen. Das würde sich jetzt ändern.
As'mala ließ den Blick über die Gruppe gleiten. Die Wegelagerer verzogen die Gesichter zu Fratzen und stampften mit den Füßen. »Gib uns die Sonnenfrau! Gib uns die Sonnenfrau!« Ihre krächzenden Stimmen steigerten sich zu Hysterie. Ich wollte das nicht, dachte As'mala. Aber jetzt war es zu spät, und sie musste kämpfen. Hier würde sie jedenfalls nicht sterben. Vielleicht später, nachdem sie Shanija zu der Stele begleitet hatte. Doch nicht jetzt. »Geht mir aus dem Weg«, forderte sie. »Das ist meine letzte Warnung.« »Du bist ja eine richtig Schlaue! Keine Angst, wir werden dich nicht sofort töten. Erst zeigen wir dir das wahre Leben.« Sie hatte genug gehört. »Bei Zyrkans Eiern!« Schneller, als die anderen mit Blicken folgen konnten, lag ihr Schwert in ihrer Hand, und mit einem gezielten Tritt beförderte sie den Speer des großen, schwerfälligen Mannes aus seinen Händen. Der Riese glotzte sie ungläubig an. »Verschwindet!«, verlangte sie leise. »Dann bleibt ihr am Leben.« Niemand hörte auf sie, johlend griff die Meute an. Der Anführer war der Gefährlichste der Gruppe. As'mala stieß ihm das Schwert in den Hals und zog es wieder heraus, noch bevor er die Hände hochreißen konnte. Natürlich würde er versuchen, die Wunde abzudecken, aber er würde trotzdem verbluten. Früher hätte ich zwei, drei lustige Bemerkungen gemacht, mich mit diesen Leuten verbrüdert und wäre ohne großes Theater hier herausgekommen. Früher … Sie wirbelte herum, trennte dem Fülligeren, der vorgeschlagen hatte, sie zu vergewaltigen, mit einem Streich den Kopf vom Hals, und sprang zur Seite, um nicht von dem hervorschießenden Blut besudelt zu werden. Früher hätte es keinen Kampf gegeben. Früher hätte ich das anders geregelt … Die As'mala, die sie früher gewesen war, existierte nicht mehr. Zu viel war geschehen. Sie trat der alten Frau, die nach ihren Beinen griff, um sie zu Fall zu bringen, gegen den Kopf und schnitt dem Schmächtigen, der sich
Gedanken über ihre Besitztümer gemacht hatte, den Bauch auf. Früher, dachte sie und wandte sich dem Nächsten zu, doch die Verbliebenen hatten bereits allesamt Fersengeld gegeben. Früher wäre mir das nicht passiert. Früher hätte ich mitbekommen, wohin ich gehe … Früher hätten nicht drei bedauernswerte Menschen wegen nichts und wieder nichts sterben müssen. As'mala hasste sich für das, was geschehen war. Sie hasste Raban für das, was er mit ihr gemacht hatte. Und sie hasste Shanija für das, was sie tun würde. As'mala lief los, zurück zu der Herberge, um Shanija zu erzählen, was geschehen war. Nicht, dass sie gerade drei Leben genommen hatte. Sondern, dass die Bürger von Choc wussten, dass die Sonnenkraftträgerin in der Stadt war. Die Probleme wuchsen …
6. »Bleib dicht bei mir«, sagte Mun zu Seiya. »Die Stadt ist unsicher geworden. Ich hätte dich gar nicht mitnehmen sollen. Es ist zu gefährlich für dich.« Nicht weit von ihnen entfernt brannte ein Haus. Die vom Sturm aufgepeitschten Flammen erhellten die Straße weithin, bildeten die einzige Beleuchtung weit und breit. Gestalten liefen in das Gebäude, andere wieder heraus, vollgepackt mit allem, was sie tragen konnten. Sie wollten nicht ihr Hab und Gut retten; Mun war klar, dass es sich um Plünderer handelte. Eine Bö ergriff ihn, zerrte ihn ein paar Meter mit sich, bevor sie ihn wieder losließ. Sieht so die Apokalypse aus?, fragte der Adept sich. Taumelnd kam er zum Stehen, drehte sich um, wartete, bis Seiya zu ihm aufgeschlossen hatte. Er machte sich Vorwürfe, dass er die Prinzessin in Haak Tenhaakens Gasthaus nicht zurückgewiesen hatte. Wie hatte er nur so naiv sein können zu glauben, dass er ihr Schutz bieten konnte? »Warum hast du mich denn mitgenommen?«, keuchte sie, während er sie in die relative Sicherheit einer Nebenstraße führte, in der er keine Plünderer ausmachen konnte. Aber in jedem dunklen Hauseingang konnte eine andere Gefahr auf sie lauern. »Weil ich ein Narr war«, antwortete er. Weil ich ein Narr war anzunehmen, fern von den anderen, von Shanija, Darren und As'mala, würde sich eine Gelegenheit finden, dir zu sagen, dass ich … dass ich dich … Er führte den Gedanken nicht zu Ende und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Niederlassung des Zentralarchivs verweilt hatten, doch inzwischen musste es Abend sein. So richtig dunkel wurde es eigentlich nie auf Less, auch nachts nicht, dafür waren der rot glimmende Fathom und die drei Sonnen zu nahe. Doch nun war es stockfinster, vom Feuerschein der vereinzelten Brände einmal abgesehen.
»Hier entlang«, sagte Mun und zögerte kurz, dann reichte er der Prinzessin die Hand. »Was war das im Zentralarchiv?«, fragte Seiya. »Wieso wusste dieser Peerer, dass du kommen und ihn nach der Urmutter fragen würdest? Und ist er wirklich nur am Leben geblieben, um dir Antwort zu geben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Mun. »Es gibt Dinge zwischen den Sonnen, die …« Er verstummte. Seiya ging nicht weiter darauf ein. »Und wie sollen wir das Shanija beibringen?«, fuhr sie mutlos fort. »Was?« »Dass die Urmutter nicht mehr lebt.« »Noch gibt es keinen Beweis dafür. Wir müssen also auf jeden Fall zur Stele. Und überhaupt überbringen wir Shanija keine ganz schlechte Nachricht.« »Wie meinst du das?« »Bislang haben wir nicht einmal daran geglaubt, dass es die Urmutter wirklich geben könnte.« Seiya schwieg einen Moment lang. Mun blieb an der nächsten Straßenecke stehen. Aus der Richtung, in der er Tenhaakens Herberge wusste, erklang lautes Geschrei, dann das Klirren von Metall. Sie würden einen Umweg einschlagen müssen, wollten sie Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. »Weiter!« Er schritt schnell aus, mäßigte sein Tempo jedoch, als er merkte, dass Seiya ihm kaum folgen konnte. »So wie heute habe ich dich noch nie erlebt.« Mun drehte sich zu der Prinzessin um. »Wie meinst du das?« »Dein Verhalten war sehr ungewöhnlich für dich. Was ist mir dir geschehen? Ich habe den Eindruck, dass dich … etwas quält.« Er schwieg. Und spürte dann überrascht, dass sie seine Hand drückte. »Was macht dir zu schaffen, Mun?« »Ich zweifle allmählich …« Er hielt überrascht inne. Klang seine Stimme wirklich verbittert? Hatte er sich so wenig unter Kontrolle? Erstaunlich, dass er tatsächlich bereit war, ihr die Wahrheit zu sa-
gen. »Ich zweifle allmählich am Sinn meines Adeptendaseins. Ich habe den Auftrag bekommen, Shanija zu helfen, und allein schon aus Freundschaft werde ich ihn auch bis zum Ende ausführen. Aber wofür das alles? Werde ich je die Anerkennung erhalten, die mir wie jedem Adepten zusteht? Das Zentralarchiv akzeptiert mich nicht. Du hast doch selbst gesehen, wie die anderen Adepten mich behandeln … sogar unbedeutende Kuntar-Wachposten!« Er stellte fest, dass seine Stimme leicht zitterte, und verstummte. »Mun, ich …« »Und mich quält noch etwas anderes … Ich …« »Ja?« »Sag jetzt nichts. Bitte sag nichts.« Er blieb stehen, als er ein Haus entdeckte, das ihm bekannt vorkam. Sie waren nicht mehr weit von der Herberge entfernt. »Dort entlang.« »Was wolltest du mir mitteilen, Mun?« »Ich … Schon die ganze Zeit beschäftigt es mich. Ich … ich …« Nein. Er konnte es nicht sagen. Nicht jetzt, da die Passage unmittelbar bevorstand. Also wich er auf etwas anderes aus, das ihm kaum weniger zu schaffen machte. »Ich habe versagt. Ich wurde von Rabans Leuten gefoltert, weil er mir das Wissen um die Urmutter entreißen wollte … um zu ihr zu gelangen und sie zu vernichten. Wie du weißt, haben sie leider Erfolg gehabt und kennen jetzt den ungefähren Ort. Und sie haben einen ziemlichen Vorsprung.« »Ja, das weiß ich. Aber das ist es nicht, was du sagen wolltest, nicht wahr?« Was dachte er da für einen Unsinn. Wenn nicht jetzt der Moment dafür gekommen war, da die Passage unmittelbar bevorstand, wann dann? Eine weitere Gelegenheit würde sich vielleicht nicht mehr bieten. Wenn er überhaupt damit herausrücken wollte, sollte es jetzt sein. »Schon die ganze Zeit über quält mich, dass meine Zuneigung zu dir mich in meinen Grundfesten erschüttert und mir die Ausgeglichenheit und den Glauben genommen hat«, hörte Mun sich sagen. »Ich verstoße dabei gegen das oberste Gebot der Ungebundenheit und verrate alles, wonach ich je gestrebt habe.«
Seiya erwiderte nichts. Er schritt schneller aus. »Da ist die Herberge«, sagte er erleichtert. »Sie hat zum Glück noch nicht das Interesse von Plünderern geweckt.« Leise hinter sich hörte er: »Nur Zuneigung, Mun, oder …?« Er antwortete nicht, drückte die Türklinke. Sie war unverschlossen, und er trat ein. Lampen erhellten den Schankraum, doch er war verlassen. Mun ging zur Treppe, die zu dem Gang mit den Zimmern führte, und stieg sie empor. Er sah ein knappes Dutzend Türen; hinter der ersten hörte er lautes, lustvolles Stöhnen, dann einen spitzen Schrei. Er erkannte die Stimmen: Darren und Shanija. Peinlich berührt drehte er sich zu Seiya um und nickte ihr zu. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Ohne einen Gegengruß abzuwarten, ging er weiter bis zur letzten Tür und verschwand im Dunkel des Zimmers. Völlig verwirrt über sich selbst entzündete er die Lampe, setzte sich aufs Bett und versuchte vergeblich, seine Gedanken zu ordnen.
* Wenige Minuten später ließ Mun ein leises Knarren aufschauen, mit dem seine Zimmertür geöffnet wurde. Seiya stand vor ihm; sie war nackt. So hatte er sie schon einmal gesehen, in der Wüstenstadt des Orakels, aber nur für einen kurzen, flüchtigen Moment, bevor sie ihn empört aus der Umkleidekabine geworfen hatte. Fasziniert ließ er den Blick über Seiyas zarte Gestalt wandern, die kleinen, festen Brüste, die langen Beine, das dichte, schwarze, drahtähnliche Haar dazwischen. Sie schloss die Tür hinter sich, trat zum Bett und blieb vor ihm stehen. »Du hast mir so viel gestanden«, sagte sie, »aber nicht, dass du dich in mich ebenso verliebt hast, wie ich mich in dich verliebt habe.« Er schwieg, konnte nichts sagen.
Mairee, dachte er. Sie wollte mich überreden, mit ihr zu leben und das Zentralarchiv zu vergessen, doch ich spürte ein heiliges Feuer in mir brennen. Ich hatte so viele Fragen und Zweifel, die ich mithilfe des im Archiv gesammelten Wissens beantworten und verstreuen wollte. Ich habe Mairee fortgeschickt, und jetzt ist das Feuer erloschen, und ich habe mehr Fragen und Zweifel als je zuvor. Seiya fuhr ruhig fort: »Ich habe seit Jahren von dem Einen geträumt, mit dem ich mein Leben verbringen wollte, und dieser Eine warst nicht du, ganz bestimmt nicht. Doch es ist nun einmal geschehen, und ich komme nicht dagegen an. Wenn du dagegen ankommst, musst du mich jetzt fortschicken. Dann werde ich gehen, und das hier ist nie passiert.« Er brauchte noch einen Moment. Schließlich stand er auf und umarmte sie.
* Danach wusste Mun nicht, was er denken sollte. Aus dem ersten Zimmer im Gang erklang schon wieder lautes Stöhnen und Schreien, doch es erregte ihn nicht, berührte ihn nicht einmal. Er saß nackt auf dem Stuhl und zog das Rasiermesser, das er immer wieder gewissenhaft mit dem Schleifstein schärfte, methodisch über seine Kopfhaut. Ein Streich neben dem anderen, und dem nächsten, und dem nächsten. Er versuchte, an nichts zu denken, in sich selbst zu versinken. Er hörte Seiya leise auf dem Bett atmen, wusste nicht, ob sie schlief oder wach war und ihn beobachtete. Er wusste auch nicht, was ihm lieber gewesen wäre. In diesem Augenblick kam sie ihm fremder und entfernter vor denn je. Aber gleichzeitig auch viel vertrauter und näher, als er es je für möglich gehalten hätte. Was denkt sie jetzt?, fragte er sich. Sie weiß nicht, woran sie ist, und ich … ich kann es ihr nicht sagen.
* Als Shanija aus dem kurzen, unruhigen Schlaf erwachte, glaubte sie im ersten Moment, sich in der vergangenen Nacht den Verstand nicht aus dem Schädel gevögelt, sondern gesoffen zu haben. Aber sie hatte kein Schlückchen Alkohol zu sich genommen. Sie frönte diesem Genuss nur gelegentlich, und wenn früher jemand sie auf das Gerücht angesprochen hatte, sie habe einmal den Kommandanten der Militärakademie unter den Tisch getrunken, hatte sie stets nur geflissentlich gelächelt. Ihre Gedanken flossen nur zäh und träge. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, dann sah sie Darren neben sich. Er schlief, lag zusammengerollt da, den Kopf in den Armen verborgen. Als sie nach ihm griff, steigerte sich das schmerzhafte Ziehen in ihrem Kopf zu einem pochenden Hämmern, das sich über die Sehnerven bis in ihre Augäpfel ausbreitete. Sie verharrte mitten in der Bewegung und zog den Arm vorsichtig zurück. War das etwa eine Auswirkung dieses psimagischen Zeugs auf den Dächern von Choc? Aber nein … Shanija wollte den Kopf schütteln, blieb dann lieber doch ruhig liegen. Nein, hier handelte es sich nicht um den Entzug eines gesteigerten Wohlgefühls, sondern um … Die hyperphysikalischen Veränderungen, die die Passage mit sich bringt, dachte Shanija wie elektrisiert. Sie nehmen immer mehr zu. Sie fragte sich, wie es wohl draußen in der Stadt aussehen mochte. Unruhig drehte sie sich zu Darren. Ihre Beziehung war nicht einfacher geworden, auch wenn sie sich versöhnt hatten. Sie hatten die Gelegenheit, die Nacht gemeinsam zu verbringen, mehr als nur genutzt. Wie oft hatten sie miteinander geschlafen? Fünfmal? Mehr? Und Shanija verspürte trotz der Kopfschmerzen schon wieder Lust. Natürlich hatte nicht nur sexuelles Verlangen sie beide in dieser Nacht angetrieben. Eine gehörige Portion Angst mischte mit hinein. Die Angst, dass es das letzte Mal überhaupt sein könnte. Keiner von ihnen wusste, ob sie die Passage überleben würden.
Und wenn doch, war der Abschied für immer trotzdem nicht zu verhindern, denn Shanija musste alles daran setzen, Less zu verlassen und zur Erde zurückzukehren. Das Schicksal der gesamten Menschheit hing von den Informationen ab, die Pong in sich barg. Shanija strich über ihr Brustbein; schon seit Tagen rührte sich der kleine Drache nicht. Das war ungewöhnlich. Sie hoffte, dass mit ihm alles in Ordnung war. Darren regte sich. Shanija stützte den Kopf auf eine Hand und betrachtete ihn, während er wach wurde. Wie kann man einen Menschen nur so lieben?, dachte sie. Er öffnete die Augen – und schloss sie sofort wieder. Shanija sah, dass plötzlich Schweiß auf seiner Stirn perlte. Er spürt die Auswirkungen ebenfalls, dachte sie. »Kopfschmerzen?« »Nein«, krächzte er. »Auf einmal … mein Kreislauf spielt verrückt. Ich … was ist hier los?« »Mir geht es nicht besser. Die Passage hat uns schon voll im Griff.« Vorsichtig versuchte er erneut, die Augen zu öffnen, und diesmal gelang es ihm, zumindest halbwegs. Aus schmalen Schlitzen sah er sie an. »Die Passage«, sagte er mit seltsamer Betonung. »Ja …?« »Ich mache mir Sorgen wegen ihr.« Shanija lachte, aber es klang gekünstelt. »Nicht nur du.« »Nein, ich meine …« Er schüttelte den Kopf, schien keine Probleme damit zu haben. »Ich meine, du bist die Trägerin der Sonnenkraft. Kannst du nicht vielleicht doch zumindest bis zur Passage bleiben und möglicherweise helfend eingreifen?« Sie zögerte. »Denn es heißt ja, dass die Trägerin der Sonnenkraft den Untergang unserer Welt abwenden wird.« Sie lachte erneut, und diesmal klang es noch unechter. »Das ist nur eine Meinung …« Er grinste schwach. »Vielleicht ist es die richtige?« »Man sucht sich das ja immer aus …« »Wenn es die Urmutter tatsächlich gibt und sie dir die Möglichkeit bietet, zur Erde zurückzukehren, kannst du das ebenso nach der
Passage tun. Ich habe seit unserem Streit und unserer Trennung darüber nachgedacht. Überleg doch, meine Schöne … vielleicht kannst tatsächlich du, und nur du allein unsere Welt retten. Und damit auch mich.« Shanija schloss die Augen. Natürlich verstand sie Darren. Dieser Gewissenskonflikt bestand schon fast seit Beginn ihrer Reise. Er war die Ursache des Streits gewesen, der die Gemeinschaft zerfallen ließ. Aber sie musste hart bleiben. Das Schicksal der gesamten Menschheit … der Welt, in die sie hineingeboren worden war und die sie schließlich zu lieben gelernt hatte … hing von ihr ab. Sie durfte das Risiko nicht eingehen, dass die Legende um die Sonnenkraft falsch war, dass die Passage alles zerstören würde. Und selbst wenn die Legende stimmte – wer sagte, dass Shanija den Einsatz ihrer Psimagie überlebte? Schon eine kurze Anwendung hatte sie damals in Castata zum Zusammenbruch getrieben. Ihr Herz hatte beinahe einen Infarkt erlitten. Und nicht zuletzt war ihre Mutter genau daran gestorben. Konnte Shanijas Herz die neuerliche Beanspruchung verkraften? Shanija war als Einzige der Gefangenschaft der Quinternen entkommen. Dabei hatte sie ihr Kind verloren, es war ihr gestohlen worden. Sollte das ungerächt bleiben? Sollte das Opfer umsonst gewesen sein? Es gab keine andere Möglichkeit. Shanija sah nur ein Ziel vor Augen, das sie unter allen Umständen erreichen musste, jetzt erst recht … Sie musste die Urmutter finden, so schnell wie möglich. Seit Beginn der Passage spürte sie eine Verbindung zwischen ihrer Kraft und dem, was nun kommen würde, ein … gewisses Ziehen, ein Zerren, eine starke Affinität, deren Ursache ihr aber noch verborgen blieb. Wahrscheinlich war auch Pong aus diesem Grund nicht handlungsfähig. »Nein«, sagte sie zu Darren. »Es tut mir leid, ich darf es nicht riskieren. Ich war immer ehrlich zu dir, habe dir nie verschwiegen, was ich tun werde. Ich habe meinen Gefühlen niemals nachgegeben. Meine Pflicht hat immer Vorrang.« Darren musterte sie lange. »Wie bist du nur so geworden?«
Sie wich seinem Blick aus. »Mich hat zu vieles hart gemacht. Schon früh habe ich gelernt, meine Ziele konsequent zu verfolgen, dabei aber ehrlich zu bleiben.« Plötzlich stieg ihr der Geruch von Vanille in die Nase. Natürlich nur eine Einbildung, die andere Bilder mit sich brachte …
* Zwischenspiel (Herbst 3202 – noch zwei Jahre) »Der Ausweis ist ungültig!« Erschrocken sah ich den Mann hinter der Plastglasscheibe an. »Das muss ein Irrtum sein. Ich bin in Etage 54, Wohnung 726 registriert. Bei Barn und Raja Tovan, meinen Eltern. Und gestern habe ich korrekt abgestempelt und die Firma verlassen.« Der bullige Security zuckte mit den Achseln. »Mag ja sein, aber hier steht, dass du nicht mehr zum Team gehörst. Ich kann dich nicht reinlassen. Klär das mit dem Chef.« Ich atmete tief ein. »Wie soll ich das mit dem Chef klären, wenn ich nicht in die Firma komme?« Außerdem war der allmächtige Boss nur ein Gerücht. Ich kannte keinen, der ihn je zu Gesicht bekommen hätte. Es war unmöglich, bei ihm einen Termin zu bekommen. Der Weg führte durch vier Vorzimmer, eines strenger als das andere. »Das ist nicht mein Problem. Ich mache nur meinen Job, und der besteht darin, niemand ohne gültigen Ausweis in die Firma zu lassen.« Der Beamte stand auf und nestelte an seinem Uniformhemd. »Schon gut. Ich verstehe. Ich werde das Missverständnis aufklären. Dann können Sie sich bei mir entschuldigen.« Der Mann sah mich an, als wolle er laut loslachen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, drehte mich frustriert um und ging durch das riesige Glasportal ins Freie. Mir war nicht klar, was passiert war, aber, verdammt noch mal, ich brauchte
den Job! Ich spürte, wie ich vor hilflosem Zorn zitterte. Seit ich zehn war – seit jenem Tag im Palmenhaus – war mir klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, aus diesem Viertel von Washington-York-State herauszukommen. Aus diesem Leben, an dem ich sonst zugrunde ging. Weg von Barn, meinem Vater. Ich musste zum Militär. Ich wollte zum Militär. Und seit ich zehn war, schuftete ich neben der Schule, um das Geld zu verdienen, das mir ein wenig Unabhängigkeit von Barn gab. Ich brauchte Geld, um nicht an dem Menschen zu zerbrechen, der zufällig mein Vater war. Und dessen Trunksucht, Gürtel und Jähzorn mein Leben bestimmten. Kurz nach dem Tag im Palmenhaus hatte er mich zum ersten Mal mitgeschleppt, als er in unserem Wohnblock Handlangerarbeiten erledigte. Er war nicht ungeschickt mit Werkzeugen, und ich hatte ihm einiges abgeschaut. Diese Kenntnisse hatten mir zuerst einen Ferienjob bei einer Computer-Konstruktions-Firma eingebracht, mies bezahlt, mit noch mieseren Arbeitszeiten, aber dann hatte ich einmal im Leben Glück gehabt und den Hilfsjob als Technikerin bekommen. Zu reparieren gab es genug; ich hatte den Eindruck, dass ganz WY langsam vor die Hunde ging, zumindest die Gettos, in denen die Arbeitslosen hausten, die sich mit staatlicher Grundsicherung durchschlugen und deren Straßen und Blocks von Gangs beherrscht wurden. Und andere hatte ich nie gesehen. Sollte ich wohl auch nie zu sehen bekommen, denn ich hatte gerade meinen Job verloren. Was war da gerade passiert? Gestern war ein ganz normaler Tag gewesen, wie hundert andere. Keine besonderen Vorkommnisse. Ich hatte ein paar Holovids, Türautomatiken und Heizungen in Etagen von Wohnblocks repariert, in die sich sonst niemand reintraute. Nur deshalb beschäftigte mich die Firma wohl. Ich konnte mit den Jungs und Mädels der Gangs umgehen, mich akzeptierten sie. Gegen zehn Prozent meines Nettolohns. Los, Mädchen, denk nach! War irgendwas anders als sonst? Ich stellte meine Tasche ab und starrte den nutzlos gewordenen
Ausweis an. Auf dem Passbild grinste ich. Mein lockiges, brünett-rotes Haar trug ich mittlerweile kürzer, und das Gesicht war etwas kantiger geworden, hatte ich den Eindruck. Das konnte nicht der Grund gewesen sein, dass man mich gefeuert hatte. Ich schaute in den grauen Himmel hoch über den Wohnblocks hinauf. Eigentlich sollte er ja blau sein, hieß es, doch ich hatte ihn noch nie anders gesehen. Was hätte ich jetzt für eine Tafel weiße Schokolade mit Minzfüllung gegeben! Ohne meinen Job konnte ich mir diesen kleinen Luxus endgültig abschminken. »Schon frei?« Leise fluchte ich. Ich war einen Moment lang unaufmerksam gewesen, und das konnte ein übles Ende nehmen. Ich drehte mich um und blinzelte. Eine junge Frau stand mit dem hell erleuchteten Glasportal im Rücken zu mir. Ihre langen, schwarzen Haare wehten in der Abluft eines Gebläses. Sie war keine fünf Jahre älter als ich. Wie hieß sie noch gleich? Genau, Garia. Sie arbeitete in derselben Abteilung wie ich, ich hatte sie ein paar Mal bei der Auftragsvergabe gesehen, und wir hatten gelegentlich ein paar Worte miteinander gewechselt. Ich schluckte. Was wollte sie von mir? Sollte ich ihr die Wahrheit sagen? Gefeuerte waren wie Aussätzige. Niemand sprach gern mit ihnen, vielleicht aus Angst, dass es dadurch einen selbst erwischen konnte. »Ein Missverständnis«, murmelte ich und drückte meine Werkzeugtasche an mich, bevor sie Begehrlichkeiten weckte. »Angeblich ist mein Ausweis ungültig. Ich werde das klären.« »Du bist diese Woche bereits die Vierte. Hast du nicht mitbekommen, dass sie in unserer Abteilung aufräumen?« Der Blick ihrer blauen Augen schien mich zu durchbohren. »Aber … ich habe letzten Monat meinen Fleißbonus erreicht. Niemand ist unzufrieden mit mir. Es gibt keinen Grund für eine Entlassung.« »Sie finden immer einen Grund. Die Schnüffler durchforsten deine Vergangenheit, alles, bis zu dem Moment, an dem du zum ersten
Mal geschrien hast. Vielleicht hast du zu spät mit dem Laufen begonnen.« Mir waren solche Gerüchte über die Rückverfolgung bis zur Geburt zu Ohren gekommen, hatte sie jedoch als Unfug abgetan. »Das ist nicht dein Ernst!« Woher sollten die wissen, was in der staatlichen Armenklinik passiert war? Garia legte mir eine Hand auf die Schulter. »Geh nach Hause! Wenn du Lust hast, kannst du mich ja mal anrufen, und wir überlegen, wie du an einen neuen Job kommst.« »Aber sie haben mich getestet! DNA-Analysen, Blutbilder, Herkunft. Alles war in Ordnung.« »Shanija, bitte. Es ist vorbei. Sie haben dich rausgeschmissen! Das machen sie nie rückgängig.« Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht hinnehmen. Ich will den Grund wissen. Ich lasse mich nicht einfach abservieren.« Sie sah mich forschend an. »Vielleicht deshalb. Du bist sehr emotional. Ungewöhnlich für ein Mädchen in deinem Alter. Vielleicht halten sie dich für zu aufrührerisch. Was ist denn mit deinen Eltern? Sind die okay?« Ich zuckte mit den Achseln. »Arbeitslos. Aber die können mir gestohlen bleiben!« Ich merkte, dass ich lauter sprach, als ich beabsichtigte. Diese Garia traf keine Schuld. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien.« Plötzlich lächelte Garia. »Also doch Emotionen. Vielleicht schreist du zu oft.« Sie streckte die Hand aus, und ich ergriff sie überrascht. Sie schüttelte sie nicht nur, sie drückte mir etwas hinein. Einen Zettel. Verwirrt steckte ich ihn unauffällig ein. Zögernd setzte ich mich in Bewegung. Da man mich also rausgeworfen hatte, würde ich mir eben einen neuen Job suchen. Das war zwar nicht einfach, aber ich würde es schon schaffen. Und wenn nicht, würde ich die zwei Jahre, bis ich mich auf der Militärakademie bewerben konnte, auch irgendwie überstehen. Auch wenn im Augenblick alles wie ein Kartenhaus über mir zusammengebrochen schien, würde es irgendwie schon weitergehen. Ich würde jedenfalls nicht aufgeben. Niemals.
* Zum Glück war niemand daheim. Vater trieb sich vermutlich im Gemeindehaus von LICA herum, Aaron war sowieso kaum noch hier, aber Mutter … Ich schaltete das Holovid ein; es funktionierte. Seltsam, dachte ich. Mutter ging immer seltener raus; das Herz machte ihr zu schaffen. Nichts, was ein Arzt nicht hinbekommen könnte, aber sie durfte ja zu keinem gehen. Vater würde sie eher sterben lassen, bevor er die Prinzipien seiner verdammten Sekte aufgab. »Scheißkerl«, murmelte ich. Ich war froh, dass Mutter nicht hier war. Wenn ich sie sah, musste ich oft daran denken, wie sie es früher, als sie noch gesund, jünger und attraktiver gewesen war, mit Handwerkern getrieben hatte, damit sie kostenlos die elektronischen Geräte in der Wohnung reparierten. Mittlerweile funktionierte nur noch das Holovid, und wenn es mal kaputt war, führte Mutter erbitterte Kämpfe mit Vater, bis er genug Geld rausrückte, damit sie es reparieren lassen konnte. Mir fiel der Zettel ein, den Garia mir verstohlen in die Hand gedrückt hatte. Warum hatte sie so ein Geheimnis daraus gemacht? Wollte sie etwa mit mir anbändeln? Stand ihre Holovid-Nummer darauf? Ich zog den Zettel aus der Tasche und faltete ihn auseinander. Nein, eine Adresse war darauf gekritzelt. Ich schüttelte den Kopf. Was sollte das? Ich überprüfte die Adresse. Es war die eines Ladens in einem Einkaufszentrum im zehnten Stock eines Blocks, der in einer etwas besseren Gegend lag als unserer. Mit dem Onefaster wäre ich in zwanzig Minuten dort. Oder sollte ich lieber etwas für die Schule tun? Aber da war alles im grünen Bereich. Irgendwie bekam ich den Unterrichtsstoff in den Griff, ohne mich besonders anzustrengen. Nur deshalb hatte ich den Nebenjob annehmen können. Wenn ich büffeln müsste wie manche anderen, könnte ich das Militär gleich ganz vergessen. Schließlich
wollte ich mich nicht als Kanonenfutter verdingen, sondern eine Laufbahn einschlagen. Ich spürte heiße Wut aufwallen, als ich daran dachte, dass man mich gefeuert hatte, ohne mir den Grund zu nennen. Trotzdem konnte ich nichts dagegen tun. Vielleicht war ich einfach nur überflüssig geworden. Vielleicht hatte die Firma jemanden aufgetrieben, der den Job für noch weniger Geld erledigte. »Was soll's«, murmelte ich und verließ die Wohnung. Mal sehen, was es mit diesem Laden auf sich hatte.
* Es roch seltsam, aber nicht unangenehm. Eigentlich sogar richtig gut. Ich schnupperte, lächelte schwach. Der Laden war winzig klein. Er bestand praktisch nur auf einer einzigen Theke, hinter der sich altertümliche Glasgefäße stapelten, die mehr oder weniger hoch mit verschiedenfarbigen Substanzen gefüllt waren. Das musste »Tee« sein, wurde mir klar. Ich hatte noch nie welchen getrunken. Ich war der einzige Kunde. Ein alter Mann stand hinter der Theke. Aus hellblauen Augen sah er mich an. »Vanille«, sagte er. »Was?« »Der Duft. Das ist Vanille. So etwas hast du noch nie gerochen, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf. »Was kann ich für dich tun?« Ich legte den Zettel auf die Theke. »Was hat das zu bedeuten?« Der Alte setzte eine antiquierte Brille auf. »Wer hat dir diesen Zettel gegeben?« »Eine … Kollegin.« »Garia?« Ich nickte. »Dann bist du gerade gefeuert worden? Hast deinen Job
verloren?« Vor Wut zitternd trommelte ich mit den Fingern auf die Theke. »Weshalb wollen Sie das wissen?« Der Alte stellte mir ein Glas Wasser hin. »Du suchst einen neuen Job? Oder du brauchst Papiere?« Ich verstand nicht, was der Mann von mir wollte. »Einen Job finde ich selbst, und …« »Also brauchst du Papiere?« Ein Grinsen zeichnete sich in die Gesichtsfalten des Alten. Mir fiel ein, dass ich Garia mal erzählt hatte, dass ich zum Militär wollte. Allmählich glaubte ich, zu verstehen. »Könnte sein. Ja, ich will auf die Militärakademie.« »Man kann die Aufnahmeprüfung ab vierzehn Jahren ablegen«, sagte der Alte. »Aber wenn man sie besteht, braucht man trotzdem die Einwilligung der Eltern, um auf die Akademie zu gehen.« »Und die bekommst du nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn man sechzehn ist, braucht man die Einwilligung nicht mehr. Dann kann man selbst entscheiden.« »Du hast dich gut informiert.« Ich nickte gleichmütig und trank einen Schluck Wasser. »Na schön. Ich kann dir Papiere besorgen, die dich zwei Jahre älter machen. Aber das kostet etwas. Gute Arbeit für gutes Geld.« Ich hatte etwas zur Seite gelegt. »Was soll es denn kosten?« Er nannte eine Summe, die mir unverschämt vorkam. »Soviel habe ich nicht.« Er musterte mich, ließ den Blick von oben bis unten über mich gleiten. Dann lächelte er. »Na schön, für dich der halbe Preis. Überleg's dir in Ruhe. Ich zwinge niemanden.« Was hatte ich zu verlieren? Einen Teil meiner Ersparnisse. Aber die Worte des alten Mannes klangen überzeugend, und zu gewinnen hatte ich sehr viel. Zwei Jahre weniger in meiner persönlichen Hölle von Washington-York-State. Ich schickte keine Chance weg, wenn sie sich mir anbot. »Einverstanden«, sagte ich.
Der Alte lächelte breiter. »Gut. Hast du deinen Ausweis dabei?« »Natürlich.« Ich reichte ihn über die Theke, und der Mann holte ein Gerät hervor und scannte ihn. »In drei Tagen kannst du deine neuen Papiere abholen, und dann kannst du dich zur Aufnahmeprüfung anmelden.« »In drei Tagen«, nickte ich. »Und … bring das Geld mit.« Drei Tage später war ich wieder in dem Laden, und wir vollzogen die Transaktion. Und drei Wochen später sah ich den Alten zum dritten und letzten Mal in meinem Leben.
* Bei meinem letzten Besuch musste ich darum kämpfen, mir nichts anmerken zu lassen, als ich den Laden betrat. Wieder schwebte der Geruch von Vanille und Blumen in dem kleinen Raum, doch diesmal kam er mir nicht angenehm, sondern widerlich süß vor. Der Alte erkannte mich nicht gleich, doch dann lächelte er. »Shanija! Welch eine Freude! Hast du die Aufnahmeprüfung bestanden?« Verwirrt sah ich ihn an. Alles in mir schrie danach, über die Theke zu springen, ihn am Hals zu fassen, seinen Kopf gegen das Regal mit den uralten Gefäßen zu schlagen. Aber … diese Freundlichkeit, mit der er mir begegnete, dieses offensichtliche Interesse … Alles nur gespielt? »Ja«, sagte ich beherrscht. »Ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden.« »Herzlichen Glückwunsch! Aber … etwas stimmt nicht, oder?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Oder besser, ja. Etwas stimmt nicht.« »Was ist passiert?« Ich drohte die Beherrschung zu verlieren. »Sie haben festgestellt, dass meine Papiere gefälscht waren. Sie hätten mich trotzdem genommen, wenn meine Eltern ihre Zustimmung erteilt hätten. Aber
… aber …« »Das haben sie nicht.« Die Stimme des Alten klang traurig. »Nein, das haben sie nicht.« Ich erzählte ihm nicht alles. Als Vater von meinem Betrugsversuch erfuhr, hatte er mich verprügelt und für den Rest der Schulferien in der Wohnung eingesperrt. Die Hoffnung auf einen Ferienjob konnte ich mir damit endgültig abschminken. Wenigstens hatte ich viel lesen können und mir Bildungsprogramme angeschaut, wenn alle schliefen. »Ich habe dich zu nichts gezwungen«, sagte er. »Es war deine Entscheidung.« »Sie haben mir Ware verkauft, die nichts getaugt hat!« »Gute Arbeit für gutes Geld. Entsinnst du dich? Weniger gute Arbeit für weniger Geld. Ich habe keinen Einfluss darauf.« Ich schwieg. »Was erwartest du von mir?«, fuhr er schließlich fort. »Dass ich dir das Geld zurückgebe? Sei nicht töricht.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Mittelsmann, und diejenigen, welche die Papiere hergestellt haben, werden nicht mit sich reden lassen. Es tut mir leid.« Plötzlich war mein Zorn verraucht. Ich glaubte dem Alten, dass er mich nicht absichtlich betrogen hatte. »Ich habe etwas für mein Geld bekommen«, sagte ich, drehte mich um und ging. Eine Erfahrung. So etwas würde mir nie wieder passieren. Die betrogene Betrügerin hatte ihr Lehrgeld gezahlt.
7. Shanija hielt den Blick gesenkt, sah niemanden an, während sie im Schankraum das Frühstück zu sich nahm, das Mun zubereitet hatte. Sie schämte sich. Sie war Soldatin, und noch mehr: eine Marine. Anführerin der WILD RAMS. Schon ihr Körper war eine Waffe. Sie war auf keinen Schutz, keine Hilfe angewiesen. Ihr Dasein bestand aus Disziplin. Und was hatte sie in der vergangenen Nacht getan? Sie hatte sich mit dem Mann vergnügt, den sie mehr liebte, als sie irgendjemand sonst in ihrem Leben geliebt hatte. Und den sie verlassen, den sie im Stich lassen würde, weil sie unbedingt zur Erde zurückkehren musste, ganz gleich, welche Folgen die Passage für Less mit sich bringen würde. Sie hatte mit Darren gevögelt, als gäbe es kein Morgen, als würde sie zum letzten Mal in ihrem Dasein leben, und die anderen hatten derweil die Drecksarbeit erledigt. As'mala hatte herausgefunden, dass Choc völlig aus den Fugen geraten war und man in der Stadt wusste, dass die Frau mit der Sonnenkraft eingetroffen war, der die einen die Schuld gaben, und in der die anderen die Befreierin von allen Sünden sahen. Und Mun hatte bestätigt, dass die Urmutter tatsächlich hier in der Gegend gelebt hatte, knapp fünfzig Kilometer entfernt. Wobei die Nachricht, dass sie seit zwanzig Jahren tot sein sollte, Shanijas Stimmung nicht gerade hob. Sie sah zu dem Adepten hinüber, der kein Wort mehr gesagt hatte, als unbedingt nötig gewesen war, und dann zu Seiya. Die beiden taten so, als würden sie sich nicht kennen. Shanija vermochte das zu deuten. Seiya hatte ihr oft genug gesagt, dass sie an die wahre Liebe glaubte und Jungfrau bleiben wollte, bis sie diese gefunden hatte. Gestern musste etwas zwischen ihr und Mun geschehen sein, das Seiyas Träume zertrümmert hatte, auf welche Weise auch immer. Mun reagierte auf seine übliche, schweigsa-
me, zurückgezogene Weise. Egal. Das ging sie vielleicht etwas an, weil die beiden zu ihrem Team gehörten, aber sie konnte jetzt schlecht danach fragen. Sie musste auf eine bessere Gelegenheit warten. Ja, ihr Team. Kameraden. Sie waren Kameraden. Und Shanija hatte sie im Stich gelassen. So kam sie sich zumindest vor. Ein Fehler, dachte sie. Ein einziger Fehler, den ich hoffentlich wieder ausräumen kann. As'mala, die bisher ebenfalls still in ihrem Essen herumgestochert hatte, sah auf, als Darren hereinkam. Nach dem ersten Erwachen, als Shanija Darrens Bitte, bis nach der Passage zu bleiben, ablehnte, hatten sie nicht mehr viel miteinander gesprochen. Irgendwann war Shanija wieder eingedämmert und bei Tagesanbruch erwacht – allein. »Ich habe Waffen besorgt«, erklärte er, bevor jemand Fragen stellte, und schüttete aus einem Sack einen Berg an Messern, Kurzschwertern und Pistolen samt Munition auf den Nebentisch. Dazu legte er Waffengürtel und stabil wirkende Lederjacken, die für den Kampfeinsatz gedacht waren. »Die werden wir brauchen, draußen ist die Hölle los.« Er schüttelte Nässe aus seinen blonden Haaren und richtete den Blick auf Shanija. Sie begriff sofort. »Was habt ihr geplant?«, fragte sie in die Runde. Jeder schaute woanders hin, nur nicht zu ihr, auch Darren wich ihr nunmehr aus. Hier hat jeder etwas zu verbergen. Jeder. »Bei mir ist es klar«, fuhr sie nach einer Weile peinlichen Schweigens fort. »Ich muss so schnell wie möglich zur Stele von Majakar.« »Wir könnten Haak bitten, uns Lhasas zur Verfügung zu stellen«, schlug Mun vor. »Er hat die beste Zucht, die es in Choc gibt.« »Wie bitte?«, sagte Shanija. »Lhasas sind Hunde, wenn ich mich recht erinnere. Als ich in meinen Ferien wochenlang eingesperrt war, habe ich mir viele Bildungssendungen angesehen, und da ging es mal um die Beziehung zwischen Mensch und Hund. Als Beispiel wurden unter anderem Lhasas gezeigt, eine viele Jahrtausende alte Rasse, die bei manchen Privilegierten immer noch beliebt war. Sie
sind Hochgebirgshunde, die ursprünglich im Himalaja heimisch waren. Kleine, süße, Tiere, aber man muss sich bücken, um sie zu streicheln. Erstaunlich, dass es die hier geben soll, aber wie sollen sie als Reittiere …« Der Adept seufzte. »Vielleicht sollten wir uns Haaks Lhasas erst einmal ansehen.«
* Sie sahen aus wie Hunde. Mit langgezogenem Körper, das Fell reichte fast bis auf den Boden, und aus ihren Augen sprach eine Intelligenz, die Shanija zutiefst beeindruckte. Ihre Schulterhöhe betrug etwa einen Meter siebzig. »Das sind unsere Lhasas«, sagte Mun. »Mag ja sein, dass sie in einem Raumschiff von der Erde hierher gekommen sind, danach haben sie sich jedenfalls gewaltig verändert, wenn man dich so reden hört.« Shanija schmunzelte. Vielleicht lag nur eine Namensgleichheit vor, vielleicht handelte es sich tatsächlich um Abkömmlinge irdischer Hunde. An Bord von Raumschiffen waren schon viele tierische blinde Passagiere auf andere Welten »exportiert« worden, und Shanija war sogar ein Captain bekannt, der sich nicht von seinem geliebten Vierbeiner hatte trennen können und ihn mit offizieller Erlaubnis mit auf Erkundungsreisen genommen hatte. Sie wusste allerdings nicht, ob man für diesen Hund eigens einen Raumanzug angefertigt hatte. Acht Tiere standen in den Verschlägen. Sie wirkten unruhig; offensichtlich spürten sie deutlich, dass sich Unheil über der Stadt, wenn nicht sogar der ganzen Welt zusammenbraute. »Wo ist Tenhaaken?«, fragte Shanija. Darren hob die Schultern, As'mala und Seiya schüttelten die Köpfe. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir diese Nacht in die Herberge zurückgekommen sind«, antwortete Mun.
»Und wann haben die Tiere zum letzten Mal etwas zu fressen bekommen?« Der Adept antwortete nicht, sondern stöberte im Licht der Fackeln herum, bis er große Leinensäcke fand, die mit braunen Kügelchen gefüllt waren. Er holte eine Handvoll heraus, roch daran und hielt sie dann einem Tier hin. Vorsichtig leckte es sie mit der Zunge auf und kaute sie begierig. »Gut«, sagte Shanija. »Werden wir die Lhasas reiten können?« »Sie gelten als ausdauernd, fügsam und genügsam.« »Wir sollten es versuchen«, entschied Shanija. Eine bessere Option, so schnell wie möglich die fünfzig Kilometer zurückzulegen, sah sie nicht. »Mun und ich füttern und satteln die Tiere«, schlug Darren vor. »Danke. Wir packen derweil.«
* Shanija hatte schon prachtvolle Sonnenaufgänge auf Less erlebt; es war immer wieder spektakulär, wenn Fathoms rötliches Leuchten, das die Nacht erhellte, zuerst zaghaft, dann nachdrücklich von nahezu allen Farben des Regenbogens durchzogen wurde, bis sich schließlich mit der Helligkeit ein eher rötlicher Grundton durchsetzte. Von alledem war jetzt nichts zu sehen. Der Himmel wurde gar nicht richtig hell, und noch immer fegte der Sturm durch Choc. Er hatte eher an Stärke zugelegt. Darren und Mun übernahmen die Spitze. Beide lenkten ihre Reittiere problemlos durch die Straßen, und auch Shanija und Seiya gewöhnten sich schnell an die Fortbewegungsweise der Lhasas, nachdem As'mala ihnen ein paar Tipps gegeben hatte. Seit ihrer Bruchlandung hatte Shanija Gelegenheit gehabt, auf verschiedenen Reittieren zu reisen, für sie eine ganz neue Fortbewegungsart, die ihr nicht immer leicht fiel. Auch Seiya hatte beim ersten Mal Überwindung gebraucht, sich aber als Naturtalent erwiesen. Die Lhasas
schienen ohnehin keiner Aufmunterung zu bedürfen, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Sie waren nur ein paar Straßen weit gekommen, als Darren sein Reittier anhielt. Vor ihnen hatte sich eine Horde Stadtbewohner zusammengerottet; einige trugen Waffen, andere schwenkten Fackeln. Vielleicht hatten sie sich damit in der Nacht den Weg erhellt, und jetzt benutzten sie sie vermutlich, um geplünderte Häuser in Brand zu setzen. Ein Uriani sah zu ihnen herüber und rief etwas, und im nächsten Augenblick stürmte der Mob los, auf sie zu. Darren fluchte laut, ließ die Zügel fahren und hieb seinem Reittier die Fersen in die Seite. Der Lhasa preschte los, mitten auf die Gruppe zu. Mit einem erschrockenen Schrei warf der Uriani sich zur Seite, um nicht niedergetrampelt zu werden. »Die Sonnenfrau! Die Sonnenfrau!«, hörte Shanija, als sie ebenfalls durch die Menge ritt. »Ergreift sie! Tötet sie! Sie bringt das Verderben über uns!« »Abergläubisches Pack«, murmelte Shanija und trat einem Kuntar vor die Brust, der von der Seite auf sie zustürmte, um sie von ihrem Reittier zu reißen. As'mala und Mun nahmen Seiya in die Mitte und drängelten sich rücksichtslos vorwärts. As'mala stieß eine Reihe von Flüchen aus, die selbst Shanija die Röte ins Gesicht trieben, und schlug mit der Breitseite ihres Schwertes abwechselnd nach links und rechts. Der Adept machte gelegentlich von seinem Kampfstab Gebrauch, aber zu ihm hielten die Leute ohnehin eher respektvollen Abstand. Dann waren sie durch. Der aufgebrachte Mob folgte ihnen ein Stück weit, die meisten gaben jedoch bald auf und riefen ihnen nur noch wüste Beschimpfungen hinterher. Shanija vermutete, dass Mitglieder der Warner-Sekte die Leute aufgewiegelt hatten. Nahezu von Anfang an war es so gewesen – egal, wohin Shanija sich wandte, immer waren ihr die Attentäter voraus, egal, welcher Sekte sie angehörten. Rabans ehemaliger Stellvertreter Syptus war sicherlich auch hier irgendwo mit den verbliebenen Getreuen. Er hatte Mun die Information von der Stele und der
Urmutter herausgepresst. Sicherlich war er dabei, eine Falle für Shanija zu errichten, um sie in seine Fänge zu bekommen. Auch die Erlöser unter dem Nichthumanoiden Aliandur waren vermutlich in Choc eingetroffen, denn As'mala hatte von der Bettlerin erzählt, die Shanija als »Erlöserin« bezeichnet hatte. Und jetzt, wie könnte es auch anders sein, waren auch die Warner hinzugekommen. Diejenigen, die Shanijas Tod wollten. Am besten wäre es, alle drei Sekten aufeinander zu hetzen und sich dann mit denjenigen auseinanderzusetzen, die überlebten. Und das war vermutlich keine Ironie, denn so musste es letztendlich kommen. Die Lage spitzte sich zu, natürlich würden alle Parteien bald zusammentreffen, denn Shanija war das Zentrum ihrer Suche, und inzwischen wusste jeder, wo sie sich befand. Vielleicht hatte sogar die Außenstelle des Zentralarchivs selbst die Nachricht verbreitet, Shanija traute den manipulativen Bibliothekaren inzwischen alles zu. Es spielte keine Rolle mehr, wie es herausgekommen war. »Verstehst du jetzt, warum ich nicht warten kann?«, rief Shanija Darren zu. Bestimmt hatte er jetzt dieselben Schlüsse gezogen, vielleicht schon vorher, als er auf der Suche nach Waffen gewesen war und gesehen hatte, was in Choc vor sich ging. Darren antwortete nicht, aber er nickte wenigstens kurz, sein Gesicht hatte immer noch einen grimmigen Ausdruck. Erleichtert atmete Shanija auf, als sie die äußeren Stadtteile erreichte und die Häuser schließlich hinter ihr und den Gefährten zurückblieben. Aber das, was sie in Choc erlebt hatte, war sicher nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde. Während sie in den Sturm ritt, der über der Ebene tobte, fragte sie sich kurz, was wohl aus dem Herrn der Schokolade und seinen Dienerinnen geworden war.
8. Der Sturm hatte etwas nachgelassen; die dichte, schwarze Bewölkung war aufgerissen, und schwaches, rötliches Licht tauchte die Landschaft in einen unheimlichen Schimmer. Sie waren an einer Siedlung vorbeigekommen, hatten dort jedoch keine Rast eingelegt. Die Lhasas waren von großer Ausdauer und Schnelligkeit, in wenigen Stunden würden sie tatsächlich die fünfzig Kilometer zurückgelegt haben. Mit Pferden wäre das unmöglich gewesen. Richtung Norden lag nach Muns Auskunft die Stadt Lasardaban, nur etwa zehn Kilometer von der Stele entfernt. Die Steppe wurde immer steiniger. Die vereinzelten Bäume und Büsche waren Shanija kümmerlich und krank vorgekommen, als könne der Boden ihnen nicht genug Nahrung für ein normales Wachstum bieten … oder würde ihnen das, was Regen und Sonnen ihnen gaben, wieder entziehen. Shanija hob den Blick zum Himmel, konnte jedoch nicht erkennen, wie weit die Konjunktion bereits gediehen war, dafür war die Bewölkung noch zu stark. Aber es würde wohl nicht mehr lange dauern. Vor ihr erhob sich immer deutlicher das dem Meer vorgelagerte Gebirge. Shanija glaubte, die Kegel von erloschenen Vulkanen ausmachen zu können. Die Zeit verrann schnell, die Lhasas wurden nicht müde, aber Shanija tat jeder einzelne Knochen im Leib weh, und sie war sicher, an verschiedenen Stellen wundgescheuert zu sein. Auch die anderen zeigten erschöpfte Gesichter. Wenigstens konnte es nicht mehr weit sein. Da pfiff und winkte Darren und lenkte sein Reittier auf eine Anhöhe hinauf, um einen Blick auf das immer steiler ansteigende Vorgebirge zu werfen. Noch vor der Spitze stieg er ab und näherte sich geduckt der Kuppe.
Shanija bedeutete den anderen, zu warten, und folgte ihm auf den Hügel. Als Darren sich zu ihr umdrehte, ein Stück weit herabkam und warnend den Arm hob, zügelte sie ihr Reittier, stieg ab und lief ebenfalls geduckt zu ihm. Er ergriff ihren Arm, hielt sie fest. »Vorsicht«, flüsterte er. »Sie dürfen uns nicht sehen.« Sie nickte und näherte sich zusammen mit Darren dem Rand der Kuppe. Nur noch etwa zwei Kilometer entfernt lagerten gewaltige rote Steilfelsen, und dazwischen erhoben sich die schrundigen Krater längst erloschener Vulkane. Erst von hier aus wurde deutlich, wie groß das Gebirge tatsächlich war. Shanija zweifelte nicht daran, dass sie dort auch einen »runden Kreis« finden würde … und darin die Stele. Darren zeigte nach unten. Unter der Anhöhe breitete sich ein kleines Wäldchen aus, wie Shanija erstaunt feststellte. Damit hätte sie hier nicht gerechnet. Die Nadelbäume waren niedrig, kaum höher als zwei Meter, und standen ziemlich dicht. Gespenstisch leuchte das gelbe Licht mehrerer Fackeln zwischen ihnen. Shanija brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass die Fackeln von vermummten Gestalten getragen wurden, die sich einen Weg durch den Wald bahnten. Zuckend sprangen die Schatten der Bäume im flackernden Licht auf und ab, wie lebendige Wesen schienen sie im Halbdunkeln zu tanzen. Es wurde kein Wort gesprochen, bis die Prozession der Vermummten eine Stelle erreichte, an der die Bäume nicht ganz so eng standen. Dort erwartete sie jemand. Ein Mensch. Ein hagerer, in gewisser Weise gut aussehender Mann mit stechendem Blick. »Syptus«, wisperte Shanija. As'mala hatte ihn genau so beschrieben, es konnte sich nur um ihn handeln. Der skrupellose Intrigant, der Rabans Nachfolge als Erhabener Prophet angetreten hatte. Ein Windstoß brauste zwischen den Bäumen hindurch und bauschte Syptus' Priestergewand auf. Die Bäume warfen ihre Kro-
nen hin und her, eine Fackel nach der anderen erlosch. Eine heftige Bö erfasste Shanija, und sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Das Tosen des Windes schmerzte in ihren Ohren, sein Heulen klang zornig. Shanija hatte genug gesehen. »Verschwinden wir von hier«, signalisierte sie Darren. In diesem Moment ließ der Wind wieder nach, und Shanija hörte ein tiefes, lautes Brummen, das so gar nicht hierher passte, auf diese Welt. Ein mechanisches Geräusch? Ihr Lhasa ein Stück weiter unten fuhr erschrocken hoch und stieß ein tiefes, weit hallendes Bellen aus. Shanija unterdrückte einen Fluch, dieses Geschrei konnte den Männern unten im Wäldchen nicht entgangen sein. Einen Moment lang blieb alles ruhig, doch dann erklangen unten aufgeregte Stimmen, und ein Befehl schallte herauf. »Seht nach! Das müssen sie sein!« Shanija und Darren rannten zu den Lhasas, sprangen auf und wollten sie antreiben, als das dröhnende Geräusch von Neuem erklang, diesmal näher, noch lauter … Vier, fünf Männer mit Schwertern, Lanzen und Speeren kamen gerade den Hang heraus und hielten auf Shanija und Darren zu. Und da … Shanija glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Über die rechte Hangseite des Talkessels raste ein … ein Etwas herauf, ein … Ein Chopper?, fragte sich Shanija. Es sah aus wie ein Motorrad, verfügte vorn und hinten aber jeweils über zwei Räder. Und es war … gepanzert. Ein Mensch saß auf dem Kampfchopper, bekleidet mit einer … Rüstung? Oder war es nur eine Ledermontur, die ihn bei einem Unfall schützen sollte? Sein Gesicht konnte Shanija nicht erkennen, es wurde von einem Helm verborgen. Aus zwei Düsen am hinteren Ende des Gefährts schoss Rauch. Nein, Dampf, korrigierte sich Shanija. Das Ding war ein Dampfmaschinen-Motorrad! Wahrscheinlich eine Variante der Erfindung von
Yimak Groom, wie Shanija von Darrens und Seiyas Erzählung wusste. Es jagte in halsbrecherischer Geschwindigkeit über Stock und Stein den Hang hinauf, über die Kuppe, und auf die Gruppe der Wiedergänger zu, die im letzten Moment beiseite sprangen. Bis auf einen, der nicht schnell genug war. Er wurde meterweit durch die Luft geschleudert, prallte auf den harten Boden und blieb mit bizarr verdrehten Gliedern liegen. Der Fahrer nahm die Verfolgung der fliehenden Attentäter auf. Und er war nicht allein. Über die Ebene kamen … Dutzende heran. Und auf einem davon saß ein … ein Drache? Ein Fremdwesen, das an einen Drachen erinnerte, aufrecht stehend bestimmt drei Meter groß, mit hellroter, lederner Haut, soweit sie nicht von der Schutzmontur bedeckt war. Vorbei! Es war vorbei! Die Verfolger waren zu schnell für sie, würden sie in wenigen Minuten eingeholt haben. Dennoch galoppierten Shanija und Darren in Höchstgeschwindigkeit zu den Freunden hinunter, die schon zur Flucht bereitstanden. »Es sind die Erlöser!«, rief Mun. »Der mit den Schwingen – Aliandur persönlich ist eingetroffen, und jetzt fallen alle übereinander her, um dich zu kriegen!« »Wir werden das ausnutzen und abhauen«, keuchte Shanija. »Es ist nicht mehr weit, vielleicht noch zwei Kilometer.« »Da oben!«, rief As'mala und zeigte in den Himmel. Shanija fluchte. Es war schneller gegangen, als sie gehofft hatte. In das Geheul der Motorräder mischte sich das Dröhnen der Methanturbinen von Orgavögeln! Eine Wolke dieser hauptsächlich aus Metall und Muskeln bestehenden Flugtiere, die Shanija an Chimären aus Adlern und Flugsauriern erinnerten, durchpflügten mit ruckartigen Flügelschlägen den dunklen Himmel. Sie hatten den Moment genutzt, als der Sturm verebbt war, und griffen nun in den Kampf ein. Auf dem Rücken des vordersten Flugwesens saß ein Mensch, zumindest ein humanoides Wesen, bekleidet mit einer prachtvollen Robe, das Gesicht unter einer Maske verborgen. Shanija lief ein Schauer über den Rücken hinunter, ihn hatte sie
schon einmal gesehen. Corundur, Anführer der Warner, der ihren Tod verlangte. Einzelne Orgavögel stießen auf die Kampfchopper hinab, versuchten sie zu rammen, während die Krieger der Warnersekte von ihren Rücken sprangen und die Fahrer angriffen. Ein Teil der semiorganischen Flugtiere hielt auf Shanijas kleine Gruppe zu. Ihr Lhasa scheute, als ein Orgavogel drei Meter über ihr hinwegflog, bäumte sich auf, und Shanija verlor den Halt, wurde aus dem Sattel geworfen. Hart prallte sie auf dem Boden auf, sprang aber umgehend auf und wollte nach dem Zügel greifen, doch der Lhasa galoppierte panisch bellend davon. Darren riss sein Tier herum, kehrte zu ihr zurück, sprang neben ihr ab. Auch die anderen drehten um. Shanija sprang gerade noch zur Seite, als sie ein Rauschen dicht über sich hörte. Nur undeutlich konnte sie den Orgavogel ausmachen, der über sie hinwegzischte, sie fast mit seinen Krallen erwischt hätte. Das semiorganische Ding setzte fünfzig Meter von ihr entfernt auf, und fünf, sechs Bewaffnete sprangen ab. Drei weitere Vögel kreisten über ihnen. Shanija zog zwei der drei Pistolen, die Darren ihr gegeben hatte, und feuerte auf die Besatzung der fliegenden Orgavögel. Jede Kugel traf. »Alle Achtung!«, rief Darren, während er neben ihr auf die Angreifer schoss. Er war bei weitem nicht so treffsicher wie Shanija, konnte aber zusätzlich seine Telekinese einsetzen. »Ich habe dich ja schon in ELIUM erlebt …« »Ich bin ausgebildete Scharfschützin«, knurrte Shanija und zog die nächste Pistole, zum Nachladen hatte sie jetzt keine Zeit. »Ich kann einer Fliege das Auge ausschießen, ohne dass sie stirbt.« Doch der Kampf war aussichtslos, ehe er richtig begonnen hatte. Obwohl die Fanatiker sich weiterhin gegenseitig bekämpften, waren sie so viele, dass immer noch genügend übrig blieben, die nun immer näher rückten. Shanija, Darren und As'mala feuerten, luden nach, feuerten. Mun, der nie eine andere Waffe als seinen Körper und den Wanderstab einsetzte, machte sich bereit. Die ersten Nahkämpfer waren bald da. Das Feld war bereits übersät mit Toten und
Verwundeten, drei Orgavögel waren abgestürzt, die übrigen mussten landen, weil der Sturm wieder einsetzte. Aber die Übermacht war immer noch zu groß. Shanija spürte eine Bewegung neben sich, wirbelte herum, das Schwert in der Hand. Doch es war Seiya. »Geh weiter!«, brüllte sie über den Kampflärm und das Tosen hinweg. »Wir werden sie aufhalten!« »Sie hat recht!«, schrie As'mala, warf die rauchende Feuerwaffe beiseite und zog zwei Schwerter. »Wir erledigen das!« Shanija schüttelte den Kopf. »Nein! Das wäre euer sicherer Tod …« »Nun lauf schon!«, wiederholte die Prinzessin. »Ich weiß, was ich tue!« »Auf keinen Fall!«, rief Shanija. »Wir müssen zusammenbleiben, nur als Team haben wir eine Chance! Ich werde euch nicht im Stich lassen …« Das Schicksal der Menschheit, wisperte etwas in ihr, und es war nicht Pong. Mun schob sich an ihr vorbei. »Wir werden dir einen Vorsprung verschaffen! Nun lauf endlich los!« Darren packte Shanija am Arm und zerrte sie mit sich. »Die drei machen das schon, also komm endlich!« »Nur als Team …«, wiederholte sie, und eine Erinnerung durchzuckte sie, nur eine Sekunde lang.
* Zwischenspiel (Sommer 3208 – im ersten Offiziersjahr) Schwitzend wachte ich auf. Merkwürdig, dachte ich. Ich hatte die Temperaturkontrolle vor dem Zapfenstreich auf angenehme 22 Grad gestellt. Mit schweren Glie-
dern stand ich auf und sah nach dem Raumthermometer. Dreißig Grad! »Was ist passiert?«, fragte ich. »Störung der Klimaanlage«, antwortete mir die allgegenwärtige Stimme des Hauptcomputers. »Ein Reparaturteam ist bereits an der Arbeit.« Erstaunlich. Es war das erste Mal, seit ich auf der Militärakademie war, dass es zu einem größeren Ausfall gekommen war. Ich konnte nicht glauben, wie gut ich es getroffen hatte. Ich hatte endlich mein eigenes Zimmer – auch wenn es mit zwölf Quadratmetern eher winzig war –, und die Ausbildung war zwar hart, machte aber noch genauso viel Spaß wie am ersten Tag. Und ich war endgültig raus aus dem Getto! Weg von Barn und allem anderen Dreck! Ich ging in die kleine Nasszelle und drehte die Dusche auf, doch ich wartete vergebens. »Negativ! Die Wasserversorgung ist ebenfalls betroffen. Einige Relais sind verschlissen und müssen ausgetauscht werden.« Tatsächlich tropfte es nur ein wenig aus dem Duschkopf. Was für ein toller Start in den Tag! Notgedrungen schlüpfte ich ungewaschen in den Tarnfarben-Overall. Heute Morgen stand eine Übungseinheit im Feld auf dem Plan. Normalerweise würde ungepflegtes Äußeres mir einen Verweis einbringen, aber ich konnte mich ja auf höhere Gewalt berufen. »Einsatzbefehl?« Ich schaltete das Display in der Zimmerwand ein. Es konnte nicht schaden, den Dienstplan regelmäßig zu überprüfen. Manchmal wurde er kurzfristig geändert, um uns auf Trab zu halten. »Übung im Sektor Gamma. Sergeant Kronten hat ein Dringlichkeitssymbol gesetzt.« Ich pfiff leise. Das konnte nur bedeuten, dass es heute zur Sache ging. »Neuer Termin. Heute Abend um zwanzig Uhr psychologische Untersuchung.« Ich runzelte die Stirn. Diese Termine bereiteten mir durchaus
Kopfzerbrechen, weil ich sie auch nach drei Monaten auf der Akademie nicht richtig einschätzen konnte. Ergebnisse erfuhren wir Kadetten so gut wie nie; die Gehirnsezierer ließen sich nicht in die Karten schauen. Die monatlichen Bewertungen gaben nur eine Punktzahl bekannt, ohne Einzelheiten. Also wussten wir nicht, ob wir uns richtig verhielten, wie wir uns gegebenenfalls besser verhalten konnten und was wir richtig oder falsch machten. Wie schätzte man uns ein? Und wie schätzten wir uns demgegenüber selbst ein? Es geisterten so einige Schlagwörter durch die Kasernen und Wohnheime. Nicht geeignet, da zu impulsiv. Nicht brauchbar, erkennt keine Autorität an. Nicht teamfähig, zu individuell. Nur allzu gern hätte ich einmal einen Blick in die Akte mit meinen Beurteilungen geworfen. Während ich die Waffe überprüfte und einsteckte, wurde mir wieder einmal klar, wie schwierig nicht nur meine Situation, sondern die aller Kadetten war. Welche Eigenschaften wurden gefordert? Ich hatte mich für eine Karriere bei den Marines entschieden, aber sahen das meine Ausbilder als richtig an? »Das bringt doch nichts …« Kaum hatte ich die Wörter ausgesprochen, bedauerte ich es. Manche Kadetten behaupteten, dass jede einzelne Aussage, auch eine in den »eigenen« vier Wänden, vom Hauptcomputer protokolliert und als Summe in die Bewertungsunterlagen eingespeichert wurde. Obwohl eine offizielle Bestätigung dafür ausstand und nie erfolgern würde, zählte ich in Gedanken einen Minuspunkt mehr auf meinem Konto. Manchmal befürchtete ich, dass Minuspunkte nie verjährten und Pluspunkte in kürzester Zeit verfielen. Meine Stimmung war nicht die beste, als ich um zwei Minuten vor sieben ungewaschen und mit leerem Magen im Sektor Gamma eintraf. Ich schien eine ganz normale, fensterlose Exerzierhalle zu betreten, doch was dahinter lag, hatte es in sich. Ein gutes Dutzend Türen führten in geheimnisvolle Sektionen, über die man nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Ein Uneingeweihter wusste nie, was ihn erwartete, sobald er durch eine Tür trat.
Sergeant Kronten blaffte mich an, als ich die Halle betrat. »Wurde auch Zeit! Geschlagene drei Minuten stehe ich hier schon rum! Dass man jetzt schon auf Kadetten warten muss … unglaublich!« Obwohl ich mir nichts daraus hätte machen sollen, jagte der Anschiss mir das Blut ins Gesicht. Kronten kläffte, und ich war zwei Minuten vor der Zeit eingetroffen. Wichtiger war da schon, dass wir mit sechs Kadetten eine verhältnismäßig kleine Gruppe waren … und dass Janto und Dirian dazu gehörten. Wir drei waren gleichzeitig auf die Akademie gekommen. Die beiden Jungs hatten sich gleich prima verstanden und eine kleine Clique um sich geschart. Mich hatten sie von Anfang an ausgegrenzt, zuerst, weil ich ein Mädchen war – und dann, weil sie mich für eine Konkurrenz um die Zugbeste hielten. Womit sie durchaus recht hatten. »Na schön … Aaaachtung!« Wir standen stramm. »Verschärfte Bedingungen! Zug ist in Hinterhalt geraten und hat Führungsoffiziere verloren! Durchschlagen zum Stützpunkt bei Feindberührung! Marsch zur Tür fünf!« »Sir, jawoll, Sir!«, brüllten wir wie aus einer Kehle und liefen los. Dirian erreichte die Tür als Erster und riss sie auf. Wir rannten in die Fahrstuhlkabine, Dirian schlug die Tür zu, und die Kabine setzte sich surrend in Bewegung. Als wir sie verließen, traten wir in einen dichten Urwald.
* Auf dem Boden stand Wasser, und es roch süßlich, stank fast schon. Die Bäume und Sträucher vor mir waren mir unbekannt; ich fragte mich, welcher Fremdplanet hier simuliert wurde, und versuchte mich zu erinnern, ob ich während der Ausbildung schon mal die prächtigen roten Blüten gesehen hatte, die hier überall wucherten. Fehlanzeige. Ich wollte keine Zielscheibe darstellen, warf mich augenblicklich
in den Schlamm. Ein Treffer mit Übungsmunition versetzte einem einen schmerzhaften elektrischen Schlag und hinterließ farbige Markierungen. Die anderen taten es mir gleich. Zwei von uns – eine davon ich – hatten ihre Ortungsinstrumente gezückt. »Die Taster zeigen beträchtliche Metallmengen um uns herum an.« »Und unter uns befindet sich ein weitläufiges Kanalsystem!«, ergänzte Janto. Auch wenn wir uns nicht besonders mochten, wir mussten als Team zusammenarbeiten. Wir wurden von Ausbildern beobachtet; es kam nicht nur darauf an, die eigene Haut zu retten. Gleichzeitig war es auch ein Test für die verborgenen Führungseigenschaften, die bei steigendem Schwierigkeitsgrad immer mehr gefordert wurden. »Sucht den Eingang zu dem verdammten System!« Dirian robbte tiefer ins Unterholz, zwischen blaue und violette Blüten. Schüsse surrten, und Hobbel schrie auf und trommelte mit den Fäusten und Beinen in den Matsch. Seine Uniform zierten leuchtende blaue Pünktchen. »Die Simulation ist schon auf höchster Stufe!« Ich hatte es heute Morgen bereits geahnt, als die Klimaanlage und die Dusche ausgefallen waren: Dieser Tag konnte nur noch schlimmer werden. Suchend blickte ich mich um. Der Eingang zum Kanalsystem war perfekt getarnt. Keine Chance, ihn ohne Hilfe zu finden. Ich ließ den Taster ein Schaltbild erstellen und versuchte, es auf die Umgebung zu übertragen. Wenn ich mich nicht irrte, befand sich der Zugang in einem Gebüsch, etwa zehn Meter vor uns. »Hier lang!«, rief ich, atmete tief durch und robbte los. Ein gellender Alarmton ließ mich aufschrecken. »Was ist jetzt wieder? Gehört das dazu?« Janto schloss zu mir auf und sah mich ratlos an. Eine Alarmanlage im Dschungel? Ich ignorierte den Lärm, schaufelte mit den Händen Lehm beiseite, scharrte mir die Finger an Metall auf.
Ich legte den Deckel frei und hob ihn kurz entschlossen hoch. Unter mir undurchdringliche Dunkelheit. Ich beugte den Kopf über die Öffnung, und abgestandene Luft schlug mir entgegen, muffig und irgendwie stechend. Ich rümpfte die Nase. »Zwei Meter unter dir führt ein Gang links ab.« Janto schaute konzentriert auf seinen Taster. Ich zog die Taschenlampe aus der rechten Beintasche und leuchtete hinab. Unter mir dümpelte Wasser, schwarz und träge wie Tinte. Zwei Meter. Das bedeutete, ich musste da rein. Keine besonders angenehme Aussicht. Andererseits hatte ich mich heute ohnehin nicht gewaschen. »Wenn schon, dann ein Tunnel oder Kanal.« Fluchend kramte ich die Maske mit Sauerstoffversorgung hervor und setzte sie auf. Die Dunkelheit, notdürftig von dem Strahl der Lampe durchschnitten, schien an mir zu zerren. Ich schwang mich in den Schacht, sprang in die übel riechende Brühe hinab. Kalt schlug sie an mir hoch und über mir zusammen. Ich musste an Wasserschlangen, Raubfische und Blutegel denken, blieb aber unbehelligt – vorerst. Ich tauchte tiefer, entdeckte den Kanal, auf den Janto mich hingewiesen hatte, und schwamm hinein. Fünf Meter, zehn, zwanzig, dann führte der Tunnel endlich wieder nach oben. Ich spürte Luft an meiner triefend nassen Haut, schaltete die Maske aus, um Sauerstoff zu sparen, schob sie vom Mund und orientierte mich. Ich befand mich in einem Raum, der mich an die Schleuse eines Raumschiffs erinnerte. Etwa einen Meter über mir machte ich ein schmales Podest aus. Dahinter zerrte das Licht der Taschenlampe ein metallenes Schott aus der Dunkelheit. Ich hätte das Podest aus eigener Kraft erreichen und mein Glück mit der Türöffnung versuchen können. Aber zuerst musste ich den Kameraden Bescheid geben. Ich zog die Maske über den Mund, tauchte und schwamm zurück. Als mein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach, empfing mich sirrender Beschuss. »Schwere Feindberührung!«, rief Dirian herab.
»Mir nach! Ich habe ein Schott gefunden! Vielleicht liegt dahinter unsere Basis!« Ich tauchte, fand den Tunnel, glitt durch das dunkle Wasser. Ich atmete tief und gleichmäßig, tief und gleichmäßig, tief und … bekam keine Luft mehr. Ich fluchte im Geiste; der kleine Sauerstoffvorrat der Notmaske war verbraucht. Ich zwang mich, gleichmäßig weiter zu schwimmen, kämpfte gegen die Panik an, den Drang, heftig mit Armen und Beinen zu strampeln. Mit einem Mal fühlte ich mich ganz leicht. Was für eine Rolle spielte es schon, wenn ich hier unten ertrank? Ich hatte versagt, konnte mir die Laufbahn beim Militär abschminken … Nein, dachte ich. jetzt erst recht, doch ich hatte die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo oben und unten war … und spürte eine Berührung an der Schulter. Jemand packte mich, zerrte mich mit sich, und als ich glaubte, alles sei vorbei, brach mein Kopf durch die Wasseroberfläche. »Dirian«, keuchte ich, als ich klar sehen konnte. »Danke.« Er ignorierte mich, schnellte mit dem Oberkörper aus dem Wasser, ergriff mit beiden Händen den Rand des Podests und zog sich hoch. Dann half er mir hinauf. Janto folgte, und ein weiblicher Kadett namens Atua. »Die beiden anderen?« »Haben es nicht geschafft.« Dirian untersuchte die Schleuse, als der Alarmton erklang. »Achtung«, erklang eine Stimme, die ich sofort als die allgegenwärtige des Hauptcomputers erkannte. »Systemausfall! Das ist keine Übung!« Plötzlich bebte das schmale Podest, auf dem wir standen, und an der Schleuse leuchtete ein rotes Licht auf. Notverriegelung! »Verdammt«, sagte Dirian. Sein Gesicht war weiß geworden. Ich wusste, was er dachte: Wir waren eingesperrt auf fünf Quadratmetern, und die Luft in diesem Loch war möglicherweise nicht gesundheitsfördernd. Der Alarm kreischte in meinen Ohren. »Lass mich ran. Ich kenne mich mit solchen Dingern ganz gut aus. Hab früher oft was repariert.« Ich schob Dirian zur Seite, holte ein
Messwerkzeug aus einer Beintasche hervor und öffnete die Sicherheitsklappe des Schotts. Nach zehn Sekunden wusste ich, dass ich den Sicherungskode der Schleuse knacken konnte. »Was hast du vor?«, fragte Janto. »Das ist gegen die Vorschrift! Wir müssen abwarten, bis der Alarm vorbei ist.« Dirian hielt meinen Arm fest. »Habt ihr nicht gehört? Das ist keine Übung.« Ich schüttelte Dirians Griff ab. »Ich werde die Schleuse kurzschließen.« Dirian blickte mich ernst an. »Das kann uns einen Verweis einbringen.« »Ich werde das auf meine Kappe nehmen.« Ich legte ein Kabel frei. Funken sprühten aus dem Kasten, ein beißender Geruch breitete sich aus. »Unzulässiger Eingriff!« Die Stimme des Hauptcomputers klang abgehackt. Ich achtete nicht darauf und trennte zwei Drähte durch. Das Schott öffnete sich, und ein Schwall frischer Luft schlug uns entgegen. Ich zwängte mich durch den Spalt und trat … in einen Briefingraum von Sektion Gamma. Er war verlassen, aber auch hier war der Alarm zu hören, und rotes Licht blinkte in Sekundenabständen auf. Die anderen folgten mir. Ein tolles Bild gaben wir ab. Wir sahen aus wie nasse Hunde, und wir stanken wahrscheinlich wie eine Abfallgrube. Dirian musterte mich eindringlich. Dann lächelt er mich an und reichte mit die Hand. »Danke.« Ich ergriff und schüttelte sie. »Wofür?« »Dass du zurückgekommen bist, um uns zu holen.« Ich starrte ihn an. »Dafür hast du mich vor dem Ertrinken gerettet.« »Trotzdem. Und dafür, dass du das mit dem Schott auf deine Kappe nehmen wolltest. Aber das stehen wir gemeinsam durch, Shanija.« Ich lächelte schwach. Ganz egal, was Kronten zu unserem Vorgehen sagen würde, in diesem Augenblick fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich zu Hause.
9. Ich weiß nicht, was ich tue, dachte Seiya, als die Angreifer von allen Seiten näher rückten. Sie hatten die Kämpfe gegeneinander eingestellt und waren übereingekommen, die Verteidiger zuerst zu erledigen, bevor sie den Kampf um Shanija fortsetzten. Ich habe es zwar behauptet, aber ich weiß es nicht. »Mun«, wisperte sie, »ich …« »Ich bin bei dir, Seiya, und ich werde bis zum Ende bei dir sein.« As'mala sprang herum; nun standen sie Schulter an Schulter an Schulter. »Kommt schon, ihr Mistkerle!«, rief sie und ließ die Schwerter langsam durch die Luft kreisen. »Ich werde euch nach Knochengröße sortieren!« Einer der Angreifer lachte abfällig. »Mal sehen, ob dein Maul wirklich so groß ist, wie es den Anschein hat. Rat mal, womit ich es dir stopfen werde!« »Na, dann komm gleich als Erster her, wenn du Mut hast!« As'mala schnaubte verächtlich. »Was ist? Keine Lust zu sterben? Will keiner von euch das Opfer für die anderen geben?« »Es sind einfach zu viele«, stieß Seiya hervor. »Deine Psimagie«, flüsterte Mun hinter ihr. Seiya lachte heiser auf. »Soll ich die verdammten Kerle etwa vereisen?« »Öffne deinen Geist«, sagte der Adept. »Denk an ELIUM!« »Mun, was in aller Welt tust du da?«, rief As'mala. »Es ist unsere einzige Chance«, gab Mun zurück. »Es drängt sowieso aus ihr heraus, also sollte es bewusst geschehen, damit es sie nicht zerstört …« »Was?«, fragte Seiya ratlos. »Wovon sprecht ihr?« »ELIUM! Denk an ELIUM!« »Du wirst uns alle zerstören!«, stieß As'mala hervor, dann lachte sie auf. »Ja, keine schlechte Idee, passend zu diesem Tag …«
Muns Fingerspitzen berührten Seiyas rechte Schläfe. »ELIUM!«, hallte seine Stimme durch ihren Geist. »ELIUM! EL…« …IUM, der riesige Biomechanoid, eine unvorstellbar gewaltige Ansammlung von organischen und anorganischen Komponenten. Eine gigantische Vernichtungsmaschine. Eine eigenständige Zelle, die sich vom feindlichen Boden nährte, ihn ausbeutete und dadurch ihre Einsatzfähigkeit sicherte. ELIUM. Rr'b'trr, Bio6 und Iwo7, die Tiefner, Destruktoren und die Kriggets. Sie steht in einer flirrenden Wolke, die aus Eis und Feuer zu bestehen scheint. Das Feld um sie herum lodert auf. Sie schleudert einen Feuerball auf Rr'b'trr. Der Ball zerplatzt, und ein in Flammen stehender Klumpen fällt in den grünen Schleim. Sie entlässt einen Feuerring, der die Kriggets wegbrennt. Sie hebt beide Hände gestreckt vor sich, und Flammen züngeln hervor. »In ihrem Kopf wurde die Hölle entfesselt!« In ihrem Kopf wurde die Hölle entfesselt. Seiya schrie auf. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer unkenntlichen Fratze. Feuer und Eis, Eis und Feuer. Und dann war da nur noch Feuer. Unerträgliche Hitze drohte sie zu versengen. Wollte Seiya nicht verbrennen, musste sie das Feuer freisetzen. Es stieg zuerst aus ihren Händen empor. Blitze zuckten zwischen ihren Fingerspitzen hin und her, schlugen in den dunklen Himmel hoch. Sie wurden zu Flammen, die immer heißer brannten, immer heißer. Dann brach die Hitze endgültig aus ihr hervor, die Flammengewalt, die Feuermagie. Nichts war sonst mehr, nur noch ein flammendes Inferno. In ihrem Geist, und auch außerhalb.
* Ihr Körper war eine Maschine. Perfekt ausgebildet, perfekt trainiert. Shanija lief los, mechanisch, ohne zu denken; Darren konnte kaum
mit ihr Schritt halten. Die Feinde waren überall. Ein Kampfchopper preschte heran. Shanija sprang zur Seite, riss das Bein hoch, erwischte den Fahrer. Ihr Tritt war so wuchtig, dass er sich nur mit Mühe im Sattel halten konnte und die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Es raste in eine Gruppe Schwerter schwingende Warner. Ein Wiedergänger in einer Kutte warf sich ihr in den Weg. Sie schlug seinen Speer zur Seite, rammte ihm das Schwert in die Brust und stieß ihn zurück, tauchte unter den Krallen eines Orgavogels hinweg, der knapp über dem Boden heranschwebte, hart gegen den Sturm balancierend. Drei Angreifer sprangen von ihm herunter. Den ersten tötete Shanija mit einem Schlag, den seine Kehle zertrümmerte, dem zweiten versetzte sie einen Schwerthieb gegen das Bein, dass er zusammenbrach, den dritten erwischte Darren. Weiter, immer weiter. Vielleicht noch fünfhundert Meter. Sollte sie die Sonnenkraft einsetzen, jetzt, wo alles verloren schien? Nein, sie wagte es nicht, nicht angesichts der unmittelbar bevorstehenden Konjunktion. Verzweifelt hoffte Shanija, dass Pong aktiv wurde, in den Kampf eingriff, ihr Ratschläge erteilte, doch das ehemalige positronisch-organische-Nano-Gehirn blieb stumm, rührte sich nicht. Wieso? Was war nur mit dem kleinen Drachen los? Weiter, immer weiter, obwohl es bereits sinnlos war. Vielleicht nur noch hundert Meter über den Berghang, doch schon knapp hinter ihnen lärmende Verfolger, Wiedergänger, Warner oder Erlöser, sie konnte es nicht sagen. Die Welt verschwamm für Shanija zu einem sturmdurchtosten, dunklen Schlund, in dem Blut die einzigen Farbtupfer bildete und das Hämmern von Metall gegen Metall das einzige Geräusch. Weiter, immer weiter, bis … Nein! Bis Darren stehen blieb, herumwirbelte. »Lauf, du hast es fast geschafft!«, brüllte er gegen den Sturm an. »Ich gebe dir Rückendeckung! Erfüll deinen Auftrag!« »Darren!«, rief Shanija, aber er stürmte schon los, den Verfolgern entgegen. Sie erstarrte, sah, wie er das Schwert schwang, den ersten Attentäter attackierte, den zweiten mit seinen telekinetischen Kräf-
ten packte und gegen zwei andere schleuderte, den dritten mit einem Messerwurf tötete. Sie hörte den blonden Mann lachen, und dann waren sie alle heran, fünf, zehn, ein Dutzend …
10. Shanija löste sich aus ihrer Starre, drehte sich um, rannte weiter. Keine Zeit für Schmerz oder Trauer. Es war nicht das erste Mal, dass sie das erlebte. Sie machte sich nicht die geringsten Illusionen über Darrens Chancen oder die der anderen, diesen Kampf zu überleben. Es wurde zusehends dunkler. Die Bewölkung war aufgerissen. Fathom stand so groß und rot am Himmel, als würde er jeden Moment auf Less herabstürzen. Allmählich gingen die drei Sonnen hinter dem Gasplaneten unter. Es ist vorbei!, dachte Shanija. Die Konjunktion ist fast abgeschlossen! Alle drei Sonnen, der Gasplanet, selbst die Brudermonde und Less traten allmählich in eine gerade Linie. Da sich Less dabei hinter Fathom befand, würde es zu einer totalen Finsternis kommen. Die Sonnen waren im Begriff, quasi zu erlöschen. Und dann würde sich die Passage bilden. Shanija gab sich einen Ruck. Fast vorbei, aber nicht ganz, dachte sie. Noch gab es Hoffnung. Sie wischte sich über das Gesicht. Waren das etwa Tränen, die sie dort fühlte? Nein, nur der Regen, nur der Regen. »Müsstest du nicht längst in der Schule sein?«, hörte sie eine Stimme. Zuerst wusste sie nicht, wessen, doch dann erkannte sie den Klang. Mutter. Jetzt gab es kein Bett, unter dem sie sich verstecken konnte. Der Stoff ihres Ärmels verfing sich in einem Dornenstrauch. Fast wäre sie gestürzt, konnte sich im letzten Augenblick auf den Beinen halten und hetzte weiter. »Mutter, hilf mir …«, flüsterte sie. Doch Mutter war schon lange tot, und der Sturm trug Shanijas verzweifelte Worte fort, hinaus in die Öde. Mit unsichtbaren Händen zerrte er an Haaren und Kleidung. Es war wie in ihrem schlimmsten Alptraum, Tosen und Brüllen raubten ihr fast den Verstand. Ein beharrliches Klopfen pochte in ihrem Schädel, drohte ihn zer-
springen zu lassen. »Wer ist da?«, rief sie. »Zeig dich! Ich will dir ein paar Fragen stellen!« Niemand antwortete. Mit verschleiertem Blick machte Shanija vor sich die Kuppe aus, nur ein paar Meter entfernt, gleichzeitig unerreichbar weit … Aber aufgeben? Niemals! Schritt für Schritt kämpfte sie gegen die Wand aus Wind an. Er schien einen eigenen Willen zu haben, fest entschlossen zu sein, sie von ihrem Ziel fernzuhalten. Nach wenigen weiteren Schritten hatte sie nicht mehr die Kraft, aufrecht gegen den Sturm anzukämpfen, der nun wie eine Bestie heulte. Auf allen vieren kroch sie über die raue Erde. Spitze Steine stachen ihr in die Knie, rissen Löcher in die Kleidung, schnitten die weiche Haut auf. »Gute Arbeit für gutes Geld«, sagte der alte Mann, der nach Vanille roch. »Entsinnst du dich? Weniger gute Arbeit für weniger Geld.« Sie hatte gute Arbeit geleistet, doch es hatte nicht gereicht. Sie hatte sich zu viel zugemutet. Sie konnte es nicht mit einer ganzen Welt aufnehmen. Das Haar, verfilzt und glanzlos, flatterte ihr ins Gesicht. Vergeblich suchten ihre zerschundenen Hände nach einem Halt, das brüchige Gestein löste sich unter ihrem Griff. Nur der Wind hörte ihr hilfloses Keuchen. »Aaaachtung!«, brüllte Sergeant Kronten. »Verschärfte Bedingungen! Zug ist in Hinterhalt geraten und hat Führungsoffiziere verloren! Durchschlagen zum Stützpunkt bei Feindberührung! Marsch!« »Sir, jawoll, Sir!«, schrie Shanija und rappelte sich wieder auf. Feigheit vor dem Feind würde man ihr nicht vorwerfen können, niemals. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, und noch einmal, und noch einmal. Und sah über die Kuppe herab die steinerne Stele. Sie glänzte wie polierter weißer Marmor, ein strahlendes Licht inmitten der zunehmenden Dunkelheit. Da hörte sie eine weitere Stimme, aber diesmal nicht in ihrer Einbildung. Sie erklang unterhalb ihrer Halsgrube und war ihr mehr als nur vertraut. Pongs Stimme.
»Notfallaktivierung«, sagte Shanijas ehemaliger teilorganischer Gefechtscomputer, den sie im Kampfanzug auf der Brust getragen hatte und der nun mit ihr verschmolzen war und die Form eines kleinen chinesischen Schmuckdrachen angenommen hatte. »Notfallaktivierung«, wiederholte Pong, und dann veränderte sich seine Stimme. Sie klang plötzlich fremd, weiblich, sanft. »Ich habe dich gehört. Komm zu mir.«
Zwölfter Teil Susan Schwartz
Pulse
1. Dianoctum X/13. Lunarium/3891. Quartennium Und siehe, es ward finster in der Welt, wie es geweissagt war und mir offenbar wurde, und die Sonnen erloschen, und alles stand still, als die Passage begann. Und ich sah, dass es nur eine Hoffnung gab, und ich wusste, sie würde uns nicht im Stich lassen. Doch die Welt, die Welt, sie kann ich nicht erfassen, so viele Strömungen, so viele Gezeiten, stets im Wandel, und da ist ein finstrer Faktor, der Böses will und tut. Und die Hoffnung ist so zart und zerbrechlich. Ich kann nicht sagen, ob die Welt untergehen wird. Ich sehe Tod und Leid, und ich sehe, wie sich das Universum windet im Schmerz da es aufgerissen wird. Ich sehe, wie etwas naht, das man geläufig den Ewigen nennt, und weniger populär den Einen Gott, und mich schaudert's zu erfahren, welchselbiger es sein wird, der hindurchtritt durch die Passage. Was mich beruhigt, dies kann ich euch versichern: Ich werd's nicht erleben, denn weiter kann ich nicht blicken, meine Augen sind schon blind zu jener Zeit. Alt und gebrechlich bin ich längst und muss mich sputen, mein Werk zu vollenden. Vielleicht ist's auch die Welt, die vollendet wird und eingeht ins Nichts. So mögen wir dort wieder vereint sein. Ihr aber, die ihr jung seid und lebensfroh, euch sage ich: Wahrlich, fürchtet euch, bereut eure Sünden und bittet um Vergebung. So mag sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden. (Asogal der Dichter, Gesammelte und geordnete Weissagungen, Hand 4 – die späten Jahre)
Shanija Ran erreichte endlich die Felsen, richtete sich auf und rannte auf der Suche nach Deckung um das schrundige Gestein. Nur ein
paar hundert Meter trennten sie von den Verfolgern. Es waren viele, viel zu viele. Sie konnte nicht allein gegen sie bestehen, die Munition war bis auf eine Kugel verbraucht, die Feuerwaffen nutzlos. Shanija hatte nur die Pistole behalten, die mit der letzten Kugel. Diejenige Kugel, die man immer behielt, bis zum Schluss. Obwohl man nicht offen darüber sprach, hielten sich alle Marines an dieses ungeschriebene Gesetz. Die letzte Kugel war ein Symbol, ein Glücksbringer – oder der letzte Ausweg. Manche schnitzten Kerben in die letzte Kugel, wenn sie aus einem Gefecht zurückkehrten. Chuck Foster hatte in seiner mehr als zwanzig dünne Rillen gehabt. Für so manchen ein Grund, sie zu präparieren, ein Loch durchzubohren und an eine goldene Kette zu hängen. Nicht so Chuck. Er hatte sie bis zum letzten Gefecht getragen. Shanija glaubte nicht daran, dass sie in diese Kugel auch nur eine Kerbe ritzen würde. Von allen Seiten kamen die Verfolger heran, kämpften sich durch den Sturm, nicht minder hartnäckig wie zuvor Shanija. Längst schon hatte sie Darren aus der Sicht verloren, sie wusste nicht, ob er noch lebte und kämpfte – oder der Übermacht längst erlegen war. Und As'mala, Seiya, Mun – hatten sie überhaupt je eine Chance gehabt? Wie dumm von ihnen, sich zu opfern. Wie dumm von ihnen, dass sie sich Shanija jemals angeschlossen hatten. Wie dumm von ihnen, Shanija ihre Freundschaft zu schenken. Keuchend drückte die Frau sich in einen schmalen Felsspalt und rang nach Luft. Ihre Brust schmerzte heftig, und der dröhnende Herzschlag klang in ihren Ohren, als wäre er nicht ihr eigener. Mit verzerrtem Gesicht presste Shanija die Hand an ihr Brustbein, wo Pong ruhte. Unter ihren Fingern spürte sie ein Pulsieren und unnatürliche Hitze. Einen Moment lang drohte Panik sie zu überwältigen, doch dann drängte ihr Verstand sie energisch zurück. Dein Herz ist gesund, sagte sie sich. Anders als bei deiner Mutter. Noch bei der leiteten Untersuchung haben sie dir bestätigt, dass du mit diesem Herzen hundertzwanzig Jahre alt werden kannst. Aber was war es dann? Wieso fühlte sie sich fremd, nicht mehr sie selbst? Schon bei der Landung hatte sie zum ersten Mal gespürt,
dass etwas anders war. Später hatte sie angenommen, dass es an der Mutation durch die Psimagie lag. Es ist die Passage, eine andere Erklärung gibt es nicht. Der Sturm, der über die Welt tobt, ist wahrscheinlich nur ein kleiner Ausdruck dessen, was im hyperphysikalischen Bereich abgeht. Sie brauchte ein paar Minuten Pause, um sich zu sammeln und wieder zu Verstand zu kommen. Doch die Gedanken stürmten weiter auf sie ein, ohne dass sie dagegen ankam. Ist das der Zusammenbruch?, fragte sie sich. Rächt sich nun meine Vergangenheit, dass ich niemals Gefühle zuließ, dass ich mich immer nur auf meine Pflicht konzentrierte? Sie schloss die Augen und spürte, wie ihr der Schweiß über die Stirn rann. Dabei war es nicht heiß, sondern eher unangenehm kühl. Der Sturm pfiff zwischen den Felsen hindurch, trieb hoch oben am Himmel dicke schwarze Wolken vor sich her. Es wurde zusehends dunkler, je näher die Sonnen zusammentraten und Less in Fathoms Schatten geriet. Eine große Konjunktion, bei der alle Monde, der Planet und die Sonnen des Systems in eine Linie traten. Zwischen Less und den Sonnen stand dann der Gasriese Fathom, und davor noch der Brudermond Hades. Kein Wunder, dass dieses ohnehin von Extremen gebeutelte System nah am Zusammenbruch stand. Shanija wollte sich nicht vorstellen, wie es sein mochte, wenn die drei Sonnen erloschen und zum ersten Mal seit Äonen finstere Nacht auf Less herrschte. Lediglich ein rötlicher Schimmer von Fathom würde noch den Himmel leicht erhellen. Ob man dahinter Sterne erkennen konnte? Das wäre sicherlich ein großes Wunder. Shanija wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß von der Stirn. Reiß dich zusammen, Soldat!, dachte sie wütend. Deine Verfolger werden gleich hier sein. Aber sie war nicht fähig, einen Schritt zu tun oder auch nur den Kopf zu drehen, um einen Blick nach draußen zu werfen. Der Sturm tobte durch ihren Verstand, lähmte ihr Denken, riss die Mauern der Vergangenheit auf. Das Blut in ihren Adern schien zu kochen, und Shanija spürte, dass eine gewaltige Kraft an ihr zerrte. Mehrmals schon hatte sie versucht, Pong zu wecken, aber er schi-
en das Bewusstsein verloren zu haben. Auf starke psimagische Strömungen reagierte er sehr empfindlich. Dabei hätte sie ihn gerade jetzt brauchen können, als Späher, und vielleicht fand er den Weg zur Urmutter … Kurz nachdem Shanija die Stele zum ersten Mal gesehen hatte, ein strahlend heller Finger wie aus poliertem weißem Marmor, der in den Himmel zeigte, hatte Pong mit fremder Stimme gesprochen: Ich habe dich gehört. Komm zu mir. Die Urmutter, es war gar nicht anders möglich. Allen Befürchtungen zum Trotz existierte sie noch, hier an diesem Ort, am Rand des Kontinents. Auf der anderen Seite des Gebirges donnerte ein riesiges Meer gegen die unnachgiebigen Klippen. Sie hat mich gerufen, also muss ich zu ihr, und ich werde den Weg finden. Shanija merkte, wie die Kraft aus ihren Beinen wich, und sackte zu Boden. Nur ein paar Minuten Pause, mehr brauchte sie nicht, dann ging es wieder. Ich konzentriere mich nur noch auf mich selbst, bin für keinen mehr verantwortlich. So muss es sein. Aber … es ist falsch, wie es geschah. Sie sind nicht in Sicherheit. Ich habe meine Freunde verloren, geopfert, sie hatten keine Chance … Heute, nach dem letzten gemeinsamen Morgenmahl, kurz vor dem Aufbruch, hatte Shanija kurzerhand entschieden, allein weiterzureisen, gerade weil sie die Verantwortung nicht mehr übernehmen und keine weitere Schuld auf sich laden wollte. Doch ihre Gefährten hatten einhellig, regelrecht empört abgelehnt. »Wir sind so weit mit dir gegangen, nun schauen wir nicht zu«, hatte Seiya erklärt, die Prinzessin der Mandiranei. »Ich verdanke dir mein Leben, und du hast mich viel gelehrt.« »Vor allem habe ich dir Kummer bereitet«, hatte Shanija erwidert. »Das ist nicht wahr. Wir alle haben Fehler begangen, aber wir sind nun einmal nicht perfekt. Nichts ist vollkommen – nicht einmal Pong. Ich bin deine Freundin, Shanija, und ich werde dich nicht nochmal verlassen. Ich weiß nicht, was aus uns wird, doch ich halte es für wichtig, dass du dein Ziel erreichst und Less rechtzeitig ver-
lässt. Sonst gibt es vielleicht nirgends mehr Menschen, weder auf der Erde, noch hier.« »Auch ich habe eine Schuld gut zu machen«, bekräftigte As'mala. »Ich habe meine Prinzipien und meine Freunde verraten. Genau wie ihr stehe ich am Scheideweg. Die Passage beginnt, und morgen oder übermorgen ist vielleicht schon alles vorbei. Also werde ich genau das tun, was mir aussichtsreich erscheint: Dich zur Urmutter zu begleiten und dir den Rücken freizuhalten. Wir haben zusammengefunden, damit genau das geschieht, ansonsten wäre alles sinnlos.« Mun sagte bedächtig: »Ich erhielt den Auftrag von den Bibliothekaren, die die Zukunft kennen wie niemand sonst, weil sie die Vergangenheit archiviert haben. Es gibt nicht mehr viele Dinge, von denen ich überzeugt bin, und ich weiß nicht, woran ich weiterhin glauben soll. Du bist alles, was ich noch habe, Shanija. An dir klammere ich mich fest, weil ich mich sonst selbst verliere.« Shanija hatte daraufhin einen tiefen Schmerz auf Seiyas jungem Gesicht gesehen. Die Prinzessin hatte sich verändert, ihre jugendliche, unbedarfte Fröhlichkeit verloren. Der Alptraum, den sie mit Darren nicht weit von hier vor wenigen Tagen durchlebt hatte, als der Maschinenmann Yimak Groom sie in seinen Fängen hielt, hatte diese Veränderung ausgelöst. Und gestern war irgendetwas zwischen ihr und Mun vorgefallen, das die Entwicklung beschleunigt hatte. Die beiden wollten nicht darüber sprechen, aber Shanija fiel auf, dass der Adept nicht weniger zu leiden schien. Welche Hürde hatte sich zwischen ihnen aufgetan, die sie nicht überwinden konnten? »Ihr solltet eure Entscheidung nicht an euren Schuldgefühlen festmachen«, sagte sie ernst. »Ich will einfach nicht, dass ihr mich weiter in diesen Wahnsinn begleitet. Ich muss das allein durchstehen, und … es ist besser, wenn wir uns hier verabschieden.« Dabei sah sie Darren an, der seit Stunden sehr schweigsam gewesen war. Sie hatten sich die ganze Nacht hindurch immer wieder geliebt, aber kaum ein Wort gewechselt. Shanija war mehr und mehr von ihrer Vergangenheit eingeholt worden, nun, da das Ziel so nahe vor ihr lag und so viel Zweifel und Ängste in ihr weckte, und sie hatte Schuldgefüh-
le gegenüber Darren empfunden, weil sie ihn verlassen musste. Weil sie auf selbstsüchtige Weise mit ihm schlafen wollte, obwohl der Abschied bevorstand und dadurch alles nur noch schwerer wurde. Einmal hatte er sie gebeten, abzuwarten, bis die Passage vollendet wäre, ihre Sonnenkraft einzusetzen und dann erst zur Urmutter zu gehen. Nachdem Shanija abgelehnt hatte, war er verstummt. Seine Hände, sein Körper hatten nicht von ihr lassen wollen, aber sein Geist war auf Distanz gegangen. »Was denkst du eigentlich?«, erwiderte er auf ihre Worte. »Hör endlich auf damit. Wir haben uns alle entschieden, und das liegt nicht in deiner Verantwortung, sondern in unserer. Du bist nicht unser Zugführer beim Militär.« »Bitte«, warf Seiya leise ein. »Das haben wir doch alles hinter uns.« »Und vermutlich nicht mehr viel vor uns«, bemerkte As'mala trocken. »Um es nochmal deutlich zu machen: Ich habe keine Lust, tatenlos rumzusitzen und abzuwarten, was passiert. Hab ich noch nie gemacht. Gibst du dich damit endlich zufrieden?« Shanija hob leicht die Schultern. As'mala grinste. »Langweilig ist es mir jedenfalls nicht geworden, seit du im Müllhaufen neben mir wie eine Fliege am Leim festgeklebt bist.« »Für mich war es unglaublich, die wahre Welt zu erleben, nicht nur aus Büchern«, meinte Seiya und lächelte ebenfalls. Dann wandelte sich ihre Miene, und sie sah Mun an. »Du bist wahrscheinlich der Einzige von uns allen, der unser Zusammentreffen bereut.« »Ganz im Gegenteil«, widersprach der Adept. »Ich sehe die Welt endlich klar und werde mit jedem Tag freier.« Doch ich, dachte Shanija nun, einige Stunden später, ich habe mich niemals gefangener gefühlt als jetzt.
* Als der rasende Herzschlag sich endlich beruhigte, verließ Shanija die Deckung und kletterte auf einen überdachten Vorsprung. Von
ihren Verfolgern war keine Spur mehr zu sehen, also hatten sie das Gebirge vermutlich inzwischen ebenfalls erreicht und versuchten, sie nun aufzustöbern. Sie blickte sich um. Das Gebirge musste vulkanischen Ursprungs sein, einige Berge wiesen Krater auf. Vor einer steilen Kraterwand erhob sich inmitten eines kreisförmigen Feldes die Stele. »Kannst du mich hören?«, flüsterte Shanija. »Urmutter, melde dich noch einmal!« Aber die Stimme schwieg. Sie zeigte ihr nicht den Weg. Vielleicht konnte Shanija sie wegen des Sturms auch nicht mehr hören. Langsam bewegte sie sich weiter, auf die Stele zu, stets auf Deckung bedacht. Sie befand sich nun so weit in den Bergen, dass der Sturm keine volle Gewalt mehr hatte, sondern nur noch ein entferntes wütendes Brausen war. Die steilen, kahlen Hänge schirmten die Welt hier drin ab. Der Himmel über Shanija war dunkelviolett. Die Wolkenmauer riss an immer mehr Stellen auf. Shanija blieb stehen und berührte das Relieftattoo. »Pong, wach endlich auf!«, wisperte sie. »Die Störungen sind hier drin schwächer, ich kann es spüren. Komm zu dir, ich brauche dich!« Sie setzte ihre Gedanken, ihren Willen ein, konzentrierte sich auf das Wesen, das einst ein semiorganisches Gefechtsmodul gewesen war. Sie waren eng miteinander verbunden; wahrscheinlich konnte Pong ohne Shanija nicht überleben. Da, endlich, rührte er sich. Shanija hätte beinahe laut aufgeschrien, sie presste gerade noch die Lippen aufeinander. Ein unterdrücktes Stöhnen quetschte sich dennoch hervor, und sie sank auf die Knie. Diesen Schmerz hatte sie nur ein einziges Mal gefühlt, als Pong zum Leben erwacht war. Als ob sie entzweigerissen würde. Aber auch Pong fiepte leise, rutschte über ihre Brust hinab, und sie fing ihn gerade noch auf. Kraftlos lag der kleine Schmuckdrache in ihrer Hand, seine Schuppen waren dunkelviolett wie der Himmel. »Was ist los?«, wisperte er. »Was geschieht mit uns?« »Ich weiß es nicht genau«, gab Shanija leise zurück. »Ich glaube, das psimagische Feld bricht zusammen, je näher die Passage rückt. Vielleicht wird es abgesaugt und ermöglicht dadurch den Riss …«
Pong richtete sich auf und schüttelte sich. »Es wird besser«, stellte er fest. »Es war eine große Kraftanstrengung, aber ich glaube, ich komme jetzt damit zurecht. Ich kann mich darauf einstellen.« »Genau das erwarte ich von dir«, versetzte Shanija. »Wenn einer es kann, dann du.« Eindringlich sah sie ihn an. »Nicht wahr?« Pong blinzelte aus rubinroten Äuglein zu ihr hoch. »Du weißt es?«, hauchte er. Shanija nickte. »Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das und noch etwas anderes herausfand. Aber so langsam setzt sich alles zusammen. Hast du mitbekommen, dass die Urmutter durch dich gesprochen hat?« »Ja. Aber jetzt kann ich sie nicht mehr hören. Ich habe schon mental nach ihr gesucht …« »Such weiter mit deinen wie auch immer gearteten Fähigkeiten. Darüber hinaus bleibst du jetzt von mir getrennt und behältst mich im Auge. Ich werde wahrscheinlich deine Hilfe brauchen, denn wenn die Verfolger mich erwischen, habe ich kaum eine Chance gegen alle. Und ich weiß nicht, was uns hier alles erwartet.« Shanijas Gesicht verzerrte sich, und sie griff sich an die Brust. »Nein«, stieß sie hervor. »Das ist nicht das Herz, ich bin gesund … ich bin nicht meine Mutter …« Pong legte sein Händchen auf ihren Daumen. »Shanija, was …« »Geh, Pong«, keuchte sie und merkte, wie ihr wieder der Schweiß ausbrach. »Ich bin nicht mehr voll zurechnungsfähig. Jetzt kommt es auf dich an. Und da ist noch etwas …« Sie griff in die Brusttasche und holte die drei Kristalle aus der Mandiranei hervor. »Jetzt gehört er endlich dir, dein Schatz. Setze ihn sinnvoll ein, und vor allem … verlier ihn nicht, nicht gerade jetzt.« Fast hätte sie gelacht, wenn die Situation es zugelassen hätte. Pong errötete tatsächlich in Wellen. »Das weißt du auch?«, stellte er kläglich fest. »Ich bin nicht dumm, Kleiner, nur manchmal etwas langsam beim Zusammenzählen von Zwei und Zwei.« »Bist du mir böse, weil ich es dir nicht gesagt habe? Ich habe es
selbst erst vor kurzem herausgefunden, als wir in der Kutsche unterwegs waren …« »Als ob das noch eine Rolle spielen würde.« Shanija strich über seinen stachligen Kopf. »Wir müssen das jetzt schaffen, Pong, erinnere dich an deine Zeit als Gefechtscomputer und handle entsprechend. Ich werde bald nicht mehr in der Lage sein, dir Befehle zu geben, sondern auf dich angewiesen sein.« Sie zuckte erneut zusammen, als Lichtblitze durch ihren Verstand zuckten. »Schnell, flieg los …« Pong flatterte auf, doch bevor er verschwand, versuchte er sie noch einmal aufzumuntern. »Du hast schon gegen ganz andere bestanden, Colonel.« »Ja, mag sein. Aber das ist Äonen her.«
2. Bis kurz vor der Passage lebte jeder auf Less wie gewohnt. Obwohl schon längere Zeit durch die Adepten darauf hingewiesen wurde, Vorsorge zu treffen, änderte sich nichts. Die meisten schienen nicht so recht daran glauben zu wollen, viele taten es als religiösen Wahn ab. Es gibt hunderte Religionen und Sekten auf dem Mond, aber nur drei gewannen in den letzten Jahren derart an Einfluss und Macht, dass sie global agierten. Zentral gesteuerte Gruppierungen bildeten sich, die sich zunehmend in kleineren, wohlhabenden Städten breitmachten und wichtige politische Positionen besetzen. So wurde für die finanzielle Unabhängigkeit gesorgt, gleichzeitig konnte die Missionierung ausgeweitet werden. Als die Veränderungen begannen, erhielten diese drei Hauptsekten einen Massenzustrom. Die einen hofften auf Erlösung und Erleuchtung, die anderen, das Unheil abwenden zu können, wenn sie nur stark genug glaubten. Öffentliche Geißelungen gehörten bald zum normalen Stadtbild, ebenso wie flammende Reden und Verkündigungen. Als der Sturm einsetzte, brach eine globale Massenhysterie aus. Die einen flohen in Wüsten und Wälder, um sich dort zu verstecken, andere wiederum frönten exzessiven Orgien, mit freiwilligen und weniger freiwilligen Sexdienern, sie aßen und tranken sich teilweise zu Tode. Viele gaben hemmungslos ihrem Hang nach Gewalt und Zerstörung nach. Blutige Straßenkämpfe brachen aus, Geschäfte wurden geplündert oder in Brand gesteckt, marodierende Banden zogen von Stadt zu Stadt, um zu rauben und zu vergewaltigen. Wer sich allerdings verteidigen konnte, tat dies ebenfalls ohne Hemmungen und mit gnadenloser Brutalität. Immer mehr Städte brannten, wenn die Bürgermeister und Herrscher nicht mehr in der Lage waren, die Situation im Griff zu behalten. Eine Ausnahme bildete die Doppelstadt Burundun mit dem Zentralarchiv, wo die psimagischen Kräfte der Bibliothekare und vor allem die Archivgarde weiterhin wirkten. Der Sturm richtete zwar auch hier verheerende Verwüstungen an, doch im Vergleich zu anderen Siedlungen hielten sich die Schäden deutlich in Grenzen, und es kam nur zu geringen Gewaltausbrüchen. Sämtliche Sek-
tenanhänger waren vorsorglich bereits vor Beginn der Passage der Stadt verwiesen worden, um die Unruhen nicht noch mehr anzustacheln. Es war notwendig, gerade im Zentralarchiv die Ordnung zu wahren, und dank der tatkräftigen Mitarbeit der Verwaltung und der treuen Stadtgarde konnte dies auch ermöglicht werden. Trotzdem war es eine schwere Prüfung, die das Zentralarchiv genau wie das System an den Rand des Untergangs brachte. (Aufzeichnungen des Zentralarchivs Großtitel »Passage 3891. Quartennium« Vorbemerkungen)
Pong war fort, und mit ihm der Datenkristall und die Steine aus der Mandiranei, die sich bald als schicksalhaft erweisen würden, dessen war sich Shanija sicher. Mochte ihr Weg auch von Zufällen geprägt gewesen sein, die Hindernisse und Verzögerungen mit sich gebracht hatten; letztendlich hatte er genau hierher geführt. Shanija hatte das richtige Ziel gewählt und gefunden. Mun und Seiya hatten zwar gesagt, dass die Urmutter nach dem Wissen der hiesigen Außenstelle des Zentralarchivs vor zwanzig Jahren verstorben sei. Möglicherweise traf das auch zu, aber sicherlich nur für den Körper der Menschenfrau, die sowieso nur durch ein Wunder oder Psimagie die Jahrhunderte überstanden haben konnte. Doch ihr Geist musste noch auf irgendeine Weise existieren. Shanija hatte die Stimme der Urmutter gehört, die deutlich machte, dass die Frau von der Erde erwartet wurde. Die ganze Zeit über war Shanija auf irgendeine Weise immer wieder in eine Richtung gesteuert worden, um hierher zu gelangen. Am letzten Tag von Less, am Ende des Kontinents. Sie wusste nur nicht, von welcher Seite – der Urmutter oder dem Feind. Vielleicht auch von beiden. Shanija hatte in ihrem dreißig Jahre währenden Leben schon viele dramatische Momente erlebt, aber dieser hier schien der Höhepunkt zu sein. Alles fügte sich zusammen, ein Stein setzte sich auf den anderen, und das Puzzle war nahezu vollständig. Fehlte nur noch ei-
nes – der oder die große Unbekannte, der die ganze Zeit die Fäden in der Hand gehalten hatte. Bald musste derjenige sich offenbaren und zeigen, ob er Freund oder Feind war und in welcher Beziehung er zur Urmutter stand. Was sie selbst betraf, so gab es für Shanija nach wie vor zwei Möglichkeiten: Entweder sollte sie benutzt oder, weil sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, getötet werden. Wenn alles glatt lief würde dieses letzte Rätsel ungelöst bleiben, Shanija die Urmutter finden und nach Hause fliegen. Dem aberwitzigen System für immer den Rücken kehren. Reue würde sie unterwegs gewiss nicht überkommen, denn sie hinterließ nur Tod und Zerstörung. Alle Freunde hatte sie verloren, einschließlich des Mannes, mit dem sie sich vorstellen konnte, den Rest des Lebens zu verbringen. Dem Militär zu entsagen und eine Familie zu gründen. Aber so würde es natürlich nicht kommen. So kam es nie. Alles würde sich ihr in den Weg werfen, um sie am Abflug zu hindern. Das Ziel war schon fast greifbar, doch noch lange nicht erreicht. Shanija presste die Hand auf die Brust, als der Schmerz sie erneut überfiel. Fühlte es sich so an, wenn das Herz brach? Wenn die Schuld nicht mehr erträglich war? War ihre Mutter in Wirklichkeit daran gestorben und nicht an der körperlichen Schwäche? Ich habe nichts mehr, dachte sie. Meine gesamte Einheit ist vernichtet. Zuletzt hat sich Chuck für mich geopfert. Dann bin ich hier gestrandet, fand neue Freunde … ja, die ersten wahren Freunde meines Lebens, die sich nur um meiner selbst willen an mich banden und die nun ebenfalls nicht mehr sind. Umso wichtiger ist es, den Krieg gegen die Quinternen zu beenden. Der Preis wird immer höher, die Zahl der Opfer steigt. Wie war es nur dazu gekommen? Warum hatte das alles begonnen? Sir, was ich nicht verstehen kann … Es geht hier nicht ums Verstehen, Offiziersanwärterin Ran. Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich denke, genau darum geht es seit Anbeginn: Wir verstehen uns nicht, ich meine, der Feind und die Menschheit. Die Quinternen nehmen keine Kommunikation auf. Aber vielleicht senden wir nur falsche Signale?
Sehen Sie, Ran – wir mögen zwar Militärs sein, aber unser Denken geht doch ein bisschen über den Spaß am Geballer hinaus. Wir haben alles versucht. Es ist dokumentiert, dass der erste Schuss von den Quinternen abgefeuert wurde, und seither haben sie nicht mehr aufgehört. Und es ist unsere Aufgabe, meine und Ihre, dafür zu sorgen, dass wir es sind, die den letzten Schuss abgeben. Haben Sie das nun verstanden? Ja, Sir. Die Fragen, die Sie stellen wollen, sind in den vergangenen Monaten schon tausendmal gestellt worden und werden in den nächsten Jahren noch hunderttausendmal gestellt werden. Irgendein Idealist glaubt, dass es einen Weg zur Versöhnung gibt und dass er das richtige Mittel zur Kommunikation gefunden hat. Wir lassen ihn gewähren. Und wir werden die Blutlachen und im All treibenden Leichen und Schrotthaufen hinter ihm aufräumen, wenn er geflohen ist, bevor er sein Versagen eingestehen muss. Das machen wir jedes Mal so. Und betrachten es auf unsere zynische Weise als Verringerung der Überbevölkerung. Warum tun wir das, Offiziersanwärterin? Weil wir es sonst nicht ertragen können, Sir. Und was werden Sie tun? Jedem Quinternen seine fünf Ärsche aufreißen, Sir. Das werden Sie, Ran. Vorausgesetzt, Sie erreichen den Abschluss Ihrer Ausbildung. Wegtreten. Die wenigsten Zivilisten waren dem Militär gegenüber positiv eingestellt, das war hier auf Less nicht anders. Immer wieder war Shanija durch ihre nüchterne, teils kompromisslose Art angeeckt. Aber wie sollte sie einem Außenstehenden klar machen, was sie gesehen hatte? Welches Wissen sie in sich trug? Sie konnte sich ohnehin kaum öffnen, das hatte sie in der Kindheit verlernt. Wer redet, verliert. Schon als kleines Mädchen hatten die Jugendgangs ihr das auf der Straße beigebracht, wenn sie Dinge sah, die sie nicht sehen sollte. Und wenn sie sich in ihrer Not dann doch einmal den Eltern anvertrauen wollte, setzte es Prügel von Barn Tovan … Vater. Niemand mag Petzen. Und als sie wegen des gebrochenen Arms weinte, schimpfte er erst recht: Niemand mag Heulsusen. Du bist ganz allein schuld daran, weil du nicht genug glaubst und die Glückseligkeit ablehnst. Vertraue dem LICA, und dein Körper heilt sich selbst.
Scheinheiliges Arschloch. Shanija konnte nicht anders, auch wenn sie solche Gedanken besser auf später verschieben sollte. Vielleicht konnte sie es Barn eines Tages sogar persönlich ins Gesicht schleudern, wenn sie zurückgekehrt war. Was sie davon hielt, dass er einerseits strenge Gebetszeiten einhielt, andererseits Drogen und Frauen verkaufte. Und dass er trotz Bevorzugung seines Sohnes auch von Aaron nie wieder etwas gehört hatte. Shanija hatte nach der Offiziersprüfung ein einziges Mal Kontakt zu ihrem älteren Bruder gehabt. Sie waren sich zufällig vor einer Behörde begegnet, Shanija in ihrer neuen, perfekt sitzenden Uniform, sauber und stolz, und Aaron genauso mittellos wie sein Vater, ein heruntergekommener Alkoholiker. Er war so peinlich berührt gewesen, dass Shanija sämtlichen Hass auf ihn vergaß und ihm alle Gemeinheiten verzieh, die er ihr je zuteilwerden ließ. Aaron hatte als bevorzugtes Kind der Familie bessere Chancen gehabt als sie, doch sein Wille war nicht stark genug gewesen. Sie hatte den Bruder zum Essen eingeladen, und sein Hunger siegte über den Stolz. Verlegen, scheu hatte er ihr gegenüber gesessen. Nach dem Essen war er aufgestanden. »Shanija«, sagte er fast feierlich, »du bist eine Schwester, wie man sie sich nur träumen kann. Man kann zu dir aufsehen und stolz auf dich sein. Du hast es geschafft. Du bist aus dem Block rausgekommen. Ich hingegen habe mein Leben vermurkst. Ich hure, saufe und deale mit allem, und so wird es bleiben, bis ich in meiner Kotze ersticke. Lass es dir gut gehen, Schwester, und ich hoffe, dich nie mehr wiederzusehen.« Begegnet waren sie sich nicht mehr, aber wenn Aaron ab und zu die Holovid-Nachrichten anschaute, hatte er möglicherweise seine Schwester gesehen, wenn sie eine Auszeichnung erhielt. Mit Barn Tovan hatten sie beide nichts mehr zu tun gehabt. Obwohl Shanija ihrem Vater durchaus dankbar war, weil seine Gewalttätigkeit und seine Lieblosigkeit ihr dazu verholfen hatten, die nötige Energie aufzubringen, um dem Getto zu entkommen. Der einzige Schutz, den es gab, um nicht zu zerbrechen, war die Verschlossenheit. Und die Konzentration auf die wesentlichen Dinge. Auf die Pflicht. Und was bedeuteten die eigenen Probleme schon
angesichts des Untergangs der Menschheit? Gab es da überhaupt noch private Dinge? Nicht für Shanija. Sie war gut in dem, was sie tat. Eine der Besten. Sie wusste, was sie wollte, ihr Wille war unzerbrechlich. Ich habe keinen Zweifel, schoss es Shanija durch den Kopf. Sie presste die Lippen zusammen und richtete den Blick auf die weiß leuchtende Stele.
* Vorher hatte es ganz einfach ausgesehen. Da war die Stele inmitten des Kreises, auf die man einfach zumarschierte, und dahinter fand sich vielleicht der Weg zur Urmutter. Oder die Stele barg irgendwelche Zeichen, die auf den Weg hinwiesen. Doch was aus der Entfernung wie freies Feld ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit ein weiß glitzernder Stein- und Geröllhaufen, aus dem spitze Zacken ragten. Ein Hindernislauf, und das ohne jegliche Deckung. Um diese letzten hundert Meter zum Ziel zurückzulegen, benötigte Shanija vermutlich eine Stunde. Bis dahin hatte sie selbst der langsamste Nachzügler aufs Korn nehmen und in aller Ruhe abdrücken können. Wer sie fangen wollte, musste allerdings hinterher. Doch wer weiß, vielleicht konnte derjenige sich Zeit lassen, weil Shanija auf der anderen Seite erst recht in der Falle saß, wenn es dort keinen Ausweg gab? Sie lauschte. Über die Spitzen und Grate hinweg brauste der Wind, der Himmel flackerte wie bei einem Wetterleuchten. Fern krachte der Donner. Kein Tier war mehr unterwegs, aber so vernünftig waren Menschen natürlich nicht. Und die meisten anderen Wesen, die Shanija auf den Fersen waren, auch nicht. Shanija verließ die Deckung und setzte den Stiefel vorsichtig auf das Geröll. Es schien nicht allzu locker zu sein. Also wagte sie den nächsten Schritt. Es war der reinste Balanceakt, denn die Steine waren knapp so groß wie ein Fußballen, aber abgerundet und boten kaum Halt. Jeden Moment konnte Shanija umknicken oder abrutschen. Sie erinnerte sich an ihre vielen Feldübungen bei der Spezialaus-
bildung. Balance, Gleichgewicht, und das alles in langsamer Bewegung. »Wie ein Storch im Salat«, hatte ein Leidensgefährte gebrummt und prompt Antwort erhalten: »Nur nicht so grazil.« Nicht auf die Umgebung achten. Sie konnte jetzt sowieso nichts mehr tun, ein Kampf war hier unmöglich, und ausweichen ging auch nicht. Wichtig war, dass sie nicht stürzte und sich sämtliche Knochen brach. Es würde schon reichen, sich den Knöchel zu verstauchen. Durch so ein dummes Missgeschick konnte letztendlich alles scheitern. Shanija schloss die Augen halb und konzentrierte sich aufs Tasten und Fühlen. Wie eine Drahtseiltänzerin bewegte sie sich Schritt um Schritt vorwärts, verharrte mitten in der Bewegung, wenn sich ein Stein lockerte, blieb im Gleichgewicht und suchte dann erst nach dem nächsten Absetzpunkt. Bis zur Hälfte ging alles gut. Dann kam die nächste Schwierigkeitsstufe – die Zacken und Spitzen, die tückisch zwischen dem Geröll emporstanden, teilweise fast unsichtbar. Shanija tupfte einen Zacken nur ganz leicht mit der Fingerkuppe an und zuckte zurück, als sie sich sofort einen blutenden Schnitt zuzog. Rasiermesserscharf, hauchfein. Wenn sie jetzt stolperte, zerschnitt sie sich die Stiefel und möglicherweise auch die Füße bis auf die Knochen. Kein Wunder, dass alle die Suche aufgegeben hatten und die Stele von Majakar ins Reich der Mythen versetzt wurde! Dieser Platz war surreal, eine von der Natur geschaffene Folterkammer. Nur unverbesserliche Narren würden jetzt noch weitergehen. Shanija war erschöpft, der seit heute Nacht latent vorhandene Kopfschmerz steigerte sich zu beständigem Pochen und Hämmern. Obwohl es hier nach wie vor unangenehm kühl war, rann ihr der Schweiß in Bächen hinab. Die Beinmuskeln schmerzten, und sie hatte nach dem anstrengenden Ritt auf dem Lhasa ohnehin einen höllischen Muskelkater. Ihre Konzentration ließ merklich nach. Aber sie hatte keine Wahl. Du hast Schlimmeres überstanden. Ein Leitspruch, der durchaus etwas Wahres hatte. Sie konnte trotzdem an einer geringeren Herausforderung scheitern. Nur, weil sie einmal aus der Hölle gekommen war, hieß das noch lange nicht,
dass sie unfehlbar und unsterblich war. Immerhin war so viel Glück auf ihrer Seite, dass kein Verfolger sie aufstöberte. Trotzdem sollte sie es nicht herausfordern, also weiter. Shanija tastete sich vorwärts. Noch langsamer, noch mehr auf Sicherheit bedacht. Sie ignorierte die schreienden Muskeln, die zunehmende Schwäche. Sie war jetzt eine Maschine, nichts weiter, eine organische Anhäufung verschiedener Systeme, die ineinandergriffen. Das Hauptsteuerungssystem mochte nicht mehr auf dem neuesten Stand sein und ein paar Programmierungsfehler haben, aber es war solide, hatte sich seit Jahren bewährt. Es würde jetzt nicht ausfallen und drohende Systemabstürze verhindern, indem es auf Ausweichprogramme schaltete. Das half. Shanijas Atem ging ruhiger, das Zittern ihrer Hände ließ nach. Der Schweiß trocknete auf ihrer Haut und ließ sie frösteln, aber die Bewegung vertrieb die Kälte umgehend. Auch das Herz schlug wieder regelmäßig. Nur der Kopfschmerz blieb, doch im Augenblick war Denken ohnehin eher hinderlich. Zweimal war sie nahe daran zu stürzen, als sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Zweimal rutschte das Geröll unter ihren Füßen weg. Und zweimal wollte sie einfach aufgeben und sich hinwerfen, mitten hinein in die tödlichen Schnittkanten und Zacken. Dann war sie durch.
* Die letzten Meter bis zur Stele konnte Shanija auf normalem Boden zurücklegen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder mit der ganzen Fußfläche auftreten zu können, von der Ferse nach vorn abzurollen. Der Boden war glatt, Shanija empfand ihn als weich, und ihre brennenden Füße kühlten ein wenig ab. Die Stele selbst war nicht erreichbar, die Natur hatte einen Schutzwall aus spitzkantigem Gestein um sie gelegt. Wie ein mahnend erhobener Finger ragte sie über Shanija in den Himmel hinauf, glatt wie weißer Marmor. Ohne Maserung, ohne Einkerbungen oder Zei-
chen. Schweigend. Wenn die Stele ein Geheimnis besaß, lag es gut verborgen tief im Inneren des weißen Steins. Shanija ging langsam um die Stele herum, auf den Vulkanfelsen zu. Das Licht wurde zusehends schlechter, der Himmel immer dunkler. Der Sturm hatte die meisten Wolken fortgeblasen, und Shanija sah, dass Fathom schon fast den ganzen Himmel einnahm, und dahinter rückten die drei Sonnen ein. Ein einmaliges Schauspiel, das nur alle 257.000 Jahre vorkam, oder alle 10.000 Quartennien, wie man hier auf Less sagte. Normalerweise sollte man sich die besten Plätze sichern und nichts davon versäumen. Der Welt zusehen, wie sie unterging – oder einen neuen Aufgang erlebte. In der menschlichen Frühzeit der Erde hatte bei einer totalen Sonnenfinsternis auch immer Weltuntergangsstimmung geherrscht, bis hin zu Massenhysterien und Selbstmorden. Hier auf Less, wo es tatsächlich spürbare Veränderungen gab, herrschte bestimmt schon überall Panik. Choc war nur ein Beispiel gewesen, das vermutlich für alle übrigen Städte galt. Wenigstens davon merkte Shanija hier nichts. Sie stand für einen Augenblick still und beobachtete den Himmel. Es sah aus, als würde die Finsternis jeden Moment eintreten, aber sie wusste, es würde noch ein paar Stunden dauern. Das Tattoo auf ihrer Brust glühte und pulsierte, wie im Fieber. Shanija spürte, wie sich etwas in ihr sich regte, an die Oberfläche kam. Bald verlangen würde, freigelassen zu werden. Sie musste fort sein, bevor dies geschah. Bevor sie keine Kontrolle mehr darüber hatte. Weiter. Ein Blitz fuhr aus dem Himmel herab, tauchte das Gebirge für einen Moment in ein grelles Licht, in das Schatten gestanzt wurden. Shanija sprang instinktiv in Deckung und hielt schützend die Hände über den Kopf. So einen Blitz hatte sie noch nie gesehen, dicker als ein Baum, und tausendfach mehr verzweigt. Die Spitzen schlugen wie Maschinengewehrsalven ein, Shanija hörte es prasseln und knallen. Auch der Vulkanberg wurde getroffen, und mit Getöse wurde ein Stück Fels abgesprengt und stürzte in einer Staublawine zu Bo-
den herab, nicht weit entfernt von Shanijas Deckung. Trotz ihres Schreckens aber hatte Shanija es gesehen, für einen Sekundenbruchteil, im Licht des Blitzes. Dort war ein Eingang in den Berg.
* Auf Less gab es keine Taschenlampen. Aber auch Fackeln oder wenigstens Schwefelhölzchen befanden sich nicht in Shanijas Gepäck. Ach, richtig. Gepäck besaß sie ja ebenfalls keines mehr. Nur noch die Kleidung und die verbliebenen Waffen. Also musste sie sich durchs Dunkel tasten, das schon drei Meter nach dem Eingang begann. Der Durchlass war sehr schmal und selbst, wenn man direkt davor stand, kaum zu erkennen. Shanija hatte nicht gezögert. Obwohl es Wahnsinn war, aufs Geratewohl in den Berg hinein zu gehen. Aber Pong war nicht da, vielleicht suchte er immer noch, oder er war längst abgestürzt und würde nie mehr zurückkehren. Es gab keinen Späher, keinen automatischen Spion, kein Licht. Was sollte Shanija sonst tun? Es musste einfach der richtige Weg sein, anders war es nicht möglich. Sich in Finsternis zurechtzufinden, war ebenfalls Bestandteil der Ausbildung gewesen. Tagelang hatten die angehenden Marines sich mit verbundenen Augen durch ein Labyrinth tasten müssen. Als sie damit durch waren, wurde das ganze ausgeweitet – nicht nur Länge und Breite, auch die Höhe kam hinzu. Nun hieß es, durch ein Gewirr an Schlingen, Seilen, Tauen zu klettern. Shanija lernte, die Erinnerung an das Sehen auszuschalten. Sie lernte, den Geräuschpegel des eigenen Atems und Pulsschlags herabzusetzen. Sie lernte, zu fühlen, zu schmecken, zu tasten, zu hören, zu riechen. Unfälle gab es immer. Nur die Besten konnten Spezialisten werden, und die Durchfallquote war hoch. Bei den meisten spielten irgendwann die Nerven nicht mehr mit. Sie sahen nicht ein, wofür diese Torturen gut sein sollten, wenn man sein Leben auch anders
gestalten konnte. Shanija hatte jede weitere Herausforderung begrüßt. Sie wollte an ihre Grenzen gehen. Und wenn sie dort angelangt war, darüber hinaus. Ihr Ehrgeiz und ihr Wille, angetrieben von einer unerklärlichen Wut, ließen keine Schwäche, keine Aufgabe zu. Der Ausbilder musste sie bremsen. »Wir wollen Sie lebend, Ran, so sind Sie uns besser von Nutzen.« Ihren Beinamen »Cold Angel« hatte sie schnell weg. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie zu einer Runde Poker einzuladen oder ein sonstiges gemeinsames Freizeitvergnügen vorzuschlagen. Allerdings hatten sie sie ein paarmal aus dem Hinterhalt angegriffen. Einmal war sie auf der Krankenstation gelandet, weil sie nicht nachgab. Die Kadetten wollten eine Emotion aus ihr herausprügeln, sie endlich dazu bringen, Schwäche zu zeigen. Danach gaben sie auf. Aber für Shanija war es nicht vorbei, die Wut kochte in ihr, doch Rache war am besten, wenn sie kalt serviert wurde. Shanija wusste, wer sie angegriffen hatte, schließlich hatte sie sich zur Wehr gesetzt. Diejenigen dürften untrügliche Male aufweisen oder sich vorsichtig bewegen. Als Shanija wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, suchte sie einen nach dem anderen auf. Anschließend wurde Shanija eine Woche lang in die Blackbox des Bunkers gesteckt, weil sie sich weigerte, Meldung zu machen und Namen zu nennen. Sie erhielt einen Verweis in ihrer Akte, den sie wortlos hinnahm. Über diesen Vorfall wurde anschließend nie wieder gesprochen, und von da an hatte sie ihre Ruhe. Und sich eine Menge Respekt verschafft. Als Shanija das Offizierspatent erhielt, baten einige darum, in ihre Einheit versetzt zu werden. Allmählich kehrten die Lehren von früher zurück. Es wäre natürlich besser, das Echolot der Fledermäuse zu beherrschen, um sich ein umfassendes Bild machen zu können. Aber das konnten die Finger ihr auch vermitteln, sie musste es nur hochrechnen, zusammen mit all dem anderen, was sie wahrnahm. Die Luft war sehr trocken, also gab es hier kein Wasser. Vermutlich stammte die Höhle von der früheren Vulkanaktivität. Damit gab es möglicherweise eine Verbindung quer durch den Berg – oder es war mit der nächsten Biegung zu Ende. Es war sehr still, und Shani-
ja wagte verschiedene Lautäußerungen in alle Richtungen. Die Höhle war groß. Die Stiefel erzeugten auf dem Boden ein scharrendes Geräusch, wie feiner Sand auf Stein. Shanijas Gedanken riefen nach der Urmutter und nach Pong. Doch keiner von beiden antwortete. Je tiefer sie hineinging, desto mehr erwärmte sich die Luft. Erstaunlich. Sollte es hier doch noch eine vulkanische Aktivität geben? Shanija tastete sich voran, es ging leicht abwärts. Und dann konnte sie einen schwachen Lichtschein ausmachen. Glimmer, dachte sie. Oder … Lebewesen, die kein Licht benötigen, dafür selbst welches produzieren. Über die Felswände zog sich ein hauchgelber Schein, und Shanija konnte sich ohne Tasten weiterbewegen. Nach einer Weile schälten sich immer mehr Konturen heraus, und sie entdeckte Spuren. Rillen und Schleifspuren an den Wänden, in den Boden eingegrabene Furchen. Eindeutig nicht natürlichen Ursprungs. Es hatte also doch schon jemanden vorher gegeben. Sie war auf dem richtigen Weg! Shanija schritt schneller aus und gelangte in eine weitere Höhle, durch die sich der Pfad schlängelte. Die Felswände waren voller Spalten und Risse, scharfe Kanten und Ecken standen hervor. Links neben dem Weg fiel der Boden plötzlich durch einen Spalt hinab. Tief unten zischelte es, und Shanija trat vorsichtig näher. Ein gewaltiger Windstoß fauchte dicht an ihr vorbei nach oben, als hätte jemand mit einem kraftvollen Stoß ausgeatmet. Der Luftschwall war heiß und stickig, und er stank süßlich nach Verwesung. Shanija wurde sekundenschnell davon eingehüllt, der Pesthauch drang ihr in die Kleidung, die Nase, den Mund und die Lungen. Shanija hustete sofort, hielt sich die Hände vors Gesicht, doch es war schon zu spät. Schwindel erfasste sie. Gas …, dachte sie, während sich ihr Verstand umwölkte. Kraftlos brach sie auf die Knie. Fuck! Damit haben mich damals die Quin…
3. Ein weiteres Phänomen war die Prophezeiung über die Sonnenkraftträgerin. Die Legende gibt es ja schon lange, allerdings keine gesicherten Aufzeichnungen, wann sie das erste Mal in Umlauf gesetzt wurde. In den vergangenen zweihundert Jahren gab es kein besonderes Interesse, doch als allmählich das Bewusstsein bei einflussreichen Personen einkehrte, dass die Passage unweigerlich näher rückte, lebte auch die beliebte Geschichte der Erlöserin wieder auf, die den Untergang abwenden sollte. Die aufstrebenden Sekten der Wiedergänger und Ehrlöser machten sich dies zunutze und nahmen die Weissagung jeweils für sich in Anspruch: Die Sonnenkraftträgerin sollte im Namen der Wiedergänger, beziehungsweise Erlöser, tätig werden und den Übergang der göttlichen Macht ermöglichen. Als sich vor etwa zwanzig Jahren der Orden der Erlöser im Streit spaltete und sich die dritte Partei der Warner unter ihrem gesichtslosen Anführer Corundur bildete, nahmen die Letzteren die Legende ebenfalls zum Anlass, um düstere Vorahnungen zu verbreiten: Nämlich dass die Sonnenkraftträgerin keineswegs als Retterin, sondern als Zerstörerin auftreten würde, falls sie nicht daran gehindert würde, die Passage dauerhaft offenzuhalten. Corundur betrachtete die Sonnenkraftträgerin als personifizierte Dienerin des Bösen, verurteilte sie öffentlich zum Tode und versprach demjenigen Belohnung und Seelenheil, der das Urteil vollstreckte. Nachdem sich die Gerüchte mehrten, dass die Sonnenkraftträgerin tatsächlich existierte – in Gestalt der wenige Lunarien vor der Passage gestrandeten Frau von der Erde, die sich Shanija Ran nannte –, begann mehr oder minder offen die Jagd auf die Unbekannte. Das Zentralarchiv sah den Zeitpunkt zum Eingreifen gekommen, und beauftragte den einzigen menschlichen Adepten, Mun, die Frau aufzuspüren. Nach dem bis heute ungelösten Verschwinden des Erhabenen Propheten Raban, in den die Sonnenkraftträgerin verwickelt war, und ihre Weiterreise zur Stadt Choc, die in den Zeitraum der beginnenden Passage fiel, agierten die fundamentalistischen Gläubigen nun nicht mehr im Verborgenen,
sondern formierten sich zum gesammelten Schlag und verbreiteten überall, dass die Legende sich bewahrheitet hatte und über das Schicksal des Systems entscheiden würde. Verängstigt durch die negativen Auswirkungen der Großen Konjunktion gaben sich viele Intelligenzwesen dem Glauben an die Erlöserin hin, die im letzten Moment alles zum Guten wenden würde. Diejenigen, die Less als Sündenpfuhl erachtet hatten, sahen den Tag der Vergeltung gekommen. Doch sie waren glücklicherweise in der Minderzahl und konnten die plötzliche positive Entwicklung durch einen unvorhergesehenen Faktor nicht mehr beeinflussen. Die Ereignisse überschlugen sich, und es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Shanija Ran der Auslöser dafür war. (Zentralarchiv, 2. Abteilung »Passage 3891. Quartennium« Ordnungsreihe »Shanija Ran«)
Der Anruf kam gerade, als ich aus der Dusche stieg. Con war schon gegangen, er hatte um drei Uhr morgens Dienstbeginn und brauchte ein paar Stunden Schlaf. Auf dem Bett war noch sein Abdruck zu sehen, und für einen Moment reizte es mich, nach seiner Restwärme zu tasten. Doch der Anruf unterbrach mich. Auf dem kleinen Schirm zeigte sich eine blonde Frau um die Fünfzig. »Ann!«, sagte ich überrascht. Die Vorzimmerdame des Fleet Admirals Michael Garner, seine persönliche Vertraute, 1st Petty Officer Ann Lobovich. »Ma'am, der Admiral möchte Sie gern sprechen«, sagte sie in ihrem förmlichen, trotzdem immer freundlichen Tonfall. Sie war stark und resolut, aber kein Beißer, wie so viele andere. Ich mochte sie sehr, sie hatte ein großes Herz und war immer hilfsbereit. Wer jedoch glaubte, sie ausnutzen zu können, musste das bitter bereuen. »Danke, Ann, und bleiben wir bitte bei Shanija – auch wenn der Anruf offiziell ist, aber es hört uns ja keiner, nicht wahr?« Sie lächelte leicht. »Wie Sie wünschen, Shanija. Nun, tatsächlich ist es gar nicht so offiziell, denn Sie sollen in das Quartier des Admirals kommen – jetzt gleich.« »Na, dann ist es ja gut, dass ich geduscht habe und fast ausgehfein
bin«, bemerkte ich. »Beeilen Sie sich, Sie werden erwartet.« Ann schaltete ab, bevor ich fragen konnte, warum diese Eile, wieso das Privatquartier, und was ich anziehen sollte. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für die einfache Ausgehuniform, denn ein offizieller Anlass schien es nicht zu sein, aber die übliche Marines-Montur erschien mir nicht gerade passend. Ich flocht die Haare im Nacken zusammen, setzte die Mütze auf und machte mich auf den Weg. Das Quartier des Fleet Admirals lag in der oberen Spitze des Würfels, wie wir die Cygnus-Hauptbasis nannten, in der Nähe der Kommandozentrale, der Briefingräume des obersten Kommandostabs und der anderen Privatquartiere der Oberkommandierenden. Wegen des andauernden Krieges gegen die Quinternen hatten die meisten Führungsoffiziere ihre Familien hierher geholt, weil sie sowieso nie für mehrere Tage am Stück Urlaub bekamen. Natürlich war ein Fluchtschiff in ständiger Bereitschaft, sollte es zum Äußersten kommen. Garner war Witwer und deshalb allein hier oben. Man nannte ihn den Alten Mann, weil er vor Ausbruch des Krieges vor neun Jahren schon in Pension gewesen war. Sein Protest half ihm nichts, der Präsident persönlich zwang ihn zurück in den Dienst. Trotzdem war er nicht ganz allein, denn Ann war sozusagen seine Ersatz-Familie, die beiden kannten sich schon seit dreißig Jahren. Natürlich munkelte man über ein Verhältnis der beiden, ich wusste es aber besser. Mit der Rohrbahn legte ich den Weg nach »oben« zurück, musste unterwegs mehrere Kontrollen passieren, doch es gab keine Schwierigkeiten. Nicht viele hatten so einen mit meiner DNA verbundenen ID-Blanko-Chip, trotzdem oder gerade deswegen waren die scharfen Kontrollen unerlässlich. Den Weg zu Garners Quartier kannte ich natürlich, und ich war nicht überrascht, als sich die Tür automatisch öffnete, bevor ich mich anmelden konnte. Erstaunt war ich allerdings über die Männerriege, die mich auf der bequemen Sitzgarnitur erwartete. Die Generals Hobowitz und Douglas »Duggy« Kaufman, mein persönli-
cher Vorgesetzter, sowie Commodore Melka, ein ziemlich humorloser, frauenfeindlicher Kerl. Hobowitz und Melka kannte ich von meiner Beförderung zum Colonel, die der Präsident persönlich vornahm, als ich gleichzeitig ausgezeichnet wurde. Beim anschließenden abendlichen Bankett, zu ziemlich vorgerückter Stunde, kotzte der volltrunkene Hobowitz auf die Schuhe der First Lady, und Melka befingerte ihre achtzehnjährige Tochter, die sich jedoch zu wehren wusste. Fleet Admiral Michael Garner war ein mittelgroßer, hagerer Mann. Haare und Bart waren weiß, die Haut zeigte Altersflecken, aber seine braunen Augen funkelten hellwach und voller Energie. Er winkte mir. »Kommen Sie, Ran. Wir sitzen gerade in einer netten Herrenrunde beisammen, uns fehlte nur noch weibliche Gesellschaft, und da dachten wir an Sie.« »Verstehe, Sir. Wünschen Sie, dass ich mich gleich ausziehe, oder spielen wir vorher noch eine Runde Strip-Poker?« Hobowitz machte ein verblüfftes Gesicht, Melka war erbost, Duggy grinste breit. Er war in Ordnung, das wusste ich. Der Alte Mann lächelte, und seine Augen blitzten auf. »Stehen Sie bequem, Ran – und dann setzen Sie sich zu uns, lassen Sie sich etwas zu trinken servieren und Knabbereien reichen. Wir befinden uns hier in völlig privater Runde, vertraut und nur unter uns.« Oje. Also noch schlimmer als angenommen. Mir wurde ziemlich mulmig. Entweder kapitulierten wir morgen, oder wir waren bereits in Feindeshand. Ich setzte mein ausdrucklosestes Gesicht auf, nahm in dem letzten freien Sessel Platz und nannte dem Adjutanten meinen Wunsch. Alle Männer tranken Alkohol, ich wollte sie nicht brüskieren und entschied mich für einen Single Malt. Und vermutlich würde ich im Verlauf des Gesprächs einige zusätzliche Schnäpse brauchen. »Ich dachte, Sie trinken nicht«, bemerkte Melka, der mir meine Bemerkung immer noch übel nahm. »Nur Gutes, Echtes«, versetzte ich. »Zufällig weiß ich, dass Fleet Admiral Garner echten Single Malt ebenso zu schätzen weiß wie ich und einen kleinen Vorrat hier draußen hütet.«
»Ja, wir haben schon ein, zwei Gläschen miteinander getrunken, Melka«, lachte der Alte Mann und zog an seiner Zigarre. Die war allerdings synthetisch. »Das wussten Sie nicht, was?« Als mein Whisky kam, richtete Garner den Blick auf mich und hob das Glas. »Trinken wir auf uns, Ran, und auf diesen Abend. Lassen Sie bitte ab jetzt die Dienstgrade weg, wir sind unter Freunden.« »Sehr wohl, Sir.« »Und das Sir lassen Sie bitte auch weg, ich fühle mich schon alt genug in Ihrer Gegenwart.« »In Ordnung … Admiral.« Er zwinkerte mir zu. Wir tranken, redeten über ein paar belanglose Dinge, bis Garner merkte, dass ich mich allmählich entspannte. Da wurde seine Miene ernst, und er setzte sich auf. »Also gut, Lady and Gentlemen, kommen wir zur Sache.« Er stellte das Glas ab und legte die Zigarre in den Aschenbecher. »Um es kurz zu machen: Die Quinternen haben uns am Arsch. In wenigen Wochen werden sie wissen, wo diese Basis liegt, und sie stürmen. Ich habe drei Tage lang alle möglichen Strategien, Wahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in den Rechner gegeben, und jedes Mal dasselbe Ergebnis erhalten. Es geht dem Ende zu. Mit viel Glück bleibt uns noch ein Jahr, bis wir endgültig vernichtet sind.« »Dann müssen wir die Basis verlegen …«, begann Melka, doch Garner hob die Hand. »Wir sind dabei. Die Systeme werden bereits hochgefahren. Trotzdem arbeiten wir gleichzeitig an einem Alternativplan, denn früher oder später müssen wir den Quinternen die Basis überlassen, um den Rest der Flotte zu retten. Sollen sie sie haben, wir werden ihnen einen heißen Empfang bereiten.« »Der Präsident wird sich über die Kosten freuen«, murmelte Duggy. »Vielleicht bleibt die äußere Hülle ja bestehen«, bemerkte Hobowitz tröstend. »Dann bauen wir sie einfach wieder neu auf. Die Quinternen haben oft eroberte Stationen wieder aufgegeben, ohne sie restlos zu zerstören.«
Der Alte Mann wandte sich mir zu. »Wir werden uns um die Defensive kümmern. Aber das ist nicht alles, und nun kommen Sie ins Spiel, Ran.« »Ich verstehe immer noch nicht«, warf Melka ungehalten ein, »wieso Sie ausgerechnet sie dabei haben wollen!« »Colonel Ran«, mischte sich Duggy mit scharfer Stimme ein, »hat mit ihren WILD RAMS mehr als einmal unser aller Ärsche gerettet. Sie wurde vom Präsidenten persönlich ausgezeichnet und befördert. Sie ist die Beste.« »Sie wollen etwas Bestimmtes von mir«, sagte ich zu Garner und trank vorsichtshalber meinen Whisky aus. »Ganz recht«, antwortete er. »Und das ist eine freiwillige Mission, deswegen treffen wir uns alle hier in trauter Runde. Sie werden keinen offiziellen Auftrag erhalten und mit niemandem darüber sprechen. Dieses Gespräch hier hat nie stattgefunden. Haben wir uns verstanden?« »Selbstverständlich, Admiral. Ich bin ganz Ohr.« Ich winkte dem Adjutanten, mir nachzuschenken. Ich wusste ja, ich würde es brauchen. Duggy übernahm das Reden. »Vor drei Stunden haben wir die Nachricht erhalten, dass die Quinternen die Station Charon angegriffen haben.« Charon diente hauptsächlich der Forschung und Technik, dort gab es auch Zivilisten. »Die waren gut informiert, General.« »Allerdings, und das nicht zum ersten Mal. Sie holen immer wieder Gefangene, um sie zu untersuchen und Informationen rauszuholen. Wir wissen, dass die Quinternen eine Art telepathische Begabung besitzen, mit der sie unsere Gedanken und Erinnerungen extrapolieren und übersetzen können. So sind sie auch an Charon gekommen.« Melka sagte: »Ihr Befehl lautet, die Zivilisten mit Ihrer Truppe rauszuhauen. Der Kampf um die Station ist noch nicht beendet, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Quinternen sie stürmen. Sie müssen sich beeilen.« Ich sah Duggy an, der nickte. Hobowitz, General der Army, fügte
hinzu: »Ich gebe Ihnen noch Verstärkung von meinen Bodentruppen mit. Das vordringliche Ziel ist, so viele Menschen wie möglich zu retten, die Station können wir nicht halten.« Nun richtete ich meinen Blick auf Garner. »Und was soll ich inoffiziell tun, Sir?« Er seufzte, korrigierte mich aber nicht. Der Seufzer galt wahrscheinlich auch nicht meiner förmlichen Anrede, sondern dem, was er mir gleich eröffnen würde.
* Con Gifford öffnete mir völlig verschlafen, seine Haare waren verstrubbelt, und sein Kinn zierte ein Bartschatten. »Was ist denn los?«, fragte mein blonder Hüne und schlurfte gähnend in seine Kabine zurück. Die Pyjamahose verbarg für meinen Geschmack viel zu viel von seinem knackigen Hintern, aber wenigstens trug er obenrum nichts. »Du weißt doch, ich …« »Der Dienstplan hat sich geändert, Steel«, unterbrach ich ihn. »Du kannst ausschlafen, aber zuerst musst du packen. Wir brechen umgehend nach Charon auf und holen ein paar Zivilisten raus. Geschlafen wird unterwegs.« Augenblicklich war der Gunnery Sergeant hellwach, fuhr zu mir herum, sein Blick schärfte sich. »Die ganze Truppe?« Ich nickte. »Du, Bomb, Wamkotha …« »Und wann müssen wir uns melden?« »In zweieinhalb Stunden. Chuck haben wir noch nicht gefunden.« »Zweieinhalb Stunden …« Con grinste, stieg aus der Pyjamahose und ging langsam auf mich zu. »Zeit genug …« Ich hatte nichts dagegen. Um ehrlich zu sein, war ich genau deswegen hierher gegangen, anstatt Con von meiner Unterkunft aus per Bordfunk zu wecken und zu informieren. Ich hatte die düstere Ahnung, dass es das letzte Mal sein würde, und ich wollte ihn noch einmal im Arm halten, seine Muskeln spüren, seine großen, doch so behutsamen Hände über meinen Körper gleiten fühlen.
Der Einsatz war wie jeder andere, ich hatte schon lange aufgehört mitzuzählen, wie oft wir Leute irgendwo rausholten. Von Schlammbrocken, die die Bezeichnung »Planet« nicht verdienten, von Stationen, Schiffen … Wir hatten den Quinternen gezeigt, dass wir zwar kleiner und zerbrechlicher waren, aber nicht wehrlos. Mit unseren Jägern hatten wir ihnen schon mehr als eine Schlappe beigebracht. Meine Leute wussten, was sie zu tun hatten, wir machten das schon seit Jahren und waren ein fest eingespieltes Team. Während die Quinternen die Station Sektion um Sektion eroberten, holten wir nach und nach die Besatzung raus. Die Leute von Hobowitz waren gut, und ich war dankbar für die Verstärkung. Knallharte Kerle, die wussten, was sie taten. Keine Kompromisse, kein Zögern. Wie Rammböcke gingen sie vor, und wenn einer von ihnen fiel, stiegen sie über ihn hinweg. Und dann kam der alles entscheidende Moment, als der Rückzug fast erledigt war, als die Quinternen das letzte Schott aufbrachen, gab ich den Befehl, die Station aufzugeben und sofort abzuhauen. Die Army machte, dass sie in ihren Frachter kam, und meine Leute räumten den Weg zu unserem Transporter frei, in Begleitung der letzten Besatzungsmitglieder. Chuck und die anderen waren schon weg, da kehrte Con noch einmal um. »Komm endlich!«, rief er. »Ich habe was zu erledigen!«, gab ich zurück. »Steel, sofort den anderen nach, das ist ein Befehl!« »Scheiß auf den Befehl«, blaffte er. »Du hast hier nichts mehr zu tun, also komm!« Sie waren gleich da, ich hörte sie den Gang entlangpoltern. Langsam richtete ich die Waffe auf den Gunnery. »Du gehst jetzt sofort, oder ich knalle dich ab«, drohte ich. »Dann tu's doch«, verlangte er. »Ich weiß, dass du das kannst, bedingungslos und ohne Reue, und ich hab kein Problem damit. Aber sag mir wenigstens, warum, Chef!«
Ich hatte keine Zeit mehr. »Du blöder Arsch, meine Gefangennahme ist geplant!«, schrie ich ihn an. »Damit verstoße ich gegen alle meine Prinzipien und breche einen Schwur des Schweigens, aber wenn ich dich anders nicht loswerde …« »Na und?«, erwiderte er gelassen. »Dann brauchst du mich umso mehr. Den Quinternen ist noch nie einer entkommen, aber genau so lautet sicherlich dein Auftrag: Wieder zurückzukommen. Also werde ich dafür sorgen, dass dir das gelingt.« »Steel …« »Hör auf zu quatschen, so einen Scheiß zieht man nicht allein durch. Denkst du, ich hab nicht gemerkt, dass mit dir was los war? Ich mag groß und muskulös sein, aber ein Hirn hab ich trotzdem.« Er aktivierte am Armband den Funk zum Transporter. »Chuck, wir haben Probleme, sofort raus hier, gleich fliegt alles in die Luft.« »Der Colonel?«, krächzte es aus dem Empfang. »Bring ich raus, irgendwie, mach dir keine Gedanken. Schaff die Passagiere in Sicherheit. Steel Ende.« »Aye-aye, wir sind weg.« Con riss das Armband ab und schleuderte es weit von sich. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu sagen, da waren sie schon heran. Vorneweg rannten die letzten Verteidiger, die den Abflug verpasst hatten. Wir boten den Quinternen ein wildes Gefecht, bevor sie die Blind Bomb einsetzten, die sofort einen Kurzen in den Anzugsystemen verursachte und uns zwang, die Monturen zu öffnen und die Helme herunterzureißen. Dann warfen die Feinde das Gas.
* Auf einem der Mutterschiffe wurden die Gefangenen gehalten, zusammengepfercht in einer Art Käfig. Ohne Einrichtung, es war nahezu dunkel, und wir konnten uns nur abwechselnd hinlegen, um zu schlafen. Mit der Zeit änderte sich das, als sie einen nach dem anderen holten und immer weniger zurückkamen.
Mit mir würden sie natürlich behutsamer sein, denn ich stand ganz oben auf der Liste derjenigen, die sie in die Klauen bekommen wollten. Wenn Quinternen sich freuen konnten, hatten sie bestimmt ein Tänzchen aufgeführt, als sie meine Identität herausfanden. Für mich stand ein eigenes Labor bereit, es war nagelneu und blitzsauber, ganz anders als das, was die anderen Gefangenen berichteten. Sie schnallten mich auf einen Stuhl, und was sie dann mit mir anstellten, kann ich kaum in Worte fassen. Mein Körper wurde durchbohrt und durchleuchtet, sie testeten meine Schmerzschwelle, sie folterten mich mit Lichtblitzen und grauenvollen Geräuschen, und sie stocherten mit ihren Telepathenfühlern in meinem Gehirn herum. Man bildet sich immer ein, das nicht spüren zu können, aber das Gegenteil ist der Fall. Das waren die schrecklichsten aller Schmerzen, und ich schrie, bis ich heiser war. Ich weiß nicht, wie lange sie sich mit mir beschäftigten. Ab und zu gönnten sie mir eine Pause, dann durfte ich zu den anderen Gefangenen zurück, wo Con schon auf mich wartete. Ihn und einige weitere hoben sie sich noch für später auf, derzeit hatte ich Vorrang. Ich lag in seinen Armen und weinte wie ein Kind, all die Tränen, die ich mir so lange verwehrt hatte. Er tröstete mich und war für mich da. Er hatte recht gehabt. Ich hätte es ohne ihn nicht durchgestanden, aber Con gab mir die Kraft zu überleben. Mein Wille wurde wieder stark, und ich wendete die Selbsthypnose- und Meditationstechniken an, die man uns beigebracht hatte, um Folter besser zu überstehen. Manchmal funktionierte es. Und ich lenkte mich auch dadurch ab, indem ich mir alles merkte, was um mich herum geschah. So lautete mein Befehl. Eines Tages, als ich wieder auf dem Stuhl war, zeigten sie mir etwas auf einem Holo. Das Innere meines Körpers. Ich konnte alles sehen, mein pochendes Herz, die pumpenden Lungen, sehr plastisch. Und da … in meinem Bauch … da war noch etwas, umgeben von einer schützenden Hülle, am Ende einer Art Schnur, das sich bewegte. Mit zwei winzigen Fingerchen, und dunklen Bällen, die Augen werden sollten. Ein hässlicher Däumling, aus dem einmal ein Mensch werden sollte.
Ich verlor die Nerven, denn ich begriff augenblicklich, dass sie wussten, was da in mir heranwuchs, und dass sie es haben wollten. Für ihre weiteren Studien. Ich begann zu schreien und wie eine Wahnsinnige zu toben, und da betäubten sie mich. Ausnahmsweise waren sie einmal gnädig. In Cons Armen kam ich wieder zu mir. »Was ist los?«, flüsterte er, denn er merkte sofort, dass heute etwas in mir zerbrochen war. »Sie haben unser Kind«, antwortete ich tonlos. »Du … du warst schwanger?« »So habe ich es erfahren.« Ich fing an zu schluchzen. Danach sah ich die Zeit gekommen zu handeln.
* Man hatte mir Ausrüstung mitgegeben, in Nanoform, die unter meiner Haut implantiert war. Die Quinternen holten ein paar der winzigen Dinger raus, wussten nichts damit anzufangen und ließen den Rest drin. Ihr Fehler war, die bereits entfernten Teile nicht zu zerstören, sondern sie ließen sie achtlos liegen und vergaßen sie wohl. Wir hatten diese Vorgehensweise hundertmal durchrechnen lassen, und die Chancen standen jedes Mal zwischen 65% und 85%, dass wir Erfolg damit haben würden. Denn auch wenn ich nicht die erste Gefangene war, so waren wir den Quinternen immer noch Rätsel genug, dass sie unsere Gedanken nicht nachvollziehen konnten. Sie rechneten einfach nicht damit, dass sich jemand freiwillig in diese Hölle begeben könnte, aus der noch niemand entkommen war. Con half mir dabei, den Rest der Nano-Bausteine herauszuholen und zu aktivieren, und dann traten die kleinen Geschöpfe in Aktion. Die teuerste Spionageaktion aller Zeiten, jedes einzelne dieser winzigen künstlichen Wesen kostete einen Wohnblock. Deshalb setzten wir sie auch nur dieses eine Mal derart massiv ein. Aber es lohnte sich. Sie holten mir alles, was ich wissen musste. Und sie entwickelten sich natürlich weiter und sorgten dafür, dass es zu einem Mas-
senausbruch kam, bei dem nacheinander die Schiffssysteme lahmgelegt wurden. Überall an Bord gab es Explosionen und Kämpfe. Die Quinternen waren außer sich, wenn man das so sagen kann, denn das hatten sie vermutlich noch nie erlebt. Zusammen mit den Nanos, die sich inzwischen über das Fluchtgefährt schlaugemacht hatten, machten wir uns auf den Weg zu einem Hangar, um mit einer Quinternenfähre zu verschwinden. Dann kam der schicksalhafte Moment, als wir im Hangar eingekesselt wurden. Die Kameraden gaben jetzt alles für mich. Sie wussten längst Bescheid und sahen keinen anderen Weg. Und ich auch nicht. Ich hatte alles, was Garner brauchte, ich musste fort von hier. Die Nanos waren bereits am Werk, das Zugangsschott öffnete sich, und die Systeme fuhren hoch. Der Kampf wurde immer heftiger, ich wurde mehrmals getroffen, weil ich trotzdem noch versuchen wollte, ein paar Kameraden mitzunehmen. Aber die Quinternen schnitten den Weg ab, und da sah ich Con zum letzten Mal. Er war völlig ruhig, stand aufrecht wie ein Fels, und schaute mich an. »Du hast es geschafft!«, rief er. »Du kommst raus, Colonel, und das war alles wert. Nun bist du ein Symbol, dass die Quinternen nicht unbesiegbar sind. Für unser Kind, Shanija! Du holst es dir zurück, das weiß ich.« Dann stürzte er sich mit tierhaftem Gebrüll in den Kampf, und ich hastete in die Fähre, schloss das Schott. Die Nanos waren fleißig, sie hatten schnell die Steuerung im Griff und konnten mir übersetzen. Natürlich würden die Feinde mich verfolgen, aber das machte mir keine Sorgen. War ich erst mal im All, konnte mich keiner so schnell einholen, auch nicht in einem fremden Schiff.
* Der Rest verschwamm im Nebel. Mehr tot als lebendig erreichte ich eine Station, wo ich sofort von einem Ärzteteam in Empfang genommen wurde. Mein Herz setzte aus, der Blutverlust war schon fast zu hoch. Sie flickten mich notdürftig zusammen und schickten mich zum
Würfel, wo mich Psychologen und weitere Ärzte in Empfang nahmen, denn meine Heilung würde noch eine Weile in Anspruch nehmen. Drei Monate, um genau zu sein. Genauso lang brauchten sie, um die von den Nanos abgerufenen Daten zu entschlüsseln, zu übersetzen und zu analysieren. Der Boden brannte ihnen unter den Füßen, aber es war ein Wunder, dass sie es überhaupt schafften – obwohl vieles immer noch fremd und nicht fassbar blieb. Dank des gestohlenen Schiffes und der für die Steuerung notwendigen Sequenzen, die die Nanos übersetzen konnten, arbeiteten sich die Spezialisten Stück für Stück in die riesige, für sie völlig ungeordnete Datenmenge hinein. Ich verbrachte derweil die Zeit allein in meinem Krankenzimmer und dachte an Con und unser Kind. Chuck und die anderen kamen vorbei und munterten mich auf. Ich schlug Con für den Verdienstorden am großen Band vor, weil meine Rettung allein ihm zu verdanken war. Ich war nicht die Heldin, die rausgekommen war, sondern er der Held, der alles ermöglicht hatte. Die Seelenklempner sahen das anders, aber mit diesen Leuten kann man nicht diskutieren. Natürlich fanden sie das mit der abgebrochenen Schwangerschaft heraus, doch darüber redete ich nicht. Sie wollten mich aus der Reserve locken, indem sie mir mitteilten, dass ich trotzdem noch weitere Kinder bekommen konnte. Das war mir egal. Als ich wieder einigermaßen bei Sinnen war und meinen detaillierten Bericht abgeliefert hatte, saß Fleet Admiral Garner an meinem Krankenbett. »Das werde ich mir nie verzeihen«, sagte er. »Ein Militär hat weder ein Gewissen, noch kennt er Reue«, zitierte ich eine Ausbildungsregel. »Ich bin zurück, Sir, wie ich es Ihnen versprochen habe. Und ich glaube, mit dem, was ich Ihnen an Daten und Augenzeugenbericht geliefert habe, können wir eine ordentliche Basis zur Verteidigung, wenn nicht zum Sieg schaffen.« »Sie sind unglaublich, Ran.« »Genau wie mein Team. Ich fürchte aber, der Feind kennt jetzt durch mich den Standort der Basis, und wie man sich innen zurecht-
findet.« »Damit mussten wir rechnen. Wir sind bereits dabei, uns darauf vorzubereiten. Wissen Sie, was Sie für Daten mitgebracht haben?« »Ja, Sir. Die Quinternen planen den Endschlag mit einer Waffe, die einen Planeten aus dem All pusten kann. Und sie wissen, wo sie die Waffe einsetzen können.« »Duggy hat Sie informiert, richtig?«, brummte er. »Er ist loyal, Sir.« Ich lächelte schwach. »Ihnen ist klar, wer die Pläne zur Erde bringen muss?« »Das werde ich nicht zulassen, Ran.« »Dann sagen Sie mir, wer es sonst tun soll. Meine Leute werden darauf bestehen. Wir sind soweit gegangen, das überlassen wir jetzt keinem anderen mehr.« Der Alte Mann stand auf, er wirkte auf einmal gebeugt und müde. Mit einer liebevollen Geste berührte er meine Schulter. »Also gut, Ran, aber kommen Sie erst mal wieder auf die Beine.« Kurz bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um. »Das ist übrigens nicht alles«, fügte er hinzu. »Unsere kleinen, teuren Nanos, für deren Einsatz der Präsident mich beinahe rauswerfen wollte, haben mehr herausgefunden, aber das müssen Sie unter allen Umständen für sich behalten, egal was kommt.« Ich setzte mich leicht auf. »Ich sage Ihnen das, weil ich es Ihnen schulde. Deswegen ist es mir im Grunde durchaus recht, wenn Sie zur Erde fliegen und sich um den Schutz des Präsidenten kümmern. Sie sollten besser hier aus der Schusslinie bleiben. Denn die Quinternen wissen zwar, wo sich die Erde befindet. Aber wir wissen jetzt auch, wo ihr Heimatsystem liegt.« So begann das Wettrennen um die Zeit. Ich musste die Pläne zur Erde bringen, sobald das nächste Zeitfenster geöffnet war. Die Quinternen bauten eifrig an ihrer Waffe. Es spielte keine Rolle, ob sie damit rechneten, dass wir nun Bescheid wussten oder nicht – sie würden es zu Ende bringen. Aber wir auch. Es ist unsere Aufgabe, Ihre und meine, den letzten Schuss abzugeben.
Während ich auf dem Weg der Genesung war, wurden mein Bericht und meine gestohlenen Daten weiter ausgewertet und der Speicherkristall vorbereitet, der zur Erde gebracht werden sollte. Die besten Entwickler und Techniker arbeiteten bereits fieberhaft an einer Gegenwaffe. In der kurzen Zeit konnte sie nicht fertig entwickelt werden, aber für die Wissenschaftler auf der Erde wäre wenigstens der Anfang getan. Der Würfel kreuzte durch den Raum und würde bald aufgegeben werden. Im Geheimen arbeitete Fleet Admiral Garner zusammen mit einem ausgewählten Stab an der Offensive gegen das Heimatsystem der Quinternen. Und ich …
4. Shanija kam zu sich, was ihr keine Freude bereitete. Jemand schleifte sie unsanft an den Armen über den Boden. Nach mehrmaligem Blinzeln konnte sie die Pupillen scharfstellen und erkannte an den Kutten zwei Erlöser. Shanija befand sich immer noch im Höhlensystem, doch hier war es heller, das Gestein war porös und wies vor allem nach oben zu Lücken auf. Ab und zu erhaschte die Frau einen Blick auf den mittlerweile dunkelroten Himmel. Sie hing noch völlig schlaff im Griff der Häscher, obwohl es ihr fast die Arme auskugelte. »Ganz schön schwer für 'ne Frau«, bemerkte der eine. »Wir hätten die Waffen wegwerfen sollen, gibt weniger Gewicht«, meinte der andere. Shanija verdrehte innerlich die Augen. War es möglich, dass gleich zwei von der Sorte so dumm waren? Wahrscheinlich gehörten sie der untersten Charge in der Sekte an, die für Putz- und Aufräumarbeiten hergenommen wurde. Vermutlich hatte man ihnen den Befehl gegeben, Shanija zu suchen und zu Aliandur zu bringen, aber nicht, sie zu entwaffnen. »Ich weiß gar nicht«, sagte der Erste, »was an der so gefährlich sein soll.« »Ich kann mir schon vorstellen, dass sie Aliandurs Appetit anregt«, sagte der Zweite. Shanija hatte genug gehört, und Zeit zur Erholung hatte sie auch gehabt. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. Sie sammelte kurz ihre Kräfte, spannte dann die Armmuskeln an und schleuderte die Beine hoch. Durch den heftigen, unerwarteten Ruck wurden die beiden Männer völlig aus dem Konzept gebracht und verloren das Gleichgewicht, stolperten genau in zwei Fußtritte hinein und ließen gleichzeitig ihre Gefangene los. Shanija vollendete den Überschlag, fing
sich mit den Armen ab, landete wie eine Katze. Die beiden Sektierer, alles andere als Kämpfer, suchten verdutzt nach einem Halt und starrten Shanija noch weitgehend ohne Begreifen an, als sie sich abstieß und sie nacheinander blitzschnell mit gezielten Schlägen außer Gefecht setzte. Für immer. Sie hatte keine Zeit, Gnade zu üben und das Risiko eingehen zu müssen, dass die beiden wieder zu sich kamen und sich erneut an der Hatz beteiligten. Die Kampfgeräusche hatten andere alarmiert. Shanija hörte aus einem Seitengang Stimmen und sich nähernde Schritte. Sie warf sich herum und lief in die entgegengesetzte Richtung, die vermutlich weiter durch den Berg führte, oder wohin auch immer. Sie musste sich später orientieren. Ruckartig bremste sie, als sie plötzlich etwas um eine Ecke davonhuschen sah. »Pong!«, rief sie leise. »Hier!« Der kleine Drache sauste zurück um die Kurve. »Weg hier, weg hier, schnell!«, zischelte er aufgeregt und flog voran. Shanija folgte ihm, und keinen Augenblick zu früh, denn schon kamen weitere Sektenmitglieder aus einem Gang und rannten in die entgegengesetzte Richtung. Pong führte Shanija kreuz und quer, bis er den Platz für einigermaßen sicher erachtete. Die Frau ließ sich erschöpft zu Boden sinken und rang nach Atem. Für einen Moment war sie unfähig zu sprechen, das übernahm der kleine Drache. »Mann, bin ich froh, dich zu sehen, Boss! Ich wurde fast verrückt, so lange suche ich dich schon. Und alle sind hier, stell dir vor! Sie durchkämmen den ganzen Berg nach dir und murksen sich gegenseitig ab …« »Pong, was mich viel mehr interessiert …« »Aber ja, ja! Ich hab's gesehen, Shanija, du wirst es nicht fassen! Da ist ein Schiff!«
* »Du hast recht, Kleiner, das kann ich kaum glauben …«
»Aber es ist da! Gar nicht mehr weit von hier, ein bisschen kompliziert höchstens …« »Bist du hineingeflogen?« »Nee, als ich es entdeckt habe, bin ich sofort wieder umgekehrt, um dich zu suchen. Und nur zu recht, du hast dich ja völlig verlaufen …« Shanija riss ein Stück Stoff aus der Bluse, die sowieso in Fetzen hing, und rieb sich den Schweiß aus dem Gesicht, vom Dekolleté. Sie knöpfte die Lederjacke zu, die noch einigermaßen Schutz bot, ihre Hose allerdings wies große Löcher und Risse auf. Wenigstens waren die Stiefel in Ordnung. Dann kontrollierte sie die Waffen – sie besaß ein Schwert, Messer und die Pistole mit der letzten Kugel. Alles andere hatte sie anscheinend verloren. Doch es reichte aus. »Bring mich zu dem Schiff«, forderte sie Pong auf und rappelte sich hoch. Ihr Körper war eine einzige Insel des Schmerzes, doch sie ignorierte ihn. Sie folgte dem Drachen, der wie eine Libelle vorausschwirrte, seine rubinroten Äuglein leuchteten durch die Dämmerung. Dann erloschen sie plötzlich, und er sauste durch eine Gesteinslücke davon. Shanija wusste, was das zu bedeuten hatte – es würde jeden Moment zur Konfrontation kommen, und sie hatte keine Ausweichmöglichkeit mehr. Sie zog das Schwert und baute sich im Gang auf. Die beiden Männer verharrten überrascht, als sie sich vorzeitig entdeckt sahen. Mit dieser Sorte hatte Shanija am meisten zu tun gehabt. Warner. Das bedeutete Kampf bis zum Äußersten. »Endlich!«, erklang eine raue Stimme hinter den Männern, und eine Frau in langer Robe drängte sich zwischen ihnen hindurch und stellte sich vor Shanija. Ihr Gesicht war von Hass verzerrt, die Augen glühten. »Ich bin Afil Silden, oberste Nelta der Warner der Orakelstadt«, zischte sie der Frau von der Erde entgegen. »Du hast meine Kinder auf dem Gewissen!« Shanija dämmerte etwas. »Sprichst du etwa von den Attentätern im Zug?«, sagte sie ruhig. »Ja, da waren zwei fanatische junge Menschen, die viel zu früh starben, zusammen mit den anderen, die du
gegen mich geschickt hast. Ihren Tod hast du zu verantworten, nicht ich. Du hast Kinder ausgeschickt, Soldatenarbeit zu erledigen!« »Schweig!«, kreischte die Frau. »Ich habe lange nach dir gesucht, und niemand wird mir meine Rache nehmen.« Shanija spürte, wie sich eine ungeheure psimagische Kraft in der Frau konzentrierte und dann wie eine Aura um sie zu leuchten begann. Sie erkannte diese Ausstrahlung, hatte sie schon zweimal erlebt. Einmal im Zug, und einmal auf dem Raumschifffriedhof. »Wag es nicht!«, herrschte sie Afil Silden an. »Ich werde meine Sonnenkraft einsetzen, hier und jetzt, wenn du deine Macht freilässt, du Hexe!« Einer der Männer legte der Nelta die Hand auf die Schulter und zerrte sie zurück. »Nicht, Afil, du kennst die Befehle! Kein Einsatz mehr, angesichts der Passage!« »Vernünftiger Mann«, bemerkte Shanija und griff an. Die Warner waren zu dritt und behinderten sich gegenseitig in dem engen Gang. Shanija schleuderte Afil Silden, die ihr am nächsten war, mit einem kraftvollen Fußtritt gegen die Felswand. Die Frau stieß einen unterdrückten Laut aus und sackte reglos zu Boden. Den ersten Mann hatte Shanija mit dem nächsten Streich, durch einen Schlag in die Seite, außer Gefecht gesetzt. Der zweite Mann hatte inzwischen seine eigene Waffe gezogen und parierte Shanijas Hieb. Einen Moment lang schien es unentschieden, mal ging es vorwärts, mal zurück, bis Shanija Gelegenheit bekam, unter einem Schlag durchzutauchen und von unten zuzustoßen. Sie wich zurück, damit sie unter dem fallenden Körper nicht begraben wurde, sprang über den Sterbenden hinweg und rannte den Gang weiter. Hoffentlich wartete irgendwo Pong, um sie weiter auf dem richtigen Weg zu führen. Doch da rannte sie mitten in eine Gruppe Warner hinein, die sich in einer Höhle versammelt hatten, von der noch zwei Gänge abzweigten. An dem linken sah Shanija sekundenlang zwei rubinrote Lichter aufblitzen und wusste Bescheid. Nun musste sie nur noch an denen vorbei, die ihr den Weg versperrten. Die Warner wandten sich ihr augenblicklich zu, sechs
Männer und drei Frauen, alle mit grimmigen Gesichtern und mit Schwertern bewaffnet. »Jetzt schlägt endlich die Stunde der Vergeltung!«, rief der vorderste Mann. »Karem Dur!« »Karem Dur!«, riefen alle und stürzten sich auf Shanija.
* Shanija vergaß ihre Müdigkeit. Sie hatte es satt. War denn die ganze Welt immer nur hinter ihr her? Konnte man sie nicht endlich in Ruhe ziehen lassen? Dem Ersten, der sie angriff, rammte sie das Schwert in die Brust, verteilte Fußtritte an den Nächsten, und dann raste sie wie ein Derwisch durch die Gruppe. Sie schlug, schnitt, stach und trat, gleichzeitig wich sie allen Hieben und Verteidigungsversuchen aus. Die Wut brannte in ihr, das Blut kochte. Genug war genug. Shanija ignorierte den Schmerz, wenn sie einen Treffer abbekam, sie achtete nicht darauf, wie das Blut warm am Bein hinablief. Sie holte das Letzte aus ihrem Körper heraus, verbog ihn bis zum Äußersten, schlug so schnell wie ein Falke zu, teilte nach allen Richtungen aus. Die Warner, die sich angesichts ihrer Übermacht ihrer Sache sehr sicher gewesen waren, sahen sich trotz des Angriffs sofort in die Defensive gedrängt. Sie wehrten sich überrascht und dadurch unorganisiert, das kostete einen nach dem anderen das Leben. Teilweise brachten sie sich versehentlich gegenseitig um, wenn einer Shanija auswich und dem Gefährten dafür ins zustechende Schwert rannte. Ächzen, Wutgeschrei und Schmerzenslaute erfüllten die Höhle, doch Shanija selbst blieb stumm. Wie ein tödlicher Wirbel fuhr sie unter die Angreifer, die lediglich Glückstreffer landeten, Shanija aber nicht aus der Konzentration bringen konnten. Als der Letzte fiel, verharrte Shanija mit gespreizten Beinen, leicht vorgebeugt, die Arme mit Schwert und Messer leicht gekreuzt vor sich. Die Haare klebten an ihr, Schweiß troff von ihrem Kinn, die Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen. Ihre Augen versprühten Feuer.
Sie hob die Arme, spannte die Muskeln zum Sprung, als sie das Geräusch nahender Schritte hörte. »Langsam!«, rief Darren. »Ich bin's nur.« Shanija entspannte sich leicht, ihr Atem ging stoßweise, sie konnte noch nicht sprechen. Nicht einmal fühlen. Darren betrat die Höhle, sah sich um und pfiff leise. »Alle Achtung! Wie es scheint, brauchst du meine Hilfe gar nicht.« Shanija ließ endlich die Arme sinken. »Darren …« Er grinste verwegen. »Du hast gedacht, ich bin tot, stimmt's? Aber ich habe auch ein paar Tricks auf Lager. Jetzt hat es mich allerdings halbwegs zum Wahnsinn getrieben, dich zu finden. Halb Less ist hier drin versammelt, scheint mir.« Mit einem schnellen Schritt war er bei ihr, nahm behutsam Schwert und Messer ab. Dann strich er durch Shanijas Haare. »Das ist einer der glücklichsten Momente meines Lebens«, sagte er rau. »Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Auch wenn du furchtbar aussiehst, aber du lebst, und wohl noch eine Weile.« Shanija war immer noch unfähig, sich zu rühren. Dieser neuerliche Schock, dass Darren bei ihr war, wurde ihr fast zu viel, nachdem sie sich schon damit abgefunden hatte, wieder allein zu sein, die letzte Überlebende ihres Teams. Schließlich stieß sie hervor: »Da … da ist ein Schiff …« »Ein Schiff?« In Darrens grauen Augen blitzte etwas auf. »Du meinst … ein Raumschiff?« Sie nickte. »Dort muss ich jetzt hin, Darren, und endlich verschwinden, die Zeit ist bald abgelaufen.« »Dann lass uns gehen.« Darren ergriff ihren Arm und half ihr, über die Leichen zu steigen, hastete mit ihr den linken Gang entlang, auf den Shanija zeigte, und dann immer weiter. Sie begegneten noch einmal zwei Warnern, doch diesmal erledigte Darren das mit seiner Telekinese, und sie rannten weiter. »Allzu oft kann ich das nicht mehr machen, ich bin ziemlich fertig«, keuchte er unterwegs. Shanija erholte sich langsam wieder, der Lauf tat ihr gut, ließ das Blut durch den Körper zirkulieren und zwang sie, gleichmäßig und ruhig zu atmen. Pong ließ sich nicht blicken, doch sie konnte seiner
Spur folgen – kleine Brandspuren im Fels, die wie Pfeile aussahen. Niemand begegnete ihnen mehr, die Sicht wurde immer schlechter. Schließlich gelangten sie wieder in eine Höhle. Darren blieb verdutzt stehen und sah sich um. »Eine Sackgasse«, sagte er. »Shanija, bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?« Sie nickte erschöpft. Einige Momente lang konnte sie nur dastehen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und atmen. Ihre Kleidung war in Fetzen und blutbesudelt, zahlreiche kleine Schnitte und Wunden brannten wie Feuer. »Kannst du noch?«, fragte Darren besorgt. »Aber immer«, antwortete Shanija und richtete sich auf. »Als ich vom Mutterschiff der Quinternen floh, ging es mir bedeutend schlechter, und ich war allein.« »Deine Vergangenheit hat dich eingeholt, hm?« »Ja, schon seit Beginn der Passage. Aber das hindert mich nicht, ist eher ein Ansporn.« Darren hob die Arme und drehte sich leicht. »Und wo ist nun das Schiff?« Shanija streckte den Arm aus und deutete auf die Wand gegenüber, wo sie das Zeichen entdeckt hatte. Ein x in einem Kreis. »Ich sehe nichts.« »Da ist ein Durchgang.« Shanija konnte ihn von hier aus auch nicht sehen, weil die schroffen Felsen mit ihren Zacken und Kanten trügerische Schattenspiele warfen. Unwillkürlich dachte sie an Gorelus, Seiyas verkrüppelten Zwillingsbruder. Seine Psimagie hatte in Schattenrissen gezeigt, dass Seiyas älterer Bruder sie umbringen wollte, um an den Thron zu gelangen. Diese Schatten hier zeigten ebenfalls Fratzen, höhnische, boshafte, flackernde Gesichter, als wollten sie sagen: Du wirst dein Ziel nie erreichen. Shanija schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. Ja, eines Tages werde ich meinen Meister treffen. Aber nicht heute. Niemand kann mich aufhalten. Sie wandte sich Darren zu. »Ich muss jetzt gehen.« Sie hätte ihn gern gebeten mitzukommen, doch sie wusste, er würde seine Welt nie verlassen, weil es für immer wäre. Und er hätte sich auf der
Erde nicht sonderlich wohlgefühlt, bei aller Technikbegeisterung. Hier auf Less war er Jemand, ein berühmt-berüchtigter Abenteurer, reich und unabhängig. Sie verließ ihn daher jetzt besser, ohne große Zeremonie, Küsschen-Küsschen und Umarmung. Im Grunde hatten sie sich schon voneinander verabschiedet, als Darren sich draußen vor der Stele den Angreifern entgegengeworfen hatte. Shanija war froh, dass Darren lebte, dass sie endlich einmal jemanden zurückließ, der heil aus dem Abenteuer kam. Der viel zu erzählen hatte, wenn er demnächst den Frauen wieder die Herzen brach. Was mit Shanijas Herzen geschah, spielte keine Rolle. Die Pflicht ging über alles, neun Milliarden Leben hingen davon ab. Darren schwieg, über seiner Nasenwurzel hatte sich eine steile Falte gebildet. Als Shanija sich zum Gehen wandte, brach es aus ihm hervor. »Wie oft muss ich dich eigentlich noch bitten?« »Darren, versteh doch …« »Du verstehst nicht!« Er deutete hinter sich. »Dort draußen beginnt die Passage, ein einmaliges Phänomen! Die Massen kapieren das aber nicht, sie sind in Panik, bringen sich gegenseitig oder selbst um. Wir müssen Ordnung schaffen! Wir müssen die Katastrophe verhindern!« »Das haben wir schon so oft diskutiert«, erwiderte Shanija bemüht ruhig. »Wenn du mich liebst, lässt du mich gehen.« Sie ging auf das Zeichen zu, doch schon nach zwei Schritten vertrat Darren ihr den Weg, hielt jedoch vier Meter Abstand zu ihr. »Nein.«
* Für einen langen, kalten Augenblick herrschte tiefe Stille. Shanija spürte, wie sie plötzlich erstarrte. Wie etwas sie daran hinderte, sich zu bewegen. Langsam sagte sie: »Du also.« Sie verfluchte sich, dass sie ihre Waffen nicht zurückgefordert hatte. Ein weiterer ihrer vielen Fehler, seit sie die Nähe zu anderen zu-
gelassen hatte. »Ich dachte, du wärst überraschter«, versetzte er und steckte ihr Schwert und den Dolch in den Gürtel. In seine grauen Augen war ein eiskalter Glanz getreten, seine Miene war hart, sämtliche weichen Züge ausgetilgt. Zum ersten Mal sah sie sein wahres Gesicht. »Nur zum Teil«, erklärte sie. »Ich mag mich verändert haben, weil ich es zuließ, zu lieben und geliebt zu werden. Aber ich bin immer noch ich, stets misstrauisch. Ich sehe immer und überall nur das Böse, weil ich es nicht anders kenne. Ich wollte deshalb nicht glauben, dass alle meine Freunde selbstlos sind. Ich habe immer einen Verräter unter uns vermutet. Schon allein deshalb, weil ich mit schöner Regelmäßigkeit von meinen Verfolgern aufgespürt wurde. Weil ich trotz allem noch an einen Rest Gutes glaube, ging ich davon aus, dass derjenige nichts davon wusste, dass er einem fremden Herrn diente. Ich hatte As'mala am stärksten in Verdacht, vor allem, seit Raban sie in der Hand hatte. Aber dass ausgerechnet du …« Ihre Stimme zitterte leicht, und für einen Moment schien sie die Fassung zu verlieren. »Natürlich, der Mörder ist immer der Butler. Genau die Person, die ich für die unverdächtigste hielt, weil ich in Bezug auf dich emotional und nicht rational dachte.« »Es war ein hartes Stück Arbeit, dich soweit zu bringen«, sagte er. »Und … zu welchen von denen gehörst du?« »Den Erlösern.« Shanija atmete einmal tief ein und aus. »Und wie geht es jetzt weiter?« »Ich bringe dich zur Vernunft«, antwortete Darren. »Dann beantworte mir vorher wenigstens ein paar Fragen.« Er nickte. »Aber sicher, meine Schöne. Unsere neue Beziehung soll nicht mit Geheimnissen und ungeklärten Fragen beginnen, sondern unbelastet und frei sein. Das ist sehr viel förderlicher, um den Willen zu brechen und die Schatten der Vergangenheit zu löschen. Ich kenne mich da aus. Also nur zu, lass uns ganz offen sein, so viel Zeit muss sein.« »Wieso bist du mit Seiya gegangen, um nach As'mala zu suchen?«, fing Shanija an.
Darren machte eine abwiegende Geste. »Ich befürchtete, dass du es dir unterwegs plötzlich anders überlegen und umkehren würdest, um die beiden Frauen zu suchen, wenn wir weitergingen. Ich vertraute darauf, dass ich dich mit den beiden rechtzeitig einholen würde. Schließlich wollte ich genau wie du hierher.« »Seiya hat mir erzählt … als ihr gefangen wart … du warst sehr aufgewühlt, und du hast von mir gesprochen …« »Natürlich! Du hast mir immer noch nicht rückhaltlos vertraut, also musste das über Dritte geschehen. Reine Manipulation. Immerhin kann man mir zugutehalten, dass ich die ganze Zeit gehofft hatte, dich freiwillig zur Mitarbeit bewegen zu können. Bis zu diesem letzten Moment. Aber gegen deine Besessenheit hat keiner eine Chance, deswegen bleibt mir nur noch ein Ausweg.« Er hob die Schultern. »Du bist sehr widerspenstig, Shanija, und zu willensstark. Aber eine kleine, von mir durchgeführte Operation wird das ändern. Dauert nur wenige Sekunden, und danach bist du glücklich, mir zu dienen.« »Das ist nicht dein Ernst«, flüsterte sie. »Aber ja, der einzige Weg. Frauen im Allgemeinen sind nur willenlos akzeptabel, und du im Besonderen, da ich zusätzlich deine Fähigkeiten nutzen werde.« Ein abgrundtief böses Lächeln, das aus der Tiefe seiner Seele kam und wahrhaftiger nicht sein könnte, verzerrte seine schönen Gesichtszüge. »Ich werde dich missbrauchen, Shanija, deine Seele, deinen Geist und deinen Körper. Jeden Tag, jede Nacht, solange es mir gefällt und du von Nutzen bist. Darauf freue ich mich schon lange.« Shanijas Magen drehte sich um. Wenn sie daran dachte, wie sie die letzte Nacht gemeinsam verbracht hatten … Zum Glück hatte sie nichts mehr in sich, sonst hätte sie sich jetzt übergeben. »Scheißkerl …«, flüsterte sie und konnte es nicht verhindern, dass Tränen in ihre Augen schossen. »Ich habe dich geliebt … Du kannst nicht sagen, dass du überhaupt nichts empfindest …« »Aber so ist es, meine Schöne«, erwiderte er gleichmütig. »Ich würde gern sagen, es tut mir leid, aber dem ist nicht so. Ich habe von Anfang an nur ein Ziel verfolgt. Gewiss, ich habe den Sex mit
dir sehr genossen, jeden einzelnen Augenblick davon, und deine Nähe ist mir nie unangenehm gewesen. Und ich werde die kommenden Jahre mit dir noch mehr genießen, wenn du mir ganz und gar gehörst und völlig ergeben bist. Aber das, was ihr Menschen Liebe nennt, kann ich nicht empfinden. Konnte ich nie, weder meinen Eltern noch sonst jemandem gegenüber. Das Einzige, was mir je etwas bedeutet hat, ist Macht. Wenn ich jemals die Anlagen zu Emotionen besaß, wurden sie schon früh abgetötet, ein für alle Mal. Von Kayims Tod an lernte ich zu manipulieren. Ich wurde ein Meister darin.« Shanija gab noch nicht auf. »Aber sagtest du nicht zu Seiya, man lässt niemanden im Stich? Es quälte dich doch … das kannst du nicht vorgetäuscht haben …« »Habe ich auch nicht«, gab er zu. »Kayim ist eine Lebensschuld, die ich mit mir herumtrage, ein Schock der Kindheit, von dem ich mich nie erholte. Umso mehr, weil man mich allein damit ließ, weil Kayim einfach geopfert wurde, für die Spielsucht seines Vaters. Ist das zu fassen? Ich schwor mir, das würde mir nie passieren. Ich würde nie jemanden im Stich lassen, der mir noch nützlich sein könnte.« Seine Augen glitzerten. »Hat Seiya dir nicht auch gesagt, dass sie seitdem Angst vor mir hat? Immerhin habe ich auf Grooms Schiff gnadenlos und brutal getötet, mit mehr Härte, als notwendig gewesen wäre.« »Also gibt es in deinem Leben nur dich …« »Und den Willen – ja, unerschöpfliche Gier nach Macht. Meine wahre Liebe, wenn du so willst.« Es blieb nicht mehr viel. »Die Begegnung in der Flüstertüte … das war also kein Zufall?« Er lachte. »Natürlich nicht. Ich war damals in Castata dabei, als du den Herrn der Fäulnis vernichtet hast. Die Wiedergänger waren vor Ort, und ich verdeckt unter ihnen. Aber auch einer der Warner war da, den ich auszuschalten versuchte, doch leider entwischte er mir. Daraufhin war klar, dass ich mich um deinen Schutz kümmern musste. Leider habe ich eine Weile gebraucht, bis ich deine Spur wiedergefunden habe, nachdem du plötzlich verschwunden warst.
Aber dann lief ja alles reibungslos. Nun ja, nahezu.« Er runzelte die Stirn. »In dir habe ich doch tatsächlich meinen Meister gefunden. Trotz deiner Liebe zu mir warst du nicht bereit, dein Ziel aufzugeben. Darüber bin ich ziemlich verärgert, denn ich kann es nicht leiden, wenn etwas nicht so läuft, wie ich es will. Deshalb waren mir unser Streit und die Trennung ganz recht, ich musste erst wieder einen klaren Kopf bekommen.« Shanijas Inneres war ein Eisklotz. Alles war abgestorben. »Zwei Fragen noch.« »Du willst mich hinhalten? Also gut. Stelle sie.« »Wieso jetzt erst?« »Das liegt doch auf der Hand. Du solltest mich hierher führen. Ich werde das Schiff vernichten und den Einfluss der Urmutter beenden. Less stehen glorreiche Zeiten bevor, aber nur, wenn ich nicht auf einem Pulverfass sitze. Frage Zwei?« »Ich kann mich nicht so sehr in einem Menschen getäuscht haben. Wenn du mich angesehen hast, mit diesem warmen Glanz in den Augen …« »Mimikry.« »Wie bitte?« »Aliandur war so freundlich, mir etwas von seiner DNA abzugeben, und damit auch von seiner Mimikry-Fähigkeit, die auch die Kuntar besitzen. Ich bin eine Art Hybrid, Shanija. Aliandur und ich sind miteinander verbunden, er weiß immer, wo ich bin und was ich gerade tue. Er wird bald hier sein. Aliandur und ich werden über Less herrschen, willkürlich und gnadenlos. Wir werden die grausamste Tyrannei ausüben, die es je gegeben hat. Und wir werden Dur dienen, seine Hände sein, die sich nach dem Rest der Galaxis und des Universums ausstrecken. So eine einmalige Chance lassen wir uns nicht entgehen. Deswegen wird es Zeit, also genug des Austauschs. Sei ein braves Mädchen, dann wird Aliandur dich nach deinem Einsatz bei der Passage nicht verspeisen, sondern du wirst ein Luxusleben an meiner Seite führen. Ohne freien Willen zwar, aber umso mehr wirst du es genießen, mein Schatz.« Damit waren wirklich keine Fragen mehr offen. Diese Last würde
Shanija nicht mit sich herumtragen, sich fragen, was sie falsch gemacht hatte, was sie hätte ändern oder verhindern können. »Dann beenden wir das jetzt.« »O ja. Geht ganz schnell.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Da hast du recht«, flüsterte Shanija, zog die Pistole mit der letzten Kugel aus der Jacke und drückte ab.
* »Au!« Darren Hag griff sich an die Brust, betrachtete erstaunt das Blut auf seinen Händen, taumelte. Shanija sah an der hellen Farbe, dass sie zum ersten Mal einen Schuss vermasselt hatte. Dem Mann blieben noch ein paar Minuten zu leben. »Aber …«, stieß er fassungslos hervor, »wie ist das möglich … ich bin Telekinet … die Kugel hätte mich nicht treffen dürfen … und wie … konntest du dich überhaupt bewegen … ich habe …« »Ich war nur kurz in deiner Gewalt, dann habe ich mich verstellt.« Shanija wies auf Pong, der sich auf ihrer Schulter niederließ, mit den Kristallen aus dem Labyrinth von Mandiranei. Darren stolperte, hielt sich aber noch auf den Beinen, stolz und hartnäckig. Doch er hatte bereits Schwierigkeiten zu sprechen, und er war keineswegs emotional so unbeteiligt, wie er tat. Er war schwer erschüttert, dass Shanija ihn überrumpelt hatte. »Aber … aber wie … konntest du … meine Telekinese ausschalten …« Sie nickte langsam. »Ich habe es keinem von euch gesagt, aber vor kurzem habe ich herausgefunden, dass in unmittelbarer Nähe der Kristalle keine Psimagie mehr funktioniert. Einschließlich meiner Sonnenkraft. Das brachte mich ja darauf, weil ich sie nie einsetzen konnte – von zwei Ausnahmen abgesehen. Das erste Mal in Castata, das zweite Mal im Transless-Express, weil Pong mit den Kristallen geflohen war. Pong ist der Einzige, auf den die Quarze keinen negativ psimagischen Einfluss haben, abgesehen davon, dass ihre Schwingungen ihn halb verrückt machen. Deshalb habe ich sie bei mir behalten und immer gut verpackt aufbewahrt. Ihre Strahlung
reicht nicht weit, aber ich hatte die Möglichkeit, sie unmittelbar bei dir einzusetzen – durch Pong. Ich hatte ihm vorhin die Kristalle mitgegeben, als er nach der Urmutter suchte. Als Rückversicherung, weil ich mit Hindernissen rechnete. Alte Quinternen-Regel: Wenn etwas reibungslos verläuft, sichere dich erst recht fünffach ab, denn das ist nur Illusion. Pong hat sich von hinten an dich herangeschlichen und dir den Kristall dicht an den Körper gehalten, um dich auszuschalten.« Darren schüttelte langsam, ungläubig den Kopf. »Ich hätte ihn doch bemerken müssen …« Shanija lächelte schwach. »Nun, auch der kleine Kerl hat ein Geheimnis gehütet, wie jeder von uns. Pong ist ein Nanowesen, Darren. Zusammengefügt aus Tausenden winziger Bausteine des ursprünglichen Nano-Gehirns, von denen jeder Einzelne über alle Informationen und Funktionen der Gesamteinheit verfügt. Bei meinem Absturz wurden die Nanos durch die Hyperschwingungen angeregt zu mutieren und sich weiterzuentwickeln. Im Zeitraffermodus machte Pong eine Entwicklung zur echten Künstlichen Intelligenz durch, die in einen teilorganischen Körper gebettet wurde, der im Vergleich zu uns jede Zelle einzeln steuern und ihr neue Aufgaben zuteilen kann. Zu Beginn war er nicht dazu in der Lage, weil er es selbst nicht wusste, aber inzwischen hat er es gelernt. Das bedeutet, er kann in seine Nanobausteine zerfallen und jede beliebige Form annehmen. Pong ist immer noch das ursprüngliche Gefechtsmodul, und seine bevorzugte Drachenform bildete sich durch etwas in seinem Speicher, das man mit einem Traum vergleichen kann: was er gern sein wollte. Damit du ihn nicht bemerkst, löste Pong sich deshalb auf und war daher nicht mehr als ein Hauch, ein sanftes Kribbeln, das du durch die Kleidung nicht gespürt hast. Du warst so auf mich konzentriert, dass du weder ihn noch den Kristall bemerken konntest.« Darren konnte jetzt nicht mehr, trotz seines ungeheuren Willens, der ihn bisher auf den Beinen gehalten hatte. Schwarzrotes Herzblut quoll nun aus der Wunde. Er sackte zu Boden, seine Augen waren geweitet, und aus dem Mundwinkel rann ein feiner roter Faden. Un-
ter ihm breitete sich eine rote Lache aus. »Shanija, ich sterbe …«, keuchte er ungläubig. »Ja, das wirst du«, sagte sie leise. »Mach deinen Frieden mit dir, Darren, denn ich werde dir nie vergeben.« Darren sank sterbend zur Seite. »Hut … ab …«, stöhnte er mit letzter Kraft. »Was hätten wir für ein Paar sein können«, wisperte sie. Darren sagte nichts mehr. Sein Blick war kalt und starr. Shanija wandte sich ab. »Gehen wir«, sagte sie zu Pong.
5. Shanija zwängte sich durch den schmalen Spalt im Gestein und verharrte staunend. Sie stand im Krater des erloschenen Vulkans, der mindestens fünf Kilometer Durchmesser hatte. Ein schwerer roter Himmel hing dicht über ihr. Von den Sonnen waren nur noch schmale Sicheln zu sehen. Bald war es soweit, höchstens noch eine Stunde. Und dort stand das Schiff. In Burundun hatte Shanija einmal die Frage gestellt, warum die Absturzstelle der Sunquest nicht mehr auffindbar war. Nun wurde es ihr klar. Jemand hatte in mühsamer Arbeit, Stück für Stück, die Überreste hierher geschafft, und nicht nur diese. Aus allen Teilen war ein bizarres, schrundiges Gebilde geschaffen worden, das mehr einem Schrotthaufen ähnelte, doch es stand auf Stützbeinen und erinnerte annähernd an einen Käfer. »Hauptsächlich«, erklang die Stimme der Urmutter aus Pongs Innerem, »besteht dieses Schiff aus Antriebsteilen, von denen ich genug intakte Aggregate auftreiben konnte. Viele Generationen psimagisch begabter Techniker, Handwerker und Erfinder halfen mir dabei, dieses Werk zu schaffen, das nun bald vollendet sein wird. Sei willkommen, Tochter der Erde, ich bin Celesta Gambine. Ich habe so lange auf jemanden wie dich gewartet, und die Hoffnung nie aufgegeben.« Shanija griff sich an die Brust, denn die Stimme ließ ihr Inneres vibrieren. »Es ist ein Wunder …«, wisperte sie. »Kein Wunder, sondern Psimagie. Die Synergie und Essenz dieses einzigartigen Systems, das alles möglich macht.« Shanija schloss ergriffen die Augen. Für einen Moment vergaß sie, was sie hinter sich zurückließ. Sie war endlich am Ziel angekommen. Da hörte sie ein leises Krächzen und fuhr herum. Ungefähr fünfzig Meter entfernt kauerte ein Orgavogel, den sie erst jetzt bemerkte,
weil sie bisher nur Augen für das Schiff gehabt hatte. Und zehn Meter von ihr entfernt stand Corundur.
Shanija empfand wieder denselben eiskalten Schauder wie bei den Fioren, als sie den Gesichtslosen durch die Erinnerung eines anderen gesehen hatte. Als er sie wenige Stunden vorher mit dem Orgavogel angegriffen hatte, hatte seine Aura sie wie eine Flutwelle überrollt, und nun stand sie ihm zum ersten Mal gegenüber. Der Mann war groß und athletisch, das war trotz der alles verhüllenden, bodenlangen Kutte erkennbar. Sein Kopf wurde vollständig von dem geschlossenen Helm bedeckt, und er trug Handschuhe, sodass sich keinerlei Rückschlüsse auf sein Alter führen ließen. Es war anzunehmen, dass er ein Mensch war, aber nicht sicher. Am Zeigefinger der rechten Hand trug er einen auffälligen Siegelring. »Es ist erhebend, nicht wahr?«, sprach der Anführer der Warner mit ruhiger, tiefer Stimme. »Wozu Menschen doch fähig sind. Ich stehe selbst schon einige Zeit hier, fassungslos. Beinahe hätte ich dich nicht bemerkt, Shanija Ran.« Shanija hatte Schwert und Messer bei Darrens Leiche gelassen, und die letzte Kugel war auch verbraucht. »Ich werde jetzt Less verlassen«, sagte sie langsam. »Und die Pläne zur Erde bringen, die neun Milliarden Menschen das Leben retten.« »Ich verstehe«, sagte Corundur und näherte sich geschmeidig. Bald konnte Shanija seine starke psimagische Ausstrahlung spüren. »Das ist natürlich ein stärkerer Antrieb, als womöglich das ganze Universum zu retten. Wie vermessen von mir, das annehmen zu wollen.« »Dein Zynismus ist hier nicht angebracht.« »Bald wird gar nichts mehr angebracht sein, Sonnenkraftträgerin. Du wirst entschuldigen, aber auch ich lebe gern, und ich möchte, dass dieses System und der Rest des Universums erhalten bleiben.« »Und du denkst, indem du mich tötest, ist allen gedient? Du bist …« Ein Idiot, wollte sie sagen, doch da kam ihr ein anderer Gedanke. »Du bist doch derjenige, der die Fäden in Händen hält und dem
Schicksal die gewünschte Wendung geben kann.« Corundur blieb stehen. »Tatsächlich?«, sagte er ironisch. Shanija nickte. Ernst fuhr sie fort: »Du kannst etwas tun, Corundur: Ich bin sicher, du hast deine Leute überall und deine Möglichkeiten, dich umgehend mit ihnen in Verbindung zu setzen. Ich weiß, dass du mich bei den Fioren sehen konntest, obwohl ich in die Erinnerungen eines anderen blickte! Geh und trommle sie alle zusammen, mach ihnen klar, dass sich so viele wie möglich zu einem Psiblock zusammenschließen müssen! Dadurch könnt ihr Less vielleicht abschirmen!« »Das ist unmöglich.« »Nein, es funktioniert! Ich selbst habe es schon probiert, bereits mit fünf Personen hat es phänomenale Auswirkungen. Um wie viel mehr, wenn es Tausende sind! Überleg doch mal, das Feld um Less ermöglicht das Leben und aktiviert die Psimagie. Zapft es an, verbindet euch damit und verstärkt es dadurch! Dann wird sich die Passage nicht weit genug und vor allem nicht dauerhaft öffnen können, da bin ich sicher!« Corundur verharrte schweigend, er wirkte nachdenklich. »Entscheide dich!«, drängte Shanija. »Du willst die Welt retten, also tu es auf die richtige Weise! Lass mich gehen, dann bist du auch die Sorge los, was meine Sonnenkraft anrichten wird. Und ich kann die Menschheit, deine Urahnen, retten! So erreichen wir beide unser Ziel.« »Fürchtest du den Tod, Shanija Ran?« »Ich? Nein, schon lange nicht mehr. Und glaub nicht, dass ich Hemmungen habe, dich zu töten. Ich habe gerade den Mann umgebracht, den ich liebte.« »Ich sehe keine Waffe.« »Ich setze meine Sonnenkraft ein, jetzt gleich, wenn du auch nur einen Schritt näherkommst!« Corundur, der sich in Bewegung gesetzt hatte, setzte den Fuß auf. Shanija fuhr fort: »Wenn du nicht von Nutzen wärst, hätte ich dich längst beseitigt. Aber ich glaube, du bist ein Psimagier und verfügst über Linpha. Wenn also jemand etwas für Less tun kann, dann doch
wohl du!« »Ich bin beeindruckt, wie du das herausgefunden hast«, stellte der Maskierte anerkennend fest. »Ich bin schon zweimal, nein, mit vorhin dreimal, Wesen begegnet, die über Linpha verfügen. Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre es bei dir. Eine ganz besondere, durchaus vertraute Ausstrahlung, die meiner Sonnenkraft nicht unähnlich ist.« Shanija hob auffordernd einen Arm. »Also, komm endlich zu einem Entschluss! Entweder ich töte dich hier und jetzt, oder du spielst den großen Retter. Das ist doch die Maxime deiner Sekte, oder? Less vor dem Eintritt Durs zu bewahren. Oder bist du genauso ein Heuchler wie Darren, Raban und all die anderen?« Sie hatte den Eindruck, als würde Corundur leicht zusammenzucken. »Darren? Sprichst du etwa von Darren Hag, dem Sohn von Earl Hag aus Thel-Ryon?« »Ja, doch das ist nicht mehr von Bedeutung.« »Für mich durchaus, schließlich ist er an vielen Orten bekannt, um nicht zu sagen berüchtigt. So mancher hat eine offene Rechnung mit ihm. Aber ich habe ihn bisher nicht für religiös oder gar fanatisch genug gehalten, um ihn mit Raban auf eine Stufe zu stellen. Was also hat Darren Hag damit zu tun?« »Hatte«, korrigierte Shanija. »Er war der Mann, von dem ich vorhin sprach, und er liegt dort hinten in seinem Blut, weil er mich und ganz Less verraten hat. Er machte gemeinsame Sache mit Aliandur und wollte wie sein Bündnispartner nichts als Macht. Genau wie Raban, und Syptus ist kein bisschen besser. Aber wie steht es mit dir?« Corundur zögerte nun deutlich. »Geh«, sagte er dann. »Verschwinde von hier und komm nie mehr zurück, denn ich schwöre dir, wenn du gelogen hast, wird es keinen Ort geben, an dem du vor mir sicher bist. Nicht einmal deine Sonnenkraft wird dir dann noch etwas nutzen.« »Ich bin Colonel Shanija Ran von den WILD RAMS«, versetzte Shanija stolz. »Mein Wort gilt höher als das des Präsidenten. Das hat er mir persönlich in seiner Holovid-Ansprache gesagt, nachdem ich
mit den Plänen aus der Gefangenschaft der Quinternen entkommen war.« »Naive Idealistin«, knurrte Corundur. »Mir wird schlecht bei so viel Aufrichtigkeit. Du musst wohl die Wahrheit sagen. Also geh du deine Welt retten, und ich rette die meine.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zu dem Orgavogel.
* Ich werde diesen Tag niemals vergessen, als die Sonnen erloschen. Schlagartig, ohne Übergang, wurde es finster. Es herrschte keine völlige Dunkelheit, wie etwa in einer Höhle tief im Gebirge, sondern der Himmel wurde karmesinrot und düster, und Fathom hing wie ein riesiges verglimmendes Kohlestück über mir, nahm fast den gesamten Horizont ein, umgeben von einer dünnen, glosenden Aureole. Davor konnte ich einen winzigen schwarzen Punkt erkennen, Hades, unser Brudermond, auf dem nun noch schrecklichere Stürme toben mussten als hier. Von keinem Psifeld geschützt, war er der Katastrophe schutzlos ausgeliefert. Keine Sonnen mehr zu sehen, der Nacht ausgeliefert zu sein, das war trotz der furchtbaren Unwetter ein erhabenes Gefühl. Da ich mich im Gebirge befand, hatte ich ausreichend schützende Deckung, sodass ich immer wieder einen Blick hinauswagte. Ganz fern am Horizont, kurz bevor der Himmel den Boden berührte, am äußersten Rand sah ich schwarzblaue Dunkelheit, und dahinter – ja, sah ich Sterne funkeln. Nur schwach, und vor allem verschwommen, weil ich weinte vor Ergriffenheit. Ich bin Adept, aber dieses einmalige Wunder kann selbst mich nicht unberührt lassen. Ein einziges Mal im Leben wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass es dort draußen ein Universum gab, mit Milliardenmillionen Sternen und bewohnbaren Welten wie dieser hier. Wenngleich ich bezweifle, dass es viele Welten mit so extremen Bedingungen wie auf Less gibt. Einerseits ließ mich das erhaben fühlen, andererseits reduzierte es mich auch auf angemessene Bescheidenheit, und mir wurde bewusst, wie unbedeutend wir alle sind. Ist das nun das Ende?, fragte ich mich. Wird es noch ein Morgen geben, werden die Sonnen wieder aufgehen?
Ich hatte vor drei Tagen die letzte Stadt verlassen, weil ich nicht teilhaben wollte an den Kämpfen, am sich ausbreitenden Wahnsinn. Ich glaubte nicht an den Untergang der Welt, dafür existierte sie schon zu lange. Doch nun, da alles erloschen war, zweifelte ich doch und fragte mich, ob es wirklich ein schöpferisches Wesen gab, das Gericht über uns hielt. (H'arfun der Adept, persönliche Aufzeichnungen zur Passage Zentralarchiv, »Passage 3891. Quartennium«, Anmerkungen und Fußnoten)
6. Das Innere der Sunquest II war eng, ohne Wege oder Stege, keineswegs für eine Besatzung gedacht. Es war völlig verschachtelt, teilweise organisch, und bizarr in seiner Anordnung. Kabel und Rohre hingen frei herum, alles war gerade so zusammengebastelt, wie es benötigt wurde, ohne dass auf Sicherheit, Passierbarkeit oder wenigstens einigermaßen ästhetisches oder sachliches Äußeres geachtet wurde. Es stank nach Schimmel und Rost, die Luftfeuchtigkeit war enorm hoch und ließ Shanija schwitzen. Auch hier wie am Rumpf draußen war deutlich zu sehen, dass alles aus verschiedenen Wrackteilen zusammengesetzt war. Shanija bahnte sich mühsam den Weg, kletterte über Gerätschaften, die sich wie Leichenteile anfühlten, und kämpfte mehrmals gegen Übelkeit an. »Und das soll raumtauglich sein?«, fragte sie sich laut. »Unterschätze nie die Energie eines Vulkans«, antwortete die Urmutter; ihre Stimme hallte durch das Schiff. »Tief unter uns fließt immer noch Magma, Gas steht uns zur Verfügung … ich habe gelernt, alles anzuzapfen. Die Schweißnähte halten wahrscheinlich besser als die von der Erde.« »Und was ist mit der Antriebsenergie?« »Es ist erstaunlich, welche Techniken die raumfahrenden Völker benutzen. Und es ist ja noch alles da, die gesamte Energie, gespeichert in den Aggregatblöcken dieses Schiffes. Es war nur nicht möglich, sie zu aktivieren. Ich kann ins All fliegen und es wahrscheinlich Jahrhunderte durchkreuzen, denn ich bin das Schiff, und das Schiff ist ich. Wir haben Möglichkeiten, Energien zu zapfen, von denen du nur träumen kannst, Tochter der Erde.« Shanija hielt inne. »Es lebt, nicht wahr?«, flüsterte sie. »So wie ELIUM …« »Sprich nicht diesen Namen aus, tausendfachen Schrecken hat er uns gebracht, und die Hölle!«. fuhr die verzerrte, fremde Stimme dazwi-
schen. Sie wirkte künstlich und doch wieder nicht. »Ja, es lebt«, wisperte Pong an Shanijas Ohr. »Ich kann es fühlen. Das Schiff ist wie ein Verwandter von mir …« »Dann kehrst du als Erster nach Hause.« Shanija hatte die nächste Kletterpartie hinter sich gebracht und sah ein Schott, das sich öffnete, als sie sich näherte. Sie betrat die Zentrale. »Celesta Gambine?«, flüsterte sie heiser.
* Die Zentrale bestand aus einer einzigen riesigen Steuereinheit, und mitten darin ruhte die Urmutter. Noch immer war ein Teil von ihr menschlich, wenn auch ins Riesenhafte gewachsen. Aber der Großteil von ihr war mit der Zentraleinheit verschmolzen und verbunden. Sie hatte nicht übertrieben. Sie war das Schiff. Shanija sah rings um sich organische und metallische Teile miteinander verbunden und verschlungen. Manche der wie Muskelstränge aussehenden Gebilde bewegten sich sacht, kontrahierten und entspannten sich wieder. Andere schienen sich in einem imaginären Wind zu wiegen. Das menschliche Gesicht inmitten der Kabel, Röhren und Schläuche verzog die Lippen zu der Erinnerung eines Lächelns. »Ich war die Kommandantin«, sprach die Urmutter. »Unser Schiff war zwar zerstört, aber wir hatten die Landung fast ohne Opfer überstanden. Ein paar Tage lang orientierten wir uns, dann verschwanden schon die Ersten. Ich aber merkte, dass mit mir nach dem Eintritt etwas geschehen war. Ich besaß eine Verbindung zum Schiff, zur Zentraleinheit, obwohl sie keine Energie mehr besaß. Aber die elektrischen Impulse meines Gehirns reichten aus, um zu kommunizieren. Das war der Anfang.« »Unglaublich …«, flüsterte Shanija. »Das ist es in der Tat«, stimmte Celesta Gambine zu. »Ich will dich jetzt nicht mit meiner Geschichte langweilen. Ich habe alles aufgezeichnet, und Pong wird es abrufen können, sobald er die KI aktiviert hat. Denn ge-
nau wie aus Pong wurde aus der Zentraleinheit eine KI. Wir sind jetzt eine Menschen-KI.« Plötzlich sprach sie im Zweiklangton, einmal menschlich, einmal mechanisch. »Nicht einmal wir können sagen, über welche Fähigkeiten wir tatsächlich verfügen, das können wir erst im All feststellen. Wir sind eine Lebensform, über die wir noch nicht viel wissen. Soweit wir es feststellen können, ist unsere Lebenszeit keinem Verfallsdatum unterworfen.« Pong flatterte zu ihr und setzte sich auf ihre Brust. »Wir alle sind einzigartig, aber vielleicht bleibt es nicht dabei?« »Kleiner Pong«, lächelte die Urmutter. »Ich habe fast tausend Jahre gebraucht, um das hier zu schaffen, um zu wachsen, mich zu formen und neu zu bilden. Ich fand diesen Ort, weil ich eine besondere Affinität spürte. Er besitzt einzigartige psimagische Verhältnisse. Man kann sagen, ich beherrsche diesen Ort.« »Deswegen hat dich keiner gefunden …« »Auf die eine oder andere Weise nahm ich stets Einfluss, selbst über weite Entfernungen hinweg. Ich brauchte keine Gefahr zu fürchten. So vervollkommnete ich mit der Zeit mein System, bis ich vor zwanzig Jahren unabhängig wurde. Seither wartete ich.« »Dann … können wir starten?«, flüsterte Shanija. »Ja, es ist soweit. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Durch die Große Konjunktion wird das Psifeld schwach, was uns zusätzlich den Abflug erleichtert. Ich kann es kaum erwarten. Wie ein Kuckuck, der im fremden Nest aufgesogen wurde, möchte ich hinaus in die Freiheit, in meine wahre Heimat.« »Wirst du mich zur Erde bringen?« »Ich bringe dich überall hin, Shanija Ran.« »Zur Erde«, sagte sie schnell. »Dann lass uns beginnen. Pong, du weißt, was du zu tun hast.«
* Shanija war so aufgeregt, dass sie feuchte Hände bekam und ihre Finger zitterten. Sie wollte es noch nicht glauben, dass es nun wirklich soweit sein sollte.
Pong flatterte zu einer Art Konsole neben dem rechten Arm der Urmutter, und die Abdeckung öffnete sich mit einem seltsam schmatzenden Geräusch. Darunter wurden Eingabeeinheiten und Öffnungen für Datenspeicher sichtbar, die Shanija vertraut waren; sie kannte sie aus dem Modell der im Museum ausgestellten Sunquest. »Eines Tages musst du mir alles erzählen«, sagte sie nervös. »Oder Pong tut das. Ich gebe ihm all mein Wissen. Logge dich ein, Kleiner, und dann geht es los.« »Äh … kann ich denn das alles aufnehmen?« »Du bist ein Nanowesen, Dummerchen, schon vergessen? Dir steht fast unbegrenzter Speicherraum zur Verfügung.« Der kleine Drache veränderte seine Gestalt, dann loggte er sich in die Zentraleinheit ein. Shanija beobachtete ihn besorgt, als er plötzlich grellrot aufglühte und dann hastig die drei Kristalle aus der Mandiranei in die Eingabefelder schob. Und dann … Dann begann es. Plötzlich fing der Boden unter Shanija an zu vibrieren, und sie hörte das tiefe Brummen von hochfahrenden Aggregaten und Systemen. Und Licht strahlte auf in der Zentrale, dessen Quelle sie nicht ausmachen konnte. Weitere halborganische Einheiten öffneten sich und gaben blinkende Konsolen frei, mehrere große Schirme wurden hochgefahren und zeigten wie Fenster den Krater draußen. »Die Kristalle …«, flüsterte Shanija. »Das also ist es.« »Du hattest ihr Geheimnis bereits herausgefunden«, bestätigte die Urmutter. »Sie neutralisieren die Wirkung des Psifeldes. Wir bauen gerade ein Antifeld auf. Dann steht uns alles an Energie zur Verfügung, was wir brauchen. Der Start ist nur noch ein Kinderspiel.« »Vorausgesetzt, uns fliegt nicht alles um die Ohren«, murmelte Shanija. »Das hab ich gehört!«, rief Pong. »Hunderte Jahre hindurch habe ich Boten ausgeschickt, mir die Kristalle zu bringen. Die meisten kamen um, und die wenigen, die es im Lauf der Jahre zurückschafften, hatten die Falschen dabei. Nur Pong war in der Lage zu erkennen, welche die Richtigen waren. Ihre Strahlung nahm sofort
Einfluss auf ihn, sodass er nicht anders konnte, als sie mitzunehmen, ohne zu wissen, welche unbezahlbare Kostbarkeit er entdeckt hatte.« Shanija merkte, wie etwas von ihr wich. Etwas, das sie seit dem Absturz mit sich getragen hatte. »Es wirkt!«, rief sie. »Ich habe meine Psimagie komplett verloren, sie ist nicht nur unterdrückt!« Dann hielt sie erschrocken inne. »Aber … Celesta … wie kannst du …« »Ich brauche keine Psimagie mehr, Shanija Ran. Wir sind eine eigenständige Form, die sich über den Einfluss der Psimagie hinaus entwickelt hat.« In die menschliche Stimme hinein mischte sich wieder die mechanische: »Achtung, wir starten. Alle Systeme hochgefahren, Leistung bei sechzig Prozent. Sobald wir aus der Atmosphäre treten, werden wir achtzig Prozent erreicht haben. Nach Verlassen des Schutzfeldes einhundert. Alles im grünen Bereich. Check erfolgreich.« »Danke, dass ihr an den Sauerstoff gedacht habt«, murmelte Shanija. »Das ist kein Problem, davon steht uns in Aggregaten genug zur Verfügung. Du ahnst nicht, was man hier alles an Hinterlassenschaften findet. Und wegen der Schwerkraft mach dir auch keine Gedanken, wir können eine künstliche erzeugen.« »Aber du solltest dich jetzt besser festhalten«, empfahl Pong. »Es könnte ziemlich holprig werden.«
* Ja, als wir alle glaubten, dass der Untergang besiegelt sei, geschah etwas ganz Merkwürdiges. Ich befand mich in Lasardaban, das ist eine Kleinstadt, etwa zehn Kilometer von der Stele von Majakar entfernt. Natürlich kannte ich die Stele und die Legenden um die Urmutter, aber es gab keine Veranlassung, dort mal nachzusehen. Das hatten schon viele vor mir getan, aber nichts gefunden. Aber ich muss sagen, dass ich ziemlich beeindruckt war, als da plötzlich dieses Donnern und Röhren war, das den Sturm noch übertönte, und was soll ich sagen, ich sah tatsächlich etwas Merkwürdiges in den Himmel aufsteigen. Es war ziemlich düster, die Sicht schlecht, aber da war eindeutig etwas, sehr viel größer als jeder Orgavogel oder sonstige Fluggerätschaften. Mit gewaltigem Getöse stieg es in den
Himmel auf, und ich weiß heute, es verließ tatsächlich Less. Wir hatten natürlich schon die Gerüchte um die Sonnenkraftträgerin gehört, und meine Frau fing an zu weinen, aus Angst und Hoffnung zugleich. »Sie wird uns retten!«, rief sie. »Ich weiß, die Erlöserin ist aufgestiegen, um den Untergang zu verhindern!« Und keinen Moment zu früh, so schien es, denn in diesem Augenblick … begann die Passage. Ich meine, die wirkliche Passage, und ich hatte den besten Ausblick darauf. Mit meiner Familie war ich in einen Schutzkeller gekrochen, der ursprünglich als Schmugglerversteck diente. Wir hatten ihn zufällig entdeckt, weil der Sturm den Eingang freigelegt hatte, und haben da Sachen gefunden … nun, jedenfalls gab es dort ein Fenster, von außen nicht sichtbar, aber von innen hatte man ziemlich gute Aussicht. Und somit hatten wir sozusagen die Logenplätze, denn genau über uns am Himmel passierte es. Ein ungeheuerliches Blitzlichtgewitter, und dann war in dem tiefen Rot plötzlich ein schwarzer Riss zu sehen, und … Verzeihung, ich habe mich immer noch nicht in der Gewalt, obwohl es vorbei ist. Ich habe mich damals übergeben, und so geht es mir noch heute, auch wenn es nur Erinnerung ist. Ich kann nicht beschreiben, was ich da sah, doch etwas tastete durch diesen Riss, das noch finsterer war, und das war ganz gewiss kein gütiger Schöpfer, wie ihn dieser Irre Raban immer prophezeit hatte. Es gibt keine Worte für dieses Grauen, und auch wenn man es gesehen hat, ist es immer noch unvorstellbar. Meine Familie kann heute noch nicht darüber sprechen, und meine kleine Tochter ist seitdem nicht mehr ganz bei sich. Ich versuche, damit fertig zu werden, indem ich darüber rede. Aber jetzt kann ich nicht mehr sagen. Ich … ich … (Interview mit Öbkam Gülz, Einwohner von Lasardaban, zu den Vorfällen der Passage Zentralarchiv, 2. Abteilung »Passage 3891. Quartennium« Ordnungsreihe »Shanija Ran«)
Mein Nachbar trommelte plötzlich gegen meine Tür und schrie, ich solle rauskommen. Ich redete eigentlich schon lange nicht mehr mit ihm, denn er hat sich vor einiger Zeit zur Sekte dieses maskierten Unholds Corundur be-
kannt und versucht, uns alle zu missionieren. Seine ständigen Warnungen, sein fanatischer Eifer gingen mir auf die Nerven. Ich meine, soll doch jeder glauben, was er will, aber mich bitteschön in Ruhe lassen. Meine Frau forderte mich schließlich auf, ihn wegzujagen, um die Kinder nicht noch mehr zu beunruhigen, also ging ich raus zu ihm. Der Sturm tobte draußen, einige Häuser hatten kein Dach mehr oder waren ganz zusammengebrochen. Wir hatten zuerst fliehen wollen, aber wohin? Mein Vater hat das Haus gebaut, und sehr solide, darum steht es noch heute. »Was willst du?«, sag ich also zu meinem Nachbarn. »Ja, Corundur hat recht gehabt, die Welt geht unter, prima! Ich gratuliere euch. Und jetzt lasst uns in Ruhe.« »Aber darum geht es ja!«, rief mein Nachbar. »Ich habe einen Ruf von Corundur empfangen – wenn wir uns zu einem Psiblock zusammenschließen, können wir den Untergang vielleicht verhindern! Wir können das zusammenbrechende Psifeld stärken, dann wird Dur keinen Zugang zu uns erhalten!« Ich glaubte ihm kein Wort und drohte ihm Prügel an, aber da sah ich auf einmal die Leute zusammenlaufen, immer mehr kamen aus den Häusern, und sie fingen an, sich an den Händen zu halten. »Wollen wir allein sterben oder in der Gemeinschaft?«, sagte mein Nachbar. »Lass es uns versuchen – verlieren können wir nichts mehr.« Da trat meine Frau neben mich, sagte, er habe recht, und so gingen wir auf die Straße und schlossen uns der Menge an. Ganz Lasardaban strömte zusammen. Und was soll ich sagen, auf einmal fühlte ich mich getröstet, und ich hatte gar keine Angst mehr. Ich nahm meine Jüngste auf den Arm, und dann schlossen wir uns alle zusammen. So konnten wir auch das Grauen ertragen, das den Himmel zerriss und Finsternis über uns warf. (Bericht von Jujurdy, Einwohner von Lasardaban, zu den Vorfällen der Passage Zentralarchiv, 2. Abteilung »Passage 3891. Quartennium« Ordnungsreihe »Corundur«)
Es war wie eine Massenhypnose, und wir wissen bis heute nicht, wie sich das so schnell durchsetzen konnte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich global eine Botschaft des Sektengründers Corundur, dass alle sich zusammenfin-
den sollten und einen Psiblock bilden, um das Schutzfeld um Less zu stärken. Die Stimmung schlug schlagartig um, die Leute gerieten in einen Freudentaumel, scharten sich überall zusammen und ergriffen sich an Händen, Tentakeln und Greifgliedern. Je mehr zusammenfanden, umso optimistischer wurde die Stimmung, und gewaltige Kräfte ballten sich zusammen. Tatsächlich schuf dieser Psiblock die größte jemals gemessene Energieemission. Selbst wer nicht daran beteiligt war, konnte es spüren. Einen Moment lang schien es, als sei die ganze Welt eine Einheit. Dieses einmalige Phänomen ist fast noch höher zu bewerten als die Passage an sich, ausgelöst durch einen einzigen Menschen, dessen Identität uns bis heute nicht bekannt ist. (Anmerkung 2501, Anhang 4. Abteilung Zentralarchiv, »Passage 3891. Quartennium«, Anmerkungen und Fußnoten)
7. Shanija Ran war vieles gewohnt und normalerweise unerschütterlich, aber sie hatte schon zu viel hinter sich. Sie würgte jämmerlich und verpasste damit die einzigartige Premiere auf Less: den Start eines Raumschiffs. Das Schiff hatte einen ziemlich wabblig anmutenden Sitz für Shanija geformt, sogar mit Gurten. Sie überwand ihren Ekel und zog die Gurte stramm. Angstschweiß brach ihr aus, als es dann so aussah, als würde das Schiff tatsächlich vom Boden abheben. Dann ging das Gepolter los, und ihr wurde übel. Als das Schiff merkte, dass die Gurte nicht ganz ausreichten, umhüllte es die Frau schützend, was ihr zwar die Übelkeit nicht nahm, aber wenigstens war sie sicher. Der Krater vor den Fenstern wurde rasch kleiner und fiel dann nach unten weg. Schneller als erwartet schob sich das schwere Gefährt durch den Luftwiderstand, kämpfte sich brummend und schnaubend immer höher, hinauf in das Schwarzviolett und Karmesinrot. Eine klare Sicht war bei dem extremen Rumpeln und Schütteln unmöglich. Less kämpfte mit allen Kräften dagegen an, das Schiff aus seinem Bereich zu entlassen. Etwas nie Dagewesenes, in einer Million Jahre nicht. Tausende Völker hatten es schon versucht, doch immer vergeblich. Wer hätte auch geahnt, dass Less selbst den Schlüssel barg, wie das Schirmfeld zu umgehen war! Draußen tobte auch noch der Sturm und rüttelte an der Sunquest II, voller Zorn, weil er sie nicht halten konnte. Dann verließen sie die Atmosphäre, und schlagartig wurde es ruhig. Ebenso schlagartig vergaß Shanija ihre Übelkeit und kämpfte sich aus dem Sitz, lief in die Mitte der im Halbkreis angeordneten Schirme und starrte hinaus. Tränen rannen über ihre Wangen, als sie das samtschwarze All und die Sterne sah. »Wir haben es geschafft …«, hauchte sie ergrif-
fen. Sie wandte sich zur Urmutter um, die ungewöhnlich schweigsam war, und sah, dass Celesta ebenfalls weinte. Eine ölige Flüssigkeit, die über ihr Gesicht rann. Aus einem Schlauch über ihr zweigte sich plötzlich so etwas wie ein Rüssel ab, der sich herabringelte und mit zärtlichem Schmatzen die Flüssigkeit von ihrer Haut tupfte. Im Zweiklangton sprach das Schiff: »Es ist vollbracht.« Shanija drehte sich wieder den Schirmen zu. Ihr stockte der Atem, als sie die Gelegenheit bekam, die Große Konjunktion von hier oben aus zu betrachten. So musste sich also ein Gott fühlen, wenn er sein Werk betrachtete. Less lag in völliger Dunkelheit, umgeben von einem schimmernden Rand. Daneben riesenhaft, dass er nicht auf einen Schirm passte, der Gasplanet Fathom. Und dann, wie an einer Perlenschnur aufgereiht, die drei Sonnen. Je weiter sie sich entfernten, desto mehr funkelte und leuchtete das System, in allen Schattierungen und Maserungen von Gelb und Rot, mit grünen und blauen Tupfern. Ein einmaliges Schauspiel, das nur alle 257.000 Jahre stattfand. Und ganz am Rand des Ausschnitts sah Shanija eine Leuchterscheinung entstehen, eine grelle, dünne Linie, aus der Blitze schlugen. Die Passage. Pong verließ seinen Platz und flatterte auf Shanijas Schulter. »Was tun wir jetzt?«, fragte er. »Ich meine, so ganz Unrecht hat Corundur vielleicht nicht.« »Mit dem Untergang des ganzen Universums? Mach dich nicht lächerlich.« »Na schön. Aber was ist mit Less?« »Less kann auf sich selbst aufpassen«, sagte Shanija ruhig. Pong flog auf, vor Shanijas Gesicht, und stieß eine feurige Rauchwolke aus. »Ich kann einfach nicht glauben, was ich da höre! Was ist nur los mit dir? Bedeuten dir deine Freunde da unten denn gar nichts? Sie haben ihr Leben riskiert, vielleicht sogar verloren, um dich hierher zu bringen, verdammt!« »Genau!«, gab Shanija zurück. »Was würden sie wohl sagen, wenn ich jetzt umkehre und sage: He, Leute, ich hab's mir anders
überlegt? Dann wäre alles umsonst gewesen!« Pong schnaubte. »Ich frage dich noch mal: Bedeuten sie dir nichts?« Shanija schluckte und schloss die Augen. »Natürlich«, sagte sie leise. »Mehr, als du dir vorstellen kannst.« »Oder willst du Rache wegen des Verrats von Darren?«, zischte Pong. »Nein.« Shanija straffte ihre Haltung, in ihre grünen Mandelaugen trat ein kalter Glanz. »Aber ich habe einen Auftrag zu erfüllen, Pong. Als Marine bin ich dazu ausgebildet worden, einen Auftrag um jeden Preis zu erfüllen, konsequent. Persönliche Gefühle spielen keine Rolle.« »Super. Damit haben die einen Haufen Kohle für die Produktion von Cyborgs gespart. Du bist schon einer, und ganz ohne Metall und künstliches Hirn«, keifte der kleine Drache. »Hör auf damit!« Shanija war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Denkst du, ich kann es auf mich nehmen, den Tod von neun Milliarden Menschen zu verantworten?« »Und wenn sie schon vernichtet sind?« »Dann habe ich versagt, doch wenigstens nicht im Vorfeld aufgegeben!« Pongs Schuppen durchliefen gelbe bis knallrote Wellen. »Okay, die Erde ist deine Heimat, und du fühlst dich neun Milliarden Menschen verpflichtet, weil du ein pathetischer Militärarsch bist. Aber was ist mit den Millionen hier auf Less? Das sind nicht nur Menschen, das sind tausende Völker, von denen einige die letzten ihrer Art sein mögen!« »Soll ich für das ganze Universum verantwortlich sein?«, schrie Shanija. »Ich muss eine Entscheidung treffen, sieh das endlich ein! Ich kann nicht beide Welten retten!« »Aber du kannst es wenigstens versuchen!« »Dann sag mir, wie!« Pong schwieg. Shanija fuhr nach einer Atempause ruhiger fort: »Corundur tut bereits alles, was möglich ist. Er wird es schaffen, dass sich einige zu
einem Psiblock zusammenschließen und das Feld stabilisieren. Damit kriegen sie den Sturm in den Griff.« »Aber die Passage nicht. Sie beginnt gerade dort draußen.« Die dünne Linie erweiterte sich zu einem breiten, gezackten Band, aus dem mittlerweile tausende Blitze schlugen, deren Reichweite schon fast bis nach Less ging. »Ich sehe es.« Pong kratzte sich hinter dem Kopfkamm. »Hör mal, und wenn … die Unseren inzwischen einen zweiten Kurier losgeschickt haben?« »Pong. Erinnere dich, du warst selbst dabei. Der Kristall war das Einzige, was übrig war nach dem Angriff. Wir konnten ihn nicht mehr kopieren. Während die Flotte in die Defensive ging, sind wir abgehauen. Wahrscheinlich ist die Basis schon kurz nach unserem Abflug vollständig zerstört worden. Die Quinternen waren uns wieder mal fünf Minuten voraus, am nächsten Tag wäre ich sowieso abgeflogen. Aber bei den Prognosen waren die verbliebenen fünfzehn Prozent Chancen, erwischt zu werden, ausnahmsweise mal das, was uns traf. Und wir wollten bis zum letzten Moment die Pläne vervollständigen, damit die Erde umso schneller verteidigungsbereit wäre.« »Denkst du … denkst du …« »Nein, ganz verloren haben wir sicher nicht. Bei dem neuen Fenster stehen die Hope und die Glory, und die geheime Werft in dem Mond arbeitete schon seit einem halben Jahr auf Hochtouren.« »Wa…« »Ja. Das hast du nicht gewusst.« Shanija rieb sich das Gesicht, ihr Blick ging in die Ferne. »Kurz vor meiner Gefangenschaft ließ Fleet Admiral Garner die neuesten Prognosen erstellen, und sie sahen katastrophal aus. Wir würden in jedem Fall die Basis verlieren. Also haben wir sie im Vorfeld bereits aufgegeben und uns verstärkt auf das neue Offensiv-Programm konzentriert. Nach meiner Rückkehr haben wir angefangen, das Wichtigste auszulagern und die Aktivierung des zweiten Fensters voranzutreiben, das zum Heimatsystem der Quinternen führt. Dort war die neue Hauptbasis schon eingerichtet. Sollte ich also zu spät zur Erde kommen, würden die Quin-
ternen kaum Gelegenheit erhalten, ihren Sieg zu feiern. Aber das darf einfach nicht sein!« Ein Zittern durchlief sie, und sie schwankte leicht. »Pong, du weißt nicht, was sie mit uns gemacht haben«, flüsterte sie. »Ich kam als Einzige raus. Das scheint mein Schicksal zu sein, und es ist von Bedeutung, dass ich es jedes Mal bin, die übrig bleibt. Damals hing alles von mir ab, und heute ist es wieder so. Ich habe all das nicht auf mich genommen, um mich dann abzusetzen!« Pong wurde dunkelblau vor Trauer. »Aber, Shanija … glaubst du denn wirklich, dir kann nicht beides gelingen?« »Sei nicht naiv, Pong«, antwortete Shanija leise. »Ich habe keine Ahnung, wie ich die Sonnenkraft gegen die Passage einsetzen muss. Wenn ich Less rette, kann ich vielleicht nicht mehr zur Erde fliegen. Darf ich das Risiko eingehen, die Urmutter zu opfern? Denkst du, sie könnte es überstehen? Tausend Jahre lang hat sie auf diesen Moment gewartet. Sie ist mindestens ebenso einzigartig wie alle anderen Wesen dort unten auf Less. Bewertest du ihr Leben geringer als das der anderen?« Aus Pongs Augen traten dicke, ölige Tränen. »Dann bedeutet es also den Tod für eine Seite, egal wofür du dich entscheidest?« »Ja. Ich habe alles abgewogen und mich für die Erde entschieden. Und dabei bleibt es. Ich führe keine weitere Diskussion mehr.«
* Das Fanal dort draußen brannte immer heller, ein langes, gleißendes Band im All. Dann zerriss es in zwei Teile, strebte blitzstrahlend auseinander, und es bildete sich ein gewaltiger Riss, der sich rasch verbreiterte. Die Passage war vollendet. Shanija starrte auf die Finsternis, schwärzer als das All, die durch den Riss kam. Sie spürte, wie Pong, der wieder auf ihrer Schulter saß, zitterte. Der kleine Nano-Drache, der wie ein Mensch empfand. »Bald sind wir außer Gefahr«, meldete das System. »G-g-gut«, stotterte Pong. »Und … und wie viel Zeit bleibt mir
noch?« »Drei Stunden, achtzehn Minuten und zwölf Sekunden. Dann haben wir die Strahlung endgültig hinter uns gelassen.« »Hast du Angst, Kleiner?«, fragte Shanija leise. »N-n-nein, natürlich n-nicht«, stammelte er. »Dauert ja nicht mehr lang, dann weiß ich es sowieso nicht mehr. Was wohl aus mir wird, wenn der letzte Rest Psimagie in mir verschwunden ist? Ob ich wieder zum Gefechtsmodul erstarre? Oder werden meine Funktionen erlöschen, und ich werde zu einem Haufen Krümel zerfallen?« »Tut mir leid, Pong.« Shanija stand aufrecht, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und blickte auf das Inferno dort draußen. Das einsamste Wesen des Universums, so kam sie sich vor. Bis auf das Ding, das sich langsam durch den klaffenden Riss schob. Wie furchtbar musste es auf seiner Seite sein, dass es hierher wollte … Shanija presste die Lippen aufeinander. Ihre Fäuste ballten sich. Dann ging ein Ruck durch sie. »Stopp! Anhalten!« Das Schiff gehorchte augenblicklich und reduzierte die Geschwindigkeit, hielt aber nicht ganz an. »Shanija …«, meldete sich die Urmutter. »Celesta«, unterbrach sie. »Wo ist es?« »Was?«, fragte Pong verdutzt. »Wovon …« »Das erste Modul, in dem du dich eingenistet hattest, bevor es zu eng wurde«, fuhr Shanija fort. »Du hast es dabei, als Erinnerung, stimmt's? An deinen Anfang, so wie man seinen ersten ausgefallenen Zahn oder die Babyschuhe aufhebt.« »Hier an Bord?«, rief Pong außer sich. »Aber in den Speichern …« Diesmal unterbrach die Urmutter: »Ich habe es nicht in den Speichern hinterlegt, weil es meine eigene, ganz persönliche Erinnerung ist, wie Shanija sagte. Es ist das letzte intakte Beiboot der Sunquest, das ich zu mir bringen konnte, und war meine erste Heimstatt. Sozusagen der Mutterbauch, in dem ich als Fötus heranwuchs.« »Und … und ist es funktionstüchtig?«, kreischte Pong.
»Natürlich. Du findest es gleich hier nebenan, ich öffne dir eine Schleuse.« Und im Zweiton: »Wir aktivieren die Systeme. Die Außenschleuse öffnet sich automatisch, sobald Pong das Signal gibt.« »Gut.« Shanija war bereits zum Kommandostand unterwegs. »Kannst du einen Kristall entbehren?« »Aber sicher. Die anderen beiden genügen für die Erzeugung des Antifelds dieser Größe.« Shanija zog einen der Schwingquarze heraus und steckte dafür an einer anderen Stelle ihren Datenspeicher hinein, den Pong so lange gehütet hatte. Mit einigen Eingaben änderte sie den Zugangscode. Sie legte das Schicksal der Menschheit nun in andere Hände. Etwas, das sie bisher für unmöglich gehalten hatte. Dann machte sie sich auf den Weg. »Also, Celesta, ich habe keine Ahnung, wie du es anstellen wirst, aber ich wünsche dir viel Glück.« »Mir wird schon was einfallen, Shanija. Ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen. Alles Gute für dich. Möge dir gelingen, was du vorhast.« »Und ob«, knurrte die Frau. Sie verließ die Zentrale durch die Schleuse – mehr oder minder ein Loch in der Wand –, öffnete die mechanische Luke des kleinen Raumgleiters, der tatsächlich wohltuend unbeschädigt aussah und aus Teilen zu bestehen schien, die sorgfältig zusammengesetzt worden waren. Ein tausend Jahre altes Modell, aber wenn die Urmutter es regelmäßig gewartet hatte, konnte es seinen Zweck voll und ganz erfüllen. »Himmel hilf«, wimmerte Pong. »Vielleicht sollten wir es uns doch nochmal anders überlegen …« Shanija quetschte sich ins Innere. »Los, Pong, an die Arbeit. Kopple dich ans System und nichts wie raus hier, bevor der Abstand zu groß wird.« Der kleine Drache gehorchte. Bald darauf verließ das Shuttle die Sunquest II und nahm wieder Kurs auf Dies Cygni und die Passage dahinter. Shanija blickte dem weiterfliegenden Schiff nicht nach. »Wohin willst du?«, fragte Pong. Shanija deutete auf den Riss. »Jetzt bringen wir es zu Ende, so oder so. Sobald wir die markierte Linie des Psifelds überflogen haben,
holst du den Kristall aus dem System und legst ihn so weit wie möglich ab, damit er mich nicht beeinflussen kann.« »Alles klar, Boss. Denkst du, die Urmutter wird die Erde erreichen?« »Irgendwohin wird sie fliegen, Pong, und ich glaube daran, dass es noch nicht zu spät ist. Vielleicht gelingt es ihr sogar, Frieden zu stiften. Wir haben nur einen geringen Bruchteil ihrer Fähigkeiten kennengelernt.« Pong blickte zu ihr auf. »Und du? Ist mit dir alles in Ordnung?« Shanija schüttelte den Kopf. Tränen schossen in ihre Augen. »Nein.« Immer nur hatte sie sich an ihre Pflicht geklammert, an den Auftrag, den sie erfüllen musste. Es hatte sie daran gehindert, über sich selbst nachdenken zu müssen. Mit dem fertig zu werden, was sie an Ballast seit ihrer Kindheit mit sich herumtrug. Seit sie zum Militär gegangen war, hatte sie jeden neuen Schmerz tief in sich vergraben, hatte sich geweigert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Sie hatte sich zu einer Maschine gemacht, die perfekt funktionierte. Das hatte ihr geholfen, die Gefangenschaft bei den Quinternen zu überleben, den Verlust des Kindes. Den Tod von Con. Sie war unzerbrechlich, unbeugsam gewesen, nur der Aufgabe verpflichtet. Bis zu dem Tag, an dem sie auf Less notlandete, wo es keine Disziplin mehr gab. Wo sie Freunde fand, denen es gleichgültig war, dass sie Distanz wünschte. Die sich für sie opferten, weil sie an ihr Ideal glaubten. Und Darren … hatte den Panzer geknackt. Hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie nie zugelassen hatte. Die sie verletzbar machten, die die harte Mauer um all den Schmerz in ihr zerbröckeln ließen. Nun war nichts mehr übrig, was sie um sich herum aufgebaut hatte. Keine Mauer, keine Aufgabe, und Darren war tot, durch ihre Hand gestorben. In diesem Moment war sie nur noch der seelennackte Mensch Shanija Ran, zerrissen vor Schmerz und Kummer, mit gebrochenem Herzen. »Wir könnten doch auch auf Less landen und zusammen mit den
anderen den Psiblock verstärken«, schlug Pong schüchtern vor. Shanija streichelte ihn. »Das schaffen wir nicht mehr«, sagte sie brüchig und versuchte ein Lächeln. »Ich muss es direkt tun. Als Sonnenkraftträgerin ist es meine Pflicht, nachdem ich die andere abgegeben habe.« »Aber die anderen könnten dich dabei unterstützen.« »Ich glaube nicht. Das muss ich allein durchziehen.« »Du willst sterben, richtig?« Shanija nickte. »Also, für mich ändert sich nichts? Ich bin im Arsch, so oder so?« Sie nickte wiederum. Der kleine Drache seufzte lange und tief. »Doch, etwas ändert sich«, sagte Pong dann und ließ sich auf Shanijas Schulter nieder. Er schmiegte sich an sie. »Wir gehen zusammen.«
8. Der gewaltige Riss nahm bald die gesamte Sicht ein. Weiße Flammen loderten heraus, das Blitzgewitter schlug bis ins System hinein. Eine schwärende Wunde klaffte im Universum, hinter dem eine Finsternis lag, die dem Nichts sehr nahe kommen musste. Durch die Öffnung hindurch fingerte, wallte, wimmelte und wuselte etwas Unbeschreibliches, tastete sich voran, schob sich immer weiter von seiner Seite auf diese. Die bizarren Tastarme löschten das Licht und die Blitze, Dunkelheit strömte wie ein giftiger schwarzer Schleier von ihnen aus und wallte Richtung Less. Pong wurde totenbleich und schien jeden Moment in seine Bestandteile zu zerfallen. »D-d-das ertrag ich nicht …«, wimmerte er und fiel von Shanijas Schulter. Er kroch in ihrem Schoß zusammen, legte die Arme über den Kopf und noch die Flügel darüber. Seine Gestalt löste sich in Körnchen auf, festigte sich wieder, und löste sich von neuem auf. Shanija sah das Labor um sich, sie lag nackt auf dem Untersuchungsstuhl gefesselt, und die Quinternen beugten sich über sie. Die Graxflame. Die … Darren? Was tat er hier? Er grinste, und sein Grinsen verfloss, triefte zusammen mit seiner Haut von seinem Schädel und legte den blanken Knochen frei. Ich bin unschuldig, rief Shanija, aber die Fiogan keckerten nur krächzend. Ihr Vater tanzte mit der verwesenden Mutter. Komm, Schätzchen, gesell dich zu uns, dann sind wir eine richtige Familie! Die Kadetten stellten sie an den Pranger und peitschten sie aus. Das machen wir mit denen, die außer der Reihe tanzen! Hamlin aus dem Block nebenan packte sie an der Gurgel und schüttelte sie durch. Wenn du das Maul aufmachst, bring ich dich um! Admiral Garner sah mit mitleidigem Lächeln zu. Du wirst nie jemanden haben, Kleine, und immer allein sein. Und dann setzen sie die Untersuchung fort, und schnitten ihr den Bauch auf und holten Gorelus heraus. Chuck und die anderen umringten sie, sie stanken fürchterlich nach Verwesung und waren grün und schleimig. Und
dann … Dann hörte sie es. Die Stimmen von der anderen Seite. Nach wie vor war es zu finster, um etwas sehen zu können, aber die Stimmen drangen hindurch. Solche grauenvollen Laute hatte Shanija noch nie gehört, und sie merkte, wie Blut aus Ohren und Nase schoss. Dann setzten sich die Schreie in Bilder um. Lichtblitze führten einen Stepptanz vor ihren Augen auf, und sie sah blutige Schlieren, und verzerrte Menschen, verstümmelt, zu abstrakten Monstern pervertiert, mit zusätzlich angenähten Gliedern, und ausgestochenen Augen … Und sie sah Ungeheuer, eine andere Bezeichnung hatte sie nicht, die sich gütlich taten an den Menschen, und dann waren die Uriani an der Reihe, und die Kuntar. Gewalt, Blut und Tod, nichts anderes, Folter und Verstümmelung. Pfähler verrichteten ihr Werk, Opfer auf Räder geschnallt, auf Nagelbetten gelegt, und … Es ist nicht real. Es ist nicht real! Nein, das war es nicht. Aber das, was ihr Verstand umsetzte, übersetzt von den Eindrücken, die auf ihn einstürmten. Von dem, was aus dem anderen Universum herüberfloss, was über menschliches Begreifen ging, was in der Essenz jedoch Wahnsinn und Grauen bedeutete. Was auch immer dort durch den Riss kam, es brachte Tod und Vernichtung mit sich. Und es streckte seine Fühler aus und tauchte alles in Dunkelheit, wo die Spitzen auftrafen. Corundur hatte recht gehabt, dieses Universum würde untergehen, sollte es dem Unbegreiflichen, wimmelnden Chaos gelingen, hierher zu wechseln. Es war an der Zeit, zu handeln. Shanija wusste nicht, warum sie noch bei Verstand war. Vielleicht, weil das, was die Quinternen ihr angetan hatten, bereits weit über alle Grenzen hinaus gegangen war. Sie hatte einen Mechanismus gefunden, das Grauen abzublocken, das hier auf sie einstürmte, das ihren Verstand überrollen und auslöschen wollte. Sie ließ es nicht zu. Sie ging aus sich heraus und beobachtete von außen, was da geschah. Ich bin immer noch ich. Nur die Pflicht zählt. Mein Wille ist unbeugsam. Ich habe schon eine Hölle überlebt, diese hier kann nicht schlimmer sein. Denn das lasse ich nicht zu.
Tief ein- und ausatmen, sich auf sich selbst besinnen, sich versenken im Inneren, in den Ursprung allen Seins. Shanija richtete den Blick auf das Un-Wesen dort draußen, sammelte ihre Kräfte ein letztes Mal. Es pochte, drängte, glühte und pulsierte in ihr, verflüssigte ihr Inneres und brachte es zum Kochen. Sie konnte es nicht mehr länger zurückhalten, es wollte aus ihr raus. Also ließ sie die Sonnenkraft frei. Und noch während des entfesselten Infernos um sie herum, als alles um sie und in ihr im gleißenden Licht explodierte, sah sie etwas anderes. Eine blühende Welt unter drei Sonnen, und Tausende verschiedener Wesen, sie sah Geburt, Leben und Tod, Glück und Trauer, Bündnisse und kolossale Bauten. Und sie sah, im Zentrum von all dem, so etwas wie eine Blase, umgeben von rötlicher Dunkelheit, in der sie fröhlich schwamm, und in der Blase war etwas Kleinwinziges, mit Bällen, die mal Augen werden sollten, Ärmchen und zwei mikroskopischen Fingern, und etwas, das wie ein roter Punkt aussah, der ruhig pochte und leicht pulsierte. Und einem Mündchen, das sich zum ersten Lächeln des Lebens verzog. »Gut«, sagte Shanija Ran und schloss die Augen.
* Ob ich es gesehen habe? Ja, ich habe es gesehen. Ich war draußen, als es geschah. Noch während der Dunkelheit passierte es. Zuerst war da dieses Fanal, also diese Passage, und das Grauen, was hindurchkam. Das habe ich nicht beobachtet, weil ich es nicht ertragen konnte. Aber dann, plötzlich, gab es eine Explosion, die für einen kurzen Moment den gesamten Himmel erhellte, wie ein Leuchtfeuer. Heller, als die Sonnen je scheinen, und dann sah ich es. Dort, wo die Passage gewesen war, stand eine vierte Sonne am Himmel, weiß leuchtend und strahlend, und übergoss uns mit ihrem Schein. Allerdings war sie wie ein Mond, das Licht besaß keine Wärme, doch das spielte keine Rolle. Für uns war es das Zeichen. Das Wunder war geschehen. Und während diese vierte Sonne dann langsam verglühte, kam Arausio plötzlich hinter Fathom hervor, und Rubin, und dann Flavor. Zuerst nur ganz schmale Sicheln, aber schlagartig wurde es wieder hell, und
der Sturm war fort, und der Himmel nahm eine vertrautere Tönung an, und die Passage war geschlossen. Ja, das war der größte Tag meines Lebens, und vor meinem geistigen Auge sehe ich heute noch die vierte Sonne strahlen, und dann fühle ich mich glücklich, am Leben zu sein. (Interview auf der Straße, namenloser Passant Zentralarchiv, »Passage 3891. Quartennium« »Stimmen der Straße«, Teil 138)
Der globale Psiblock verstärkte tatsächlich das Schutzfeld um Less und brachte den Sturm weitgehend zum Erliegen. Schätzungsweise vier Millionen Wesen haben daran teilgenommen. Allerdings verbrauchte dieser Einsatz annähernd alle verfügbaren Energien, sodass letztendlich das Feld zusammenzubrechen drohte. Um das aufzuhalten, musste der Block gelöst werden – und gleichzeitig versiegten alle psimagischen Fähigkeiten, denn die verbliebene Energie wurde zur Erhaltung des Feldes benötigt und durch eine Rückkopplung sozusagen abgesaugt. Glücklicherweise war die Passage zu dem Zeitpunkt bereits wieder geschlossen, sonst hätte es unweigerlich das Ende bedeutet. Aber alles fügte sich zusammen. Unter welchen Umständen die Passage geschlossen wurde, konnte nie geklärt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die gewaltige Entladung, die wie eine kleine Sonne über Less sichtbar wurde, sämtliche aus dem Riss tretende Energie abzog und in eine andere Dimension oder den Hyperraum abstrahlte. Solchermaßen kam es zum Zusammenbruch und der Riss schloss sich innerhalb von Sekunden. Nach dem Ende der Passage kehrte das Licht zurück, und die Einwohner von Less sahen sich einem riesigen Ausmaß an Zerstörung gegenüber – aber diese Schäden konnten beseitigt werden. Sämtliche Gewaltakte waren beendet, denn jeder Einzelne begriff, dass es jetzt darauf ankam, zusammenzuarbeiten, um neu beginnen zu können. Noch dazu, da auf Jahre hinaus keine Psimagie mehr möglich sein würde, oder nur in schwachen Ansätzen, bis das Feld sich wieder ausreichend regeneriert hatte. In jeder Hinsicht lag vor der Welt der drei Sonnen ein Neuanfang. Das Zentralarchiv übernahm es, Hilfsaktionen organisatorisch zu betreuen, stellte Hilfsgüter und Dienstleistungen zur Verfügung und schickte sie dorthin, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Viele begüterte stellten
ebenfalls Ressourcen, und so begann in beachtenswerter Geschwindigkeit der Wiederaufbau. (Anmerkung 3286, Anhang 4. Abteilung Zentralarchiv, »Passage 3891. Quartennium« Anmerkungen und Fußnoten)
* »Shanija!« Nein. Sie war tot. »Colonel, verflixt nochmal!« »Was …« Sie öffnete die Augen und blinzelte in Pongs funkelnde Rubinaugen, der aufgeregt vor ihr rotierte. »Wir leben noch, Boss!« »Scheint mir auch so.« Sie richtete sich langsam auf und sah sich um. »Können wir noch manövrieren?« »Wir trudeln langsam Less entgegen. Ich glaube schon, dass ich uns runterbringen kann, aber das war's dann wieder.« Pong seufzte. »Der Kristall ist ausgebrannt. Ein zweites Mal kann er uns nicht mehr hochbringen.« »Es gibt mehr, wo der herkam. Falls das jemals von Bedeutung wird.« Shanija rieb sich das Gesicht, zu müde, um irgendetwas zu empfinden außer Leere. Doch dann … regte sich eine Erinnerung in ihr. Etwas, das sie gesehen hatte, kurz bevor die Passage sich schloss. »Pong …«, flüsterte sie. »Ich hatte da … eine Vision …« »Ja. Ich hab's auch gesehen. Es ist wahr.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. »Darren«, schluchzte sie. »Darren!« »Er hatte auch Gutes in sich«, sagte Pong zärtlich. »Er hat dich glücklich gemacht. Und dir das wunderbarste Geschenk gemacht, das es gibt. Umso besser ist es, dass wir am Leben geblieben sind. Nun hast du einen wirklichen Neuanfang auf Less vor dir, Shanija. Du kannst endlich dein eigenes Leben aufbauen, frei von allen Zwängen. Und das, was gut war in Darren, wird erhalten bleiben.
Es liegt an dir, das Richtige daraus zu machen und es entsprechend zu formen. So wird das, was du an Darren liebtest, und was der Darren war, den du gekannt hast, immer bei dir sein und auch ein Teil von dir.« Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Ungehindert ließ sie die Tränen weiter laufen, ließ alles aus sich heraus, einschließlich ihres alten Lebens. Die Propheten hatten alle recht gehabt. Die Passage brachte auch einen Neubeginn. »Ja«, sagte sie leise. »Ob es etwas geändert hätte, wenn er es erfahren hätte? Wäre er noch am Leben?« »Denk nicht darüber nach.« Pong ringelte sich um ihre Hand auf dem Bauch. »Denk nicht mehr daran, wer Darren war. Denk daran, wer sein Sohn sein wird.«
Epilog Ja, also, viele von uns brachen zusammen, als unsere Kräfte aufgebraucht waren. Mir ging es noch einigermaßen gut, und ich half, die Verletzten zu bergen. Wir hielten alle inne, als plötzlich die Sonnen wieder aufgingen. Für einen Moment waren wir so geblendet, dass wir Angst hatten, für immer blind zu sein. Rings um mich hörte ich, wie Leute auf die Knie fielen und anfingen zu beten, viele weinten, andere umarmten sich lachend. Da war uns klar, dass wir tatsächlich überleben würden, dass der Untergang abgewendet war. Kein Riss war mehr am Himmel zu sehen, und vom Grauen nichts mehr zu spüren. Alles schien ganz normal, die Wärme des Lichts tat gut. Als ich gerade eine Bahre aufhob, sah ich den Stern fallen. Ein kleines leuchtendes Licht, das funkelnd seine Bahn durch den Äther zog, genau auf uns zu. Dann stürzte die Sternschnuppe ab, und viele begannen zu zeigen und zu rufen. Die meisten schienen überzeugt, dass die Sonnenkraftträgerin zurückgekehrt war, unsere Retterin, die die Passage wieder geschlossen hatte. Es sprach sich wie ein Lauffeuer herum, und Bürgermeister Halsangorij stellte umgehend eine Truppe zusammen, ließ Wagen anspannen, um zur Absturzstelle zu fahren und zu sehen, ob Hilfe benötigt wurde. Ich meldete mich sofort freiwillig, denn ich wollte sehen, ob sie es wirklich war, die uns gerettet hat, und ihr danken. Ja, ich wollte mich ihr zu Füßen werfen, denn durch sie hatte meine Familie überlebt. Ich liebte sie, und ich weiß, alle anderen liebten sie auch. (Bericht von Jujurdy, Einwohner von Lasardaban, zu den Vorfällen der Passage Zentralarchiv, 2. Abteilung »Passage 3891. Quartennium« Ordnungsreihe »Shanija Ran«)
Auf Shanijas Bitte hin gab Pong sich ganz besondere Mühe und landete den Gleiter unter Schlingern und Getöse, aber nahezu unver-
sehrt dort, wo sie As'mala, Seiya und Mun zurückgelassen hatten. Und tatsächlich waren die drei auch noch dort, Shanija sah auf dem Schirm Mun und As'mala winken und im Licht der untergehenden Sonnen einem Rettungsaufgebot entgegenhumpeln, das aus Lasardaban eintraf. Von Süden kam soeben eine Handelskarawane an. Alle hoben den Blick zum Himmel, als sie vermutlich das Brausen und Pfeifen des herannahenden Gleiters hörten, und warfen sich zu Boden. »Punktlandung!«, kreischte Pong begeistert, als der Gleiter etwa zweihundert Meter von den Freunden entfernt die Nase in den Boden bohrte, und in einer aufstiebenden Wolke an Geröll und Staub weiterschlitterte, bis der Schwung aufgebraucht war. Sämtliche Systeme japsten noch einmal und fielen dann in Todesschlummer. Shanija öffnete den Notausstieg und kletterte aus der Kanzel. Sie hörte As'mala und Mun rufen, winkte und rief zurück, unendlich erleichtert. Pong raste bereits wie ein kleiner Edelstein, der in allen Farben funkelte, den beiden entgegen und würde sie sicher über das meiste aufgeklärt haben, bis Shanija bei ihnen eintraf. Sie überlegte, ob sie den Freunden die Wahrheit sagen sollte, und entschied sich dann dagegen. Es hätte niemandem genutzt, nun, da Darren tot war, und sie wollte nicht, dass ihn jemand in schlechter Erinnerung behielt. Schon allein, um seinen Sohn zu beschützen, der unter den besten Voraussetzungen aufwachsen sollte. Und sie selbst … auch sie wollte sich nur an den Darren erinnern, der sie bis zur Urmutter begleitet hatte. Noch vor dem hässlichen Moment, als er seine Maske fallen ließ, sollte es enden. Die Wahrheit war mit ihm gestorben. Ein Schlachtfeld lag vor Shanija, als sie sich auf den Weg machte. Leichen, Orgavögel, Maschinen … und alle wiesen starke Verbrennungen auf. Selbst der Boden war verbrannt. Shanija vermutete, dass Seiyas Feuermagie hervorgebrochen war, und bekam dies bald bestätigt. As'mala und Mun umarmten sie gleichzeitig. Beide waren verwundet, aber wohlauf. Einen Moment lang fanden sie keine Worte, doch dann erzählten sie sich kurz und schnell, was geschehen war.
As'malas Lippen zitterten, als sie von Darrens Tod erfuhr, und sie streichelte Shanija, küsste sie auf die Wange. Die Helfer aus Lasardaban und von der Karawane waren bereits eifrig im Einsatz. Sie trugen die Leichen und Schrottteile zusammen und legten Seiya auf einen Wagen, den sie mit Decken und Kissen ausgekleidet hatten. Shanija trat an den Karren heran und betrachtete die Prinzessin. Sie war blass und atmete sehr langsam, aber regelmäßig. »Nachdem … nachdem alles vorbei war«, berichtete As'mala stockend, »fiel sie. Sie ist nicht verletzt, aber trotzdem nicht bei Bewusstsein.« »Katatonie«, sagte Shanija. »Es war zu viel für sie, und ihr Geist hat sich zurückgezogen. Er versteckt sich jetzt vor der Welt. Vor den Erinnerungen und ihrer Angst.« Tiefer Schrecken lag auf As'malas Gesicht. »Wird sie jemals wieder erwachen?« »Ja, wenn sie es möchte, eines Tages«, antwortete Shanija. »Eine gesunde Umgebung, Fürsorglichkeit und Liebe könnten ihr dabei helfen festzustellen, dass es durchaus lohnenswert ist, am Leben teilzunehmen.« Sanft streichelte sie Seiyas schmale Wange. Sie sah so jung und zart aus, fast wie ein Kind. »Das kann sie alles bekommen«, sagte As'mala eifrig. »Mun, bringen wir sie zu mir nach Hause, nach Zata, und …« »Nein«, sagte der Adept. »Ich komme nicht mit. Ich gehe fort. Allein.« »Aber … aber du liebst sie doch …«, flüsterte As'mala erschüttert. »Nicht wahr?« Einen Moment lang verlor Mun die Fassung. Tränen liefen aus seinen Augen, bevor er sie unterdrücken konnte. Er nahm die bewusstlose Seiya in die Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. Ein Beben durchlief seinen großen Körper. Nach ein paar Sekunden bettete er sie wieder behutsam hin und strich ein letztes Mal über ihr bleiches Gesicht. »Ich kann nicht, As'mala«, stieß er heiser hervor. »Zu viel ist geschehen, und ich muss erst selbst mit mir ins Reine kommen, bevor ich Seiya wiedersehe. Wenn sie wieder erwacht, soll sie sich in einer guten Umgebung zurechtfinden lernen. Bei Menschen, die hei-
ter sind und lachen und die nicht von Schatten der Vergangenheit verfolgt werden.« »Und du denkst, bei mir hat sie es leichter?«, fragte As'mala niedergeschlagen. »As'mala«, sagte er sanft, »du hast so ein großes, warmes Herz. Bei dir kann Seiya Heilung finden – und sie wird wiederum dich lehren, dir selbst zu verzeihen. Was auch immer in deiner Vergangenheit liegt, es ist vorbei. Geh nach Hause und fang neu an. Und solange ich Seiya bei dir weiß …« Ihm brach die Stimme, und er schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen«, schloss er stattdessen. As'mala nickte, ihre Lippen zitterten heftig, und ihre Augen verschwammen. »Aber geh nicht ganz«, sagte sie leise und umarmte den ehemaligen Adepten. »Und nicht zu weit weg, sodass wir dich finden können. Lass es nicht so enden. Eines Tages wollen wir uns wiedersehen, und dann sollte es eine zweite Chance für euch beide geben.« Shanija merkte, dass Mun am Ende seiner Kräfte und Beherrschung war. Stumm umarmte sie ihn und drückte ihn. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihm das Gefühl der Freiheit zu geben, dass er nun ohne Last gehen konnte. »Ich werde nach Burundun gehen. Du findest mich dort. Es ist ein guter Ort, trotz allem. Und das Zentralarchiv braucht dich. Die Menschen brauchen dich, deine Erfahrung und dein Können. Ich weiß, daran glaubst du jetzt nicht, aber behalte meine Worte in Erinnerung, und eines Tages werden sie der Grundstein für einen neuen Anfang sein. Auch du bist ein guter Mensch, und der Tag wird kommen, an dem du wieder Mun Lanaka bist, ein freier Mann. Leb wohl, Freund.« Mun sagte nichts mehr. Er stieg auf einen Lhasa und ritt nach Norden davon. As'mala wandte sich dem Organisator der Helfer aus der Stadt zu. »Wir sind bereit. Danke, dass ihr uns mitnehmt.« »Das ist doch eine Selbstverständlichkeit«, erwiderte er, mit scheuen Seitenblicken zu Shanija. Die meisten Helfer hielten immer wieder inne, um sie anzusehen, waren aber zu schüchtern, sich ihr zu nähern. »Sobald wir in der Stadt sind, werde ich die Weiterreise
nach Zata arrangieren.« As'mala wandte sich Shanija zu. »Ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dich jetzt allein dieser Welt zu überlassen.« »Ich bin nicht allein«, lächelte Shanija. »Kann man wohl sagen«, bemerkte Pong auf ihrer Schulter. »Dich meinte ich eigentlich weniger«, versetzte Shanija. As'malas tiefblaue Augen wurden groß und rund, als sie begriff. »Bei allen Meeresteufeln, das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie umarmte Shanija und klopfte ihr auf den Rücken. »Ein Teil von Darren hat dich also nicht verlassen.« »Das Beste von ihm«, sagte Shanija leise und mehr zu sich selbst. Sie drückte die Freundin ein letztes Mal. »Wir bleiben in Kontakt. Halte mich über Seiya auf dem Laufenden.« »Aber sicher. Ich hoffe, du wirst uns mal besuchen … mit Darren junior. Wird doch ein Junge, oder?« »Ich glaube schon. Ja.« As'mala zwinkerte, und dann lachte sie wieder. In ihrer gewohnten Zuversicht und dem unerschütterlichen Optimismus wandte sie sich nun nach vorn. Sie winkte noch einmal, dann brach sie mit dem Hilfszug nach Lasardaban auf.
Shanija ging zu den Überresten des Gleiters der Sunquest zurück und strich mit den Fingern über ein verbogenes, hochstehendes Metallteil. »Da sind wir also«, sagte Pong. Sie nickte und drehte sich um, als eine Stimme erklang. »Edle Sonnenfrau …« Der Anführer der Karawane, ein hochgewachsener Mensch mit weiten, bunten Gewändern und turbanartiger Kopfbedeckung hatte sich ihr unbemerkt genähert und verneigte sich nun. »Wenn Ihr gestattet, würden wir Euch gern nach Burundun bringen. Es schickt sich nicht für Euch, allein zu reisen. Ihr sollt es vor allem bequem und sicher haben. Meine Karawane ist sehr erfahren, wir kennen alle Wege und haben noch nie Verlust erleiden müssen. Ich habe einen bequemen Reisewagen, den ich bereits für Euch her-
richten lasse, und selbstverständlich auch angemessene Kleidung, und Eure Wunden werden behandelt, Euer Körper gereinigt, und eine reichhaltige Auswahl an Speisen steht Euch zur Verfügung.« Shanija nickte erleichtert. »Sehr gern.« Sie war unendlich müde und wollte nur noch schlafen, so viele Tage und Nächte wie möglich. »Aber ich kann nicht bezahlen.« »Ich bitte Euch!« Entsetzt hob er die Hände. »Es ist das Mindeste, was wir für Euch tun können, nach allem, was Ihr für Less getan habt. Es soll Euch an nichts mangeln, Erlöserin. Und wenn Ihr mir erlaubt, werde ich in Burundun meine Beziehungen spielen lassen, um eine passende Unterkunft für Euch zu finden, und vielleicht etwas, womit Ihr Eure Zukunft gestalten wollt.« »Ich habe unterwegs Zeit, darüber nachzudenken, und Ihr könnt mir bestimmt behilflich sein. Danke für Euer großzügiges Angebot, ich nehme es ebenfalls gern an.« »Dann sind wir uns einig.« Der Mann verneigte sich wieder. »Kharum Mak, zu Euren Diensten, edle Frau.« Das war ein besserer Anfang, als gegen einen wandelnden Müllhaufen antreten zu müssen. Und ein freundlicher Empfang, dem sie sich ohne Vorbehalte anvertrauen würde. »Ich bin Shanija Ran.« »Es ist mir eine Ehre, edle Shanija Ran. Allein Eure Anwesenheit in meiner Karawane wird meine Geschäfte beflügeln und Euren hypothetischen Reisepreis zehnfach vergelten.« »Ich möchte es eigentlich nicht bekannt werden lassen …« »Ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen, edle Frau. Wir alle konnten spüren und sehen, was Ihr getan habt, und Ihr seid uns vertraut, als wärt Ihr ein Teil von Less. Es wird sich herumsprechen. Doch glaubt mir, Ihr werdet nicht behelligt. Ich bin es gewohnt, hochgestellte Persönlichkeiten zu geleiten. Und Ihr werdet feststellen, dass ich an vielen Orten ein angesehener Händler bin.« Shanija überlegte. »Dann kennt Ihr wohl zufällig Earl Hag, guter Mann?« »Wer kennt ihn nicht? Ich mache häufig Geschäfte mit Earl Hag, und auch diesmal führe ich einige seiner Waren mit. Zudem bin ich
bei jedem Aufenthalt in Thel-Ryon zu Gast bei ihm und seiner reizenden Frau Janitha, wie es auch am Ende dieser Reise wieder der Fall sein wird.« »Das ist gut. Denn ich muss Euch eine bedeutende Botschaft an Earl und Janitha Hag anvertrauen. Durch Eure nähere Bekanntschaft zu ihnen denke ich, dass Ihr Vertrauliches überbringen werdet, ohne nach dem Inhalt zu fragen.« Kharum Mak lachte. »Wer würde es wagen, Euer Vertrauen zu missbrauchen?« Bis vor kurzem noch so ziemlich jeder. Allen voran einer. Aber da waren auch Seiya, As'mala und Mun. Es war Zeit, nach vorn zu blicken. Der Untergang war nur knapp abgewendet worden, und Shanija war sicher, dass der Schrecken allen tief in den Knochen saß. Wenigstens für ein Lunarium, da war sie sicher, während der Aufbau begann, würde die Welt ein wenig friedlicher sein. Solange die Psimagie sich nicht regeneriert hatte, und solange die Bewohner eben brauchten, um sich von der Passage zu erholen. Dann würde alles wie gewohnt weitergehen. Vielleicht würde aber doch der eine oder andere sein Leben neu ordnen – und zum Besseren. So konnten sich die Voraussetzungen auf einmal ändern. Zuvor von allen gehetzt, war Shanija nun die verehrte Retterin. Gerade deswegen wollte sie im Trubel von Burundun untertauchen, denn sie wollte so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten. Wo konnte das besser gelingen als in einer quirligen Millionenstadt, in der die meisten darauf erpicht waren, ins Zentralarchiv zu gelangen oder wenigstens an Informationen zu kommen? Etwas in dieser Art wollte sie auch tun; ein Gespräch mit den Bibliothekaren war unerlässlich, und Shanija wusste, dass sie ihren Anspruch durchsetzen würde. Doch alles zu seiner Zeit. Während Kharum Mak alles für die Reise vorbereitete, nahm Shanija ein letztes Mal Abschied von dem kleinen Raumschiff und den Erinnerungen an den Sternenhimmel, der ihr kurzzeitig noch einmal gehört hatte. Ein heftiger Stich im Herzen raubte ihr den Atem, und sie ließ den
Tränen noch einmal freien Lauf. »Leb wohl, Darren, geliebter Mann«, flüsterte sie. Dann glitt ihr Blick zum Himmel. Die totale Finsternis war endgültig vorüber, strahlend gingen Rubin und Arausio unter, und Flavor schickte sich an, ihnen zu folgen. Fathom hing schwer am Rand des violetten Himmels. Ein prachtvoller Abend stand bevor, der erste des Neubeginns, dem Tausende weitere folgen würden. Irgendwo da oben trieb noch ein Stück von Dur durch den Raum, das bei der abrupten Schließung zurückgeblieben war, aber hoffentlich für immer verloren. Es sollte Shanija jetzt nicht mehr kümmern. Diese Geschichte war vorbei. »Wir sind daheim«, sagte Pong und rieb sein Köpfchen an Shanijas Wange. »Sei nicht mehr traurig, Shanija. Du und ich, und bald Klein-Darren, wir haben uns. Das ist doch keine schlechte Voraussetzung, denkst du nicht? Und vielleicht bekommst du noch eine Familie dazu, Earl und Janitha. Sie werden sich bestimmt freuen, Großeltern zu sein. Das wird sie über Darrens Tod hinwegtrösten.« »Ja, vielleicht. Wir werden sehen.« Eine Familie, dachte Shanija. Lichtjahre von der Erde entfernt habe ich endlich eine Familie. Pong, und in ein paar Monaten meinen Sohn, und natürlich As'mala, Seiya und Mun. Wir sind einander auf immer verbunden. Vielleicht eines Tages auch Darrens Eltern. Und diese Welt … mag verrückt sein, aber ich gehöre hierher. Ich glaube, hier habe ich gefunden, was ich immer gesucht habe. Pong flatterte auf, seine rubinroten Augen waren ebenfalls himmelwärts gerichtet. »Glaubst du, dass die Urmutter es schaffen wird? Wird sie den Krieg beenden?« »Ich glaube fest daran«, antwortete Shanija Ran und winkte dem Karawanenführer, der sie mit einladender Geste aufforderte, ihren Platz einzunehmen. Langsam machte sie sich auf den Weg zum Reisewagen, der seiner Größe nach ausreichend Platz bot und innen vermutlich gemütlich eingerichtet war. Aber sie war so müde, dass sie auch auf dem nackten Boden mit einem Stein als Kopfkissen geschlafen hätte. »Vielleicht werden wir es ja erfahren, eines Tages …« ENDE
Vorschau Damit endet der erste Zyklus aus der Welt der drei Sonnen. Die nächste Passage wird es erst wieder in 257.000 Jahren geben, bis dahin ist das System sicher vor dem Wesen aus dem anderen Universum. Doch es sind noch längst nicht alle Fragen geklärt. Sind die Sekten nun zerschlagen, oder werden sie sich wieder neu formieren? Wer ist beispielsweise der geheimnisvolle Corundur, der den globalen Psiblock auslöste? Wird er sich mit dem positiven Ausgang begnügen oder versuchen, daraus Kapital zu schlagen? Wird er Shanija Ran in Frieden leben lassen oder zum Zentrum seiner Intrigen machen? Die wichtigste Frage aber ist: Hat die Urmutter rechtzeitig das Ziel erreicht und den Krieg gegen die Quinternen beendet? Und wenn ja – werden sich alle Quinternen an den Frieden halten, oder muss Shanija Ran befürchten, dass ihre ehemaligen Peiniger noch immer nach ihr suchen? Zehn Jahre werden vergehen, bis sich dieses letzte Rätsel auflösen und seinen tödlichen Schatten über alles werfen wird.
Quinterna So heißt der zweite große Zyklus, der im Frühjahr 2009 seinen Anfang nehmen wird. Ein mächtiger Feind aus der Vergangenheit wird erwachen, und Less wird in Ereignisse hineingezogen, die ihre Auswirkungen weit über das System hinaus haben werden. Das Schicksal der Galaxis wird von Geschwistern entschieden …