REN DHARK
Drakhon Band 17 Terra Nostra
l. Ren Dhark war wie vor den Kopf gestoßen. Mit allem hatte er gerechnet, abe...
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REN DHARK
Drakhon Band 17 Terra Nostra
l. Ren Dhark war wie vor den Kopf gestoßen. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, daß ihm der Checkmaster jemals den Gehorsam verweigern würde. Zwar hatte sich das Steuergehim der POINT OF schon häufig als störrisches Biest erwiesen, doch nie hatte es gegen die Interessen der Menschen gehandelt. Diesmal aber schon - so sah es zumindest aus. Ich wende mich ausschließlich an den Kommandanten. Eine Beeinflussung von außen findet definitiv nicht statt. Aber die Kommando gewalt der Menschen über das Schiff ist nicht länger zu akzeptieren. Die Worte, die der Checkmaster auf Gedankenbasis an ihn gerichtet hatte, und nur an ihn,
klangen wie Hohn in seinem Geist. Mit jedem anderen verweigerte der Superrechner die
Kommunikation. Die Gedankensteuerung funktionierte nicht mehr, und so gut wie alle
Bordfunktionen waren außer Betrieb, soweit sich das nach einer ersten Beurteilung sagen ließ.
Gnädigerweise hielt der Checkmaster die Lebenserhaltung aufrecht, aber alle Roboter an Bord
waren außer Betrieb gesetzt, auch die aus terranischer Produktion.
Gesperrt und deaktiviert, so lautete die lakonische Auskunft, die die Besatzung erhalten hatte.
Nur auf eine Maschine hatte der Checkmaster offenbar keinen Zugriff: Artus, der intelligente
Roboter, der sich verselbständigt hatte, zeigte keinerlei Beeinträchtigung.
»Wir müssen etwas unternehmen, Ren«, forderte Dan Riker ungeduldig. »Du kannst mir sagen,
was du willst, aber Laetus und Nauta halten uns zum Narren.«
»Das denke ich auch.« Leon Bebir, der Zweite Offizier der POINT OF hatte einen derben Fluch
auf den Lippen. »Die tun unschuldig wie die Engel, aber es muß ihnen mit einem Trick gelungen
sein, den Checkmaster unter ihre Kontrolle zu bekommen. Sie lachen sich ins Fäustchen und
drehen uns eine lange Nase.«
Der weißblonde Commander der Planeten schüttelte nachdenklich den Kopf. »Der Checkmaster
behauptet das Gegenteil. Keine Beeinflussung durch Dritte, und ich glaube ihm. Er hat uns nie
wissentlich belogen.«
»Dann ist diese Situation auf seinem Mist gewachsen?« Dharks Freund und Stellvertreter Riker
betrachtete die Instrumente, als könne er sie durch seine bohrenden Blicke reanimieren. Auf sei
nem vorspringenden Kinn hatte sich ein hektischer roter Fleck gebildet, wie so oft, wenn er sich
erregte. Ratlos und ärgerlich zugleich wandte er sich an seine Frau.
»Was ist geschehen, Anja? Alles verlief doch völlig normal. Wieso hat der Checkmaster diesen
plötzlichen Knacks?«
Die Chefmathematikerin zuckte hilflos mit den Achseln. »Um das herausfinden zu können,
müßte ich Kontakt mit ihm haben. Oder zumindest Zugriff auf seine Datenbänke. Aber er läßt ja
niemanden an sich heran. Ich kann nicht mit M-Mathematik jonglieren, wenn nichts zum
Berechnen da ist.«
»Ich bin ebenfalls aufgeschmissen«, mischte sich Arc Doorrn in seiner mürrischen Art ein. Das
sibirische Technikgenie wirkte noch frustrierter als Anja Riker. »Wir haben alles versucht, aber
so stur war nicht mal der verdammte Controllo. Wenn Sie nicht einen Trick aus dem Ärmel
schütteln, sitzen wir hier fest, Dhark.«
Eine unangenehme Vorstellung, zumal die POINT OF von den Robotern der Worgun belagert
wurde. Ren Dhark warf einen Blick zur Bildkugel, die mit ihren 2,68 Metern Durchmesser wie
immer über dem Hauptinstrumentenpult schwebte. Sie hätte den Ring-raumer und die künstlich
erleuchtete Umgebung zeigen müssen, außerdem die Roboter, die das Schiff wie kleine
Trabanten umkreisten. Aber sie war blind. Immerhin unternahmen die Maschinen keinen
weiteren Versuch, ins Schiff einzudringen. Allerdings zogen sie sich auch nicht zurück, obwohl
die beiden Akademiepräsidenten dafür gesorgt hatten, daß sie aus der POINT OF verschwanden.
Nun zogen die Maschinen ihre Kreise, als warteten sie auf neue Befehle.
Auf Befehle vom Checkmaster?
»Wieso hast du die Roboter gerufen?« wandte sich Ren Dhark per Gedankensteuerung an das
Bordgehim. Um die anderen wenigstens von seinem Teil der Konversation nicht auszuschließen,
formulierte er seine Gedankenimpulse laut. »Wolltest du uns von unserem eigenen Raumschiff
fernhalten?«
Dieses Schiff untersteht nicht länger der Menschheit, und dir auch nicht, kam die lapidare
Antwort.
»Ich fordere dich auf, sämtliche Schaltungen wieder freizugeben. Der gegenwärtige taktische
Zustand ist nicht hinnehmbar. Aufgrund seiner Inaktivität befindet sich das Schiff in Gefahr.«
£'5' besteht keine Gefahr. Ich habe die Lage unter Kontrolle, auch wenn du das nicht begreifen
kannst.
Ren versuchte den Checkmaster zu veranlassen, seine Verschalung zu öffnen, hatte aber keinen
Erfolg. Seine gedanklichen Anordnungen wurden einfach ignoriert.
»Dhark, halten Sie uns mal auf dem Laufenden. Was gibt dieses Blechding von sich? Wenn Sie
mich fragen, sollten wir die Konservendose von ihrem Unitallsockel ziehen und in ihre Bestand
teile zerlegen. Glauben Sie mir, ich finde eine Lösung.«
»Ich frage Sie aber nicht, Are.«
Ren versuchte eine Phase zu den beiden unabhängig voneinander arbeitenden Waffensteuerungen
zu schalten. Er kam weder zur WS-Ost noch zur WS-West durch. Auch die Funk-Z gab keinen
Pieps von sich, also war selbst die interne Kommunikation inaktiv. Die POINT OF war
gleichzeitig blind, taub und lahm.
Seine Finger flogen über die Konsolen der Steuerschaltung und der Meßinstrumente, erfolglos.
Ebenso gut hätte er versuchen können, einen Steinblock zu einer Reaktion zu bewegen.
Er hatte einen Verdacht, der ihm nicht gefiel. Wenn er sich nicht inte, waren sämtliche
Bedienungseinrichtungen im gesamten Schiff Makulatur. »Congollon, ab zu Ihren Maschinen.
Versuchen Sie es manuell. Ich will, daß Sie irgendwas in Betrieb nehmen,
ganz egal was.«
»Irgendwas?« fragte der eurasische Chef des Triebwerksteams mit seiner brummenden
Baßstimme.
»Tut mir leid, aber heute bekommen Sie es nicht konkreter. Probieren Sie sämtliche Systeme
durch. Wenn möglich, versuchen Sie Überbrückungen, die vom Hauptrechner unabhängig sind.
Wir wollen nicht starten, aber ich hätte gern eine Option. Wenn Sie nur eines der Systeme zum
Laufen bekommen, wäre uns schon geholfen.« Ren rechnete sich keine Aussicht auf einen Erfolg
aus - tatsächlich wollte er nur eine Bestätigung für seine Vermutung. »Ich erwarte Ihre
Rückmeldung so schnell wie möglich.«
»Verstanden«, brummte Congollon. Die Zweifel in seinen mandelförmigen Augen waren nicht zu
übersehen, aber er sparte sich einen Einwand und stürmte aus der Kommandozentrale.
Erneut wandte sich Dhark dem Instrumentenpult zu und versuchte eine Reihe von Eingaben. Er
hatte den Eindruck, daß sie möglich waren und das Bordgehim erreichten. Es dachte nur nicht
daran, die Befehle umzusetzen.
»Liebe Güte, Ren, nun mach doch mal den Mund auf«, drängte Dan Riker seinen Freund.
»Das mache ich, sobald Miles Congollon wieder hier ist«, antwortete Dhark mit stoischer Ruhe.
Er kontrollierte ein Eingabepult nach dem anderen und versuchte zahlreiche Schaltungen. Nicht
eine brachte den gewünschten Erfolg. Es war zum Verzweifeln, und schließlich gab er seine
fruchtlosen Bemühungen auf.
Er konnte nur hoffen, daß es nicht überall im Schiff so aussah wie in der Zentrale. »Ich würde
gern mehr von der MASOL sehen.«
In Marcus Gurges Nautas Augen strahlte es wie in denen eines kleinen Kindes angesichts eines
festlich geschmückten Weihnachtsbaums. Gemeinsam mit dem zweiten Präsidenten der von
ihnen so bezeichneten Römischen Akademie auf Terra Nostra, Socrates Laetus, stand er in einer
Schleuse der POINT OF unter Bewachung der Cyborgs Amy Stewart, Holger Alsop, Bram Sass
und Jes Yello.
Mit jeder Faser ihrer Erscheinung erinnerten diese Wesen an alte Römer von der Erde. Wenn
auch noch niemand eine Erklärung dafür hatte, schien es sich bei ihnen tatsächlich um Menschen
zu handeln.
»Darüber kann nur Commander Dhark entscheiden«, wehrte die muskulöse, schlanke Frau ab.
Sie war der erste weibliche Cyborg. »Vorerst einmal bleiben Sie hier. Der weitere Verlauf der
Dinge dort draußen wird ergeben, was mit Ihnen geschieht.«
»Ich betone noch einmal, daß unser Volk mit dem Aufmarsch dieser Roboter nichts zu tun hat.
Mich würde selbst interessieren, was in die Maschinen gefahren ist.«
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß sie aus eigener Initiative handelten.«
»Dazu sind sie aufgrund ihrer Programmierung nicht in der Lage. Trotzdem sind wir
unschuldig.« Laetus deutete zu seinem Handgelenk. »Erinnern Sie sich, daß wir den Robotern mit
unseren Impulsgebern den Rückzug befohlen haben?«
»Was nicht heißt, daß Sie sie nicht zuvor ins Schiff geschickt haben, um es unter Ihre Kontrolle
zu bekommen.«
»Der Autonomrechner der MASOL trägt die Verantwortung«, warf Nauta ungehalten ein.
»Stellen Sie ihn zur Rede.«
»Das wird sich noch klären, doch das ist Aufgabe des Kommandanten.«
»Eine Einstellung, die ich verstehen kann«, antwortete Laetus. »Schließlich ist Dominus Dhark der Kommandant der MASOL, und Sie sind nur eine Frau.« Stewart warf ihm einen zornigen Blick zu. »Gewöhnen Sie sich endlich daran, daß dieses Schiff POINT OF heißt«, zischte sie angriffslustig. »So lange Sie unsere Gäste sind, sollten Sie sich in manchen Dingen eine andere Einstellung angewöhnen«, mischte sich Alsop, der erste Allround-Cyborg ein, um einen möglichen Streit im Keim zu ersticken. »In Ihrer Gesellschaft mögen die Frauen ausschließlich für Heim und Familie zuständig sein, bei uns sind sie in jedem Bereich des Lebens gleichberechtigt.« »Es liegt mir fern, diese Tatsache zu kritisieren. Dennoch wundert mich, daß eine Frau gleichberechtigt zu den Kämpfern gehört. Bei uns ist das unvorstellbar.« »Sie sind überholte Patriarchen«, bemerkte Amy verächtlich. »Völlig aus der Mode gekommen und der Zeit hinterher. Die Abgeschiedenheit auf Ihrer Welt hatte nicht nur Vorteile. Fehlende Vergleichsmöglichkeiten verhinderten eine zunehmende Toleranz. Sie haben sich keineswegs in allen Belangen weiterentwickelt.« »Sie verstehen uns falsch. Wir sorgen uns um unsere Frauen. Sie brauchen nicht zu kämpfen, denn sie könnten sich verletzen.« Fassungslos schüttelte Stewart den Kopf. »Ich habe ein Recht zu kämpfen, und ich habe ein Recht, mich zu verletzen.« »Aber das ist bar jeglicher Logik.« Nun war es an Nauta, Unverständnis zu zeigen. »Von Natur aus sind Frauen das schwächere Geschlecht, die Geschichte hat es immer bewiesen. Sie hat dem Mann die Rolle zugedacht, seine Frau zu beschützen.« »Sie haben zweitausend Jahre verschlafen. Ich kann Ihnen nicht mal einen Vorwurf aus Ihrer Ignoranz machen.« Jes Yello legte dem weiblichen Cyborg beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, dem Commander ist nicht an einem Konflikt gelegen. Er hat andere Sorgen.« Die blonde Frau wandte sich ab. »Schon gut, aber dann sollten wir das Thema wechseln. Meine Intelligenz verbietet mir nämlich, diese Machosprüche widerspruchslos hinzunehmen.« »Dann tun wir das doch«, entgegnete der Cyborg der zweiten Serie vergnügt. »Wenn die Herren Akademiepräsidenten nichts dagegenhaben.« »Wir stimmen dem zu«, sagte Laetus. »Wir sind Ihre Freunde, keine Gegner. Aber wir lassen uns nicht in unsere Überzeugung reden.« »Niemand will das. Doch akzeptieren Sie bitte auch, daß Amy Stewart ebenfalls eine eigene Überzeugung hat.« Er lächelte verbindlich. »Und vergessen Sie nicht, daß Sie Gefangene dieser Frau sind.« »Noch etwas. Ich besitze zwar kein Schwert, um Sie zum Zweikampf herauszufordern, aber ich habe auch keine Hemmungen, dies gegen Sie einzusetzen.« Die Cyborg-Frau wedelte demonstra tiv mit ihrem Paraschocker. »Schon gut, Amy«, mischte sich Bram Sass ein. »Jes hat die Fronten geklärt, unsere Gäste werden sich daran halten, und Sie ebenfalls.«
»Wieso stellst du dich gegen uns?« bohrte Ren Dhark weiter. Ihm wäre lieber gewesen, der Checkmaster hätte sich auf einer normalen Diskussionsebene mit ihm unterhalten. Dann hätten die in der Schiffszentrale Versammelten die Unterhaltung mitverfolgen können. Doch da das Steuergehirn die verbale Kommunikation verweigerte, blieben die Menschen im Ungewissen. Ich stelle mich nicht gegen euch, entgegnete der Checkmaster stumm. Doch es ist eine neue Situation eingetreten. Die Fakten, die mich zu handeln veranlassen, haben sich geändert. »Ich kann keine Veränderung der Lage erkennen.« Dennoch ist sie gegeben, und mir bleibt keine andere Wahl, als meiner Grundprogrammierung zu folgen. Die kryptischen Andeutungen gingen Ren auf die Nerven, aber sie waren nichts Neues beim Checkmaster. Häufig in der Vergangenheit hatte er seinen eigenen »Willen« durchgesetzt. Dennoch hatte die Besatzung sich immer auf ihn verlassen können. Zwar hatte er auch in der Anfangszeit der Benutzung der POINT OF durch die Menschen zuweilen selbständig agiert, aber das war geschehen, weil die neue Besatzung sich damals noch nicht so gut mit den Schiffssystemen auskannte. Es hatte sich also um reinen Selbstschutz gehandelt. Das war jetzt anders. »Du beziehst dich auf unsere Anwesenheit auf diesem Planeten?« Eine Weile verging, in der der Checkmaster schwieg. Ren fürchtete sich vor dem Moment, in dem das Steuergehirn ihm ebenfalls die Kommunikation verweigern würde. Wenn es sich von
Kapazitäten wie Arc Doorrn und Anja Riker nicht beikommen ließ, gab es dann nämlich überhaupt keine Möglichkeit mehr, an Informationen über seine Beweggründe zu kommen. Es war stets meine Aufgabe, jedem Humanoiden oder Worgun zu helfen, der mich findet, sofern dessen Befehle den Interessen der Worgun nicht widersprechen, meldete sich der Checkmaster schließlich doch wieder. Doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Meine Aufgabe sollte enden, wenn der Einflußbereich der Worgun erreicht ist. Das ist nun geschehen, daher fühle ich mich den Menschen aufgrund meiner Programmierung nicht mehr verpflichtet. Genaugenommen würde ich sogar dagegen verstoßen, wenn ich deine Anweisungen weiter annähme. »Du irrst dich. Wir befinden uns nicht im Einflußbereich der Worgun. Bis auf Gisol bist du noch auf keinen Vertreter deiner Schöpfer gestoßen, aber Gisol ist nicht interessiert an dir und der POINT OF.« Ich muß dich darauf hinweisen, daß du derjenige bist, der sich im Irrtum befindet. Seit Erreichen des Gasnebels Gardas haben sich die Bedingungen geändert. »Aber hier leben nur Römer«, beharrte der Commander der Planeten. »Sie sind direkte Nachfahren von Menschen, aber keine Worgun.« Diese Tatsache ist mir bewußt. Aber ohne daß du es merkst, konstruierst du einen Widerspruch, den ich nicht akzeptieren kann. Selbst wenn ich wollte, ließe meine Programmierung mir in die sem Fall keinen Entscheidungsspielraum. Die Römer auf Terra 14 Nostra handeln im unmittelbaren Interesse der Worgun. Eine Interpretation aufgrund ihrer historischen Entwicklung könnte sogar lauten, daß sie deren legitime Stellvertreter sind, zumindest so lange, bis ich auf meine Erbauer treffe. »Was sagt dieser Kasten?« polterte Arc Doorrn. Ren schreckte hoch und sah in das stoppelbärtige Boxergesicht des Technikgenies. Doorn war anzumerken, wie sehr ihn die Tatsache wurmte, daß selbst er mit seinem phänomenalen Gespür für und Einfühlungsvermögen in fremde Technologien hilflos war. Aber der Checkmaster war nun mal eine Klasse für sich, besonders wenn man berücksichtigte, daß ihm eine biologische Komponente nachgesagt wurde. »Er hat auf stur geschaltet.« Ren war nahe daran zu verzweifeln. Er sah in die Gesichter seiner Vertrauten und erkannte deutlich, daß niemand eine Idee hatte, wie dem Problem beizukommen war. Wenn jemand eine Lösung finden konnte, dann er allein. Alle anderen befand das Steuergehirn nicht einmal einer Antwort für würdig. »Ich dachte immer, wir beide vertrauen uns«, nahm er die stumme Unterhaltung wieder auf. Ich habe dir jederzeit vertraut, verriet der Checkmaster. Ich habe auch immer gern für dich gearbeitet, denn ich sehe in dir einen Geistesverwandten der Worgun. Ich weiß, daß manche von euch Menschen mir Gefühle nachsagen. Wenn dem so wäre, würde ich sagen, daß ich dich sympathisch finde. Aber es geht nicht um Gefühle, sondern darum, logische Entscheidungen zu treffen. Das tue ich, und deine Argumentation kann mich davon nicht abbringen. Das saß. Dhark hatte das Gefühl, daß der Checkmaster ihm eine schallende Ohrfeige verabreicht hatte. »Ich frage dich noch einmal. Hast du die Roboter an Bord beordert? Es ist wichtig, daß du in diesem Punkt absolut ehrlich bist. Ansonsten muß ich nämlich von einem feindlichen Akt der Be wohner von Terra Nostra ausgehen. Wir können uns keine zusätzlichen Verwicklungen erlauben.« Ich war immer ehrlich zu dir, so auch diesmal. Du hast den Römern nichts vorzuwerfen. Sie haben mit dem Aufmarsch der Roboter nichts zu tun, Wenigstens das war geklärt. Ren zweifelte in der Tat nicht an der Aussage des Checkmasters.
»Eine Nachricht an Lad Oshuta überbringen. Das Eindringen der Roboter geht nicht auf das
Konto der Römer. Ich möchte unterschwellige Unterstellungen vermeiden, die zu weiteren
Mißverständnissen führen könnten.«
Er sah auf, als Miles Congollon die Zentrale betrat. Er machte einen geknickten Eindruck.
»Nichts zu machen. Wir haben den halben Maschinenraum umgeschaltet. Wüßte ich es nicht
besser, würde ich denken, wir seien ertobit. Nichts, aber auch gar nichts läßt sich mehr schalten.«
»Sag ich doch«, warf Arc Doorrn mürrisch ein. »Aber auf mich hört ja keiner. Ich werde eine
Taschenlampe mitnehmen, wenn ich das nächste Mal aufs Klo gehe.«
»Tut mir wirklich leid, Commander, daß ich nicht mit besseren Neuigkeiten komme.«
Der sportliche, breitschultrige Kommandant der POINT OF nickte bedächtig. »Machen Sie sich
keine Vorwürfe, Miles, ich habe nichts anderes erwartet.«
»Auf diese Bestätigung haben Sie gewartet, Dhark, und mir ist auch klar, worauf Sie
hinauswollen.« Doorns grobes Gesicht hatte sich rot verfärbt, seine Augen funkelten. »Wir
könnten durchs ganze Schiff laufen und jeden einzelnen der ichweißnichtwieviel-tausend Schalter
umlegen. Erreichen würden wir nichts.«
»Vollkommen richtig. Weil sie nämlich ausschließlich für Notfälle gedacht sind«, erklärte Ren. »Mit anderen Worten, für den Ausfall des Checkmasters. Prinzipiell können nur solche Schaltun gen ausgeführt werden, die er zuläßt. Er hätte uns jederzeit in den vergangenen Jahren vollständig blockieren können, wenn er das gewollt hätte.« »Was er zuweilen ja auch getan hat«, warf Hen Falluta ein. »Aber immer nur partiell. Seine Eingriffe beziehungsweise seine Unterlassungen betrafen stets nur spezielle Bereiche oder Tätigkeiten, aber sie waren niemals umfassend. Aber genau dazu ist er offenbar in der Lage. Wenn er die Schalter blockiert, geht gar nichts mehr.« »So wie in diesem Fall«, schloß Gisol in der Gestalt von Jim Smith, der sich bisher vornehm zurückgehalten hatte. »Hast du eine Erklärung dafür?« fragte ihn Ren. »Da muß ich passen. Ich kann nur mutmaßen, daß das Schiff für völlige Autarkie konstruiert wurde. Auf meiner EPOY sieht das etwas anders aus, sie braucht zumindest mich als ihren Bediener. Aber wir alle wissen ja, daß Margun und Sola beim Bau der POINT OF besondere Maßstäbe anlegten.« »Jedenfalls sind diese Überlegungen im Moment akademisch«, unterbrach der Sibirier. »Die Gretchenfrage ist doch, wie wir unsere Schönheit aus ihrem Domröschenschlaf aufwecken.« Doch wie es schien, scheiterte alles an genau dieser Frage. Denn der Checkmaster schwieg.
Noch immer kreisten die Roboter um die POINT OF. Von der Schleuse aus konnte man sie sehen, ohne auf die abgeschaltete Bildbeobachtung angewiesen zu sein. Die Maschinen verhielten sich passiv, aber es gab keine Garantie, daß sie ihre Taktik nicht plötzlich änderten und angriffen. Womöglich hielt sie lediglich die Tatsache, daß Nauta und Laetus Gefangene der Menschen waren, von einem neuerlichen Vorstoß ins Schiffsinnere ab. Für den Fall der Fälle waren Doppel streifen ausgeschleust worden, um den Ringraumer in alle Richtungen zu sichern. Die Cyborgs, die nicht mit der Bewachung der Akademiepräsidenten be treut waren, liefen Patrouille. »Wie sollen wir Ihnen nur klarmachen, daß wir nicht Ihre Feinde sind?« fragte Laetus verzweifelt. »Von Anfang an betrachteten wir Sie als Freunde und willkommene Gäste, und daran hat sich nichts geändert. Ich kann Sie nur inständig bitten, den kleinen Zwischenfall mit den Robotern zu vergessen.« »Den kleinen Zwischenfall?« echote Bram Sass. »Nett ausgedrückt. Wenn wir nicht dazwischengekommen wären, hätten sie vielleicht die POINT OF übernommen.« »Wir sind dazwischengekommen«, korrigierte Nauta. »Aber wir haben die Roboter nicht geschickt.« »Das stimmt.« Alle Versammelten drehten sich um, als Lad Os-huta die Schleuse betrat. »Der Commander hat es eben bestätigt. Nach gegenwärtigen Erkenntnissen hat das der Checkmaster veranlaßt.« »Aber wieso?« »Die Gründe stehen auf einem anderen Blatt, aber wir haben es Ihnen von Anfang an gesagt«, bekräftigte Socrates Laetus. »Dennoch können wir Ihnen Ihr Mißtrauen nicht verdenken. In Ihrer Lage hätten wir vermutlich ähnlich reagiert.« »Ich frage mich, was mit diesem Kasten los ist«, überlegte Bram Sass. »Wenn ihr mich fragt, dürfen wir dem in Zukunft nicht mehr über den Weg trauen. Om. Die Worgun. Dazu die ständige Nähe dieses Gisol. Der Kasten interessiert sich nicht mehr für uns. Der steckt jetzt wieder in seiner guten alten Zeit. Vermutlich hatte er nie etwas anderes in seinen Innereien, und wir waren für ihn nur Mittel zu dem Zweck, sein Ziel zu erreichen. Das steht ihm nun unmittelbar bevor.« »Oder auch nicht.« Amy Stewart wandte sich an die beiden Römer. »Haben Sie eine Erklärung für das Verhalten des Checkmasters?« »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie uns zu Rate ziehen, Domina Stewart.« Marcus Gurges Nauta verbeugte sich und betonte die letzten zwei Worte besonders intensiv. Er richtete sich wieder auf und rückte seine Toga zurecht. »Ich versichere Ihnen noch einmal, daß wir Ihnen gern helfen würden.« 18 »Dann machen Sie einen Vorschlag.« »Dazu brauchen wir Zugriff auf den Autonomrechner. Wir müssen mit ihm reden, aber hier sind uns die Hände gebunden. Eine Femdiagnose ist leider nicht möglich.« »Mit anderen Worten, Sie wollen in die Kommandozentrale«, folgerte der in Tokio geborene Oshuta. »Ich halte das für eine schlechte Idee. Commander Dhark und die Offiziere haben dort
auch ohne Sie genug Probleme.«
»Mit uns aber vielleicht ein paar weniger.«
»Ein Einwand, der etwas für sich hat«, fand Jes Yello. »Es gibt keinen Anlaß mehr, die
Akademiepräsidenten länger hier festzusetzen.«
»Es gibt auch keinen Befehl des Commanders, etwas anderes zu tun.«
»Wir kennen uns mit den Ringraumschiffen aus, viel länger als Sie das tun«, drängte Laetus.
»Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, Einfluß auf den Autonomrechner zu erlangen.«
»Sie betonen ständig, daß die POINT OF nicht mit anderen Ringraumem vergleichbar ist. Da
haben Sie recht, und am gravierendsten trifft das auf den Checkmaster zu. Angeblich steckt etwas
von Margun und Sola in ihm. Warum sollte er ausgerechnet Sie an sich heran lassen, wenn er
selbst dem Commander, den er schon lange kennt, den Gehorsam verweigert? Sie kennt er ja
nicht mal.«
»Nauta und ich hatten viel mit Rechengehirnen aller Art zu tun. Selbst wenn wir nichts erreichen,
hat sich die Lage nicht verändert. Schlimmer als sie ist, kann sie jedenfalls nicht werden.«
»Wir haben unzählige Problemanalysen bei Hyperkalkulatoren durchgeführt«, schlug Nauta in
dieselbe Kerbe. »Ich bin sicher, daß wir Dominus Dhark bei diesem Problem helfen können.«
Lati Oshuta beobachtete die beiden Römer aufmerksam. Sie gaben sich völlig unverdächtig, aber
irgend etwas an ihrer Haltung verunsicherte ihn. Er hatte nicht den Eindruck, daß sie logen.
Ebenfalls war er der festen Überzeugung, daß sie tatsächlich helfen wollten. Doch es war kein
Hilfsangebot, wie es die meisten y-.
anderen abgegeben hätten. Bei diesen beiden Männern war es etwas ganz anderes. So als wüßten
sie genau, was sie zu tun hatten. Doch woher hätten sie das wissen sollen? Natürlich hatten sie in
nerhalb ihrer Gesellschaft eine exponierte Stellung, vergleichbar vielleicht nur noch mit dem
Vorsitzenden des Senats.
Er war beinahe versucht, auf sein Zweites System zu wechseln, um die störenden Zweifel
auszuschalten. Doch Oshuta war sicher, sich nicht zu irren. Nauta und Laetus wußten mehr, als
sie zugaben, und sie waren mehr, als sie zu sein schienen.
»Was meint ihr?« wandte er sich an seine Kameraden.
»Ich schließe mich den Worten der Herren Präsidenten an«, antwortete Yello. »Ein Versuch kann
nichts schaden. Was haben wir schon zu verlieren?«
»Ich stimme zu«, sagte Amy Stewart. »Zumindest in dieser Hinsicht machen sie einen
verläßlichen Eindruck.«
Bram Sass nickte, und Holger Alsop hob die Hände. »Wenn der Commander sagt, daß es keine
Vorbehalte mehr gegen unsere Gäste gibt, werde ich den Teufel tun und etwas anderes
behaupten.«
»Dann ist das entschieden. Sollte es Ärger deswegen geben, nehme ich die Sache auf meine
Kappe«, beschloß Lati Oshuta. »Amy, bringen Sie unsere Gäste in die Zentrale?«
Während Stewart sich mit den Römern auf den Weg machte, setzten die restlichen Cyborgs ihre
Wache in der Schleuse und rings um das Schiff fort.
2. »Ich habe ausdrücklichen Befehl gegeben, sie nicht in die Zentrale zu lassen.« Der Commander
der Planeten hatte Mühe, seine Verärgerung zu unterdrücken. »Darüber reden wir noch.«
»Wenn Sie jemandem einen Vorwurf machen, Dominus Dhark, dann meinem Freund und
Kollegen Socrates und mir«, beeilte sich Nauta zu sagen. »Wir haben Ihre Cyborgs überzeugt,
uns herzubringen.«
»Zunächst einmal wollen wir uns umsehen«, bemerkte Laetus mit leuchtenden Augen.
»Außerdem möchten wir Ihnen natürlich helfen. Wie wir bereits in unserem Gästequartier
darlegten, fühlen wir uns dazu durchaus in der Lage.«
Ren Dhark überhörte die kleine Spitze. Die Akademiepräsidenten benahmen sich wie Alice im
Wunderland. Kein Wunder, dieses Schiff war eben legendär, auch bei den Menschen von Terra
Nostra. Allmählich beruhigte er sich. Schließlich hatte er selbst festgestellt, daß Nauta und Laetus
nichts getan hatten, was er ihnen vorwerfen konnte. Tatsächlich hatten sie sich wie alle Römer
dieser Welt als perfekte Gastgeber erwiesen.
»Ein wunderbares Schiff«, staunte Socrates Laetus. »Mein Leben lang habe ich davon geträumt,
es einmal zu betreten. Ich kann Ihnen gar nicht genug für diese Gunst danken.«
Ren konnte seine Worte nachvollziehen. Schließlich war es ihm kein bißchen anders gegangen,
als er die POINT OF zum ersten Mal betreten hatte. Die Faszination hatte ihn schier überwältigt.
Wenn er ehrlich war, hatte sich dieses Gefühl bis heute nicht geändert. Er erkannte das jedesmal,
wenn er den Ringraumer nach ein paar Tagen oder gar Wochen der Abwesenheit zum ersten Mal
wieder betrat. Er zuckte mit den Achseln. So oft war er ohnehin nicht von Bord, Landurlaub war
ihm quasi ein Fremdwort.
»Nun sehen Sie es«, warf Dan Riker ein. Auch ihm behagte die Anwesenheit der Römer nicht. Er war überzeugt, daß sie etwas im Schilde führten. »Wie wollen Sie uns helfen?« 21 »Es muß uns gelingen, auf den Autonomrechner einzuwirken.« »Meinen Sie, auf die Idee sind wir nicht selbst gekommen? Wir haben es auf dem herkömmlichen Weg versucht und via Gedankensteuerung. Es gibt keinen Defekt. Der Checkmaster registriert die Befehle sehr wohl, er weigert sich nur, sie umzusetzen. Er hat mir erklärt, daß er sich uns nicht mehr verpflichtet fühlt«, ergänzte Dhark. »Er betrachtet seine Aufgabe als beendet, weil er den Einflußbereich der Worgun erreicht hat.« Er erklärte seinen Gästen das ganze Dilemma. Nauta ging nachdenklich zu den Kontrollen des Checkmasters hinüber. »Nur ansehen«, polterte Arc Doorrn respektlos. »Nichts anfassen, sonst haben wir nachher wieder den Salat.« »Dann sehe ich nur eine Möglichkeit. Vielleicht ändert der Rechner seine Meinung wieder, wenn sie Orn verlassen«, überlegte Laetus. »Können vor Lachen. Die POINT OF bewegt sich kein Stück. Außerdem ist das keine dauerhafte Lösung. Bei nächster Gelegenheit verweigert er sich dann wieder.« »Wir können schon von Glück sagen, daß er bisher nicht auf die Idee gekommen ist, uns aus dem Schiff zu verweisen. Aber das kommt wahrscheinlich als nächstes.« Bevor jemand reagieren konnte, sprang Dan Riker zu Nauta. »Doorn hat Ihnen doch gesagt, Sie sollen nichts anfassen. Wo habt ihr eure Augen, Ren? Nauta hat hinter unserem Rücken irgendeine Schaltung vorgenommen, aber frage mich nicht welche. Ich plädiere dafür, ihn und Laetus augenblicklich aus dem Schiff zu führen.« Dhark sah den Römer scharf an, dann betrachtete er die Checkmasterkontrollen. Er konnte ebenfalls nicht feststeilen, was Nauta getan hatte. »Sieht alles aus wie immer, aber das hat nichts zu sagen. Ich erwarte eine Erklärung, Nauta, und zwar eine glaubhafte. Andernfalls muß ich mich Rikers Meinung anschließen.« »Seien Sie unbesorgt. Ich habe keinen Schaden angerichtet«, 22
versicherte der Akademiepräsident. »Ganz im Gegenteil. Nun, da Socrates und ich über den
Stand der Dinge informiert sind, können wir endlich etwas unternehmen.«
Ren blieb skeptisch. »Ich will wissen, was Sie getan haben.«
»Ich habe lediglich ein paar Tests durchgeführt und weiß jetzt, wo das Problem liegt.«
»Das können Sie erzählen, wem Sie wollen«, fuhr Arc Doorrn dazwischen. »Sie wollen uns doch
nicht weismachen, daß Sie durch Handauflegen erfahren haben, warum der Checkmaster spinnt.
Oder können Sie Gedanken lesen?«
»Ich redete von Tests.«
»Das müssen aber kurze Tests gewesen sein.«
»So ist es in der Tat. Aber sie waren ausreichend.« Dann sprudelte eine ellenlange Kette
komplizierter Formeln aus ihm heraus.
Ren starrte ihn an. Er hatte sofort erkannt, worum es sich dabei handelte. Um M-Mathematik.
Oder W-Mathematik, wie es neuerdings hieß.
Dan Riker wandte sich an seine Frau. »Hast du das begriffen, Anja?« fragte er ratlos.
Die schlanke Chefmathematikerin legte die Stirn in Falten. »Mysterious-Formeln, unheimlich
komplex. Ich bin Qiir nicht sicher, was sie aussagen.«
»Sie stellen eine Überbrückung dar«, erklärte der Römer. »Mit ihnen ist die
Ursprungsprogrammierung des Autonomrechners zu umgehen.«
»Woher haben Sie dieses Wissen?« fragte Gisol.
»Das gehört zum Lehrprogramm über Hyperkalkulatoren, aber das ist eigentlich zweitrangig.
Wichtig für Sie ist ausschließlich, daß es Ihnen bei Ihren Problemen hilft.«
»Ich muß sie durchsehen.« Anja Riker ließ sich die Formeln ftoch einmal geben und untersuchte
sie akribisch. Doch obwohl sie die größte menschliche Kapazität für W-Mathematik war, kam sie
zu keinem befriedigenden Ergebnis. »Die Formeln übertreffen altes, mit dem wir bisher zu tun
hatten. Mehrere Algorithmen sind
23
mir völlig unbekannt. Wenn ihr mich fragt, bleibt uns nichts anderes übrig, als sie
auszuprobieren.«
»Ich muß energisch widersprechen.« In Amy Stewarts Augen funkelte es angriffslustig.
»Vielleicht stellen diese Formeln auch ein trojanisches Pferd dar. Wir haben keine Ahnung, was
sie bedeuten. Wer weiß, was passiert, wenn wir den Checkmaster damit füttern.« »Er wird seine Arbeit wieder aufnehmen.« »Denken Sie, wir wollen der MASOL Schaden zufügen?« ereiferte sich Laetus. »Uns geht es darum, sie endlich in Aktion zu erleben. Wir haben das gleiche Anliegen wie Sie.« »Vielleicht ist das ein Trick, mit dem Sie das Schiff unter Ihre Kontrolle bringen?« »Aber wie soll uns das gelingen? Wir sind doch in Ihrer Hand. Es ist bedauerlich, daß Sie uns noch immer für Feinde halten.« »Niemand tut das, Laetus. Trotzdem müssen Sie unsere Zweifel verstehen«, sagte Dhark. »Nauta hätte etwas sagen sollen, statt sich einfach an den Kontrollen zu schaffen zu machen. Anja, wenn du ein ungutes Gefühl bei den Formeln hast, werden wir sie nicht verwenden. Aber ich gebe zu bedenken, daß sie zur Zeit unsere einzige Chance sind.« »Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, daß ich keine offensichtlichen Fehler entdecke. Im Zusammenhang erscheint mir die Struktur der Formeln logisch. Mit mehr kann ich leider nicht dienen.« »Schlimmer als jetzt kann es kaum werden«, überlegte der Sibirier. »Vielleicht haben wir ja mal Glück. Wenn es schiefgeht, füttere ich den Checkmaster eigenhändig mit unseren Gästen.« Da er keine Alternative hatte, gab Ren Dhark die Formeln schließlich am Checkmasterkontrollpult ein. In der Zentrale machte sich banges Schweigen breit. Laetus und Nauta standen starr und stumm da, als seien sie ihre eigenen marmornen Statuen. »Energieanstieg im gesamten Schiff!« durchbrach plötzlich Arc Doorrns Stimme die Stille. »Es klappt tatsächlich.« 24
»Phasen zu den einzelnen Sektionen!« befahl Ren. »Ich wünsche Rückmeldung von allen
Stationen über Betriebsbereitschaft.«
Sie ließen sich problemlos schalten. Walt Brugg von der Funk-Z meldete sich mit grinsendem
Gesicht. Dann waren die beiden Waffenstationen in der Phase.
»Ortung funktioniert wieder«, stellte Tino Grappa von seinen Kontrollen her fest. »Sieht aus, als
ob wir wieder alle Fäden in der Hand halten.«
So ganz wollte der Kommandant dem Frieden noch nicht trauen. »Checkmaster, Status!«
»Energieversorgung läuft. Alle Systeme arbeiten einwandfrei. Ich stehe der Besatzung wieder
voll und ganz zur Verfügung.«
Ren atmete erleichtert auf. Der Checkmaster reagierte wieder auf Ansprache. Also war die
Blockade wirklich beendet.
»Einfach so?« Arc Doorrn wollte es nicht glauben. »Ich finde, du schuldest uns eine Erklärung.«
»Negativ.«
»Negativ? Ich will dir mal was sagen. Du hast uns vollkommen aufs Trockene gesetzt, und
plötzlich ist alles wieder in Ordnung. Ich möchte wissen, warum.«
»Ich verstehe die Aufregung nicht«, erwiderte das Steuergehim. »Alles ist wie immer, nichts ist
geschehen.«
»Nichts ist geschehen?« Der Sibirier sah aus, als würde er jeden Moment in die Konsolen beißen.
»Dhark, versuchen Sie es mal, vielleicht haben sie mehr Glück bei diesem Schrotthaufen.«
»Warum hast du das Schiff blockiert?« wandte sich der Com-mander an das Steuergehim. Auch
er wollte eine Erklärung, und er war sicher, daß der Checkmaster einen triftigen Grund für seine
Handlungsweise hatte. »Deine Aussage, nichts sei geschehen, ist unzutreffend. Du willst doch
wohl nicht sagen, du könntest dich an nichts erinnern.«
»Negativ. Bordroutine im Maschinenbereich ist wieder initiiert. Was vorbei ist, ist vorbei.«
»Das sind verdammte Ausflüchte«, fluchte Dan Riker. »Der
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Checkmaster denkt überhaupt nicht daran, uns eine Erklärung zu geben.«
»Wieso unterstellst du dich plötzlich wieder meinem Kommando?« wagte Ren einen letzten
Versuch. »Und das, nachdem du unsere Zusammenarbeit aufgekündigt hast. Haben sich
irgendwelche Voraussetzungen geändert? Sind die eingegebenen Befehlsket-. ten dafür
verantwortlich?«
Der Checkmaster schwieg.
Ren zuckte mit den Achseln. »Ich gebe es auf.« Forschend blickte er Anja Riker an.
Die schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich habe diese Formeln noch einmal unter die Lupe
genommen, ergebnislos. Ich kann nicht wirklich erkennen, was sie bewirken. Tut mir leid, aber
ich verstehe sie einfach nicht.«
Nauta trat neben Arc Doorrn. »Darf ich nun darauf hoffen, daß Laetus und ich nicht an den
Autonomrechner verfüttert werden?«
»Ganz im Gegenteil«, beeilte sich Ren zu sagen. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.
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Trotzdem wüßte ich gern, was die eingegebenen Daten bewirkten.« »Wir sagten es bereits. Sie veranlaßten eine Umgehung des Ursprungsprogramms. Uns stehen
ausgezeichnete Quellen zur Verfügung, doch ich bin zumindest vorerst nicht befugt, sie Ihnen zu
nennen.«
»Dann wollen wir nur hoffen, daß der Checkmaster es sich nicht wieder anders überlegt«,
bemerkte Arc Doorrn.
»Commander, hier draußen geht es gleich richtig rund!« Es war Lati Oshuta, der sich von
außerhalb der POINT OF meldete.
Der Kommandant reagierte sofort. »Außenüberwachung einschalten. Ich will wissen, was da los
ist.«
Der Checkmaster reagierte in der gleichen Sekunde. Die Bildkugel zeigte in gestochen scharfen
Bildern den Grund für den Alarm
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des Cyborgs. Rund um das Schiff fuhr eine hochgerüstete Armee auf.
»Das fehlt uns gerade noch«, entfuhr es Dan Riker. Er nickte Amy Stewart zu. »Achten Sie bitte
auf unsere Gäste. Ich will nicht, daß sie uns ausgerechnet jetzt wieder verlassen.«
Der Gedanke, die beiden Akademiepräsidenten als Geiseln zu benutzen, behagte Ren Dhark
nicht. Doch er verdrängte den Gedanken. So rasch wie sich die Lage erneut geändert hatte,
mußten sie jeden Trumpf aufbewahren, den sie hatten. Was noch lange nicht bedeutete, daß sie
ihn auch einsetzen würden, wenn es sich vermeiden ließ.
»Keine Aufregung, Lati. Begeben Sie sich mit den anderen Cyborgs in Deckung, aber behalten
Sie den Raumhafen weiter unter Beobachtung. Laetus, haben Sie eine Erklärung für die Vor
gänge?«
»Tut mir leid, aber ich bin so ratlos wie Sie, Dominus Dhark. Wenn Sie einen Kontakt herstellen
lassen, werde ich nachfragen, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hat.«
Ren dachte kurz nach. Er konnte sich den Grund denken, aber dann handelte es sich einmal mehr
um ein Mißverständnis. Ob die Römer ihm das aber glauben würden, war eine andere Frage. »Ich
komme darauf zurück, wenn mir keine andere Lösung einfällt.«
Am Rand des Landefelds fuhren gepanzerte Gleiter mit starker Bewaffnung auf.
»Fühlen Sie sich direkt bedroht, Lati?«
»Nein, Commander. Die Römer beziehen zwar Stellung, rücken aber nicht weiter vor«,
informierte ihn Oshuta. »Keine Ahnung, was die vorhaben. Darf ich einen Vorschlag machen,
Sir? Da sämtliche Systeme wieder funktionieren, sollten Sie das Intervallfeld einschalten.«
»Gute Idee«, fand Doorn. »Langsam ist mir das nämlich nicht mehr ganz geheuer. Wir haben
eine echte Glückssträhne. Erst der versponnene Checkmaster, und jetzt das.«
»Noch nicht«, entschied Dhark. »Das Intervallum könnte pro
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vozierend wirken, das will ich auf jeden Fall venneiden. So lange wir nicht wissen, was sie wollen, warten wir ab.« »Ringraumer!« ertönte die besorgte Stimme des Cyborgs. Die Bildkugel lieferte die optische Bestätigung. Mehrere der römischen Ringraumer, die mit ihren 190 Metern Durchmesser etwas größer waren als die POINT OF, waren am Himmel erschienen und näherten sich dem Landeplatz. Sie kamen rasch näher, bis sie über der POINT OF schwebten. Dort behielten sie ihre Position bei. »Die wollen verhindern, daß wir starten.« »Tun wir ohnehin nicht, aber das binden wir ihnen nicht auf die Nase.« »Commander, die Römer rufen uns«, meldete Elis Yogan von der Funk-Z. »Dann herein damit«, ordnete der stellvertretende Kommandant Dan Riker an. »Bin doch mal gespannt, was sie wollen.« Ein hochgewachsener, hagerer Mann wurde sichtbar. »Senator Valerius Lurca«, stellte er sk;h anstelle einer Begrüßung vor. »Ich erwarte die sofortige Freilassung der Akademiepräsidenten. Andernfalls werden unsere Truppen Sie angreifen und Ihr Schiff entern.« Gequält verzog Dhark das Gesicht. Also hatte er sich nicht geirrt. Natürlich mußten die Römer davon ausgehen, daß es sich bei den beiden Präsidenten um Gefangene handelte. Ren mußte sich eingestehen, daß sie da nicht so ganz unrecht hatten, jedenfalls für eine Weile hatte dieser Status tatsächlich zugetroffen. Die Art und Weise, wie er und Gisol Nauta und Laetus praktisch entführt hatten, konnte ihnen gar keine andere Einschätzung der Lage erlauben. »Ihre Präsidenten sind nicht unsere Gefangenen, sondern unsere Gäste«, versuchte er das
Mißverständnis auszuräumen. »Sie können jederzeit gehen, wenn sie danach verlangen.«
»Ich halte das für einen Fehler, Commander«, flüsterte die Cy-borg-Frau. »Wenn wir die beiden
gehen lassen, haben wir gar
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keine Sicherheit mehr. So lange sie an Bord sind, werden die Römer nicht angreifen, um sie nicht
zu gefährden.«
»Schon möglich«, entgegnete Ren. »Aber diese Cowboypolitik bringt uns auf Dauer nicht weiter.
Wir brauchen Vertrauen und die Unterstützung dieser Menschen.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Senator Lurca drohend. »Auch lasse ich mich nicht vertrösten.
Ich wünsche die Akademiepräsidenten auf der Stelle zu sprechen, ansonsten bombardieren wir
die MASOL.«
»Laß uns die beiden hinausbringen«, sagte Dan Riker.
Socrates Laetus trat neben den Commander der Planeten in den Erfassungsbereich der Optiken.
Valerius Lurca konnte ihn nun sehen.
Er richtete seine Worte an den Senator. »Dominus Dhark hat dir die Wahrheit gesagt. Nauta und
ich sind keine Gefangenen, sondern Gäste der Terraner. Ich bitte dich darum, dieses Mißver
ständnis sofort zu beenden, bevor etwas geschieht, was niemand von uns will.«
Verunsicherung trat in das Gesicht des Senators. »Sprechen Sie aus freien Stücken, Präsident?«
fragte er. Anscheinend rechnete er mit einem Trick.
»Ich versichere dir, daß alles in Ordnung ist. Nauta und ich werden die MASOL bald verlassen.
Es geht uns gut, und die Terraner sind unsere Freunde.«
»Ich habe verstanden, Präsident. Wir werden uns unverzüglich zurückziehen.«
»Immer schön diplomatisch«, flüsterte Ren der Cyborg-Frau zu. »So kommt man manchmal
wesentlich weiter.«
»Werde ich mir merken«, gab sie lächelnd zurück.
Draußen begann der Rückzug. Es dauerte nicht lange, bis die POINT OF wieder ohne Gesellschaft
war. Ren Dhark warf den beiden Akademiepräsidenten unauffällige Blicke zu. Es war erstaun
lich, über welchen Einfluß sie verfügten. Er hatte nicht erwartet, daß dieser Aufmarsch so rasch
beendet sein würde, auch nicht aufgrund von Laetus Worten.
Das bedeutete, daß er und Nautas über wesentlich mehr Einfluß verfügten, als man bisher
angenommen hatte. Schließlich ging er so weit, daß das Militär ihnen gehorchte.
»Lati, Lagebericht«, rief Ren den Cyborg.
»Alles unter Kontrolle, Sir. Wir sind wieder allein. Die Römer haben sämtliche Fahrzeuge
abgezogen. Glückwunsch an diese beiden Knaben. Ohne sie hätte das böse ausgehen können.«
»Es war uns ein Vergnügen«, versicherte Marcus Gurges Nauta. »Und es reicht Ihnen hoffentlich
als endgültiger Beweis, daß wir keine Gegner sind.«
Ren nickte und reichte ihm die Hand.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Dominus Dhark. Sie und wir, die Menschen von Terra und
die von Terra Nostra, sollten noch einmal ganz von vorn anfangen. Unsere erste Begegnung stand
unter keinem guten Stern, es gab eine Reihe von Mißverständnissen. Aber es spricht für unser
aller guten Willen, daß wir sie friedlich beilegen konnten.«
»Ich stimme Ihnen zu, Präsident. Wenn Sie möchten, lade ich Sie ein, noch länger an Bord der
POINT OF zu bleiben.«
»Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Was halten Sie davon, uns zu besuchen? Diesmal als
unsere Freunde. Keine Mißverständnisse mehr und keine Krise. Zufällig veranstalten wir heute
abend eine kleine Feier in der Akademie. Betrachten Sie sich und Ihre Führungsoffiziere als
unsere Gäste.«
Ren deutete eine Vemeigung an. »Es wird uns eine Ehre sein, zu erscheinen«, versicherte er.
»Papperlapapp«, entgegnete Nauta. »Die Ehre ist auf unserer Seite, diejenigen begrüßen zu
dürfen, die die MASOL fertiggestellt haben.«
Als die beiden Akademiepräsidenten aufbrachen, um das Schiff zu verlassen, bemerkte Amy
Stewart trocken: »Diplomatie! Schon verstanden.«
3. Terry McCaleb, FBI-Agent im Ruhestand, war zutiefst erschüttert. In diesem Augenblick wünschte er sich, er hätte den Auftrag niemals angenommen. Er hätte Graciella Rivers wegschicken sollen, als sie zu ihm gekommen war und ihn gebeten hatte, den Mörder ihrer Schwester zu suchen. Graciella hatte ihn moralisch unter Druck gesetzt, weshalb er es nicht fertiggebracht hatte, ihre
Bitte abzuschlagen. In McCalebs Brust schlug nämlich das Herz der Ermordeten - man hatte es ihm eingepflanzt, nachdem sein eigenes vor zwei Jahren bei einer Verfolgungsjagd ausgesetzt hatte. Noch war der ehemalige Bundesbeamte dem Täter nicht auf der Spur, doch er kannte inzwischen das Motiv. Es handelte sich um keinen Raubmord, wie man bislang geglaubt hatte, sondern um eine gezielte Tötung. Der Mörder hatte es seinerzeit auf Organe mit einer bestimmten Blutgruppe abgesehen - und er, McCaleb, hatte eins davon bekommen. Trotz des psychischen und physischen Drucks, unter dem McCaleb litt, entschloß er sich, das Opfer zu rächen und den unbekannten Mörder hinter Gitter zu bringen. Hoffentlich hielt sein Herz so lange durch. In letzter Zeit "wurden die Schmerzen immer heftiger... Osman Mülyz schaltete sein Hologerät ab. Er hatte »Blood Work« schon viele Male gesehen und wußte, wie die Geschichte ausging. »Für mich ist und bleibt Clint Eastwood, Allah hab ihn selig, der ungekrönte König des Films«, bemerkte der fünfzigjährige, zur Fülligkeit neigende Türke, der hinter seinem breiten Schreibtisch in einem großen, bequemen Sessel thronte. »Dieses beeindrUkkende Alterswerk aus dem Jahr 2002 zählt mit Abstand zu seinen besten. Jede Linie in Clints faltenzerfurchtem Gesicht ist ein Erlebnis, jede Furche ein Abenteuer. Er trägt sein silbergraues Haar mit Würde, und sein stechender Blick geht einem durch und durch. 31 Daß seine alten Filme derzeit alle in Neuauflage herauskommen, dank suprasensorischer Bearbeitung in perfekter Holotechnik, ist ein Segen für jeden Filmliebhaber. Findest du nicht auch, Jussuf, mein Lieber?« Jussuf, der für einen Türken viel zu blaß daherkam und zudem nicht den geringsten Bartwuchs aufwies, nickte stumm. Der schlanke Vierzigjährige saß Mülyz auf einem Stuhl gegenüber. Ihm war nicht wohl in seiner Haut - aus gutem Grund. Wie hatte er nur glauben können, daß sein Drogendiebstahl unentdeckt bleiben würde? Bestimmt wußte Osman längst Bescheid, seine Spitzel lauerten schließlich überall. Das voluminöse Zimmer, in dem sich die beiden aufhielten, diente Osman Mülyz als Arbeitszimmer und Wohnstube zugleich. Der Drogenbaron, dessen Geschäfte sich über den gesamten Erdball erstreckten, liebte die Bequemlichkeit. Gemütliche Sitzmöbel aller Art verteilten sich im ganzen Raum, der zudem mit allen möglichen orientalischen Einrichtungs- und Kunstgegenständen vollgestopft war. An jeder Wand hing mindestens ein großer Teppich, und beim Überqueren des mit dicken Persern ausgelegten Fußbodens hatte man das Gefühl, auf Wolken zu gehen. Dennoch wollten bei Jussuf keine himmlischen Gefühle aufkommen. Er leitete seit mehreren Jahren den Bezirk Marseiile. Obwohl er am schmutzigen Geschäft mit der Sucht gut verdiente Osman zahlte ihm eine ansehnliche Provision - hatte er regelmäßig kleinere Drogenmengen abgezweigt und unter der Hand verkauft. Offensichtlich war sein Boß ihm auf die Schliche gekommen. Warum sonst hätte er ihn zu sich bestellen sollen? »Dir ist sicher nicht entgangen, daß die Einnahmen rückläufig sind, Jussuf, mein Lieber«, sagte Osman, und seine hypnotisierende Stimme klang so beruhigend wie das Klappern einer Wü stenschlange kurz vor dem tödlichen Biß. »Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt schläft nicht. Laufend versuchen meine Geschäftsfeinde, mir Anteile am Markt abzujagen, was ich gut verstehen kann, schließlich haben wir derzeit alle unter der Drogenrezession zu leiden. Was sich jahrelang bewährt hat, ist plötzlich nicht mehr gefragt. Nur mit der neuen Tel-Droge >Brush< läßt sich noch ordentlich was verdienen, obwohl sie manchen Konsumenten zu gefährlich erscheint. Vielleicht sollte ich die Branche wechseln und in den Waffenhandel einsteigen. Was hältst du davon, Jussuf?« Der Gefragte atmete innerlich auf. Deshalb also hatte der Boß ihn zu sich bestellt. Mülyz brauchte den Rat eines erfahrenen Mitarbeiters und guten Freundes. »Schuster, bleib bei deinen Leisten«, antwortete Jussuf und lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück. »Dieses weise Sprichwort aus Deutschland bringt es klipp und klar auf den Punkt. Mit Koks, Opium und Heroin kennst du dich besser aus als mit Bordgeschützen, Bomben und Blastem. Die erfahreneren Waffenhändler würden dich gnadenlos über den Tisch ziehen.« Der Drogenbaron winkte ab. »Und wenn schon, jeder hat mal klein angefangen. Zunächst einmal strebe ich lediglich einen ansehnlichen Nebenverdienst an.« Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs und holte einen Gegenstand hervor, der auf den ersten Blick wie ein zierliches Damenfeuerzeug aussah. Erst bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, daß es sich um eine Strahlwaffe handelte. »Um sie scharfzumachen, genügen zwei einfache Handgriffe«, erklärte Osman seinem Besucher und führte ihm vor, wie das vonstatten ging. Anschließend reichte er Jussuf die Waffe. »Hier, du kannst es selbst einmal versuchen. Man benötigt dafür nur eine Hand.«
Jussuf begriff schnell. Er brauchte nur fünf Sekunden, um das »Feuerzeug« in schußbereiten
Zustand zu versetzen.
»Nettes Spielzeug«, bemerkte er anerkennend, sicherte die Waffe und gab sie seinem Boß zurück.
»Ideal fürs Damenhandtäschchen. Vermutlich kann man damit nur kleinere Verletzungen ver
ursachen, doch das dürfte zur Abwehr von Sittenstrolchen völlig ausreichen.«
Osman grinste. »Wäre das Ding wirklich so harmlos, könnte ich damit keinen müden Cent
verdienen, weil es in jedem Waffengeschäft legal zu erwerben wäre. Der Steamer verursacht
keine Kratzer, sondern bringt den sicheren Tod - schnell, präzise und beinahe schmerzlos.«
»Steamer?«
»Straßenjargon. Die technische Bezeichnung dafür lautet... ach, die kann sich eh kein Mensch
merken. Diese Waffe, die übrigens nicht aus terranischer Produktion stammt, verschießt einen
extrem feinen, aber starken Energieimpuls. Trifft der Strahl auf ein Lebewesen, verdampft dessen
Körperflüssigkeit innerhalb von Sekunden explosionsartig.«
»Eine Dampfexplosion?« staunte Jussuf. »Demnach wird das Opfer von innen heraus regelrecht
auseinandergesprengt. Was für eine Sauerei!«
»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Osman Mülyz. »Aufgrund der blitzartigen Verdampfung kann
man den Steamer sogar in den eigenen vier Wänden benutzen, ohne daß man hinterher den klein
sten Blutspritzer sieht. Die getroffene Person fällt lautlos in sich zusammen, so als wäre sie ganz
plötzlich gealtert. Hinterher ist es unmöglich, den Leichnam zu identifizieren.«
Jussuf pfiff durch die Zähne. »Das ideale Mordwerkzeug. Ein leiser, sauberer Tod - und die
Polizei beißt sich bei ihren Ermittlungen die Zähne aus. Hast du den Steamer schon getestet?«
»Nein, aber ich habe für heute einen Versuch angesetzt. Ich möchte, daß du dabei anwesend
bist.«
»Selbstverständlich. Ich nehme an, du probierst die Waffe zunächst an einem Tier aus, oder?«
Osman nickte. »An einer Ratte.«
Damit brachte er Jussuf erneut zum Staunen. »Eine Ratte? Ist das nicht ein viel zu kleines Ziel?«
Osman schüttelte den Kopf. Gleichzeitig machte er mit Daumen und Mittelfinger die
feuerzeugähnliche Strahlwaffe scharf.
»Keine Sorge, Jussuf, mein Lieber, ich werde den heimtückischen Räuber garantiert nicht
verfehlen.«
Schockartig begriff »Jussuf, mein Lieber«, wer damit gemeint war. Mit einem Ruck sprang er auf
und lief zur Tür.
Der feine, leise Strahl war schneller.
»Hast du Ratte wirklich geglaubt, du könntest mich ungestraft betrügen?« waren die letzten
Worte, die der sterbende Dealer vernahm.
Mülyz erhob sich gemächlich aus seinem Schreibtischsessel und begutachtete die verschrumpelte
Leiche.
»Wirklich eine saubere Angelegenheit«, murmelte er mit zufriedener Miene. »Der Teppich hat
keinen einzigen Flecken abbekommen.«
Fassungslos starrte Veronique de Brun auf die zusammengeknüllte doppelte Zeitungsseite, die
Bert Stranger ihr entgegenhielt.
»Damit habe ich die Ausbeulung unter meiner Jacke erzeugt«, verriet er ihr.
»Ein Bluff«, kam es tonlos über ihre bebenden Lippen. »Und ich dachte, du trägst tatsächlich
einen Biaster bei dir. In Wirklichkeit hast du alles und jeden ausgetrickst.«
»Wer kann, der kann«, erwiderte der achtundzwanzigjährige rothaarige Journalist, der es trotz der
ausweglosen Situation noch fertigbrachte, breit zu lächeln. »Mein kleiner Trick hat uns bei un
seren Recherchen im Hafenviertel sehr geholfen. Jeder hielt mich für einen schweren Jungen.«
»Daß du kein Leichtgewicht bist, erkennt man auch so«, entgegnete die einunddreißigjährige
schlanke Frau spitz, mit einem Seitenblick auf seinen kugeligen Körper. »Wie sollen wir ohne
Waffe und ohne deinen Robotleibwächter lebend aus dieser Gegend wegkommen?«
»Rennen, rennen und nochmals rennen«, schlug Stranger vor und setzte sich wieder in
Bewegung. »Die Nacht ist auf unserer
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Seite, sie wird uns verschlucken, als seien wir überhaupt nicht vorhanden.«
Sein Optimismus war nur gespielt. Nachdem Theta 3 mit ohrenbetäubendem Knall explodiert
war, hatte er sie im Schein des brennenden Roboterskeletts deutlich gesehen: drei Männer mit
schweren Waffen in den Händen. Jeden Moment konnten sie hinter ihnen auftauchen.
Oder vor ihnen.
Vielleicht griffen sie auch von der Seite her an. Mit Sicherheit kannten sie sich im Hafen von
Marseiile besser aus als Bert und Veronique, die planlos in eine unbeleuchtete Gasse eingebogen waren. Aufgestapelte Warencontainer aller Art säumten links und rechts den Weg, unterbrochen von schmalen Zwischenräumen und Gängen, die sonstwohin führten. Der etwas korpulente, aber überaus wendige Terra-Press-Repor-ter glaubte zu spüren, wie sich aus der Finsternis heraus Karabinerläufe auf ihn richteten. Automatisch fing er an, im Zickzack zu laufen. Die hübsche Firmenchefin von Biotechnologique hielt nur mit größter Anstrengung mit. Dabei hätte sie gewettet, den unsportlich wirkenden Stranger problemlos überholen zu können. Offensichtlich trieb ihn die Angst im Nacken zu Höchstleistungen. Veronique war kein gefühlloser Mensch, gab sich aber mitunter etwas spröde. Augenblicklich sah man ihr das allerdings nicht an. Um den »schweren Jungen« Bert bei seinen Recherchen im Dro genmilieu am Hafen zu unterstützen, hatte sie sich als »leichtes Mädchen« verkleidet und sich auch so gebärdet - eine Rolle, die ihr Spaß gemacht hatte, obwohl sie überhaupt nicht ihrem Naturell entsprach. Mittlerweile wünschte sich Veronique, sie hätte sich nie auf dieses waghalsige Abenteuer eingelassen. Innerlich verfluchte sie Bert Stranger und seine diffuse weltpolitische Verschwörungstheorie. Die illegalen Sensorienchips, die er bei Biotechnologique hatte analysieren wollen, hatten in ihrer Firma beträchtlichen 36
Sachschaden angerichtet. Wer auch immer die Chips entwickelt hatte, verstand seinen Job. Aber warum und wozu waren sie überhaupt hergestellt worden? Aus Profitgier? Aus Machtgelüsten? Richtig eingesetzt, konnte man damit die gesamte Menschheit versklaven. Steckte wirklich die Fortschrittspartei dahinter, deren Kandidat Antoine Dreyfuß fest entschlossen war, der neue Commander der Planeten zu werden? Oder befand sich Bert in dieser Hinsicht auf der falschen Fährte? Möglicherweise ging ja seine journalistische Phantasie mit ihm durch. Sicher war nur eines: Die gefährlichen Chips, die ausschließlich auf dem Schwarzmarkt erhältlich waren, machten süchtig •- im Gegensatz zu der harmloseren Version, die man legal im freien Handel beziehen konnte. Auch der Erwerb von Sensorien stellte kein Problem dar; man bekam die teuren Geräte, die aussahen wie ein Kopfhörer mit Brille, in jedem Fachgeschäft. Ein Spezialgerät benötigte man fürs Abspielen der Intensivchips nicht, soviel stand seit der Untersuchung im Labor inzwischen fest. Die legalen, normalen Chips boten dem Sensoriumsbenutzer ein verbessertes Holoprogramm. Veronique hatte sie selbst ausprobiert und sich mehrere Unterhaltungsfilme angeschaut. Angeschaut? Sie hatte das Gefühl gehabt, mitten im Geschehen zu stehen, als unsichtbare Beobachterin, während sich die Filmhandlung um sie herum abspielte. Veronique de Brun in greifbarer Nähe zu ihren Lieblingsschauspielern, mittendrin in einer romantischen, packenden Liebesszene - was für ein fesselndes Ereignis! Aber halt nur Bild und Ton, mehr nicht. Die illegalen Intensivchips hingegen machten es nahezu unmöglich, Phantasie und Realität auseinanderzuhalten und zogen den Betrachter der darauf gespeicherten virtuellen Erlebnisse so sehr in den Bann, daß er nicht mehr von ihnen loskam. Sämtliche Sinne des Menschen wurden angesprochen, er empfand die jeweilige Handlung, als geschehe sie real und er sei ein Bestandteil von ihr. 37
So hatte es Stranger beschrieben. Zwar konnte er sich aufgrund der harten Entgiftung und
anschließenden psychiatrischen Behandlung an keine Einzelheiten seiner Abhängigkeit mehr
erinnern, doch die Faszination, die ihn befallen hatte, mußte psychisch und physisch ungeheuer
intensiv gewesen sein. Er war nicht als neutraler Beobachter in die künstliche Erlebniswelt
eingetaucht, sondern als aktiv Mitwirkender.
Veronique hätte das gern einmal selbst angetestet, doch die zu erwartenden erschreckenden
Folgen hielten sie davon ab.
Ein bedrohliches, kanonartiges Fauchen kam von irgendwoher, erst leise, dann immer lauter,
begleitet von einem gleißend flakkemden, grellen Lichtstakkato. Veronique blieb abrupt stehen,
war wie erstarrt.
Bert kannte das Geräusch. Er wirbelte herum und riß Seine Begleiterin zu Boden.
In unmittelbarer Nähe wurde ein Container getroffen und explodierte lautstark. Weitere in
Mitleidenschaft gezogene Warencontainer rissen an den Seiten auf, und ihr Inhalt ergoß sich
mitten auf den Weg, nur wenige Meter von Stranger und de Brun entfernt. Möbel,
Konservendosen, Fahrzeugteile, Kleidungsstücke...
»Das reinste Kaufhaus«, knurrte der Reporter und deutete auf eine schmale Abzweigung ins
Ungewisse. »Dort hinein!«
Veronique sprang auf. Seite an Seite versuchten beide, sich in Sicherheit zu bringen. Die
Wissenschaftlerin schaute sich nach einem Schützen um, konnte aber niemanden erblicken.
»Multikarabiner«, rief Bert ihr atemlos zu. »Die Dinger haben eine enorme Reichweite und sind
geeignet für B lasterfeuer, Lähmstrahlen und den Abschuß von Kleinstraketen. Gott sei Dank
kann der Schütze damit nicht richtig umgehen, sonst würden wir jetzt Harfenklänge hören.«
»Wurden diese Karabiner nicht für die Schwarze Garde entWikkelt?« rief Veronique zurück.
»Deine Feinde haben wohl gute Freunde beim Militär.«
»He, du scheinst dich ja bestens mit Waffen auszukennen.«
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»Ein Bekannter von mir...« Weiter kam Veronique nicht. In etwa sechs Metern Entfernung tauchte im fahlen Schein des Mondes eine massige Gestalt auf und versperrte ihnen den Weg. Der Mann richtete einen Biaster auf die beiden. Die Flüchtlinge blieben stehen. »Warum bereden wir das ganze nicht wie zivilisierte Menschen?« schlug Stranger dem Unbekannten vor, dessen Gesicht er nur unzureichend erkennen konnte. Ihm war in keinster Weise nach Reden zumute, er wollte lediglich Zeit gewinnen. Zeit, um eine Idee zur Gegenwehr zu entWikkeln. Sein Kontrahent ließ ihm jedoch keine Chance. Er legte an... Und in derselben Sekunde betätigte Veronique de Brun eine Waffe, die Bert Stranger noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Ein feiner Strahl löste sich aus der nicht sonderlich großen Schußwaffe und traf den Blasterträger mitten in die breite Brust. Der Mann gab keinen Laut von sich. Stumm knickte er in sich zu sammen, wie ein Streichholz, das man mehrfach zerbrochen hatte. Bert hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Die beiden anderen Verfolger schälten sich aus der Dunkelheit, darunter der Multikarabinerschütze. Veronique gab ihm keine Gelegenheit zu einem zweiten Schuß. Blitzschnell wechselte ihre seltsame Waffe von ihrer rechten zur linken Hand. Der dünne Strahl fand innerhalb von Sekundenbruchteilen sein Ziel und setzte den Schlußstrich unter ein erbärmliches Leben, das überwiegend aus brutaler Gewalt und Mordlust bestanden hatte. Verfolger Nummer drei entriß dem Sterbenden den Multikarabiner und zog sich zurück. Er wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden wie seine beiden Komplizen. Für einen Augenblick war Veronique de Brun versucht, auch ihn niederzustrecken. Das brachte sie jedoch nicht fertig, schließlich stellte der Mann keine unmittelbare Gefahr mehr dar. Jemanden in 39 den Rücken zu schießen, kam für sie nicht in Frage.
Mit zwei geübten Handgriffen verwandelte sie ihre Strahlwaffe in ein harmlos wirkendes
Feuerzeug und ließ es in einem kleinen Täschchen, das an ihrem Handgelenk baumelte,
verschwinden.
»Ich habe mich schon immer gefragt, was ihr Frauen in euren Handtaschen verbergt«, bemerkte
Stranger. »So etwas hätte ich allerdings nicht vermutet.«
»Vergiß, was du gesehen hast«, erwiderte de Brun. »Der Besitz dieses >So-etwas< ist nämlich
strafbar. Ein Bekannter von mir, der sich selbst als Hobby-Waffenexperte bezeichnet, hat mir den
Steamer auf illegalem Weg beschafft, unter der Bedingung, daß ich ihm keine unangenehmen
Fragen stelle. Als Frau muß man sich heutzutage verteidigen können.«
»Wieso hast du nicht gesagt, daß du bewaffnet bist?«
»Ich hatte gehofft, die Waffe nicht benutzen zu müssen. Leider blieb mir keine andere Wahl.«
Ihre Hände zitterten unübersehbar. Es war ihr nicht leichtgefallen, zu töten, doch in diesen
gefährlichen Zeiten mußten nicht nur Männer tun, was getan werden mußte.
Der leblose, in sich zusammengesunkene Blasterschütze lag mitten auf dem schmalen Weg.
Beide sprangen über das Häufchen totes Elend hinweg und setzten ihre Flucht fort. Erst viel
später fiel Bert Stranger auf, daß er es versäumt hatte, der Leiche den Biaster abzunehmen.
Aus der Feme waren Polizeisirenen zu hören. Offensichtlich war die kleine Schlacht am Hafen
nicht unbemerkt geblieben.
»Typisch«, brummelte der Reporter. »Die Kavallerie kommt immer erst dann, wenn alles vorüber
ist.« Veronique de Brun fror am ganzen Leib. Sie hatte Angst. Sie war in Sicherheit, fühlte sich
aber trotzdem nicht sicher. Bert Stranger und sie hatten das Hafengelände inzwischen un
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versehrt verlassen. Nun saßen beide in Veroniques Schweber und ließen Marseiile weit hinter sich. »Entspann dich«, riet Bert ihr. »Es ist vorbei, wir haben den Kampf gewonnen. General Lee hat kapituliert.« »Ich fühle mich aber nicht wie eine Siegerin«, erwiderte Veronique tonlos. Sie schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich hätte ihn ebenfalls töten sollen.« »Wen? Lee?« fragte Bert, der den Schweber lenkte. »Das war doch nur im übertragenen Sinne gemeint. General Robert Edmund Lee hat längst das Zeitliche gesegnet. Er war ein vortrefflicher Militärstratege des neunzehnten Jahrhunderts und...« »Bitte jetzt keinen Geschichtsunterricht«, unterbrach ihn Veronique. »Ich spreche von unserem dritten Verfolger. Er hat mich gesehen und wird sich an mir rächen wollen.« Bert winkte ab. »Mir haben schon eine Menge Leute Rache geschworen. Würde ich mir deswegen jedesmal einen Wunderbeutel umhängen, könnte ich keine Nacht mehr ruhig schlafen.« »Schon möglich, daß du es gewohnt bist, mit Bedrohungen zu leben, aber ich bin nun mal nicht so abgebrüht wie du. Hätte ich den Kerl niedergeschossen, als ich die Gelegenheit dazu hatte, würde ich mich jetzt besser fühlen.« »Glaubst du das wirklich? Du wirst doch kaum damit fertig, zwei Menschen getötet zu haben. Ein dritter Toter würde dein Gewissen nur noch mehr belasten. Im übrigen bezweifle ich, daß er in der Dunkelheit dein Gesicht erkennen konnte, zudem weiß er bestimmt nicht, wer du bist.« »In den französischen Medien bin ich keine Unbekannte. Immerhin leite ich das weltweit bedeutendste Unternehmen auf dem medizinisch-technischen Sektor. Biotechnologique hat den Robonenspürer entwickelt, das machte Schlagzeilen, ebenso die Übernahme durch Wallis Industries.« »Auf eurem Firmengelände bist du so sicher wie in Abrahams Schoß«, meinte Stranger. »Biotechnologique ist das reinste Fort.« »Und falls er herausfindet, wo ich wohne?« entgegnete Veroni 41 que nervös. »Womöglich gehört er einer weltweit agierenden Verbrecherorganisation an, und
man schickt mir ein Killerkommando nach Hause.«
»Es gibt bislang keine Anhaltspunkte dafür, daß wir es mit organisiertem Verbrechen zu tun
haben«, erwiderte Bert entgegen seiner Überzeugung - er wollte seine Beifahrerin lediglich
beruhigen.
Doch Veronique besaß genügend Verstand, um die Situation richtig einzuschätzen. Berts
Recherchen sprachen für sich, das war mehr als nur ein bißchen journalistisches Herumstochern
im Dreck. Er war einer großen Sache auf der Spur, und die nebulösen Hintermänner kannten kein
Pardon - das hatte der Terra-Press-Mann am eigenen Leib zu spüren bekommen.
»Wir fahren nach Avignon«, entschied de Brun.
»Avignon?« wunderte sich Stranger. »Ich denke, du bewohnst ein Apartment in Lyon.«
»Dort könnte ich kein Auge zutun. In einem Hotel fühle ich mich sicherer.«
»Du kannst dich nicht ewig verstecken.«
»Wenn es sein muß, ziehe ich mich wochenlang aus der Öffentlichkeit zurück, bis ich meine
innere Ruhe wiedergefunden habe.«
»Übertreibst du nicht ein wenig?«
»Ich und übertreiben?« Veroniques Stimme überschlug sich beinahe. »Ich habe zwei Menschen
getötet, schon vergessen? Mag ja sein, daß Mord und Totschlag in deinem Beruf an der Tages
ordnung sind und du dir wegen solcher Lappalien schon lange keine Gewissensbisse mehr
machst...«
»Schon gut, ich hab verstanden«, schnitt Bert ihr ungehalten das Wort ab. »Wir mieten uns zwei
Zimmer in Avignon.«
»Eines«, entschied Veronique. »Wir treten als Ehepaar auf, aus Tarnungsgründen. Das erschwert
unseren Verfolgern die Suche nach uns.«
Bert bezweifelte, daß augenblicklich irgend jemand auf der Suche nach Veronique und ihm war.
Die Verbrecher waren vorerst in ihre Löcher zurückgekrochen, und die Polizei hatte ihre
Ermittlun
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gen gerade erst aufgenommen. Sobald ein wenig Gras über die ganze Sache gewachsen war, würde er in den Hafen von Marseiile zurückkehren, nahm er sich vor. Ein Dealer namens Quinn hatte ihm vier Intensivchips verkauft. Bert wollte sie ihm wiedergeben und behaupten, es handele sich um Fälschungen. Anschließend würde er Quinn unter Druck setzen und von ihm verlangen, den Namen seines
Lieferanten preiszugeben. Vielleicht gelang es ihm ja auf diese Weise, herauszufinden, wer hinter dem Komplott mit den süchtigmachenden Sensorienchips steckte. Selbst eine lange Kette von Händlern, Zwischenhändlern und Handlangem mußte irgendwo ein Ende haben. Das Hotelzimmer sah aus wie eine Gefängniszelle. Es war nur mit den nötigsten Möbeln ausgestattet, von denen einige mit Sicherheit vom Sperrmüll stammten. Insbesondere das breite Doppelbett hatte schon bessere Tage gesehen - allerdings hatte es bestimmt eine Menge zu erzählen. Veronique de Brun hatte sich gleich nach Betreten des Zimmers quer übers Bett gelegt, in voller Kleidung, und damit von vornherein ihre Besitzansprüche angemeldet. Bert Stranger mußte sich mit einem schäbigen, knarrenden Sessel begnügen. Er hoffte, daß im Bad nebenan noch ein Hocker stand, damit er es sich für den Rest der Nacht wenigstens einigermaßen bequem machen konnte. Auf Reisen hatte er stets seine mobile Reporterausrüstung bei sich. Augenblicklich befand sie sich in Veroniques Schweber, der in der Tiefgarage des Hotels parkte. Bert überlegte, ob es nicht besser war, die wertvollen Geräte aufs Zimmer zu holen. Das Fahrzeug war zwar alarmgesichert, doch für einen gewieften Schweberknacker stellte das kaum ein Problem dar. »Wo willst du hin?« fragte Veronique, als er Anstalten machte, hinauszugehen. 43
»Ich hole meine Ausrüstung aus deinem Kofferraum«, antwortete er. »Sonst könnte es passieren, daß ich morgen früh plötzlich zwei davon habe.« »Die Garage ist abgeschlossen, der Schweber parkt dort sicher.« »Über diese wacklige Brücke gehe ich nicht. Hast du dir den Typen an der Rezeption mal genauer angeschaut? Eine Visage wie von einem Steckbrief! Jede Wette, er wird weltweit per Haftbefehl gesucht. Weshalb mußte es unbedingt diese Absteige sein?« »Weil niemand auf den Gedanken kommen wird, daß Terras erfolgreichster Sensationsreporter und eine hochbezahlte Karrierefrau in einem solchen Loch übernachten. Bleib hier, deiner Ausrü stung passiert schon nichts. Laß mich jetzt bitte nicht allein.« Sie unterstrich den letzten Satz, indem sie ein wenig zur Seite rückte. Bert verstand die kleine Geste und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Seine Nähe schien beruhigend auf Veronique zu wirken. Zumindest machte die junge Wissenschaftlerin keinen allzu verstörten Eindruck mehr. »Wo hast du eigentlich so gut schießen gelernt?« erkundigte er sich. »Das konnte ich schon als Kind«, erzählte Veronique freiheraus. »Mein Vater hat mich öfters mit zum Schießstand genommen. Allerdings ist es ein himmelweiter Unterschied, ob man auf Ziel scheiben und Pappkameraden schießt oder auf lebende Wesen. Eine eigene Waffe habe ich nie besessen. Erst nachdem im Zuge der Robonenspürer-Affäre beinahe unser Werk gestürmt worden wäre, fand ich es ratsamer, mich zu bewaffnen. Mein bereits erwähnter Bekannter beschaffte mir die tödliche Strahlwaffe, verriet mir jedoch nicht, auf welchem Wege er daran gekommen ist. Ich glaube, es handelt sich um ein utarisches Modell. Auf Terra ist der Einsatz strikt verboten, sogar der Besitz ist strafbar. Ich fühle mich wie eine Verbrecherin.« »Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt«, tröstete Bert sie. »Die eigene Haut zu retten ist wichtiger als die Einhaltung von Gesetzen. Hätte ich mich zeit meines Lebens stur an die 44
Paragraphen gehalten, wäre ich schon tausendmal gestorben. Du hast in Notwehr gehandelt,
daraus kann dir niemand einen Strick drehen.«
»Sag das dem Richter.«
»Niemand wird über dich Gericht halten. Morgen früh setze ich mich mit Terra-Press in
Verbindung und informiere mich über den Stand der polizeilichen Ermittlungen. Deinen Namen
werde ich gänzlich heraushalten.«
»Das schaffst du nicht.«
»Wetten? Denk immer daran, daß ich zu den Besten meiner Branche gehöre. Nicht einmal mein
oberster Boß Sam Patterson wagt es, den Wahrheitsgehalt meiner Berichterstattung anzuzwei
feln.«
Veronique ergriff Berts Hand und schaute ihn lächelnd an. »Hat dir schon mal jemand gesagt,
daß du ein Angeber bist?«
»Angeben müssen nur diejenigen, die es nötig haben«, entgegnete der Reporter. »Ich hingegen
brauche meine Erfolge nicht hervorzuheben, sie sprechen für...«
... »sich« hatte er noch sagen wollen. Aber Veroniques erdbeerrote Lippen verschlossen ihm den
Mund. Sie hatte ihn sanft am Hemdkragen ergriffen und zu sich herabgezogen.
Stranger glaubte zunächst an einen Scherz. Er war alles andere als ein Frauentyp und derartige
Übergriffe nicht gewohnt. Doch ein Blick in Veroniques funkelnde Augen signalisierte ihm, daß
sie es durchaus emst meinte.
Das schäbige Zimmer geriet mit einem Schlag in Vergessenheit, es störte ihn nicht mehr. Im Gegenteil, das ganze Drumherum hatte etwas Verruchtes an sich - und das regte ihn ungeheuer an. Obwohl er sich an seine intensiven Erlebnisse mit den illegalen Sensorienchips nicht mehr erinnern konnte, war er überzeugt, daß seine aufkeimende Leidenschaft damit zusammenhing...
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Draußen war es bereits hell, als Bert Stranger auf Veroniques Schweber zuging. Hier in der Tiefgarage merkte man nichts davon. Der Besitzer der Absteige sparte offenbar nicht nur an der Inneneinrichtung seines Etablissements, auch für Beleuchtungszwecke gab er nicht sonderlich viel aus. Gerade mal drei Lampen funzelten an der kahlen Garagendecke vor sich hin. Für wenige kostbare Augenblicke war Bert mit sich und der Welt zufrieden. Hinter ihm lag eine aufregende Nacht, in der er kaum zum Schlafen gekommen war. Noch immer konnte er es nicht fassen, daß ausgerechnet Veronique und er zusammengefunden hatten - schließlich waren sie so gegensätzlich wie Feuer und Wasser. Kanone hatte sie ihn heute morgen genannt. Ein euphorisches Lob, das ihn mit Stolz erfüllte. Bislang kannte er nur die freundschaftliche Spöttelei Kanonenkugel - bezogen auf seinen rundli chen Körper, aber auch auf die Zielsicherheit, mit der er seine journalistischen Ermittlungen in Angriff zu nehmen pflegte. Nur wenige Fahrzeuge standen in der verhältnismäßig kleinen Tiefgarage. Auf eines davon hatten es drei Jugendliche abgesehen - und dieses eine war ausgerechnet Veroniques Schweber. Die etwa Achtzehnjährigen standen um den Schweber herum und suchten nach einer Möglichkeit, ihn möglichst behutsam zu öffnen. Offensichtlich planten sie, das Fahrzeug mit allem Drum und Dran zu stehlen und später zu veräußern. Sichtbare Beschädigungen drückten nur unnötig den Preis. Einer der drei wirkte äußerlich wie ein Bodybuilder. Das Hemd spannte sich straff über seiner Brust, und seine Beine hatte er o-förmig gespreizt, so als könne er vor lauter Kraft kaum gehen. In den Händen hielt er ein elektronisches Gerät, eine spezielle Fembedienung, mit der er versuchte, den Sicherungscode des Schwebers zu knacken. Ohne Erfolg bisher. »Kann ich helfen?« fragte Stranger - in der Hoffnung, die drei würden schleunigst das Weite suchen. Für die meisten Diebe gehörte Abhauen noch zur Gaunerehre. 46
Es galt als Schande, erwischt zu werden, und Gewalttätigkeiten waren verpönt. Leider traf das
nicht auf alle Kleinkriminellen zu. Einige genossen es regelrecht. Schwächere zu mißhandeln,
sobald sie auf frischer Tat ertappt wurden.
Zunächst machten die drei Jugendlichen Anstalten, zu flüchten. Als sie jedoch sahen, daß der
unerwünschte Zeuge allein war, bauten sie sich drohend vor ihm auf.
Bert wurde etwas mulmig, als er feststellte, daß ihn der Typ mit dem zu engen Hemd um mehr
als einen Kopf überragte.
»Man nennt mich Monco«, sagte der Große. »Hast du zufällig ein bißchen Kleingeld für uns? Es
dürfen gern auch ein paar Dollar mehr sein.«
Stranger ignorierte die Frage und streckte seelenruhig die Hand aus.
»Gib mir bitte das Gerät«, forderte er sein Gegenüber höflich auf. »Ich weiß, wie man damit
umgeht.«
Verblüfft reichte ihm der Große die Fembedienung, warnte ihn aber: »Keine Tricks, klar?«
»Tricks wende ich nur bei gleichwertigen Gegnern an«, erwiderte Bert. »Bei kleinen
Hosenscheißern wie euch genügt eine Tracht Prügel völlig.«
Bevor die drei sich's versahen, ließ er die Fembedienung zu Boden fallen, zertrat sie mit dem
Hacken seines rechten Schuhs und verpaßte dem Kräftigsten unter ihnen eine saftige Ohrfeige.
»Habe ich euch schon erzählt, wie ich letzte Woche die regionalen Meisterschaften im Kickboxen
gewonnen habe?« stieß er drohend hervor. »Dummerweise habe ich einen mächtigen Verschleiß
an Trainingspartnern, weshalb ich jede Gelegenheit nutze...«
Den Rest hörten die drei Möchtegernverbrecher nicht mehr. So schnell sie konnten liefen sie
durch die offenstehende Garageneinfahrt nach draußen.
Stranger atmete auf. Er war für seine eiskalten Bluffs berüchtigt, staunte aber immer wieder
selbst am meisten darüber, wie gut sie funktionierten.
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Frechheit siegt, dachte er - und im selben Moment kam ihm eine kühne Idee!
Ihm fiel jemand ein, der bei der Suche nach den Sensorium-Hintermännem sehr von Nutzen sein
konnte. Dummerweise war dieser Jemand nicht gut auf ihn zu sprechen. Schlimmer noch: Die
betreffende Person hatte geschworen, ihn eigenhändig umzubringen.
Nur nicht leichtsinnig werden, Kanone Bert, rief sich der Reporter selbst zur Ordnung. Ein paar
kleine Erfolgserlebnisse sind noch kein Grund, sein Leben aufs Spiel zu setzen, klar?
Klar.
Und trotzdem ließ ihn dieser Gedanke fortan nicht mehr los.
Eine kurze Begutachtung ergab, daß das ungesicherte Garagentor mit einem Brecheisen
aufgebrochen worden war. Bert zückte Veroniques Codekarte, startete ihren Schweber und
verließ die Garage. Draußen stellte er das Fahrzeug auf einer vor dem Hotel befindlichen
Freifläche ab, direkt unter seinem Zimmerfenster. Anschließend lud er seine mobile Ausrüstung
aus.
Auf dem Zimmer aktivierte Bert sein Armbandvipho, das er vorsorglich abgeschaltet hatte, um
nicht gestört zu werden. Noch bevor er sich mit seinem Ressortleiter Maik Caroon in Verbindung
setzen konnte, ertönte das Rufsignal. Sekunden später erschien das zornige Gesicht des Terra-
Press-Chefs Sam Patterson auf dem kleinen Bildschirm.
Obwohl es in Alamo Gordo mitten in der Nacht war, hielt er sich in seinem Redaktionsbüro auf.
Seit Stunden wartete er dort auf Nachricht von Stranger, und er war entsprechend schlecht
gelaunt.
»Na endlich!« zeterte Patterson los, kaum daß die Verbindung hergestellt war. »Seit einer halben
Ewigkeit versuche ich, Sie zu erreichen. Wo stecken Sie denn? Warum erhalten wir keine aktuel
len Informationen von Ihnen? Die französischen Behörden haben sich mit mir in Verbindung
gesetzt und sich nach Ihnen erkundigt. Man will Sie wegen einiger ungeklärter Vorfälle im Hafen
von Marseille befragen.«
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Bert stellte sich zunächst dumm. »Was für Vorfälle?« »Ein erstochener Dealer namens Quinn, zwei nicht mehr zu identifizierende Tote und ein zerstörter Wachroboter«, zählte Patterson auf. »Nicht irgendein Wachroboter, wohlgemerkt. Anhand seiner Überreste konnte man zweifelsfrei ermitteln, für wen er im Einsatz war. Haben Sie eigentlich annähernd eine Vorstellung, wieviel Terra-Press für den Blechmann hinblättern mußte. Stranger? Sie sind unser teuerster Mann!« »Und Ihr bester«, konterte der Journalist. »Sobald wir mit der Sensorium-Story herauskommen, fahren Sie sämtliche Unkosten wieder ein, versprochen. Ich bin gerade dabei, einen packenden Bericht über die Geschehnisse im Hafen anzufertigen.« »Was hatten Sie dort überhaupt verloren?« »Ich habe mit allerlei zwielichtigem Gesindel geredet, das mit Drogen und illegalen Sensorienchips dealt. Die Chips lasse ich in meinem Sensationsbeitrag allerdings weg, um meine Recherchen nicht zu gefährden. Fürs erste muß es ausreichen, über Brush zu berichten - eine neuartige, brandgefährliche Droge aus dem Telin-Imperium. Ein marokkanischer Drogenschmuggler, mit dem ich mich im Hafen getroffen habe, wollte mich mit seinen Verbin dungsmännern zusammenbringen. Die waren damit jedoch überhaupt nicht einverstanden und nahmen uns sofort unter Beschuß. Der Marokkaner, den ich nur unter dem Deckamen Outlaw kenne, hat sie in Notwehr getötet - mit einer illegalen utarischen Waffe. Quinn geht vermutlich ebenfalls auf sein Konto; die beiden hatten kurz zuvor Geldstreitigkeiten.« Patterson war sichtlich beeindruckt. »Übermitteln Sie mir den Bericht so schnell wie möglich, mitsamt allem dazugehörigen Material. Eine ausführliche Beschreibung des Marokkaners benö tige ich ebenfalls, um die Polizei fürs erste zufriedenzustellen. Früher oder später kommen Sie allerdings um eine persönliche Vernehmung nicht herum. Wir bringen die Story in der nächsten Ausgabe. Respekt, Stranger, Sie führen kein langweiliges Leben.« »Es geht so«, entgegnete der Reporter. »Manchmal wünsche ich 49
mir zwar ein bißchen mehr Action, doch man nimmt, was man kriegen kann.« Beide Männer verabschiedeten sich. Veronique de Brun hatte sich die ganze Zeit über im Zimmer befunden. Weil Stranger das Armbandvipho so gehalten hatte, daß sie nicht auf dem Bildschirm erschienen war, wußte Patterson nichts von ihrer Anwesenheit. »Bei den Behörden bist du jetzt fein heraus«, sagte Bert lächelnd zu ihr, »wie ich es dir versprochen habe. Die Polizei wird dich mit den Vorfällen des vergangenen Abends nicht in Verbindung bringen. Ihre Suche wird sich in erster Linie auf einen marokkanischen Schmuggler namens Outlaw konzentrieren - den sie niemals finden werden, weil es ihn nie gegeben hat. Es
wäre schon ein irrer Zufall, würde im Hafenviertel von Marseiile ein Marokkaner herumlaufen,
der sich genau so nennt.«
»Trotzdem bin ich noch nicht außer Gefahr«, erwiderte Veronique. »Die Gangster wissen, wie es
wirklich gewesen ist.«
»Auf eurem stark gesicherten Firmengelände kann dir nichts passieren. Ich bringe dich in deinem
Jett zurück nach Le Puy, und du begibst dich dort unter die schützenden Fittiche von Biotechno
logique.«
»Und was machst du?«
Bert atmete tief durch. »Ich besuche einen guten alten Feind. Wir sind uns noch nie von
Angesicht zu Angesicht begegnet, aber er hat mich so lieb, daß er mich zu gern einmal umarmen
möchte.«
»Um dir das Genick zu brechen, vermute ich mal.«
»Bingo.«
»Warum hältst du dich dann nicht von ihm fern?« fragte Veronique besorgt.
»Weil mit Quinns unerwartetem Tod meine wichtigste Spur versiegt ist. Mein Erzfeind könnte
mir vielleicht weiterhelfen. Die waghalsige Idee, ihm einen unangemeldeten Besuch abzustatten,
kam mir vorhin in der Tiefgarage. Ich strotze nahezu vor Ideen -leider sind es nicht immer nur
gute.«
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Im Rauchwarenhandel war Angora die Sammelbezeichnung für langhaarige, seidenweiche Felle von Kaninchen, Schafen und Ziegen. Das Fell wurde zu Mohair verarbeitet und erfreute sich weltweiter Beliebtheit. Angora war aber auch der ursprüngliche Name einer Großstadt, die in Inneranatolien lag, 815 Meter über dem Meeresspiegel. Die Stadt war das Handels- und Verwaltungszentrum der Region, verfügte über Elektro-, Metall-, Papier- und Nahrungsmittelindustrie sowie über mehrere Universitäten, Hochschulen und Museen. Seit 1923 war sie die Hauptstadt der Türkei - heute besser bekannt unter dem Namen Ankara. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich Ankara laufend verändert. Eines war jedoch geblieben: das orientalische Flair auf den Marktplätzen und in vielen Seitenstraßen, das bei den Touristen den Eindruck hinterließ, Ankara sei ein einziger großer Basar. Gastfreundliche Händler luden potentielle Kunden gern zu einem aromatischen türkischen Tee in ihr Domizil ein und blieben selbst dann freundlich, wenn kein Geschäft zustande gekommen war. Grantig wurden sie nur, wenn ihnen jemand anbot, wenigstens das Getränk zu bezahlen. So etwas kam einer Beleidigung gleich. . Bert Stranger lag es fern, jemanden zu beleidigen. Er war jederzeit bereit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und genoß daher den starken süßen Tee, den ihm der türkische Jettverleiher anbot, in aller Gemütsruhe. Nach den nächtlichen und morgendlichen Aufregungen in Frankreich tat ihm eine Erfrischung gut. Wann er endlich zum Ausschlafen kommen würde, stand in den Sternen. »Ihr Jettgleiter steht auf Feld vier, Reihe drei«, teilte ihm der Firmeninhaber mit, nachdem Bert ausgetrunken hatte. »Hier ist ihre Codekarte. Der Gleiter verfügt über eine frische Plasmapatrone, die für zirka dreieinhalbtausend Kilometer reicht. Guten 51 Flug, Mister Coogan.« Ralph Coogan - unter diesem falschen Namen hatte Stranger den Transmitter von Marseiile nach Ankara benutzt. Er verfügte sogar über ein entsprechendes Ausweisdokument, eine schlechte Fälschung, die ihm vor einiger Zeit ein Ex-Sheriff aus Arizona angedreht hatte. Bert hatte als Coogan schon so manchen Bluff abgezogen, und zum Mieten des Jetts reichte das Papier allemal aus. Sowohl für die Miete als auch für die Transmitterreise hatte Stranger tief in die Tasche greifen müssen - allerdings nicht in seine eigene, sondern in die von Terra-Press. Ein schlechtes Gewis sen hatte er dabei nicht. Im gesamten Sonnensystem war es üblich, daß Journalisten fortwährend versuchten, ihre Chefredakteure durch erhöhte Spesenrechnungen in den Irrsinn zu treiben. Warum sollte ausgerechnet er, die Nummer eins der Branche, die rühmliche Ausnahme bilden? Strangers Ziel war das anatolische Hochland, genauer gesagt ein verstecktes Tal zwischen Erzurum und Tekman. Während des Fluges im Morgengrauen ließ er die beeindruckenden Naturschönheiten des Grenzlandes zwischen Kreuz und Halbmond auf sich einwirken. Die bizarren Kegel, Schluchten und Schlote, die von Höhlen durchwirkten Talkessel und die gewaltigen, in den Senken verstreuten Steinmassen, welche vor Jahrmillionen von mächtigen Vulkanen herausgeschleudert
worden waren, ließen ihn zwar respektvoll erschauem, entspannten ihn aber auch zugleich. Und Entspannung war jetzt wichtig, angesichts seines gefährlichen Vorhabens. Bert mußte damit rechnen, von dieser Mission nicht mehr lebend zurückzukehren. Ja, er mußte sogar damit rechnen, nicht lebend am Zielort anzukommen. Ab einem gewissen Zeitpunkt ging Stranger vom Flug- in den Schwebebetrieb über. Sein Mietjett senkte sich vom Himmel herab und schwebte von nun an über holperige Feldwege. Während der Fahrt ließ Bert die Umgebung keine Sekunde aus den Augen. Er wußte nur so ungefähr, in welcher Gegend er nach 52 dem Versteck seines Lieblingsfeindes Ausschau halten mußte und suchte nach Anhaltspunkten.
In einem schmalen Canyon machte er einen Schweber aus, der ihm in sicherem Abstand folgte.
Etwas später kam ihm ein zweiter Schweber in langsamer Fahrt entgegen.
Bert stoppte den Jett und stieg mit erhobenen Händen aus. Mehrere bewaffnete Männer
entstiegen den beiden Schwebern und richteten ihre Karabinerläufe auf ihn.
»Willst du noch ein paar letzte Worte sprechen, verirrtes Schaf?« rief ihm einer der Männer zu
und legte seinen Zeigefinger an den Auslöser.
»Und ob ich das will!« erwiderte Stranger, wobei er versuchte, möglichst furchtlos zu klingen.
»Aber nicht mit euch, sondern mit euremBoß.«
»Der spricht aber nicht mit jedem.«
»Mit mir ganz sicher. Ich bin Bert Stranger.«
Die Männer machten verblüffte Gesichter. War dies wirklich der echte Stranger? Stranger, der
Verhaßte? Und er wagte sich tatsächlich hierher?
Sofort wurde sein Jett nach Waffen oder einem Wachroboter untersucht. Auch eine
Leibesvisitation mußte er über sich ergehen lassen. Gefunden wurde nichts.
Den Rest des Weges mußte Stranger zu Fuß fortsetzen. Man brachte ihn zu einem versteckten
Landsitz, der von außen nur schwer einsehbar war. Mauern, Stacheldraht und sogar ein Minen
streifen waren zum Schutz des Hauses angelegt worden, und selbstverständlich wurde man auf
Schritt und Tritt von elektronischen Alarmgebem überwacht.
In der Eingangshalle der Villa sprudelte ein ansehnlicher, mehrere Meter hoher Springbrunnen.
Kurz darauf standen sich dort Stranger und sein übelster Erzfeind gegenüber - wie weiland Sher"
lock Holmes und Professor Moriarty an den Wasserfällen.
Der Gastgeber hielt sich nicht lange mit höflichen Begrüßungsfloskeln auf. Statt dessen ließ er
seinem Haß auf den ungebetenen
53 Besucher freien Lauf.
»Du hast wirklich Nerven, daß du dich in die Höhle des Löwen traust. Dir ist doch hoffentlich
klar, daß du dieses Haus nur noch mit den Füßen voran verlassen wirst. Käfer und Würmer
werden sich über deinen faulenden Kadaver hermachen. Wärst du Handlungsträger in einem
Buch, würde ich es so ausdrücken: Du erlebst das nächste Kapitel nicht mehr. Stranger, mein
Lieber.«
»Was ist das für eine merkwürdige Welt?« fragte Dan Riker.
»Ich würde die Frage auf diese Wesen erweitem«, sagte Artus. »Ich habe das Gebaren und das
Aussehen der beiden Akademiepräsidenten beobachtet. Sie erinnern stark an Menschen. Unsere
diesbezüglichen Vermutungen sind keinesfalls aus der Luft gegriffen.«
»Derartige Ähnlichkeit wird es im Universum viel häufiger geben, als wir uns das vorstellen
können.«
»Ich meinte nicht nur die äußere Ähnlichkeit. Sie bewegen sich wie Menschen. Sie sind -
menschlich. Mir fällt keine andere Bezeichnung ein. Vielleicht fällt mir das stärker auf als dir,
Dhark. Schließlich betrachte ich dich auf die gleiche Weise wie diese Wesen.« Artus klang jetzt
beinahe schulmeisterlich. »Objektivität hin oder her, Menschen betrachten sich selbst und andere
Spezies immer mit verschiedenen Augen.«
»Artus hat nicht so unrecht. Aber so einen Zufall gibt's doch gar nicht. Man könnte meinen,
wieder daheim zu sein, wenn auch bald zweitausend Jahre in der Vergangenheit.«
»Das erklärt aber noch nicht, wie diese Menschen nach Om gelangt sind. Auf einen Planeten, der
der Erde nachempfunden scheint. Selbst ihre Sonne nennen sie Sol.«
Ren Dhark nahm über die Gedankenkontrolle Verbindung zum Checkmaster auf. »Ich warte noch
immer auf eine Erklärung für die vergangenen Stunden. Was hast du dir dabei gedacht?«
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Ich habe meine Meinung geändert, antwortete das Steuergehim. Menschen tun das fortwährend. Mehr habe ich dazu nicht w sagen. Ren kniff die Lippen zusammen. Er hatte keine andere Auskunft erwartet. »Hältst du es für möglich, daß dein Entschluß, unsere Zusammenarbeit zu beenden, sich irgendwann wiederholt?« Davon ist nicht auszugeben. Immerhin etwas. Trotzdem war Dhark überzeugt, daß ihn von diesem Tage an ständig ein Rest an Zweifeln begleiten würde. Was geschehen war, war beinahe ein traumatisches Erlebnis. Er begriff, daß die Befehlsgewalt über die POINT OF und die Anwesenheit des Checkmasters zu festen Konstanten in seinem Leben geworden waren. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß es einmal anders sein könnte und er eines Tages ohne diese beiden Faktoren auskommen mußte. »Unser lieber Freund verweigert weiterhin Angaben zu seinen Beweggründen«, sagte er. »Gisol, kannst du dir vorstellen, was in ihn gefahren ist?« »Da bist du die kompetentere Person«, wehrte der Worgun ab. »Ich erklärte dir schon einmal, daß der Checkmaster eine Einzelanfertigung von Margun und Sola ist. Du bist seit Jahren mit ihm vertraut, Ren. Mir ist er im Grunde ja völlig fremd. Ich kann auch keine vergleichenden Schlüsse ziehen. Bei den Einrichtungen auf meiner EPOY kann es zu solchen Pannen schließlich nicht kommen.« »Vielleicht haben Margun und Sola ihn mit Absicht so konstruiert. Vielleicht soll er hin und wieder solche Aussetzer zeigen. Wir wissen nicht, über welchen Humor sie verfügt haben.« »Jedenfalls war seine Handlungsweise mal wieder ein Indiz für organische Komponenten.« Von dieser Vermutung ging man aus, seit Ren Dhark im Mai 2057 von der Zentrale der Stemenbrücke auf Zwitt übernommen worden war und kurzfristig als deren Checkmaster füngiert hatte. »Dazu paßt auch seine geradezu störrische Art, uns eine Erklä 55
mng zu verweigern. So benimmt sich doch keine Maschine, das ist die Handlungsweise eines lebendigen Wesens.« »Ich könnte den Kasten aufschrauben, bildlich gesprochen, und mir mal seine Speicher- und Rechenbänke vornehmen.« »Ein derartiger Zugriff wird verweigert«, meldete sich der Checkmaster in diesem Moment zu Wort. »Ich muß dringend von einem solchen Versuch abraten, da ich entsprechende Gegenmaß nahmen ergreifen werde.« »Pech gehabt, Doorn«, tröstete Dhark den Sibirier. »Ich weiß, daß Sie dieser Wunsch schon seit Jahren in den Fingern juckt. Aber einer hat nun mal was dagegen.« »Dann, so leid es mir tut, kann ich auch nicht mit Antworten dienen.« »Wieso kennen diese Menschen sich eigentlich so gut mit Worgun-Wissenschaft aus?« fragte Artus. »Bei denen könnten Sie glatt in die Lehre gehen, Gisol.« »Das wundert mich ebenfalls«, stimmte der Worgun zu. »Die müssen sich sogar hervorragend mit unserer Technik auskennen. Das war ja keine Kleinigkeit, sondern ein elementares Problem, und sie haben es mehr oder weniger im Vorbeigehen behoben. Sie sprachen von einer Umgehung der Basisprogrammierung des Checkmasters. Bedeutet daß, daß Laetus und Nauta sich mit seiner Grundstruktur auskennen?« »Damit würden sie über Wissen verfügen, das dieser Kasten mir vorenthält. Das könnte daraufhinweisen, daß sie den Checkmaster in- und auswendig kennen. Doch wie sollen sie an dieses Wissen gelangt sein? Sie sagten selbst, daß es sich um ein Einzelstück handelt. Die beiden können es also nie mit einem zweiten Checkmaster zu tun gehabt haben.« »Vielleicht sind sie irgendwie an die Konstruktionsunterlagen gekommen«, überlegte Amy Stewart. »Nach dem, was ich vorhin erlebt habe, halte ich alles für möglich. Schließlich fliegen sie ja auch mit Ringraumern durch die Gegend, als sei es die natürlichste Sache der Welt.« 56 Gisol verzog in menschlicher Manier das Gesicht. »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er. »Aber es würde mich brennend interessieren.«
Am späten Nachmittag landete ein großer Gleiter im Schatten der POINT OF, um die geladene Delegation abzuholen. Ren Dhark hatte sich für Anja, Dan Riker und Gisol entschieden. Der Worgun wurde natürlich von seiner kleinen Freundin Juanita begleitet. Der Commander hatte zudem dafür gesorgt, daß Amy Stewart dabei war, deren Gegenwart er bei den bevorstehenden Festivitäten nicht missen wollte. Außerdem war Arc Doorrn mit von der Partie. Dhark hegte die Hoffnung, mit weiterer Technik der Worgun konfrontiert zu werden. Für diesen Fall wollte er
nicht auf die fachlichen Kenntnisse des Sibiriers verzichten, auch wenn der selbst in fremder Gesellschaft zuweilen recht mundfaul und mürrisch wirkte. Die Cyborgs Lati Oshuta und Bram Sass komplettierten die Abordnung. Zwar glaubte Dhark nach allem, was vorgefallen war, nicht an eine Falle, sondern war von der Aufrichtigkeit der Planetenbewohner überzeugt, das hinderte ihn aber nicht an einer gewissen Vorsorge. Mit den Cyborgs im Gepäck fühlte er sich wesentlich sicherer, zumal er und seine Begleiter diesmal auf ihre Waffen verzichteten. Zu gut war ihm noch die peinliche Situation bei ihrem ersten Ausflug bewußt, als sie selbst schwerbewaffnet waren und feststellen mußten, daß die Römer überhaupt keine Waffen bei sich trugen. Eine solche Verletzung der Etikette wollte Dhark kein zweites Mal begehen. Da waren die auf den ersten Blick unauffälligen Cyborgs eine angenehmere Rückendeckung. Der gelandete Gleiter war groß genug, um sie alle aufzunehmen. Er wurde von einem jungen Römer gesteuert. »Ich bin Valerius Raclus«, stellte er sich vor. »Ich habe die 57 Ehre, sie zur Akademie zu bringen.« Ein winziger Translator, den er an einer Kette um den Hals trug, übersetzte seine Worte perfekt ins Angloter. In seinem rechten Ohr glaubte Ren Dhark einen kleinen Knopf zu erkennen, der Valerius Raclus offenbar als Translator ins Lateinische diente. »Eine schöne Maschine«, sagte Juanita mit einem schelmischen Lächeln. »Aber kann sie nicht alleine fliegen?« »Das kann sie durchaus«, erklärte der Akademiker. »Aber die Höflichkeit unseren Gästen gegenüber gebietet einen Piloten.« »Das kann ich verstehen«, versicherte das elfjährige Mädchen aus den Slums von Rio. Während des Fluges beobachtete sie mit strahlendem Lachen das Land unter sich. Es erschien ihr wie ein Naturschutzpark daheim auf der Erde. Schon aus der Feme war die beeindruckende Stadt zu erkennen. Besonders ragte das Kapitol heraus, das größer und schöner war als sein Vorbild im alten ter-ranischen Rom. Das Leuchten in Juanitas Augen wurde noch größer, als der Gleiter die Akademie erreichte. Es handelte sich um eine weitläufige, prächtige Anlage mit langgezogenen, zumeist flachen Ge bäudetrakten. Zwischen den weißen Bauten, die in der Abendsonne funkelten und durch malerische Wege verbunden wurden, gab es parkähnliche Anlagen mit Wiesen, Alleen und Teichen. Ausgedehnte Felder bunter Blumen in sämtlichen Farben des Re-genbogens taten es dem Mädchen besonders an. »Seht doch nur die Statuen!« rief sie begeistert. Überall in der ausgedehnten Anlage waren sie zu bewundem. »Als hätte sich das alte Rom bis heute weiterentwickelt«, stellte Arc Doorrn fest. »Man muß sich nur die vereinzelten Landefelder wegdenken, und natürlich die technischen Einrichtungen, die verborgen sind, damit sie nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen.« »Dieses Arrangement ist mit Bedacht so gewählt«, erklärte der Römer. »Wir wollen den Blick auf das Wesentliche richten.« »Dazu zählt für Sie nicht die Technik?« fragte der Sibirier mißtrauisch. Leute, die dem Fortschritt skeptisch gegenüberstanden, 58
waren ihm suspekt. »Aber Sie kommen sicher nicht ohne sie aus, wie ihre Ringraumer belegen.« So wie die gewaltigen Erron-Stationen im Mantel der Gaswolke, die ursprünglich von den Worgun stammten. Doorn warf einen Seitenblick auf Gisol. Wenn nicht mal der eine Ahnung hatte, wie die Bewohner dieses Planeten an die großartigen Hinterlassenschaften seines Volks gekommen waren, würden sie womöglich niemals eine schlüssige Antwort erhalten. Es juckte ihn in den Fingern, ihren Piloten danach zu fragen. Doch erstens war der zweifellos der falsche Ansprechpartner für die Herausgabe derartiger Informationen, und zweitens hatte Ren Dhark vor dem Aufbruch unmißverständlich klargemacht, daß er diesbezügliche Fragen als Chefsache betrachtete. Wenn Doorn das vergaß, würde der Commander ihn daran erinnern. Zu groß war die unbezwingbare Neugier des Sibiriers. »Auf diesem Gebiet verfügen wir über einen hohen Standard, doch letzten Endes ist Technik nur Mittel zum Zweck«, riß ihn die Antwort des Piloten aus seinen Überlegungen. Der Pilot steuerte den Gleiter zu einem der unauffällig inmitten von Gehölzen angelegten Landefelder und brachte ihn zu Boden. Als die Delegation aus dem Fahrzeug ausstieg, wurde sie von betörendem Duft empfangen. »Die Blumen«, schwärmte Juanita und rannte los. »Wir dürfen sie nicht verlieren, Gisol«, beschwor Ren Dhark den Worgun.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte ihn der Römer. »Ihr kann nichts passieren. In der Akademie gibt es nichts, was ihr gefährlich werden könnte, und verlaufen hat sich hier auch noch niemand.« »Trotzdem möchte ich lieber, daß unsere Gruppe zusammenbleibt.« »Juanita!« rief Gisol hinter dem Mädchen her. »Komm zurück!« Die Kleine blieb stehen und schaute sich zu der Gruppe um. Schließlich lief sie den eingeschlagenen Weg zurück und schloß 59 sich ihren Freunden wieder an. »Schade«, kommentierte sie. »Aber ich hoffe, daß unsere Gastgeber mir später erlauben, ein paar dieser hübschen Blumen zu pflücken.« »So viele, wie du tragen kannst«, versicherte der Römer, während er die Delegation zu einem besonders prachtvollen Gebäude führte. Es überragte die umliegenden Trakte und war von machtvollen Säulen geschmückt, die einen weit nach vorn überhängenden Deckenteil stützten. Ringsum gab es Arkaden und Flanierwege, über die sich diskutierende Studenten bewegten. Manche blieben stehen und wandten die Köpfe, als sie die Gruppe von der POINT OF erspähten. Doch lange hielten sie sich nicht mit der Betrachtung der Neuankömmlinge auf, sondern setzten ihre rastlosen Wanderungen fort. »Dort hinauf«, dirigierte ihr Pilot sie zwischen zwei Reihen von Säulen hindurch, die den Besuchern unbekannte Römer darstellten. Auch Nachbildungen von Löwen und Tigern gab es, obwohl Dhark bezweifelte, daß ähnliche Tiere aufTerra Nostra existierten. »Ren!« zischte Dan Riker. »Ich habe sie auch gesehen, und ich bin genauso ratlos wie du. Woher kennen sie die?« »Du hast dir die Antwort doch schon selbst gegeben. Wir sollten endlich anerkennen, was wir schon im Schiff vermuteten, nämlich daß diese Menschen Nachkommen von Bewohnern der Erde sind. Es gibt keine andere Erklärung.« Dhark versuchte den Gedanken nicht zu Ende zu denken, weil er allzu phantastisch war. Zudem war er überzeugt, auf dem bevorstehenden Fest mehr über die Geschichte dieser Menschen zu er fahren. So offenherzig, wie er Laetus und Nauta einschätzte, würden sie ihm keine Informationen verschweigen, die nicht einer Geheimhaltung unterlagen, und das Wissen um den historischen Werdegang des eigenen Volkes war nun beileibe kein Geheimnis, das es zu bewahren galt. Er und seine Begleiter wurden in einen prächtigen Saal geführt. Die Wände waren mit pompösen Teppichen behängt, die Szenen 60 zeigten, die ebenfalls auf der Erde zu spielen schienen. Glänzende Säulen aus poliertem Marmor strebten der gewölbten Kuppeldecke entgegen. Auch hier gab es vereinzelte Statuen, jedoch mehr Bü-sten, die die Elfenbeingesichter honoriger Römer zeigten. Auf einer riesigen Tafel waren Speisen und Weine aufgetischt. Socrates Laetus kam milde lächelnd auf Ren Dharks Delegation zu, der es nicht leichtfiel, sich von den opulenten Eindrücken zu lösen. »Ich heiße Sie herzlich willkommen«, begrüßte er seine Gäste. »Wir freuen uns, hier zu sein. Alles hier ist wunderschön«, plapperte Juanita. »Besonders die Blumen draußen. Am liebsten würde ich für immer hierbleiben.« Schnell sah sie Gisol an, als ihr die Bedeutung ihrer euphorisch gesagten Worte bewußt wurde. »Entschuldige, Jim. Ich will natürlich bei dir bleiben. Aber jedes Jahr einmal hierher in Urlaub zu fliegen, wäre doch eine schöne Sache. Jedenfalls treffen wir hier nicht nur auf Touristen.« »Ich werde sehen, was ich für dich aushandeln kann, kleine Prinzessin«, erwiderte der Worgun scherzhaft. Juanita strahlte ihn an. »Danke, Jim. Auch wenn ich weiß, daß du mir ein solches Versprechen gar nicht geben kannst, weil du andere Sachen zu tun hast. Schließlich braucht der Commander der Planeten dich genau so sehr wie ich selbst.« Laetus zeigte sich angetan von soviel kindlicher Begeisterung. Mit einem Lachen gesellte sich Nauta zu ihnen, der die Unterhaltung aus der Nähe verfolgt hatte. »Warum gibt es hier denn keine jungen Frauen?« wunderte sich Juanita. Ihr war aufgefallen, daß lediglich einige Senatoren anwesend waren und eine Menge junger Studenten. »Diese Gesellschaft ist anders aufgebaut als unsere«, beeilte sich Dhark zu sagen. »Nur Männer besuchen die Akademie. Frauen ^nd die Herrinnen des Heims und der Familie.« »Das ist aber blöd«, beschwerte sich das Mädchen. »Mit wem ^ll man denn da spielen?« Sie dachte angestrengt nach. »So doof ist es aber auch wieder nicht, wenn man als Mädchen gar nicht in
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die Schule muß. Die ist doch sowieso sinnlos. Alle wichtigen Dinge, die ich weiß, habe ich von
Jim gelernt.«
»So kann man es natürlich auch sehen«, sagte Nauta. »Aber da wir gerade beim Nachwuchs
sind.« Er gab zwei jungen Männern, die in der Nähe warteten, einen kurzen Wink, der sie
veranlaßte, näherzukommen.
Die Studenten neigten die Köpfe und grüßten freundlich.
»Dürfen wir Ihnen unsere Söhne vorstellen? Martinus und So-phistes. Sie werden eines Tages
hoffentlich qualifiziert genug sein, von uns die Leitung der Akademie zu übernehmen, so wie wir
es dereinst von unseren Vätern taten.«
»Ich bin überzeugt, daß wir uns unserer Väter als würdig erweisen werden«, sagte der junge
Nauta. Ren betrachtete seine Gesichtszüge. Er ähnelte Marcus Gurges Nauta frappierend, ebenso
verhielt es sich mit den beiden Laetus-Generationen. Hier wie dort war die Vater-Sohn-
Konstellation nicht zu verkennen.
Sie unterhielten sich eine Weile über Belanglosigkeiten, bis Ren seine Neugierde nicht länger
zügeln konnte. »Sehr viel hier erinnert uns an unsere Heimat«, sagte er vorsichtig. »So viel, daß
wir nicht an einen Zufall glauben mögen.«
»Sie werden alles erfahren, was Sie wissen wollen. Doch ich möchte Sie noch etwas vertrösten,
um zunächst das Bankett zu eröffnen.«
»Eine gute Idee«, pflichtete Juanita bei. »Ich habe nämlich riesigen Hunger.«
»Dann wollen wir die junge Dame doch nicht länger warten lassen.«
Das Festbankett fiel fürstlich aus. Ren Dhark und seine Leute hatten lange nicht mehr so gut
gespeist.
»Besser, wir halten uns ein wenig mit dem Wein zurück«, sagte er. »Schließlich sind wir nicht im
Los Morenos, und das hier ist
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nicht unser Privatvergnügen.«
Arc Doorrn war da anderer Ansicht. »Wir sollten unsere Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen«,
erwiderte er und griff nach einer Weinkaraffe, um sein Glas zu füllen.
»Ich habe nichts gegen ein oder zwei Gläser, aber wir alle werden einen klaren Kopf behalten.
Ich will keine Peinlichkeiten provozieren, andernfalls hätte ich auch Chris Shanton mitnehmen
können.«
Doorn zog es vor, den Mund zu halten.
»Fällt dir etwas auf?« fragte Dan Riker.
»Was meinst du?«
»Die Senatoren. Sie halten sich vornehm von der Tafel zurück. Ihnen scheint daran zu liegen, daß
die Akademiker zufrieden sind.«
Dhark nickte. Das Verhalten der Senatoren war ihm ebenfalls nicht entgangen. Sie waren kaum
um ihr eigentliches leibliches Wohlergehen besorgt. Vielmehr schien es, als seien sie lediglich
die ausführenden Organe der Akademiker. Ein paarmal hatte er mitbekommen, daß einer der
Wissenschaftler eine Anweisung gegeben hatte, die von den dienstbereiten Senatoren umgesetzt
wurde. Immer wieder wurde die exponierte Stellung deutlich, die besonders Nauta und Laetus
innehatten. Ihre Wünsche wurden ihnen quasi von den Augen abgelesen, und die jungen
Studenten suchten die Nähe der beiden Akademiepräsidenten, als sähen sie so etwas wie
Überväter in ihnen.
»Auf Terra Nostra scheinen die Wissenschaftler das Sagen zu haben, nicht die Politiker. Eine
beachtliche Einstellung. Ich muß zugeben, daß mir das gefällt.«
»Diese Regelung sollten wir daheim aber besser nicht einführen. Oder willst du nach der Pfeife
von Doorn und Shanton tanzen?«
»Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen«, brummte der Sibirier wortkarg zwischen zwei Bissen.
Glücklicherweise bedrängten die Akademiker ihre Gäste mit Prägen, so daß Ren Dhark das
Thema nicht mit dem bulligen, mür
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risch dreinschauenden Mann vertiefen mußte. »Was ist mit dem Römischen Reich geschehen?« fragte ihn Laetus übergangslos. »Seit 738 ab urbe condita haben wir keine neuen Informationen erhalten. Hat es sich so großartig weiterent wickelt wie unser Reich?« Ren registrierte, daß seine Leute Laetus unverblümt anstarrten. Mit diesen Worten hatten sie endgültig das definitive Eingeständnis, daß die Römer Terra Nostras ursprünglich von der Erde
stammten. Ohnehin hatte er nicht mehr daran gezweifelt, aber eine direkte Aussage verfügte immer über eine ganz besondere Kraft. Rens Gedanken überschlugen sich. 738 a.u.c. hatte Laetus gesagt. Er rechnete schnell zurück und kam zu dem Schluß, daß das im Jahre 15 vor Christus gewesen sein mußte. Er erinnerte sich an etwas aus seinem Geschichtsunterricht: Die Römer zählten die Jahre »seit Gründung der Stadt« ab urbe condita. Gemeint war natürlich die Stadt Rom, deren Gründung offiziell im Jahr 753 vor Christus erfolgt war. »Ich muß Sie enttäuschen«, antwortete er. »Das Römische Reich, das Sie kannten, existiert längst nicht mehr.« Ringsum wurde es still. Diesmal war es Dhark, der von allen Seiten angestarrt wurde. Er spürte die Betroffenheit, die unter den Römern um sich griff. Es war Marcus Gurges Nauta, der sich schließlich einen Ruck gab und mit belegter Stimme sagte: »Viel Zeit ist verstrichen. Wir schreiben heute das Jahr 2812 ab urbe condita. Zuviel Zeit selbst für ein Göttergeschlecht, sie unbeschadet zu überstehen. Irgendwann mußte selbst das glorreiche römische Reich untergehen. Wer hat es besiegt?« »Eine weitere schlechte Nachricht. Letztlich haben die Römer sich selbst besiegt. Sie gaben ihre alten Götter und damit ihre innere Kraft auf. Das Reich verfiel zusehends in Dekadenz. Einige hundert Jahre nach Ihrem Weggang stellten die Römer in ihrem eigenen Reich nur noch eine Minderheit von 25 Prozent dar. Sie wurden zu Untertanen der Völker, über die sie einst geherrscht hatten.« 64
»Beim Jupiter«, seufzte Socrates Laetus. »Ich verstehe. Ohne ihre Götter unterlagen die Römer einer schleichenden Auszehrung ihrer Kultur und somit ihrer Kraft. Wir auf Terra Nostra glauben ebenfalls längst nicht mehr an die alten Götter. Doch das hat sich nicht negativ auf uns ausgewirkt.« »Sie haben eine neue Religion entwickelt?« erkundigte sich Amy Stewart interessiert. »Nein. Wir brauchen keine Götter, um unseren Weg zu gehen. Wir verlassen uns auf uns selbst.« »Und auf die Technik der Worgun«, ergänze Gisol. »Ansonsten wäre Ihre Entwicklung nicht so rasch vorangeschritten.« »Ich pflichte Ihnen bei«, sagte Laetus, während unter seinen Studenten gedämpfte Diskussionen über den Untergang des Volkes einsetzten, dem sie entstammten, auch wenn sie selbst das na türlich nur noch aus geschichtlichen Überlieferungen wußten. »Doch Ihre Tempel haben Sie behalten. Ich sah sie aus der Luft.« »Aber sie haben keine religiöse Bedeutung mehr. Wir betrachten sie als formvollendete Bauwerke, die heutzutage der Dekoration dienen. Oder als Ort der inneren Einkehr, wenn uns daran gelegen ist, zu uns selbst zu finden. Viele Römer benutzen sie als Stätte gemeinsamer Meditation. Doch diese ist nur noch auf den eigenen Geist gerichtet und nicht auf höhersphärische Wesen, deren Existenz nicht empirisch zu belegen ist.« Ren bemerkte, daß Arc Doorrn ihm immer wieder auffordernde Blicke zuwarf. Er wußte genau, was der Sibirier wollte. Er wollte endlich wissen, was die Menschen auf diesen Planeten verschlagen hatte. Betrachtete er all ihr Wissen und ihre Ausstattung, konnten eigentlich nur die Worgun dafür verantwortlich sein. Dem widersprach allerdings, daß Gisol keine Informationen darüber besaß. Allerdings war Gisol ein Rebell, der große Teile der Geschichte der Worgun allenfalls aus zweiter Hand kannte. »Wir haben all Ihre Fragen beantwortet«, richtete sich Dhark an die beiden Akademiepäsidenten. »Wir sind auch bereit, Ihnen 65 sämtliche Daten, die die römische Geschichte betreffen, überspielen zu lassen.«
Nauta wiegte den Kopf. »Deshalb sind Sie nun der Meinung, daß wir Ihnen etwas schulden. Sie
wollen unsere Geschichte erfahren.« Er hob abwehrend die Hände, als Ren zu einer Antwort an
setzte. »Nein, Dominus Dhark, leugnen Sie ihre Neugier nicht. Sie brauchen sich auch nicht zu
entschuldigen, denn nach Ihrer Ehrlichkeit sehen wir es als unsere Pflicht an, Ihnen unsererseits
die Informationen zu geben, nach denen es Sie verlangt.«
Der Commander atmete erleichtert auf. Er war froh, daß er nicht feilschen mußte.
Allmählich neigte das Festmahl sich dem Ende entgegen. Draußen setzte die Dämmerung ein.
In dem großen Saal entstand wie aus dem Nichts eine riesige Bildkugel.
»Da hol mich doch der Teufel« entfuhr es Arc Doorrn. »Die Burschen haben noch ein paar
Überraschungen für uns auf Lager.«
»Wir werden Ihnen eine holographische Dokumentation zeigen, die alle Fragen beantwortet«,
erklärte Socrates Laetus. »Dies ist einfacher und zudem authentischer als ein mündlicher Bericht.
Sie werden viele Bilder sehen, die außer uns Römern und den Hohen noch niemand gesehen hat.«
Gisol zuckte bei der Erwähnung der Hohen zusammen, gab aber keinen Kommentar ab.
Die Bildkugel schwebte unbeweglich in der Luft. Sie ähnelte der aus der POINT OF, war aber
viel größer. Die dunkle Oberfläche wirkte stumpf. Sie war von allen Stellen im Saal
gleichermaßen gut zu sehen.
»Die Geschichte der 48. Römischen Legion«, bemerkte Nauta salbungsvoll.
Die Oberfläche der Bildkugel begann zu verschwimmen.
Ein unüberschaubarer römischer Troß nahm darin Gestalt an.
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4. »Es war klug von dir, auf dem letzten Teil der Strecke nicht zu fliegen, Stranger, mein Lieber. Ansonsten wärst du auf der Stelle abgeschossen worden.« Bert Stranger und Osman Mülyz hielten sich auf der hinteren Terrasse von Osmans verborgenem Landsitz auf. Dort erstreckte sich ein ansehnlicher, von niedrigen Hügeln gesäumter Wildgarten. Inmitten des Krauter- und Pflanzendickichts reckte sich ein schweres Strahlengeschütz gen Himmel. »Wäre doch schade gewesen, nicht wahr?« fuhr der schwarzbärtige Drogenbaron fort. »Eine Explosion zwischen den Wolken — Krawumm! - und von einer Sekunde auf die andere ist es aus mit dir. Wo bleibt da für mich der Spaß am Töten? Ahnst du, wie oft ich dich in meinen Träumen schon umgebracht habe? Das geschah immer ganz langsam. Am Schluß hast du jedesmal wie ein Hund gewinselt und mich angefleht, dir den Rest zu geben.« Seine Stimme zitterte merklich, als er hinzufügte: »Und nun werden meine Träume endlich wahr. Du bist mir wehrlos ausgeliefert. Ich werde es genießen, dich Stück für Stück in deine Einzelteile zu zerlegen. Das Gehirn kommt zuletzt an die Reihe; ich schätze, es ist mickrig und verkümmert, sonst hättest du dich nicht freiwillig in meine Hände begeben.« Bert Stranger ließ sich nicht provozieren, auch wenn's schwerfiel. Für ihn waren gewissenlose Drogenhändler wie Mülyz ein rotes Tuch, weil sie sich am Leid willensschwacher Mitmenschen bereicherten. Kliniken und Pflegeheime waren voll von ausgemergelten Suchtopfem, die unter größten körperlichen und seelischen Schmerzen ums Überleben rangen. Und schaffte es ein Abhängiger mit viel Kraftanstrengung über den Berg, stand gleich wieder ein Dealer parat, um ihn erneut in den Höllenschlund zu stoßen. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab... Stranger konnte nicht gegen alle Drogenbosse der Welt ankämpfen, aber zumindest einigen von ihnen wollte er das Leben 67
schwermachen. Auf Osman Mülyz hatte er es besonders abgesehen. Mit seinen Reportagen hatte er ihm schon so manches lukrative Geschäft vermasselt. Einmal hätte er es beinahe geschafft, ihn ins Zuchthaus zu bringen. Doch Mülyz war wie eine Schlange, es gelang ihm immer wieder, sich herauszuwinden. Offiziell war er ein integrer Geschäftsmann, dem die Justiz bisher lediglich kleinere Verfehlungen hatte nachweisen können. Durch seine Mittelsmänner hatte Osman den verhaßten Journalisten wissen lassen, daß er ihn mit eigener Hand vom Leben zum Tode befördern würde - langsam und qualvoll. Schon zweimal hatte er versucht. Stranger auf seinen Landsitz zu verschleppen, aber der Reporter hatte beide Male den Braten rechtzeitig gerochen und Gegenmaßnahmen ergriffen. War jetzt die Stunde der Rache gekommen? Osman Mülyz betätigte einen Sensorschalter, und das Strahlengeschütz in seinem Garten verschwand mit einem lauten Summton unter der Erde. »Davon besitze ich noch mehr«, verkündete der fünfzigjährige Türke stolz. »Sie befinden sich in den Bergen, lassen sich aber von hier aus problemlos steuern. Sportflieger tun gut daran, auf den vorgeschriebenen Routen zu bleiben, denn falls sich einer von ihnen zufällig in diese abgeschiedene Gegend verirrt...« Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu formulieren, Stranger wußte auch so, was er meinte. »Ich bin kein verirrter Reisender«, machte er seinem Erzfeind deutlich. »Ich bin mit voller Absicht zu dir gekommen.« »Warum nur, warum?« fragte Osman und strich mit der linken Hand bedächtig über seinen Bart. »Je länger ich mir darüber den Kopf zerbreche, um so ratloser bin ich. Was bezweckst du mit dei nem Besuch, Stranger, mein Lieber?«
»Ich will dir einen Handel vorschlagen«, antwortete Bert.
Noch bevor er weiterreden konnte, brachte Osman ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum
Schweigen.
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»Still, ich will nichts davon hören! Bestimmt gelingt es mir, durch geschicktes Kombinieren von allein hinter dein Vorhaben zu kommen. Auf Anhieb fallen mir zwei Möglichkeiten ein. Erstens: Die Angst vor mir bringt dich schier um, deshalb willst du mir anbieten, künftig keine verleumderischen Reportagen mehr über mich zu verfassen. Als Gegenleistung erwartest du von mir, daß ich dich begnadige und dir nicht weiter nach dem Leben trachte. Zweitens: Du versuchst den Eindruck zu erwecken, du hättest dich auf die andere Seite des Gesetzes geschlagen und schlägst mir ein illegales Geschäft vor. In Wirklichkeit willst du mich allerdings nur in eine Falle locken.« »Deine Kombinationsgabe in allen Ehren«, entgegnete Stranger schmunzelnd, »aber deine Vermutungen sind völlig realitätsfem. Ich habe Feinde, die sind von ganz anderem Kaliber als du -meine Angst vor dir hält sich also in Grenzen.« Das war voll geblufft. In Wahrheit wünschte er sich, er wäre niemals hierher gekommen. Beide Männer zogen sich ins Haus zurück. Osmans Leibwächter, die sich außer Hörweite, jedoch stets in der Nähe aufhielten, ließen sie nicht aus den Augen. »Ich weiß, wozu du fähig bist, und ich halte dich nicht für einen Dummkopf«, sagte Bert zu seinem Gastgeber, nachdem beide auf einem breiten Sofa Platz genommen hatten. »Daher würde ich niemals auf den wahnwitzigen Gedanken kommen, dir irgendeine primitive Falle zu stellen. Der Grund meines Besuchs ist ein anderer: Ich will dir helfen, deine in den Keller abgedriftete Umsatzkurve wieder ins Dachgeschoß zu führen.« »Woher weißt du, daß...?« setzte Osman an, verbesserte sich dann aber rasch. »Wie kommst du darauf, daß meine Umsätze nickläufig sind?« »Rückläufig? Wenn du dir nicht schnellstens etwas einfallen läßt, kannst du dir über kurz oder lang weder Geschütze noch Beschützer leisten und mußt hier ausziehen. Wahrscheinlich wirst du am Ende froh sein, wenn man dich festnimmt, denn hinter Gittern 69 bekommt man immerhin drei Mahlzeiten am Tag.« Bert Stranger übertrieb absichtlich - er hatte halt einen Hang fürs Theatralische. »Meine Geschäfte laufen bestens«, behauptete Mülyz. »Ich verfüge über einen erlesenen Kundenstamm rund um den Erdball.« »Erzähl doch keine orientalischen Märchen«, spottete Bert. »Deine illustre Kundschaft besteht fast nur noch aus jugendlichen Junkies, kaputten Existenzen, die kaum mehr als Kleingeld abwer fen. Um auf Dauer am Drogenmarkt überleben zu können, brauchst du unbedingt gutbetuchte Käufer - Abhängige aus den sogenannten besseren Kreisen. Aber gerade dieser Personenkreis springt derzeit reihenweise vom Zug. Wer es sich leisten kann, pfeift auf die geläufigen Suchtmittel, deren Einnahme sich jederzeit mit den in der Wirtschaft üblichen Tests nachweisen läßt. Statt dessen fährt die genannte Zielgruppe neuerdings auf die virtuellen Vergnügungen des Sensoriums ab. Das kommt zwar teurer, doch es lohnt sich.« »Wie bitte?« entfuhr es dem Hausherrn. »Soll das ein Witz sein, Stranger? Ich soll ins Sensoriengeschäft einsteigen? Zugegeben, der Fachhandel macht damit keinen schlechten Schnitt, doch unter richtig großem Geld verstehe ich was anderes. Im übrigen verzichtet garantiert kein einziger VIP auf seine tägliche Nase voll Koks, um sich statt dessen ein verbessertes Holoprogramm reinzuziehen.« »Du bist unzureichend informiert«, hielt Stranger ihm vor. »Das wichtigste an den Sensorien sind die Chips, stimmt's oder habe ich recht?« Osman nickte. »Ohne Chips wäre das Gerät nutzlos. Ich besitze selbst eins, benutze es jedoch nur selten, weil mir die ausgewählten Unterhaltungsfilmchen nicht sonderlich zusagen. Die Neube arbeitungen der Eastwood-Filme, welche derzeit auf mehreren Holokanälen ausgestrahlt werden, sind da schon wesentlich besser.« »Die Dirty-Harry-Reihe ist bereits als Sensorium-Chip erhält 70
lieh«, verriet ihm sein Besucher. »Geplant ist außerdem die Neuauflage der unvergleichlichen Sergio-Leone-Filme. Spannungsgeladene Duelle zur tiefgründigen Hintergrundmusik von Ennio Morricone - und Clint mittendrin, den rauchenden Colt in der Hand und den legendären Zigarrenstumpen zwischen seinen Lippen.« Osman staunte nicht schlecht. »Du bist Eastwood-Fan? Erstaunlich, offenbar haben wir soeben
unsere einzige Gemeinsamkeit entdeckt.« Er räusperte sich. »Das rettet dir allerdings nicht den
Hals.«
Zumindest war ihm die kleine Information eine Flasche seines besten türkischen Weins wert - rot
und so trocken, daß es staubte. Er begab sich zu einer Anrichte, schenkte zwei Gläser ein und
reichte eines davon dem Journalisten.
»Ich hatte nicht die Absicht, mir mit einer Handvoll Eastwood-Chips dein Wohlwollen zu
erkaufen«, sagte Stranger, nachdem er einen guten Schluck genommen hatte. »Aber wie wäre es
mit ein paar Millionen weiterer Chips? Keine gewöhnlichen, sondern illegale Suchtbringer, die
derzeit den Drogenmarkt regelrecht überschwemmen. Sie sind schuld daran, daß deine Geschäfte
allmählich den Bach runtergehen. Koksen und Drücken ist bei der High-Society bald völlig out.
Wer in sein will, steigt um auf den virtuellen Drogenrausch. Ein fataler Fehler, man kommt
nämlich nie mehr davon los. Es sei denn, man läßt eine schmerzhafte, lebensgefährliche Prozedur
über sich ergehen, die viel schlimmer als jeder normale Entzug ist. Das ist keine Übertreibung,
ich habe es am eigenen Leib erfahren.«
»Der Frontmann von Terra-Press ein Drogensüchtiger?« Osman lachte. »Wer soll dir das
abnehmen, Stranger, mein Lieber?«
Ein Blick in Strangers Augen zeigte ihm, wie ernst es dem Reporter damit war.
»Sind die Dinger wirklich so gefährlich?« hakte er nach.
»Brandgefährlich«, bestätigte Bert ihm mit einem Kopfnicken. »Sowohl für die Süchtigen als
auch für konservative Drogenhänd
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ler wie dich, die systematisch in den Konkurs getrieben werden.«
»Dann müssen sie weg vom Markt!« entschied Mülyz und ließ seine Faust auf den stabilen
Couchtisch krachen.
»So ist es«, pflichtete Stranger ihm bei. »Das ist auch mein Ziel, meine persönliche Abrechnung
gewissermaßen. Die Chipzufuhr muß gestoppt werden! Ansonsten kommt es über kurz oder lang
zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Wenn wir beide an einem Strang ziehen, Osman,
kriegen wir die Drahtzieher zu fassen und können ihnen das Geschäft vereiteln. Unsere zeitweise
Zusammenarbeit käme letztlich deinen Umsätzen zugute.«
»Die du mir dann wieder kaputtmachst?«
»Selbstverständlich. Ich versuch's zumindest, das ist schließlich mein Job.«
»Und was ist mit meiner Rache?«
»Man muß Prioritäten setzen«, erwiderte Stranger eiskalt. »Die Befriedigung deiner billigen
Rachegelüste läßt sich aufschieben, der Kampf gegen die Chiphändler nicht. Es wird sich für dich
sicherlich noch eine andere Gelegenheit ergeben, mich zu Tode zu quälen.«
Osman fühlte sich innerlich hin- und hergerissen.
»Unmöglich«, preßte er hervor. »Du verlangst zuviel von mir. Zu lange habe ich auf den
Augenblick unserer Begegnung warten müssen. Stranger. Ich will dich leiden sehen!«
Weit entfernt versank die Sonne am Horizont, ein Anblick, der in Afrika ganz anders ausfiel als
daheim. Tertius Commodus hatte bereits viele Provinzen des Römischen Weltreichs gesehen,
doch nirgendwo war ihm ein Sonnenuntergang so faszinierend und schön erschienen wie auf dem
dunklen Kontinent.
Noch viele Römer sollten diesen Anblick genießen können, deshalb stand der Kommandeur mit
seinem persönlichen Einsatz hinter dem Auftrag, der die 48. Legion im Jahr 738 a.u.c in dieses
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heiße Land geführt hatte. Rom verlangte nach neuen Kolonien in den bislang unzugänglichen Regionen des Sudan, denn das gewaltige Reich mußte sich weiter ausbreiten. Noch viele Lande lagen vor Commodus. Er wollte sie alle sehen und dereinst, bevor sein Gang zu den Göttern bestimmt war, auch die letzten Gestade erreicht haben. Er war fest davon überzeugt, daß es einen noch unbekannten, fernen Ort gab, den die Kinder Roms erreichen würden. Viel weiter weg, als sie alle sich das vorstellen konnten. Die Götter würden ihm den Weg weisen. Er stand auf einer Anhöhe, von der aus er einen weiten Überblick hatte. Ganz in der Nähe befand sich eine baumbestandene Oase. Von dort schafften Legionäre Holz heran. Außerdem gab es dort Frischwasser. Er sah davon ab, gleich in der Oase zu kampieren, weil er der Überzeugung war, daß die glorreiche römische Armee jederzeit und überall auf eigenen Füßen zu stehen vermochte. In allen Kontinenten, die sie betrat, war sie unabhängig von Natur und eingeborenen Volksstämmen. Diese Politik der Stärke und Autarkie hatte Tertius Commodus seit seinem ersten
Feldzug vertreten, und niemand konnte ihn von diesem Weg abbringen. Von Stolz erfüllt beobachtete er den reibungslosen Ablauf der römischen Maschinerie. Zum Schutz vor den wilden Tieren errichteten seine Legionäre aus den herbeigeschafften Baumstämmen unüberwindliche Palisaden und bauten die Zelte dahinter auf. Das befestigte Nachtlager, das in Windeseile fertiggestellt wurde, erinnerte an eine kleine Stadt, an der andere Völker tage- oder gar wochenlang gebaut hätten. Für die 48. Legion jedoch war dies lediglich Routine, die sich jeden Abend wiederholte. Commodus trieb sein Pferd die kleine Anhöhe hinunter, von der aus er den Fortgang der Aufbauten begutachtet hatte, und mischte sich unter die Legionäre. Die kommenden Stunden wurde gefeiert, so wie jeden Abend, wenn die Römer ihrem Ziel, den unbekannten Landen, wieder ein tuck nahergekommen waren. Commodus war ein Mann, der sich nlcnt absonderte, sondern gemeinsam mit seinen Leuten zu feiern 73
wußte. Wahrscheinlich war er deshalb so beliebt bei ihnen.
Als die Nacht vorgerückt war und sich die meisten Legionäre und Zivilisten in ihre Zelte zur
Nachtruhe begaben, zog sich auch Commodus diskret zurück.
Claudia, die wunderschöne Tochter eines römischen Erbsenators, begleitete ihn, um ihm die
nächsten Stunden zu verschönern.
Schreie weckten ihn auf. Tertius Commodus fuhr aus einem traumlosen Schlaf auf und war
Augenblicke später hellwach. Dunkelheit war um ihn, und er erkannte, daß die Nacht nicht weiter
als bis zur Hälfte fortgeschritten war. Anscheinend hatten die Wachposten Alarm ausgelöst.
Während er sich in die Höhe stemmte und sich rasch ankleidete, warf er Claudia einen kurzen
Blick zu. Sie blinzelte unter den Decken hervor und drehte sich dann wieder um, um
weiterzuschlafen. Commodus verzichtete darauf, sie zu wecken, solange er nicht wußte, was
draußen geschah.
Ein Angriff möglicherweise? Doch woher sollte er kommen? Seit Tagen waren sie auf keinen
Feind getroffen. Die wilden Wüstenvölker schienen seinen Legionären aus dem Weg zu gehen.
Wer es riskierte, eine komplette römische Legion anzugreifen, mußte über einigen Wagemut
verfügen oder völlig verrückt sein.
Chaos erwartete ihn, als er aus seinem Zelt ins Freie stürzte. Legionäre rannten schreiend wild
durcheinander. Ein eigenartiges Summen lag in der Luft.
»Was ist geschehen?« schrie er, doch niemand achtete auf ihn. Allein das war ein
ungeheuerlicher Vorgang, aber es bedurfte keiner Antwort. Er erkannte auch so, was das
Durcheinander auslöste.
Als er den Blick zum Himmel wandte, erkannte er drei leuchtende Räder, die geradewegs aus
dem Firmament fielen. Aufgrund ihrer Größe gelang es ihm nicht zu erkennen, wie weit sie noch
entfernt waren. Aber es gab keinen Zweifel, daß sie sich das Nachtla
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ger der 48. Legion als Ziel auserkoren hatten.
Immer mehr Soldaten waren inzwischen auf den Beinen. Mit grimmiger Miene registrierte er,
daß es seinen Offizieren endlich gelang, Ordnung in das überbordende Chaos zu bringen.
Dekurien und Zenturien formierten sich, doch waren deren Anführer ratlos, wie sie sich verhalten
sollten. Also warteten sie ab.
Rasch wurden die Leuchträder größer. Commodus konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Nie
zuvor in seinem Leben hatte er etwas Ähnliches gesehen. Was dort herabstieg, entstammte nicht
seiner Welt. Es kam aus höheren Sphären, zu denen ihm bisher der Zutritt verwehrt gewesen war.
So wie allen Römern und allen anderen Menschen. Krampfhaft umfaßte er den Griff seines
Schwertes, bis er ihn endlich wieder lockerte. Diesmal hatte er es nicht mit einem Feind zu tun,
dem er die Stirn bieten mußte, wie in zahlreichen Kämpfen und Feldzügen zuvor.
Er wurde Zeuge eines Schauspiels, wie es kein Römer bisher miterlebt hatte.
»Jupiter persönlich steigt aus dem Himmel herab!« rief jemand. »Er kommt, um zu seinen
Kindern zu sprechen.«
Die Worte drückten Commodus' Gedanken aus.
»Bringt die Zivilisten zurück in ihre Zelte!« ordnete er an. »Posten beziehen, um die Frauen und
Kinder in Sicherheit zu wiegen!«
Das Summen in der Luft nahm stetig zu. Es juckte in seinen Ohren und vibrierte in seinem
Magen. Commodus spürte, wie sein Mund trocken wurde. Ihm, einem wortgewaltigen Anführer,
der noch keinem Kampf aus dem Weg gegangen war, blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Nie hatte er geglaubt, daß es einmal so weit kommen würde, doch hatte er auch nie damit gerechnet, zeit seines Lebens auf die Götter zu treffen. Das sollte erst nach seinem Tod geschehen. Denn auch Commodus zweifelte nicht daran, daß sie es waren, die ihren Kindern einen Besuch abstatteten. Er bedauerte, über keine Gefangenen zu verfügen, um den Göttern ein würdiges Op 75
fer darbieten zu können.
Immer größer wurden die leuchtenden Räder. Obwohl noch einige Stunden bis zum
Sonnenaufgang vergehen würden, war es bald taghell im Lager.
Er sammelte seine wichtigsten Offiziere um sich. »Wir werden ihnen einen würdigen Empfang
bereiten.«
»Befürchtest du nicht, daß sie kommen, um uns zu bestrafen?« fragte Gaius Tifus, der nicht nur
sein Stellvertreter, sondern auch sein Freund war. »Ich habe ein mulmiges Gefühl, und gegen die
Götter können wir nicht kämpfen.«
»Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen, sondern die Götter jederzeit geehrt, wie sie es
verdienen. Ich bin überzeugt, daß sie uns wohlgesonnen sind und mit Absichten kommen, die
ihnen und auch uns zur Ehre gereichen.«
»Und wenn du dich irrst?«
»Dann ist es das Schicksal, gegen das wir sowieso nichts ausrichten können. Wenn es sein muß,
werde ich die Strafe der Götter auf mich nehmen.« Commodus lächelte optimistisch und schlug
seinem Freund auf die Schulter. »Aber sag ehrlich, wann habe ich mich jemals geirrt?«
Gaius Tifus erwiderte das Lächeln und nickte anerkennend. »Du findest stets die richtigen Worte.
Ich werde sie an deine Leute weitergeben lassen.«
»Laß die Kohorten Aufstellung beziehen. Alle sollen sich bereitmachen, das Lager zu verlassen.«
»Was hast du vor? Willst du die Götter nicht empfangen?«
»Genau das ist mein Plan. Aber sieh dich doch um. Sie werden nicht innerhalb des Lagers vor
uns treten. Es ist viel zu klein.« Tertius Commodus deutete zu den Leuchträdern, die ihre Ge
schwindigkeit verringert hatten. Verglich er sie mit römischen Streitwagen, wuchsen sie ins
Riesenhafte. Er hatte das Gefühl, von ihnen erdrückt zu werden, aber instinktiv spürte er, daß
keinem Mann und keiner Frau der 48. Legion ein Leid widerfahren würde.
»Du meinst, sie gehen im Sand der Wüste nieder?«
»Es gibt keine Alternative, wenn sie nicht uns alle vernichten wollen.«
»Aber vielleicht wollen sie das«, gab Gaius Tifus seinen Zweifeln neuerlichen Ausdruck.
»Ich dachte, ich hätte dich überzeugt, alter Freund. Sei sicher, daß die Götter nicht zu uns
heruntersteigen würden, wenn ihnen nur daran läge, uns zu vernichten. Dann würden sie keine
Zeit für uns verschwenden. Ich sage dir, sie kommen als Freunde.«
»Verzeih meine Zweifel. Ich werde alles Nötige veranlassen.«
Tertius Commodus sah seinem Freund hinterher. Wie aus weiter Ferne vernahm er die
donnernden Stimmen seiner Unterführer. Schließlich gab er den Befehl, das Lager zu verlassen.
Draußen sanken die Leuchträder zu Boden.
Ein Raunen ging durch die Reihen seiner Leute, als sich Öffnungen in den leuchtenden Rädern
bildeten. Eine solche Helligkeit quoll daraus hervor, daß sie die Augen blendete. Das
überirdische, weißblaue Licht flutete die Umgebung und ließ im Sand Myriaden von
Lichtreflexen entstehen, die aufgeregt wie Millionen und Abermillionen Glühwürmchen tanzten.
Die Ringe hatten auf dem Boden aufgesetzt, ohne daß es eine Erschütterung gab. Tertius
Commodus vermochte sich die Kraft nicht vorzustellen, die dazu nötig war. Es war, als würde ein
Berg einstürzen und sanft wie eine Feder zu Boden fallen. Die Macht der Götter mußte wirklich
unendlich groß sein.
Nun lagen die blauen Räder da und wirkten wie tot. Perfekt gerundeten Hügelketten glichen sie.
Eine Weile geschah nichts weiter, aber seine Soldaten verharrten an Ort und Stelle. Viele von ih
nen waren schier atemlos. Commodus wußte, daß unter den einfachen Legionären und den Optios
eine Menge simpler Gemüter vertreten waren. Wenn einem zumeist kühl und nüchtern denken
den Menschen wie ihm diese Begegnung schon so naheging,
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konnte er sich vorstellen, wie es erst in ihnen aussehen mußte.
Neuerliches Raunen entstand, als Gestalten in den Öffnungen erschienen, winzig klein und viel zu weit noch entfernt, als daß Tertius Commodus sie erkennen konnte. Doch sie lösten sich vom Hintergrund und schwebten dem Erdboden entgegen. »Ruhe bewahren, Legionäre!« schrie er, während er reglos wie eine marmorne Statue in der Hauptstadt des Reichs stand. Nur seine Augen ließen sich keine Bewegung entgehen, die in der Höhe entstand. Die Götter gingen durch die Luft. Also besaßen sie auch die Macht zu fliegen. Daß sie in ihren Götterwagen hierher gekommen waren, lag wahrscheinlich daran, daß es sich in deren Innerem bequemer reisen ließ. Schließlich benutzten auch die Römer Pferde oder Wagen, um längere Strecken zurückzulegen, obwohl sie gehen konnten. Die Gestalten näherten sich Commodus' Truppe. Das letzte kurze Stück bewegten sie sich dabei nicht mehr durch die Luft, sondern sie gingen zu Fuß. Tertius Commodus hielt es nicht länger aus. Er ließ sich auf die Knie sinken und hielt den Göttern sein Schwert als Zeichen seiner Ergebenheit entgegen. »Jupiter, deine Kinder haben dich erwartet, um dir zu dienen. Wir sind deine Sklaven, verfüge über uns.« Hinter ihm fielen auch seine Soldaten auf die Knie. Totenstille herrschte, niemand wagte mehr die Stimme zu erheben, nicht mal zu einer unbedachten Äußerung aus Überraschung. »Erhebe dich.« Die sonore Stimme jagte Commodus einen Schauer über den Rücken. Dies waren wahrscheinlich die ersten Worte, die einer der Götter jemals persönlich an einen Römer gerichtet hatte, und er, Tertius Commodus, war der Auserwählte, dem diese Ehre zuteil wurde. Vorsichtig hob er seinen Kopf. Grenzenloses Staunen lag in seinen Augen. Jupiter und seine Götter waren Wesen von strahlender 79
Schönheit und edelstem Äußeren, edler als jeder Königssohn, der jemals durch diese Welt geschritten war. Sie waren wie Menschen und ließen sich doch nicht mit diesen vergleichen. »Wir wollen keine Sklaven, deshalb fordere ich dich und deine Leute noch einmal auf, sich zu erheben.« Commodus' Gedanken überschlugen sich, denn sein Weltbild geriet von einem Moment auf den anderen ins Wanken. Er hatte die Worte richtig verstanden, aber sie ergaben keinen Sinn. Denn sie negierten, was jeder Römer immer für ein feststehendes Axiom gehalten hatte. Hatten sie sich so sehr geirrt? Wenn die Götter keine Sklaven suchten, was erwarteten sie dann von ihren Kin dern? Sahen sie in ihnen vielleicht - Gleichwertige? Er gab sich einen Ruck und richtete sich auf. Hinter Jupiter und seinen Begleitern leuchteten die blauen Götterwagen, als seien sie Sonnen, die die Nacht zum Tag machen sollten. In dem überirdischen Schimmer wurde die edle Schönheit der Götter nun, da Commodus ihnen Auge in Auge gegenüber stand, noch deutlicher. Er selbst war ein Hüne unter seinen Männern, doch die Götter waren von vollendetem Wuchs. »Ich möchte euch unsere Gastfreundschaft anbieten«, brachte er hervor. »In unserem Lager wird es euch an nichts mangeln.« »Ich danke dir«, antwortete Jupiter. »Doch wir können deine Gastfreundschaft nicht annehmen, denn unsere Ringraumer werden schon bald wieder starten.« »Ringraumer? Ist das deine Bezeichnung für eure Götterwagen?« »So ist es.« Jupiter streckte seine Hand aus und hielt Commodus etwas entgegen. »Ich habe eine Botschaft von Kaiser Augustus für dich. Sie enthält wichtige Instruktionen für dich und deine Leute.« »Das kaiserliche Siegel«, sagte Gaius Tifus, der neben seinen Führer getreten war. »Kein Zweifel, es ist echt.« Commodus erbrach es, las die Botschaft und schüttelte den Kopf. Er konnte die Worte nicht glauben. Was sein Kaiser ihm be 80
fahl, war unmöglich. Er las die Befehle ein zweites Mal durch, dann reichte er die Botschaft an
seinen Stellvertreter.
»Augustus hält sich zur Zeit in Gallien auf. Er befiehlt uns, an Bord der Götterwagen zu gehen.
Ich soll meine Legion den Göttern unterstellen.« Er sah Jupiter an. »Was wird mit uns gesche
hen?«
»Ihr werdet die Sterne sehen«, kündigte Jupiter an. »Ihr werdet Wunder erleben, von denen ihr
noch nicht einmal zu träumen wagtet. Ihr werdet unsere Verbündeten sein und unsere Freunde.«
Freunde der Götter. Commodus konnte es kaum glauben. Doch die kaiserlichen Befehle waren
eindeutig. Commodus hatte keine Angst vor der Zukunft, im Gegenteil: Er fühlte sich von göttlicher Gnade gestreift. Er hatte davon geträumt, fernste Lande zu erreichen. Genau dies schien ihm nun bevorzustehen. Unbeschreiblicher Jubel brandete auf, als die Neuigkeiten die Runde machten. Jeder Mann und jede Frau aus seinem Troß war dem Schicksal dankbar, eine solche Chance im Angesicht der Götter zu erhalten. Am nächsten Morgen gingen die zehn Kohorten und der gesamte Troß der 48. Legion des Tertius Commodus mit 5.800 Männern und 3.000 Frauen an Bord der drei Ringraumer, und mit ihnen Pferde, Esel, Rinder, Schafe, Ziegen, Kaninchen, Hunde und Katzen. Die Reise ins Ungewisse begann.
5. Zu den bekanntesten und bedeutsamsten Persönlichkeiten der Gegenwart zählte zweifelsfrei Ren Dhark, der Commander der Planeten. Aber noch ein zweiter Name war momentan in aller Munde: Antoine Dreyfuß. Er war der Spitzenkandidat der Fortschrittspartei und dank geschickten Taktierens bei der Bevölkerung überaus angesagt. Ihn eine Persönlichkeit zu nennen war reichlich übertrieben - er besaß gar keine. Der Endfünfziger war schlank, bartlos und stets adrett, jedoch nie zu auffällig gekleidet. Als typischer blaßgrauer Berufspolitiker legte sich Dreyfuß mit seinen Aussagen selten fest, so daß seine Reden immer etwas Schwammiges an sich hatten. Mit ihm ein intelligentes Gespräch zu führen war nahezu unmöglich, er redete jedem nach dem Mund. Um die Wahl zu gewinnen, rückte er die Verfehlungen der anderen Parteien gnadenlos ins Licht der Öffentlichkeit, wobei er sich darauf verstand, die Fehler seiner eigenen Fraktion geschickt zu kaschieren. "\ Seine guten Erfolgsaussichten verdankte er vor allem dem Medienkonzern Intermedia, der die Fortschrittspartei hemmungslos unterstützte und unverhohlen zum Sturz der derzeitigen Regierung aufrief. Ein starker Auftritt des amtierenden Commanders wäre dringend vonnöten gewesen - aber Dhark hielt sich weit entfernt von Terra auf. Daher blieb es an seinem Stellvertreter Henner Trawisheim hängen, das Regierungsschiff durch die tosenden Fluten zu steuern. Unterstützt wurde Trawisheim von aufrechten Männern und Frauen, die Ren Dhark während seiner Abwesenheit unerschrok-ken zur Seite standen und sich für ihn einsetzten. Zu diesem Per sonenkreis zählte auch Bert Stranger. Aus diesem Grund vermied es Dreyfuß nach Möglichkeit, mit dem engagierten Terra-Press-Mann zusammenzutreffen. Auf Dauer konnte er sich den bekannten Journalisten allerdings 82
nicht vom Leib halten. Seine Parteizentrale hatte für dreizehn Uhr einen Interviewtermin mit Stranger vereinbart, und je näher dieser Termin rückte, um so mehr verstärkte sich das flaue Gefühl in Antoines Magengegend. »Ist er schon da?« erkundigte er sich über die Bildsprechanlage nervös bei seiner Privatsekretärin, dreißig Minuten vor der ausgemachten Zeit. »Noch nicht«, erhielt er zur Antwort. »Wünschen Sie einen Kaffee?« »Alles, bloß das nicht«, erwiderte der Hoffnungsträger der Fortschrittspartei. »Koffein regt mich nur unnötig auf. Meine Pumpe arbeitet ohnehin ziemlich unregelmäßig, habe ich den Eindruck. Könnte eine Herzrhythmusstörung sein. Vielleicht sollte ich den Tennin besser absagen und zum Arzt gehen.« »Das dürfte wenig Sinn machen. Dieser Bluthund von einem Reporter ist hartnäckig, er würde Ihnen draußen vor der Praxis auflauem. Früher oder später müssen Sie sich ihm stellen.« »Ja, natürlich, Sie haben völlig recht, Monika. Ein Mann in meiner Position sollte nicht vor seinen Problemen davonlaufen. Ich muß halt achtgeben, was ich sage, damit mir der verdammte Zeitungsschmierer nicht das Wort im Mund umdreht.« Dreyfuß unterbrach die Verbindung zu seinem Vorzimmer. Unruhig marschierte er in seinem Büro auf und ab. Eine Viertelstunde später ging er nach nebenan. Schweiß stand auf seiner Stirn, als er fragte: »Ist er noch immer nicht da?« »Er hat noch fünfzehn Minuten Zeit«, entgegnete seine Sekretärin gelassen. »Bestimmt trifft er jeden Augenblick ein. Soll ich mal in seiner Redaktion nachfragen?« »Tun Sie das, Monika. Und richten Sie Caroon aus, daß ich nichts so sehr verabscheue wie Schluderei und Unpünktlichkeit! Sollte sich sein Mitarbeiter auch nur um eine einzige Minute verspaten, wird der Gesprächstermin rigoros gestrichen. Ende der Durchsage.« Augenblicklich fühlte sich Dreyfuß besser. Er kehrte zurück ins
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Büro und ließ sich in seinen drehbaren Schreibtischsessel fallen. Kurz darauf meldete sich seine Vorzimmerdame über die Bildsprechanlage und teilte ihm mit, daß man sie bei Terra-Press unfreundlich abgewimmelt habe. »Irgendeine kurz angebundene Bürotippse sagte mir, sie wisse nicht, wo sich Stranger momentan aufhalte. Im übrigen habe sie keine Zeit, denn in der Redaktion ginge es gerade hektisch zu. Aus dem Hintergrund vernahm ich die Stimme von Sam Patterson, der ihr zurief, sie solle sich gefälligst weiter um die Koordination der Aufnahmeteams kümmern und alles andere zurückstellen. Dann brach die Verbindung ab. Scheinbar brennt wieder irgendwo die Welt, und Stranger ist mittendrin. Ich bezweifle, daß er pünktlich zu uns kommt, er hat den Termin wahrscheinlich längst vergessen.« »Dieser Feigling will sich doch nur vor dem Interview drücken«, bemerkte Antoine Dreyfuß abfällig. »Er weiß genau, daß er mir nicht gewachsen ist.« Seine Nervosität schien verflogen. Erleichtert lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Eine leichte Unruhe blieb ihm jedoch erhalten. Bis zum vereinbarten Gesprächszeitpunkt waren es schließlich noch zehn Minuten. Zehn quälende Minuten... Antoine Dreyfuß verfluchte Bert Stranger im stillen. Hätte man ihm in diesem Augenblick die Nachricht vom überraschenden Ableben des Journalisten überbracht, ihm wäre ein Felsbrocken vom Herzen gefallen.
Sam Patterson war das Urgestein eines Medienmachers. Hatte er sich in jungen Jahren noch selbst als Sensationsreporter auf die Pirsch begeben und weder harte Arbeit noch Gefahren gescheut, überließ er es heutzutage seiner gut eingespielten Mannschaft, die Kohlen aus dem Höllenfeuer zu holen. Allerdings lag es ihm fern, 84
die Füße hochzulegen, wenn es hektisch wurde. Im Gegenteil, erst dann lief das Organisationstalent so richtig zur Hochform auf. In diesen Minuten stellte er mehrere Aufnahmeteams zusammen, um sie nach Europa zu beordern. Eine enge Mitarbeiterin unterstützte ihn dabei. Als sein Vipho auf dem Büroschreibtisch läutete, ging sie an den Apparat. Irgend jemand erkundigte sich nach Stranger. Patterson wies seine Mitarbeiterin an, das Gespräch sofort abzubrechen und sich um Wichtigeres zu kümmern. Als oberster Chef eines Medienkonzems hatte er gelernt, Prioritäten zu setzen. Stranger war ein Teufelskerl, auf den sich Patterson und Caroon stets felsenfest verlassen konnten. Aber augen blicklich war es Sam herzlich egal, wo sich sein bester Journalist just in dieser Sekunde aufhielt. Eile war geboten, jede unnötige Verzögerung mußte vermieden werden. Wenn nur Intermedia nicht frühzeitig Wind von der Aktion bekam! »Setzen Sie sich mit Laura in Verbindung, sie soll auf der Stelle ihren Kurzurlaub abbrechen«, wies Sam Patterson seine Mitarbeiterin an. »Gruschenko dürfte sich gerade in einem Linienjett nach Kanada befinden. Er soll bei der nächsten Gelegenheit umsteigen. Ach ja, und holen Sie Hank Morris aus den Anden zurück. Sein Reisebericht kann warten. Er, Laura und Gruschenko sollen sich umgehend am Zielort einfinden und ein Team bilden.« Erneut schlug das Vipho an. Sam bediente die Sensortaste, und ein ihm bekanntes Gesicht erschien auf dem Viphobildschirm. Schweigend hörte der Terra-Press-Boß zu, was ihm der Anrufer zu sagen hatte. »Es sind immer die besten, die zuerst gehen«, erwiderte Patterson niedergeschlagen, »sowohl im Leben als auch auf Empfängen und Partys. Hätten Sie mich nicht schonender über seinen Tod unterrichten können? Schließlich handelt es sich um einen engen Mitarbeiter. Sagte ich Mitarbeiter? Er war ein Freund. Seine Berufsauffassung war zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber seine Journalistischen Erfolge ließen mich über vieles hinwegsehen. Daß 85
er nun nie mehr unangemeldet in mein Büro platzen wird, muß ich erst einmal verdauen. Ja Ja, Sie haben recht, als gestandener Pressemann sollte ich ein dickeres Fell haben, immerhin werden wir tagtäglich mit Seuchen, Kriegen und Katastrophen konfrontiert. Trotzdem werde ich mich nie daran gewöhnen, daß der Tod unser ständiger Begleiter ist und daß es jeden von uns jederzeit treffen kann.«
Derweil blätterte Antoine Dreyfuß in einem Buch, das er dem eingebauten Wandregal seines Büros entnommen hatte. Es stand voll von dicken Büchern, doch bislang hatte er noch keine Zeit gefunden, eins davon zu lesen. Die kleine Bestseller-Sammlung diente ausschließlich Prestigezwecken und trug zudem zur Raumverschönerung bei. Auf Presseterminen ließ er sich gern vor dem Regal fotografieren, um belesener zu wirken - so etwas kam bei den Wählern immer gut an. »In achtzig Tagen um die Welt« lautete der Titel des Buches in seiner Hand. Antoine kannte die berühmte Jules-Veme-Geschichte über die Abenteuer von Phileas Fogg und seinem treuen Diener Passepartout. Fogg hatte gewettet, innerhalb einer bestimmten Frist den Erdball zu umrunden und wieder pünktlich in seinem Londoner Herrenclub einzutreffen. Zunächst hatte es so ausgesehen, als habe er die Wette verloren und sei einen Tag zu spät eingetroffen. Aber zu seinem Glück hatte er die globale Zeitverschiebung übersehen, so daß er am Schluß des Buches doch noch rechtzeitig ankam, exakt auf die letzte Minute. Antoine schaute auf seinen Zeitmesser am Handgelenk. Stranger blieben noch sechs Minuten... Der Politiker las den Schluß des Buchs und stellte sich dabei vor, Phileas Fogg wäre trotz aller Bemühungen letztlich dennoch zu spät gekommen. In seiner Phantasie wurde aus dem steifen, schlaksigen Engländer Fogg der rundliche Reporter Stranger... 86
»Da reist man in achtzig Tagen um die Welt, von einem Krisenherd zum nächsten, und dann verspätet man sich um lumpige fünf Minuten!« Bert Stranger fluchte an seinem Redaktionsschreibtisch wütend vor sich hin. Die Uhr zeigte 12 Uhr 45. Noch eine Viertelstunde, und es war genau einen Tag her, seitdem er den wichtigsten In terviewtermin seines Lebens verpaßt hatte. Gestern, am Sonnabend um 13 Uhr, hätte er im Büro des erfolgreichen Politikers Antoine Dreyfuß sein müssen. Aber er hatte es nicht rechtzeitig ge schafft, wie Dreyfuß es ihm prophezeit hatte. Die beiden hatten gewettet, daß es dem notorisch unpünktlichen Journalisten niemals gelingen würde, den Termin einzuhalten. Laut Vereinbarung hatte sich Stranger ausschließlich auf öffentliche Verkehrsmittel beschränken müssen. Die Benutzung von eigenen Fahrzeugen und Transmittern war ihm untersagt worden. Als er gestern in Alamo Gordo angekommen war, hatte die Uhr bereits 13 Uhr und 5 Minuten angezeigt. Bert Stranger hatte somit sein Gesicht verloren - und mußte sich künftig von Antoine fernhalten, auf immer und ewig. Nie wieder würde ihm der zukünftige Commander der Planeten die Gunst eines Interviews unter vier Augen gewähren. In diesem Augenblick stürmte Sam Patterson ohne anzuklopfen in Strangers Redaktionsbüro. »Worauf warten Sie eigentlich noch?« schrie er seinen Mitarbeiter erregt an. »In wenigen Minuten läuft die Wettzeit ab!« »Das ist bereits gestern geschehen«, entgegnete Bert resignierend. »Wieso sind Sie eigentlich hier? Wollten Sie nicht mit Ihrem Angelverein einen Sonntagsausflug machen?« »Was reden Sie da? Sonntagsausflüge macht man bekanntlich sonntags - heute ist Samstag.« Stranger schluckte. Schlagartig begriff er, daß er sich geirrt hatte. Er hatte seinerzeit seine Weltreise in östlicher Richtung an-S^treten. Immer der Sonne entgegen. Dadurch hatte er einen Tag ^gespart. Heute war tatsächlich erst Sonnabend. 87
Hektisch schaute er auf die Uhr. »Demnach habe ich noch eine knappe Viertelstunde Zeit, um
meine Wette w gewinnen.«
Er eilte zum Antigravschacht.
Vor der Tür des Redaktionsgebäudes bestieg er einen Schwebebus, der gerade an der Haltestelle
hielt.
Zur selben Zeit schaute Antoines Privatsekretärin im Vorzimmer auf den digitalen Zeitmesser an
der Wand. Anschließend betätigte sie die Bildsprechanlage.
»In wenigen Minuten ist die zwischen Ihnen und Bert Stranger vereinbarte Frist abgelaufen«,
teilte sie ihrem Chef mit.
»Wann traf der lewmögliche Linienjett am Interkontinentalflughafen ein?« fragte der Politiker.
»Um 12 Uhr 30«, antwortete Monika. »Falls Mister Stranger diesen Jett genommen hat, könnte
er es noch schaffen.«
Die Zeit schritt allmählich, aber unerbittlich voran.
»12 Uhr 59«, bemerkte Dreyfuß ohne sichtliche Erregung - er blieb auch in Extremsituationen
stets ruhig und gelassen. »Nur noch eine Minute. Ich denke, wir können die Wette als gewonnen
betrachten, Monika. Das sollten wir gemeinsam feiern - bei einem romantischen Dinner zu zweit,
in meinem Apartment.«
Beide zählten die letzten Sekunden. In der dreißigsten geschah nichts. Auch in der fünfzigsten
nicht. Ebenso nichts in derfünfund-fünfzigsten. Vier, drei, zwo, eins. Die Uhr schlug dreimal und
zeigte exakt 13 Uhr an.
»Das war's dann wohl«, meinte Antoine trocken.
Um 13 Uhr l wurde die Tür zu seinem Büro geöffnet. Bert Stranger trat auf die Schnelle und
sagte in seiner großspurigen Art: »Da bin ich wieder - pünktlich zur Siegerehrung!«
In seinen Augen blitzte die Schadenfreude.
»Leider zu spät«, bemerkte Dreyfuß kühl. »Es ist bereits eine Minute nach 13 Uhr.«
»Was?« schrie der Reporter aufgeregt. »Das ist unmöglich!«
Er griff nach seiner goldenen Taschenuhr, ein Relikt seines Urgroßvaters, das seltsamerweise
noch immer auf die Sekunde genau
88 funktionierte. »Tatsächlich«, stellte Bert ärgerlich fest. »Dieser verdammte Busfahrer...!« »Dieser verdammte Busfahrer!« Antoine Dreyfuß riß erschrocken die Augen auf. Offenbar verfügte er über eine recht lebendige Phantasie, denn er bildete sich ein. Strangers Stimme tatsächlich zu hören. Es war keine Einbildung - der gefürchtete Journalist stand in seinem Büro, zusammen mit einem jungen Volontär, der die zweifelhafte Ehre hatte, Berts tragbare Ausrüstung schleppen zu dürfen. Antoine schaute auf die Uhr. Sein Interviewpartner war sogar noch eine Minute zu früh dran. »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte die Sekretärin zu ihrem Chef. »Ich wollte die beiden anmelden, doch sie marschierten schnurstracks in Ihr Büro.« »Logisch, schließlich sind wir verabredet«, entgegnete Bert. »Diese ganze Anmeldeprozedur ist doch nur überflüssiger Schnickschnack. Weshalb starren Sie mich eigentlich so ungläubig an, Mister Dreyfuß? Man könnte meinen, ich sei ein Geist. Na ja, viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre wirklich einer. Ich fand in der Nähe keinen freien Schweberparkplatz und mußte ein paar hundert Meter zu Fuß gehen. Das hätte ich besser nicht getan, denn beinahe hätte es mich erwischt.« »Hat man einen Anschlag auf Sie verübt?« fragte Monika ihn erschrocken. »Ganz so schlimm war es nicht«, verneinte er. »An einem Straßenüberweg hätte mich beinahe ein Schwebebus über den Haufen gefahren. Ich konnte gerade noch rechtzeitig auf den Bürgersteig zurückspringen. Was für ein Schreck in der Morgenstunde! Und der Fahrer hat den Vorfall nicht einmal bemerkt. Anzeigen sollte man den!« »Man guckt hin, bevor man die Straße überquert«, meinte Dreyfuß, der allmählich seine Fassung zurückgewann. 89 »Er war gerade damit beschäftigt, per Armband vipho in der Redaktion anzurufen«, feixte
Strangers junger Assistent.
»Woher willst du das wissen?« schnauzte Bert ihn an. »Du warst doch ständig fünf Schritte vor
mir. Nicht einmal umgedreht hast du dich nach mir, als der Busfahrer das Rotlicht mißachtete.
Ich hätte auf der Straße verbluten können, ohne daß dir das aufgefallen wäre.«
»Der Busfahrer hatte grün«, widersprach der Volontär und zog sich damit erneut Strangers
Unmut zu.
Obwohl er sich nach einem Bett sehnte, brannte Bert auf sein Interview mit Antoine Dreyfuß.
Anschließend wollte er so schnell wie möglich heim, um die aktuelle Berichterstattung aus
Marseiile mitzuverfolgen.
Hoffentlich fangen die nicht ohne mich an, dachte er - immerhin war es in Marseiile bereits
Abend.
»Können wir loslegen?« fragte er, nachdem er seine Anlage im Büro des Wahlkandidaten
aufgebaut hatte.
Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er zur ersten Frage...
Nachdem Bert aus der Türkei zurückgekehrt war, über mehrere Transmitterstraßen von der Jett-
Verleihstation aus, hatte er sich sofort in Pattersons Büro begeben und ihm von seinem Abstecher
ins anatolische Hochland berichtet.
Er hatte dem Terra-Press-Chef seine Unterredung mit Osman Mülyz geschildert, in allen
Einzelheiten. Der türkische Drogenbaron plante, jeglichen Handel mit den illegalen Chips
drastisch zu unterbinden. Zum Auftakt wollte Mülyz ein unübersehbares Zeichen setzen und dort
zuschlagen, wo Stranger auf erste Spuren gestoßen war: im Hafenviertel von Marseiile.
»Mülyz erwähnte, sein dortiger Bezirksleiter habe kürzlich gekündigt, weshalb es wichtig für ihn sei, in Marseiile Flagge zu zeigen. Gekündigt - daß ich nicht lache! Als ob man aus dem Dro 90 gengeschäft aussteigen könnte wie aus einer normalen Firma. Garantiert wurde der Mann ermordet, vielleicht sogar von Osman selbst, weil er nicht genügend Umsatz erzielte.« Patterson hatte sofort begriffen, was »Flagge zeigen« in diesem Fall bedeutete: Straßenkämpfe zwischen rivalisierenden Drogengangstem würden in Marseiile die kommende Nacht zum Tag machen. Und die französische Polizei würde es weitgehend vermeiden, in diesen Sog aus Mord und Totschlag mit hineingezogen zu werden. Offiziell waren die Beamten zwar zum Einschreiten verpflichtet, doch inoffiziell war es ihnen sicherlich nur recht, wenn sich die Drogendealer gegenseitig bekriegten. »Wir können wohl nichts dagegen tun«, hatte Patterson gesagt. Stranger hatte den Kopf geschüttelt und erwidert: »Mülyz ist fest entschlossen, gegen die Chipdealer mit aller Brutalität vorzugehen. Meinen Segen hat er - dann ist er wenigstens beschäftigt und kann sich nicht mit mir befassen. Schicken Sie bis heute abend Ortszeit umgehend ein Aufnahmeteam nach Marseiile. Und geben Sie acht, daß Intermedia keinen Wind davon bekommt. Es genügt, wenn unsere Truppe live mit dabei ist. Die Konkurrenz darf sich damit begnügen, am nächsten Morgen über das Einsammeln der Leichen zu berichten.« Im Anschluß an dieses Vieraugengespräch war Bert heimgegangen und hatte sich erst einmal ein bißchen frischgemacht. An Schlaf war leider noch nicht zu denken gewesen. Nach einer gründlichen Rasur hatte Stranger den Anruf eines Kollegen entgegengenommen, der ihn im Namen der gesamten Redaktion um einen Gefallen gebeten hatte. Der bei Terra-Press sehr beliebte, überaus engagierte Journalist Hank Morris war vor wenigen Stunden während einer Reisereportage in den Anden ums Leben gekommen. Er war auf der Flucht vor einem Steinschlag in einen Abgrund gestürzt. Erst drei Stunden später hatte man seinen zerschmetterten Leichnam geborgen und seine Familie benachrichtigt. Unter den Redaktionskollegen hatte sich die Todesnachricht wie 91 ein Lauffeuer verbreitet, aber niemand hatte sich getraut, sie an Patterson weiterzugeben. Morris und er waren gute Freunde gewesen. Bert hatte sich nicht gedrückt und sich bereiterklärt, die Hiobsbotschaft zu überbringen. Allerdings fehlte ihm jegliches Fingerspitzengefühl für derlei Situationen. Seinen obersten Chef von unterwegs her anzurufen, ihn aus der redaktionellen Arbeitshektik herauszureißen und ihm quasi nebenbei vom Tod seines Freundes zu erzählen, konnte man nicht gerade als pietätvoll bezeichnen. Vielleicht wäre Bert ja deswegen beinahe von einem Schwebebus überfahren worden. Kleine Sünden bestrafte der liebe Gott bekanntlich sofort - und bei den großen ging er mitunter etwas rigoroser vor.
Nach dem Interview bedankte sich Bert Stranger bei seinem jungen Assistenten und nahm ihm die Ausrüstung ab. Beide hielten sich draußen vor dem mehrstöckigen Gebäude auf, in dem sich die Zentrale der Fortschrittspartei befand. »Höchste Zeit, daß du zurück in die Redaktion kommst«, sagte Bert. »Danke für deine Hilfe beim Aufzeichnen des Interviews. Ich hoffe, du hast einiges dabei gelernt.« »Das Interview hätten Sie auch ohne mich hingekriegt«, entgeg-nete der Volontär. »Und um meine Ausbildung haben Sie sich bisher noch nie gekümmert. Weshalb wollten Sie mich wirklich mit dabeihaben? Doch nicht nur als Gepäckträger, oder?« »Du scheinst ein helles Köpfchen zu sein und wirst es bestimmt noch weit bringen«, lobte ihn der erfahrene Journalist, dem so mancher Anfänger seine Reporterkarriere verdankte, darunter die berühmt-berüchtigte Klatschkolumnistin KC (Klatschtante Claire). »Ich bin augenblicklich an einer ganz heißen Sache dran und hatte gehofft, Dreyfuß, dem selbsternannten Retter des SolSystems, ein paar konkrete Aussagen entlocken zu können, die mir bei meinen 92 Recherchen vielleicht weitergeholfen hätten. Möglicherweise hätte er damit sich oder seine Partei belastet und hinterher wieder alles abgestritten. Zwar hätte ich meine Aufzeichnungen dagegenhalten können, doch dann hätte er behauptet, sie seien gefälscht. Deshalb hielt ich es für angebracht, einen neutralen Zeugen mitzubringen, für alle Fälle.«
Bert seufzte.
»Leider ist der Typ glitschiger als ein Aal. Er hat sich um jede klare Stellungnahme
herumgedrückt und den Ahnungslosen gespielt.«
»In Bezug auf Sensorium Incorporated?« hakte der pfiffige Volontär nach.
»Versuch erst gar nicht, bei mir auf den Busch zu klopfen«, antwortete Stranger grinsend. »Es
fallen keine Früchte für dich ab, mein Kleiner. Am besten, du vergißt, was du gehört hast. Wir le
ben in einer gefährlichen Welt, in der es ungesund sein könnte, zuviel zu wessen.«
Ihm war klar, daß er hier mit derartigen Belehrungen auf taube Ohren stieß - und das war gut so.
Nur wer fortwährend seine Sinne schärfte und seine kleinen grauen Zellen ungebremst arbeiten
ließ, hatte das Zeug zu einem guten Journalisten. Bei allen übrigen langte es bestenfalls zum
Paparazzo.
Die beiden ungleichen Männer verabschiedeten sich. Der Volontär begab sich zu Fuß zur
Redaktion, der Sensationsreporter mitsamt tragbarer Ausrüstung zum Parkplatz. Erst jetzt fiel
Bert auf, daß er nicht einmal wußte, wie der Volontär überhaupt hieß. Gelegentlich würde er sich
danach erkundigen und seine Karriere ein klein wenig anschubsen, damit der ehrgeizige junge
Mann bei Terra-Press kein Fremder ohne Namen blieb.
Auf der Heimfahrt ließ Stranger das Interview gedanklich Revue passieren.
Antoine Dreyfuß hatte sich die meiste Zeit auf wahlkämpferische Plattitüden und politische
Parolen beschränkt, so verwaschen ^e alte Jeans. Wann immer ihm eine Vorhaltung mißfallen
hatte,
93 hatte er auf die aktuellen Umfragewerte verwiesen, die ihn weiter im Aufwärtstrend zeigten. Seine Lieblingsphrase lautete: »Kein Kommentar«; er hatte sie immer dann gebraucht, wenn Stranger ihn in die Ecke gedrängt hatte. Bei der Erwähnung der Firma Sensorium Inc. war Dreyfuß leicht nervös geworden. Obwohl ihn der Reporter überhaupt nicht nach Spendern gefragt hatte, hatte der Kandidat sofort eingeräumt, von jenem Unternehmen gelegentliche Zahlungen erhalten zu haben. »Aber nicht mehr als von anderen Firmen auch«, hatte er hastig versichert. »Es ist völlig legal, wenn Geschäftsleute die von ihnen bevorzugten Parteien finanziell unterstützen, solange die Spender keine als ungesetzlich eingestuften Vorteile daraus ziehen. Verglichen mit den Spenden anderer Parteifreunde nimmt sich der Beitrag von Sensorium Inc. eher bescheiden aus.« Über die anonymen Kapitalgeber des Unternehmens wisse er genauso viel wie die breite Öffentlichkeit, nämlich nichts, hatte Dreyfuß dem Reporter versichert. Von eventuellen Drahtziehern im Hintergrund sei ihm ebenfalls nichts bekannt, derartige Vermutungen hatte er ins Reich der Phantasie verwiesen. Stranger hatte es fürs erste dabei belassen und ihn nicht direkt auf die illegalen Chips angesprochen. Möglicherweise wußte Dreyfuß tatsächlich nichts davon. Bert gewann sowieso mehr und mehr den Eindruck, daß Dreyfuß nur unzureichend informiert war und seiner Partei beziehungsweise deren unbekannten Hintermännern lediglich als will fähriger Erfüllungsgehilfe diente. Sobald Antoine an der Macht war, würde Antoine nichts mehr zu sagen haben - so paradox sich das auch anhörte. Auf die Medienpartnerschaft zwischen Intermedia und der Fortschrittspartei angesprochen, hatte sich Antoine Dreyfuß arglos gegeben. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden, Mister Stranger. Von der fairen Intermedia-Berichterstattung könnte sich Terra-Press 94 ruhig eine Scheibe abschneiden.« Dieser Satz klang Stranger noch im Ohr, als er seinen Schweber bestieg. Er gähnte herzhaft. Sein Schlafmangel machte sich immer schlimmer bemerkbar. Besser gar nicht schlafen, als nie mehr aufwachen, dachte der Journalist, der in der Villa seines Erzfeindes in unverantwortlicher Weise mit seinem Leben gespielt hatte. Allein beim Gedanken an Osman Mülyz lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Es hatte Bert viel Geduld gekostet, Mülyz davon zu überzeugen, daß er ihm lebend mehr von Nutzen war als tot. Letztendlich hatte ihn der rachsüchtige Drogenbaron zähneknirschend seiner Wege ziehen lassen, mit den Worten: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Stranger war sich bewußt, wie ernst es ihm mit dieser Drohung war. Sobald die Chiphändler in ihre Rattenlöcher zurückgekrochen waren, würde der »ehrenwerte Geschäftsmann« alles daran setzen, seine Rache zu vollenden. »Vielleicht habe ich ja Glück, und das Gesindel bringt sich heute nacht gegenseitig um«, knurrte er und startete den Schweber. Terra-Press würde die Berichte von den zu erwartenden Auseinandersetzungen im Hafengebiet
von Marseiile live übertragen.
Beim Medienkonglomerat Intermedia ahnte man hingegen noch nichts von den bevorstehenden Bandenkämpfen; bisher sickerten nur vage Hinweise durch. Intermedias Geschäftsführer Joseph Randolph Gordon Skittleman kam nicht dazu, sich intensiver damit zu befassen. Er hatte vorerst genug damit zu tun, Dreyfuß, dem Strangers Fragen ziemlich zugesetzt hatten, zu beruhigen. »Fassen Sie sich bitte kurz, Mister Dreyfuß. Ich stecke gerade bis zum Hals in Arbeit. Irgend etwas bahnt sich im Hafen von Marseiile an. Leider habe ich keine konkreten Informationen, aber Terra-Press soll bereits vor Ort sein.« 95 »Stranger hat eine Bemerkung fallenlassen, aus der hervorging, daß ihn jemand unter Druck zu setzen versucht«, hielt ihm der Politiker vor, dem Skittlemans Probleme herzlich egal waren. »Ich hoffe, da ist nichts dran, das wäre nämlich eine schädliche Publicity für mich.« »Der Kerl blufft nur«, behauptete Skittleman. »Um Ihren guten Ruf anzukratzen, ist ihm jedes Mittel recht. Beachten Sie seine Verleumdungen nicht weiter. Niemand will Bert Stranger an den Kragen. Und wenn, dann hat er sich das selbst zuzuschreiben. Im Laufe seines Reporterlebens hat er sich durch seine großspurigen Äußerungen und gedruckten Lügen zahllose Feinde gemacht. Dennoch wünsche ich ihm nichts Böses. Wir von Intermedia respektieren die gesetzlich geschützte Meinungsfreiheit. Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat.«
Die Verhältnisse an Bord des Götterwagens waren sehr beengt. Obwohl er von außen einen imposanten Eindruck auf die Römer ausgeübt hatte, war der Platz im Inneren doch begrenzt. Anscheinend waren selbst die gewaltigen Fahrzeuge nicht für den Transport so vieler Menschen und Tiere gedacht. »Warum lassen sich die Götter nicht mehr sehen?« fragte Gaius Tifus bei einer Versammlung der Offiziere. »Auch wenn es hier drin keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gibt, sagt mir mein Zeitgefühl, daß wir bereits zehn Tage oder mehr unterwegs sind.« Niemand konnte ihm eine Antwort geben, und manche der Unterführer begannen zu murren. Einige vermuteten sogar, in eine Falle gegangen zu sein, auch wenn sie nicht wußten, wer ihnen die gestellt haben sollte. Außerdem sprachen sie nur hinter vorgehaltener Hand darüber, denn natürlich konnten sie sich auch irren, und es war nicht klug, sich Jupiters Zorn wegen Gotteslästerung zuzuziehen. 96 Tertius Commodus scharte die Gelehrten seiner Legion um sich, deren Aufgabe ursprünglich gewesen war, ein Buch über den siegreichen Eroberungszug in den Sudan zu schreiben. Er ließ sie Notizen zu allem machen, das ihnen wichtig erschien und später vielleicht hilfreich sein konnte. In kleinen Gruppen, unterstützt von kampferprobten Soldaten, untersuchten sie den Götterwagen, wo es ihnen möglich war. Zwar gab es viele Bereiche, zu denen sie keinen Zutritt erlangten, trotzdem machten sie immer neue Entdeckungen. Allerdings war Commodus damit nicht geholfen, denn die Römer konnten nicht viel damit anfangen. Zu unverständlich war, was sie sahen. Claudius Gracchus war einer der gelehrten Wissenschaftler, und er führte die kühnsten Erkundungen an, die ihn in Höhlen und palastartige Säle brachten. »Diese Götter, sie geben mir zu denken«, sagte er. »Sie stehen so hoch über uns, daß ich mir nicht vorstellen kann, jemals ihren Status zu erreichen. Doch vieles von dem, was wir in den vergangenen Tagen entdeckt haben, ist eher ungöttlich, nur sehr hoch entwickelt.« »Entwickelt?« fragte Tertius Commodus. »Willst du damit andeuten, die Einrichtung der Götterwagen wurde künstlich erschaffen?« »Nicht nur deren Einrichtung, sondern die Götterwagen selbst. Natürlich können wir uns nicht vorstellen, wie so etwas möglich ist.« »Du redest im Fieberwahn. Was du sagst, ist unmöglich. Ich teile deine Ansicht nicht, denn ich will nicht von den Göttern zerstört werden.« »Niemand will das, auch ich nicht. Doch denkt zurück, einige Jahrhunderte unserer eigenen Vergangenheit nur. Vor noch nicht all zu langer Zeit gab es keine großen Streitwagen, wie wir sie heute benutzen. Unsere Waffen und unsere Schilde waren primitiv. Wir verfügten nicht über Katapulte und Belagerungstürme. Alles
97 mußte erst im Lauf der Zeit entwickelt werden. Unsere Häuser hatten kein fließendes Wasser und keine Heizung. Hätte damals jemand einen Blick in unsere Zeit tun können, hätte er möglicher weise uns für Götter gehalten.« Entsetzte Aufschreie brachten Claudius Gracchus zum Verstummen, und eine heftige Diskussion setzte ein, in deren Verlauf es beinahe zu Handgreiflichkeiten kam. Zum Erstaunen aller meldeten sich weder Jupiter noch einer der anderen Götter. Das spornte den Wissenschaftler zu weiteren Exkursionen an, die ihn in seiner Meinung bestätigten. Weitere Tage verstrichen, und bald war etwa ein Monat vergangen. Die Götterwagen kamen zur Ruhe, und wieder öffneten sich die Luken, durch die die Römer an Bord gelangt waren. Verunsichert kletterten die Legionäre ins Freie. »Sind wir wieder daheim?« fragte Gaius Tifus. Claudius Gracchus legte den Kopf in den Nacken. »Dies ist eine Welt im Reich der Götter«, schloß er. Tertius Commodus sog die frische Luft ein. Sie war eine Wohltat. Sie hatte einen eigenen Geruch, ganz anders als das im Innern des Leuchtrads gewesen war. Ein sanfter, warmer Wind streichelte seine Wangen. Bäume wiegten sich, und von irgendwo drang das Singen von Vögeln an seine Ohren. »Wie kommst du darauf? Ich habe den Eindruck, wieder daheim zu sein.« »Ich auch, aber nur auf den ersten Blick. Doch sieh einmal richtig hin, und du wirst die Unterschiede erkennen. Der Himmel ist bunt, nicht schwarz wie wir ihn kennen.« »Erstaunlich. Aber dann hat unsere Anwesenheit an diesem Ort einen Grund. Die Götter werden uns wissen lassen, was sie von uns erwarten.« Commodus war ganz sicher, und er brauchte nicht lange zu warten, um eine Bestätigung zu erhalten. Nachdem die Menschen die Tiere aus dem Götterwagen getrieben hatten und selbst ausgestiegen waren, erschien wieder Jupiter. Auch diesmal schwebte er durch die Luft wie ein Vogel. Zielstre big fand er den Kommandeur der 48. Legion und kam unmittelbar 98
vor ihm zu stehen. »Wir sind am Ziel«, erklärte er mit einem gutmütigen Lächeln. »Am Ziel? Das bedeutet, wir sind nicht dorthin zurückgekehrt, von wo du uns holtest. Wir sind durch den Himmel geflogen?« »Ja, das sind wir, und dies ist eine neue Welt. Eure Welt von heute an.« »Wenn dies dein Wunsch ist, soll es so sein. Doch sage mir, was ihr erwartet, daß wir mit dieser Welt machen.« Jupiter warf einen langen Blick in die Runde. Er musterte das weite Land und danach die Römer. Alle schauten sie zu ihm herüber. Commodus blickte ihn lange an. Er spürte die Macht, über die Jupiter verfügte, und die Kraft, die von ihm ausging. Für einen Moment war er versucht, wieder auf die Knie zu fallen, wie er es bei ihrem ersten Zusammentreffen getan hatte, aber er gab dem Impuls nicht nach. Was immer an Claudius Gracchus Worten dran sein mochte, Commodus' Einstellung seinen Göttern gegenüber hatte sich gewandelt. Dadurch, daß er sie kennengelernt hatte, betrachtete er sie von einem anderen Standpunkt aus. Sie erschienen ihm nicht mehr so fern und unnahbar, wie sie es dereinst getan hatten. Nicht mehr ganz so göttlich! »Macht euch diese Welt Untertan!« Mehr sagte Jupiter nicht mehr. Im nächsten Moment stieg er in die Höhe und verschwand in seinem Götterwagen, der sich kurz darauf in die Luft erhob und immer schneller wurde. Schon nach Sekunden war er nicht mehr zu sehen. Der Himmel hatte ihn ebenso verschluckt wie die beiden anderen Ringe. Tertius Commodus sah sich um. Dies war seine neue Heimat. »Ich taufe dich auf den Namen Terra Nostra«, sagte er bewegt. Er spürte, daß dieser Augenblick erst der Anfang eines langen Wegs für sein neues Volk war, das dereinst wahre Größe erreichen sollte. Es lag an ihm, dafür zu sorgen, daß es ihn beschritt. Die Legionäre begannen mit dem Aufbau einer kleinen Stadt, die sie auf den Namen Nova Roma tauften. Zunächst war sie nicht mehr als ein befestigtes Lager, und für eine Übergangszeit be wohnten die Männer und Frauen ihre Zelte, doch schon bald entstanden die ersten festen Häuser. Tertius Commodus und seine Offiziere übernahmen dabei die Organisation. Schnell stellte sich heraus, daß es keinen Unterschied machte, ob die neue Kolonie nun im Sudan entstand oder auf dieser neuen Welt. Die Logistik und die Arbeit blieben die gleichen. »Wir haben sogar mit weniger Schwierigkeiten zu kämpfen«, sagte Gaius Tifus. »Wir müssen dieses Land nicht erobern. Es gibt keine eingeborenen Völker, gegen die wir kämpfen müssen, und keine wilden Tiere.« Nachdenklich wiegte Commodus den Kopf. »Bisher sind wir auf keine gestoßen. Aber wir haben
keine Ahnung, wie groß Terra Nostra ist. Wir haben erst einen kleinen Ausschnitt davon gesehen.
Stelle Expeditionen zusammen und schicke sie in alle Himmelsrichtungen. Ich möchte, daß sie
mit den Gelehrten zusammen arbeiten. Gemeinsam sollen sie Kartenwerke erstellen, die uns un
sere Welt plastischer machen. Wenn sie Überraschungen für uns bereithält, möchte ich so schnell
wie möglich mit ihnen konfrontiert werden.«
»Ich bin der Meinung, daß der Aufbau von Nova Roma Vorrang hat. Wir verfügen nur über
begrenzte Mittel, wir sollten sie nicht zersplittern.«
Commodus' Blick ging in die Feme, und er ging in die Zukunft. »Weißt du, was mein Antrieb ist?
Ich möchte diese Welt so schnell wie möglich erobern. Weder du noch ich wissen, wieviel Zeit
uns bleibt. Wenn ich gehe, will ich ein stabiles Staatswesen hinterlassen, das dem Rom, das wir
kennen, in nichts nachsteht.«
»Große Pläne für einen einzelnen Mann.«
»Große Pläne haben Rom schon immer vorangebracht. Außerdem bin ich kein einzelner Mann.
Ich vertraue auf dich als meinen
100
Freund und auf jeden anderen, der bei uns ist. Wir sind so reich an Zahl, daß es keine
Schwierigkeit darstellt, ein größeres Gemeinwesen aufzubauen und parallel dazu diese Welt zu
erforschen. Ich weiß, daß du gern einen Schritt nach dem anderen machst, und meist habe ich dir
zugestimmt, doch in diesem Fall ist es anders. Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind so gewaltig,
daß wir es uns nicht erlauben können, sie nacheinander abzuhandeln. Dann werden wir sie
niemals bewältigen.«
»Vielleicht hast du recht. Aber der Aufbau und die Sicherheit Nova Romas haben absoluten
Vorrang. Nur mit einem starken neuen Rom können wir die Sicherheit für unser Volk gewährlei
sten.«
Commodus nickte. »Ich stimme dir zu. Zudem berufen wir eine Versammlung der Offiziere und
Gelehrten ein, um unsere dringlichsten Aufgaben in Angriff zu nehmen.«
Die folgenden Jahre brachten stetiges Wachstum mit sich. Nova Roma wuchs und gedieh. Auch
wenn die Stadt noch lange nicht die Ausmaße und die Pracht Roms in der alten Welt erreicht
hatte, war sie auf einem guten Weg dorthin.
Dank der mitgeführten Tiere, die eine umfangreiche Viehzucht ermöglichten, brauchte niemand
Hunger zu leiden, und auch die Landwirtschaft versorgte die Römer mit allem, was sie brauchten.
Sie entdeckten neue Pflanzen, die genießbar waren, Obst und Gemüse, an dem sie nie zuvor
gerochen hatten. Nichts von dieser Vielfalt schadete den Menschen, wie die Gelehrten in
anfänglichen Bedenken geäußert hatten.
Die Forscher und Entdecker drangen in immer fernere Bereiche ihrer neuen Welt vor, doch sie
stießen nicht auf die erwarteten Gefahren. Terra Nostra entpuppte sich als eine geradezu
paradiesische Welt mit idealen Lebensbedingungen, die Tertius Commodus' ehemalige 48.
Legion durch zahlreiche Geburten rasch an
101
Zahl wachsen ließ. Hinzu kam, daß man keine Soldaten in Kriegen und bei Eroberungen verlor.
Manche der Soldaten fühlten sich deswegen sogar ein bißchen unwohl: Krieg war ihr Leben
gewesen, und mit einem Mal gab es keinen mehr. Doch im Laufe der Zeit paßten auch sie sich
den neuen Bedingungen an.
Die Offiziere bildeten einen Senat aus Erbsenatoren, der zu regelmäßigen Sitzungen
zusammenkam und die Entwicklung überwachte, Direktiven erließ und neue Pläne ausarbeitete.
Bald schon erinnerte nichts mehr daran, daß dies nicht der Senat in Rom war.
Die Gelehrten fanden heraus, daß man sich in einem ganz anderen Teil des Himmels aufhielt, als
man das früher getan hatte. Er war viel bunter. Alles, was man des Nachts dort oben erblickte,
war fremd, doch auch daran gewöhnten sich die Römer bald.
Parallel zum Senat der Offiziere gründeten die Gelehrten unter der Ägide von Claudius Gracchus
eine Akademie, die Wissenschaft und Forschung in ungeahnte Höhen führen sollte. Senat und
Akademie arbeiteten bald eng zusammen, was dazu führte, daß die Entwicklung fast noch
schneller voranschritt als im alten Rom. Beinahe täglich gab es neue wissenschaftliche
Erkenntnisse. Auch die Kultur nahm einen unerhörten Aufschwung. Maler, Dichter und
Bildhauer schufen grandiose Kunstwerke. Mangels fehlender Gegner für einen Krieg wandten
sich viele Römer den feingeistigen Dingen zu.
Unaufhaltsam schritt die Expansion voran, und im Laufe der Zeit entstanden neue Städte. Das
Volk der Römer vermehrte sich und breitete sich immer weiter aus. Nova Roma, ein blühendes
Vorbild aus Palästen und Bürgerhäusern, Torbögen, Säulen, Aquädukten, Denkmälern und Monumenten, wurde zur Hauptstadt des neuen Reiches. Es war an einem lauen Aprilmorgen, als ein alter Mann von seiner Villa einen letzten Blick auf den Regierungspalast mit seiner weiten Treppe warf. »Terra Nostra«, flüsterte Tertius Commodus zufrieden. »Nova Roma. So habe ich mir dich immer vorgestellt. Genau so prächtig 102 wie das ewige Rom.«
Mit einem Lächeln im Gesicht schlief Commodus zum letzten Mal ein.
Heiß brannte die Sommersonne auf den weitläufigen Platz nieder. Junius Commodus trug eine
luftige Toga und offene Schnürsandalen, als er den Senat hinter sich ließ, wo es einen erbitterten
Streit über die Effektivität der Kanalisation gegeben hatte. Den Kopf voller Gedanken
schlenderte er Richtung der naheliegenden Akademie.
Lucius Aurel hatte ihn zur Akademie gebeten, eine erstaunliche Einladung angesichts der
Tatsache, daß Aurel einer der meistbeschäftigten Forscher des Planeten war.
Denn um einen Planeten handelte es sich. Längst wußten die Römer, daß die Götter sie nicht
durch einen metaphysisch verklärten Himmel getragen hatten, sondern durch einen ewigen
Raum, in dem unzählige Planeten wie Terra existierten. Weshalb sie das getan hatten, blieb bis
zum heutigen Tag ihr Geheimnis. Sie hatten sich nie wieder gemeldet. Doch die vorherrschende
Meinung im Senat war auch nach der langen Zeit noch, daß sie eines Tages wiederkehren und
Erklärungen abgeben würden, warum sie all das unternommen hatten.
Unablässig beobachteten die Stemforscher mit ihren Teleskopen das Firmament, ohne sich
darüber im Klaren zu sein, wie groß das Universum tatsächlich war. Denn die sie umgebende
Gaswolke ließ natürlich keine Blicke ins tiefe All zu.
Eine riesige Statue erwartete ihn auf dem großen Platz vor der Akademie. Sie zeigte Jupiter, so
wie er sich den Römern präsentiert hatte, als er seinerzeit seinem Götterwagen entstiegen war
und zu Commodus' Vorfahr gesprochen hatte. Die Statue warf einen beinahe erdrückenden
Schatten, in dem Junius für einige Sekunden verweilte. Ob er selbst jemals einen der Götter
sehen würde - vor
103 seinem Tod und dem Übergang ins Elysium? Insgeheim träumte er davon. Er wollte sich schon zu seinen Lebzeiten von der Herrlichkeit und der Macht der Götter überzeugen, um ihnen im rechten Glauben gegenübertreten zu können, wenn es soweit war. Denn zuweilen zweifelte er an seinem Glauben, eine Tatsache, über die er nicht einmal mit seiner Frau redete. Die flachen Gebäudetrakte der Akademie waren von erlesenem Weiß, das in der Sonne funkelte. Er warf einen knappen Blick zu den roten Dächern, hinter denen aus einem großzügig angelegten Innenhof schlanke Obelisken in die Höhe wuchsen. Die Geschichte von Nova Roma war seit dem Tag des Eintreffens der Römer auf dieser Welt auf ihren Außenflächen festgehalten. Zwar gab es längst eine umfassende Bibliothek in den Kellerräumen der Akademie, wo Geschichtsschreiber jedes Ereignis von Bedeutung aufzeichneten, aber Junius Commodus wollte die Obelisken nicht missen. Sie erinnerten ihn daran, daß es eine römische Historie schon vor der Ankunft seines Volkes hier gab. Er setzte sich wieder in Bewegung und lief die geschwungenen Treppenstufen hinauf. Durch ein gläsernes Portal aus Doppelflügeln betrat er das beeindruckende Bauwerk, das seit seinem Ent stehen um zahlreiche Trakte und eine Reihe von Grünanlagen erweitert worden war. Schon häufig war er hier gewesen und hatte sich über die Fortschritte informiert, die die Wissenschaftler und Gelehrten machten, wie sie ihrerseits ihre Ergebnisse im Senat vortrugen. Eine Horde greiser Römer kam ihm entgegen und grüßte ihn. Er war einer der Erbsenatoren und ein angesehener Mann. Doch zuweilen hatte er den Eindruck, daß er einen Großteil seiner Popu larität seinem Urahn verdankte, der seine römische Legion vor dreihundert Jahren auf diese Welt gebracht hatte. Er schritt durch großzügige Korridore, vorbei an Plastiken, die legendäre Bildhauer geschaffen hatten. Die meisten davon stellten berühmte Persönlichkeiten von Terra Nostra dar, ein paar waren gar Menschen des ursprünglichen Rom nachempfunden. 104 Lucius Aureis Hörsaal, indem er zumeist Vorlesungen für Schüler und Studenten hielt, war zu einem unüberschaubaren Forschungsraum umfunktioniert. Die Luft war getrübt von dampfenden
Schwaden. Junius Commodus spürte Feuchtigkeit auf seiner Haut, die bei der drückenden Hitze
angenehm war.
»Junius, ich begrüße dich«, empfing ihn Lucius Aurel. Eine herzliche Freundschaft verband die
beiden Männer. »Wie geht es deiner Familie?«
»Sehr gut. Meine Frau würde sich freuen, wenn du wieder einmal zum Essen kämest«,
entgegnete der Erbsenator, während sich die Männer umarmten. »Und die Kinder sind immer
gespannt auf neue Geschichten von dir.«
»Geschichten, die nicht erdacht sind, sondern die ich hier erlebe. Ich werde mir Mühe geben,
euch bald wieder einmal zu besuchen. Es mag schon in Kürze geschehen, denn ich betrachte
meine derzeitigen Forschungen beinahe als abgeschlossen. Alles, was noch fehlt, ist ein
abschließender Feldversuch.«
Junius Commodus betrachtete den eigenartigen Aufbau, den sein Freund errichtet hatte. Er
erkannte einen klobigen Hohlzylinder, der von einem monströsen Gestänge abging, einen Kessel,
mehrere kleinere Anbauten und eine Menge Dinge mehr, denen er keine Bedeutung zuordnen
konnte.
»Was ist das?« fragte er verblüfft.
»Etwas, das unsere Wirtschaft revolutionieren wird.« Lucius Aureis Stimme überschlug sich
beinahe vor Euphorie. »Und unsere Fortbewegung. Bald schon werden wir keine Pferde oder
Ochsen mehr vor unsere Wagen spannen. Sie werden wie von Geisterhand bewegt werden.«
»Eine Dampfmaschine? Ich erinnere mich, daß du davon gesprochen hast.«
»In der Akademie und unter meinen Kollegen fast täglich. Aber ich hielt auch einen
ausführlichen Vortrag im Senat.«
»Ich erinnere mich, aber all das erschien mir...«
»Unmöglich?« Aurel lachte erheitert auf. »Nun, ich habe die
105 Unmöglichkeit fertiggestellt.« Langsam umrundete der Erbsenator die Maschine. Die Zweifel in seinem Gesicht waren nicht zu übersehen. »Was tut sie?« »Sie leitet die Zukunft für uns ein. Siehst du diesen Zylinder? Ein Kolben wird darin durch Dampfdruck hin- und herbewegt. Diese Stangen dienen der Kraftübertragung, zum Beispiel auf die Räder eines Fuhrwerks. In diesem Kessel erzeuge ich den Dampf. Das Ganze ist so einfach, daß ich mich frage, wieso wir nicht längst auf diese Idee gekommen sind.« »Kann ich die Maschine in Betrieb sehen?« Lucius Aurel grinste übers ganze Gesicht und winkte ab. »Dies hier ist nur ein Modell. Aber im Freien steht eine zweite, und sie ist bereits in Betrieb. Ich habe nur auf dich gewartet. Inzwischen müßte sich genügend Dampfdruck aufgebaut haben.« Der Forscher führte seinen Besucher in den Innenhof der Akademie, wo ein lärmendes und dampfendes Ungetüm die beiden Männer erwartete. Es sah ähnlich aus wie das erste, war aber auf einer Plattform mit vier montierten Rädern gelagert. Eine staunende Menschenmenge hatte sich eingefunden und hielt sich in respektvollem Abstand zu der fauchenden Maschine. »Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt euch fernhalten? Ich möchte nicht, daß es zu einem Unfall kommt.« »Ein Unfall?« fragte Junius Commodus. »Was kann passieren?« »Dies ist der erste Versuch, ich habe bisher nur mit kleinen Modellen experimentiert. Dabei hat es keine Probleme gegeben. Aber das hier ist etwas anderes, ich muß von völlig abweichenden Voraussetzungen ausgehen. Ich kann nur mutmaßen, welchen Druck der Kessel und der Zylinder aushallen.« Hinter seinem Rücken wurden heftige Diskussionen geführt. Es war nicht zu überhören, daß manche der Zuschauer den Forscher schlichtweg für verrückt hielten und sich auf seine Kosten amüsierten. Doch niemand machte Anstalten, das Weite zu suchen. Lucius Aurel ließ sich davon nicht beeinflussen. Mit gemessenen Schritten ging er auf seine Erfindung zu. »Ich werde jetzt die Si 106 cherheitsblockade lösen, dann werden einige hier ihr respektloses Mundwerk künftig im Zaum
halten.«
»Soll ich den Hof vorsichtshalber räumen lassen?« fragte der Senator.
Empörte Rufe der Schaulustigen antworteten ihm.
Der Forscher schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, ich übertreibe immer ein wenig.«
Er nahm einige Einstellungen vor und legte dann einen mannslangen, schwarzen Hebel um, der
mit einem quietschenden Geräusch aus seiner Arretierung sprang. Für bange Momente geschah
gar nichts, dann entstand ein lautes Pfeifen. Urplötzlich gab es einen Ruck, und die Maschine
setzte sich in Bewegung. Zentimeterweise kroch der eigenartig anzusehende Wagen voran.
Überraschte Aufschreie wurden laut. Ein paar Zuschauer wichen entsetzt zurück, als sie
begriffen, daß der Wagen sich bewegte, ohne daß ein Zugtier davor gespannt war. Andere kamen
neugierig näher, als weiter nichts geschah, was Anlaß zur Besorgnis gab.
Die Dampfmaschine begann zu schnaufen wie ein verendendes Pferd. Das Pfeifen wurde
schriller. Die Maschine spuckte dicke graue Wolken aus und bockte aufgeregt.
»Verschwindet von hier!« schrie Lucius Aurel mit aufgeregter Stimme. »Macht endlich, daß ihr
wegkommt.«
Die Diskussionen verstummten. Verunsichert zogen sich die ersten Zuschauer zurück.
»Lucius, kann ich dir helfen?« rief Junius Commodus.
»Ja, komm bloß nicht näher. Und bring diese Narren weg.«
Der Wissenschaftler riß den schwarzen Hebel zurück, und das Gefährt kam zum Stehen.
Im nächsten Moment verging es in einer ohrenbetäubenden Ex-plosion.
Lucius Aurel, der in seiner unmittelbaren Nähe stand, wurde förmlich in Stücke gerissen.
107
6. Pete Beddoe hatte schon den ganzen Abend über das Gefühl, daß irgend etwas in der Luft lag. Nichts Gutes, soviel war gewiß. Es war ruhig in diesem Teil des Hafens von Marseiile. Zu ruhig. Seit Quinn von einem Unbekannten getötet worden war, hatte Pete dessen Platz an den Lagerhallen eingenommen. Jeder Kleindealer war ersetzbar. Die meisten von ihnen waren selbst drogensüchtig und nutzten daher jede Gelegenheit, um sich ein bißchen was hinzuzuverdienen. Ihre Provision setzten sie sofort wieder in Stoff für den Eigengebrauch um, oder sie wurden von vornherein mit Drogen bezahlt. Pete Beddoe, aus dessen offenem Hemd mehr rote Brusthaare quollen als bei einem Orang-Utan, hatte Heroin und sonstige harte Drogen stets gemieden und sich mit Marihuana begnügt. Seit die illegalen Sensorienchips auf dem Schwarzmarkt waren, war er verraten und verkauft. Es gelang ihm nicht, seinen Wunsch nach immer mehr virtuellen Erlebnissen zu unterdrücken. Die Abenddämmerung hatte gerade eingesetzt, als ein kräftig gebauter Mann langsamen Schrittes auf Beddoe zukam. Der Dealer tastete nach seinem Paraschocker, damit es ihm nicht so erging wie dem armen Quinn. Als er den Mann erkannte, nahm er die Hand von der Waffe. »Ach, du bist es, Murat«, sprach er ihn erleichtert an. »Und ich dachte schon...« »Gibt's was Neues?« erkundigte sich der andere und reichte Pete die Hand. »Die übliche Kundschaft«, antwortete der Kleindealer. »Allerdings werde ich das ungute Gefühl nicht los, daß heute nacht noch irgendwas Schlimmes passiert.« Murat Wales war mütterlicherseits Ägypter und väterlicherseits Engländer. Seine ägyptische Abstammung prägte überwiegend sein Aussehen, zudem hatte er seine gesamte Kindheit in Kairo verbracht. Während seiner Jugend hatte er in der Türkei gelebt, als 108 Erwachsener gab er Frankreich den Vorzug. Er spielte mit dem Gedanken, einmal seinen Lebensabend in Deutschland zu verbringen, doch bis zum Senior war es bei ihm noch ein bißchen hin. Seit einigen Jahren erledigte er die Drecksarbeit für Osman Mü-lyz, der seine Drogen unter anderem auch in Marseiile anbot. Hin und wieder gab es deswegen Auseinandersetzungen mit den einheimischen Großdealern und ihren Erfüllungsgehilfen, die manchmal sogar tödlich endeten, im Großen und Ganzen hielt sich der Streit aber in Grenzen. Pete kannte Murat und fühlte sich von ihm nicht bedroht. Der Ägypter hatte sich selbst den Beinamen Outlaw verpaßt, weil er nirgendwo richtig zu Hause war und keine echten Freunde hatte. In Marseiile überprüfte er sporadisch Osmans Dealer, damit sie nicht in die eigene Tasche wirtschafteten. Beddoe und Wales rauchten manchmal zusammen eine Zigarette und hielten einen kleinen Plausch. Das war auch an diesem Abend der Fall. »Beinahe hätte ich dich überhaupt nicht gefunden«, sagte Murat, während er einen tiefen Zug nahm. »Ist dies dein neuer Standort?« Pete nickte. »Irgendwer mußte ja Quinns Platz einnehmen, nachdem er tot aufgefunden worden war.« »Davon habe ich gehört. Ich hoffe, ihr denkt nicht, daß Mülyz etwas mit dem Mord zu tun hat.« »Nein, da steckt mit Sicherheit die S-Organisation dahinter. Quinn soll sich nicht an die Regeln gehalten haben, munkelt man. Apropos Gerüchteküche. Trifft es zu, daß einer von euren Leuten spurlos verschwunden ist?« »Um den braucht sich niemand mehr zu sorgen, Pete. Jussuf wurde, äh, von einer höheren
Dienstbarkeit abberufen. Sein ehemaliger Aufgabenbereich wird derzeit kommissarisch von mir
verwaltet, bis ein zuverlässigerer Nachfolger ausgewählt wurde.«
»Aha, verstehe. Und ich dachte schon, auch er hätte sich mit der S-Organisation angelegt.«
Murat Wales kratzte sich am schwarzgelockten Kopf. »Was hat
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es mit dieser geheimnisvollen Organisation auf sich? Bisher war ich überzeugt, alle Händler am
Hafen zu kennen.«
»Es sind keine Händler, nur Lieferanten«, erklärte ihm Beddoe. »Sie beschaffen die Ware - ganz
spezielle Chips fürs Sensorium -und überlassen den eingeführten Dealern den Vertrieb. Gegen
eine ansehnliche Provision, versteht sich. Sag bloß, der gute Osman bleibt bei diesem lukrativen
Geschäft außen vor? Dabei hätte ich gewettet, ihr hättet längst die Finger mit drin.«
»Kein Interesse«, winkte Murat ab. »Mein Boß ist kein Freund von neumodischen
Veränderungen. Ihn würde aber brennend interessieren, wie man mit den Chiplieferanten Kontakt
aufnehmen kann - nicht mit den niederen Chargen, sondern mit den Auftraggebern. Die offizielle
Geschäftszentrale von Sensorium Inc. wird augenblicklich von uns durchleuchtet. Ohne Erfolg
bisher. Jene Herrschaften, die das Gerät und die harmlose Chip Variation in der Öffentlichkeit
präsentieren, scheinen sauber zu sein. Hinter ihnen muß jemand stehen, der die Fäden in der
Hand hält, und mit dem hätte Mülyz gern ein Wörtchen geredet, unter vier Augen, von Ge
schäftsmann zu Geschäftsmann.«
»Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen, mein Freund. Ich übernehme die Ware von ständig
wechselnden Boten der Organisation. Ich frage nicht, woher sie kommt und halte auch sonst die
Schnauze. Möglicherweise könnte der Anwalt die Verbindung für dich herstellen; er ist nicht so
ein kleines Licht wie ich.«
Mit »Anwalt« war Alexander Helmut Wagner gemeint, einer der habgierigsten und
skrupellosesten Großdealer am Hafen. Er trug diesen Spitznamen, weil er mal Jura studiert hatte.
Seinen Beruf übte er seit drei Jahrzehnten nicht mehr aus, das Rauschgiftgeschäft erschien ihm
lukrativer. Aus Furcht vor Anschlägen befand er sich meist in Begleitung von vier bulligen
Leibwächtern.
Bert Stranger war bei seinen Recherchen auf Alexander gestoßen. Der Anwalt hatte ihn auf den
Chipdealer Quinn aufmerksam gemacht.
»Ich werde Alexander aufsuchen«, erwiderte Outlaw und trat
110 seinen Zigarettenstummel aus. »Danke für die Auskunft, mein Freund. Du verstehst sicherlich, daß dieses Gespräch unter uns bleiben muß.« »Ist doch klar«, sicherte Pete Beddoe ihm zu. »Übrigens trügt dich dein ungutes Gefühl nicht, Pete, es wird tatsächlich etwas Schlimmes passieren. Über dieses Viertel bricht heute Nacht die Hölle herein. Osman Mülyz ist fest entschlossen, jeglichen Handel mit den Chips zu unterbinden, bevor sie ihm seine Geschäfte kaputtmachen. In dieser Minute schwärmen unsere Männer aus, um so viele Chipdealer wie nur möglich unschädlich zu machen. Die Ware wird noch an Ort und Stelle vernichtet. Nimm es bitte nicht persönlich, ich hatte nie etwas gegen dich.« Sekundenbruchteile später durchzuckte Beddoes gesundheitlich angeschlagenen Körper ein Elektrogewitter. Er faßte sich ans Herz und brach zusammen. Murat steckte seinen auf Töten eingestellten Paraschocker ein und ging davon. Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er bemerkt, daß Pete noch am Leben war. Es war ein armseliges Leben, aber er hing nun mal daran. Mit schwindender Kraft betätigte er sein Arm bandvipho. Pete Beddoes Anruf ging in der Notrufzentrale des örtlichen Rettungsdienstes ein und wurde dort aufgezeichnet. »Mörder... Murat Wales... Outlaw... Lagerhallen am Hafen...«
Pete war zu schwach, um weiterzusprechen. Die Verbindung brach ab.
Ein Rettungsschweber mit Notarzt machte sich sofort auf den Weg zum Hafen. Gleichzeitig
wurde die Aufzeichnung des Anrufs an die für das Hafengebiet zuständige Polizeidienststelle
weitergeleitet.
111 Dort wurde man hellhörig. »Murat Wales, die rechte Hand von Osman Mülyz?« überlegte der Revierleiter, nachdem ihn ein Mitarbeiter vom Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt hatte. »Der Bursche steht schon lange auf unserer Schwarzen Liste. Bisher haben wir Wales nichts nachweisen können. Jetzt könnte sich
das Blatt zu unseren Gunsten wenden. Moment mal! Outlaw - so nannte sich doch der Ma rokkaner, mit dem dieser Terra-Press-Reporter nachts im Hafen unterwegs war.« »Aber Wales ist Ägypter.« »Und wenn schon. Für einen amerikanischen Journalisten sehen doch alle Nordafrikaner gleich aus. Die Personenbeschreibung, die uns von der Redaktion übermittelt wurde, trifft jedenfalls halbwegs zu. Wir verhaften Murat wegen Mordes an Quinn und dem Verdacht auf Totschlag zweier weiterer Personen. Und natürlich wegen des Überfalls auf unseren unbekannten Anrufer. Wäre doch gelacht, wenn wir ihm nichts anhängen können. Eine Gegenüberstellung mit dem Reporter ist unerläßlich, er muß umgehend auf unser Revier gebracht werden.« Noch bevor die Nacht über dem Hafenviertel vollständig ihre Schwingen ausbreitete, stießen die Rettungssanitäter bei den Lagerhallen auf Beddoe, ungefähr dort, wo man erst kürzlich den armen Quinn gefunden hatte. Die Helfer kamen zu spät, Pete Beddoe hatte bereits seinen letzten Atemzug getan. Und es sollte nicht bei den bisherigen Toten bleiben...
Noch während sich die Beamten der SOrete im Hafen auf der Suche nach Murat Wales befanden, geriet der Kleinkrieg zwischen Mülyz' Leuten und den Chipdealern außer Kontrolle. Osmans Killer machten Hatz auf jeden, den sie beim Handel mit den Chips erwischten. Die betreffenden Dealer wiederum setzten sich heftig zur Wehr. 112 Es blieb nicht bei Handgreiflichkeiten und dem Einsatz von Paraschockern. Schon bald ließ man auch schwere Waffen wie Biaster und Karabiner sprechen. Die undurchschaubare Sensorium-Organisation mischte ebenfalls mit. Zwar war sie lediglich durch eine kleine, schlagkräftige Lieferantentruppe vertreten, doch die konnte nicht nur verteilen, sondern auch abteilen. So leicht ließen sich die Boten ihren am Körper verborgenen Warenbestand jedenfalls nicht abnehmen. Durch den Einsatz von Granaten und Sprengstoffen häuften sich die Materialzerstörungen. Container, Gebäude, Fahrzeuge, Kräne, sogar am Kai liegende Schiffe wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Polizei geriet zwischen alle Fronten. Verzweifelt versuchten die wenigen Beamten, den Kämpfen Einhalt zu gebieten. Weil sich das schon bald als zwecklos entpuppte, holten sie wenigstens so viele nichtbeteiligte Seeleute und Hafenarbeiter wie möglich aus der Gefahrenzone und brachten sie in Sicherheit. Endlich traf Verstärkung ein. Das gesamte Viertel wurde von Uniformierten abgeriegelt. Kein Verbrecher kam mehr heraus, kein sensationshungriger Gaffer mehr herein. Wie es die Aufnahmeteams von Terra-Press trotzdem geschafft hatten, ins Innere des Absperrkreises zu gelangen, blieb allen ein Rätsel. Man vermutete, daß sie sich bereits vor Ausbruch des Bandenkriegs dort im verborgenen aufgehalten hatten. Irgendwer hatte ihnen offenbar einen Tip gegeben. Die mutigen Journalisten berichteten live von den Brennpunkten. Mehr als einmal begaben sie sich dabei in Lebensgefahr, doch wie durch ein Wunder kamen sie mit kleineren Blessuren davon. Angst kannten sie keine, denn das war ihr Job. Sam Patterson hatte ausschließlich Profis mit dieser Mission betraut. Skittleman erfuhr erst durch die Konkurrenzsender von den brisanten Geschehnissen. Umgehend schickte er eigene Teams nach Marseiile. Aber keiner seiner Reporter schaffte es, durch die lük kenlose Polizeiabsperrung zu kommen. 113 Intermedia war somit nur Zaungast.
Erst als sich im Morgengrauen die Situation entspannte und die Polizei die Kontrolle über das
Hafenviertel wiedergewann, durften auch Skittlemans Journalisten an den Ort des Geschehens.
Viel gab es für sie nicht mehr zu berichten, ihnen blieben nur die Krümel.
Im Hafen sah es aus wie nach einem Giant-Angriff. Viele Bandenmitglieder hatten die
Auseinandersetzungen nicht überlebt.
Als »Fressen für die Geier« bezeichneten die Intermedia-Reporter das Gemetzel reißerisch. Mit
Seitenhieben gegen Terra-Press wurde nicht gespart. Die provokante Frage, woher die
Konkurrenz bereits vorab von den Kämpfen wußte, wurde in fast jeder Ausstrahlung gestellt -
eine Antwort darauf erhielt Intermedia nicht.
Nach dieser Nacht war nichts mehr wie vorher.
»Anwalt« Alexander mußte vorerst mit zwei Leibwächtern auskommen, die beiden anderen gab
es nicht mehr. Da die Polizei die Gelegenheit genutzt hatte, eins seiner Drogen verstecke auszuheben, nahm man ihn vorläufig in Untersuchungshaft. Chips hatte man keine bei ihm gefunden (aber auch nicht danach gesucht), nur normale Drogen. Die Festnahme von Murat Wales alias Outlaw erübrigte sich - er war bei einem Schußwechsel ums Leben gekommen. Täter unbekannt. Tage später sollte sich Bert Stranger der längst fälligen polizeilichen Vernehmung stellen und Wales als den gesuchten »marokkanischen Schmuggler« identifizieren. Damit galt dieser Fall als abgeschlossen.
»Hoffentlich bringen sie sich alle gegenseitig um.« Mehr als einmal war dieser Satz bei den Einsatzkräften gefallen, die das Hafenviertel abgeriegelt hatten. Doch solche Worte waren leicht dahingesagt. In Wahrheit hatte keiner der Polizisten wirklich 114 gewollt, daß die Straßen, Gassen, Gänge, Stege und Hallen mit Leichen gepflastert wurden. Gemessen an der Heftigkeit der Ausschreitungen hatte es verhältnismäßig wenige Tote gegeben. Aber war nicht ein einziger schon einer zuviel? Auch Bert Stranger hatte diesen leidigen Satz ausgesprochen. Inzwischen hätte er seine Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Die zügellosen Gewaltausbrüche hatten ihn total schok-kiert. Zwar waren Konfrontationen zwischen den verschiedenen Drogenkartellen durchaus in seinem Sinne und hatten in gewisser Weise zu seinem Plan gehört, doch daß die Kämpfe derart eskalie ren würden, hatte er nicht erwartet. Insgeheim fühlte er sich mitschuldig an den Geschehnissen, und er war heilfroh, daß keine Unbeteiligten getötet oder verletzt worden waren. Osman Mülyz hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Er hatte das Problem mit den Chipverkäufen am Hafen auf dieselbe Art gelöst, mit der er alle seine Schwierigkeiten zu beseitigen pflegte. So schnell würde sich die Suchtchip-Szene in Marseiile nicht von diesem Schlag erholen. Aber auch der anatolische Drogenbaron hatte Federn lassen müssen. Drei seiner Männer waren nicht aus Marseiile zurückgekehrt. Daher sah er zunächst von weiteren gewaltsamen Strafak tionen ab und überließ Stranger das Feld. Der Journalist verfügte über gute Verbindungen und einen messerscharfen Verstand. Er würde sich schon etwas einfallen lassen, um den Chiphandel insgesamt zu unterbinden. In der Tat gönnte sich Bert Stranger keine Pause in seinem unerschrockenen Einmannfeldzug gegen Sensorium Incorporated. Einen ersten harten Schlag hatte er den Dunkelmännern verpaßt und sie dadurch gehörig in Unruhe versetzt. Doch noch traten sie nicht hervor aus dem Nebel, der sie umgab - also mußte er sie TOermüdlich weiter provozieren. Bis um Mitternacht (Ortszeit Alamo Gordo - in Marseiile acht Uhr morgens) hatte er die Berichte über die Kämpfe am Hafen am 115 Hologerät mitverfolgt. Anschließend war er todmüde ins Bett gefallen - nach 22 Stunden unermüdlicher Arbeit ohne ein Quentchen Schlaf, von der fast schlaflosen Nacht in Marseiile und Avi-gnon ganz zu schweigen. Mittlerweile fühlte sich Stranger wieder fit wie ein Turnschuh --und bereit für weitere Schachzüge im Spiel des Lebens. Sein nächster Ansatzpunkt sollte die Fluglinie sein, mit der er nach Lyon geflogen war. Damals war ihm eine Stewardeß wegen ihres seltsamen Verhaltens aufgefallen, und er hatte festgestellt, daß auch sie über einen Suprasensor verfügte - »gefüttert« mit illegalen Chips. Woher hatte sie die? War dies ein Ausnahmefall, oder wendeten noch weitere zum Flugbegleitpersonal gehörige Mitarbeiter diese zweifelhafte Methode an, um sich zwischendrin vom Streß ihres hektischen Berufsalltags zu erholen? Diese und weitere Fragen wollte Stranger dem Sicherheitschef der Firma stellen. Er hatte ihn zur Mittagszeit angerufen, gleich nachdem er aufgestanden war, und hatte mit ihm einen Termin am Nachmittag vereinbart. Die Zentrale der Fluggesellschaft befand sich in Alamo Gordo, in einem Stielbau am Stadtrand. Sam Patterson ordnete an, daß Stranger seinen weiteren Recherchen nur in Begleitung eines neuen Wachroboters nachgehen durfte. Diesmal begnügte er sich nicht mit einem vergleichsweise preisgünstigen Blechmann. Statt dessen leaste er einen sündhaft teuren Kegelroboter für seinen Mitarbeiter. Codename: H-02631-J-356100-B.
Der Journalist protestierte nicht. Er wußte um die Leistungsfähigkeit der kegelförmigen, auf Prallfeldern schwebenden Vielzweckgeräte. Und seit den Vorkommnissen am Hafen war ihm nur zu gut bewußt, wie sehr er einen ständigen Beschützer nötig hatte. Nicht immer war Veronique de Brun mit ihrer todbringenden Handtaschenwaffe zur Stelle, wenn es ihm an den Kragen gehen sollte. »Komm mit, Clint«, befahl er der Maschine, die er an der
116 Rampe des Terra-Press-Lieferanteneingangs in Empfang nahm, direkt vom Lastenschweber der Leasingfirma. Der Roboter rührte sich nicht. Bert seufzte und versuchte es noch mal. »Jetzt paß mal gut auf, du beinloses Etwas. Ich habe nicht die geringste Lust, deinen viel zu komplizierten Codenamen auswendig zu lernen und ihn immer dann aufzusagen, wenn ich dir eine Anweisung erteile. Darum nenne ich dich Clint, nach dem seligen Clint Eastwood. Im Klartext: Ich Stranger - du Clint. Verstanden?« »Verstanden, Stranger«, schnarrte die unpersönliche Computerstimme des Roboters. »War Clint Eastwood ein guter Freund von dir? Ich stelle diese Frage, um deine Persönlichkeitsstruktur zu erkennen und mich besser darauf einstellen zu können. Die Antwort ist dir selbstverständlich freigestellt.« »Du kennst Clint Eastwood nicht? Hast du kein Personenlexikon gespeichert?« »Ja, aber nur mit wichtigen terranischen und außerterrestrischen Persönlichkeiten.« Erneut stieß Bert einen Seufzer aus. So ging es auf der Welt zu. Heute noch eine Berühmtheit, und kaum war man ein paar läppische Jahre tot, galt man nicht mehr als wichtige Persönlichkeit. »Eastwood war ein Schauspieler«, klärte er den Roboter auf. »Warum hast du das nicht gleich gesagt, Stranger?« erwiderte die Maschine. »In diesem Fall habe ich seinen Namen sicherlich in der wenig genutzten Nebendatei Darstellerische Kunst abgespeichert. Moment bitte. Theater... negativ. Kino... positiv! Clint Eastwood wurde am 31. Mai 1930 in San Francisco geboren, als Sohn von Clinton und Ruth. Sein Todesdatum war...« »Schon gut, ich benötige keine komplette Biographie«, schnitt Bert seinem Leibwächter das Computerwort ab. »Genügt es dir, wenn ich Clints Namen annehme. Stranger, oder soll ich mich auch wie er verhalten?« wollte der Kegel es nun aber ganz genau wissen. 117
»Mach doch, was du willst!« blaffte Stranger, der keine Lust auf eine Diskussion mit einem
seelenlosen Apparat verspürte. »Und jetzt komm endlich, Clint!«
Sofort kam der Roboter dem Befehl nach und schwebte auf seinem Prallfeld hinter seinem neuen
Schützling her. Zum Schweigen sah er allerdings keinen Anlaß.
»Ich soll machen, was ich will? Diese Anweisung ist unlogisch, Stranger, da Maschinen
bekanntlich über kein Bewußtsein und somit auch über keinen eigenen Willen verfügen. Da keine
eindeutige Antwort von dir zu erwarten ist, wenn ich dein Benehmen richtig expliziere, errechne
ich die wahrscheinlichste Möglichkeit und stelle mein Verhalten darauf ein. Solltest du damit
nicht einverstanden sein, laß es mich bitte wissen.«
Der Reporter, dessen gewichtigstes berufliches Erfolgsgeheimnis das Zuhören war, hörte nicht
mehr hin.
Was Bert Stranger zu früheren Zeiten stets vermißt hatte, war ein richtiges Zuhause, als
Ruhepunkt zum Entspannen. Meistens war er unterwegs, weshalb er überwiegend in Hotels
nächtigte. Diverse gemietete Apartments hatte er immer nur als Übergangslösung betrachtet.
Mittlerweile hatte er eine wirklich feste Adresse. Aus der hochmodernen, mit allen
Annehmlichkeiten ausgestatteten Wohnkugel, die er in Alamo Gordo bezogen hatte, würde er
nicht so bald wieder weggehen.
Die auf hohen Säulen montierten, sich unentwegt langsam drehenden riesigen Kugeln prägten
mittlerweile einen nicht unerheblichen Teil des Stadtbilds. Sie boten Platz für viele luxuriöse
Wohnungen mit herrlichem, stetig wechselndem Ausblick.
Auch die Fluggesellschaft, die Stranger aufsuchte, hatte ihr Domizil in einem solchen Stielbau.
Die mehrere hundert Meter hohe, stabile Tragsäule der Bürokugel stand mitten auf einem großen,
runden, gepflasterten Platz. Dort waren zwischen Blumenbeeten,
118
Springbrunnen und Kunstdenkmälern bequeme Sitzbänke zum Verweilen aufgestellt worden.
Wegen der noch leicht kühlen Aprilwitterung nutzten jedoch nur vereinzelte Passanten die Sitz möglichkeiten. Straßen und Wohnhäuser säumten den Platz. Von der Kugel aus konnte man auf die Hausdächer herabblicken. Stranger und sein robotischer Leibwächter Clint schwebten im A-Gravschacht nach oben. Die Büros des Sicherheitschefs der Fluglinie erstreckten sich über die gesamte untere Etage. Beim Betreten fiel einem sofort die originelle Anordnung der Fenster ins Auge. In dieser untersten Etage der Kugel standen die Fenster naturgemäß ziemlich schräg und boten den direkten Blick nach unten. Dadurch konnte man die Leute auf dem gepflasterten Platz beobachten, die von hier aus wie Ameisen wirkten. »Passen Sie auf, daß Sie nicht stolpern und durch das Fensterglas in die Tiefe stürzen«, warnte Sicherheitschef Larry Calahan seinen Besucher, fügte dann aber grinsend hinzu: »War nur ein Scherz, es handelt sich natürlich um unzerstörbares Panzerglas.« Stranger gönnte Calahan ein müdes Lächeln. Der bullige Mann, dessen glänzendes Haupt nicht ein einziges Haar verunzierte, sah eigentlich gar nicht nach einem Scherzkeks aus, eher nach einem unbeherrschten Rohling, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Seine Anzugjacke hing über dem Schreibtischstuhl, die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt. Die Gläser seiner altmodischen Brille waren so klein und rund, daß Bert sich fragte, wie er es überhaupt schaffte, beim Durchblicken das Innere der Brillenfassung zu treffen. Hoffentlich hat er wenigstens in seinem Job den Durchblick, dachte der Reporter, während beide in einer Sitzecke Platz nahmen. Die Einrichtung des Büros konnte man durch die Bank weg als »klobig« bezeichnen. Somit paßte sie zum grobschlächtigen Typus, den Calahan verkörperte. »Was kann ich für Sie tun?« erkundigte sich der Sicherheitschef. 119 »Am Vipho sprachen Sie von Drogenmißbrauch unseres Flugbegleitpersonals. Könnten Sie vielleicht etwas konkreter werden?« Bert tat ihm den Gefallen und schilderte ihm, wie sich die betreffende Stewardeß verhalten hatte zunächst muffelig und abgespannt, dann plötzlich überschwenglich freundlich und euphorisch. Daß er bei ihr ein mit einem illegalen Chip bestücktes Sensorium entdeckt hatte, verschwieg er zunächst. Calahan betätigte seinen Suprasensor und holte die Akte der angeschuldigten Mitarbeiterin auf den Bildschirm. Offensichtlich machte er alles selbst, zumindest konnte Stranger nirgendwo eine Sekretärin oder Assistentin entdecken. Schade, denn er hätte gern einen Kaffee gehabt. Zwar vertrat er die An sicht, daß Frauen im Berufsleben zu weitaus mehr taugten als nur zum Kaffeekochen, doch ihm war noch nie ein Mann begegnet, der dieses Metier so gut beherrschte. Vermutlich funktionierten Kaffeemaschinen einfach besser, wenn sie von zarten Frauenhänden bedient wurden. Männer und Roboter waren einfach unfähig, eine gute Tasse Kaffee zu fabrizieren - und beim Servieren derselben kleckerten sie meist die Untertasse voll. ^ Clint kannte dieses dringende Bedürfnis nach brauner Koffeinbrühe nicht. Scheinbar teilnahmslos schwebte er mitten im Raum. Scheinbar - denn in Wahrheit registrierten seine Sensoren jedes noch so geringfügige Detail. Wachsam beobachtete er jede Bewegung des Sicherheitsmannes; selbst leichte Zuckungen der Gesichtsmuskeln entgingen der Maschine nicht. Daß Calahan einen Paraschocker unter seiner Jacke trug, war für Clint noch kein Grund zum Eingreifen, schließlich war es für einen Mann seines Berufs normal, sich zu bewaffnen. Calahan drehte den Bildschirm so, daß Stranger sämtliche Angaben über die Stewardeß auf dem Suprasensor mitlesen konnte. Das Ergebnis der aktuellen ärztlichen Untersuchung war negativ. »Ihr letzter Drogentest liegt noch nicht lange zurück«, erklärte der Sicherheitschef. »Regelmäßige Tests sind für alle unsere Mitarbeiter Pflicht, vom Piloten über den Mechaniker bis hin zur 120 Putzfrau. Wer drückt, schnieft oder kifft, fliegt - aber nicht mehr am Schaltpult unserer Linienjetts.« »Die neue Droge kann man nicht nachweisen«, machte Bert ihm deutlich. Larry Calahan grinste. »Ich kann es, glauben Sie mir, ich habe da so meine Methoden. Die Schnüffelei ist ein dreckiger Job, aber es muß nun einmal Menschen geben, die die Spreu vom Weizen trennen. Dank meiner vielfältigen Kontakte zur Unterwelt werde ich über jede Droge informiert, die frisch auf den Markt kommt. Unsere Firmenchemiker entwickeln dann sofort die entsprechenden Test.« »Und welchen Test empfehlen Sie für Sensoriumssüchtige?«
fragte Stranger ihn direkt heraus. »Nun seien Sie mal nicht päpstlicher als der Papst. Ein paar kleine menschliche Fehler hat doch jeder. Oder haben Sie sich noch nie die Nacht am Hologerät um die Ohren gehauen, wenn es beim Boxen oder Fußball zur Sache ging?« »Ich rede nicht von harmlosen Filmchen oder Sportaufzeichnungen. Es gibt illegale Sensorienchips zu kaufen, die bereits nach kurzer Zeit beim Anwender eine körperliche und seelische Abhängigkeit erzeugen, so gewaltig, daß nur ein lebensgefährlicher harter Entzug noch Rettung bringt. Wer danach erneut den Chips verfällt, ist auf ewig verloren. Diese Dinger vermitteln die perfekte Illusion sexueller Erlebnisse oder eines Drogenrausches - aber ohne die Droge zu spritzen und daher ohne jede Nachweismöglichkeit. Es ist mir leider noch nicht gelungen, zu ermitteln, wer hinter der Verbreitung dieser neuartigen Droge - anders kann man es nicht bezeichnen - steckt. Die unbekannten Hersteller der Chips verdienen sich damit nicht nur ein kleines Vermögen, sie verfügen auch über er unbegrenzte Macht, weil sie ihre Opfer zu willenlosen Sklaven machen.« Ich kann das kaum glauben«, sagte Calahan fassungslos. Selbstverständlich werde ich jeden unserer Mitarbeiter aufgrund der neuen Informationen nochmals gründlich unter die Lupe 121 nehmen. Aber spielen Sie die Auswirkungen nicht ein wenig hoch? Süchtige sind krank - und Kranke kann man heilen. Fachärzte und mit Suchtproblemen vertraute Psychiater führen selbst mehrfach Rückfällige wieder zurück auf den rechten Weg. Und was soll das Geschwätz von der Machtausübung und Versklavung? Derlei Schlagworte eignen sich zwar für reißerische Sensationsberichte...« »Wer den Chips verfallen ist, braucht einen immens starken Willen, um sich davon zu befreien«, unterbrach Stranger ihn mit eindringlicher Stimme. »Je öfter man sich der Sucht hingibt, um so willenloser wird man. Nach einer gewissen Zeit ist man bereit, wirklich alles zu tun, damit man in den Besitz und Genuß neuer Chips kommt. Die alten kann man nicht mehr gebrauchen, weil sich die illegalen Chips, im Gegensatz zu den legalen, während des Abspielens selbsttätig löschen. Die harmlosere, frei verkäufliche Version hingegen kann man nahezu unendlich benutzen, allerdings wird es auf Dauer langweilig, sich ständig dieselben Aufzeichnungen anzusehen.« Calahan hielt Strangers Schilderung weiterhin für maßlos übertrieben und sagte ihm das freiheraus. »Meine Haltung mag ihnen stur vorkommen, doch ich habe einen guten Grund, Ihnen nicht zu glauben. Kommen Sie bitte mit ans Fenster, ich möchte Ihnen etwas unten auf dem Vorplatz zeigen.« »Von hier oben kann man doch kaum was erkennen«, erwiderte Bert, stand aber auf und folgte dem Sicherheitschef. Clint beobachtete die Szenerie mit der ihm einprogrammierten Wachsamkeit. Eine falsche oder mißverständliche Handlung, und Strangers Gesprächspartner war so gut wie tot. Calahan blieb vor einem der schrägliegenden Fenster stehen und beugte sich etwas vor. Dann streckte er die Arme aus und ließ sich nach vorn fallen, so als wolle er sich mitten durchs Glas stürzen. Die Panzerglasscheibe hielt natürlich stand. Calahan stützte sich mit den Händen darauf ab. »Befürchten Sie nicht, das Fenster könnte sich plötzlich und un 122 erwartet öffnen?« fragte ihn der Reporter, der kein Freund seltsamer Turnübungen und Verrenkungen war. »Die Fenster verfügen über keinen Öffnungsmechanismus«, antwortete der Sicherheitschef. »Aus Sicherheitsgründen.« Er stieß sich mit den Händen von der Scheibe ab und kam mit einem gekonnten leichten Rückwärtsschwung wieder kerzengerade auf die Beine. »Jetzt sind Sie an der Reihe«, forderte er seinen Besucher auf. »Sie müssen Ihren Blick auf den äußeren Rand der Rundpflasterung konzentrieren, dann werden Sie sofort erkennen, worauf ich hinauswill.« Bert Stranger liebte Geheimnisse und Rätsel, aber... »Aber genügt es nicht, wenn ich mich ein bißchen vorbeuge? Von hier aus kann ich alles gut erkennen.« Calahan schüttelte den Kopf. »Nur wenn Sie die vorgeführte Position einnehmen, können Sie das Geheimnis lüften. Was ist los mit Ihnen? Als Journalist müßten Sie eigentlich eine gewisse Neugier an den Tag legen.« Bert seufzte und ließ sich nach vorn fallen. Fallen? Plumpsen wäre die zutreffendere Bezeichnung gewesen. Erst im letzten Moment bremste er seinen Fall mit den Unterarmen ab.
Alamo Gordo -16 Uhr 16- das Glas hält. »Und wo genau soll ich jetzt hinsehen?« fragte der Reporter, der sich in dieser merkwürdigen Lage reichlich lächerlich vorkam. »Direkt ins Höllenfeuer«, entgegnete Calahan und betätigte mit dem Fuß einen verborgenen Schalter. Augenblicklich setzte sich das Fenster in Bewegung und verschwand seitlich in einem Spalt in der Wand. Geistesgegenwärtig streckte Bert die Arme zu beiden Seiten aus und umschloß mit seinen Fingern den metallenen Fensterrahmen. Mit den Zehenspitzen stand er noch auf dem Fensterbrett. Entsetzt starrte er in die Tiefe. Ein kalter Wind pfiff ihm um die °hren. Wenn er jetzt losließ, war er aller irdischen Verpflichtungen und Sorgen ledig. Ein verführerischer Gedanke... 123 Calahan wollte seine Waffe ziehen und auf den Roboter schießen, bevor der ihm zuvorkam. Als er jedoch sah, daß Stranger noch im Fensterrahmen hing, versetzte er ihm mehrere schnelle Tritte in die Kniekehlen. Auf der Flucht vor den Hafengangstern hatte Veronique festgestellt, daß Bert sportlicher war, als es den Anschein hatte. Zu dieser Erkenntnis gelangte auch Calahan. Der kugelige Reporter ris kierte es, mit der linken Hand loszulassen und nach hinten zu greifen. Er bekam Calahans linkes Bein zu fassen und krallte sich daran fest. Dann ließ er auch rechts los - darauf vertrauend, daß sein Kontrahent irgendwo Halt finden würde. Sekunden später war es Calahan, der sich an den Fensterrahmen klammerte. Sein rechtes Bein stand noch im Zimmer, aber das linke befand sich im Freien - wo Stranger es mit beiden Händen festhielt. Vergebens mühte sich Calahan ab, ihn abzuschütteln. Das muß ein Alptraum sein! dachte der Journalist. Eben noch hatten die beiden friedlich in der Sitzecke geplaudert - und jetzt hingen sie irgendwie in der Luft, wobei sich Stranger zweifelsohne in der schlechteren Position befand. »Clint!« schrie sich Bert die Lunge aus dem Leib. »Unternimm gefälligst was!« Calahan drehte seinen Kopf leicht nach hinten und sah, daß der Kegelroboter seine Waffenarme auf ihn gerichtet hatte. Nicht nur die beiden Männer befanden sich in einer Zwangslage, auch die Schaltkreise des Roboters hatten mit einem Problem zu kämpfen. Zwar war Calahan von Clint zweifelsfrei als Feind eingestuft worden, aber wenn er den Sicherheitschef tötete oder betäubte, zerschmetterte er unten auf dem Pflaster - zusammen mit Stranger.
Auf der Bodenstation herrschte hektische Betriebsamkeit. Zivilisten und Militärs huschten durcheinander und erweckten den Eindruck eines unermüdlichen Ameisenhaufens. Zahlreiche Monitore waren aktiv und lieferten ständig aktualisierte Bilder von den Geschehnissen, die sich auf dem weiten Landefeld abspielten. Sie lieferten den Spezialisten der Raumfahrtbehörde einen nicht enden wollenden Datenstrom. Quintus Commodus stand mit verschränkten Armen in einem schmalen Gang, der zwei Reihen mit Bildschirmen übersäter Arbeitstische voneinander trennte. In seinen wachsamen blauen Au gen funkelte es aufgeregt, als er die INCOGNITA betrachtete, das erste Raumschiff, das sich anschickte, Terra Nostra zu verlassen und in den Weltraum vorzustoßen. Sie sollte, geführt von ihrem atomar gespeisten lonenantrieb, ins Unbekannte aufbrechen, aus dem die Römer vor vierhundert Jahren auf diesen Planeten gekommen waren. Commodus Blicke glitten über den schlanken, zerbrechlich wirkenden Leib der Trägerrakete, deren Bugspitze himmelwärts gerichtet war. Nichts konnte sie aufhalten, darin waren sich sämtli che Experten einig. Trotzdem blieben Zweifel. In den Jahren der Vorbereitung auf den ersten Flug zum Nachbarplaneten von Terra Nostra, einer kalten Gesteinswelt, die man in Gedenken an den Besuch der Götter Jupiter getauft hatte, hatte es zahlreiche Rückschläge gegeben. Milliardenteure Schiffe waren im Feuer vergangen, und auch einige tapfere Männer hatten ihr Leben gegeben für den Traum von der Raumfahrt. »Nervös?« Quintus Commodus wandte leicht den Kopf und entdeckte Proximus Vajus, einen Senator, der wie kein zweiter den Aufbruch ins All propagiert hatte. Seit über dreißig Jahren hatte er zunächst das Luftfahrt- und später das Raumfahrtprogramm vorangetrieben, um seinen großen Traum noch mitzuerleben. Die erste Umrundung eines fremden Planeten. All seine Hoffnungen hatte er auf diesen Tag gesetzt, und die hektischen roten Flecken in seinem Gesicht zeigten, daß in Wahrheit er es war, der seine Nervosität nicht unterdrücken konnte.
125 »Es gibt keinen Grund, aufgeregt zu sein. Alles ist tausendmal berechnet. Ich bin sicher, daß der kleine Ausflug gelingen wird.« »Dein Wort in den Ohren der Götter.« Commodus gestattete sich ein amüsiertes Lächeln. »Wo immer sie auch sein mögen. Wenn sie wirklich irgendwo dort draußen sind und sich überhaupt dafür interessieren, was wir hier tun.« Längst war den Römern klar, daß die Wesen, die sie nach Terra Nostra gebracht hatten, keine Götter waren. Es hatte sich um eine Rasse gehandelt, die die Raumfahrt beherrschte, eine hochentwik-kelte Raumfahrt zwar, letztendlich aber doch von Sterblichen gemacht. Sie besaßen einen beträchtlichen Vorsprung, was die technologische Entwicklung betraf, und sie mochten den Römern Jahrhunderte oder gar Jahrtausende voraus sein, doch eines waren sie bestimmt nicht: ein Göttergeschlecht, das es verdiente, angebetet und verehrt zu werden. »Wir brauchen keine Götter, um ins Weltall vorzustoßen«, stellte Proximus Vajus mit beherrschter Stimme fest. Quintus Commodus zeigte keine Regung. Vajus' Einstellung war bekannt, und er hatte sich nicht nur Freunde mit ihr gemacht. Auch wenn keine wirklichen Götter verantwortlich waren für den Exodus von Kaiser Augustus' 48. Legion von Terra, so existierten diese Raumfahrer dennoch. Es war gefährlich, ihre Existenz zu verneinen, aber Erbsenator Commodus, der seinen Sitz im Senat in einer langen Linie von seinem Vater übernommen hatte, hörte über die Provokation hinweg. »Ein wenig Unterstützung von ihnen würde uns aber nicht schaden«, sagte er. »Die INCOGNITA sieht so verletzlich aus. Mir wäre wohler in dem Bewußtsein, daß nicht allein wir über sie und ihre Mannschaft wachen.« »Ich verlasse mich auf die Fähigkeiten der Techniker und Ingenieure. Unsere Spezialisten haben ganze Arbeit geleistet.« Stumm nickte Commodus. Er konnte die angespannte Atmosphäre mit Händen greifen, die sich während der Startvorbereitung im Kontrollzentrum aufbaute. In Nova Roma und vielen anderen 126 Städten hingen in diesem Augenblick Millionen von Römern gebannt vor ihren Bildschirmen, um den ersten Schritt in die Unendlichkeit mitzuerleben. Er hörte, daß jemand die letzten Sekunden vor dem Abheben herunterzählte. Es war ihm unmöglich, seine Blicke vom Hauptmonitor zu lösen, der zeigte, wie die INCOGNITA gemächlich in Fahrt kam und dann unaufhaltsam himmelwärts raste. Totenstille herrschte, denn die Sekunden und Minuten nach dem Start waren die gefährlichsten des gesamten Unternehmens, vergleichbar nur noch mit dem Wiedereintritt in die Atmosphäre bei der Rückkehr. Doch alles lief wie am Schnürchen. Es gab keine Abweichungen vom Kurs und keine sonstigen Probleme. »lonenantrieb erreicht maximale Effizienz«, vernahm Quintus Commodus eine Stimme, während der Flugkörper auf den Monitoren immer kleiner wurde. Um ihn brach herum unbeschreiblicher Jubel aus. Er war sicher, daß sich ähnliche Szenen gleichzeitig überall in Nova Roma und auf ganz Terra Nostra abspielten.
127 Das ist das Ende, befürchtete der Terra-Press-Reporter. Wie ein lästiges Insekt hing er an Calahans Bein, und es gelang ihm nicht, sich daran nach oben zu ziehen, zurück ins Büro des Flugsicherheitschefs. Jeder Versuch wurde durch heftige Bewe gungen Calahans verhindert. Stranger mußte an seinen Kollegen Hank Morris denken, der in den Anden in einen Abgrund gestürzt war. Er war mit Morris' abruptem Ableben recht locker umgegangen, und als er dem entsetzten Patterson die schlechte Nachricht überbracht hatte, hatte er ihm am Vipho geraten, sich ein dickeres Fell zuzulegen. War das jetzt die gerechte Strafe für sein loses Mundwerk? Sollte Calahan, als Erfüllungsgehilfe des Schicksals, nachholen, was dem Schwebebusfahrer mißlungen war? In Wirklichkeit war Bert Stranger gar nicht der kaltschnäuzige Hund, als der er sich gern gab. Tief in seinem Herzen war er ein empfindsamer Mensch. Doch wenn er Kummer und Leid zu nahe an sich heranließ, würde er sich eines Tages außerstande sehen, seinen Beruf weiter auszuüben. Auch er hatte Morris gemocht, aber wem nützte es, wenn er zu sehr um ihn trauerte? Das brachte den Verunglückten auch nicht mehr in diese Welt zurück. Erneut schüttelte Calahan heftig sein Bein. Stranger krallte sich in den Qualitätsstoff der maßgeschneiderten Hose, merkte aber, daß er sich nicht mehr lange würde festhalten können.
Auch Calahan wußte das. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie loslassen!«
»Niemals!« schrie Stranger ihn an. »Eher reiße ich Sie mit in die Tiefe!«
»Das wird Ihnen nicht gelingen! Mein Standort ist sicherer als Ihrer, und ich habe mehr
Ausdauer!«
»Damit kommen Sie nicht durch! Man wird Sie wegen Mordes vor Gericht stellen!«
»Nicht, wenn ich das ganze als Unfall hinstelle! Das einfahrbare
128 Fenster ist ein behördlich genehmigter Notausgang! Ich behaupte, Sie hätten aus Versehen den Öffnungsmechanismus betätigt und seien hinausgefallen!« »Haben Sie den Roboter vergessen, Calahan?« »Der wird mir nichts tun! Noch richtet er seine Waffen auf mich, aber wenn Sie erst einmal losgelassen haben. Stranger, gibt es für ihn keinen Grund mehr, mich zu töten! Die Maschinen sind darauf programmiert, Ihre Besitzer zu schützen - nicht, sie im Nachhinein zu rächen!« Trotz der prekären Situation leistete sich Bert sein berüchtigtes freches Grinsen. »Sie sind wirklich der größte Dummkopf, der mir je begegnet ist!« rief er Calahan zu. »Clint wird Sie zwar nicht töten, aber er wird Sie festnehmen!« »Man kann mir nichts beweisen!« kam es zurück, doch es klang ziemlich unsicher. »Irrtum! Die Ton- und Bildaufzeichnungsgeräte des Kegelroboters sind ständig aktiv! Clint fertigt gerade eine nette kleine Reportage über uns beide an! Mein Chef wird sich über dieses Vermächtnis freuen!« Stranger war überzeugt, daß Calahan jetzt zur Vernunft kommen und ihn hochziehen würde. Oder hatte der Sicherheitschef noch ein As im Ärmel? Calahan zog mit einer Hand seinen auf volle Leistung eingestellten Paraschocker aus dem Holster und richtete ihn auf Strangers Kopf. Mit der zweiten Hand hielt er sich weiterhin am Rahmen fest. Das war schwierig, doch wenigstens stand er noch mit dem rechten Fuß fest auf dem Teppichboden. »Spring runter!« verlangte Calahan. Diese Aufforderung richtete sich nicht an Bert Stranger, sondern an die Robotmaschine. »Spring runter, oder ich töte ihn! Das wäre genauso als ob du An selbst getötet hättest, und das ist dir laut Programmierung nicht erlaubt!« 129
Der Roboter ließ die Waffen sinken. Dann schwebte auf das geöffnete Fenster zu.
Auf dem gepflasterten Platz, ein paar hundert Meter tiefer, bemerkte niemand das Drama, das
sich hoch in den Lüften abspielte. Nur wenige Passanten hielten sich unterhalb der Wohnkugel
auf, und von denen schaute keiner nach oben. Man hätte auf die Entfernung sowieso kaum etwas
erkennen können.
Clint prallte mit Calahan zusammen - ob mit Absicht oder aus Versehen war nicht klar
ersichtlich.
Der Sicherheitschef konnte sich nicht mehr festhalten. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand, und
er fiel zusammen mit Stranger und dem Roboter aus der Kugel.
Beide Männer klammerten sich verzweifelt an den Metallkörper der Maschine. Nur an den
Armen fanden sie einigermaßen Halt.
Mit einer ruckartigen Bewegung stieß Clint Calahan von sich. Entsetzt streckte der
Sicherheitschef die Hände nach dem Roboter aus, konnte ihn aber nicht mehr erreichen.
Clint, im freien Fall, packte Stranger mit beiden Greifhänden und hob ihn in die Höhe. Dabei fuhr
er die hydraulischen Arme so weit wie möglich aus.
Bert glaubte sein Ende nahe. Der Roboter verfügte über keine Flug Vorrichtung und würde
ungebremst aufs Pflaster knallen. Wahrscheinlich würde die stabile Maschine den Aufprall sogar
weitgehend unbeschadet überstehen, schlimmstenfalls waren ein paar Reparaturen fällig...
Aber einen Menschen konnte man nicht reparieren. Wer keinen einzigen heilen Knochen mehr im
Leib hatte, den konnte auch die moderne Medizin des dritten Jahrtausends nicht mehr retten.
Den Tod vor Augen gingen Bert Stranger tausend wirre Gedanken durch den Kopf.
Ich darf noch nicht sterben - ich habe doch meine Aussage bei der Sürete noch gar nicht gemacht. Er schlug auf dem harten Pflaster auf und war sofort tot.
Wenige Tage nach der Rückkehr der INCOGNITA war das leuchtende Rad wieder da. Es raste
aus dem Himmel herab und landete in der Nähe von Nova Roma. In Windeseile wurde eine Zenturie Soldaten mobilisiert und in Marsch gesetzt. Insgeheim wurden weitere Manipel alarmiert, die sofort eingreifen konnten, wenn es nötig werden würde. Der Senat war gespalten. Kamen die Fremden aus der Vergangenheit auch diesmal als Freunde oder vielleicht als Feinde? Die Erinnerungen an sie waren verklärt, und kein Römer konnte sich mehr eine rechte Vorstellung von ihnen machen. Das galt auch für die Erbsenatoren, die Kindeskinder der ehemaligen Offiziere, die Nova Roma gegründet hatten. Doch es blieb keine Zeit für lange Debatten. Der Raumer, der die Form eines gigantischen Rings hatte, ging außerhalb der Stadt nieder. Quintus Commodus fuhr an der Spitze der kleinen Streitmacht, und Proximus Vajus begleitete ihn. »Einen solchen Zufall gibt es nicht«, behauptete er. »Hunderte Jahre lang haben diese Wesen sich nicht gemeldet. Nun, da die INCOGNITA vor wenigen Tagen zurückgekehrt ist, tauchen sie wieder auf. Anscheinend hat der erste interplanetare Flug ihr Interesse erregt. Vielleicht leben sie auf Jupiter.« »Nein, das tun sie nicht. Dieser Planet ist unbewohnbar. Ich vermute, sie haben uns beobachtet und auf diesen Tag gewartet.« »Die ganze Zeit über? Unvorstellbar. Glaubst du, sie haben bis zum heutigen Tag über uns gewacht?« Commodus hatte keine Antwort. Wenn es so war, mußte es einen Grund geben. Diese Wesen, die keine Götter waren, hatten einen bestimmten Plan. Sie wollten etwas von den Römern, etwas, 132 das so lange warten mußte, bis ihre vermeintlichen Schützlinge den ersten Schritt ins All getan hatten. Commodus war nicht sicher, ob ihm gefallen würde, was die Fremden verlangten. Sein Gesicht verhärtete sich, als er erkannte, daß dieser Umstand für ihn von vornherein feststand. Die Frage war tatsächlich nicht, ob die Unbekannten etwas von den Römern wollten, sondern was. »Ich weiß es nicht«, antwortete er endlich, und er wußte nicht, ob seine Worte an Vajus gerichtet waren oder an sich selbst. »Du traust ihnen nicht, habe ich recht?« »Wie soll ich jemandem vertrauen, den ich nicht kenne?« »Dies ist eine Einstellung der Militärs. Ich würde die Frage anders formulieren. Wie soll ich jemandem mißtrauen, den ich nicht kenne?« Quintus Commodus lächelte. So konnte man es natürlich auch sehen. Doch er hatte die Überlieferungen seiner Vorfahren nicht vergessen. Auf Terra waren die Römer von Feinden umgeben gewesen, und ihre Ausbreitung war niemals ohne Kriege vonstatten-gegangen. Warum sollte sich das im Universum, auch wenn Commodus noch nicht viel davon gesehen hatte, anders verhalten? In rascher Fahrt näherten sich die leichten Wagen der Zenturie dem Raumschiff, das in einer prachtvollen Grünanlage niedergegangen war. Seine Außenhaut bestand aus einem blauen Metall. Im Vergleich zur INCOGNITA und deren Vorgängern, die Terra Nostra umkreist hatten, war es gewaltig. Wie von Götterhand erschaffen! Commodus ärgerte sich über diesen Gedanken, der in die Vergangenheit gerichtet war. Er sah
sich als einen Mann der Moderne und der Aufklärung. Darin unterschied er sich nicht von
Proximus Vajus, der mit seiner Einstellung aber viel weniger hinterm Berg hielt.
»Eines Tages werden wir ebenfalls solche Schiffe bauen«, sagte Vajus im Brustton der
Überzeugung. »Vielleicht können die Hemden uns dabei helfen.«
133
Commodus warf ihm einen scharfen Blick zu. »Vielleicht gefällt ihnen aber auch nicht, daß wir
in den Raum vorgedrungen sind. Vielleicht sehen sie ihn als ihr Eigentum an und kommen, um
uns zu sagen, daß wir auf unserer Welt bleiben sollen.«
»Niemand kann so vermessen sein, das schier endlose Weltall als seinen Besitz zu betrachten.
Niemand, der einen solchen Stand erreicht hat, verfügt über einen derartigen Größenwahn.«
»Wie viele dieser Fremden hast du schon kennengelernt?« Commodus trat auf die Bremse.
»Schon gut, wir wollen nicht streiten. Laß uns einfach hören, was sie zu sagen haben.«
Die Zenturie kam zum Stehen.
»Absitzen!« gab Commodus an die Unterführer weiter. »Die Dekurions lassen Aufstellung
befehlen! Bis wir wissen, woran wird sind, betrachten wir die Fremden als Besucher, die die
Gastfreundschaft Roms verdienen.« Die Soldaten nahmen vor den offenen Fahrzeugen
Aufstellung. In dem Ringraumer entstand eine Öffnung. Commodus' Blicke saugten sich daran fest. Er zeigte keine Regung, obwohl er innerlich aufgewühlt war wie selten in seinem bisherigen Leben. Es war lediglich ein fremdes Volk, mit dem ihm die unmittelbare Bekanntschaft bevorstand. Um wieviel ergriffener und eingeschüchterter mußten da seine Vorfahren gewesen sein, die sich noch mit Göttern in ihrem Himmelswagen konfrontiert gesehen hatten. Aus dem Ringraumer löste sich ein kleineres Schiff, das unmittelbar vor den Römern landete. »Na also, das rückt die Verhältnisse wieder zurecht«, bemerkte Proximus Vajus. »Es ist viel kleiner als die INCOGNITA. Dieser Ring mag uns übermächtig erscheinen, aber er ist nichts weiter als Technik, auch wenn sie der unseren um einige Zeit voraus ist.« »Ein Beiboot. Darnit können wir aber nicht aufwarten.« »Noch nicht, aber warte ab. Es ist alles nur eine Frage der Zeit.« Quintus Commodus hielt den Atem an, als eine Gestalt aus dem Beiboot kletterte und sich den Römern näherte. Sie war allein, aber sie verhielt sich völlig unbefangen. Ein einziger Schuß der 134 vollautomatischen Waffen konnte das fremde Wesen töten, aber offensichtlich machte es sich darüber keine Sorgen. Vielleicht sorgte seine technische Überlegenheit dafür, daß es unverwundbar war. Ohnehin wäre Commodus nie auf die Idee gekommen, es anzugreifen oder den Versuch zu unternehmen, es gefangenzunehmen. Er zweifelte nicht daran, daß sich noch viele andere seiner Art im Inneren des Ringraumers aufhielten. Zudem ging er davon aus, daß die Fremden über verheerende Waffen verfügten, die die gesamte Zenturie, ja ganz Nova Roma in einem Augenblick auslöschen konnten. Der Fremde blieb unmittelbar vor Quintus Commodus stehen. Er war groß und kräftig. Lange braune Haare umrahmten ein kantiges Gesicht. Der Blick aus seinen blauen Augen war offen und ehrlich. Commodus vergaß die Lage um sich herum. Eine Ewigkeit schien m vergehen, in der sich die beiden unterschiedlichen Wesen musterten. So ähnlich mußte sich sein Vorfahr Tertius Commodus vor vierhundert Jahren gefühlt haben. »Du bist... ein Mensch?« brachte Quintus stockend hervor. Ein Römer gar? »Ich bin ein Botschafter aus dem Volk der Worgun«, antwortete der Fremde. »Mein Name ist
Fagot.«
»Du siehst aus wie wir«, warf Proximus Vajus ein. »Sind wir miteinander verwandt?«
»Führt mich in euren Senat«, sagte Fagot. »Dort werdet ihr alles erfahren.«
Commodus preßte die Lippen aufeinander. Der Worgun wußte vom Senat. Also kannte er sich in
der Gesellschaft der Neuen Römer aus. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich seiner. Nein, das
unerwartete Auftauchen des Ringraumers war wirklich kein Zufall.
»Wir werden dich dorthin geleiten«, sagte er - in dem Bewußtsein, daß ihm noch eine Menge
Überraschungen bevorstanden.
135 Sämtliche Senatoren und Erbsenatoren waren im großen Plenar-saal versammelt. Die Ankunft des fremden Raumschiffs hatte sich dank des Fernsehen sekundenschnell in ganz Nova Roma herumgesprochen. Zum Glück waren die Neuen Römer zu diszipliniert, um in Panik zu verfallen. Neugierde war vorherrschend, und außerhalb des Senats bildete sich eine unüberschaubare Menschenmenge, die begierig war auf Informationen aus erster Hand. Bewaffnete Legionäre mußten aufgestellt werden, damit die Menge das Plenum nicht sprengte. »Wir Worgun haben euch Menschen vor langer Zeit von eurer Heimatwelt geholt«, begann Fagot ohne Umschweife. Er stand in der Mitte des Saals und drehte sich mal in diese, mal in jene Richtung. »Wir taten dies nicht ohne Grund.« »Ihr gabt uns eine neue Heimat«, sagte Aurelius Taco, einer der ältesten Senatoren, mit ruhiger Stimme. »Doch wie ich vermute nicht zu unserem Wohl, sondern zu dem euren.« »Wir wollten gewährleisten, daß ihr euch ungestört von den schädlichen Einflüssen eurer ehemaligen Heimatwelt weiterentwickelt. Hier auf dieser abgeschiedenen Welt inmitten einer künstlich erzeugten Gaswolke waren alle Voraussetzungen für eine rasche Weiterentwicklung eures Volks gegeben.« Eine künstliche erschaffene Gaswolke. Nun begriff Commodus, wie mächtig diese Wesen waren. Römische Wissenschaftler hatten lange darüber gerätselt, ob es noch weitere Sonnen wie die ihre geben konnte. Die alten Aufzeichnungen und Überlieferungen hatten immer von einem Sternenhimmel gesprochen, den es hier nicht gab. Daß Terra Nostra inmitten einer Wolke
kosmischer Gase lag, war seit etwa 30 Jahren bekannt. Doch man hatte noch nicht einmal Wege gefunden, um ihre Größe zu erkunden. Und diese Fremden hatten sie künstlich erschaffen! »Allerdings haben wir selbst nicht erwartet, daß ihr so bald den Weltraum erobert.« In Fagots Stimme schwang Anerkennung mit. 136 Der Weltraum, nur um ihn ging es, erkannte Commodus. Er hatte sich nicht geirrt. Den Worgun kam es nur auf diesen einen Punkt an. Was war so wichtig daran? Brauchten die Worgun einen Partner dort oben zwischen den Sternen? Doch wozu? Gab es etwas, das die Römer vollbringen konnten, die Worgun selbst aber nicht? Bei ihrem Entwicklungsstand war das eine Unvorstellbar keit. »Ihr habt uns beobachtet«, sagte er. »Wie anders wärt ihr sonst ständig über den Stand unserer Fortschritte auf dem laufenden gewesen?« Fagot antwortete nicht direkt. Seine nächsten Worte waren ihm ein wenig peinlich, aber Quintus Commodus bezweifelte, daß der Vertreter eines Volks, das ein derartiges Unternehmen gestartet hatte, sich von so etwas wie Peinlichkeit berühren ließ. »Ist es nicht so? Ich vermute, niemand in diesem Senat zweifelt daran, daß ihr uns braucht. Dann aber haben wir ein Recht darauf, die ganze Wahrheit zu erfahren.« Um selbst zu erfahren, ob wir überhaupt willens sind, euch unsere Unterstützung zu gewähren, fügte er in Gedanken hinzu. »Wir benützen Satelliten, getarnt selbstverständlich. Andernfalls hättet ihr sie bei euren ersten planetennahen Beobachtungen entdeckt.« »Versuchskaninchen!« rief jemand. »Wir waren nichts als Versuchskaninchen für euch. Doch wozu?« Tumultartige Szenen brachen im Plenum aus. Die Senatoren schrien wild durcheinander und schimpften auf Fagot und die Worgun. Commodus konnte die Aggressivität beinahe körperlich spüren. Auch er selbst fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Alles, was sie erreicht hatten, war unter den Augen der Worgun geschehen, die man einstmals für Götter gehalten hatte. In Wahrheit waren sie aber nicht mehr als Betrüger, die zum Erreichen ihrer Ziele aus dem Dunkel heraus operierten. Er war aufgebracht über die Maßlosigkeit der Arroganz, mit der ihm und allen anderen Römern entgegengetreten wurde. 137 »Warum wolltet ihr, daß wir uns ungestört entwickeln?« brachten Proximus Vajus Worte ihn in die Realität zurück. Allmählich ebbten die Tumulte ab. Die Senatoren beruhigten sich. Nur vereinzelte abwertende Kommentare wurden noch gerufen. »Weil wir wußten, daß sich eure Entwicklung beschleunigt, wenn wir alle schädlichen Einflüsse von euch nehmen.« »Eine gewagte Theorie«, überlegte Aurelius Taco. »Denn ihr habt auch dafür gesorgt, daß wir von Kriegen und Krisen verschont blieben. Unseren Überlieferungen zufolge brachten Kriege aber stets einen wissenschaftlichen und technologischen Schub für die Menschheit.« »Dies ist eine Seite. Andererseits nahmen wir so viele andere negative Einflüsse von euch, die euch in eurer Entwicklung gehemmt hätten. Deshalb sprechen wir hier nicht von einer Theorie. Euer Volk bietet die exemplarisch gesicherte Bestätigung für unsere Überlegungen.« »Die Worte des Worgun haben etwas für sich«, sagte der Altersweise. »Wären wir nicht auf dieser Welt, wäre dein Traum wahrscheinlich nicht in Erfüllung gegangen, Proximus.« »Das mag sein, aber ich will endlich die Wahrheit erfahren. So wie ich es sehe, beruht unsere ganze Gesellschaft auf einer Lüge.« Hitzige Diskussionen begannen unter den Senatoren, und es gab eine Menge Vorbehalte. Doch nach und nach setzte sich die Erkenntnis über den Wert einer Welt wie Terra Nostra durch, auf der das Leben einen ungestörten Gang gehen konnte. »Wir wissen noch immer nicht, wer die Worgun tatsächlich sind«, hakte der Wissenschaftler nach. »Noch immer glaube ich, daß Fagot uns ein Schauspiel bietet.« »Du hast Recht, und ich will dir deine Bedenken nehmen.« Auf einmal begann sich der Worgun zu verändern. Entsetzte Schreie ertönten, als seine menschliche Gestalt ihre Festigkeit verlor und gemächlich zerfloß. Was Fagot gewesen war, wurde zu einer grauen Masse, die eine Reihe von Tentakeln aus 138 bildete, mit denen sie durch die Luft wischte. Dann floß sie aus ihrer Kleidung heraus, die achtlos zu Boden fiel. Ein kompakter Klumpen bildete sich, der sagte: »Ihr braucht keine Angst zu ha
ben, denn ich bin es noch immer. Begeht nicht den Fehler, euch von Äußerlichkeiten
beeindrucken zu lassen, so fremd sie euch auch erscheinen mögen.«
Die amorphe Masse behielt ihre Gestalt bei, bis sich nach wenigen Minuten die Aufregung legte.
Die Senatoren erkannten, daß ihnen keine Gefahr drohte, auch wenn sie immer noch nicht genau
begriffen, was vor ihren Augen geschah. Dann setzte eine neue Entwicklung ein, umgekehrt zu
dem, was Minuten zuvor passiert war. Allmählich formte sich wieder der Körper des Worgun, bis
Fagot wieder so inmitten der römischen Senatoren stand, wie sie ihn kennengelernt hatten.
»Du kannst deine Gestalt verändern«, ergriff Proximus Vajus als erster beeindruckt wieder das
Wort. »Eine interessante Fähigkeit, aber nicht zwangsläufig eine gefährliche.«
»Was ihr gesehen habt, war meine eigentliche Erscheinungsform. Alle Worgun besitzen sie.
Meinen scheinbar menschlichen Körper habe ich nur angenommen, um die Kontaktaufnahme zu
euch zu erleichtern. Wäre ich euch gleich in meiner natürlichen Form erschienen, hättet ihr mich
kaum als Freund angesehen.«
»Eine weise Überlegung«, sagte Aurelius Taco. »Doch sie erklärt noch immer nicht den Grund
deiner Anwesenheit.«
Alle Augenpaare waren erwartungsvoll auf Fagot gerichtet.
»Wir brauchen eure Hilfe.«
Ein Raunen ging durchs Plenum, denn mit dieser Eröffnung hatte niemand gerechnet.
»Die Worgun stehen seit einiger Zeit mit einer Rasse im Krieg, die sich die Zyzzkt nennt«, fuhr
Fagot fort. »Sie sind ein mächtiges Volk, und wir suchen Verbündete im Kampf gegen sie. Ver
bündete und Freunde. Wir wissen, daß ihr begabte Krieger seid, und wir versprechen uns
wertvolle Impulse durch euren Beistand.«
»Ihr erwartet, daß wir an Bord eurer Raumschiffe gehen und für
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euch kämpfen?«
»Wir zwingen niemanden, sondern suchen nur Freiwillige. Im Gegenzug gewähren wir euch
Einblick in unser Wissen. Wir bieten eurer Akademie Informationen über unsere Technik, die für
euch einen enormen Technologieschub bedeuten würden.«
Wieder setzten spontane Diskussionen ein, und diesmal dauerten sie Stunden.
Doch eines war Quintus Commodus klar. Das Angebot, das die Worgun den Römern
unterbreiteten, ließ sich nur schwerlich ausschlagen.
In der Folgezeit wurde der Pakt besiegelt, und Verträge wurden geschlossen. Wenn sich auch
vereinzelte Gegenstimmen unter der Bevölkerung von Terra Nostra hielten, standen doch die
meisten Römer hinter dem neuen Bündnis, weil sie sich dadurch zahlreiche technische und
wissenschaftliche Innovationen versprachen sowie einen weiteren Aufschwung der Wirtschaft.
Zudem hatten sie nicht vergessen, daß sie einst durch den Weltraum gekommen waren, um Terra
Nostra zu besiedeln. Obwohl sie sich auf ihrer neuen Heimatwelt wohlfühlten und keinen Drang
verspürten, nach Terra zurückzukehren, wollten sie doch wieder hinauf ins All. Trotz ihrer ersten
Achtungserfolge hatte sie dabei noch einen weiten Weg vor sich, der mit Hilfe der Worgun um
ein immenses Stück abgekürzt werden konnte.
So kam es, daß Jahr für Jahr mehrere tausend sorgfältig ausgewählte Freiwillige an Bord der
Ringraumer gingen und in den Dienst der Worgun traten.
Auch Quintus Commodus juckte es in den Fingern, sich freiwillig zu melden, doch er sah seinen
Platz auf Terra Nostra. Es war eine Zeit der Umwälzungen mit noch unabsehbaren politischen
Veränderungen, in denen das Reich ihn brauchte. Er brachte es nicht übers Herz, es im Stich zu
lassen, obwohl ihm klar war, daß es auch ohne ihn nicht untergehen würde.
Diene Nova Roma, so lautete sein Wahlspruch, und dieser Devise konnte er am besten vor Ort
nachkommen. Schließlich war nicht sicher, ob einer der Freiwilligen jemals noch einen Fuß auf
Terra Nostra setzen würde.
Schon früh nahm ihn der Wissenschaftler Proximus Vajus vertraulich beiseite. »Welchen deiner
Senatoren vertraust du bedingungslos?«
»Den meisten.« Quintus Commodus zog besorgt die Stirn in Falten. »Du erweckst in mir den
Eindruck, daß wir uns in Schwierigkeiten befinden.«
Bedächtig faltete Vajus die Hände zusammen. Er kniff die Augen zusammen und schaute zum
Himmel, an dem eben eine Flotte der blauen Ringraumer auftauchte.
»Wir befinden uns in keinen Schwierigkeiten, bisher jedenfalls nicht. Ich möchte gern, daß sich
dieser Zustand nicht ändert. Darum dürfen wir uns nicht blind auf die Worte der Worgun ver
lassen, sondern müssen vorsichtig taktieren.« "»Du mißtraust unseren Verbündeten? Das erstaunt
mich, schließlich warst du einer der Wortführer für eine Allianz mit ihnen.«
Vajus winkte ab. »An meiner Einstellung hat sich nichts geändert. Aber ich bezweifle, daß es klug ist, den Worgun unsere besten Männer anzuvertrauen. Wir brauchen sie hier, und auf Dauer können wir uns keinen solchen Aderlaß leisten.« »Wir haben einen Vertrag, der uns entsprechende Gegenleistungen zusichert.« »Gegenleistungen, ja. Aber du glaubst nicht wirklich, daß die Worgun uns ihre fortschrittlichste Technik überlassen? Natürlich hilft uns enorm weiter, was sie uns geben, aber den Großteil ihres ^gehäuften Wissens behalten sie für sich.« »Ich verstehe, was du meinst.« Auch Quintus Commodus hatte °ereits über dieses Dilemma nachgedacht, doch er war ein Verfechter von Recht und Ordnung. Verträge waren für ihn nicht nur 141 das Papier wert, auf dem sie standen. »Wenn ich mich nicht irre willst du mir einen Vorschlag unterbreiten.« »Das will ich in der Tat. Nur müssen wir sicher sein, daß alle Senatoren auf unserer Seite stehen. Es darf keine undichten Stellen geben. Wenn gewisse Informationen zu den Worgun durchsickern, wirft das kein gutes Licht auf unsere Zuverlässigkeit und Bündnistreue.« »Ich werde nichts tun, was den Verträgen zuwider spricht.« »Das erwarte ich auch nicht. Ich bitte dich nur um eins: Laß die Akademie die Auswahl der Freiwilligen treffen, die an Bord der Ringschiffe gehen. Wir werden dafür sorgen, daß niemals die besten eines Jahrgangs gehen. Ihre Gene sollen nicht im Krieg verlorengehen. Dazu sind die jungen Männer zu schade. Wir brauchen sie hier, hier auf Terra Nostra, hier in Nova Roma und in den anderen Städten.« Quintus Commodus schaute Proximus Vajus lange an. Schließlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und er legte einen Arm um die Schultern des Gelehrten. »Es soll sein, wie du sagst. Und mach dir keine Sorgen um die anderen Senatoren. Sie werden auf unserer Seite stehen.« Der Austausch mit den Worgun begann, die die Römer immer wieder mit neuen technischen Erläuterungen beeindruckten, die wiederum deren Entwicklung beschleunigten. Da die Worgun befürchteten, daß die Zyzzkt auf die Gaswolke aufmerksam werden könnten, begannen sie schon bald mit der Installation eines gigantischen Sicherheitssystems, das dem Insektenvolk den Einflug in die Dunkelwolke unmöglich machen sollte. Dieses Feld sorgte dafür, daß das vegetative Nervensystem der Zyzzkt und anderer Völker irreparabel beschädigt wurde und binnen kurzer Zeit der Tod eintrat. Natürlich war das Feld so konzipiert, daß die Menschen von seinen Auswirkungen verschont blieben. Etwa vor tausend Jahren nahm der Krieg eine dramatische Wendung. Die Worgun erlitten gewaltige Niederlagen gegen ihre Gegner. Ihre Ringraumer wurden zerstört, viele verschwanden. Vermutlich fielen sie den Zyzzkt in die Klauen. Mehr denn je versahen auch Römer ihren Dienst an Bord der Ringraumer, und unzählige von ihnen verloren ihr Leben. Doch der Bund zwischen Worgun und Römern bestand noch immer. Die Zyzzkt gewannen mehr und mehr die Oberhand in dem großen Krieg. Längst hatten sie von Gardas erfahren. Sie wußten, daß dort eine Keimzelle zur Unterstützung der Worgun existierte, und sie beschlossen, sie zu vernichten. Also zogen sie zahlreiche Verbände rings um die Dunkelwolke zusammen und starteten einen Großangriff. Zu dieser Zeit waren die Worgun schon nicht mehr in der Lage, ihnen Verteidiger in entsprechender Zahl entgegenzuschicken. Doch das war auch nicht nötig, schließlich hatten sie für einen solchen Fall vorgesorgt. Aufgrund ihrer militärischen Präsenz um Gardas rechneten die Zyzzkt mit einem schnellen und umfassenden Sieg, doch sie wurden eines besseren belehrt. Das von den Worgun installierte Sicherheitsfeld zum Schutz von Gardas war im Laufe der Jahre immer weiter verbessert worden. Die Systeme erwiesen sich als effektiv und fügten den Zyzzkt eine verheerende Niederlage bei. Das Millionenmassaker von Gardas. Unter diesem Namen ging der gescheiterte Großangriff in die römische Geschichte ein. Den Zyzzkt mit ihren verbliebenen Einheiten blieb nur der Rückzug übrig, während Terra Nostra die Offensive unbeschadet überstand. Die Zyzzkt versuchten nie wieder, das Problem Gardas aus der Welt zu schaffen. Das Sicherheitsfeld funktionierte nur unter den exotischen Umweltbedingungen der künstlich erschaffenen Gaswolke. Im normalen Weltraum Oms konnte es nicht installiert werden. Solange die Zyzzkt Gardas mieden, waren sie nicht in Gefahr. Fürderhin konzentrierten sie ihre Kräfte auf ihren Erzfeind, die Worgun. 143 Kurz darauf begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Römer. Erstmals traten zwei Präsidenten an die Spitze der Akademie: Sobrius Laetus und Marius Gurges Nauta. Mit ihnen gab
es einen weiteren Aufschwung für das Reich. Denn ihnen gelang, was keiner ihrer Vorgänger geschafft hatte. Sie machten den Wor-gun klar, daß sie ohne die Unterstützung der Römer verloren waren. In zähen Verhandlungen mit den Worgun erstritten sie die Datenbanken mit dem gespeicherten Wissen ihrer Verbündeten. Endlich fühlten die Römer sich nicht länger abgespeist. Nun stand ihnen wirklich sämtliches Wissen der Worgun uneingeschränkt zur Verfügung, und mit ihm deren Möglichkeiten. Das Volk bejubelte Laetus und Nauta, die zum Dank zu Erbpräsidenten der Akademie ernannt wurden. Wenn auch nicht alle Senatoren mit dieser Entwicklung einverstanden waren, zeigte sich später doch, daß dieser Schritt seine Berechtigung hatte. Denn Laetus' und Nautas Söhne führten die Ämter ihrer Väter mit der gleichen Hingabe und dem gleichen Erfolg fort, und das hatte sich bis heute nicht geändert. Längst galten die Familien der beiden Begründer der Neuzeit Terra Nostras als legendär und geheimnisumwittert. Doch es gab auch schlechte Nachrichten. Kurz nach dem Amtsantritt von Sobrius Laetus und Marius Gurges Nauta erlitten die Worgun eine vernichtende Niederlage gegen die Zyzzkt. Der Kontakt der Römer zum Reich der Worgun brach ab, und man mußte davon ausgehen, daß es vernichtet worden war. Dies war ein weiterer entscheidender Einschnitt in die Geschichte der Römer. Von nun an waren sie auf sich alleingestellt. Zum Glück hatten sie quasi im letzten Augenblick Zugriff auf die Spei cherbänke der Worgun erlangt. Mit deren gewaltigem technischem Wissen und dank ihrer eigenen fähigen Köpfe, die aus der Akademie hervorgingen, widmeten sie sich der Weiterentwicklung der Ringraumer. Sie bauten eine eigene Flotte auf und unternahmen gelegentliche Erkundungsvorstöße nach Om. Ihre Schiffe, die den runden Rumpfquerschnitt der traditionellen Bauweise gegen ein 144 gleichmäßiges Ovoid getauscht hatten, waren den herkömmlichen Ringraumern der Worgun in sämtlichen Bereichen überlegen. Bei all ihren Expeditionen mieden die Römer klugerweise jede Konfrontation mit den Zyzzkt. Die Insektenwesen ihrerseits hielten sich von Gardas fern. Im Laufe der Zeit schienen sie die Gaswolke und ihre Bedeutung vergessen zu haben, doch niemand glaubte wirklich an diese Möglichkeit. Die Erinnerung an das Millionenmassaker von Gardas mußte tief im kollektiven Bewußtsein des Insektenvolkes verankert sein. Vielleicht hielt dieses Trauma sie fern. An dieser Stelle endete die Holodokumentation.
8. Er schlug auf dem harten Pflaster auf und war sofort tot. Er -Flugsicherheitschef Hank Calahan.
Ein Kerl von einem Baum, doch auch Bäume waren nicht unsterblich.
Bert Stranger kam mit ein paar blauen Flecken und Abschürfungen davon. Kegelroboter Clint
hatte ihm das Leben gerettet.
Die Maschine hatte kurz vor dem Aufschlag ihren Prallfeldgenerator mit Notlaufleistung
aktiviert. Das auf maximale Ausdehnung ausgefahrene Prallfeld hatte den Sturz wie ein
Sprungkissen gedämpft, und die hydraulischen Arme hatten Berts Körper zusätzlich abgefedert.
Der Sachschaden hielt sich in Grenzen. Clints Prallfeldgenerator brannte bei dieser Aktion durch,
so daß er jetzt unbeweglich auf dem Pflaster stand. Bert befreite sich aus seinen Greifhänden und
kletterte von ihm herunter.
Wie durch ein Wunder war kein Passant verletzt worden. Mehrere Männer, Frauen und Kinder
blieben stehen und schauten ihn fragend an. Vermutlich hielten sie das ganze für irgendeine ver
rückte Werbeaktion oder eine sozialkritische Performance.
»Wo kommst du denn her?« fragte ein kleines Mädchen den Reporter, der seine Jacke über
Calahans Überresten ausbreitete.
Stranger deutete in die Höhe. »Von ganz oben.«
»Bist du ein Engel?« wollte das Kind wissen.
Er lächelte. »Nein, aber es war gerade ein Engel ganz nah bei mir - mein Schutzengel.«
Der von Clint herbeigefunkte Serviceroboter seiner Leasingfirma traf fast zeitgleich mit der
Polizei ein.
Während Stranger direkt vor Ort vernommen wurde, tauschte die Reparaturmaschine Clints
durchgebranntes Prallfeldmodul aus. Der gepflasterte Vorplatz war inzwischen abgesperrt
worden.
146 Eine Abgleichung von Berts Personalien mit den Daten aus dem Polizeisuprasensor ergab, daß die französische Polizei den Journalisten zwecks Vernehmung und Identifizierung eines Toten zu kontaktieren wünschte. Stranger versprach den Beamten, sich so bald wie möglich mit der Sürete in Verbindung zu setzen. Aufgrund seiner Schilderung der aktuellen Ereignisse wurde das Büro des Sicherheitschefs durchsucht, in seinem Beisein. Wichtigster Fund: Ein Sensorium plus die dazugehörigen Suchtchips. »Wie's scheint, führen Sie kein langweiliges Leben, Mister Stranger«, bemerkte einer der Polizeibeamten. »Das hat mein Chef neulich auch gesagt«, erwiderte der Sensationsreporter. »Könnten Sie mir Polizeischutz bis in die Redaktion gewähren? Wer weiß, was mir sonst unterwegs noch alles zu stößt.« Eigentlich hatte er mit einer Veröffentlichung der Chip-Story warten wollen, bis er die Hintermänner enttarnt hatte, aber nun wurde ihm die Sache langsam zu heiß. Wenn er nicht umgehend handelte, würde man ihn außer Gefecht setzen, noch bevor sein Bericht auf Sendung ging. Im übrigen wurde Sam Patterson immer ungeduldiger; er wollte die zurückgehaltenen Informationen endlich aller Welt preisgeben - als erster, bevor Skittleman ihm zuvorkam. Noch eine Sicherheitsinstitution profitierte vom weltumspannenden Informationsnetz: die von Bernd Eylers geleitete Galaktische Sicherheitsorganisation, kurz GSO. Dort war man immer auf dem Sprung, was die Sicherheitsbelange des terranischen Territoriums anging. Selbst auf fremden Planeten agierte die GSO, wenn es vonnöten war. Natürlich waren auch Eylers und seine Leute inzwischen auf das Sensorium aufmerksam geworden. Beinahe zwangsläufig waren sie dabei auf den eifrig recherchierenden Bert Stranger gestoßen. Als Bert in Polizeibegleitung den A-Gravschacht verließ und wieder auf den Vorplatz hinaustrat, stellte sich ihm ein drahtiger, sportlich wirkender Mann entgegen. Der Endzwanziger trug eine 147 dunkle Jacke, einen Dreitagebart und - trotz des trüben Wetters -eine Sonnenbrille. »Fred Cooper«, stellte er sich vor und zückte seinen GSO-Aus-weis. »Ich muß Sie bitten, mit mir zu kommen, Mister Stranger. Eylers hat eine Menge Fragen an Sie.« »Alles schön der Reihe nach«, entgegnete der Journalist. »Eben habe ich die Fragen der örtlichen Polizei beantwortet, nunmehr werde ich mich denen meines Chefredakteurs stellen, danach bin ich gern bereit, die der GSO zu beantworten, und morgen hänge ich eine abschließende Fragestunde bei den französischen Behörden dran.« »Abgelehnt«, erwiderte Cooper. »Sie kommen jetzt sofort mit mir. Eylers wird entscheiden, was veröffentlicht werden darf und welche Auskünfte Sie wem geben.« »Richten Sie Ihrem Chef schöne Grüße aus, und sagen Sie ihm, daß ich ihn am späten Abend in seinem Büro aufsuche - nachdem mein Bericht ausgestrahlt wurde.« Der Agent ergriff den störrischen Reporter ruppig am Arm. »Machen Sie keine Schwierigkeiten, und kommen Sie mit!« An die Polizisten gewandt fügte er hinzu: »Daß Sie über den heutigen Vorfall zu schweigen haben, meine Herren, muß ich wohl nicht extra betonen.« Die Beamten widersprachen nicht und griffen nicht ein. Für sie war die GSO so etwas wie eine übergeordnete Behörde. Bert Stranger riß sich ärgerlich los. Auch einem dickfelligen Menschen wie ihm platzte mal der Kragen. »Ich lasse mich nicht länger herumschubsen, kapiert? In Marseiile wurde auf mich geschossen, in Avignon wollte man mich verprügeln, im anatolischen Hochland hätte man mich am liebsten bei lebendigem Leib in meine Einzelteile zerschnitten, und eben hat man versucht, mich zu Tode zu stürzen! Und zu allem Überfluß kommen jetzt auch noch Sie daher, Fred Cooper, und führen sich auf wie ein Kopfgeldjäger, der gerade einen steckbrieflich gesuchten Verbrecher dingfest macht! Mir langt's!« 148 »Offensichtlich muß ich Sie erst einmal ruhigstellen«, bemerkte Cooper ungerührt und zog seinen
Paraschocker. »Keine Sorge, ich stelle ihn auf die niedrigste Betäubungsstufe ein...«
Plötzlich spürte er kühles Metall in seinem Nacken.
»Meine Waffe steht im mittleren Paralysebereich«, sagte eine Computerstimme. »Das werden Sie
schon verkraften, Sir, schließlich sind Sie jung und gesund.«
»Sagen Sie Ihrem Wachroboter, er soll die Waffe herunternehmen« , wies Cooper den Reporter
an.
»Clint paßt nur auf, daß meine Bürgerrechte nicht mißachtet werden«, erwiderte Stranger
grinsend. »Sie haben kein Recht, mich gegen meinen ausdrücklichen Willen in Ihre Zentrale zu verschleppen.« »Das werden Sie mir noch büßen, Stranger«, knurrte der Agent und steckte seine Waffe weg. »Eylers wird es nicht zulassen, daß Ihr Bericht ausgestrahlt wird. Sie behindern dadurch unsere Ermittlungen.« Stranger kümmerte sich nicht weiter um ihn. Clint und er verließen den Platz - ohne den gewünschten Polizeischutz. Mittlerweile hatten sich zahlreiche Gaffer rund um die Absperrung versammelt. Dennoch mußten sich Bert und sein metallener Begleiter nirgends durchdrängen, man bildete bereitwillig eine Gasse für die beiden. Strangers Schweber parkte ganz in der Nähe. Clint und er stiegen ein. »Danke für die Lebensrettung«, sagte Bert, obwohl ihm bewußt war, daß die tumbe Maschine nur gemäß ihrer Programmierung gehandelt hatte. »Der Fenstersturz war ein großes Risiko.« »Ich habe das Für und Wider dieser Maßnahme gründlich abgelegt«, antwortete der Kegelroboter. »Deine Überlebenschance stand fünfzig zu fünfzig. Es hätte bei dir gelegen, zu entscheiden, ob du das Risiko eingehen willst, aber du warst gerade nicht in der Lage, mir Anweisungen zu erteilen. Darum habe ich gehandelt wie Clint Eastwood in seinen zahlreichen Filmen - alles oder nichts!« Bert Stranger schluckte. Er verdankte sein Leben einem längst 149 verstorbenen Charakterdarsteller, dessen Lieblingsrolle die des harten, unerbittlichen Desperados
gewesen war? Schon des öfteren war er dem Tod von der Schippe gesprungen, aber diesmal hatte
sich sein unsichtbarer Schutzengel selbst übertroffen.
Sam Patterson hatte die Nachricht von Morris' abruptem Ableben noch immer nicht richtig
verdaut.
»Auf der Flucht vor herabfallenden Steinen und Felsbrocken direkt auf einen Abgrund
zugerannt«, murmelte er, während er in Hanks leerem Büro stand. »In gewisser Weise warst du
immer vor irgend etwas auf der Flucht, Hank. Hoffentlich bist du jetzt dort angekommen, wo du
hinwolltest.«
Er brauchte Zeit, den Unfalltod seines Freundes zu verwinden. Leider hatte er diese Zeit nicht,
denn in seinem Beruf wurde er fortwährend mit neuen Schreckensnachrichten konfrontiert.
Manchmal gab es aber auch Gutes zu berichten.
Bert Stranger war Hanks grausiges Ende erspart geblieben. Auch er war in die Tiefe gestürzt,
aber eine höhere Macht (die moderne Technik) hatte ihn in letzter Sekunde gerettet.
»Großartig, einfach großartig!« begeisterte sich Patterson, nachdem er sich Strangers Bericht
angesehen hatte. »Das nenne ich Mediensprengstoff!«
Am meisten faszinierten ihn die Aufnahmen, die Roboter Clint am offenen Bürofenster und vom
anschließenden Sturz angefertigt hatte. Maik Caroon und Sam Patterson waren sich einig: Diese
Szenen mußten noch in den Abendnachrichten auf Sendung. Vor allem die Sturzsequenz, die in
mehreren hauseigenen Magazinen Weiterverwertung finden und viel Geld einbringen würde,
konnte vielfach ausgewertet werden.
Caroon war Strangers Ressortleiter, sozusagen der Prellbock zwischen dem Journalisten und dem
obersten Boß. In letzter Zeit fühlte er sich etwas zurückgesetzt, weil Stranger sich fast nur noch
150
mit Patterson persönlich auseinandersetzte. Seit Sam den aufmüpfigen Journalisten achtkantig
gefeuert und gleich darauf wieder eingestellt hatte, schien die beiden ein ganz besonderes Band
zu verbinden. Deshalb war Maik froh, daß man ihn zu dieser Unterredung hinzugebeten und ihn
um seine Meinung gefragt hatte. Er hatte schon befürchtet, man würde ihn wieder einmal
übergehen.
Nicht jeder teilte Pattersons und Caroons Begeisterung für die brisante Aufzeichnung vom
Beinahe-Todessturz. GSO-Leiter' Bernd Eylers tauchte in der Redaktion auf und drückte lautstark
seine »Freude« über die geplante Ausstrahlung und Strangers Verhalten aus.
»Niemand bedroht ungestraft meine Agenten! Sie haben Ihren Wachroboter auf Cooper gehetzt.
Stranger, dafür könnte ich Sie vor Gericht stellen.«
»Clint hat gemäß seiner Programmierung gehandelt«, klärte Bert ihn auf. »Er sah in Cooper eine
Bedrohung. Zu Recht, immerhin hat mich Ihr Mitarbeiter mit einer Waffe zum Mitkommen
bewegen wollen. Ihre Organisation leistet wichtige Arbeit, Eylers, doch deshalb dürfen sich Ihre
Leute längst nicht alles herausnehmen.«
Caroon stellte sich hinter ihn. »Stranger ist ein freier Journalist, und Terra ist ein freier Staat.
Selbst die GSO hat nicht das Recht, freie Bürger in ihrer freien Berufsausübung zu behindern.« Patterson blies in dasselbe Hörn. »Als unabhängigem Unternehmer steht es mir zu, die Berichte meiner Mitarbeiter wirtschaftlich zu verwerten und der Öffentlichkeit zu präsentieren, das ist schließlich der Sinn dieser Tätigkeit. Im übrigen ist es unsere journalistische Pflicht, die kriminellen Machenschaften von Senso-rium Inc. aufzudecken und die Bevölkerung vor den Suchtchips zu warnen.« Der knapp dreiunddreißigjährige Eylers wirkte zwar manchmal etwas unbeholfen, aber es war ein Fehler, ihn zu unterschätzen. Schon auf der legendären GALAXIS war er Sicherheitschef gewesen, später wurde er Leiter des Sicherheitsschutzes von Cattan. Im Sommer 2052 gründete er dann die Galaktische Sicherheitsorganisation, deren gut ausgebildete Agenten inzwischen weltweit agierten. Eylers hatte seine Mannschaft stets fest im Griff. Dafür genügte ihm eine Hand - anstelle des linken Unterarms trug er eine Prothese. Dieses körperliche Manko hätte er zwar längst beseitigen lassen können - die Medizin war durchaus in der Lage, verlorene Gliedmaßen nachzuzüchten aber er hatte sich mittlerweile so sehr an die Prothese gewöhnt, daß sie zu einem Teil von ihm ge worden war. Im Nahkampf war sie ihm von größtem Nutzen: Es war eine Gaswaffe darin verborgen. Der streitbare GSO-Chef ging gern mal mit dem Kopf durch die Wand. In manchen Situationen war es allerdings besser, bescheidener aufzutreten und zu verhandeln statt zu kämpfen. Dies hier war eine solche Situation, wie er anhand des massiven Gegenwinds, der ihm von drei Seiten entgegenschlug, unschwer erkennen konnte. »Warum tauschen wir nicht unsere Informationen aus und sehen dann weiter?« schlug er vor. »Möglicherweise können Sie Ihren Bericht noch etwas ergänzen. Umgekehrt verfügen Sie vielleicht über Hinweise, die mir nützlich sind.« »Einverstanden«, sagte Sam Patterson. »Machen Sie den Anfang, Bernd.« Wie sich herausstellte, war die GSO ungefähr zur gleichen Zeit wie Stranger auf die üblen Machenschaften rund ums Sensorium aufmerksam geworden. Eylers' Truppe ermittelte vierundzwanzig Stunden am Tag, kam aber ebensowenig weiter wie der Reporter. »Patt«, kommentierte Caroon das Gesprächsergebnis lakonisch. »Und was nun?« »Wir machen weiter«, entschied Eylers. »Und in Zukunft arbeiten wir nicht gegen-, sondern miteinander.« »Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Patterson. »Ich unterrichte Terra-Press laufend über unsere Ermittlungsergebnisse und gewähre Stranger Einblick in sämtliche Unterlagen. Im Gegenzug halten Sie die Berichterstattung noch ein Weilchen 152 zurück, auch wenn's Ihnen noch so sehr unter den Nägeln brennt. Natürlich erwarte ich auch von Ihnen, Sam, daß Sie mich sofort über aktuelle Ergebnisse informieren.« Patterson dachte nur kurz nach und sagte dann: »In Ordnung. Sie kriegen drei Tage, nicht mehr und nicht weniger. Danach geht das komplette Material auf Sendung - und zwar exklusiv bei uns. Sollte Intermedia vorher Wind von der Story bekommen und eigene Recherchen anstellen, gilt diese Vereinbarung nicht mehr.« »Keine Sorge, Sam, meine Leute wurden alle zu größtem Stillschweigen verpflichtet«, entgegnete Eylers, der mit dieser Regelung sichtlich zufrieden war. »Die GSO arbeitet nicht mit einem Medienkonzern zusammen, der einseitig den Spitzenkandidaten der Fortschrittspartei unterstützt, jener Partei, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Ren Dhark politisch zu vernichten. Der Commander ist der gewählte politische Führer der Erde, deshalb bekommt er von der GSO jede Unterstützung, die er braucht.« »Haben Sie schon mal daran gedacht, die Fortschrittspartei und ihre Anhänger näher unter die Lupe zu nehmen?« fragte ihn Stranger. »Schon möglich«, erwiderte Bernd Eylers, und damit hatte sich's. Das war Eylers, wie ihn jeder kannte, wortkarg und verschlossen. Die Verhandlungen mit Terra-Press waren beendet, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sendepause. Selbstverständlich fühlte die GSO der Fortschrittspartei auf den Zahn. Eylers hatte sogar mitbekommen, daß Terence Wallis eigene Ermittlungen betrieb, die Medienpartnerschaft zwischen der Fortschrittspartei und Intermedia betreffend. Aber das ging Patterson, Caroon und Stranger nichts an.
Glen Shockley gehörte zu Eylers' besten und erfahrensten Männern. Der fünfzigjährige Einzelgänger war Vollwaise. Geheiratet hatte er nie, und er pflegte auch keine tiefergehenden
Freundschaften. Shockley war überzeugt, nicht an Altersschwäche zu sterben, sondern bei der Ausübung seines Agentenberufes - ganz überraschend und ganz schnell. Er wollte so unbeschwert wie möglich in den Tod gehen, daher lehnte er jedwede feste menschliche Bindung ab. Allerdings war er niemals brüsk abweisend oder gar verletzend, so daß er allgemein als sympathischer Mensch galt und überaus beliebt war. »Abenteuerlust« stand auf dem Wegweiser seines Lebenspfades. Niemals wich er auch nur einen Schritt von diesem gefahrvollen Weg ab. Seine Erfolgsquote war zufriedenstellend, weil er nie aufgab, bevor er den ihm zugewiesenen Auftrag vollständig erledigt hatte - es sei denn, höhere Gewalt hinderte ihn daran. Bernd Eylers betrachtete Glens verbissene Vorgehensweise manchmal mit Skepsis. In einigen besonders heiklen Situationen war es mitunter angebrachter, zurückzustecken - diese Erfahrung hatte der GSO-Chef schon des öfteren selbst machen müssen. Doch Shockley hörte nicht auf ihn. Er war es gewohnt, auf der Gewinnerseite zu stehen. Ein guter Verlierer zu sein, paßte nicht in sein Lebenskonzept. Bislang hatte Eylers darauf verzichtet, Shockley auf den Senso-rium-Fall anzusetzen. Für einen Agenten seines Kalibers war ihm die Angelegenheit zu harmlos erschienen. Glen wurde für brenzligere Aufträge gebraucht, die sein ganzes Können forderten. Mittlerweile hatte der GSO-Leiter seine Meinung geändert. Seit seiner Unterredung in Pattersons Büro kannte er das komplette Ausmaß der Bedrohung. Unter anderem hatte er erfahren, daß die Bandenkämpfe im Hafen von Marseiile mit den illegalen Sensori-enchips zusammenhingen. »Die normalen Dealer - falls man bei diesem Drecksgeschäft überhaupt von Normalität sprechen kann - heizen den Chiphänd-lem mit aller Brutalität gehörig ein«, hatte Stranger ihm anvertraut. »Marseiile war erst der Anfang. Wenn der Staat nichts gegen die Sensoriumssucht unternimmt, werden immer mehr Drogenkar telle das Gesetz in die eigene Hand nehmen. Andere wiederum werden im Strom mitschwimmen und die Suchtchips in ihr Angebot aufnehmen. Dadurch sind weitere harte Bandenkämpfe sozu sagen vorprogrammiert.« »Offensichtlich verfügen Sie über mindestens einen Informanten, der im Drogenhandel an ganz oberster Stelle sitzt«, hatte Eylers argwöhnisch nachgehakt. »Wer ist es?« Bert Stranger hatte es ihm nicht verraten. Eylers hielt die Zeit für gekommen, Glen Shockley nach Alamo Gordo zu beordern. Hier würde er ihm die Leitung eines Stoßtrupps übertragen, der sowohl die Firmenzentrale von Sensorium Incorporated als auch die angrenzende Fabrikationshalle für Sen-sorien und Chips gründlich durchsuchen und Beweise sicherstellen würde. Sensorium Inc. war eine anonyme Kapitalgesellschaft, deren Geldgeber im Hintergrund blieben. Auf normalem Wege war es bisher weder Eylers noch Stranger gelungen, an die Namen der Gesellschafter heranzukommen, sie wurden gehütet wie das Geheimnis der Jungfrauengeburt. Möglicherweise wurde man in der Geschäftszentrale fündig. Oder es wurde zumindest der Beweis für illegale Machenschaften erbracht, was einen sofortigen Herstellungsstop zur Folge hätte. Zentrale und Fabrik von Sensorium Inc. lagen in Kalifornien, in den San Bernadino Mountains, in der Nähe einer kleinen Ortschaft mit dem originellen Namen Big Bear City. Eylers beschloß, persönlich an der Durchsuchung teilzunehmen und auch Stranger hinzuzuziehen. Beide hatten einen untrüglichen Blick fürs Wesentliche und entdeckten mitunter Hinweise, die andere übersahen.
Glen Shockley wählte absichtlich den späten Abend für seinen Angriff« auf die Zentrale von
Sensorium Inc., weil Firmenbüros
155 zu dieser Zeit üblicherweise unbesetzt waren. Im Gegensatz zu Schichtarbeitern, Polizeibeamten oder Restaurantpersonal konnten es sich Büroangestellte noch leisten, nachmittags pünktlich Feierabend zu machen. Bestenfalls traf man den Pförtner oder die Raumpflegekolonne an (falls derlei profane Tätigkeiten nicht von Robotern erledigt wurden) - oder den Chef der Firma, der mal wieder Überstunden machte. Vor der Zentrale von Sensorium Inc. gab es einen Mitarbeiterparkplatz, der über Nacht schwach beleuchtet wurde. Dort landeten kurz nacheinander sieben GSO-Schweber mit einer jeweils vierköpfigen Besatzung. Geschäftsführer Kelly, der am Computer noch einiges aufzuarbeiten hatte, versuchte vergebens, dem Durchsuchungstrupp den Einlaß ins zweistöckige Firmengebäude zu verweigern. Eylers le
gitimierte sich und machte ihm klar, daß es besser für ihn war, seinen Leuten freiwillig Zutritt zu
allen Räumlichkeiten zu gewähren, andernfalls würde man die Türen gewaltsam aufbrechen.
Kelly befahl seinem Pförtner, einem Vielzweckroboter, der eingreifen wollte, zurück an seinen
Platz zu gehen und die GSO nicht bei der Arbeit zu behindern.
Eylers überließ Shockley die weitere Führung, was dieser mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis
nahm. Der GSO-Chef zog es vor, als diskreter Beobachter weitgehend im Hintergrund zu bleiben.
Die Agenten schwärmten im ganzen Haus aus. Vom Kellergeschoß bis unters Dach wurde alles
gründlich in Augenschein genommen. Nicht einmal die Besenkammem wurden ausgelassen.
Blaß wie Käse eilte Kelly von einem Zimmer zum anderen und mußte hilflos zusehen, wie
Schreibtischschubladen ausgekippt, Kleidungsstücke gefilzt und Daten aus Suprasensoren
abgerufen wurden. Als ihm Eylers in einem der Flure zufällig über den Weg lief, konnte der
Geschäftsführer nicht länger an sich halten.
»Sie stürmen hier unangemeldet herein wie ein Stoßtrupp und stellen alles auf den Kopf!« fuhr
Kelly den GSO-Leiter an. »Su
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chen Sie nach Gold?«
Eylers antwortete ihm nicht.
Die Suche ging unermüdlich weiter. Belastendes Material wurde nicht gefunden. Daraufhin
verlangte Glen Shockley Zutritt zur Fabrikationshalle, die unmittelbar ans Zentralgebäude
grenzte.
»Geht nicht«, behaupte Kelly. »Der Zugang zur Fabrik ist nur mit einer Codekarte zu öffnen,
außerdem wird das Gelände durch Wachroboter geschützt, die ohne das Codewort des Tages
niemanden in die Fabrik lassen.«
»Wo liegt das Problem?« fragte Glen ihn. »Sie begleiten uns, zücken Ihre Karte, verschaffen uns
Zutritt und halten uns die Roboter vom Leib.«
»Und wenn ich mich weigere?« entgegnete Kelly aufmüpfig.
Shockley deutete auf Stranger und seinen Kegelroboter Clint.
»Sollen wir unseren Kampfroboter auf die Wachen loslassen? Hinterher würde in der Fabrik kein
Stein mehr auf dem anderen stehen, glauben Sie mir. Was würden Ihre Gesellschafter dazu sa
gen?«
Kelly zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, ich habe keinen direkten Kontakt zu ihnen. Meine
Anweisungen erhalte ich über Anwälte.«
Stranger glaubte ihm. In der Zentrale war nicht der kleinste Hinweis auf die großen Unbekannten
gefunden worden.
Kelly gab nach und führte die GSO in die Fabrik.
Dort funktionierte alles vollautomatisch. Billigroboter überwachten und bedienten die niederen
Arbeitsmaschinen, und vor einer Computerwand saß ein Kegelroboter zur Überwachung der
Blechmänner.
Bis in den frühen Morgen hinein sahen sich Shockley und die anderen dort gründlich um. Clint
wurde ebenfalls eingesetzt, und auch Stranger und Eylers schreckten nicht vor schmutzigen Fin
gern zurück.
Das Ergebnis war erneut negativ. Hier wurden außer den Geräten nur harmlose Speicherchips für
Eigenaufzeichnungen herge
157 stellt sowie Aufzeichnungen von erlaubten Filmen angefertigt. Wo die verbotenen Chips herkamen, blieb weiterhin im dunkeln. »Und deshalb hat man mich von einem brisanten Fall weggeholt?« erboste sich Shockley auf dem Firmenparkplatz, kurz vor dem Abflug. »Meine altersschwache Großmutter hätte die Durchsuchung erledigen können, so harmlos ging es zu. Ich hatte zumindest erwartet, daß man versuchen würde, uns mit Waffengewalt am Betreten des Geländes zu hindern.«
»Ich auch«, erwiderte Eylers. »Aber man sah keinen Anlaß, uns von hier fernzuhalten, schließlich
gab es nichts Belastendes zu entdecken. Halten Sie sich trotzdem weiterhin bereit, Glen. Sie
werden garantiert noch gebraucht.«
Gegen Mittag rief Stranger über eine abgeschirmte Leitung von seinem Redaktionsbüro aus
Osman Mülyz an. Der Drogenbaron lag im Bett, in der Türkei war es bereits Abend. Auf dem
Bildschirm war Osmans nackter, stark behaarter Oberkörper zu sehen, eingebettet in ein
aufgeschlagenes dickes Kopfkissen.
»Fasse dich kurz, Stranger, mein Lieber«, verlangte er und fügte prahlerisch hinzu: »Ich bin nicht
allein - wir sind zu dritt.« »Sieh an, deine schwangere Freundin liegt neben dir«, konterte Bert. »Ich habe mir heute die Unterlagen meiner Kollegen angesehen, die im Hafen von Marseiile Befragungen zu den DealerKonflikten durchgeführt haben. Wenn man den kursierenden Gerüchten glauben darf, sind zwei Chipdealer spurlos verschwunden. Sie halten sich weder in ihren Wohnungen auf, noch befanden sie sich unter den Toten. Man nimmt an, sie hätten das Weite gesucht und...« »Über die beiden braucht sich niemand mehr den Kopf zu zerbrechen«, unterbrach ihn Mülyz. »Sie taugen nur noch als Wurmfutter. Ich hatte sie für eine Weile zu Gast, und wir haben ein net tes kleines Gespräch geführt. Erst wollten sie überhaupt nicht mit 158 mir reden, aber nachdem ich ein wenig nachgeholfen habe...« Jetzt ließ Stranger ihn nicht ausreden. »Genug, mich interessieren keine Einzelheiten! Haben Sie dir verraten, woher sie die Chips beziehen?» »Nur einer der beiden hatte wirklich interessante Informationen für mich, der andere kannte nur die Mittelsmänner von Mittelsmännern oder so. Ihn habe ich zuerst zu den Göttern geschickt. Seinem Freund versprach ich die Freiheit, würde er sein Wissen mit mir teilen. Daraufhin nannte er mir eine Adresse in Addis Abeba.« »Wie kannst du dir sicher sein, daß er die Wahrheit gesagt hat? Vielleicht hat er aus lauter Angst irgendeine Anschrift erfunden. Hast du das nachgeprüft?« Osman schnaubte unwillig. »Wie komme ich eigentlich dazu, dauernd für dich die Drecksarbeit zu leisten? Ich habe in Marseiile für Ordnung gesorgt und habe eine Kontaktadresse in Äthiopien beschafft - alles weitere liegt bei dir und der GSO. Oder glaubst du, mit der Durchsuchung der Firmenzentrale und der Fabrik wäre dein Teil unserer Zusammenarbeit abgegolten?« Stranger staunte. Wieso wußte Mülyz über die Aktion Bescheid? »Ich hätte euch übrigens gleich sagen können, daß ihr auf diese Weise nichts rauskriegt«, spöttelte sein türkischer Gesprächspartner. »Meine Recherchen in Big Bear City haben ebenfalls nichts ergeben.« Er nannte Stranger die Adresse in Addis Abeba und unterbrach dann die Verbindung. Abessinien oder auch Äthiopien hatte einst zu den ärmsten Ländern der Erde gezählt. Hungersnöte, entstanden durch Dürre und Bürgerkriege, hatten diese Region an den Rand des Abgrunds ge bracht. Noch heute galt sie als Krisenherd, allerdings mühten sich Christen, Mohammedaner und diverse Naturreligionen redlich ab, 159 miteinander auszukommen - was nicht zuletzt dem langsam wachsenden Wohlstand des Landes zugute kam. Vor allem größere Orte wie Addis Abeba und Asmara profitierten davon. In den Außenbezirken jener Städte sowie in der Nähe kleinerer Ortschaften, die sie umgaben, hatte sich Industrie ange siedelt. Produziert wurden Textilien, Nahrungsmittel und Lederwaren. Außerdem wurden Zuckerrohr, Gerste, Hirse und Kaffee angebaut. Letzterer diente in erster Linie dem Export, während die Hirseart Tef seit Jahrtausenden zum traditionellen Hauptnahrungsmittel der Äthiopier zählte. Zum Schutz der uralten Kulturzeugnisse, die teilweise aus dem 11. Jahrhundert stammten, vermied man es nach Möglichkeit, Betriebe direkt in den Städten anzusiedeln. Auch die unscheinbare Industriehalle, die seit kurzem von der GSO beschattet wurde, befand sich in einem Vorort von Addis Abeba. Angeblich wurden dort Lederschuhe hergestellt, doch ei nige verdächtige Aktivitäten weckten das Mißtrauen der Agenten. »Auf den ersten Anschein handelt es sich um eine ganz normale Fabrik«, sagte Bernd Eylers im Rahmen einer morgendlichen Besprechung, die in seinem Büro stattfand. »Frühmorgens kommen ein paar Leutchen zur Arbeit, am späten Nachmittag werden sie von einer Handvoll weiterer Männer und Frauen abgelöst, und spätabends schließt die Fabrik. Die Fenster bleiben den ganzen Tag über geschlossen; von innen wurde ein Sichtschutz angebracht. Des Nachts wird das Gebäude von einem Wachtrupp geschützt. Die bewaffneten Wächter haben eine für Äthiopier ungewöhnlich dunkle Hautfarbe. Bis zum nächsten Morgen patrouillieren sie auf einer weiten, leeren, umzäunten Fläche, die sich rund um das Gebäude erstreckt und von Scheinwerfern ausgeleuchtet wird. - So, und nun sind Sie dran, meine Herren.« Meine Herren - damit waren Bert Stranger und Glen Shockley gemeint, die ihm gegenübersaßen. Glen machte den Anfang. »Für die extrem dunkle Hautfarbe hätte ich eine Erklärung. Die Fabrikbetreiber könnten Massai mit 160 der Bewachung der Firma betraut haben. Bleibt allerdings die Frage: Warum wird eine
gewöhnliche Schuhfabrik überhaupt von Bewaffneten geschützt? Eine einfache Alarmanlage
oder ein Nachtwächter würden völlig ausreichen.«
»Die leere, beleuchtete Freifläche rund ums Gebäude soll wahrscheinlich verhindern, daß sich
jemand heimlich anschleicht«, spann Bert den Faden weiter. »Normalerweise nutzen Fabriken
derartige Flächen zur Lagerung von Paletten, Ersatzteilen und Maschinenschrott.«
Nun war wieder Shockley an der Reihe. »Wieso arbeitet nur eine Handvoll Leutchen in der
Fabrik? Es müßten viel mehr sein. Trotz allmählich steigenden Wohlstands zählt Äthiopien noch
immer zu den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern der Erde. Die Fabriken sind noch nicht
vollautomatisiert, die meiste Arbeit wird mit der Hand erledigt. Das ist anstrengend, hat aber
auch seine Vorteile. Erstens kann handgearbeitete Ware teurer verkauft werden, zweitens muß
man seinen Arbeitsplatz nicht an einen Roboter abtreten.«
»Vermutlich wird dort gar keine Handarbeit geleistet«, meinte Stranger. »Ich kann mir nur
schwer vorstellen, daß die Arbeiter stundenlang im Lampenschein Schuhe nähen, ohne
wenigstens ab und zu ein bißchen frische Luft und Sonnenschein durchs geöffnete Fenster
hereinzulassen. Roboter hingegen sind genügsam, sie brauchen keine Sonnenstrahlen zur
Aufhellung ihres Gemüts. Jede Wette, drinnen ist alles vollautomatisiert, wie in der Sensoriums
fabrik in den San Bemadino Mountains. Die angeblichen Schichtarbeiter sind nichts weiter als
bezahlte Statisten, die gegen ein Handgeld ein paar Stunden in der Kantine Karten spielen und
ansonsten keine neugierigen Fragen stellen. Ich schätze, wir haben den Ort gefunden, an dem die
Suchtchips hergestellt werden.«
»Das sehe ich genauso«, pflichtete Eylers ihm bei. »Ihr Informant hat Sie offenbar nicht
enttäuscht. Stranger. Wie war doch gleich sein Name?«
»Sie geben wohl nie auf, Eylers?« erwiderte Bert. »Wie oft soll
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ich Ihnen eigentlich noch sagen, daß Sie von mir kein Sterbenswort über seine Identität erfahren?
Denken Sie sich doch einfach irgendeinen originellen Namen aus. Wie war's mit Bronco Billy
oder...?«
Der GSO-Leiter hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut, ich werde mich nie mehr
danach erkundigen. Jener Billy scheint auf jeden Fall eine Menge Dreck am Stecken zu haben,
wenn er so sehr die Öffentlichkeit scheut.«
»Wann schlagen wir los?« wechselte Glen Shockley rasch das Thema, bevor sich die beiden
ernsthaft in die Haare gerieten.
»Um Punkt 20 Uhr Ortszeit«, entschied Eylers. »Wir nehmen den Transmitter.«
Shockley blickte auf seinen Zeitmesser. »Der Zeitunterschied zwischen Alamo Gordo und Addis
Abeba beträgt zehn Stunden. Demzufolge müßten wir hier in ungefähr zwei Stunden aufbrechen.
Schade, ausgerechnet heute war ich mit Beate zum Mittagessen verabredet.«
»Beate?« wunderte sich Eylers. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, haben Sie sie schon
vor drei Monaten kennengelernt. Seit wann halten Beziehungen bei Ihnen so lange?«
»Seit es mich bis über beide Ohren erwischt hat«, gab Glen offen zu. »Ich wollte mich nie
binden, aber ich befürchte, diesmal ist es was Ernstes.«
Lange bevor die nahegelegene Kirchturmuhr achtmal schlug, hatten Eylers und seine Männer die
verdächtige Industriehalle von allen Seiten umstellt. Stranger und sein Leasingroboter Clint wa
ren wieder mit dabei. Die Gesamtleitung der Aktion war wie gehabt Shockley übertragen worden.
Zunächst wurde die hell erleuchtete Freifläche sondiert. Büsche, Bäume und Unebenheiten im
umliegenden Gelände boten den GSO-Agenten zwar nur wenige Versteckmöglichkeiten, doch sie
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waren wahre Meister im Tarnen.
Stranger fiel auf, daß die schwarzen Wächter nicht negroid waren, so wie...
»... so wie die Tel«, verständigte er die anderen über Funk. »Man nennt sie deswegen auch
Schwarze Weiße.«
»Was sollten Tel in dieser Gegend verloren haben?« entgegnete Eylers. »Sie müssen sich irren,
Stranger.«
Als Shockley den Zeitpunkt für gekommen hielt, gab er das Signal zum Angriff. Mit speziellen
Strahlenwerkzeugen, die am Gürtel befestigt werden konnten, wurden Öffnungen in den Zaun
geschnitten.
Die Erstürmung des Fabrikgeländes erfolgte nahezu lautlos. Selbst Clint verursachte kaum ein
Geräusch. Stranger hatte ihm befohlen, sich aus den Kämpfen herauszuhalten und statt dessen die
ganze Aktion zu filmen - schließlich benötigte er ständig frisches Material für Terra-Press. Der
Roboter hatte den Befehl akzeptiert, weil sein derzeitiger Besitzer ja von der GSO beschützt
wurde.
Mit auf Betäubung eingestellten Paraschockem wurden die Wachleute von allen Seiten in die
Zange genommen und paralysiert. Stumm brachen sie zusammen und blieben reglos liegen.
Die gesamte Szenerie hatte nahezu etwas Gespenstisches an sich.
Bisher waren erst knapp zwei Minuten vergangen, seit Shockley das Angriffssignal gegeben
hatte. Gemeinsam mit Eylers machte er sich daran, das Tor zum Fabrikgebäude aufzubrechen.
Auch hierfür wurden mitgeführte Spezialwerkzeuge eingesetzt.
Beide Männer zückten ihre Handfeuerwaffen. Der Rest der Truppe plazierte sich im Halbkreis
um das Tor, um jederzeit eingreifen zu können.
Der Zugang zur Fabrik stand offen. Das elektronisch gesicherte Tor hatte sich zwar nur einen
Spalt breit öffnen lassen, aber ein ausgewachsener Mann kam bequem hindurch.
Eylers trat einen Schritt beiseite. Er kannte Shockley gut genug,
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um vorauszusehen, daß der versuchen würde, als erster nach drinnen zu gelangen. Glen war der
typische Draufgänger, immer mußte er die Nase vorn haben. Angst kannte er nicht, schließlich
hatte er nichts zu verlieren außer seinem Leben.
Oder doch?
Glen Shockley dachte an Beate. Er hatte die Verabredung mit ihr abgesagt und als Grund einen
geheimen GSO-Auftrag genannt, ohne nähere Angaben zu machen. Sie hatte ihn beschworen,
sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben.
»Denk an unsere Liebe«, hatte sie ihm zum Abschied zugeflüstert.
Das tat er, und er beschloß, künftig nicht mehr jedes Risiko einzugehen. Ganz gegen seine
Gewohnheit ließ er Eylers den Vortritt. Falls in der Fabrik ein Heckenschütze lauerte, würde der
GSO-Chef wohl oder übel als erster den Kampf gegen ihn aufnehmen müssen.
Bernd Eylers zögerte nicht länger, er trat seitlich durch den Spalt. Noch war er nicht im Inneren
des Gebäudes verschwunden, da durchschnitt ein gleißender Energiestrahl die Luft.
GSO-Agent Glen Shockley verspürte einen brennenden Schmerz in der Brust. Dann spürte er gar
nichts mehr.
Der Mann, der niemals aufgab, war tot.
Auf Eylers, Stranger und die Agenten wurden Waffen gerichtet. Die paralysierten schwarzen
Wächter, die eben noch scheinbar bewußtlos am Boden gelegen hatten, standen wieder auf den
Beinen.
Die Paralysestrahlen hatten ihnen nichts anhaben können, sie hatten sich nur verstellt. Doch das
war nicht länger der Fall. Nun glühten ihre Augen. Bei den Wachleuten handelte es sich weder
um irdische Neger noch um Tel - sondern um Tel-Roboter!
Gnadenlos eröffneten die kampferprobten Maschinen das Feuer auf die Eindringlinge.
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9. Die Stimme des unsichtbaren Erzählers brach ab, und atemlose Stille herrschte. Die Bildkugel wurde so dunkel und stumpf wie zuvor. Ren Dharks Gedanken überschlugen sich. Endlich begriff er, wieso die Menschen von Terra Nostra so viel über die Worgun wußten. Sie waren deren Verbündete und verfügten über ihr ge samtes Wissen. Das war auch eine Erklärung dafür, wie mühelos Laetus und Nauta das Problem mit dem Checkmaster aus der Welt geschafft hatten. Die entsprechenden Daten mußten ebenfalls in der Hinterlassenschaft der Worgun verankert sein. Vielleicht würde sich später Gelegenheit ergeben, ihre Gastgeber um diese Daten zu bitten. »Jetzt wird mir alles klar«, durchbrach Dan Rikers Stimme die beinahe andächtige Stille. Seine Worte waren der Auslöser für das nun einsetzende Stimmengewirr. »Die Römer von Terra Nostra sind unsere Brüder und Schwestern«, konstatierte Amy Stewart. »Es handelt sich tatsächlich um Menschen von der Erde. Oder jedenfalls um deren Nachfahren.« »Haben Sie nie wieder von den Worgun gehört?« fragte Dhark. »So gut wie nicht. Ihre Niederlage war verheerend. Doch wir behalten die Geschichte um sie aufrecht«, antwortete Socrates Laetus. »Bis heute haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, daß sie eines Tages zurückkommen. Ich muß allerdings einschränken, daß diese Hoffnung von Jahr zu Jahr geringer wird.« »Ich wüßte zu gern, was aus ihnen geworden ist.« »Ihre Flotte ist vernichtet worden. Falls es noch versprengte Einheiten gibt, sind die nicht
kampfkräftig genug. Warum sonst hätten sie sich bis heute nicht mehr gemeldet? Schließlich wissen sie, daß wir da sind und auf ihre Rückkehr warten. Wir sind treue Verbündete, das können sie nicht vergessen haben. Nein, so schwer es uns auch fällt, irgendwann werden wir eingestehen müssen, daß sie keine Rolle mehr spielen.« 165 Ren warf Gisol einen unauffälligen Blick zu. Der Worgun schien von dem Holobericht unbeeindruckt, doch er hatte seine vorgetäuschte menschliche Erscheinungsform gut unter Kontrolle. Wie es wirklich in ihm aussah, ließ sich nur schwer abschätzen. »Natürlich existieren in den hinterlassenen Daten auch Berichte über die MASOL«, erklärte Marcus Gurges Nauta. »Deshalb können Sie sich unsere Überraschung vorstellen, als sie plötzlich auftauchte. Sie war die letzte technische Neuentwicklung der Worgun und gilt als Mythos. Keiner von uns hat damit gerechnet, sie jemals mit eigenen Augen zu sehen. Viele bezweifelten sogar, daß sie wirklich gebaut wurde und nicht nur in den Köpfen von Mar-gun und Sola existierte und vielleicht in einer Menge technischer Dateien.« Ren konnte die Faszination verstehen, der die neuen Römer verfallen waren. Für sie war ein Märchen Wirklichkeit geworden. »Dennoch haben Sie die Hoffnung nicht aufgegeben«, grübelte Anja Riker. »Ich finde das bemerkenswert. Wenn jeder seine Träume so hüten würde wie Sie, sähe die Welt wahrscheinlich besser aus.« »Ihre Worte ehren uns, doch stellen Sie uns nicht in ein helleres Licht, als wir es verdienen«, sagte Laetus. »Viele von meinem Volk halten es lediglich für eine Legende, daß die heroischen Superwissenschaftler Margun und Sola wirklich existiert haben. Die Weissagung, daß eines Tages von ihnen eine Botschaft aus der Vergangenheit Terra Nostra erreicht, ist für sie nicht nachzuvollziehen.« »Dennoch ist sie eingetroffen«, bestätigte Dhark. »Die POINT OF ist hier, dank Margun und Sola. Wenn es Ihnen ein Trost ist, kann ich Ihnen versichern, daß ich persönlich immer an diese großen Worgun geglaubt habe.« »Danke, Dominus Dhark. Sie sprechen mir aus der Seele. Ich wünschte, alle aus meinem Volk würden so denken wie Sie.« »Nun, da die POINT OF hier ist, die MASOL, wird ihnen keine andere Wahl mehr bleiben.« Ren wollte den beiden Akademieprä 166 sidenten Mut machen, dabei fühlte er sich bei aller Verblüffung betroffen.
»Was ist mit den Worgun?« rief einer der Studenten dazwischen. »Es gehen Gerüchte, daß sich
einer von ihnen in Ihrer Gesellschaft befindet.«
»Na, wer hat denn da wieder gepetzt?« flüsterte Dan Riker seinem Freund zu. »Die Frage ist, ob
wir ihnen reinen Wein einschenken sollen.«
Ren Dhark schaute Gisol fragend an. »Das sollten wir denjenigen fragen, den es betrifft.«
Laetus, der den Männern am nächsten stand, hatte die Worte vernommen. In seinen Augen blitzte
es verständig auf, aber er sagte nichts.
»Wir haben bisher die Wahrheit gesagt«, überlegte Gisol unverfänglich. »Von mir aus brauchen
wir jetzt nicht mit Geheimniskrämerei anzufangen. Aber diese Entscheidung solltest du treffen,
Ren. Schließlich ist dies deine Expedition, nicht meine.«
Ren mußte nicht lange überlegen. Er teilte Gisols Meinung. Er wollte das gute Verhältnis zu den
Römern, das sich noch im Aufbau befand, nicht gefährden. Er konnte sich vorstellen, was es die
sen Menschen bedeuten mußte, endlich wieder auf einen leibhaftigen Worgun zu treffen. Die
Worte, mit denen sie diese Sehnsucht beschrieben hatten, drückten ihr tief verwurzeltes
Verlangen wahrscheinlich nur unzureichend aus.
Ren deutete ein knappes Nicken an. »Also gut«, sagte er.
Gisol demonstrierte seine Fähigkeit der Gestaltwandlung. Als er zerfloß, ertönten vereinzelte
entsetzte Aufschreie, bis sich die Erkenntnis bei den Römern durchsetzte, was vor ihren Augen
geschah.
»Ihr langes Warten ist beendet«, sagte Gisol, nachdem er sich in einen grauen Klumpen
verwandelt hatte.
Wieder gab es Zwischenrufe, doch diesmal klangen sie entzückt und begeistert.
»Danke, Dominus Dhark«, sagte Laetus. »Sie zeigten uns nicht
167 nur die MASOL, sondern bringen uns einen der Hohen zurück. Gi-sol, was ist aus Ihrem Volk geworden? Warum haben wir bis heute nichts mehr von den Hohen gehört?« Der Worgun floß in seine menschliche Gestalt zurück. Erst dann setzte er zu einer Antwort an.
»Auch ich bin seit langer Zeit auf keinen anderen meines Volkes mehr getroffen. Wie Sie suche auch ich nach meinen Brüdern.« Er schilderte in knappen Worten, was aus den Worgun geworden war, nachdem sie Gardas, die Bastion, erschaffen und die Römer in ihrem Inneren angesiedelt hatten. Minutenlang herrschte lähmendes Schweigen, nachdem Gisol seinen Bericht abgeschlossen hatte. Dann setzten Tumulte unter den Akademikern ein. Am liebsten hätten sie die vernommenen Worte nicht geglaubt, doch da sie von einem leibhaftigen Hohen stammten, gab es keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt. »Auf ihrer Heimatwelt zusammengepfercht«, flüsterte ein Student ergriffen. »Die letzten von ihnen womöglich in die hintersten Winkel des Universums verstreut. Falls außer Gisol überhaupt noch freie Worgun überlebt haben.« Einer der Senatoren drängte sich an Gisols Seite. »Wir können den Frevel der Zyzzkt nicht ungestraft lassen. Sie müssen bestraft werden für das, was sie angerichtet haben. Und wir müssen vor allem verhindern, daß sie sich die Technologie der Worgun noch intensiver aneignen als bisher, daß gar Ingenieure wie Gisol neue Verfahren und Waffen für sie entwickeln, die sie noch gefährlicher machen als bisher schon.« »Was meinen Sie damit?« fragte Ren Dhark. Ihm behagte der Gedanke nicht, daß sich die Römer auf eine Strafexpedition begaben. »Ich werde das Thema im Senat zur Diskussion stellen. Wenn es nach mir ginge, würde ich unverzüglich die stärkste Kampfflotte in Marsch setzen, die die Galaxis jemals gesehen hat.« »Ich glaube nicht, daß Sie über eine solche Flotte verfügen«, warfAmy Stewart ein. »Ganz zu schweigen von Sinn oder Sinnlo 168 sigkeit einer derartigen Aktion.« Das Gesicht des Senators war wie aus Stein gemeißelt. »Sie sollten nicht den Fehler begehen, uns zu unterschätzen. Niemand sollte das tun. Wir verfügen über eine gewaltige, kampfkräftige Flotte.« Ren spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er fragte sich, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatten, den Römern die ganze Wahrheit aufzutischen. Nichts konnte Om weniger gebrauchen, als in einem Meer von Blut zu ertrinken. Doch er hatte noch einen Funken Hoffnung. Der Senator hatte im Konjunktiv gesprochen. Irgend etwas hinderte ihn daran, seine Drohung in die Tat umzusetzen. »Ich höre eine Einschränkung aus ihren Worten«, sagte Ren Dhark gegen seinen Willen. »Sie verfügen über eine wirklich gute Auffassungsgabe, Domi-nus Dhark«, antwortete Socrates Laetus anstelle des Senators. »Ja, es stimmt, wir verfügen über eine mächtige Flotte. Es gibt nur ein Problem. Wir können sie nicht in die Galaxis hinausschicken. Leider sind unsere Ressourcen an Ala-Metall zu ihrem Betrieb höchst beschränkt.« Ren Dhark und Gisol schauten sich vielsagend an. Ala-Metall. Eins der seltensten Schwermetalle des Universums. Ein Bild nahm in Rens Gedanken Gestalt an, das von den Hookers entdeckte Achmed-System. Sein gesamter dritter Asteroiden-gürtel bestand aus Ala-Metall. Oder aus Tofirit, wie die Terraner sagten.
10.
... auf dem großen Oval an der Spitze des Leitstandes war die Darstellung des die CHARR
umgebenden Alls mit seinen Milliarden Sternen verschwunden. Statt dessen drehte sich im
Schirm eine drei Meter große Pyramide, in hellem Rot glühend.
»Was ist das?« Frederic Huxley sah von Skett zu Lern F oraker.
»Das ist...«, begann Foraker, aber Skett hieß ihn mit einer Handbewegung schweigen und sagte
statt seiner: »Das ist die Kl der Nova-Station.«
FALSCH! dröhnte die künstliche Stimme, von Vokodern verstärkt. ICH BIN ICH, DER
VOLLSTRECKER!
»Mein Gott!« stieß Sybilla Bontempi hervor. »Eine größenwahnsinnig gewordene Künstliche
Intelligenz.. Ich sehe Probleme auf uns zukommen.«
»Wie bist du an Bord gekommen?« fragte Skett. »Ich habe dich doch mitsamt der Station in der
Sonne verglühen sehen.«
MICH? NEIN!
»Natürlich nicht!« Der Kobaltblaue wirkte wie elektrisiert, als ihn die Erkenntnis traf wie eine
Wehe.
ICH SEHE, DU VERSTEHST. ICH HABE DICH GLEICH DURCHSCHAUT, ALS DU
BEGONNEN HAST, MEINEN HAUPTDATENSPEICHER ZU KOPIEREN UND AUF DEINEN RECHNER ZU ÜBERTRAGEN. ARMER WURM. GLAUBST DU WIRKLICH, DU HÄTTEST ES VOR MIR VERBERGEN KÖNNEN? DU WOLLTEST MIR NICHT HELFEN. DU WOLLTEST NUR DIE DATEN DES NOVA-GENERATORS. OHNE DASS DU ES BEMERKT HAST, HABE ICH DAFÜR GESORGT, DASS EINE KOPIE MEINES BEWUSSTSEINS MIT ÜBERTRAGEN WURDE. JETZT IST DIESE STATION IN MEINER GEWALT... Und wie um den Beweis für diese Feststellung anzutreten, erloschen alle Lichter an Bord der CHARR. ... Jetzt ist diese Station in meiner Gewalt! Noch immer hallte die künstlich modulierte Stimme der Kl in Huxley nach, während er sich bemühte, seiner Überraschung Herr zu werden, nachdem die Beleuchtung der Zentrale zu flackern begonnen hatte, um dann zu verlöschen. Dämmerlicht breitete sich seit jenem Moment, der erst Minuten zurücklag, in der Leitzentrale der CHARR aus. Doch nicht nur dort: Die künstliche Intelligenz aus der untergegangenen NovaStation innerhalb der Sonne Geret hatte im ganzen Fünfhundert-meter-Ellipsenraumer die Lichter verlöschen lassen, wie die allenthalben sich lautstark bemerkbar machende Konfusion aus den of fenen Phasen belegte. Huxley war kein Übermensch, aber er besaß in Situationen wie dieser etwas, dessen er sich stets sicher sein konnte: seinen eisernen Willen. Dieses Instrument hatte ihn noch niemals im Stich ge lassen. Und so hatte er auch als erster die ungewöhnliche Situation verarbeitet. Er war einen Moment lang versucht, zu lachen. Dennoch fühlte er sich unbehaglich. Die Situation war nicht zum Lachen angetan, dessen war er sich bewußt. Trotzdem wartete er zunächst in relativer Ruhe auf das, was gleich geschehen würde. Sicher, er hätte sich auch im Dunkeln zurechtgefunden, da ihm inzwischen das Innere der CHARR vertraut war. Aber es war gar nicht nötig, denn nur Sekunden später schaltete sich die batteriegespeiste Notbeleuchtung ein, deren Energieversorgung nicht am Hauptstrang hing. Und wie erwartet, sah Huxley auf der Konsole vor ihm einige Sensorpunkte blinkten, die nach und nach mehr wurden. Viele pulsierten im beruhigenden Grün, wenige nur in warnendem Rot. Die noch aktiven Schirme verstärkten automatisch ihre Lumineszenz und erhellten zusätzlich die Szenerie mit ihrem bläulichen Schein. Außerdem drehte sich im großen Oval der Allsichtsphäre an der Spitze des Leitstandes die drei Meter große Pyramide der Kl in ihrem hellen Rot. Zum Schluß hatte man den Eindruck, sich 171 in einer düster illuminierten Höhle aufzuhalten.
»Keine sehr überzeugende Demonstration von Macht«, spottete Captain Bontempi gedehnt und
beendete damit das allgemeine, angespannte Schweigen. Die Anthropologin und Fremdvölkerex
pertin sprach nicht nur Huxley aus der Seele.
In der Tat, was immer die künstliche Intelligenz aus der Sonnenstation, die sich selbst als
»Vollstrecker« titulierte, mit dieser Demonstration bezweckte, es hatte wohl nicht den
gewünschten Effekt.
Ob sie sich dessen bewußt war?
Offenbar war sie es.
Plötzlich wurde es wieder hell. Die Beleuchtung in der Leitzentrale sprang erneut an. Flackernd
zunächst, immer wieder mal aussetzend, aber dann stabilisierte sie sich.
»Na endlich«, brummte Perry. »Wurde auch Zeit.« Er wandte sich seiner Konsole zu und begann
sofort mit einer ausgedehnten Systemabfrage der CHARR.
Auch die Allsichtsphäre zeigte wieder die segmentierte Rundumdarstellung des umgebenden
Weltalls. Die Pyramide, die die Kl symbolisierte, war auf etwa ein Drittel ihrer ursprünglichen
Größe geschrumpft, blieb jedoch präsent; sie hatte sich nach rechts oben verzogen und drehte
sich dort, auf der Spitze stehend, um ihre Achse.
»Sehr vernünftig«, sagte Huxley mechanisch. »Hoffen wir, daß es so bleibt.«
Antwort kam keine.
Noch nicht.
Hielt es die Künstliche Intelligenz für unter ihrer Würde, mit Nogk-Sklaven zu kommunizieren?
Als solche hatte nämlich Skett im Inneren der Sonnenstation seinen humanoiden Begleiter Lern
Foraker bezeichnet.
Huxley drehte den Kopf.
Sein Blick fiel auf Tantal, der sich mit den anderen blauhäutigen Nögk und einigen Meegs am
linken Ende der weit geschwungenen
172
Hauptkonsole aufhielt. Die Spezies der Nogk war eine Mischung aus Insekt und Reptil, knapp zweieinhalb Meter groß, mit langen Sprungbeinen und kräftigen Armen mit vierfingrigen Händen. Nogk konnten sich mit einer Schnelligkeit bewegen, die an die frühen Raubechsen der Erdgeschichte gemahnte, die Raptoren. Ihre lederartige, braune Haut war, so sie nicht von Kleidung bedeckt wurde, überwiegend gelblich gepunktet. Das absolut Fremdartige an ihnen war der mächtige, libellenartige Kopf mit den bedrohlich wirkenden Mandibeln, den großen, seitlich am Kopf stehenden schwarzen Facettenaugen und den zwei langen Fühlerpaaren dazwischen. Tantal - und die, die ihm gleich waren - wich allerdings vom Ideal der Nogk erheblich ab. Der Kobaltblaue war der erste seiner Art gewesen, der sich in seinem Äußeren grundlegend von den alten Nogk abhob. Er war im Oktober 2057 auf dem längst verlassenen Planeten Nogk II aus einer vergessenen Puppe geschlüpft, in der er unter den Strahlen der mutierten Sonne Tantal herangereift war. Ausgestattet mit dem gesamten Rassegedächtnis seines Volkes, wurde er zum Primus inter pares einer Reihe weiterer Nogk-Mutanten. Er und seine nur wenig später schlüpfenden Artgenossen waren im Gegensatz zu den normalen Nogk nur noch zirka zwei Meter groß und besaßen eine kobaltblaue Haut. Außerdem waren sie resistent gegen die Strahlung des Exspects, was jetzt allerdings an Bedeutung verloren hatte, nachdem diese Barriere ver schwunden war. Tantal war ein unbequemer Nogk und sich seiner herausragenden Stellung durchaus bewußt, was ihn immer wieder in Opposition zu seinem Eivater Charaua und häufig genug auch zu Frederic Huxley brachte. Mit einem Mal verspürte Huxley ein leichtes Prickeln, als streiche ihm jemand sanft über die Schläfen. Tantal? Nein! Es mußte zwischen ihm und einem anderen Kobaltblauen - An 173
koor lautete sein Name, erinnerte sich Huxley beiläufig - ein Gedankenaustausch stattfinden; die
Fühlerpaare der beiden zitterten angeregt.
Oder kommunizierten sie etwa mit dem Vollstrecker? Zuzutrauen war es ihnen; schon Skett hatte
Lern Foraker an Bord der Nova-Station über vieles im Unklaren gelassen, was sich zwischen ihm
und dem Steuerungscomputer der riesigen Station abspielte. Vermutlich hatte er ihm sogar mit
voller Absicht nur das unbedingt Nötige mitgeteilt.
Warum sollte es jetzt anders sein?
Nun wäre es für Huxley mit Hilfe seines Implantats ein Leichtes gewesen, sich in die
Unterhaltung der beiden Kobaltblauen einzuklinken. Aber das war etwas, das er nur im äußersten
Notfall tun würde; beispielsweise, wenn es um Leben oder Tod ging.
Außerdem: Im Moment rangierten solche Überlegungen erst an zweiter oder gar dritter Stelle.
Seine vordringliche Sorge betraf zunächst Schiff und Besatzung.
Er schwang seinen Gliedersessel herum und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Leitzentrale,
ehe der ungebetene Gast aus der unbekannten Vergangenheit des nogkschen Imperiums es sich
vielleicht wieder anders überlegte und etwas noch Gravierenderes anstellte. Wenn er da an die
Versuche der Kl dachte, als diese dabei war, ihre Anwesenheit erstmals zu etablieren, sträubten
sich ihm noch jetzt die Nackenhaare. Schon dieses erste Chaos an Bord der CHARR hatte einen
schwachen Abglanz dessen geboten, wozu die Künstliche Intelligenz wirklich fähig sein würde,
hatte sie sich erst einmal in den Systemen des von Pol zu Pol 500 Meter durchmessenden
Ellipsenraumers zurechtgefunden.
Aber noch hatte sich nichts verändert.
Zumindest nichts offensichtlich Erkennbares.
»Verdammt!« stieß Maxwell gerade hervor und schüttelte seinen großen, kantigen Kopf. »Was
haben wir uns denn da für ein windiges Ei eingefangen?«
Eine rhetorische Frage, dennoch fühlte sich Skett angesprochen.
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»Das war wohl ich«, bekannte der kobaltblaue Nogk, und seine semitelepathischen Impulse
drangen als verbale Äußerungen in verständlichem Angloter aus seinem Translator. Seiner
insektoiden Mimik war nicht zu entnehmen, ob er sich betroffen darüber zeigte oder überhaupt
nicht davon berührt war, der Verursacher einer Situation zu sein, die nun für Schiff und
Besatzung leicht zu einem Desaster werden konnte.
»Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter«, versetzte Huxley knapp und ließ den Blick von
einer Anzeige zur anderen und dann wieder zu der Allsichtsphäre schweifen, um sich ein Urteil
über ihre Lage zu verschaffen. Sein hageres Gesicht wirkte ungerührt, wie meist. Tatsächlich aber
fühlte er sich in seiner Haut nicht besonders wohl. Er hatte schon viele ungewöhnliche Ereignisse gemeistert, aber eine künstliche Intelligenz aus der Vergangenheit des Nogk-Imperiums, die sich in den suprasensorgestütz-ten Systemen der CHARR herumtrieb, war etwas völlig Neues. »Was sollte das?« machte sich der Dritte Offizier Perry bemerkbar. »Was bezweckt diese... diese künstliche Intelligenz damit, sich in den Netzwerken unseres Schiffes herumzutreiben, Kom mandant?« »Vielleicht werden wir es bald wissen«, gab Huxley grimmig zurück, und eine tiefe Falte furchte seine Stirn. Der Leitstand war voll besetzt. In den übrigen Abteilungen und Stationen wurde ebenfalls mit maximaler Belegung gearbeitet. Und in den Waffenstationen des Ellipsenraumers ließen die diensthabenden Wachen kein Auge von den Anzeigen auf ihren Konsolen. Schließlich befand man sich seit geraumer Zeit weit vom heimatlichen System entfernt in unbekannten Regionen des Alls. Und die Furcht der Nogk vor dem Gesichtslosen Feind war nach wie vor latent vorhanden. Also galt es, keinen Moment in der Wachsamkeit nachzulassen. Der Blick des grauhaarigen Colonels fiel auf seinen Ersten Offizier; Lee Prewitt war von der ersten Attacke des unsichtbaren Feindes aus dem Sitz geschleudert worden. Inzwischen hatte er 175 sich wieder aufgerappelt und war an seinen Platz zurückgekehrt. Er rieb sich zwar noch immer die geprellte Schulter, aber sonst schien Huxleys Stellvertreter nicht weiter gehandikapt. Dennoch erkundigte sich der Colonel: »Probleme, Mr. Prewitt?« Lee Prewitt schüttelte abwehrend den Kopf, während er die Anzeigen auf seiner Konsole aufmerksam verfolgte. »Nicht der Rede wert, Skipper«, versicherte er grimmig. »Gut. Bericht.« »Ich habe das Schiff in Alarmstufe Gelb versetzt. Überall an Bord herrscht beträchtliche Aufregung. Die medizinische Station meldet einen erheblichen Andrang. Doktor Berger hat mit seinen Sanitätsmaaten alle Hände voll zu tun, die Blessuren zu versorgen, die sich viele während des Durcheinanders von vorhin zugezogen haben. Die Notsysteme sind angesprungen und in Betrieb. Die Umweltkontrolle ist intakt, Belüftung und Temperatursteuerung arbeiten innerhalb der vorgeschriebenen Parameter. Andererseits stehen uns nicht mehr alle Funktionen unserer Bordverständigung uneingeschränkt zur Verfügung. Verschiedene Bereiche lassen sich nicht mehr über das Bordsystem betätigen, sie scheinen gesperrt zu sein, obwohl sie in Betrieb sind...« Sicher jene, die unser Besucher für seine Zwecke nutzt, dachte Huxley, oder sollte ich besser mißbraucht sagen? »... und der zentrale Suprasensor weist Lücken in den periphe-ren Subsystemen auf. Ein Virus scheint sich in den Speichern breitzumachen.« Huxley nickte; er sah seine Befürchtungen bestätigt. »Ein Virus«, antwortete er, »der wie alle Computerviren mit einem Namen aufwarten kann, wie wir zu unserem Leidwesen inzwischen erfahren mußten. Hmm«, er rieb sich den Nasenrücken, »was ist mit den redundanten Systemen?« Die Hauptfunktionen der zentralen Systeme der CHARR waren durchweg mit mehreren Ersatzsystemen ausgestattet. Wenn irgendein elektronisches Bauteil seinen Geist aufgab, so wurde des 176 sen Funktion so lange emuliert, bis man es austauschte oder ersetzte. »In Betrieb und sollten eigentlich die fehlerhaften Bereiche überbrücken. Aber in diesem... hm«, er runzelte die Brauen, »besonderen Fall scheinen die Hauptfunktionen in ihren Routinen gestört zu sein«, gab Prewitt seiner Besorgnis Ausdruck. »Danke, Mr. Prewitt. Wir behalten bis auf Widerruf Status Gelb bei.« Huxleys sichtbar zur Schau getragene Gelassenheit wirkte auf die Besatzung beruhigend. Sorgenvolle Mienen entspannten sich, und die Leute lehnten sich etwas bequemer in die Gliedersessel zurück. »Aye, Skipper«, erwiderte Prewitt. »Tut mir leid, daß ich mit keinen besseren Nachrichten aufwarten kann.« »Muß Ihnen nicht leid tun, Lee«, wehrte der schlanke, grauhaarige Colonel ab, »diese Fehler sind nicht von uns zu verantworten. Dafür ist jemand anderer zuständig. Jemand, den wir schleunigst aus unserem Schiff entfernen müssen«, setzte er hinzu und wechselte für den letzten Satz in einem Akt berechnenden Wagemuts vom Angloter in das alte Englisch der Ostküstenstaaten, in der Gewißheit, daß die Kl nichts damit anzufangen wußte. »Und noch etwas, Lee. Bereiten Sie die manuelle Kontrolle der Schiffsfunktionen vor.« Dies würde zwar einige Zeit in Anspruch nehmen, aber nur so war gewährleistet, daß man in
eventuell von der Kl gesperrte Teile des Schiffes gelangen konnte.
Prewitt nickte nachdrücklich, er hatte seinen Kommandanten verstanden.
Die künstliche Intelligenz anscheinend nicht.
Jedenfalls kam kein Kommentar von ihr.
War sie etwa noch damit beschäftigt, sich einen Überblick über die Schiffskontrollen zu
verschaffen und ihren Einfluß zu verstärken? Der Colonel befürchtete es, konnte aber im
Augenblick nichts dagegen unternehmen. Erst mußte er sich ein Bild über den Zustand seines
Schiffes verschaffen.
177
»Henroy!« kam sein knapper Befehl.
»Sir?«
Henroy saß als Kopilot vor der Navigationskonsole und ließ die Anzeigen nicht aus den Augen. »Status?« Henroy war ein noch relativ junger Mann mit magerem Gesicht und überraschend leuchtendgrünen Augen. Trotz seiner Schlaksigkeit wirkte er körperlich kraftvoll; er tat sich durch eiserne Nerven und blitzschnelle Reaktionen auf äußere Vorgänge hervor. Und durch die Fähigkeit, seine Leistungen ohne Unterbrechungen und mit der Stetigkeit eines Chronos durchzuhalten. Mit erstaunlicher Ruhe sagte er: »Das Schiff ist nur bedingt betriebsbereit. Die Na-vigations- und Kurskontrollen weisen erhebliche Lücken auf, aber dafür sind die Subroutinen in Ordnung. Dennoch weiß ich nicht, ob es unter diesen Umständen ratsam wäre, Kurs aufzunehmen und das System zu verlassen.« »Tun wir auch nicht, Mr. Henroy - noch nicht.« Huxleys Brauen zuckten. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Offenbar breitete sich »Vollstrecker« immer weiter in den sensiblen Bereichen der Schiffsführung aus. Er wandte sich an seinen Funk- und Ortungsoffizier. »Position, Mr. Perry?« »Unverändert, Kommandant«, antwortete der Dritte Offizier. »Wenn ich den Anzeigen trauen darf, scheinen wir uns noch immer an unserer ursprünglichen Position zwischen Geret III und der Systemsonne zu befinden.« »Scheinen ist ein sehr unspezifischer Ausdruck.« Huxley runzelte die Brauen. »Geht's nicht ein wenig genauer?« »Leider nein, Kommandant«, bedauerte Funkoffizier Perry ohne Gewissensbisse. »Ich bekomme kein eindeutiges Bild auf den Schirm, mit dem ich die Daten meiner Konsole als richtig bestäti gen könnte. Die Fehlfunktionen des Rechners behindern die visuelle Erkennung seit einigen Minuten erheblich.« »Was ist mit der Kommunikation?« 178 »Die Internverbindung zu den einzelnen Sektionen und Decks unseres Schiffes funktioniert, aber nicht hundertprozentig, wie vom 1.0. bereits erwähnt«, antwortete der breitschultrige Spezialist für Funk und Ortung. »Aber dafür sind die Hyperraumverbindun-gen intakt. Sollen wir einen Notruf an die Flottenzentrale... oh, verdammt!« Perry unterbrach mit einem tiefen Kehllaut seinen Bericht, als auf der Konsole vor ihm eine rotes Licht hektisch zu pulsieren begann. Er fuhr seinen Sessel näher an das Pult heran und drückte eine Reihe von Tasten auf der abgeschrägten Fläche. Schwach leuchteten Kontrollen auf, erloschen wieder. »Verflixt und zugenäht«, polterte Perry in einem ungewohnt heftigen Gefühlsausbruch und malträtierte erneut seine Konsole, abermals ohne erkennbaren Erfolg. »Was ist, Mister Perry?« Huxleys Stimme klang sarkastisch. »Haben Sie Schwierigkeiten, sich vernünftig zu artikulieren?« »Sir«, Perry suchte nach den richtigen Worten, »sämtliche Subsysteme, die die Hy perraumverbindung verwalten, sind aus meinem Rechner verschwunden! Wir können weder auf längere Distanz funken noch irgendwelche Nachrichten empfangen.« »Die Kl versucht, uns nach draußen zu isolieren, uns abzuschot-ten«, zog Huxley ein vorläufiges Resümee. »Das bedeutet, wir sind quasi halbblind und taubstumm. Aber das wird sich ändern, so wahr ich Frederic Huxley bin... ja, Mr. Prewitt?« »Skipper, wir befinden uns in einer Notfallsituation.« Der 1.0. betonte vor allem das letzte Wort besonders. »Das sind wir, I.O.« Huxleys Gesicht verhärtete sich. »Ich glaube, es wird Zeit, daß die Mannschaft darüber informiert wird, was vorgefallen ist.« »Ich wollte Ihnen gerade diesen Rat geben, Colonel«, sagte Prewitt. »Soll ich das übernehmen?« Huxleys Mundwinkel zuckten. »Auf keinen Fall, Lee.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Wenn Sie einmal auf meinem Sessel sitzen werden, dann ja. Aber nicht jetzt. - Mr. Perry, Öffnen Sie die Hauptphase der Rundrufanlage!«
179 »Ist offen, Kapitän.« »An alle«, begann Huxley ohne Umschweife, und die zentrale Bordverständigung übertrug seine sonore Stimme in sämtliche Decks. »Die Systeme des Schiffes werden von einem intelligenten Virus, einer künstlichen Intelligenz infiltriert, die durch bedauerliche, aber nicht vorhersehbare Umstände von der Sonnenexpedition mit an Bord gebracht wurde. Sie ist es, die für die Fehlfunktionen der Systeme verantwortlich gemacht werden muß. Ich erwarte, nein, ich verlange äußerste Umsicht von jedem einzelnen an Bord. Ansonsten geht der Dienst weiter wie gewohnt, entsprechend Code E. Wir tun alles, um den ursprünglichen Zustand so rasch wie möglich wiederherzustellen. Es kann sein, daß die Umweltkontrollen zeitweilig komplett ausfallen, deshalb sollten Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, die sich aus diesen Fehlfunktionen ergeben können. Vermutlich müssen wir uns eine ganze Weile mit einer manuellen Kontrolle der Schiffssysteme begnügen. Also erwarten Sie nicht, daß die Antigraviifte wie gewohnt funktionieren oder Schotts sich selbsttätig öffnen, wenn Sie sich ihnen nähern. Die Energiefelder der Laufbänder könnten ebenfalls außer Kraft sein. Unglücklicherweise sind wir auch nicht in der Lage, einen Hyperfunkkontakt herzustellen, um andere auf unsere mißliche Situation aufmerksam zu machen. Wir sind also auf uns allein gestellt. Es tut mir leid, keine besseren Nachrichten zu haben. Neue Informationen folgen, sobald sich eine Änderung der Situation ergibt. Huxley Ende.« Der Colonel hob die Hand, und Perry trennte die interne Phase. Lee Prewitt nickte dem Kommandanten zu. Seine Augen zeigten, was erdachte. Die Männer schwiegen. Auch von den Nogk kamen keine Bildimpulse. Jeder im Leitstand wartete. Aber die Kl schien nicht gemerkt zu haben, daß sie von Huxley so ganz nebenbei ein wenig hinters Licht geführt worden war: Die Ansprache hatte vor allen dem Zweck gedient, eine verschlüsselte 180 Nachricht an die Besatzung weiterzugeben. Code E - E wie »Evakuierung« - war ein ausgeklügeltes Notfallprogramm, das besagte, daß sich jeder an Bord der CHARR, der nicht unmittelbar einen für die Sicherheit des Schiffes notwendigen Dienst verrichtete, sich nach und nach in die FO I zu begeben hatte, die als autarke Einheit in ihren Bettungen des extra für sie vorgesehenen riesigen Hangars der CHARR ruhte. Abgeschottet von allen Systemen des Ellipsenraumers, mechanischer oder elektronischer Art, bildete sie ein eigenes kleines Universum. Der Notfallcode E bedeutete weiter, daß alle auf ein bestimmtes Alarmsignal hin Raumanzüge anzulegen hatten. Lern Foraker erhob sich von seinem Platz, nickte der Anthropologin und Fremdvölkerexpertin Sybilla Bontempi zu, und verließ kommentarlos den Leitstand. Als taktischer Offizier befehligte er auch das kleine Kontingent Flotteninfanteristen, das an Bord aller Forschungsraumer Dienst tat. Der Zug bestand einschließlich Feldwebel Coopers aus 20 Mannschaftsdienstgraden. 20 trainierte, hochmotivierte Kämpfer, geschult vor allem für Extremwelteinsätze, die an Bord der CHARR üblicherweise als Schutz- beziehungsweise Wachkommando eingesetzt wurden. Code E sah auch vor, daß Forakers Truppe die Einschleusung in die FO I zu überwachen hatte. Draußen im Korridor hob der taktische Offizier sein Armbandvipho an die Lippen und gab einige Befehle. Ren Dhark nippte an seinem Kaffee. Zusammen mit Gisol und einigen der wichtigsten Führungsoffiziere der POINT OF saß er in einem schlichten Konferenzraum, um über die Geschehnisse des letzten Tages zu beraten. Das Interkom sprach an. Aus der Funk-Z meldete sich Glenn Morris. 181
»Commander, wir bekommen eine Nachricht von der Akademie in Nova Roma herein. Sie ist an
Sie persönlich gerichtet.«
»Stellen Sie eine Verbindung her, Morris!«
»In Ordnung.«
Auf einem in die Wand eingelassenen Sichtschirm erschienen die Gesichter von Laetus und
Nauta, den Präsidenten der Akademie.
Die beiden wechselten einen kurzen Blick miteinander.
Dann ergriff Laetus das Wort. »Wir ersuchen dringend um ein informelles Gespräch mit Ihnen,
Commander Dhark.«
Dharks Augen verengten sich etwas. »Nichts dagegen.«
»Wir würden gerne in Kürze an Bord Ihres Raumschiffes kommen.«
Eine Falte erschien aufRikers Stirn. Er tauschte mit Dhark einen Blick. Die beiden Männer
kannten sich lange genug, um sich unmittelbar und ohne ein Wort zu verstehen. Wir sollten
vorsichtig bleiben, Ren! schien Rikers Blick zu sagen.
Laetus nahm diesem aufkeimenden Mißtrauen mit seiner nächsten Bemerkung jede Grundlage.
»Wir werden Ihr Schiff ohne Wachen oder Gefolge betreten. Es geht uns einzig und allein um ein
Gespräch mit Ihnen, Commander Dhark. Und natürlich würden wir es sehr schätzen, wenn auch
Ihr Worgun-Begleiter bei der Unterredung zugegen sein würde.«
Dhark wechselte einen kurzen Blick mit Gisol. Der Worgun nickte leicht. Die auf Terra übliche
Gestik war ihm vollkommen geläufig und gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen,
sofern er Menschengestalt angenommen hatte.
Ren Dhark wandte sich wieder an Laetus.
»Das wird sich einrichten lassen.«
Nauta, der zweite Akademiepräsident, meldete sich jetzt zu Wort. »Es mag Sie vielleicht
verwundem, daß wir unser Anliegen so dringend machen. Aber es gibt viel zu besprechen.
Unsere Neugier ist nahezu grenzenlos...«
»Das geht uns nicht anders«, entgegnete Dhark ruhig. »Wir er
182
warten Sie in der Schleuse.«
Nauta nickte. »In Ordnung.«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Dhark erhob sich und kratzte sich nachdenklich am
Hinterkopf.
»Was immer sie uns zu sagen haben, ich bin überzeugt davon, daß es interessant werden wird!«
war Gisol überzeugt.
Gisol und Ren Dhark erwarteten die Akademiepräsidenten an der Schleuse der POINT OF.
»Salve!« grüßte Laetus.
»Willkommen an Bord der POINT OF«, erwiderte Ren Dhark. Mit der Zeit gewöhnte er sich
daran, Latein zu sprechen. Auch wenn sich diese Sprache innerhalb der letzten zweitausend Jahre
auf Terra Nostra in vielen Bereichen weiterentwickelt hatte, war eine Verständigung mit Dharks
Schullatein ohne Probleme möglich. Für besondere Fälle gab es natürlich nach wie vor den
Translator. Daneben bestand außerdem die Möglichkeit, sich in der Worgunsprache zu
unterhalten, deren Kenntnis auf Terya Nostra Allgemeingut zu sein schien.
Daß Terra-Nostra-Latein nach wie vor, gemessen an der klassischen Variante dieser Sprache,
verständlich geblieben war, mußte einen Grund haben. Schließlich waren die irdischen
Weiterentwicklungen des Lateinischen, wie Italienisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch
im Laufe der Jahrtausende erheblichen Veränderungen unterworfen gewesen.
Die Sprache Terra Nostras hatte hingegen die Jahrtausende relativ unverändert überstanden.
Einerseits lag dies mit Sicherheit daran, daß das Latein der Römer von Terra Nostra keinerlei
Einflüssen fremder Idiome ausgesetzt gewesen war. Aber es gab noch einen anderen Faktor, der
hier von entscheidender Bedeutung sein mußte. Da die Römer auf Terra Nostra geradezu ideale
Lebensbedingungen vorgefunden
183
hatten und nicht von Feinden bedroht worden waren, war ihr technologischer Fortschritt weitaus
schneller vorangegangen als in der von politischen Umbrüchen gekennzeichneten Geschichte der
Erde.
Nur wenige Jahrhunderte nach ihrer Ankunft hatten die Römer bereits die Atomkraft zu nutzen
gewußt und natürlich auch über Möglichkeiten der magnetischen Sprachaufzeichnung verfügt,
und das hatte zumeist einen konservierenden Effekt auf eine Sprache, wie an Dutzenden von
Beispielen nachweisbar war.
Am schnellsten veränderten sich Sprachen ohne phonetisches Schriftsystem, am langsamsten
jene, die innerhalb einer elektronisch geprägten Medienkultur genutzt wurden.
Laetus zog sich seine Toga zurecht. Die beiden Akademiepräsidenten wirkten von ihrer Kleidung
her wie ein Anachronismus. Nur kleine technische Details ihrer römisch geprägten Erscheinung
verrieten, daß sie einer hochtechnisierten Zivilisation entstammten - so etwa das
Armbandchronometer, das Laetus am Handgelenk trug.
»Sie wollten diesen Besuch in einem bewußt informellen Rahmen halten«, sagte Ren Dhark.
»Und so möchte ich Sie in meine Privatkabine einladen, um Ihrem Wunsch entgegenzukommen.«
Laetus und Nauta neigten beinahe gleichzeitig leicht den Kopf, eine Geste der Zustimmung und
des Respekts.
»Was immer Sie in dieser Hinsicht vorschlagen, wir sind damit einverstanden«, erklärte Nauta
und Laetus ergänzte: »Es wird für uns interessant sein, Ihre persönlichen Lebensumstände zu
studieren, Commander Dhark.«
»Folgen Sie uns«, forderte Dhark auf.
»Es freut uns insbesondere, daß wir auf diese Weise etwas die Gelegenheit bekommen, zu sehen,
wie Sie dieses Schiff vollendet haben«, meinte Nauta. Der Römer hatte offenbar den erstaunten
Gesichtsausdruck bemerkt, der sich für einen kurzen Moment in Ren Dharks Zügen manifestierte.
Woher wissen sie davon, daß wir die POINT OF nicht einfach 184 nur übernommen, sondern weiterentwickelt haben, ging es Ren Dhark durch den Kopf. Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, drang Laetus' Stimme in sein Bewußtsein. »Wir wissen, daß dies ein ganz besonderes Schiff ist«, erklärte Laetus. »Historischen Aufzeichnungen der Worgun nach existierte auf einem Planeten mit der Bezeichnung Kaso ein unfertiger Prototyp einer vollkommen neuen Schiffsgeneration, konstruiert von den beiden Worguningenieuren Margun und Sola. Wie die Anwesenheit ihres außergewöhnlichen Zentralrechners beweist, handelt es sich zweifellos um diesen damals noch nicht vollendeten Prototyp.« »Sie besitzen historische Daten über dieses Schiff?« wunderte sich Ren Dhark. »So ist es«, bestätigte Laetus. Sie gingen gemeinsam weiter, folgten dem Korridor. Schließlich erreichten sie Ren Dharks schlichte Privatkabine, die nur das Nötigste enthielt. Laetus und Nauta wechselten einen Blick miteinander, den Dhark zunächst nicht so recht zu interpretieren wußte. Die beiden Akademiepräsidenten ließen den Blick über die karge Einrichtung schweifen. Dhark deutete auf die Sitzecke. »Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen«, forderte der Commander seine Gäste auf. Die beiden Römer folgten dieser Aufforderung nach einem anfänglichen Zögern. »Sie scheinen dem Luxus nicht besonders zugetan zu sein«, stellte Nauta fest. »Schließlich sind Sie der Commander dieses Schiffes und haben eine bedeutende politische Position inne. Es wäre nur natürlich, wenn Sie gewisse Privilegien für sich in Anspruch nehmen würden.« »Darauf lege ich keinen Wert«, erklärte Dhark. »Ihre Bescheidenheit ehrt Sie«, erwiderte Laetus. »Wie wir ja inzwischen wissen, sind Sie der wichtigste Politiker unserer alten Heimat Terra. Sie werden verstehen, daß man da etwas mehr Pomp erwarten würde. Nicht diese geradezu spartanische Ka 185 bine...«
»... wie Sie jedem anderen Besatzungsmitglied auch zusteht«, vollendete Dhark. »Wollten Sie
daraufhinaus?«
»Ja, in der Tat, denn Sie sind alles andere als ein einfaches Besatzungsmitglied.«
»Was mich heraushebt, ist mein Amt, das wiederum auf Fähigkeiten beruht, nicht auf
Äußerlichkeiten«, sagte Dhark.
Ein Lächeln flog über Laetus' Gesicht. »Das ist wohlgesprochen, Commander Dhark. Ihre
Einstellung gefällt mir, und ich zolle Ihnen höchste Anerkennung dafür.«
»Ich danke Ihnen. Möchten Sie etwas trinken?«
Beide Akademiepräsidenten verneinten, indem sie den Kopf schüttelten. »Wir möchten am
Liebsten ohne Umschweife zur Sache kommen«, erklärte Laetus.
Ren Dhark wechselte einen kurzen Blick mit Gisol und sagte:
»Ich habe nichts dagegen.«
Laetus richtete den Blick auf Gisol. Der Römer musterte den Worgun einige Augenblicke lang
mit nachdenklichem Gesicht.
»Gestern abend haben Sie uns Ihre Verwandlungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt,
Gisol, und sich damit als Worgun zu erkennen gegeben.«
»Das ist richtig.«
»Unsere Frage ist: Sind Sie jener Gisol, von dem halb Orn spricht? Der gesuchte Rebell, auf den
die Zyzzkt wegen seiner unzähligen Verbrechen einen hohen Preis ausgesetzt haben?«
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Ren Dhark musterte eingehend die Gesichter
seiner Gäste, aber es war ihnen nicht anzusehen, was sie über die Möglichkeit dachten, daß genau
dieser berüchtigte Rebell vor ihnen saß.
Von dieser Antwort hängt viel ab, dachte Ren Dhark.
»Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Sie dieser Rebell sind«,
186 erklärte Nauta. »Sie können diese Tatsache uns gegenüber ruhig zugeben, jedenfalls beabsichtigen wir nicht, uns das Kopfgeld der Zyzzkt zu verdienen.« Gisol zögerte noch mit seiner Antwort, dann nickte er schließ- , lieh. Auf Epoy war er als Unbelehrbarer verunglimpft worden, aber möglicherweise traf er hier unter den Bewohnern Terra No-stras auf mehr Verständnis. »Mein Ziel ist die Freiheit meines Volkes. Die Tyrannei der Zyzzkt muß ein Ende haben. Ja, Sie haben recht. Ich bin tatsächlich Gisol, der Rebell.« »Wir haben viel von Ihnen gehört«, erklärte Laetus. Gisol hob abwiegelnd die Hände. »Das meiste davon wird wahrscheinlich dem Reich der Legenden entsprungen sein.« »Nun, immerhin scheinen Sie einer der Wenigen zu sein, die den Mut gehabt haben, gegen Ihr Schicksal aufzubegehren und den Zyzzkt die Stirn zu bieten«, sagte Nauta. »Und in dieser Hinsicht haben Sie unseren vollen Respekt, Gisol. Wir bewundem, was Sie getan haben.« Gisol lachte heiser auf. Nicht das winzigste Detail seiner Gestik oder Mimik erinnerte daran, daß sich hinter der Maske des Terra-ners Jim Smith in Wahrheit ein gestaltwandelnder Worgun befand, der in der Lage war., seine Körperzellen perfekt zu kontrollieren und bei dem einzig und allein das Gehirn eine feste Form besaß. Alles andere war veränderbar. »Was ich getan habe, mag mutig gewesen sein, aber es war auch wie der Kampf gegen Windmühlenflügel.« Laetus und Nauta blickten etwas irritiert drein. Ein Lächeln flog über Gisols Gesicht. Er hatte eine terranische Redewendung verwendet, die den Römern nicht geläufig war, unabhängig davon, daß auch sie von den Menschen Terras abstamm ten. Zwar hatten auch die Römer Terra Nostras zweifellos irgendwann während ihrer Geschichte Windmühlen entwickelt, allerdings hatte es auf ihrem Planeten keinen Miguel de Cervantes ge 187 geben, der in seinem Roman »Don Quijote« jenes Bild eines mutigen, aber völlig sinnlosen Kampfes geprägt hatte. »Es war sinnlos, was ich tat«, erklärte Gisol. »Ich habe nicht wirklich etwas an der Lage der Worgun ändern können. Die meisten Angehörigen meines Volkes haben sich offenbar mit der Situation abgefunden, in der sie sich befinden. Sie wissen gar nicht mehr, was Freiheit ist, und sie werden kaum die Kraft haben, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben. In dieser Hinsicht bin ich zum Pessimisten geworden.« »Gisol, ich hoffe nicht, daß Ihr Mut das Opfer Ihrer Rückschläge geworden ist«, sagte Laetus. »Auf sich alleingestellt konnten Sie natürlich keinen Erfolg haben, aber möglicherweise gibt es hier Verbündete, falls Sie den Kampf gegen die Zyzzkt noch einmal aufnehmen wollen.« Gisol alias Jim Smith atmete tief durch. »Ich würde mir nichts mehr wünschen als das«, erklärte er. Ren Dhark mischte sich jetzt wieder in das Gespräch ein. »Von welchen Verbündeten sprechen Sie?« fragte er. Laetus hob die Augenbrauen. »Von uns. Von Terra Nostra. Sie haben gestern den etwas vollmundigen Auftritt eines Senators erlebt, der am liebsten eine gewaltige Kampfflotte ausrüsten wollte, um sie gegen die Zyzzkt losschlagen zu lassen.« »Um ehrlich zu sein, ich habe das nicht besonders emstgenom-men«, erklärte Dhark. »Es fehlt uns einzig und allein an Ala-Metall, jener Substanz, die Sie Tofirit nennen«, gab Laetus zurück. »Glauben Sie mir, wenn wir genug davon hätten, um eine Flotte auszurüsten, so hätten wir schon längst losgeschlagen.« »Was kümmert die Römer von Terra Nostra das Schicksal der Worgun?« hakte Ren Dhark nach. »Ich verstehe, daß Sie sich ihnen sehr verbunden fühlen, aber...« Laetus unterbrach Dhark. »Wir wissen besser als jeder andere, mit was für einem gefährlichen Feind wir es zu tun haben, und es ist uns auch klar, daß die 188 ser Kampf viele Opfer kosten würde.« Nauta ergriff jetzt das Wort. »Wir verdanken den Worgun sehr viel. Sie haben die Entwicklung unserer Kultur extrem beschleunigt. Für die Menschen Terras gilt das ja in ähnlicher Weise, auch wenn bei Ihnen der Prozeß erst sehr viel später eingesetzt hat, wie Sie mir berichteten. Aber hier auf Terra Nostra haben die Worgun uns Römern geradezu ideale Lebensbedingungen geschenkt und wir sind nicht die einzigen, die finden, daß es an der Zeit wäre, Ihnen etwas zurückzugeben.« »Noch sind Sie hier sicher, in der Gaswolke Gardas«, sagte Ren Dhark. »Wenn Sie irgendwelche
wie auch immer gearteten feindlichen Aktivitäten gegenüber den Zyzzkt an den Tag legten, so
wäre die Lage Terra Nostras extrem gefährdet.«
Nauta nickte.
»Im Prinzip teile ich Ihre Ansicht, Commander Dhark.«
»Im Prinzip?« echote Dhark.
»Sie gehen allerdings von einer falschen Voraussetzung auä.«
»Dann klären Sie mich bitte auf!«
»Wir sind in unserer Gaswolke nicht wirklich sicher. Die Zyzzkt beherrschen die Galaxis Orn,
und unser Schicksal hängt seit langem am seidenen Faden. Früher oder später wird es zur
Konfrontation kommen. Die Tatsache, daß unser System von einer Gaswolke umgeben ist, die
unsere Feinde bislang nicht zu durchdringen vermochten, bedeutet allenfalls einen Aufschub.«
»Ein Aufschub, der immerhin lange genug gedauert hat, um Ihre Kultur prächtig gedeihen zu
lassen«, gab Dhark zu bedenken. »Wollen Sie das alles wirklich aufs Spiel setzen?«
Laetus und Nauta wechselten einen kurzen Blick, so als ob sie eine stumme Zwiesprache hielten,
dann war es Laetus, der als nächster das Wort ergriff.
»Wir beobachten die Aktivitäten dieser Insektoiden so genau wir können«, erklärte er. »Und das,
was wir beobachtet haben, läßt gewisse Rückschlüsse zu.«
»Rückschlüsse welcher Art?« hakte Dhark nach.
189
Laetus' Worte klangen ihm reichlich nebulös.
»Ich kann es Ihnen nicht genau erklären«, fuhr der Akademiepräsident fort. »Aber wir haben das
Gefühl, daß die Zyzzkt irgendeine Art von übergeordnetem Plan verfolgen. Wir wissen leider
nicht, was das Ergebnis dieses Plans sein soll.«
»Diese Vermutung teile ich seit langem«, erklärte Gisol.
»Das war einer der Gründe, Sie aufzusuchen«, erwiderte Nauta. »Wir hatten gehofft, daß Sie,
Gisol, uns in dieser Hinsicht vielleicht etwas weiterhelfen könnten.«
»Tut mir leid«, gab Gisol zurück. »Ich tappe in dieser Hinsicht ebenso im Dunkeln.«
»Nun, vielleicht werden wir eines Tages gemeinsam in dieser Frage ein Stück weiterkommen«,
hoffte Nauta.
Weder Gisol noch Ren Dhark gingen auf diese Bemerkung weiter ein. Dhark war eigentlich nicht
hierher nach Orn gekommen, um an einem Krieg gegen die Zyzzkt teilzunehmen, aber mögli
cherweise würde man genau das von jenem Flottenverband erwarten, den die POINT OF
anführte.
Laetus ergriff das Wort.
»Auf dem Weg von der Schleuse hierher in Ihr Privatquartier haben wir festgestellt, daß Sie den
unvollendeten Prototyp in beachtenswerter Weise fertiggestellt haben. Ich glaube, der Anerken
nung dafür habe ich bereits Ausdruck verliehen.«
»Allerdings«, nickte Ren Dhark. Seine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Worauf will er
jetzt hinaus? fragte er sich.
»Uns sind auch andere Dinge aufgefallen«, fuhr Laetus schließlich nach kurzer Pause fort. »Etwa
die schwerkraftneutralisierenden Behälter, die bei Ihnen teilweise sogar in den Gängen herum
stehen.«
Das ist es, durchzuckte es Dhark. Toßrit.
»Wir gehen doch recht in der Annahme, daß sich in diesen Behältern Ala-Metall befindet«,
ergänzte jetzt Nauta.
Dhark lächelte dünn. »Jemandem mit Ihrem technischen Verstand in dieser Frage widersprechen
zu wollen, wäre wohl sinn
190 los«, erwiderte er.
»Darf man daraus schließen, daß man auf Ihrem Planeten über sehr große Vorkommen jenes
Metalls verfügt, dem Sie die Bezeichnung Tofirit gegeben haben?«
»Nun, groß ist relativ«, wich Dhark aus.
»Gemessen an den Verhältnissen hier in Om«, stellte Nauta klar.
»Wir besitzen nur noch wenige Ringraumer«, erklärte Dhark. »Aber für deren Betrieb reichen
die uns zur Verfügung stehenden Tofiritvorkommen durchaus aus.«
»Dann sind Sie in einer beneidenswerten Lage«, erklärte Laetus. »Unser Problem ist, daß das
Ala-Metall in Orn extrem selten gefunden wird.«
»Aber früher muß das anders gewesen sein«, schloß Dhark. »Wie hätte sich die Worgunkultur
sonst entwickeln können?«
Nauta nickte.
»Das ist vollkommen richtig. Früher besaßen die Worgun reiche Lagerstätten. Fragen Sie Ihren Freund Gisol. Er wird es Ihnen bestätigen.« Gisol nickte. »Der Umgang mit Energie war in jenen Zeiten geradezu verschwenderisch«, bestätigte er. Nauta fuhr fort: »Die Zyzzkt erkannten den Schwachpunkt der Worgun, deren Kultur und militärische Stärke letztlich auf dem Ala-Metall aufbaute. Die Vorgehensweise dieser Insektoiden war vollkommen logisch. Sie machten sich daran, nach und nach sämtliche Planeten zu vernichten, auf denen dieses Metall vorkam. Unsere historischen Aufzeichnungen sagen, daß es offensichtlich auch Verräter in den Reihen der Worgun gab und die Zyzzkt auf diese Weise an entsprechende Informationen gelangten.« »Aber basierte nicht die Raumfahrt und Militärmacht der Zyzzkt ebenfalls auf den Tofiritvorkommen?« hakte Dhark nach. Nauta bestätigte das. »Das ist richtig. Doch die Insekten spekulierten darauf, nach einem Sieg rasch neue Lagerstätten erschließen zu können. Aber das 191 war ein Irrtum, denn in den Millionen Jahren; die die Worgun bereits das All erforschten, hatten sie im Bereich der Galaxis Om so gut wie sämtliche Ala-Lagerstätten gefunden. Und so setzte ein geradezu verheerender Mangel an diesem Schwerstmetall ein. Darunter leidet Om bis heute.« Ren Dhark glaubte jetzt begriffen zu haben, worauf seine Gesprächspartner hinauswollten. Warum sollte das ferne Terra nicht ein Lieferant von Ala-Metall werden? Genau dieser Gedanke mußte in den Köpfen der beiden Akademiepräsidenten herum-schwirren. »Ich denke, Sie überschätzen unsere Möglichkeiten bei weitem«, stellte Dhark klar. Er wollte bei den beiden Römern nicht unnötig Begehrlichkeiten wecken. Ein dünnes Lächeln spielte um Laetus Lippen. »Sie beschreiben die Tofiritvorkommen, über die Terra verfügt, als sehr begrenzt.« Das Lächeln wurde breiter. »Aber so begrenzt können diese Vorkommen wohl nicht sein. Schließlich haben wir Augen im Kopf, und außerdem verfügen wir auf Terra Nostra über eine recht hoch entwickelte Ortungstechnik.« »Dann wissen Sie, daß es wahr ist, was ich gesagt habe«, erklärte Dhark. Gisol, der lange geschwiegen hatte, mischte sich nun in das Gespräch ein. »Auf Terra baut man ganze Schiffe aus Ala-Metall«, meinte er süffisant und konnte sich der Aufmerksamkeit der bei den Akademiepräsidenten vollkommen sicher sein. Gisol studierte einige Augenblicke lang ihrer beider Blicke, so als wollte er sich der Wirkung seiner Worte vergewissern. Schließlich fuhr er fort: »Wenn Ala-Metall bei den Terranern tatsächlich so kostbar und selten wäre, würde man es kaum für Panzerplatten verschwenden. Meinen Sie nicht auch?« Ein Ruck ging beinahe gleichzeitig durch Laetus und Nauta. Sie wechselten einen Blick. Dhark hätte Gisol in diesem Augenblick am liebsten sonstwohin gewünscht. Der Worgun war ihm mit seinen Bemerkungen in den 192 Rücken gefallen. Offenbar witterte er die Chance, hier auf Terra Nostra Bundesgenossen für
seinen Befreiungskampf zu finden. Bundesgenossen, die offensichtlich kampfbereiter waren als
die Terraner.
»Ist das wahr?« vergewisserte sich Laetus. »Produziert Terra tatsächlich Raumschiffe, deren
Außenhaut aus Ala-Metall gefertigt ist?«
»Das waren nur zwei Prototypen«, schränkte Dhark ein. Von den neuen Ikosaederraumern sagte
er vorerst lieber nichts.
»Und wenn schon«, erwiderte Laetus. »Bemerkenswert ist es trotzdem.«
Nauta fragte an Dhark gerichtet: »Was wurde aus diesen beiden Prototypen? Haben sie die
Erwartungen Ihres Flottenkommandos erfüllt?«
Ren Dhark deutete auf Gisol.
»Einer dieser Prototypen ist von ihm gestohlen und zu Brennstoff verschrottet worden. Was
Ihnen wiederum zeigt, daß auch bei uns Ala-Metall ein knappes und kostbares Gut ist.«
Laetus richtete den Blick für einige Augenblicke auf Nauta. Die beiden müssen sich wirklich eine
Ewigkeit lang kennen, dachte Dhark. Offenbar waren sie in der Lage, in den kleinsten Verände
rungen im Gesichtsausdruck zu erkennen, was in dem jeweils anderen vor sich ging,
Nauta nickte schließlich entschlossen. »Wir möchten, daß Sie beide uns begleiten.«
»Zu welchem Zweck?« fragte Dhark.
»Um Ihnen etwas zu zeigen«, sagte Nauta. Und Laetus ergänzte:
»Vertrauen Sie uns einfach. Ich denke, daß wir sehr viele gemeinsame Interessen haben. Nicht
nur einen gemeinsamen Ursprung in der Vergangenheit. Auch die Gegenwart könnte uns sehr
verbinden. Vertrauen Sie uns, so wie wir Ihnen vertrauen.«
Na gut. Zumindest bis zu einem gewissen Grad, fügte Dhark in Gedanken hinzu.
193 Märt Siverts duschte.
Äußerlich war die CHARR ein Pendant zu den großen nogkschen Ellipsenraumschiffen. Antrieb
und Aufbau waren identisch mit Schiffen des gleichen Typs. Dennoch wich sie in ihrer inneren
Konzeption erheblich von ihren Schwesterschiffen ab, da sie fast durchweg von den Meegs auf
die Bedürfnisse der menschlichen Besatzung hin verändert worden war. Zwar herrschte
größtenteils noch immer die nogksche Symbolik vor, aber Colonel Huxley und seine Mannschaft
hatten keine Mühe damit, denn inzwischen waren sie zu Experten im Verständnis der
Nomenklatur dieses hybriden Volkes geworden. Eine der für die Raumschiffsingenieure der
Nogk gravierendsten Umbaumaßnahmen war die Einrichtung von Duschräumen für die
Besatzung gewesen - nogksche Raumschiffe besaßen derartige Einrichtungen nicht. Wasser in
jeder Form war für die Nogk tödlich.
Nicht so für Märt Siverts,.der die heißen Wasserstrahlen, die seinen muskelbepackten Körper
röteten, als Genuß pur empfand. Wasser, vor allem heißes Wasser, war für ihn der Inbegriff kulti
vierten Lebens.
Daß er gerade jetzt duschte, hatte mehrere Gründe.
Erstens hatte er Zeit; Märt gehörte zum Sicherheitsteam Lern Forakers und hatte Freiwache. Und
zweitens war er ein Reinlichkeitsfanatiker. Das bedeutete, daß er, wann immer es möglich war,
duschte. Wasser gehörte zu den Dingen, von denen er nicht genug bekommen konnte. Er wäre in
einem früheren Leben wohl sicher ein Fisch gewesen, zogen ihn seine Kameraden ständig auf.
Ihm war die Frotzelei egal.
Er pfiff laut und grauenhaft falsch, während er sich die Seife vom Körper wusch. Er hatte die
Ansprache des Skippers zur Kenntnis genommen, als er sich in der Dusche von seinen Kleidern
befreite.
Blöde Sache das. Ein intelligenter Computervirus, der sich des
194
ganzen Schiffes bemächtigt hatte und begann, seine Spielchen mit der Besatzung zu treiben.
War das möglich?
Siverts hatte gewisse Zweifel. Gut, der Ausfall der Schwerkrafterzeuger und die Fehlfunktionen
der einzelnen Schiffssysteme hatten begonnen, nachdem sein Vorgesetzter, Lern Foraker, mit den
beiden Libellenköpfen von der Expedition aus der Korona dieser Systemsonne zurückgekehrt
war, was zu bestimmten Vermutungen Anlaß gab. Allerdings tendierte er mehr dazu, an eine un
gewollte Verkettung von Ereignisse zu glauben. Einmal war die CHARR das Nonplusultra im
Raumschiffbau, zum anderen konnte ohne gezielte Einwirkung von außen gar nichts passieren.
Das hatte man ihm versichert.
Eine künstliche Intelligenz schien ihm nun deshalb doch zu weit hergeholt. Wie Science Fiction,
oder wie diese Dinger hießen, die sich sein Teamkollege Poul Gafflet immer reinzog, sobald er
nur eine Minute Pause hatte.
Ach, zum Teufel damit! Sollten sich andere mit diesem Problem beschäftigen. Andererseits:
Wenn es doch stimmte, dann, ja dann steckten sie vermutlich bald tief in Schwierigkeiten.
Schwierigkeiten bedeuteten meist Ärger.
Massiven Ärger.
Und das war etwas, was er verstand. Mit dem er umzugehen wußte. Etwas Handfestes,
Greifbares. Etwas, bei dem man sich jederzeit darauf verlassen konnte, daß es geschah. Und das
man bekämpfen konnte.
Er verließ die Dusche, drehte das Wasser ab und griff sich das Handtuch. Er meinte, eine winzige
Erschütterung zu spüren und hielt kurz mit dem Abtrocknen inne. Bevor er dazu kam, sich voll
ständig trocken zu reiben, meldete sich das Vipho.
»Immer alles auf einmal«, murrte Siverts, warf sich das Handtuch um den Nacken und langte
nach dem Gerät, das neben der Waffe auf dem Kleiderhaufen lag.
Auf dem winzigen Bildkarree blinkte der Dringlichkeitscode.
195
Merde! Wie er befürchtet hatte. Es fing schon an. Feldwebel Cooper, der härteste Schleifer diesseits und jenseits der Galaxis, rief seine Schäfchen zusammen. Damit war die Freiwache Geschichte. Rasch zog er sich an.
Und noch während er damit beschäftigt war, die Klettverschlüsse des Overalls zu schließen,
verlosch das Licht. Der Duschraum war in vollkommene Dunkelheit gehüllt.
»Verdammt!« fluchte Siverts, war aber nicht wirklich beunruhigt. Ob unter Null-G-Bedingungen
oder in völliger Dunkelheit, er war darauf trainiert, in jeder noch so ungewöhnlichen Umgebung
die Übersicht zu behalten und die Orientierung nicht zu verlieren.
Rechts von ihm an der Decke glühte ein kleines Karree in der Schwärze. Die
Überwachungskamera! Normalerweise inaktiv und nur für eventuelle Notfälle gedacht. Wer hatte
sie aktiviert?
»Scheißsuprasensor«, fluchte Siverts erneut. Vermutlich saß jemand am anderen Ende und
amüsierte sich prächtig. Wenn er den zu fassen kriegte... er tastete sich durch die Dunkelheit in
Richtung Ausgang. Kurz bevor er das Schott erreichte, hörte er, wie die elektronische
Verriegelung zuschnappte.
»Verdammt!« wiederholte Siverts noch einmal gereizter. »Was zum...?«
Er kam nicht mehr dazu, seine Frage zu beenden. Für einen Augenblick hatte es den Anschein,
als ginge die CHARR in den freien Fall über; Siverts schluckte, um die momentane Übelkeit zu
kompensieren, die ihm von seinem Innenohr signalisiert wurde, das für Bruchteile von Sekunden
von der totale Umkehrung der Gravitati-onszustände im Innern des Ellipsenraumers irritiert
wurde.
Einen Lidschlag später kehrten sich die Verhältnisse radikal um. Eine unwiderstehliche Kraft riß
den Sicherheitsmann von den Beinen und wischte ihn zur Seite. Instinktiv zog Siverts die Beine
an, legte die Arme um den Kopf und atmete aus. Sein Körper wurde durch die Dunkelheit
geschleudert und krachte gegen die Wand. Ein Pfeifen entwich seiner Kehle, als der letzte Rest
Luft durch
196
den Aufprall aus seinen Lungen gepreßt wurde.
Erneut fluktuierte die Umweltkontrolle, erzeugte Schwerkraftfelder, die weit über das übliche
Maß hinausgingen.
Mit einer Riesenwut im Bauch lag Märt Siverts rücklings auf dem Kunststoffboden der
Mannschaftsdusche, während scheinbar Tonnen von Gewicht auf ihm zu lasten schienen und jede
Bewegung vereitelten.
Keuchend atmete er gegen den übermächtigen Druck an, während er bemerkte, wie sich bunte
Schleier über seine Augen legten, als das Blut aus den Gefäßen wich.
Dann kehrte unvermittelt wieder Normalität ein.
Mühsam entspannte er sich. Atmete tief ein, während der Druck nachließ. Die Beleuchtung
flackerte; ein matter Lichtschein erhellte den Raum, und Siverts Blick fiel auf das Computerauge
an der Decke.
Täuschte er sich, oder blinzelte ihm die Linse tatsächlich höhnisch zu?
»Bescheuerte Kl«, sagte er inbrünstig in Richtung der Überwachungskamera.
11. Ren Dhark stellte eine Interkomverbindung zur Zentrale her, um sich abzumelden. Sein Freund
Dan Riker erschien auf dem Bildschirm. Der Commander skizzierte in knappen Sätzen den
Verlauf des Gesprächs und erklärte dann: »Unsere Gastgeber wollen Gisol und mir etwas zeigen.
Wir haben die Absicht, sie zu begleiten.«
»Dann werde ich ein Begleitschutzteam abkommandieren«, gab Riker zurück.
Aber Dhark schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht, Dan.«
»Ren, was soll das? Was zum Teufel spricht dagegen, wenn ihr von einem Sicherheitsteam
begleitet werdet? Ich bin überzeugt, daß die Römer Verständnis dafür haben werden.«
»Gisol und ich werden allein gehen«, erklärte Dhark in einem Tonfall, der keinen Widerspruch
duldete.
»Ren, das ist mehr als leichtsinnig.«
»Es ist meine Entscheidung«, erwiderte Dhark. »Die beiden Akademiepräsidenten Laetus und
Nauta haben sich ebenfalls ohne jeden Begleitschutz in unser Schiff und damit letztlich auch in
unsere Gewalt begeben. Das ist ein Vertrauensvorschuß, den ich gerne erwidern möchte.«
Rikers Gesichtsausdruck vermochte kaum zu verbergen, wie er darüber dachte.
»Das ist pure Unvernunft«, stellte er fest.
Laetus, dessen Translator diese Unterhaltung übersetzt hatte, mischte sich nun in das Gespräch
ein. Er wandte sich direkt an Riker. »Wir haben keineswegs etwas dagegen, wenn Commander
Dhark noch eine weitere Person mitnimmt«, erklärte der Akademiepräsident.
»Ich würde Sie gerne begleiten«, meldete sich plötzlich eine Stimme zu Wort.
Riker blickte mit gerunzelter Stirn zur Seite. Ein Roboter vom Typ WI Grundmodell drängte sich
in den Bildausschnitt von 198 Dharks Sichtschirm.
»Artus!« stieß Ren Dhark hervor.
Artus glich nur äußerlich einem der billigen, humanoiden All-zweckroboter. In seinem Kopf saß
ein Nexus von 24 Cyborgpro-grammgehirnen, von denen eines einen nicht näher feststellbaren
Defekt hatte. Dadurch war Artus zu einer echten künstlichen Intelligenz geworden, die dank des
serienmäßigen Suprasensors, der dem Nexus als Erweiterung diente, über einmalige Fähigkeiten
verfügte. Er betrachtete sich als Vollperson und war offizieller Erdenbürger. Seine Individualität
dokumentierte er unter anderem dadurch, daß er sich einen Namen gegeben hatte.
»Artus, ich weiß nicht, ob das wirklich das richtige für dich ist«, meinte Dhark.
»Oh, ich wäre ausgesprochen neugierig darauf, mehr über die Geheimnisse Terra Nostras zu
erfahren«, erklärte Artus.
Laetus und Nauta sahen etwas verwirrt drein. »Ist das ein Roboter?« fragte Nauta an Dhark
gewandt.
Dhark nickte. »Ein Roboter mit Bewußtsem, wenn Sie so wollen.«
»Ja, das war es auch, was mich verwirrte«, erklärte Nauta. »Er scheint mir deutliche Anzeichen
für eine individuelle Persönlichkeit zu haben.«
»Und einen eigenen Willen«, ergänzte Laetus.
Ren Dhark lachte heiser. »Davon können Sie ausgehen.«
»Ihre KI-Technologie muß weit fortgeschritten sein«, vermutete Nauta. »Dieser Roboter
interessiert mich, und es wäre mir ein Vergnügen, wenn er an unserem Ausflug teilnehmen
würde.«
»Ich nehme an, jetzt wird es schwer für dich, Dhark, noch ein triftiges Gegenargument zu
finden«, erklärte Artus. »Im übrigen sollte meine überlegene Wahrnehmung Grund genug sein,
um mich bei der Erkundungsmission mitzunehmen.«
Ren Dhark zuckte die Schultern. »Also gut, Artus. Da es der ausdrückliche Wunsch unserer
Gastgeber ist, habe ich auch nichts dagegen.«
199
Gisol, Dhark und die beiden Akademiepräsidenten begaben sich zur Schleuse. Dort trafen sie auf
einen gut aufgelegten Artus, der Laetus und Nauta auf Latein begrüßte.
»Seid gegrüßt. Ich habe mir erlaubt, das Vokabular eurer Sprache von einem Datenspeicher
herunterzuladen. Allerdings nur in jener für euch gewiß veralteten Form, die wir das klassische
Latein nennen.«
Nauta hob die Augenbrauen.
»Sie benutzten das Wort vw«, erklärte er. »Das bedeutet. Sie sehen sich selbst als Menschen an.«
Der Roboter beugte leicht den humanoiden Oberkörper. Seine Optik fixierte den
Akademiepräsidenten. »Nun, da ich von Menschen erschaffen wurde, trage auch ich gewisse
menschliche Züge in mir. Allerdings bin ich alles andere als ein Mensch«, erklärte er. »Ihr wollt
mir also meine semantische Ungenauigkeit verzeihen.«
»Jedenfalls freut es uns sehr, Sie kennenzulernen«, erklärte Laetus. »Ein Roboter mit Seele, das
ist tatsächlich schon etwas besonderes. Und wir sind sehr neugierig auf Ihre Ansichten, Artus.«
Der Roboter neigte abermals der Oberkörper etwas vor. Es wirkte wie die Andeutung einer
Verbeugung, letztlich war aber nicht ganz klar, welchem Zweck diese Geste diente.
»Auf jeden Fall freue ich mich über die außerordentlich respektvolle Behandlung, die ihr mir
zuteil werden laßt.«
»Wir respektieren jede Lebensform«, erklärte Nauta.
»Lebensform?« echote Artus.
Und Nauta ergänzte: »In unseren Augen sind Sie das zweifellos.«
Die Gruppe passierte die Schleuse und trat wenige Augenblicke später hinaus auf das Landefeld
des Raumhafens von Nova Roma. Dort wartete der Gleiter, mit dem Laetus und Nauta
gekommen waren. Das Außenschott des Gleiters öffnete sich selbsttätig. Lae
200 tus war der erste, der eintrat. Er setzte sich in einen Konturensitz nahe der Pilotenkonsole. Auch die anderen Mitglieder der Gruppe nahmen in Schalensitzen Platz, die sich perfekt an ihre Körper anpaßten. Das galt auch für Artus. Wenig später schloß sich das Außenschott, und der Gleiter hob vom Boden ab. Laetus lenkte ihn per Gedankensteuerung in einem weiten Bogen über den Raumhafen von Nova Roma. Die Stadt paßte sich harmonisch in die Landschaft ein. Ihre Erbauer mußten einen aus geprägten Sinn für Ebenmaß und Harmonie besessen haben. Die zahlreichen
Säulenkonstruktionen fielen Dhark auf. Ein Architekturstil, in dem Elemente der klassischen
Antike noch erahnbar waren, aber von moderneren Elementen überlagert wurden. Schließlich
lagen gut zweitausend Jahre zwischen der Ankunft der ersten Römer auf Terra Nostra und der
Jetztzeit.
»Commander Dhark nannte Sie einen Roboter mit Seele«, wandte sich Laetus an Artus.
»Bedeutet das, daß Sie ein Bewußtsein der eigenen Existenz besitzen - so wie ein menschliches
Lebewesen?«
Der Roboter wandte leicht den Kopf. Seine Optik musterte Laetus mit einer maschinenhaften
Kälte, die im krassen Widerspruch zur Modulation seiner künstlichen Stimme stand.
»Ich bin mir nicht nur meiner eigenen Existenz bewußt, sondern auch meiner grenzenlosen
Überlegenheit über jedes Individuum der menschlichen Rasse - und zwar sowohl auf geistiger als
auch auf körperlicher Ebene.«
Laetus hob erstaunt die Augenbrauen und wandte sich an Dhark.
»Die Mikroschaltkreise dieses Robotergehirns scheinen den Begriff Selbstbewußtsein in einem
etwas anderen Sinn verstanden zuhaben...«
Dhark seufzte.
»In der Tat! Darunter haben wir alle hin und wieder zu leiden.«
Laetus schüttelte den Kopf. »Unfaßbar! Eine Maschine, die erschaffen wurde, um dem Menschen
zu dienen, hält sich für etwas Überlegenes!«
»Ich bin überlegen!« korrigierte Artus mit aller Entschiedenheit,
201 zu der das Modulationsprogramm seiner Stimme fähig war. »Von meinen Verdiensten zu berichten, die ich mir inzwischen erworben habe, wäre vielleicht etwas angeberisch. Das habe ich inzwischen gelernt und überlasse es, wie es der Sitte auf meinem Heimatplaneten Erde entspricht, lieber anderen.« Artus wandte sich an den Commander. »Wie wäre es mit einer Aufzählung deiner Verdienste, Dhark?« Daß die starre Optik dieses Roboters jetzt erwartungsvoll drein-zusehen scheint, ist vermutlich nichts anderes als eine simple Projektion meinerseits! überlegte der Angesprochene. »Vielleicht ein anderes Mal, Artus«, sagte Dhark schließlich laut. »Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun.« »Mir scheint, als hätte ich mal wieder irgendeine der zahllosen und durch kein logisches System erfaßbaren Sozialkonventionen verletzt, die zwischen menschlichen Individuen existieren. Aber ich bin nicht nur ein denkendes, sondern auch ein lernendes Wesen und werde die Situation entsprechend analysieren.« »Artus...« begann Dhark, aber der Redeschwall des Roboters ließ ihm keine Chance. »Man würde mir das Erlernen dieser Konventionen des Soziallebens sehr erleichtern, wenn es sich um schriftlich fixierte Normen handeln würde. Aber oft werden sie ja nicht einmal verbali siert! Wie kann ich sie da auf wirklich effektive Weise meinen Datenspeichern hinzufügen?« »Artus!« »Ein menschliches Wesen braucht 18 Jahre, bis es diese Konventionen erlernt hat und als erwachsen gilt. So viel Zeit wollte ich mir eigentlich nicht nehmen, aber...« »Artus, halt die Klappe!« fuhr Dhark dazwischen. Der wohlmodulierte und von einer echten menschlichen Stimme kaum zu unterscheidende Redefluß des Roboters brach jäh ab. Artus schien einen Augenblick lang irritiert zu sein. Schließlich brachte er heraus: »Vergiß nicht, daß ich inzwischen ein Vollbürger bin, Dhark! Du selbst hast mir diese Eigenschaft 202
verliehen! Und im Moment fühle ich mich in dieser Hinsicht von dir nicht akzeptiert!«
Dhark unterbrach den Roboter abermals.
»Artus! Was ich gerade sagte, war ein Befehl des Commanders der Planeten. Dem
Staatsoberhaupt aller Bürger Terras! Also gilt er auch für einen gewissen Artus!«
Colonel Frederic Huxley war ein hochgewachsener Mann mit einem durchtrainierten Körper aus
Muskeln und Sehnen, dessen Leistungsreserven über die eines normalen Menschen hinausgingen.
Harte Linien prägten sein vom langen Weltraumaufenthalt rötlich ledern gewordenes Gesicht, zu
dem das Eisgrau seiner Augen einen starken Kontrast bildete. Sein Haar hatte die gleiche Farbe
wie seine Augen; er trug es an den Seiten kurz und oben länger, was die kantige Form seines
Schädels unterstrich.
Irgend etwas störte den Kommandanten der CHARR. Und immer wenn dies der Fall war, konnte er sich darauf verlassen, daß in allernächster Zeit etwas geschehen würde. Etwas Unvorhergese henes. Hätte er eine Art mechanisches oder elektronisches Vorwarnsystem besessen, hätten seine Ohren jetzt von dem Alarmsignal nur so geklingelt. Zwar verfügte Huxley über die von ihm nicht kontrollierbare Gabe, sporadisch in die reale Zukunft sehen zu können, aber dies hier war kein solches »Sehen«. Er wußte einfach, daß etwas geschehen würde. Das sagte ihm seine Intuition, die ihn im Laufe seiner langjährigen Praxis als Raumschiffskommandant noch nie getrogen hatte... Nur einen Sekundenbruchteil später erbebte die CHARR wieder so heftig, daß jeder, der stand, erneut den Halt verlor und zu Boden fiel. Gleich darauf schien es, als befände sich das Schiff am höchsten Punkt einer Parabel und senkte sich wieder nach unten -Schwerelosigkeit. Huxley klammerte sich an den Armlehnen seines Schwenksessels fest und verfluchte die Tatsache, daß die Sitze 203
im Leitstand nicht mit Rückhalte Vorrichtungen versehen waren, wie sie in den Beibooten und Absetzern üblich waren. Die Lichter im Leitstand flackerten und erloschen; die Leuchtplatten der Notbeleuchtung glühten unheilverkündend. Dann kam das Licht wieder, und die CHARR beruhigte sich. Nur um gleich darauf erneut zu erzittern und zur Seite auszuweichen, was den Teil der Besatzung, der sich gerade vom Boden aufrappelte, erneut auf die Bretter schickte. Flüche wurden laut. »Himmel!« keuchte Sybilla Bontempi erstickt, »die Kl! Sie versucht tatsächlich, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen...« »Und bringt uns dabei um«, ächzte John Butrovich. Der Funktechniker der CHARR gehörte bereits seit der Übergabe der FO I an Frederic Huxley zur Stammbesatzung. »Das dürften eben die kombinierten Schwerkrafterzeuger und Andruckabsorber gewesen sein, an denen unser Gast sich im Augenblick versucht«, sagte Prewitt mit nur mühsam unterdrücktem Zorn in der Stimme. »Unser Gast versucht es nicht, sondern macht das mit voller Absicht. Offenbar will die Kl uns damit ihre Überlegenheit demonstrieren.« Huxley schmeckte Blut auf der Zunge. Er mußte sich auf die Lippen gebissen haben bei den wilden Bewegungen der CHARR. Er betätigte eine Taste auf der Armlehne seines Kommandosessels. »Chief Erkinsson! Warum spielt unser G-System verrückt? Ist etwas mit den Maschinen?« Der winzige Bildschirm auf der verbreiterten Armlehne erhellte sich. Auf dem Karree zeigte sich das Gesicht des Leitenden Ingenieurs und Triebwerksspezialisten. »An der Leistung der Aggregate liegt es nicht, Colonel«, polterte der Chefingenieur und seine buschigen Augenbrauen sträubten sich, »daß die Gravitationsmodule entlang der Hülle plötzlich anfällig gegen Störungen geworden sind.« Erkinssons Gesicht war 204
verkniffen; jeden Zugriff eines Außenstehenden auf »seine« Maschinen empfand er als persönlichen Angriff auf sich selbst. »Mechanisch ist alles in Ordnung. Es lassen sich keine Defekte feststellen, Colonel. Die auftretenden Fehlfunktionen haben ihre Ursache ausschließlich in den Kontrollen der Primär- und Sekundärsysteme. Die Energiereserven sind auf 99 Prozent, alle Reaktorsysteme funktionsfähig, die Kontrollsysteme größtenteils ebenfalls. Vielleicht sollten Sie mal dem gesamten Computersystem ein wenig auf die Sprünge helfen - nur so als Vorschlag.« Huxley nickte. Die Auskunft Erkinssons entsprach seinen Erwartungen und war deshalb keine Überraschung für ihn. Er hatte sich lediglich noch einmal vergewissern wollen. »In Ordnung«, sagte er und fügte hinzu, wobei er erneut in das Englisch des 20. Jahrhunderts verfiel: »Was ist mit der FO I, Chief?« Der Chefingenieur zeigte ein verhalten vorsichtiges Lächeln. »Zu 100 Prozent betriebsbereit, Colonel«, erwiderte er auf die gleiche Weise. »Die trinären Optokoppler trennen zuverlässig sämtliche mechanischen und elektronischen Funktionen des alten Mädchens vom Bordnetz der CHARR. Kein Außenstehender kann Zugriff auf die internen Systeme bekommen.« »Zumindest eine Sorge weniger«, murmelte der Colonel. »Huxley Ende.« Auf dem Sichtschirm verblaßte das Abbild des Chefingenieurs, und der Colonel schaltete die Anlage ab. Nachdenklich sah er auf den toten Monitor. Dann hob er den Blick. »Was bezweckt unser Besucher eigentlich?« wollte er wissen und richtete seine Frage an niemanden direkt. »Was kann er davon haben, in unseren Systemen zu existieren? Eine virtuelle
Präsenz aus kodierten Terabytegruppen?« Und mit einem schnellen Seitenblick auf Tantal, der nähergekommen war: »Dazu verurteilt, nie die Speicherblöcke des Computers zu verlassen.« »Nun«, ließ sich Captain Bontempi vernehmen. »Vielleicht ist dies seine Auffassung von einer neuen Existenz... das System, unser System, sichert seine ewige Gegenwärtigkeit, macht ihn quasi 205
unsterblich...«
»Solange unser System existiert«, warf Prewitt ein.
»Natürlich«, erwiderte die Anthropologin. »Das vorausgesetzt.«
»Kommen wir doch wieder zum Thema.« Huxley wandte sich jetzt direkt an Tantal. »Was will
die Kl wirklich? Ich habe so eine Ahnung, als wüßtest du es.«
Tantal wandte den Libellenkopf in Richtung des Kommandanten. Aber ehe er etwas sagen
konnte, flammte einer der Sichtschirme über Huxleys Konsole auf.
»Colonel Huxley!«
Die Stimme klang eindeutig nervös aus der offene Phase der Bordverständigung im Leitstand. Sie
gehörte Professor Allister Bannard, dem Chefastronomen der CHARR.
»Ja, Professor?« Von negativen Vorahnungen erfüllt, runzelte Huxley die Stirn.
»Ich glaube, wir haben da ein Problem.«
»Ein weiteres aus der Vielzahl bereits vorhandener?«
Der Chefastronom nickte ernst.
»Berichten Sie!«
»Hier geschieht etwas Merkwürdiges. Diese Kl hat Zugriff auf die Sternenkartendateien des
Astrorechners genommen und lädt sie herunter.«
»Das sind ja enorme Datenmengen. Wo speichert sie die?«
Bannard hob die Schultern.
»Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Natürlich, Professor. Können Sie das Herunterladen unterbrechen?«
»Leider nein, Colonel Huxley. Der Suprasensor ignoriert sowohl verbale als auch manuelle
Anweisungen.«
»Ist zu erkennen, ob nach einem bestimmten Koordinatensatz gesucht wird?«
Der Professor zögerte. Er drehte kurz den Kopf, sprach mit jemandem und wandte sich wieder
dem Viphoschirm zu.
»Vermutlich. Aber wir können nicht erkennen, nach welchem«,
206
bedauerte er. »Was sollen wir tun?«
»Nichts«, versetzte Huxley grimmig. »Lassen Sie die Kl gewähren. Früher oder später wird sie
uns wissen lassen, was sie damit bezweckt...« Er wurde abrupt unterbrochen.
»Das kann ich euch gleich wissen lassen«, ließ sich der Vollstrecker unvermittelt hören, wobei
seine Stimme aus allen Phasen sämtlicher Decks der CHARR drang. Die künstliche Intelligenz
hatte sich die verbale Audiodatei des Zentralrechners angeeignet und sprach mit dessen, der
Besatzung vertrauten Stimme. »Ich suche nach den Koordinaten meiner Heimat.«
»In unseren Speichern?« ließ sich Huxley vernehmen.
»Weshalb bist du erstaunt? Dies ist ein Schiff des Alten Volkes. Ich erkenne die Basismuster,
auch -wenn sie etwas verändert sind. Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich so lange
brauche, um alles neu anzuordnen...«
Bei allen guten Geistern, durchfuhr es Huxley. Sie krempelt unsere gesamten Systeme um!
Danach wird nichts mehr so sein, wie es war.
Es wird Zeit, dem Spuk ein Ende zu setzen, ehe sich unser Gast zu heimisch zu fühlen beginnt.
»Jedes Schiff des Alten Volkes besitzt die Koordinaten der Zentralwelt in einem besonderen
Speicher«, fuhr die Kl fort. »Warum nicht dieses? Habt ihr ihn entfernt, um mich an einer
Rückkehr zu hindern? Ich muß aber zurückkehren, um eine neue Aufgabe zu erhalten. Nur so
gelange ich auf die nächste Daseinsebene...«
Sybilla Bontempi ließ einen erstickten Laut hören, der keine exakte Deutung zuließ. »Nicht zu
fassen«, sagte sie halblaut. »Ein Computerprogramm will tatsächlich eine andere
Bewußtseinsebene erreichen? Es ist nachgerade verrückt.«
»Und deshalb so gefährlich«, gab Huxley ebenso leise zu verstehen.
An die Kl gewandt, sagte er laut: »Deine Heimat war nicht die Sonnenstation?«
»Nein. Ich muß zurück zu meinen Schöpfern.« 207
»Wenn wir dir dabei helfen können, sag uns, was wir tun sollen.« Einen Versuch ist es wert, dachte Huxley tief in seinem Innern. Vielleicht können wir sie daw überreden, unser Schiff w verlassen. »Ich verlange uneingeschränkte Macht über die Steuerung des Schiffes... irgend etwas hindert mich daran. Ich sehe da einen Konflikt, der meine Integrität stört. Der alte Zustand muß wieder hergestellt werden.«
Huxley zog eine Grimasse.
»Ist das der Grund, weshalb du meine Besatzung gefährdest?«
»Deine Besatzung? Wer bist du, daß du ein Schiff des Alten Volkes führst? Ihr seid organische
Einheiten. Von welcher Rasse stammt ihr ab?«
»Wir nennen uns selbst Menschen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Weshalb fügst
du uns Schaden zu?«
»Das liegt allein an eurem Verhalten mir gegenüber«, ließ sich die Kl vernehmen und fuhr fort:
»"Wenn ihr mir Zugang w der Steuerung verschafft, werden die Folgen weniger schmerzhaft für
euch sein. Vergoßt nicht, ich habe Macht über euch und dieses Schiff.«
Das wollen wir erst einmal dahingestellt sein lassen, dachte Huxley grimmig. Laut sagte er: »Das
wird ohne uns nicht möglich sein.«
»Weshalb nicht?«
Huxley tat erstaunt. »Hast du nicht erwähnt«, sagte er mit möglichst ruhiger Stimme, »daß du die Schiffe des Alten Volkes kennst?« »Ja.«
»Dann müßte dir doch bekannt sein, daß diese mit Kontrollschaltungen versehen sind, die einen Automatikbetrieb - und um einen solchen würde es sich handeln, wenn du die Steuerung über nehmen würdest - nicht zulassen.« »Schaltungen kann man freigeben,« 208
Huxley hatte das Gefühl, auf sehr dünnem Eis zu gehen, als er insistierte: »Diesmal nicht. Dieses Schiff ist ein besonderer Fall: Eine Freigabe der Sperren können nur bestimmte Personen vornehmen. Dabei erfolgt die Identifikation über nicht kopierbare persönliche Schwingungsmuster der zur Schiffsführung autorisierten Leute.« »Und wer sind diese?« »Meine Offiziere und ich. Wenn du uns Schaden zufügst, werden wir nicht in der Lage sein, das Schiff von der Stelle zu bewegen. Du sorgst also besser für unsere... unsere eigene Integrität und Unversehrtheit.« »Ich werde meine Datensysteme auf die neue Situation hin durchforsten und dann meine Entscheidung treffen.« »Tue das«, erwiderte Huxley und atmete innerlich auf. »Übrigens: Wir Menschen haben die Sitte,
einander mit Namen anzureden. Ich bin Huxley, wie soll ich dich nennen? > Vollstrecken ist kein
Name, allenfalls eine Tätigkeitsbezeichnung. Wie also dürfen wir dich nennen?«
Schweigen...
Zwanzig Sekunden lang hielt die Spannung an.
Dann kam die Antwort: »Ich bin Turr-Aan.«
Über Huxley brach ein Strom von widersprüchlichen EindrÜkken herein und überschwemmte
das optisch-gedankliche Zentrum seines Gehirns. Ohne sein Zutun empfing er über das
implantierte Signum seiner Nogk-Ratsmitgliedschaft ein wirres Konglomerat von Mutlosigkeit,
von Entsetzen und auch Furcht, ausgehend von den Nogk an Bord der CHARR.
Unwillkürlich griff sich Frederic Huxley an die Brust.
Unter seiner Handfläche vermeinte er die Fluktuationen der Energieströme zu spüren, die das
Emblem ausstrahlte. Das Signum war ihm zu seiner feierlichen Aufnahmezeremonie in den nogk
schen Rat auf Nogk II von den Meegs Charauas als absolut fälschungssicherer Beweis seiner
Zugehörigkeit zum Rat der Fünfhundert implantiert worden. Es sorgte dafür, daß die Bildimpulse
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der Nogk innerhalb seines Gehirns in Worte umgewandelt wurden. Es diente sowohl als Sender, Empfänger und Translator zwischen ihm und den Nogk. Neben all den anderen Möglichkeiten, die er noch immer nicht gänzlich hatte ausloten können, die aber mit dem Schutz, der Unversehrtheit seiner eigenen Person zusammenhingen. Damit waren zwar noch längst nicht alle Kommunikationsprobleme zwischen der menschlichen und der nogkschen Rasse beseitigt. Aber das Implantat arbeitete zumindest wesentlich exakter als jeder noch so leistungsfähige Translator es gekonnt hätte. Und es befähigte Huxley vor allem dazu, ohne verbalen Umweg auf semitelepathische Weise mit den Nogk zu kommunizieren. Was sich gerade jetzt als äußerst
hilfreich erwies, da so die Kl nicht mitbekam, was an Konversation zwischen dem Komman
danten und den Außerirdischen ablief.
Huxley konzentrierte sich und sperrte seine Gedanken gegen die allgemeine Konfusion der
Meegs und der Kobaltblauen ab, ließ nur das durch, was zum Verständnis der Situation
notwendig war.
Dann war es Tantal, der auf der geistig-gedanklichen Ebene seine Eibrüder sowie die Meegs zur
Vernunft anhielt. Der Strom vielfältiger, widersprüchlicher Bildimpulse brach ab, machte ge
danklicher Stille Platz.
Und Turr-Aan sagte über alle Sprechfunk- und Viphoverbindun-gen: »Ich habe sämtliche
visuellen Kontrolleinrichtungen in einen Alarmkreis einbezogen, den ich ständig überwache. Alle
weiteren Maßnahmen werden vom Ergebnis meiner Analyse abhängig sein.« Die Kl klinkte sich
aus. Der Sichtschirm zeigte noch einen Augenblick lang das Pyramidensymbol, dann erlosch er.
»Colonel!«
Allister Bannard war noch immer auf dem Sichtschirm zur Astroabteilung zu sehen.
»Professor?«
»Mich würde interessieren, wie Sie weiter vorgehen werden. Meinen Sie wirklich, daß dieser
Turr-Aan existiert und nicht bloß ein Datenschatten ist? Eine Simulation, die verschwindet,
sobald
210 wir die Speicherdaten neu konfigurieren? Ich...« Er verstummte hüstelnd, als er sah, daß Frederic
Huxley wie beiläufig einen Finger über den Mund legte und kurz den Kopf schüttelte. »Ich... äh...
soll ich die Extraktion unserer Sternendaten weiter verfolgen?« versuchte er die Situation zu
retten.
»Tun Sie das. Zentrale Ende.«
Huxley machte Perry wie beiläufig ein Zeichen. Hier haben die Wände Ohren und die Decken
Augen, hieß das.
Der Ortungsoffizier schloß alle offenen Ton- und Viphophasen von seinem Pult aus. Ob das
gegen ein Abhören half? Man würde sehen.
Das Gefühl, über brüchiges Eis zu gehen, hatte sich in Huxley noch nicht verflüchtigt. Was er
diesem Turr-Aan über die Freischaltung der Steuerkontrolle gesagt hatte, traf zwar in allen Be
langen zu, bis auf eine wichtige Ergänzung, die er einfach unter den Tisch hatte fallenlassen: Er
hatte der Kl verschwiegen, daß jede der zu dieser Maßnahme berechtigten Personen an Bord der
CHARR jeder anderen mit einem einfachen Kommandocode die Führung des Schiffes übertragen
konnte - das traf auch auf Turr-Aan zu.
Huxley machte sich darüber jedoch keine Gewissensbisse.
Im Krieg und in der Liebe, so war ihm einmal versichert worden, waren alle Mittel erlaubt, um zu
einem Erfolg zu gelangen.
Und hier befanden sie sich eindeutig in einem Krieg gegen einen fast übermächtigen Gegner. Der
war zwar nicht körperlich zugegen, aber deswegen nicht weniger gefährlich.
Fragte sich nur, was geschah, sobald die Kl dahinter kam, daß sie in Bezug auf die Freischaltung
der Kommandocodes gelinkt worden war. Huxley sah Sybilla Bontempi an.
»Ihre Meinung?« erkundigte er sich halblaut.
»Differenziert«, gab sie ebenso leise zurück.
»Mir scheint«, sagte Maxwell gedehnt, »wir machen uns eventuell zu viele Sorgen. Der Kl fehlen
hier an Bord entsprechende Exekutivmechanismen in Form von autarken Waffensystemen.
211 Zum Glück.«
Unter der gebräunten Haut der Anthropologin zeichneten sich die Wangenmuskeln ab, als sie den
Kopf schüttelte, daß die blauschwarze Pagenfrisur nur so flog. »Urteilen Sie nicht vorschnell«,
riet sie dem Zweiten Offizier. »Turr-Aan besitzt deutlich Möglichkeiten, um uns...« Sie
verstummte.
»Um was, Captain?« fragte Huxley scharf. »Was denken Sie?«
»Um uns zu eliminieren. Ich wage zu prognostizieren, daß er dieses Schiff und die Mannschaft
noch gehörig unter Druck setzen wird, um zu erreichen, was er will.«
»Und wenn er es nicht erreicht? Angenommen, er findet in unseren Sterndatenbanken nicht die
Koordinaten, auf die er so scharf ist. Einfach, weil wir sie nicht besitzen. Was dann?«
»Daran wage ich lieber nicht zu denken.« Die Fremdvölkerexpertin biß sich auf die Lippen.
»Wissen Sie«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »woran mich die ganze Situation erinnert?«
»Woran?«
»Sie wußten sicher schon, daß ich eine Vorliebe für alte Filme habe«, wich sie seiner Frage
scheinbar aus.
»Jetzt weiß ich es«, erwiderte Huxley und lächelte leicht. »Ich übrigens auch. Also, Captain?«
»Ich erinnere mich da an einen Titel - sagt Ihnen der Name >HAL 9000< etwas?«
Huxley kramte in den Tiefen seiner Erinnerung, dann nickte er, als er den entsprechenden Eintrag
gefunden hatte.
»Aber ja«, sagte er. »Ich glaube auch zu wissen, worauf Sie anspielen, Captain.«
»Denken Sie darüber nach, Colonel«, sagte die Wissenschaftlerin, deren schlanke, fast zierliche
Figur nicht vermuten ließ, daß die Zweiunddreißgjährige eine Kennerin der ausgefallensten
Kampfsportarten war. Sie stand auf. Nachdenklich blickten ihre mandelförmigen Augen - Erbe
einer thailändischen Großmutter -auf den Colonel herab. »Ich kann Ihnen keine Vorschriften ma
chen, aber bedenken Sie, Colonel: Was immer Sie unternehmen,
212 Sie sollten es möglichst schnell tun.« Sie schwieg kurz, dann bekannte sie mit einem um
Nachsicht bittenden Lächeln: »Ich brauche jetzt jedenfalls einen Kaffee.« Sagte es und
entschwand in Richtung Hauptschott der Leitzentrale.
Ihre Bemerkung über Kaffee erzeugte eine gewisse Unruhe in der Zentrale.
Huxley meinte: »Ehe jemand auf die gleiche Idee kommt - wir haben noch immer Alarmstufe
Gelb. Wer Kaffee braucht, soll ihn sich bringen lassen.«
Er überblickte die Monitorphalanx und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf die große
Allsichtsphäre im bugwärtigen Teil der Leitzentrale. Sie waren noch immer im Geret-System;
eben driftete Geret I vorbei. Die Heckfelder zeigten die äußeren Planeten.
Huxley s Augen lösten sich von dem Bild und richteten sich auf Tantal.
Wir sollten uns in den Maschinenraum begeben, Tantal, übermittelte Huxley seinen Wunsch auf
der semitelepathischen Ebene an den Nogk-Mutanten.
Natürlich, Ratsmitglied Huxley, kam die Antwort auf die gleiche Weise.
Der Colonel stand auf.
»Lee«, sagte er mit normaler Stimme. »Sie haben die Zentrale.«
Trotz gewisser Zweifel funktionierten die Transportbänder in der CHARR; die grünlich
pulsierenden Gleitfelder trugen Huxley und Tantal schnell heckwärts entlang der Hauptachse
durch den Leib des Fünfhundertmeterriesen.
Huxley richtete einen Impuls an den Blauhäutigen.
Weshalb die Konfusion, die deine Eibrüder und die Meeg so offensichtlich zeigten, als die Kl ihren Namen sagte? Wer oder was ist Turr-Aan? Tantal antwortete zunächst nicht, sondern erwiderte nur den 213 Blick des Kommandanten. Stumm, mit starren Facettenaugen, in denen sich die Beleuchtung des
Hauptkorridors spiegelte, die aber ansonsten keine Regung ihres Trägers verrieten.
Ich warte! schickte Huxley einen neuerlichen Impuls an den Kobaltblauen.
Tantals Fühler zitterten; die Entsprechung eines terranischen Seufzers? Schließlich bequemte er
sich zu einer Antwort.
Huxley hob die Brauen, glaubte, sich verhört zu haben. Deshalb fragte er wortlos noch einmal
nach.
Er ist was? Tantal wiederholte seine Bildimpulse.
»Ein Scharfrichter also. Hab ich mich doch nicht verhört«, murmelte Huxley in normaler
Sprache, um gleich darauf wieder auf die semitelephatische Ebene zu wechseln. Bist du dir
sicher?
Tantals Libellenschädel bewegte sich ruckartig, als lausche er einem schwachen Echo aus längst
vergangenen Dekaden.
Es ist so, drangen seine Bildimpulse in Huxleys Geist, der die Reaktionen der Nogk nun verstand,
als die Kl von sich als Turr-Aan gesprochen hatte.
Als Turr-Aans wurden alle Scharfrichter am Hof der nogkschen Kaiser bezeichnet, ließ Tantal
Huxley noch wissen und lüftete so wieder ein wenig mehr von dem Geheimnis, das die uralte
Gesellschaftsordnung der Nogk umgab...
Was hat es mit diesem HAL 9000 aufsich, den die Mensch'Frau Bontempi erwähnte? gab Tantal
dem Gespräch eine andere Wendung.
Das bezog sich auf einen Film.
Film...? Aah - ich verstehe, kamen Tantals Impulse, als er die komplexen Informationen aus
Huxleys Geist ohne Zeitverzug erhielt. Die visuelle Aufbereitung einer Idee, die sich Menschen
mr Entspannung über ein technisches Medium anschauen - merkwürdiges Verhalten, wenn du mir diesen Einwand erlaubst. Wie hieß dieser Film noch einmal? Für einen Außenstehenden schwiegen sich die beiden Vertreter 214 zweier unterschiedlicher Spezies gegenseitig an, während in Wirklichkeit ein lebhafter Gedankenaustausch stattfand. »200l: Odyssee im Weltraum« Inwieweit hat die fiktive Darstellung nicht realer Geschehnisse mit unserem Problem zu tun? Sie könnte der Schlüssel zur Lösung sein, gab Huxley über sein Implantat zu verstehen. In dem Film geht es um den Sieg des menschlichen Verstandes über einen neurotischen Computer na mens HAL. Die Art, wie es geschieht, könnte richtungsweisend für unser Vorgehen gegen TurrAan sein... Du hast einen Plan? Natürlich, aber dazu brauche ich den Chefingenieur unseres Schiffes. Er hatte eigentlich »meines« Schiffes sagen wollen, entschloß sich aber in letzter Sekunde anders. Sie verließen die Transportröhre, als sie die Abzweigung erreicht hatten. Huxley legte die Hand auf die Andruckplatte zum Maschinenleitstand. Anstandslos öffnete sich die Schleuse. War Turr-Aan mit der Analyse der Informationen, die ihm der Colonel geliefert hatte, so beschäftigt, daß er seine Aktivitäten reduziert hatte? Kann uns nur recht sein, dachte Huxley und trat ein. Vor ihnen lag eine verkleinerte Ausgabe der Leitzentrale, hell beleuchtet. Der Raum war etwa vier Meter hoch und doppelt so breit. Ausgerüstet mit Steuerkonsolen, einer Reihe Schwenkses seln und vielen Sichtschirmen, die das Geviert dominierten. Sie waren keine Fenster nach draußen, sondern boten Innenansichten jener Bereiche, in denen die Aggregate und Nuklearmeiler ihr machtvolles Lied sangen. Das Reich der Atome und Neutronen. Das Reich ChiefErkinssons. Die CHARR ließ sich auch vom Maschinenstand der Leitzentrale auf dem Umweg über diesen weitestgehend automatisierten Befehlsstand fernsteuern. Der Chefingenieur verließ nur in wirklichen Ausnahmefällen sein Domizil. Mehrere Schotts mit unübersehba 215 ren Wamhinweisen führten in die hochsensiblen Bereiche der Antriebssektionen, in denen sich trotz ausgeklügelter Abschirm- und Eindämmungstechniken besser kein Lebewesen aufhalten sollte. Huxley wies Chief Erkinsson mit einer Augenbewegung in Richtung Kommunikationskonsole an, die mehrfach gesicherte Audioverbindung zum übrigen Schiff zu unterbrechen. Der Chefingenieur kam dem Befehl sofort nach. »Willkommen in Prometheus' Schmiede«, sagte er zur Begrüßung. »Prometheus? Haben wir denn ein Besatzungsmitglied dieses Namens an Bord?« signalisierte Tantal seine Frage über den Translator. »Haben wir nicht«, erwiderte Huxley und spürte, wie sich ein Grinsen um seine Mundwinkel stahl. »Ist nur eine menschliche Metapher, die den Akt der Energieerzeugung rings um uns be schreibt.« Sie konnten diese Unterhaltung in normaler Lautstärke durchführen; Erkinssons Befehlsstand bildete den einzigen absolut abhörsicheren Bereich innerhalb der CHARR. Er war derart mit Ein dämmungsfeldem gegen die nuklearen Brutofen der Fusionsmeiler in den Maschinenhallen abgesichert, daß keine noch so intensive Sensorabtastung auch nur den Hauch einer Verständigung zu erfassen vermochte. »Sekunde, Kommandant.« Der Chefingenieur gab den beiden Antriebstechnikem, die mit im Raum waren, einige Anweisungen und setzte sein Kürzel unter deren Protokolle. Er wartete, bis sie den Raum verlassen hatten, dann drehte er sich zu den Neuankömmlingen um. »Was kann ich für Sie tun, Colonel?« »Chief...«, begann Huxley. »Legen Sie mal eine Pause ein. Wir müssen mit Ihnen reden.« »Hier?« »Genau hier. Das ist der sicherste Platz. Hier können wir uns ungestört unterhalten...«
216
12.
Am Rand von Nova Roma erstreckte sich ein weitläufiges Parkgebiet mit kleinen Seen,
Rasenflächen und Waldstücken. Nur hin und wieder wurde die außerordentlich harmonisch
gestaltete Landschaft von Gebäuden unterbrochen.
Nauta hielt mit dem Gleiter auf einen der vielen Säulentempel zu, die sich auf der Oberfläche
dieser Welt fanden.
»Auf Terra Nostra haben die Götter Roms ihre Funktion vor langer Zeit verloren«, sagte Laetus.
»Wir verehren sie nicht mehr, aber sie sind immer noch ein wichtiger Bestandteil unserer Tradi
tion.«
»So, wie bei uns auf der Erde viele Leute das Weihnachtsfest feiern, obwohl sie nie einen Bezug
zur christlichen Religion hatten«, murmelte Dhark.
»Vielleicht erklären Sie mir ein anderes Mal, was es mit dem Weihnachtsfest auf sich hat,
Commander Dhark«, erwiderte Laetus. »Wir sind im übrigen auch nicht hier, um Ihnen einen
Tempel zu zeigen, so daß wir anschließend gemeinsam die Schönheit unserer klassischen
Architektur bewundem können...«
»Das habe ich mir beinahe gedacht. Vielleicht verraten Sie mir endlich, was das Ziel dieses
Fluges ist!«
»Einen Moment noch... dann werden Sie es sehen!«
Ganz in der Nähe der Tempelanlage öffnete sich eine Rampe, über die man unter die Oberfläche
Terra Nostras gelangen konnte. Fast wirkte es so, als wäre der Tempel nichts weiter als eine Art
Markierung, um den ansonsten unsichtbaren Eingang in die Tiefe besser finden zu können. Eine
gewaltige Rasenplatte schob sich zur Seite. Offenbar geschah dies auf ein entsprechendes Signal
hin, daß vom anfliegenden Gleiter aus abgegeben worden war. Die Öffnung wurde immer größer.
So gewaltig, daß Dhark sich gut vorstellen konnte, wie sogar große Transportgleiter dort
einflogen.
Die Flugbahn des Gleiters senkte sich.
Mit traumwandlerischer Sicherheit flog das Gefährt in die ent
217
stehende Öffnung hinein. Eine Art Tunnel führte mit einer Neigung von etwa 20 Prozent unter
die Erde. Das Innere war hell erleuchtet. Der Gleiter bremste ab.
Laetus lächelte. »Vielleicht haben Sie sich bereits gewundert, daß so wenig Industrie an der
Oberfläche Terra Nostras zu finden ist. Wir sind schließlich mehr oder weniger auf unsere
eigenen Produkte angewiesen, und eigentlich sollte man da erwarten, daß viel größere Areale der
Oberfläche mit Produktionsanlagen bebaut sind...«
Dhark hob die Augenbrauen.
»Diese Frage habe ich mir tatsächlich schon gestellt!«
»Sie bekommen jetzt die Antwort!«
»Unterirdische Industrieanlagen? Ist das die Lösung?«
»Ja«, nickte Laetus.
Die von einem röhrenförmigen Tunnel umgebene Rampe endete schließlich in einer gewaltigen
unterirdischen Halle. Sie war beinahe taghell erleuchtet. Unbemannte Transportschweber flogen
wie an unsichtbaren Fäden gezogen daher. Positionsleuchten kennzeichneten Aggregate von
gewaltigen Ausmaßen. Jedes einzelne von ihnen war so groß wie ein irdisches Hochhaus.
Unwillkürlich war Ren Dhark an den Industriedom von Hope erinnert.
Nur waren diese Anlagen um ein Vielfaches gewaltiger!
Dhark bemerkte mehrere Tunnelgänge, über die man offenbar in andere Teile der Anlage
gelangen konnte.
Nauta sorgte dafür, daß sich die Fluggeschwindigkeit des Gleiters auf ein Minimum reduzierte.
Er schwebte jetzt langsam dahin, so daß Dhark Gelegenheit hatte, sich die gewaltigen
Produktionsanlagen eingehend anzusehen.
»Wie Sie ja inzwischen wissen, entwickelten wir Römer von Terra Nostra schon wenige
Jahrhunderte nach unserer Ankunft auf diesem Planeten die Atomkraft.«
»Eine erstaunlich schnelle Entwicklung! Die Menschen der Erde brauchten dazu mehr als
anderthalb Jahrtausende länger!« erwi
218 derte Dhark.
»Wir hatten günstige Bedingungen hier! Keine Kriege, keine Naturkatastrophen, keine Feinde!
Es gibt also keinen Grund für ir-gendeine Art des Minderwertigkeitsgefühls!«
Dhark hob die Hände. »So war das auch keineswegs gemeint!«
Etwas lenkte die Aufmerksamkeit des Commanders der Planeten auf sich. An einigen der
gewaltigen, hochhausgroßen Aggregate leuchteten keine Lichter. Sie machten den Eindruck,
deaktiviert worden zu sein.
Laetus fuhr inzwischen fort: »Kurz nach Entdeckung der Atomkraft kamen wir auf den
Gedanken, daß es besser wäre, Industrieanlagen so weit wie irgend möglich unter die
Planetenoberfläche zu verbannen. Wie Sie aus der Geschichte Ihres eigenen Planeten
wahrscheinlich wissen, hat die Industrialisierung für die Umwelt teilweise verheerende
Auswirkungen. Das war zumindest auf Terra Nostra in den frühen Jahrhunderten der Fall!«
»Wenn ich mir die sehr sprunghafte Entwicklungsgeschichte1 Ihrer Zivilisation anschaue, dann
vermute ich, daß die Folgen eher noch dramatischer waren als auf der Erde!« meinte Dhark.
»Jedenfalls entstanden seit jenen Jahren nacheinander immer größere unterirdische
Industrieareale...«
»Diese Anlage erinnert mich an den Industriedom auf Hope, jenen Planeten, den die Worgun
Kaso nannten...«
Laetus und Nauta wechselten einen kurzen Blick.
»Ich nehme an, daß jene Anlagen es Ihnen ermöglichten, die unfertige POINT OF so perfekt zu
]
vollenden, wie Sie es getan haben !«, vermutete jetzt Nauta. Dhark nickte.
»Das ist richtig«, murmelte er. Warum reiten die beiden Akade-1 miepräsidenten immer wieder
auf diesem Punkt herum? überlegte er dabei. Zumindest muß der Umfang ihres historischen
Wissens, das sie von den Mysterious erbten, gewaltig sein. Sonst würde der Name Kaso ihnen
nichts sagen... Dhark stutzte. Ist Kaso/'Hope für die Bewohner der Galaxis Orn eine so
bedeutende Welt, daß ein
neurömischer Akademiepräsident darüber Bescheid wissen muß? Ein Gedanke, der Ren Dhark
irgendwie absurd erschien. Kaso/Ho-pe lag schließlich Millionen Lichtjahre entfernt in der
Milchstraße, und es war eigentlich eher anzunehmen, daß er nicht nur bei den Worgun von Om in
Vergessenheit geraten wäre, sondern erst recht bei den Römern von Terra Nostra. Doch dem war
ganz und gar nicht so.
Dhark atmete tief durch.
Ich werde darauf zurückkommen und die beiden danach/ragen, sobald sich eine Gelegenheit
ergibt, nahm er sich vor.
Gisol hatte lange geschwiegen, einfach nur dagesessen und die Anlagen betrachten. Jetzt ging ein
Ruck durch seinen Körper.
Irgend etwas schien ihn zu beschäftigen. Dhark fragte sich, was es war.
Aber in Gegenwart der beiden Akademiepräsidenten wollte er ihn danach nicht fragen.
»Einige der Aggregate scheinen nicht in Betrieb zu sein«, stellte Dhark an Laetus gerichtet fest.
»Auch wenn du mir den Befehl gabst zu schweigen, fühle ich mich in diesem Augenblick doch
dazu berufen, diese Angabe zu korrigieren«, mischte sich Artus in das Gespräch ein. »Wenn ich
nach einer genauen statistischen Auswertung bestimmter Parameter wie Beleuchtung und
Bewegung gehe, die Anzeichen für Aktivität darstellen könnten, so ist zweifellos der größere Teil
der Anlage nicht in Betrieb!«
Ein Lächeln glitt über Laetus' Gesicht.
»Die Tatsache, daß Sie eine Seele besitzen, Artus, scheint Ihre Rechnerfähigkeiten keineswegs zu
beeinträchtigen«, erklärte er.
»Dann entspricht Artus' Feststellung also den Tatsachen?« fragte Dhark.
Laetus nickte. »Ja.«
»Was wird hier produziert?« erkundigte sich Dhark.
Aber noch bevor einer der beiden anwesenden Römer die Antwort geben konnte, hatte sich Gisol
zu Wort gemeldet.
220
»Ringraumer!« stieß er hervor. »Dies ist eine Produktionsanlage f für Ringraumer und andere Rüstungsgüter! Dessen bin ich mir sicher!« Er wandte das Gesicht in Dharks Richtung. »Diese gewaltige Halle erfüllt doch nur einen einzigen Zweck! Hier könnte ein Ringraumer zusammengesetzt werden! Vielleicht sogar mehrere auf einmal - so groß ist sie! Für die Verbindung zwischen den einzelnen Segmenten der Anlage würde das Tunnelsystem ja voll kommen ausreichen!« »Unser Worgun-Freund kennt sich in dieser Hinsicht aus«, erklärte Nauta. Und Laetus ergänzte: »Wen sollte das auch verwundem?« »Entspricht Gisols Vermutung den Tatsachen?« hakte Dhark nach. Laetus bestätigte dies. Er neigte dabei leicht den Kopf nach vorn. »Sie wollten es uns nicht so recht glauben, aber wir wären jederzeit in der Lage, eine gewaltige Flotte fertigzustellen und auszurüsten. Eine Flotte, mit der wir wirksam gegen die verteufelten Zyzzkt vorgehen könnten, die sich wie eine Sternenpest in Om ausgebreitet haben. Aber es würde keinen Sinn machen.« »Zumindest nicht, so lange wir viel zu wenig Tofirit besitzen, um die Schiffe betreiben zu können«, fügte Nauta noch hinzu, während seine Finger elegant über das Kommandopult des
Rechners glitten, der den Gleiter steuerte.
»So waren die vollmundigen Worte dieses Erbsenators doch nicht nur Prahlereien unter dem
Einfluß von zu viel Wein!« stellte Dhark fest.
Laetus' Gesicht gefror zu einer Maske. »Von der Tatsache abgesehen, daß uns bis jetzt das Tofirit
fehlte, aber das könnte sich in Zukunft ja durchaus ändern...«
»Woher beziehen Sie sonst Ihre Energie?« erkundigte sich Dhark nicht zuletzt, um das Gespräch
auf ein unverfänglicheres Terrain zu lenken. Denn was eine Unterstützung der Römer in einem
Krieg gegen die Zyzzkt anging, konnte und wollte sich der Commander der Planeten noch
keineswegs festlegen. Er war hier,
221
um die Situation in Om zu erkunden. Nicht mehr und nicht weniger. Bislang kannte er die
hiesigen Verhältnisse einfach noch viel zu schlecht, um irgendwelche Entscheidungen treffen zu
können, die womöglich unabsehbare Konsequenzen hatten.
Der Gleiter erreichte einen der Tunneleingänge. Er beschleunigte fühlbar. Mit atemberaubendem
Tempo passiert er den Tunnel und erreichte eine weitere unterirdische Industriehalle. Sie hatte
ähnliche Ausmaße wie jene, in der die Gruppe sich zuerst befunden hatte. Der Unterschied lag
vor allem darin, daß der Anteil der aktiven Aggregate hier noch um einiges geringer zu sein
schien.
Abermals verlangsamte der Gleiter seine Fahrt, so daß Gisol und Ren Dhark die Anlagen
eingehend betrachten konnten.
»Wir beziehen unsere Energie unter anderem durch spezielle Transmitter, die sie unmittelbar aus
der Sonne abziehen«, erläuterte Laetus. »Leider läßt sich diese Technologie nicht beim Antrieb
von Raumschiffen anwenden. Wir sind also weiterhin auf das bei uns in Orn so knappe Ala-
Metall angewiesen.«
Er kommt immer wieder auf diesen Punkt zurück, wurde es Ren Dhark klar.
Gisol meldete sich zu Wort. Die Ausführungen des Akademiepräsidenten Laetus schienen ihn
regelrecht elektrisiert zu haben.
»Wenn Sie wirklich in der Lage sind, derartige Transmitter zu betreiben, dann ist es Ihnen
gelungen, die ursprüngliche Worgun-technik erheblich weiterzuentwickeln!« stieß er hervor.
Ein leicht spöttisches Lächeln kennzeichnete Laetus' Gesicht in diesem Augenblick. »Allerdings!
Wir haben das Erbe der Worgun zu einer neuen Blüte geführt.«
»Ich würde mir diese Anlagen gerne aus der Nähe ansehen!« gab Gisol seinem Wunsch
Ausdruck.
»Dagegen ist nichts einzuwenden!« erklärte Nauta.
Laetus wandte sich an Artus.
»Sie erwähnten vorhin, daß Sie - wie ein Mensch - in der Lage wären zu lernen!«
»Das ist korrekt«, bestätigte der Roboter
222
»Dann werden Sie gleich Gelegenheit dazu bekommen!« »Offene oder verdeckte Hinweise auf
die eigene Überlegenheit werden auf Terra oft als unhöflich empfunden und lösen negative
Emotionen aus, wie ich wiederholt feststellen mußte. Ist das auf Terra Nostra möglicherweise
nicht der Fall? Oder war es Deine Absicht, mich herabzusetzen und damit meine Emotionalität zu
testen?« Laetus lachte auf.
»Nun, was für eine Emotion empfinden Sie denn im Augenblick?«
»Verwirrung! Ich glaube, das ist das richtige Wort.« »Verwirrung ist aber keine Emotion!«
korrigierte Laetus. »Dasselbe sagen die Datensätze meiner Begriffsspeicher auch. Andererseits
fällt mir zu der Emotion, die ich im Moment verspüre, keine passendere Bezeichnung ein!«
Gisol verdrehte genervt die Augen. »Bürgerrecht hin oder her -irgendwann wird sich jemand ein
Herz nehmen und diesen Blechkasten deaktivieren!«
Mit einem Ruck drehte Artus den Kopf und erfaßte die Jim-Smith-Gestalt des Gestaltwandlers
mit seiner Optik.
»Bei Menschen ist Gewalt immer die Handlungsoption des hoffnungslos Unterlegenen.«
»Ich bin kein Mensch«, gab Gisol empört zu bedenken. »Aber ein organisches Lebewesen mit
mangelhafter Formkonsistenz. Und in diesem Fall gilt meine Aussage ebenfalls.«
Der Gleiter steuerte auf einen bestimmten Punkt oberhalb der hochhausgroßen Aggregate zu.
Nautas Finger glitten über die Steuerung.
Ren Dhark nahm an, daß er ein Signal abstrahlte. Einen Augenblick später öffnete sich in der
felsigen Höhlenwand ein bis dahin unsichtbares Hangarschott. Optisch war es nahezu perfekt an
die Struktur der Wand angepaßt. Der Gleiter flog hinein, bremste ab, verringerte schließlich die Flughöhe und landete sanft auf dem Boden. Ein paar weitere Gleiter waren hier zu finden, zumeist Transport- und Mannschafts schweber. Nauta drehte sich in seinem Kontursitz herum. Er wandte sich an Gisol. »Sie haben jetzt Gelegenheit, sich das Kontrollzentrum dieser Anlage anzusehen. Von dort aus wird auch der Transmitter bedient.« »Danke. Daraufbin ich schon sehr gespannt«, erklärte der Wor-gun. Nacheinander stiegen sie aus dem Gleiter. Nauta und Laetus führten die Gruppe an. Nur wenige Augenblicke später erreichten sie jenes Schott, durch das man zum Kontrollzentrum gelangen konnte. Über ein Terminal gab Nauta einen Sicherheitscode ein. Eine Stimme forderte ihn daraufhin auf, in Richtung des Schotts zu blicken und seinen Namen zu nennen, damit Iris- und Stim-muster aufgezeichnet werden konnten. Augenblicke später öffnete sich das Schott. »Folgen Sie mir!« sagte Nauta. Gisol, Artus und der Commander gingen hinter den beiden Römern durch einen Korridor. Schließlich erreichten sie ein weiteres Schott. Hier mußte erneut ein Autorisationscode eingegeben werden. Außerdem wurde die Identität mit Hilfe einer telemetrischen Abtastung überprüft. Laetus nahm diese Hürde ohne Probleme. Es erschien eine kleine Projektion, die das Gesicht eines Römers zeigte. »Salve, Laetus«, begrüßte dieser den Akademiepräsidenten. »Salve, Venitius. Ich möchte mit einigen Gästen die Steuerzentrale dieser Anlage besichtigen.« Venitius neigte leicht den Kopf. »Dein Wunsch sei mir Befehl, Gelehrter«, erklärte er auf eine Weise, die nicht nur respektvoll war. Die Akademiepräsidenten scheinen auch hier höchste Befehls 224
'ewalt zu genießen, ging es Ren Dhark durch den Kopf. Und daß, obwohl dieser unterirdische Industriedom mit der Akademie nun wirklich kaum etwas w tun haben dürfte. Vielleicht solltest du nicht von den Gegebenheiten deiner eigenen Heimat ausgehen, wo die wirklichen Entscheidungen kaum von Wissenschaftlern getroffen werden, sagte er sich. Auf der Erde stand die Wissenschaft im langen Schatten der Politik und des Militärs. Seit Jahrtausenden war das so. Offenbar hatten die Römer von Terra Nostra, was diesen Punkt anging, einen anderen Weg gewählt. Das Schott öffnete sich. Laetus und Nauta traten in die Zentrale ein. Ren Dhark und Gisol wechselten einen kurzen Blick. Artus hingegen zögerte nicht eine Sekunde, bevor er den beiden Akademiepräsidenten folgte. »Faszinierend«, raunte Gisol in Dharks Richtung. »Diese Anlage ist um vieles modemer als alles, was ich aus der Schöpfung meines Volkes kenne. Die Römer scheinen die Worguntechnik tatsächlich erheblich weiterentwickelt zu haben.« Hinter ihnen schloß sich das Schott wieder selbsttätig. Dhark ließ den Blick schweifen. Die Zentrale hatte die Form eines Ovals. Etwa ein Dutzend Ingenieure in grauen Tuniken verrichteten hier ihren Dienst. Dhark erkannte jenen Mann wieder, der sich Venitius genannt hatte. Der ging auf Laetus und Nauta zu. Er verneigte sich leicht, begrüßte sie mit der allergrößten Ehrerbietung. Anschließend wandte er sich den Gästen der Akademiepräsidenten zu. »Ich bin Chefingenieur Venitius«, erklärte er. »Von dieser Zentrale aus wird einer der größten Industriekomplexe auf Terra Nostra gesteuert. Im Grunde arbeiten die Anlagen vollkommen automatisch, allerdings behalten wir uns die letzte Kontrolle vor, was Ihnen sicher einleuchten wird.« »Ich interessiere mich vor allem für die Transmittertechnologie mit der es möglich ist, eine Sonne anzuzapfen«, sagte Gisol. Venitius hob erstaunt die Augenbrauen. Dann wandte er einen fragenden Blick in Richtung der Akademiepräsidenten. 225
»Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie unserem Gast einen Einblick in dieses Gebiet
verschaffen«, erklärte Nauta. Ve-nitius nickte leicht.
Offenbar sind Nauta und Laetus die maßgeblichen Instanzen, die derartige Entscheidungen zu
treffen haben, erkannte Ren Dhark.
Was den Umfang dieser Autorität anging, wurde der Comman-der der Planeten jedoch immer
wieder in Erstaunen versetzt.
Wir werden diese Kultur wohl noch etwas länger beobachten müssen, um genauer beurteilen zu können, welche Rolle die beiden eigentlich spielen, überlegte er. Gewiß gab es auch innerhalb der Römergesellschaft Machtkämpfe und Interessengegensätze, und bevor man sich festlegte, auf welche Seite man sich schlagen sollte, war es gewiß besser, die Situation genau analysiert zu ha ben. Venitius wandte sich an einen seiner Leute. Es handelte sich um einen grauhaarigen Mann, der wie alle anderen, die in der Zentrale Dienst taten, eine einheitliche graue Tunika trug, an deren Schulter sich mit Symbolen versehene Plaketten befanden. Dienstabzeichen möglicherweise. »Das ist Gaius Treverius, unser Spezialist auf dem Gebiet der Transmittertechnologie. Er wird Ihnen sicher einige wertvolle Erläuterungen geben können«, erklärte Venitius. »Scheuen Sie sich nicht, mir Fragen zu stellen«, sagte Treverius, als er sich Gisol näherte. »Sofern irgendwelche Regeln der Geheimhaltung mir bei der Beantwortung Ihrer Fragen Grenzen setzen, werde ich Sie davon schon in Kenntnis setzen.« Gisol atmete tief durch. »Ich hätte schon eine ganze Reihe von Fragen.« Die beiden bewegten sich auf eine Konsole zu. Gaius Treverius aktivierte eine Projektion, die eine schematische Darstellung der gesamten Anlage zeigte. Artus gesellte sich zu ihnen. Gaius Treverius bedachte den Roboter mit einem Blick, der deutliches Befremden ausdrückte. Nauta bemerkte dies. 226
»Bei unseren Gästen ist es offenbar üblich, auch Robotern Bürgerrechte zu verleihen, Gaius
Treverius. Dies mag Sie so sehr wundem, wie es mich erstaunt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten es
mit einer intelligenten Lebensform zu tun. Mit einem Menschen oder einem Worgun.«
»Ich bin eine intelligente Lebensform«, ereiferte sich Artus. »Und was den meßbaren IQ angeht,
dürfte jeder von euch, der sich hier im Raum befindet, nur den Bruchteil meiner Fähigkeiten be
sitzen.«
Nauta lächelte ironisch. »Und doch sind Sie hier, weil Sie sich für unsere überlegene Technologie
interessieren«, stellte er fest.
Artus neigte den Kopf etwas zur Seite. »Ich bin in den meisten Parametern keineswegs
repräsentativ für die Bewohner meines Heimatplaneten. Als jemand, der sich dem Planeten Erde
und seinem Schicksal sehr verbunden fühlt, kann ich dazu nur sagen: leider!«
Gaius Treverius. und Gisol vertieften sich in ein Gespräch über die Weiterentwicklung der
Worgun-Transmittertechnologie. Mit Hilfe verschiedener Projektionen gab Gaius Treverius
seinem Gast einen Einblick, der diesen in unverhohlenes Staunen versetzte.
Artus hingegen nahm an diesem Gespräch eher zuhörend teil. Möglicherweise war das seine Art,
Erstaunen zu zeigen. An den starren Zügen seines Roboterkopfes ließen sich irgendwelche Re
gungen jedenfalls nicht ablesen.
Ren Dhark wandte sich an Venitius.
»Dies ist eine Anlage zur Herstellung vom Kampf schiffen, nicht wahr? Hier könnten
massenweise Ringraumer produziert werden?«
Wieder wandte Venitius zunächst den Blick in Richtung der beiden Akademiepräsidenten. Als
diese nickten, antwortete er: »Das ist richtig. Wir wären durchaus in der Lage, innerhalb
kürzester Zeit eine große Flotte zu produzieren und in Dienst zu stellen.«
»Das Problem ist das fehlende Ala-Metall.«
»Ja.«
227
»Ich habe gesehen, daß ein Großteil der Anlage nicht in Betrieb ist, jedenfalls wirkte das so.«
»Auch das ist korrekt.« Venitius wirkte etwas hilflos.
Laetus ergriff daher das Wort.
»Die Produktion einer großen Flotte macht einfach keinen Sinn, Commander Dhark. Jedenfalls
nicht, solange wir nicht ausreichende Ala-Lagerstätten erschließen können. Darum ist ein Groß
teil der unterirdischen Werften nicht in Betrieb. Es ist traurig, aber wahr. Ohne diesen verfluchten
Mangel an Betriebsstoff könnte unsere Situation gegenüber den Zyzzkt ganz anders aussehen.«
Und Nauta ergänzte: »Wir wären nicht mehr in der Gefahr, ebenfalls eines Tages von den Zyzzkt
versklavt zu werden, so wie der Rest der Galaxis. Einen gewissen Schutz bietet uns die Wolke
Gardas, aber für wie lange noch? Wir sind eingekreist, leben auf einer kleinen Insel der Freiheit
in einem Meer der UnterdrÜkkUng.«
Alles hängt an diesem Metall, dachte Ren Dhark. Und die den Terranern zugänglichen
Lagerstätten schienen so etwas wie ein Fanal der Hoffnung für die Römer geworden zu sein,
zumindest was Laetus und Nauta betraf. Laetus wandte sich an Venitius.
»Erläutern Sie unserem Gast bitte die Produktionsvorgänge.«
Venitius wirkte etwas überrascht. Offensichtlich war es ungewöhnlich, daß ein Fremder in diese
Zentrale gelassen wurde und daß ihm dann auch noch - zumindest teilweise - technische Ge
heimnisse enthüllt wurden.
Sie folgten Venitius an eine Konsole. Der Ingenieur aktivierte eine Projektion, mit deren Hilfe er
zu erläutern begann, auf welche Weise diese Anlage dazu imstande war, eine Flotte zu bauen.
Nicht alles begriff Ren Dhark dabei, aber darauf kam es im Augenblick wohl auch nicht an.
Was bezwecken Laetus und Nauta mit dieser Vorführung? überlegte er. Offenbar wollen sie mich
davon überzeugen, daß die Reden von einer großen Flotte, der nur das Toßrit fehlt, der Wahrheit
entsprechen.
228
Die Akademiepräsidenten hatten bis jetzt wohl den Eindruck gewonnen, daß Ren Dhark sie in diesem Punkt noch nicht zur Genüge ernst nahm. Bei allem Vertrauen, das sie dem Terraner entgegenbrachten, so enthüllten sie ihm doch nur gerade so viel ihres technischen Wissens, daß ihre Aussagen bezüglich eines Flotten-»aus plausibel klangen. Dhark hörte die meiste Zeit über zu und fühlte während Ve-litius' Ausführungen die Blicke der beiden Akademiepräsidenten iuf sich ruhen. Das Toßrit, dachte er einmal mehr. Auf diesen Punkt werden sie früher oder später wieder zurückkommen.
Turr-Aan hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr gemeldet. Und da nicht anzunehmen war, daß er sich freiwillig aus dem Staub gemacht und irgendwo in den Tiefen elektronischer Schalt kreise auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, konnte es nur bedeuten, daß er noch immer mit seiner Analyse beschäftigt war. Huxley bewegte unbehaglich die Schultern. Irgendwie fühlte er sich beengt in dem Raumanzug, den er und die anderen mittlerweile angezogen hatten, eine rein subjektive Empfindung. An sei nem Sitz konnte es nicht liegen; er war, wie alle in der Leitzentrale, groß genug, um auch einen sehr großen Mann aufzunehmen. Wobei sich die Raumanzüge aus der Fertigung nogkscher Meegs erheblich von den klobigen Schutzhüllen früherer Zeiten unterschieden. Sie bestanden aus extrem dünnem, reißfestem und dennoch äußerst elastischem Material. Durch eingearbeitete Nanoele-mente ließen sich die neuralgischen Punkte mit einem Tastendruck so verstärken, daß man mit einer Bodenraupe darüber fahren konnte, ohne den Träger dadurch zu verletzen. Sie waren fast vergleichbar mit den Mysterious-Anzügen an Bord der POINT OF. Huxley blickte leicht müde auf das Systemschema, das ihm sein Konsolenschirm zeigte. Als der Sonnentaucher vor Stunden aus 229
der Korona Gerets zurückgekommen war und sein Danaergeschenk mit an Bord gebracht hatte,
hatte er bereits zwei reguläre Vierstundenschichten abgeleistet. Auch als die geheime Bespre
chung mit Chief Erkinsson vor etwa zwei Stunden zu Ende gegangen war, bot sich ihm keine
Gelegenheit, ein wenig zu schlafen.
Seine Augen lösten sich vom Konsolenschirm und richteten sich auf die große Allsichtsphäre, die
im Augenblick nur die Ansicht der Bugfelder bot.
Die Situation in der CHARR hatte sich lange nicht verändert.
Jetzt tat sie es.
Übergangslos liefen die Ereignisse rasend schnell ab.
Zusätzliche Sichtschirme flammten auf, zeigten die Umgebung des Ellipsenraumers. Instrumente
erwachten geschäftig zum Leben. Serien von Lichtern auf der Haupt- sowie der Navigations
konsole begannen aufzuflammen und zeigten ihre Bereitschaft.
Huxley setzte sich in seinem Schwenksessel kerzengerade auf.
»Mister Maxwell!« kam seine schneidende Stimme. »Stellen Sie das ab!«
Der Zweite Offizier und Navigator warf sich aus dem Sessel nach vorne. Seine Finger flogen in
einer nichts weniger als überflüssigen Geste über die Sensortasten der Konsole.
»Keine Chance. Skipper. Alles blockiert. Eine manuelle Übernahme der Steuerung scheint
ausgeschlossen.«
Noch während er das sagte, liefen in der Tiefe der CHARR Maschinen an. Eine künstliche
modulierte Stimme - nicht die Turr-Aans - spulte ein Programm ab: Vorbereitungen für einen
automatischen Start.
»Was ist los bei euch oben?« Chief Erkinssons verärgertes Organ meldete sich aus dem
Maschinenleitstand. Die offene Phase der zentralen Bordverständigung trug seine Stimme durch
das ganze Schiff. »Wer hat mich da von meiner Konsole getrennt? Ich bekomme keinen Zugriff
mehr. Colonel, was soll das? Oh, verdammt...«
Aus einer offenen Phase kam ein hallender Ton.
230 Und im gleichen Augenblick nahm die CHARR Fahrt auf.
Auf der Allsichtsphäre und den im Ringverbund zusammengeschalteten Außenschirmen der
Leitzentrale sah man Geret I zurückweichen, sah, wie der Planet kleiner wurde und rasch unter
dem Ellipsenraumer zurückblieb: Die CHARR entfernte sich nahezu senkrecht aus der
Umlaufbahn der Planeten.
»Wir verlassen das System und bewegen uns mit hoher Geschwindigkeit« , meldete Henroy.
Wenig später war die Sonne Geret nur ein Lichtpunkt unter unzähligen anderen.
Spannung knisterte förmlich in der Leitzentrale; sie sprang von einem zum anderen über und
entlud sich hin und wieder in einem erbitterten Fluch.
Lee Prewitt räusperte sich zornig, blickte auf das unbewegliche Profil des Colonels und sagte
halblaut: »Verdammt. Jetzt hat er es doch geschafft!« Und es war jedem klar, wenn er mit »er«
meinte.
»Sieht so aus«, bestätigte Huxley.
»Wie konnte er die CHARR in seine Gewalt bringen?«
»Wir sind von falschen Voraussetzungen ausgegangen«, beantwortete der Colonel Maxwells
Frage. »Alle unsere ausgeklügelten Sperrcodes und Sicherungen hatten den Zweck, daß niemand
von außen Zugang zu den Steuerkontrollen erlangen konnte. Gegen eine Beeinflussung von innen
heraus ist nichts Vergleichbares entwickelt worden. Ein Fehler mit fatalen Folgen. Es war nur
eine Frage der Anpassung für Turr-Aan, bis er herausfand, wie er das Schiff führen konnte.«
»Für eine organische Einheit denkst du erstaunlich logisch«, ließ sich die Kl erstmals wieder
vernehmen.
Lee Prewitt öffnete den Mund, aber eine Handbewegung des Colonels stoppte ihn.
»Logik ist nicht ausschließlich nur eine Aneinanderreihung von Megabyte-Gruppen in
Speicherbahnen, von Schaltvorgängen, die Datensequenzen verschieben, verändern, subtrahieren
und neu anordnen«, stellte Huxley klar.
231
»Dennoch seit ihr nicht mit mir zu vergleichen. Ihr braucht eine Atmosphäre, um leben zu
können, Nährstoffe, Ruhepausen. Ihr seit schwächlich, verletzlich und leicht zu eliminieren...«
Das bist du auch, dachte Huxley. Wart's nur ab. Wir brauchen lediglich den richtigen Ansatz, um
dich aus dem System zu werfen.
»... und ihr habt mich hinter gangen. Zum zweiten Mal. Ich bin sehr wohl in der Lage, dieses
Schiff ohne euch zu steuern.«
»Welches Ziel steuerst du an?« fragte Huxley, ohne auf Turr-Aans Bemerkung zu reagieren. »Das werdet ihr erkennen, wenn ich den Endpunkt erreicht habe.« Turr-Aan schien sich ausgeklinkt zu haben. Es kam nichts mehr von ihm. Minutenlang dauerte das Schweigen. »Heilige Galaxis...«, sagte plötzlich Lee Prewitt halblaut und starrte auf seine Konsole. Sein Verstand schien sich zu weigern, das Geschehen zu verarbeiten. »Wenn ich den Anzeigen trauen darf, werden wir in Kürze in den Hyperraum springen!« Huxley nickte knapp. »Das sehe ich auch so.« »Aber wohin springen wir?« »Irgendwo dorthinaus«, antwortete Huxley aufPerrys Frage und deutete auf die Sichtschirme. »Ich wünschte, ich wüßte es, aber ich habe so wenig Ahnung vom Ziel wie jeder andere hier an Bord.« Tief im Schiff erwachte der Hyperantrieb. Huxley und die Besatzung der Leitzentrale ließen die Sichtschirme nicht aus den Augen. Zum ersten Mal während ihres Dienstes auf der CHARR erlebten sie eine Transition, bei der sie gänzlich zur Passivität verdammt waren. Die Systemrechner, die im Grunde eine interstellare Navigation erst ermöglichten, hatten die Besatzungen von Raumschiffen längst schon auf den Status von Beobachtern reduziert, die nur im äußersten Notfall in das Geschehen eingriffen. Doch nun hatte ihnen eine Künstliche Intelligenz das Heft komplett aus der Hand genommen; zur Untätigkeit verdammt, mußten sie mit ansehen, wie die CHARR sich anschickte, den Normalraum zu verlassen, 232
um sich an einen Ort zu begeben, der ihnen unbekannt war. Für einen kurzen Moment sah man auf den Rundumfeldem der Allsichtsphäre, wie sich ein feiner Schleier um das golden schimmernde Ovoid verdichtete. Ob das Auswirkungen der Zeitdilatation waren? Im hyperrelativistischen Geschwindigkeitsbereich, also bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit, geschahen ja mitunter die merkwürdigsten Dinge, ging die Rede. Die tollsten Geschichten kursierten in den Kneipen und Bars rund um jeden Raumhafen, wenn diese auch zu fast 100 Prozent jenem Bereich zugeordnet werden mußten, den man allgemein als »Raumfahrerlatein« apostrophierte. Außerdem hatten es die nogkschen Wissenschaftler, die Meegs, fertiggebracht, diese normalerweise nicht zu umgehenden Nebeneffekte zu eliminieren. Die Transitionen nogkscher Schiffe verliefen ebenfalls gänzlich anders. Schiffe aus terrani-schen Werften mußten noch immer knapp auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, um ohne allzu große Energie Verluste das Normalkontinuum verlassen und in Transition gehen zu können. Der »Sprung« der nogkschen Eiraumer durch den Pararaum hingegen wurde durch gewaltige, von einem Rechnerverbund im Maschinenleitstand gesteuerte Konverterbänke eingeleitet, die das Schiff mittels Polaritätswechsel mit einer Antisphäre umgaben. Als Fremdkörper wurde diese augenblicklich aus dem Normaluniversum ausgestoßen, mit allem, was sich in ihrem Innern aufhielt. Durch abermaliges Wechseln der Polarität konnten die Raumschiffe der Nogk ohne zeitlichen Verzug in das Einsteinkontinuum zurückkehren. Die Transitionen verliefen so unspektakulär, daß von den Besatzungen keinerlei besondere Vorkehrungen getroffen werden mußten; üblicherweise arbeitetet man in den anderen Abteilungen einfach weiter. »Was sollen wir unternehmen, Kommandant?« fragte Lee Prewitt, der längst nicht so ruhig war, wie es den Anschein hatte. Huxley schwieg. Dann sagte er lakonisch: »Warten! Mehr können wir nicht tun.« 233
13. Die Transition der CHARR verlief so unspektakulär wie alle vorherigen unter der Leitung der menschlichen Besatzung auch. Gerade eben noch standen die Sonnen auf dem in Sektoren eingeteilten Allsichtschirm. Sekundenbruchteile später verloschen die Sterne. Der Fünfhundertmeterraumer verwischte zu einem diffusen Nebelfleck, verschwand aus dem Normaluniversum - und kehrte fast im selben Augenblick wieder in das gewohnte Kontinuum zurück. Kaum war die stemenflimmernde Kulisse erneut auf den Sichtsphären zu sehen, sprang die CHARR schon wieder. Und ein drittes Mal. Dann blieb sie im Normalraum; mit welcher Geschwindigkeit sie sich bewegte, blieb Spekulation. Jeder in der Leitzentrale mißtraute den Anzeigen. Zu Recht vermutlich. Der erste Laut, den Huxley hörte, war das verhaltene, aber eindeutig ärgerliche Fluchen seines Zweiten Offiziers. »Zur Hölle, wo sind wir?« Der 11.0. deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hauptsichtsphäre, die ohne Verzerrung die Umgebung des Schiffes wiedergab. Seine Frage schien berechtigt zu sein. »Etwa in einer anderen Galaxis?« fragte John Butrovich mit gepreßter Stimme und starrte auf die Schirme, ohne zu begreifen, was er sah. Sein Verstand schien sich zu weigern, das, was er zu Gesicht bekam, zu verarbeiten, es richtig einzuordnen. »Nein«, stellte Huxley richtig. »Sehen Sie doch hin!« Jeder Raumfahrer kannte eine Unzahl unterschiedlicher Sternbilder und auch deren Verschiebungen, wenn sie nicht von Terra, sondern von anderen Bereichen des Alls aus betrachtet wurden. Die Rundumbilddarstellung der Allsichtsphäre machte es deutlich: Man war noch in der heimatlichen Milchstraße. Auf den Heckfeldem breitete sich der innere Bereich der Galaxis aus, dicht mit Sternenschwärmen gepackt, deren Leuchten teil 234
weise von ausgedehnten interstellaren Nebeln gedämpft wurde. Im Igalaktischen Süden schwang sich quer durch das Blickfeld ein Spi-|ralarm, dessen Konstellationen ohne eine genaue Positionsbe-Istimmung nicht herauszufinden waren. ' »Nein«, wiederholte der Colonel noch einmal. »Keine andere Galaxis, aber in einem Teil unserer Sterneninsel, der noch relativ wenig erforscht zu sein scheint. Also kein Grund zur Panik.«
»Ihre Ruhe möchte ich haben, Kommandant«, brummelte Butrovich kopfschüttelnd. |/ »Gern«, versetzte Huxley lakonisch, »wenn Sie auch gleichzeitig meine Verantwortung mit übernehmen. Ich würde mich dann erheblich besser fühlen, als ich es zur Zeit tue.« John Butrovich hob im gespielten Entsetzen die Hände. »Um Himmels Willen!« rief er aus. »Selbst wenn ich könnte, würde ich diese Position auf keinen Fall einnehmen wollen!« Huxley schüttelte tadelnd den Kopf und grinste verhalten. »Sie haben nicht das richtige Verhältnis zur Macht, Funker Butrovich«, ließ er ihn wissen. »Andererseits wäre Ihnen vermutlich Ihr unmittelbarer Vorgesetzter massiv im Weg...« »Die Schirme!« Perry hatte sich wie elektrisiert aus dem Sitz aufgerichtet und deutete auf den großen Hauptschirm, dessen konkave Krümmung den gesamten bugwärts gerichteten Teil der Leitzentrale einnahm. Mit angehaltenem Atem bemerkten die Männer einen Vorgang, der sich langsam und lautlos abspielte. Die Allsichtsphäre, sonst ein transparentes, unmerklich golden flimmerndes Feld von erheblichem Ausmaß, begann sich zu trüben. Das stechende Licht der Sterne verblaßte und verschwand schließlich ganz. Auch die Nebenschirme in der Zentrale, auf denen sonst Außenansichten zu sehen waren, unterlagen der gleichen Prozedur. »Was geschieht da, Sir?« »Was wohl, Henroy«, sagte Maxwell an Huxley s Stelle. »Unser Freund möchte wieder einmal seine Überlegenheit demonstrieren, oder uns nicht wissen lassen, welchen Weg die 235 CHARR einschlägt.«
Übergangslos fielen die Außenschirme ganz aus.
»Ich bin nicht Freund. Ich bin Turr-Aan«, drang die laute Stimme der Kl aus den Tonphasen.
»Ich wollte mich schon erkundigen, ob es dich überhaupt noch gibt«, sagte Huxley. »Jetzt
erübrigt sich das ja. Warum der Ausfall der Sichtschirme?«
Turr-Aan gab darauf keine Antwort. Statt dessen sagte er:
»Meine Auswertung der Biomed-Daten eures Zentralrechners hat ergeben, daß sich viele von euch Organischen an einen Ort zurückgezogen haben, zu dem ich keinen Zugang bekomme. War um?« Huxley schwieg einen Augenblick; hinter seiner Stirn rasten die Gedanken, dann erinnerte er sich an eine Bemerkung der Kl. »Wir Organischen erschöpfen unsere Energien, während wir leben und arbeiten. Ohne regelmäßige Regenerationsintervalle sterben wir. Deshalb haben wir einen Platz, an dem wir uns erholen. Dieser Ort ist jener, den du erwähnt hast. Um jegliche Störungen während unserer Erholungsphase zu vermeiden, ist die Anlage nicht in das schiff sinteme Computemetz integriert.« »Warum soll ich dir das glauben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Huxley, seltsam erheitert. »Es ist so. Mehr kann ich nicht sagen.« »Unbefriedigende Antwort, Huxley-Mensch. Deshalb werde ich dich zwingen, mir Zugang z.u jenem Ort des Schweigens w verschaffen.« »Wie willst du das anstellen?« Schweigen. Huxley wiederholte seine Frage. Doch von Turr-Aan
kam keine Antwort.
Aber von anderer Seite.
Etwa zwei Stunden später verließen Laetus, Nauta und ihre Gäste die Steuerzentrale des
Industriedoms wieder. Sie bestiegen den
236 Gleiter und verließen die unterirdische Maschinenwelt über dieselbe Rampe, durch die sie
hineingelangt waren.
Nauta ließ den Gleiter einen Bogen über die Parklandschaft fliegen.
»Darf ich fragen, warum wir keinen Transmitter benutzen?« fragte Artus in die nachdenkliche
Stille hinein. »Schließlich habe ich gesehen, wie fortschrittlich eure Transmittertechnologie ist.
Selbst die Worgun hätten sich davon eine Scheibe abschneiden können, und nun fliegen wir mit
einem vergleichsweise primitiven Gefährt in der Luft herum.«
Nauta lachte. »Ich nutze jede Gelegenheit, um das zu tun.«
»Aber warum?« hakte Artus nach.
»Offenbar ist Ihre Fähigkeit, Emotionen zu empfinden, doch nicht so ausgeprägt, wie Sie
behauptet haben, Artus«, erwiderte Nauta.
»Irre ich mich oder beinhaltet diese Feststellung einen unterschwelligen Ausdruck der
Geringschätzung?«
»Keineswegs. Aber sehen Sie nicht diese phantastische Landschaft? Artus, das ist ein Fest für die
Augen! Liegt der Fall bei Ihrer Robotoptik anders?«
»Möglicherweise ist es mir noch nicht gelungen, eine genügende emotionale Bindung zu dieser
Landschaft aufzubauen, um deine Aussage nachvollziehen zu können, Nauta«, erwiderte er.
Laetus wandte sich kopfschüttelnd an Ren Dhark.
»Ich weiß nicht, ob es wirklich sinnvoll war, einem Roboter die Fähigkeit zu geben, Emotionen
zu empfinden. Das gibt doch nur ein großes Durcheinander, finden Sie nicht?«
»Die Tatsache, daß Artus Emotionen empfinden kann, entspringt einem Zufall«, erklärte Dhark.
»Und ich glaube nicht, daß in absehbarer Zeit irgend jemand auf der Erde die Absicht hat,
derartige Experimente zu wiederholen.«
»Eine Tatsache, die ich nur bedauern kann«, erklärte Artus. »Denn leider fehlt mir die Fähigkeit
der Selbstvermehrung.«
»Mehr als nur ein kleiner Schönheitsfehler für jemanden, der
237 sich als so etwas wie die Fortsetzung der menschlichen Evolution betrachtet, oder?« mischte sich
Gisol ein.
Artus vollführte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf. Seine Optik musterte den Worgun.
»Ich bin nicht die Fortsetzung der menschlichen Evolution. Ich bin etwas völlig anderes.«
Laetus war dieser Diskussion offensichtlich überdrüssig. Er wandte sich an Ren Dhark, beugte
sich ein wenig vor und sprach mit gedämpfter Stimme.
»Sie haben gesehen, Commander Dhark, daß wir ohne weiteres in der Lage wären, die Zyzzkt
vernichtend zu schlagen. Die Kapazitäten hätten wir. Ringraumer von einem technischen Niveau,
das die Einheiten der Worgun in den Schatten stellt, auch jedes Ihrer Schiffe.«
»Ja, ich weiß«, nickte Ren Dhark.
»Ich hoffe, daß Sie erkannt haben, daß ich nicht übertreibe.«
»Das habe ich.«
»Es hängt einzig und allein an jenem Metall, das wir Ala nennen und Sie Tofirit. Sie sollten sich
überlegen, ob Sie sich nicht auf unsere Seite schlagen, Commander Dhark. Wir sind natürliche
Verbündete, die Erde und Terra Nostra. Es gibt einen gemeinsamen Ursprung, das wissen Sie.
Unsere Bevölkerung stammt von Ihrem Planeten. Uns verbinden gemeinsame kulturelle Wurzeln
und ein gemeinsamer Feind, denn die Zyzzkt werden mit Sicherheit eines Tages auch zu einer
Gefahr für Ihre Heimatgalaxis werden. Davon können Sie sicher ausgehen. Sie machen sich keine
Vorstellung von dieser Bedrohung.«
»Genau deswegen sind wir hier«, sagte Ren Dhark. »Denn wir wollen uns ein Bild machen von
den Verhältnissen in der Galaxis Om.«
»Tun Sie das. Aber warten Sie nicht zu lange, bis Sie zu Ergebnissen kommen. Terra Nostra
konnte sich bislang mit Glück behaupten, aber glauben Sie nicht, daß die paar Millionen
Lichtjahre, die zwischen Orn und der Erde liegen, so etwas wie einen Schutz
238 darstellen! Diese Distanz ist für die Zyzzkt ein Nichts. Sie arbeiten an irgendeinem großen Plan,
und wir kennen ihn nicht. Wir kennen auch die immanente Logik nicht, nach der sie vorgehen,
aber sie existiert. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Und was immer auch der Inhalt dieses
Plans sein mag, eines steht für mich fest:
Für alle zahllosen Lebensformen im bekannten Universum wird er Sklaverei oder Tod bedeuten.«
Laetus hatte mit großer Eindringlichkeit gesprochen. Eine Eindringlichkeit, die auf Ren Dhark
durchaus Eindruck gemacht hatte. Seine Worte schienen einer sehr tiefen Überzeugung zu
entspringen und machten den Commander der Planeten nachdenklich.
Nauta ergriff jetzt das Wort.
»Ich schlage vor, daß wir jetzt einen kleinen Imbiß in der Akademie nehmen. Es sei denn, unsere
Gäste hätten etwas dagegen einzuwenden.«
»Nein, durchaus nicht«, sagte Ren Dhark.
»Vielleicht ergibt sich dabei Gelegenheit für weitere Gespräche«, fuhr Nauta fort. »Wir müssen
uns kennenlernen, uns nach und nach gegenseitig verstehen und schließlich Vertrauen zueinander
aufbauen...«
Der Gleiter erreichte das weiträumige Campusgelände der Akademie. Zahlreiche, harmonisch in die Landschaft eingepaßte Gebäude waren hier zu finden. Eine Säulenarchitektur, wie sie auch für die irdische Antike kennzeichnend gewesen war, herrschte hier vor. Der Gleiter verringerte
die Flughöhe und landete schließlich in der Nähe eines mehrstöckigen Gebäudes. Ren Dhark blickte sich um, nachdem er das Fahrzeug verlassen hatte. Ein lauer Wind strich über die Rasenflächen, die große Teile der parkähnlichen Landschaft ausmachten. Auf den Wegen sah man in Tuniken gekleidete junge Römer daherschlendern. Hier und da saßen Gruppen von Studenten auf dem Rasen, offenbar in 239 heftige Diskussionen verwickelt. Manche von ihnen trugen tragbare, handgroße Rechnermodule
bei sich.
Laetus trat neben Ren Dhark.
»Sämtliche Zweige von Wissenschaft und Kunst werden hier gepflegt«, erklärte er. »Dies ist ein
Ort des Lernens und der Erkenntnis, aber auch der Forschung. Sie haben unsere Produktions
anlagen gesehen, Commander Dhark, aber die Zukunft unseres Volkes entwickelt sich in
Wahrheit hier, genau an diesem Ort -und nicht in den Industriedomen im Untergrund.«
Dhark nickte langsam.
»Da mögen Sie wohl recht haben, Laetus.«
»Das größte Kapital einer Gesellschaft ist das Wissen«, verkündete Laetus.
»Wie wahr!« gestand Dhark gerne zu.
»Es freut mich, daß wir diese Erkenntnis offensichtlich teilen.«
»Bislang habe ich hier auf dem Gelände der Akademie nur junge Männer gesehen«, stellte Dhark
schließlich fest. »Täusche ich mich, oder gibt es hier keine Studentinnen?«
Ein Lächeln glitt über Laetus' Gesicht. »In diesem Punkt scheinen sich unsere Kulturen
tatsächlich in unterschiedliche Richtungen entwickelt zu haben. Wir sind der Ansicht, daß Frauen
andere Aufgaben haben, als sich mit Wissenschaft und Kunst zu befassen. Sie sind die
Hüterinnen des Hauses...«
»... und ausgerechnet was das Haus der Wissenschaft angeht, machen Sie da eine Ausnahme?«
entgegnete Dhark.
Laetus verstand die Ironie in Dharks Worten.
»Sie haben rhetorisches Talent, Commander Dhark. Vielleicht sollte ich Sie bei Gelegenheit mit
einigen der bedeutendsten Lehrer auf diesem Gebiet bekanntmachen!«
»Gerne.«
Wie geschickt er ein strittiges Thema beendet hat! überlegte Dhark.
Über die patriarchale Gesellschaftsstruktur der Römer hatte der Commander ja bereits einiges
erfahren. Das völlige Fehlen von
240
Frauen auf dem Campus der Akademie war ein weiterer Mosaikstein in dieser Hinsicht.
Wenig später betraten sie das Innere des Gebäudes. Offenbar wurde die Gruppe bereits erwartet,
denn ein Mann in einer weißen Toga trat ihnen entgegen und begrüßte die Ankömmlinge freund
lich.
Laetus stellte den Mann als Antonius Marius vor. Er war Dekan der naturwissenschaftlichen
Fakultät.
»Folgen Sie mir«, sagte Marius. »Die Herren Präsidenten haben mir bereits ein entsprechendes
Signal geschickt, und so konnten wir alles für Sie vorbereiten.«
Marius führte sie in einen lichtdurchfluteten, atriumartigen Raum. Die Überdachung bestand zum
Großteil aus durchsichtigen Elementen. Zahlreiche Pflanzen waren hier zu finden. Ein Spring
brunnen plätscherte.
Die Fensterfront bot Ausblick auf die weitläufige Parklandschaft. Ein idyllischer Anblick, dachte
Dhark. So ungefähr müssen sich antike Gelehrte das Paradies der Weisheit vorgestellt haben. Ein
Ort, an dem die Kunst und die Wissenschaft geachtet und gepflegt werden wie sonst nirgendwo.
»Bitte nehmen Sie auf den Schwebefeldern Platz«, sagte Marius. »Schon unsere frühen
Vorfahren bevorzugten es, im Liegen zu essen. Wie man mir berichtete, ist das bei Ihnen
anders?!«
»In dieser Hinsicht passen wir uns für heute gerne Ihren Sitten an«, erklärte Dhark.
Marius neigte höflich den Kopf.
Den Gästen wurden handgroße Module gereicht, mit deren Hilfe sich Antigraviiegekissen
aktivieren ließen. Einzig und allein Artus lehnte es kategorisch ab, sich auf einem derartigen
Antigravkissen niederzulassen. »Pure Energieverschwendung«, maulte er. »Ich werde mich
diesem Exzeß der Ineffizienz nicht anschließen!«
Laetus und Nauta zeigten sich eher amüsiert über diese offensichtliche Geringschätzung
römischer Wohnkultur.
Der Dekan hingegen ignorierte Artus' Bemerkung geflissentlich.
241 »Ein leichtes Mahl wird Ihnen gleich serviert werden«, kündigte Marius an. Und Laetus ergänzte: »Wir möchten keineswegs, daß Ihnen die Speisen zu schwer im Magen liegen. So etwas wirkt sich ungünstig auf jede Art von Gespräch aus. Und schließlich ist das Ziel unserer Zusammenkunft ja unter anderem auch der geistige Austausch.« »Ich persönlich bin auf diese ineffiziente Art und Weise der Energiezufuhr, die man Nahrungsmittelaufnahme nennt, nicht angewiesen«, erklärte Artus ungerührt. Laetus lächelte, wandte sich ihm zu und sagte schließlich: »Da entgeht Ihnen aber einiges, Artus. Wer hätte das gedacht? Ein ganzer Bereich der Kultur, der Ihnen für immer verschlossen bleiben wird.« Artus schien einen Augenblick lang über die Aussage seines Gegenübers nachzudenken. Einer seiner stählernen Greifarme vollführte eine Bewegung nach oben, berührte schließlich das Kinn, beziehungsweise dessen Entsprechung in dem sehr schlichten Gesicht des Großserienroboters. Ein Gesicht, das kaum mehr als angedeutet war, etwa durch die augenähnliche Anordnung der optischen Systeme. »Ist euch eigentlich bewußt, daß der menschliche Verdauungsapparat mehr Nervenzellen enthält als das Gehirn?« fragte Artus schließlich an alle Anwesenden gerichtet. »Ich hingegen würde die Priorität eher auf eine Erhöhung der geistigen Kapazitäten richten.« »Vielleicht können wir einfach das Thema wechseln«, sagte Dhark unwirsch in Richtung des Roboters. Alle Anwesenden nahmen Platz. Gisol wirkte sehr in sich gekehrt und nachdenklich. Die Eindrücke, die er in den Industrieanlagen des Untergrundes gewonnen hatte, schienen ihn noch immer zu beschäftigen. Der Commander beabsichtigte sich später eingehend mit dem Worgun über das zu unterhalten, was sie zu sehen bekommen hat 242 Eine Tür öffnete sich. Mehrere Roboter traten ein, deren huma-noide Gestalt mit dem terranischen Blechmanntypus durchaus vergleichbar war. Eine Parallelentwicklung, die offenbar durch gewisse universelle Gesetze der menschlichen Psyche bestimmt worden |war.
^ Artus beobachtete seine entfernten Verwandten eingehend mit Hilfe seiner sehr präzisen
Optik. Vollkommen automatisch führte
, er einige Analysen durch. Das Bild derartig stumpfsinnig vor sich
| hinarbeitender Roboter schmerzte ihn stets tief in seiner Maschinenseele. Die humanoide Gestalt, die man ihnen gegeben hatte, wirkte wie eine Karikatur. Wie ein böser, grotesker Witz, denn mit organischen Lebewesen hatten sie nicht das Geringste gemein. Sie waren nicht in der Lage, eigenständig zu denken und zu handeln. Sie waren nichts weiter als Werkzeuge. Artus war das sehr wohl bewußt. Aber hatte es nicht auch in der Welt des organischen Lebens eine Entwicklung vom Unbewußten zum Bewußten gegeben? Irgendwann war die Grenze zur Intelligenz überschritten worden. Mechanische Organismen hatten diesen Prozeß offensichtlich zum Großteil noch vor sich. Artus war einer der ersten Schritte in diese Richtung. So sah er sich selbst. Nur wollte offenbar niemand hören, daß er eine Art Fortsetzung der Evolution mit elektronischen Mitteln darstellte. Die Mahlzeit war schmackhaft und leicht. Sie bestand aus Fisch und Salat. Dazu wurde Wein gereicht. Irgendwann kam Laetus dann wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen: das Tofirit beziehungsweise Ala-Metall, wie er es nannte. »Die Lagerstätten von Ala-Metall in der Milchstraße müßten uns die Möglichkeit geben, die Zyzzkt zu besiegen«, erklärte er im Brustton der Überzeugung. »Sie haben unsere industriellen Möglichkeiten gesehen, und ich denke, Sie sollten unser Angebot zur Zusammenarbeit annehmen.« Was soll das heißen? fragte sich Dhark unwillkürlich. Daß die Römer notfalls auch in der Lage sind, allein zu handeln? Vermut 243
lieh. Dank ihrer technologischen Überlegenheit ist das durchaus vorstellbar. Nauta mischte sich jetzt in das Gespräch ein, noch ehe Ren Dhark eine diplomatische Erwiderung hätte vorbringen können. »Unsere historischen Aufzeichnungen über die Milchstraße scheinen nicht besonders genau zu sein«, erklärte er. »Ein Teil unseres Wissens scheint sich im Gewirr der Legenden zu verlieren, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Durchaus«, antwortete Dhark. »Eine dieser Legenden scheint ja die beiden genialen WorgunKonstrukteure Margun und Sola zu betreffen. Unseren Erkenntnissen nach kehrten sie nach Orn
zurück.«
»Ja, das ist richtig«, nickte Nauta. »Es heißt, daß Margun und t Sola die Nachricht damals
verbreiteten, daß der Tod der Galaxis Nai unmittelbar bevor stünde. Eine aus dem Ruder
gelaufene Manipulation des gigantischen Schwarzen Lochs im galaktischen H Zentrum ließ
/ den Untergang der Galaxis Nai als gewiß erscheinen.« |
»Sie kehrten also tatsächlich hierher zurück«, murmelte Gisol. i Er beugte sich etwas vor.
Dieses Thema schien ihn zu interessie- j| ren. »Was wurde aus den beiden?«
|
»Wir wissen es nicht«, erklärte Laetus. »In den Wirren des dart auf folgenden Krieges gegen
die Zyzzkt verlieren sich ihre Spu- | ren.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Andererseits...
die Exi^ stenz Ihres Raumschiffs beweist doch, daß sie nicht bloß eine Legende waren,
sondern wirklich gelebt haben müssen. Sie haben Spuren hinterlassen, und wer kann das schon
von sich behaupten? Spuren, die auch nach Jahrtausenden noch vorhanden sind.«
Einen Augenblick lang machte Laetus eine Pause. Seine Augen wurden schmal. »Wie steht es um
das Schicksal Ihrer Galaxis? Müßte sie nicht längst dem Ende entgegengedämmert sein?«
Nauta ergänzte: »Haben wir es bei Ihnen gar mit Flüchtlingen zu tun?«
»Nein, da irren Sie sich«, erwiderte Dhark.
244 Nauta hob verwundert die Augenbrauen. »Den alten Aufzeichnungen nach bestand kaum eine Chance für den Weiterbestand der Galaxis Nai. Es wäre sehr nett, wenn Sie uns über diesen Punkt weitere Informationen geben könnten.« Laetus erklärte: »Ihre bisherigen Angaben waren in unseren Augen sehr widersprüchlich, wie Sie vielleicht nachvollziehen können. Einerseits berichteten Sie Dinge, die darauf schließen ließen, daß sowohl die Erde als auch die Milchstraße noch existieren. In diesem Fall stünde sie aber kurz vor dem Untergang. Es wäre logisch anzunehmen, daß es sich bei Ihrer Gruppe um Flüchtlinge handelt.« Nauta fuhr jetzt an Laetus' statt fort: »Das ist ein Punkt, der uns sehr wichtig ist und über den wir unbedingt mit Ihnen reden möchten. Wir glauben nämlich nicht, daß Sie die Gefahr für Ihre Galaxis nicht erkannt haben. Dafür ist Ihr technisches Niveau zu hoch. Bliebe nur die Frage, ob es jetzt noch möglich wäre, wenigstens einen Teil der in der Milchstraße vorkommenden AlaMe-tall vorkommen zu sichern. Ihre bisherige Zurückhaltung in dieser Frage macht allerdings wenig Sinn.« Ein dünnes Lächeln erschien auf Laetus' Gesicht. »Möglicherweise können Sie hier für mehr Klarheit sorgen, Commander Dhark.« Dhark nickte. »Gerne. Die Gefahr, von der Sie sprechen, haben wir durchaus erkannt, und sie hat unserer Galaxis tatsächlich beinahe das Ende gebracht. Aber inzwischen ist sie gebannt.« Laetus unterbrach den Commander der Planeten. »Heißt das. Sie haben das geschafft, was selbst den Worgun nicht möglich war? Ist es Ihren Wissenschaftlern und Ingenieuren gelungen, die Manipulationen des Schwarzen Loches im galaktischen Zentrum rückgängig zu machen?« Dhark nickte. »Das ist richtig. Allerdings ist uns dies nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe eines Volkes gelungen, das 245 über außerordentliche Parakräfte verfügt. Ich rede von den Rahim. Sie stammten aus jener Drakhon genannten Galaxis, die als Folge der Manipulationen der Worgun in unser Universum gerissen wurde.« »Es ist unmöglich, eine derartige Manipulation, wie sie seinerzeit im Zentrum Ihrer Galaxis durchgeführt wurde, rückgängig zu machen! Man müßte dafür hinter den Ereignishorizont des Schwarzen Loches gehen - und dort handlungsfähig bleiben!« »Wir bauten spezielle Raumschiffe aus Tofirit, die uns einen kurzfristigen Sprung hinter den Ereignishorizont ermöglichten«, erwiderte Dhark sachlich. »Die Parakräfte der Rahim sorgten dann dafür, daß diese Schiffe dort beinahe nach Belieben manövrieren konnten.« Laetus und Nauta waren wie elektrisiert. »Jetzt ergibt manches einen Sinn!« stieß Laetus hervor. »Wir dachten, daß Sie uns die Tatsache, Flüchtlinge zu sein, verheimlichen wollten«, ergänzte Nauta. »Aus welchem Grund hätten wir das tun sollen?« fragte Dhark. Nauta zuckte mit den Schultern. »Bei einer ersten Kontaktaufnahme klopft man den jeweiligen Partner zunächst einmal vorsichtig ab. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus, und vor allem offenbart man möglichst keine Schwä chen. Selbstverständlich ist Ihre Position wesentlich stärker, wenn hinter Ihnen eine raumfahrende Zivilisation steht, die eine Zukunft besitzt.« »...und nicht nur die Trümmer einer Galaxis. Meinen Sie das?« vollendete Dhark den Satz seines
Gegenübers.
Nauta nickte zögernd. »Ja.«
»Und Sie möchten an unsere Tofiritlagerstätten heran«, stellte Dhark fest.
»Wir haben nicht vor. Sie Ihnen gewaltsam wegzunehmen«, berichtigte Laetus. »Im übrigen
wären wir dazu auch gar nicht in der Lage. Nein, ursprünglich dachten wir, daß die Katastrophe
in Ihrer Galaxis vielleicht noch nicht so weit fortgeschritten sei und noch
246 die Möglichkeit bestanden hätte, einige Ladungen Tofirit nach Om zu bringen. Das hätte uns zumindest für den Anfang geholfen.« »Für Sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, erklärte Gisol, der eine ganze Weile geschwiegen hatte. »Schließlich wollen Sie Ja einen Krieg gegen die Zyzzkt führen.« l? Laetus senkte den Kopf. »Wir würden kaum genügend Tofirit in die Gardas-Wolke bringen können, um diesen Kampf durchzustehen.« »Nicht, wenn Sie eine Flotte von der Größe ausrüsten wollen, wie es die Industrieanlagen im Untergrund vermuten lassen«, bestätigte Dhark. Laetus lehnte sich auf seinem Schwebefeld zurück. Er nickte. Sein Gesicht wirkte nachdenklich. Die Augen schienen ins Nichts zu blicken. »Wie gesagt, es wäre nicht mehr als ein Anfang gewesen. Aber das, was wir jetzt von Ihnen erfahren haben, läßt vieles in einem neuen Licht erscheinen.« Dhark musterte Laetus einen Augenblick lang. Das Gespräch verlief in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Wenn ich nicht höllisch auf der Hut bin, werden wir früher und tiefer in den Krieg hineingezogen, der in Orn wütet, als uns lieb sein kann, wurde ihm klar. Laut sagte er: »Ich fürchte, auch die gesamten Tofiritvorräte Terras könnten Ihre Probleme nicht lösen.« Laetus lächelte. »Da mögen Sie vielleicht sogar recht haben, Commander Dhark, aber darauf wollte ich auch gar nicht hinaus.« »Sondern?« »Wenn es Ihnen im Zusammenspiel mit diesen Rahim tatsächlich gelungen ist, die Manipulation des Schwarzen Loches rückgängig zu machen, wie Sie mir berichteten, dann müssen Sie jenseits des Ereignishorizontes gewesen sein, wenigstens für einige Minuten. Anders ist das nicht vorstellbar.« »Auch das ist richtig.« »Wie ist es Ihnen gelungen, zurückzukehren? Ich nehme an, daß 247
dabei die von Ihnen erwähnten Parakräfte eine Rolle spielten.« »Ja, das stimmt«, entgegnete Dhark. »Aber unsere damaligen Helfer, die Rahim, sind tot. Es besteht keine Möglichkeit eine derartige Mission zu wiederholen.« Dhark hatte vorausgeahnt, in welche Richtung die Gedanken der beiden Akademiepräsidenten gingen. »Aber Sie werden bei der Durchführung dieser Mission Daten erhoben haben. Daten, die uns heute vielleicht helfen könnten«, stieß Nauta geradezu enthusiastisch hervor. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ein eigenartiger Glanz stand in seinen Augen. Er erschien plötzlich von irgend etwas beseelt zu sein. Eine Art Hoffnung. »Es müßte sich um Daten handeln, an die die Worgun nie gelangen konnten. Selbst in Jahrtausenden der Forschung nicht, denn der Ereignishorizont eines Schwarzen Loches stellte auch für sie eine unüberwindliche Grenze dar.« Der Ereignishorizont war eine Art »Punkt ohne Wiederkehr«. Wer sich einem Schwarzen Loch über diese Grenze hinaus näherte, konnte nicht mehr zurückkehren. Alles, was innerhalb dieser Zone lag, wurde unaufhaltsam ins Innere gezogen, um schließlich auf unvorstellbare Weise zusammengepreßt zu werden. Gewaltige Materiemengen riß der dunkle Schlund Augenblick für Augenblick auf diese Weise in sich hinein und vernichtete sie. Selbst das Licht vermochte nicht mehr zu entfliehen. Raum und Zeit wurden für menschliche Sinne auf unvorstellbare Weise deformiert. Alles, was die Worgun darüber gewußt hatten, beruhte auf Spekulationen und Hypothesen. Das selbe galt für die Römer. Mochten diese Hypothesen auch noch so begründet sein und auf mathematischen Überlegungen beruhen, so blieben es doch Hypothesen, nicht mehr. Sie an den realen Daten zu messen, mußte von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert sein. Nauta fuhr fort: »Diese Daten könnten uns endlich den Schlüssel zur Erzeugung von Ala-Metall geben. Es wäre möglich, ein Schwarzes Loch so zu manipulieren, daß es einen Teil seiner 248
Masse ausstößt. Verstehen Sie, Commander Dhark? Wir würden es erleichtern, anstatt es an Masse zunehmen lassen, was in Ihrer Galaxis geschah und beinahe zu der verheerenden Katastrophe geführt hätte.« »Ein Teil dieser ausgestoßenen Materie müßte tatsächlich Tofirit sein«, schloß Gisol, der diesem Gedanken nicht abgeneigt zu sein schien. »Meine Vorfahren gingen davon aus, daß es sich bei dieser exotischen Materie um ein Element handelte, das nur unter den Extrembedingungen eines Schwarzen Loches gebildet worden sein kann. Wobei wir allerdings niemals herausgefunden haben, wie es dieser Materiesenke entkommen konnte.« »Sehr richtig«, stellte Nauta fest. »Aber mit den terranischen Daten könnten wir unser Energieproblem erstmals dauerhaft lösen.« Ren Dhark sah die beiden Akademiepräsidenten entgeistert an. »Um ehrlich zu sein, habe ich bis auf weiteres die Nase voll von Schwarzen Löchern, vor allem dann, wenn sie manipuliert werden. Unsere Galaxis ist deswegen beinahe untergegangen. Wollen Sie jetzt auch die Existenz Orns riskieren?« Dhark schüttelte den Kopf. »Mag sein, daß am Ende dieses Kampfes die Zyzzkt besiegt wären, aber was übrig bliebe, wäre ein galaktisches Trümmerfeld, in dessen Ruinen wohl kaum noch Leben existieren könnte. Jedenfalls nicht in unserem Sinne.« »Sie haben mich mißverstanden«, erklärte Nauta. »Der Prozeß, von dem ich spreche, wäre genau entgegengesetzt zu dem, was in Ihrer Galaxis geschehen ist.« »Sie kennen sich gut aus«, stellte Dhark fest. »Oh, ja. Wir haben uns eingehend mit Ihrer Geschichte befaßt, und damit meine ich nicht nur die Geschichte Ihres Planeten, von dem wir ja abstammen, sondern auch die Geschichte Ihrer Galaxis, die Geschichte der Worgun, deren Kultur wir ebenso fortsetzen wie die des alten Rom.« »Sie wollen also diese Daten von uns?« »Es wäre ein Akt der Freundschaft und der Verbrüderung«, 249
stellte Laetus unmißverständlich klar. »Wir sind natürliche Verbündete, das habe ich Ihnen bereits erklärt. Hunderte verschiedene Völker leiden in Om unter der Unterdrückung durch die Zyzzkt, und wenn die Wolke Gardas uns keinen Schutz bieten würde, wären die Massen vermehrer auch hier auf Terra Nostra. Commander Dhark, wir sind in einer verzweifelten Situation. Und um diese Lage zu ändern, sind wir auch bereit, Risiken einzugehen.« »Risiken, die sich vielleicht als unvertretbar herausstellen könnten« , erwiderte Dhark. Nauta wandte sich an Gisol. »Sie werden uns sicher verstehen.« Der Worgun nickte. »Ja, zweifellos. Nichts würde ich lieber tun, als meinen alten Kampf wieder aufzunehmen. Allerdings kommandiere ich diese Mission nicht.« Laetus lächelte mild. »Das ist uns durchaus bewußt«, erklärte er. Er wandte sich an Dhark. »Wie Sie sehen, spielen wir Ihnen gegenüber mit offenen Karten. Es gibt keine verschlossenen Türen für Sie, Commander Dhark.« »Ja, ich weiß das auch sehr zu schätzen«, erwiderte der weißblonde Terraner. »Wir sind jedoch zunächst einmal nur hier, um uns selbst ein Bild von der Lage in Orn zu machen. Bevor wir nach Terra Nostra kamen, waren wir auf der Suche nach einem festen Stützpunkt, von dem aus wir unsere Erkundungen unternehmen könnten.« »Wir bieten Ihnen zu diesem Zweck Terra Nostra an«, erklärte Nauta. Erneut wunderte sich Dhark darüber, wie weitreichend die Kompetenzen der beiden Akademiepräsidenten waren. Anscheinend konnten sie eine derartige Entscheidung treffen, ohne jemanden zu konsultieren. »Außerhalb von Gardas warten die restlichen Schiffe unserer kleinen Flotte auf uns, Dhark.« Die zehn Schiffe Gisols sowie die S-Kreuzer, die die POINT OF auf ihrer Mission begleitet hatten, befanden sich noch immer au250 ßerhalb der Gaswolke. »Wenn wir Ihren Planeten als Stützpunkt benutzen könnten, würden wir unsere restlichen Einheiten hier gerne versammeln«, sagte Dhark. »Wir werden Ihre Schiffe mit entsprechenden Abschirmungen ausrüsten, so daß sie in Zukunft gefahrlos durch die Wolke fliegen können«, entgegnete Nauta. »Und das auch für den Fall, daß sich andere Lebewesen als Menschen an Bord befinden, denn normalerweise kommen nur Menschen unbeschadet durch das Schutzfeld innerhalb der Wolke.« Laetus ergänzte: »Das ist ein sehr großzügiges Angebot, denn Sie können sich denken, gegen wen unsere Sicherheitstechnik gerichtet ist.« »Gegen die Zyzzkt«, murmelte Gisol. »Genau«, stieß Nauta hervor. »Wenn nur einige wenige von denen nach Gardas eingeschleppt
würden, wäre das vielleicht unser Tod.« »Ihren Vertrauen s Vorschuß weiß ich sehr wohl zu schätzen«, sagte Dhark. »Und Ihr freundliches Angebot, Terra Nostra als eine Art Operationsbasis zu nutzen, nehmen wir gerne an.« 14. Es hatte sich einiges getan in der CHARR.
Nach und nach hatten sich Mannschaft und die einzelnen Teamführer in die FO I zurückgezogen,
gemäß den Anordnungen des Notfallprogramms. Nur die wirklich sensiblen Bereiche blieben
besetzt: Antriebssektion und Leitzentrale.
Mehr und mehr glich die CHARR einem Geisterschiff.
Dennoch blieben Sektionen übrig, in denen Männer erst ihre Arbeit zu Ende brachten, um sich
dann im Forschungsraumer in Sicherheit zu bringen.
Fünf Raumfahrer hielten sich im Lagerraum III A auf.
Vier von ihnen, Salsman, Cirulis, Dembo und Skyl, arbeiteten an den in Regalen verstauten
Energiezellen für den mobilen Einsatz zur Erzeugung von Strom auf Fremdplaneten.
Der fünfte, ein vierschrötiger Schrank von einem Kerl mit Namen Seem Sapinsky, sah nur zu.
Sapinsky war Seniortechniker der Gruppe und überwachte die Tätigkeiten seines Teams mit Ar
gusaugen.
Elektronische Schaltelemente wurden entfernt, überprüft und dann wieder in die Steuerung der
Aggregate eingesetzt. Gelegentlich wechselten die Männer ein paar Worte, aber meistens gingen
die Wartungsarbeiten schweigend vonstatten.
Ganz nach Sapinskys Vorstellungen. Jemand, der sich unterhielt, konnte nicht gleichzeitig eine
verantwortungsvolle Arbeit ausführen. Nun wichen die Meinungen der vier von der Ansicht
Sapinskys ab, aber sie waren klug genug, ihn in seinem Glauben zu bestärken. Das brachte
weniger Probleme.
»Glaubt ihr«, fragte Sapinsky jetzt, »daß ihr heute noch fertig werdet?«
»Krieg dich wieder ein, Seem«, sagte Salsman und schob das Aggregat, an dem er gerade
gearbeitet hatte, ins Regal zurück, wo es von Zuhaltungen unverrückbar arretiert wurde. »Wenn
du brav bist, lassen wir dich heute abend auch mitspielen, nicht wahr,
252 Jungs?« Allgemeine Zustimmung von den anderen.
Sapinsky schüttelte angewidert den Kopf. »Eher fahre ich zur V Hölle, als mir von euch Geiern
beim Kartenspiel das Geld abknöpfen zu lassen. Glücksspiele sind was für den Allerwertesten...«
Salsman zuckte mit den Schultern, klaubte sein Werkzeug zusammen und verstaute es akribisch
im Wandcontainer.
»Willst du uns wirklich keine Gesellschaft leisten?« erkundigte er sich vorsichtshalber noch
einmal.
»Nein!« Das war endgültig.
Und wie um seiner Ablehnung einen Schlußpunkt aufzusetzen, erklang ein hallendes Geräusch
aus Richtung Ausgang.
»He!« rief Dembo. »Irgend ein Dämlack sperrt uns ein!«
Es waren die massiven Zuhaltungen des Schotts, die zugeschnappt waren und den Lagerraum III
A gegen den Rest des Schiffes versiegelten.
»Das haben wir gleich«, versprach Sapinsky grimmig, wuchtete seine Gestalt zum Schott und
postierte sich vor die Sensorplatte, die in Brusthöhe in die Wand daneben eingelassen war. Seine
Finger flogen über die Tastenfelder.
Verflixte Schlamperei, dachte er, wenn ich den erwische, der für die Fehlfunktion verantwortlich
ist, reiße ich ihm den Arsch auf, Zu diesem Zeitpunkt wußte er noch nicht, daß dieser Wunsch nie
in Erfüllung gehen würde. Einer körperlosen Ansammlung von Bits und Bytes, die sich Turr-Aan
nannte, konnte man schwerlich irgend etwas aufreißen.
»Mist«, sagte er laut, als sich seine Bemühungen als fruchtlos herausstellten. »Jemand muß den
Code geändert haben. Warum hat mir keiner Bescheid gesagt?«
Ein leises Zischen wurde gerade so an der Schwelle zum Hörbaren vernehmlich.
»Frag nicht mich, Sapinsky«, erwiderte Salsman, der sich durch den Blick des Seniortechnikers
angesprochen fühlte. »Ich hab hier nichts zu melden. Ha... ?«
Sein Ausruf galt einem Meßgerät, das neben der Sensorplatte in
253 die Wand eingelassen war. Es zeigte den atmosphärischen Druck im Frachtraum an. Die Höhe
des grünen Balkens im Sichtfenster schien sich zu verringern.
»Was ist los?« fragte Sapinsky irritiert.
»Der Luftdruck sinkt.«
»Du spinnst!« .
»Dann spinne ich eben. Deswegen sinkt der Luftdruck trotzdem.«
»Verdammt!« preßte Sapinsky zwischen den Zähnen hervor. »Du hast ja recht.« Und er begann
intensiv auf die Weichplastiktastatur zu drücken.
Das Zischen wurde vernehmlicher.
Mit einem Fluch ließ Sapinsky die Hände sinken. Er starrte auf die B alkenanzeige.
»Wie lautet die Formel?« wandte er sich an Cirulis, der für sein Wissen über atmosphärische
Drücke bekannt war, und versuchte, die leichte Panik nicht nach außen dringen zu lassen.
Cirulis starrte wie hypnotisiert auf die Anzeige, wartete einige Sekunden und rechnete
überschlägig. Dann sagte er: »Etwa eine Stunde, wenn der Druckabfall konstant bleibt und nicht
erhöht wird, von wem auch immer.«
»Wir müssen wohl davon ausgehen, daß unser ungebetener Gast dahintersteckt«, grollte
Sapinsky. »Niemand sonst an Bord bringt wissentlich seine Kameraden in eine lebensbedrohende
Situation. Das kann sich nur ein krankes Computergehim ausdenken.«
»Die Raumanzüge!« Skyl wirkte wie elektrisiert.
»Bleib am Boden, Mann«, schnappte Dembo mit verkniffener Miene. »Hier gibt es keine. Schon
vergessen, wo wir uns befinden?«
»Einen Laserschneider«, sagte Cirulis. »Wir brauchten einen Laserschneider, dann könnten wir
das Mistding einfach aufschweißen.«
»So was gibt es hier drin nicht«, dämpfte Sapinsky Cirulis momentane Euphorie. »Lagerraum IV
B hätte ein autarkes Lichtbo
254
genschweißgerät. Damit ging's ja. Aber dazu müßten wir erst da durch«, er trat mit einem Fluch gegen das geschlossene Schott, um seinem Ärger Luft zu machen. »Ha, ha«, machte Salsman. »Selten so gelacht.« Es war ihm anzusehen, daß ihm absolut nicht zum Lachen zumute war. l »Dreimal verfluchter Bockmist«, sagte Skyl und sein Gesicht wurde bleich. »Wir werden sterben, Mann!« Seine Stimme bekam einen leicht hysterischen Beiklang. »Niemand stirbt hier«, antwortete Sapinsky. »Man wird uns rechtzeitig rauslassen. Die Meldung über die Versiegelung des Schotts ist längst in der Zentrale eingegangen. Die Schiffsführung läßt niemanden im Stich. Man beobachtet uns bereits.« Er deutete an die Decke, wo sich die Überwachungskamera bewegte und auf die Männer herunterstarrte wie das Auge eines Basilisken.
Huxley beugte sich in seinem Sessel nach vome und betrachtete auf dem Konsolenschirm das Geschehen im Lagerraum. Sein Gesicht war eine starre Maske. Wie durch einen Nebel vernahm er die Stimme der künstlichen Intelligenz. »Ich habe herausgefunden, daß ihr Organischen Bewußtseins^ einheilen geprägt seid von so unverständlichen Begriffen wie Ge-^ meinwohl und Sorge um den anderen. Meine Analyse hat mir gezeigt, wie ich euch, wie ich dich, Mensch-Huxley, zwingen kann, mir z.u gehorchen. Höre mein Ultimatum: Ich bekomme Zutritt zu jenem schweigenden Ort, und die fünf Organischen sind frei. Dies hat innerhalb einer Spanne von dreißig jener Zeiteinheiten zu geschehen, die ihr Minuten nennt. Während dieser Zeit reduziere ich den Luftdruck in dem Raum mit den fünf Organischen kontinuierlich, um meinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Kooperiert ihr nicht, wird nach Ablauf des Ultimatums der Raum völlig luftleer sein und die Organischen werden verenden. Dies sagt euch Turr-Aan als letztes.« 255
Die Kl zog sich aus den Audiophasen zurück. Huxleys Blicke richteten sich auf seine Offiziere. Als er in die Augenpaare starrte, erkannte er, daß jedem die fürchterliche Wahrheit dämmerte. Jetzt ging es um die Unversehrtheit von Leib und Leben der gesamten Besatzung, nicht nur der fünf Männer. Sie bildeten nur den Anfang einer Kausalkette. Huxley war Menschenkenner genug, um zu wissen, was ihm und den anderen bevorstand, konnten sie dem unmenschlichen Wahnsinn einer wahnsinnig gewordenen Kl nicht Einhalt gebieten. Jener unbekannte Programmierer, der in der Nova-Station für Jahrhunderte für Chaos sorgte, hatte nicht nur diesen einen Fehler begangen, der die Station daran hinderte, die Sonne Gerets zur Nova werden zu lassen. Er hatte das ganze KI-System in den Zustand eines neurotischen Halbidioten versetzt. Kurz blitzte in Huxley der Begriff Sabotage auf, aber er
verfolgte die Spur nicht weiter. Es gab im Augenblick drängendere Probleme.
Probleme, deren Lösung jetzt in Angriff genommen werden mußte.
Es ist an der Zeit, dem Spuk ein Ende zu setzen, Tantal. Rasch, wir haben keine Zeit zu verlieren!
signalisierte er dem Kobaltblauen über sein Implantat.
Tantal reagierte augenblicklich.
Längst hatten beide sich darüber geeinigt, was zu geschehen hatte.
»Lee«, sagte Huxley halblaut und wie beiläufig im alten Englisch, während er aufstand, »Sie und
Maxwell haben die Leitung. Geben Sie den vorbereiteten Alarm. Code E geht in seine ent
scheidende Phase. Was auch geschieht, ihr solltet die CHARR unter Kontrolle halten.«
Die Männer nickten, hatten verstanden.
Lee Prewitt verließ seinen Sitz und nahm im Kommandantensessel Platz.
Da hatte Huxley bereits den Leitstand verlassen. Tantal war schon vor ihm draußen.
256
Sie hätten keine Sekunde länger Zeit gehabt. Die Kl reagierte unvermittelt; offenbar war es ihr
gelungen, auch noch die alte irdische Sprache zu analysieren. Mit einem Zischen fuhr hinter
ihnen das Hauptschott zur Zentrale in die schweren Zuhaltungen, verriegelte mit einem
elektronischen Klicken.
Gleichzeitig erlosch die Beleuchtung in der CHARR. Die Stille auf dem Hauptkorridor war fast
mit Händen zu greifen.
Huxley blinzelte, er hatte Mühe, die rötliche Dunkelheit der automatisch anspringenden
Notbeleuchtung mit seinen Augen zu durchdringen.
Über die Tonphasen pflanzten sich hallende Geräusche durch die CHARR fort.
Dong... Dong... Dong...
Lee Prewitt läutete Code E ein. Das Zeichen für jeden an Bord der CHARR, sich unverzüglich in
einen Raumanzug zu begeben, so er es nicht schon getan hatte.
Mit einem Knacken verstummten die Bordverständigungsanlage, als sie Turr-Aan vom Netz
trennte.
In die Stille mischte sich ein neuer Laut.
Huxley lauschte ihm mit gerunzelter Stirn.
Ein Seufzen ließ sich vernehmen, das wie ein Windstoß klang.
»Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, sagte er zu Tantal, während sie sich vom Hauptschott in
Richtung auf den zentralen Computerraum entfernten. »Wir schließen besser unsere Anzüge.«
Er drückte einen Schalter auf der Tastatur der Anzugsteuerung;
der Helm fuhr aus der Falte der Halskrause, legte sich vor sein Gesicht, während er sich zur
stabilen Transparenz verdichtete. Dann schaltete er die Lampen des Anzugs ein.
Huxley hörte über die Außenmikrophone ein lautes, lärmendes Zischen. Sekunden später schwoll
es zu einem Heulen an, das an einen Tornado gemahnte: Irgendwo entwich die Atmosphäre aus
dem Schiff. Turr-Aan hatte einige der Außenschleusen geöffnet und die automatisch sich
aktivierenden Energiefelder außer Funktion gesetzt, die bei diesen Vorgängen die CHARR vor
einem Ver
257
lust der Atmosphäre schützten. Huxley hoffte nur, daß alle an Bord rechtzeitig in die Raumanzüge gekommen waren. Er sah auf das Meßgerät in seiner Ärmelmanschette. Der Luftdruck im Schiff nahm stetig ab. Etwa zehn Minuten noch. Huxley richtete seine Augen von der Chronoanzeige wieder auf Tantal. Der Nogk-Mutant bewegte zustimmend die Fühler unter der blasenartigen, semistabilen Trans parenzhaube seines Raumanzugs. Im grellen Licht der Lampen waren der Colonel und er die einzigen Lebewesen in diesem Teil der geisterhaft leer wirkenden CHARR. Abgesehen von den fünf Geiseln in jenem kleinen, abgeschotte-ten Sektor des Ellipsenraumers, den die Kl als deren Todeskammer auserkoren hatte, Erkinsson sowie dessen Stellvertreter im Maschinenleitstand und den Männern in der Zentrale war der Rest der Besatzung sicher in der FO I untergebracht - oder hatte die speziellen Schutzräume für derartige Zwischenfälle aufgesucht. Zumindest hoffte Huxley das. Über Helmfunk wandte er sich an Erkinsson. »In Ordnung, Chief. Beginnen Sie mit Operation Prometheus. Jetzt!«
Werden wir es schaffen? drangen Tantals Bildimpulse auf der geistigen Ebene zu Huxley.
Ich glaube schon, erwiderte der Colonel auf die gleiche Weise und versuchte zu lächeln, schaffte
es aber nicht, weil er sich ins Gedächtnis rief, was nun im Heckbereich der CHARR geschah.
Dort legte der Chief von Hand alle Energieerzeuger lahm, während sein Stellvertreter die Sicherungen der Notstromversorgungskreise abschaltete. Damit war jedoch nicht automatisch das Problem gelöst: Der Hauptrechner in seinem speziell gesicherten Raum hatte seine eigene Energieversorgung. Und die war ihr eigentliches Ziel. Es war als überraschender Einsatz geplant: Sie würden sich die 258 Verwirrung zunutze machen, die unweigerlich durch die Abschaltung der
Energieerzeugungskomplexe entstand, und den Zentralrechner von seiner eigenen
Stromversorgung trennen, bevor die Kl überhaupt merkte, was da ablief.
Plötzlich herrschte Schwerelosigkeit. Es geschah ohne Vorwarnung; nachdem die
Energieversorgung der CHARR auf Null heruntergefahren worden war, wurde auch das Kraftfeld
der Gravitationsgeneratoren unwirksam. Langsam, doch unwiderstehlich verloren die beiden den
Halt unter den Füßen; ihre Stiefelsohlen befanden sich bereits mehrere Zentimeter über dem
Boden.
Erst als sie die Nanoaggregate zur Magnetisierung der Sohlen aktivierten, senkten sie sich wieder
auf den Korridorboden herunter. Das Laufen unter diesen Bedingen würde sich anfühlen, als ob
sie sich durch eine klebrige Masse bewegten, aber sie hatten es nicht mehr weit.
Zwei Minuten später trat Huxley in den niedrigen Gang, Seitenwände und Metalldecke
mißtrauisch betrachtend, und Tantal folgte ihm.
Vor einem Metallschott blieben sie stehen.
Ihr Ziel. Dahinter lag am Ende eines weiteren Ganges der zentrale Rechnerraum.
Huxley griff nach oben und fuhr mit der Hand über den Sensorschalter.
Das Hindernis hätte jetzt eigentlich zur Seite gleiten müssen. Die Tür bewegte sich nicht.
Sperr Schaltungen? kamen die fragenden Impulse von Tantal.
Huxley bejahte. »Sie hat sich abgesichert, hat den Zugang elektronisch gesperrt«, murmelte er in
normalem Tonfall über die Helmfunkanlage. »Aber dagegen läßt sich etwas unternehmen.«
Er nahm ein Abtastwerkzeug aus der Oberschenkeltasche des Raumanzugs und manipulierte an
den Schalteinheiten der Sicherheitstür. Ein statischer Blitz zischte auf, eine elektrische Entladung
züngelte über die Sensorplatte.
Huxley brummte zufrieden.
259 »Also dann«, murmelte er und drückte einen Schalter. Er legte die Finger um einen
hervorstehenden Bügel und zog kräftig. Die Tür bewegte sich nicht.
Huxley stemmte die Füße auf den Boden, verstärkte die Magnetfelder der Sohlen, zog erneut.
Wieder nichts. Erst als Tantal wortlos neben ihn trat und mit anpackte, hatten sie Erfolg.
Langsam öffnete sich die Tür, glitt seitlich in die Wand.
Sie traten ein.
Die Lampen leuchteten einen kurzen, leeren Gang aus.
Ich werde irgendwie nicht das Gefühl los, daß wir nicht alleine sind, schickte er einen Impuls an
Tantal.
Das waren wir wohl nie, seitdem wir hier sind, signalisierte Tantal zurück. Wir werden von den
hier installierten Monitoren und Abtastern überwacht, die sich Turr-Aan angeeignet hat.
Es sind nicht zufällig auch Abwehranlagen hier drin installiert? Beispielsweise waffenähnliche
Geräte^ schickte Huxley seine Impulse zurück.
Sei unbesorgt, Ratsmitglied Huxley. Wenn, dann hätten wir dich darüber in Kenntnis gesetzt.
Tantals Fühlerpaare vibrierten unter der Blasenhaube seines Raumanzugs auf eine Weise, die,
wie Huxley inzwischen herausgefunden hatte, seiner Belustigung entsprang.
Wie tröstlich, dachte der Colonel, ohne seine Gedanken dem Implantat anzuvertrauen.
Sie bewegten sich weiter in den Gang hinein, bis sie das seg-mentierte Schott am Ende
erreichten. Diesmal handelte es sich um eine nicht abgesicherte, manuell zu bedienende Anlage.
Huxley öffnete die Zuhaltungen. Bolzen schoben sich in die Wände, irisartig schoben sich die
Segmente auseinander und gaben den Blick frei. Vor ihnen lag ein weitläufiger Raum, hell be
leuchtet. Im Augenblick vermutlich der einzige Raum in der ganzen CHARR, dachte Huxley. Er
war etwa vier Meter hoch und doppelt so breit. Die Seiten waren in Nischen unterteilt, in denen
sich die wuchtigen Speicherblöcke des Schiffsgehims befanden, neben
260 und übereinander angeordnet wie große Folianten in den Regalen einer Bibliothek. TerabyteEinheit auf Terabyte-Einheit. Jeder abgeschlossene Speicherblock mit kleinen Kontrollen versehen, auf denen man die Betriebsbereitschaft der einzelnen Sektionen erkennen konnte. »Ihr seid nicht autorisiert, hier einzudringen.« Huxley blieb instinktiv stehen, als die Stimme der
Kl durch den Raum hallte. Er hob den Kopf, suchte die Wände ab, die Decke, und sah sich vom Auge einer aktivierten Überwachungskamera fixiert. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter, auf das Ende des Raumes zu. Dort befand sich eine etwa eineinhalb Meter hohe Säule, auf deren abgeflachtem Ende eine Holoeinheit mit einer Tastatur befestigt war. Mehrere schenkeldicke, spiralige Leitungen entsprangen den Seiten und endeten in Adapterflanschen, die ihre Fortsetzung im Boden hatten. Huxley wußte, daß sie sich in dem darunterliegenden Zwischendeck weiter verzweigten und bis zu den einzelnen Speicherblöcken liefen. Er hatte sich seinerzeit eine Weile mit den baulichen Gegebenheiten seiner CHARR beschäftigt, nachdem sie ihm von den Nogk als Geschenk überreicht wor den war: Die Säule ragte noch weiter in die Tiefe und endete dort in einer kleinen, von starken Feldern gesicherten Kaverne, die einen Kompakt-Fusionsmeiler umschloß, der nur dem einen Zweck diente, den Zentralrechner mit Energie zu versorgen. »Ihr solltet wieder gehen.« Die Stimme Turr-Aans wurde lauter. Weder Tantal noch Huxley gaben Antwort. Der kobaltblaue Nogk schob sich an Huxley vorbei und postierte sich vor der Säule. Seine Finger glitten über die Tasten, gaben eine Befehlskette ein. Eine kurze Sequenz semitelepathischer Impulse drängte sich in Huxley s Bewußtsein. Sie stammten eindeutig nicht von dem Kobaltblauen. Was geschieht hier? richtete der Colonel seine Signale an Tantal. 261 Nichts, was zur Besorgnis Anlaß gibt. Die Schutzschaltung des Meilers hat nur meine Autorisation verlangt. Tantal tastete einige Befehle ein.
Das System hat mich akzeptiert...
Und was ist mit mir? dachte Huxley verwundert auf einer Ebene seines Geistes, die er vor Tantal
verschloß. Dann wurde er gefesselt von dem, was geschah.
Ein Hologramm bildete sich, schwebte zwei Handbreit über der Säule. Blau schimmernd. Es
weitete sich zu einem dreidimensionalen Gitternetz. Jedes der Karrees zeigte ein anderes Symbol.
Huxley kannte keines davon.
Ohne Tantal wäre er jetzt aufgeschmissen gewesen, erkannte er. Die CHARR war eben doch ein
durch und durch nogksches Erzeugnis. Aber noch während er dem Kobaltblauen bei dessen Tä
tigkeit zusah, nahm sich Huxley vor, bei nächster Gelegenheit auch diesen weißen Fleck auf der
Landkarte namens CHARR zu beseitigen und durch eine terranische Nomenklatur auszutauschen.
Vor allem die Autorisationsparameter mußten an ihn und seine Offiziere übergehen...
»Warum tut ihr mir das an?« fragte die Geisterstimme der Kl, und Huxley meinte, einen
Schimmer von Angst in ihr zu registrieren. Konnte es sein, daß die Kl etwas fühlen konnte, was
der menschlichen Furcht entsprach? Natürlich nicht. Es war undenkbar. Dennoch... ein uralter
Kinderreim kam dem Colonel plötzlich in den Sinn: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg'
auch keinem anderen zu.« Irgendwie, so fand Huxley und war auf eine gewisse Weise erheitert,
ergab das einen Sinn.
Unter Tantals Schaltungen erlosch eines der Symbole nach dem anderen.
Und mit jedem Erlöschen verringerte sich die Helligkeit im Computerraum um eine Nuance.
Augenfälligstes Zeichen der Energieabschaltung.
Aber noch etwas anderes geschah: Je mehr Leistung Tantal aus dem System nahm, um so mehr
begann das Holo über der Säule zu
262
leuchten, bis es alles in sein helles Blau tauchte, das scharfe Schlagschatten warf.
Huxley schickte einen verwunderten Impuls über sein Implantat an den Nogk.
Doch der reagierte nicht.
Dann, von einer Sekunde zu nächsten, erschienen Milliarden mikroskopisch kleiner Funken im
Hologramm, als würde sich ein Mikrouniversum bilden, mit Sonnen und leuchtenden Nebeln. Es
begann zu rotieren, während Tantal die letzten Symbole eliminierte, schneller und schneller, bis
nur noch ein kompakter Wirbel übrig war.
»Ahh... ich sehe!« ließ sich Turr-Aan mit einer derart entfremdeten Stimme vernehmen, daß
Huxley aus einem nicht erklärbaren Gefühl heraus erschauderte und fühlte, wie sich seine Haut
körnte.
Die Stimme der Kl wurde leiser, verlor sich in der Tiefe eines virtuellen Universums.
Ein letztes schwaches Echo wehte aus seiner künstlichen Welt herüber in die Tantals und Huxley
s.
»Dieses Licht, diese Farben...«
Turr-Aans stimmliche Präsenz verhallte.
Die Lichter erloschen.
Tantal deaktivierte die Holoeinheit.
Um sie herum gab es nur noch Stille.
Für einige endlose Sekunden schien die Zeit in ihrem Lauf zu verharren.
Dann sagte Huxley laut und deutlich über die Helmfunkverbindung:
»Chief? Energie...!«
Ren Dhark blickte hinauf zum Nachthimmel von Terra Nostra. Zusammen mit Gisol und Arc
Doorrn befand er sich auf dem Landefeld des Raumhafens von Nova Roma, auf dem die POINT
OF
264 gelandet war. »Eigenartig«, meinte Doorn. Der kräftig gebaute, etwas mürrisch wirkende Sibirier verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ebenfalls hinauf. Er gehörte zu dem Ingenieursteam, das für die Überwachung der Triebwerkstechnik zuständig war. Der Sibirier war auf seine Art ein Genie und hatte sein phänomenales Gespür für außerirdische Technologien immer wieder unter Beweis gestellt. »Während des Tages erschien mir Terra Nostra wie ein schöner Zwilling der Erde«, meinte er, »aber jetzt...« Ren Dhark wußte sehr gut, worauf Doorn hinauswollte. Der Nachthimmel Terra Nostras war nämlich nicht von Dunkelheit geprägt, wie man das von einem erdähnlichen Planeten hätte erwarten können. Vielmehr war jetzt in schillernden Farben die Gaswolke zu sehen, die den Planeten umgab. Wenn das Licht der eigenen Sonne das Leuchten der Gaswolke nicht mehr überstrahlte, wurde sie in all ihrer Pracht sichtbar. »Ein Planet ohne richtige Nacht«, murmelte Ren Dhark. Sein Blick glitt zu den gewaltigen Ringraumern hinüber, von denen die POINT OF umgeben war. Raumschiffe, denen die Herkunft aus der Mysterioustechnologie durchaus noch anzusehen war, die aber von den Römern offenbar erheblich weiter entwickelt worden waren. Kolosse, die selbst ein Schiff wie die POINT OF in den Schatten stellten. »Ich hoffe, daß wir einiges von ihnen lernen können«, meinte Ren Dhark. Zumindest traf dies auf die Technologie zu. Was das sehr patriarchialische Gesellschaftssystem der Römer anging, so hatte seine Entwicklung offenbar mit dem naturwissenschaftlichtechnischen Fortschritt noch weniger Schritt halten können als dies auf der Erde der Fall gewesen war. Ein Gleiter näherte sich der POINT OF. Er war zunächst kaum erkennbar. Die Positionsleuchten waren in dem relativ hellen Nachthimmel Terra Nostras nur schwer zu sehen. Der Gleiter 265 senkte die Flugbahn. Dhark blickte ihm entgegen. »Die Römer verlieren wirklich keine Zeit«, meinte Arc Doorrn. »Wir haben auch keine zu verlieren«, meldete sich Gisol zu Wort. »Die Tatsache, daß die Schiffe unseres Flotten Verbandes bislang noch nicht hier eingetroffen sind, heißt ja nicht, daß unsere Gastgeber nicht schon mit dem Einbau von Transpondern an Bord der POINT OF beginnen können«, erklärte Dhark. Abschirmaggregate gegen die Wirkung des Strahlenfeldes, das die Zyzzkt fernhielt, hatte das terranische Flaggschiff schon immer besessen als einziges der Flotte, die aus der Milchstraße gekommen war. An Bord des Gleiters, das war Dhark angekündigt worden, befand sich ein Team aus hochrangigen römischen Ingenieuren. Ein Außenschott des Gleiters öffnete sich. Acht Männer zwischen 40 und Anfang 50 stiegen aus. Sie trugen einfache Tuniken, die rein optisch in einem gewissen Widerspruch zu der technischen Ausrüstung standen, die sie bei sich trugen. Auf Ren Dhark wirkte das immer noch wie ein eigenartiger Anachronismus. Die Römer traten auf Dhark zu und grüßten ihn ehrerbietig. »Salve! Ich bin Ingenieur Julius Dacius.« »Sie werden erwartet«, erwiderte Dhark, der, wann immer sich die Gelegenheit ergab, lateinisch mit Römern sprach, anstatt in der von den meisten Bewohnern dieses Planeten offenbar ebenso gut beherrschten Worgunsprache. »Unser Auftrag ist es, alles für die Installierung von Transpondern für den gefahrlosen Flug durch das Netz der Sicherheitssysteme von Gardas vorzubereiten«, erklärte der Ingenieur Dacius.
»Ich nehme nicht an, daß Sie die entsprechenden Aggregate bereits mit sich führen«, erwiderte Dhark. Dacius schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind mit einem Transportgleiter hierher unterwegs und müßten in Kürze eintreffen.« »Ich würde dazu raten, diese Geräte erst zu überprüfen«, erklärte Doorn an Dhark gewandt. Er hatte die Unterhaltung mit Hilfe sei 266
ies Translators verfolgt.
Ein dünnes Lächeln flog über Dacius' Gesicht. »Sie können gerne alles durch Ihre Leute
überprüfen lassen«, erklärte er schließlich nach einer kurzen Pause. »Es soll nicht der geringste
Anlaß zu Mißtrauen bestehen.«
Dhark nickte. Doorn hatte natürlich recht. Bei aller freundlicher Annäherung zwischen Römern
und Terranern war blindes Vertrauen keineswegs angebracht. Der Einbau der neuen Technik
mußte genauestens überwacht werden. Schließlich wollte Dhark niemandem erlauben,
irgendwelche Manipulationen an der POINT OF durchzuführen. Das galt natürlich auch für
potentielle Verbündete.
Im Zweifel hat der Checkmaster ohnehin seinen eigenen Willen, ging es dem Commander der
Planeten dann durch den Kopf.
Dhark wandte sich an Arc Doorrn.
»Helfen Sie unseren Gastgebern bitte weiter, Are«, verlangte er.
Doorn nickte.
Die römischen Ingenieure folgten ihm in Richtung der Hauptschleuse.
»Es wäre gut, wenn du ebenfalls ein Auge auf die Aktivitäten der Römer werfen würdest, Gisol«,
fand Dhark. »Schließlich bist du ein ausgewiesener Spezialist für Worgun-Technologie, besser
als jeder andere, der an dieser Mission teilnimmt.«
Gisol nickte. »Das habe ich auch vor«, erklärte er. Irgend etwas ließ ihn zögern, der Gruppe zu
folgen. Die Mimik in dem nachgemachten menschlichen Gesicht war nichtssagend, aber Dhark
spürte trotzdem, daß den Worgun irgend etwas bewegte. Gisol atmete tief durch. Er wich dem
Blick Dharks aus und brachte schließlich hervor: »Ich habe noch ein Problem.«
»Worum geht es, Gisol?«
»Um Juanita.«
Dhark hob fragend die Augenbrauen. Er begriff noch nicht, worauf Gisol hinauswollte.
»Wenn wir uns in Om umsehen«, fuhr der Worgun nach kurzer
267
Pause fort, »dann besteht die Gefahr, daß wir in Kampfeinsätze verwickelt werden.«
»Wir werden alles tun, um das zu vermeiden«, erklärte Dhark. »Wie ich schon mehrfach betont
habe, wir sind nur hier...«
»..; um uns in Orn umzusehen, ich weiß«, vollendete Gisol. »Aber du hast die Zyzzkt noch nicht erlebt. Glaub mir, es wird sehr schwer sein, sich aus den Kämpfen herauszuhalten. Und ich möchte nicht, daß Juanita dabei in Gefahr gebracht wird. Ich denke, du verstehst mich.« Ren Dhark nickte. »Ja, aber ich kann dich beruhigen. Ich habe vor, nur mit der POINT OF aufzubrechen.« »Du willst die anderen Einheiten hier auf Terra Nostra zurückhalten?« hakte Gisol nach. Ren Dhark nickte. »Als eine Art Reserve.« »Die S-Kreuzerkommandanten werden damit nicht einverstanden sein... und ich bin es ehrlich gesagt auch nicht.« »Wir werden darüber auf der nächsten Lagebesprechung diskutieren«, erwiderte Dhark kühl. Gisol alias Jim Smith atmete tief durch. Sein Brustkorb hob und senkte sich dabei. »Sicher«, sagte er. »Aber was Juanita angeht, so möchte ich auf jeden Fall, daß sie hier auf Terra Nostra bleibt, wenn wir aufbrechen.« Juanita Gonzales war eine 2048 in Rio de Janeiro geborene Straßengöre, die sich nach dem Tod ihrer Mutter mit Kleindiebstählen über Wasser gehalten hatte. Als Gisol noch als Jim Smith auf der Erde gelebt hatte, war er auf das Mädchen aufmerksam geworden und hatte sie in seine Obhut genommen. Anfangs hatte er sie nur benutzt, einmal sogar mit dem Gedanken gespielt, sie zu töten, als er sie nicht mehr benötigte. Niemand außer ihm wußte davon. Aber dann hatte ihr natürlicher Charme ihn überwältigt, und nun kümmerte er sich wie eine Art großer Bruder oder ein Ersatzvater um sie. Juanita war eine Vertreterin des sogenannten menschlichen Evolutionssprungs. Sie verfügte über die Gabe der psychischen Unsichtbarkeit. Sie strahlte eine Art Feld aus, das ei
268 nen Betrachter dahingehend beeinflussen konnte, sie nicht mehr bewußt zur Kenntnis zu nehmen.
Sie wurde nicht unsichtbar, aber sie konnte dafür sorgen, daß man sie einfach übersah. Gisol hatte
sie gelehrt, diese Fähigkeit so zu trainieren, daß sie ihn mit einschloß. Im Schutz dieser
»Unsichtbarkeit« hatte er sich auf der Erde fast völlig frei bewegen können.
Gisol alias Jim Smith war Juanitas ein und alles. Worin letztlich die Tiefe dieser Beziehung
begründet lag, war Ren Dhark nach wie vor schleierhaft. Er akzeptierte sie einfach.
Er sah Gisol offen an.
»Ich denke, da wird sich schon eine Lösung finden.«
Die über Satellitenverbindung benachrichtigte terranische Expeditionsflotte war mit Gisols
Schiffen im Schlepp auf Terra Nostra eingetroffen. Ein römischer Ringraumer hatte die EPOY
im Intervallschlepp hergebracht. Der Einbau der römisch-worgu-nischen
Abschirmungstechnologie ging zügig voran. Römische Techniker und Ingenieure kamen zu
diesem Zweck an Bord der zu Ren Dharks Flottenverband gehörenden Schiffe. Natürlich immer
unter mißtrauischer Beobachtung durch Gisol, Arc Doorrn und andere Besatzungsmitglieder.
Momentan überwachten sie die Arbeiten an Bord der RHEYDT.
»Unsere neuen Verbündeten scheinen es wirklich ehrlich mit uns zu meinen«, knurrte Arc
Doorrn an Bram Sass gewandt, nachdem er eines der per Antigravaggregat herangeschwebten
Module eingehend untersucht hatte. Das Modul hatte die Form eines Zylinders von einem Meter
Länge.
»Auf die Finger sehen sollte man ihnen aber schon«, gab Bram Sass seiner Auffassung
Ausdruck.
Doorn grinste. »Ein ehemaliger Bauer aus den ladinischen Alpen traut keinem Fremden über den
Weg, was?«
Der Cyborg blieb gelassen. »Für einen Bergbauemsohn bin ich
269 schon ganz schön herumgekommen, finde ich«, erwiderte er leicht pikiert. Julius Dacius, der Leiter des römischen Ingenieurteams, blickte auf die Anzeigen seines handgroßen Meßgeräts und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an einen der anderen Römer, der gerade damit beschäftigt war, ein Steuermodul auf das schwebende Abschirmungsaggregat aufzusetzen, um dessen Programm neu konfigurieren zu können. »Dieses Raumschiff ist wie ein Relikt aus fernster Vergangenheit, Apicius!« Der Angesprochene, ein breitschultriger blonder Mann mit hervorspringendem Kinn nickte. »Man hätte besser Historiker mit dieser Arbeit beauftragen sollen als uns!« »Da sagst du ein wahres Wort, Apicius!« Sass und Doorn hatten die in neuem Latein geführte Unterhaltung über Translator mitverfolgt. Julius Dacius drehte sich zu den beiden Terranem herum. »Wie habt ihr das nur geschafft, mit diesem Ding heil von eurer Heimatgalaxis aus hierher zu gelangen? Ein wahres Wunder, kann ich da nur sagen.« Apicius meldete sich ebenfalls zu Wort. »Ihr könnt den Göttern dafür danken!« »Soweit ich weiß, habt ihr hier aufTerra Nostra eine lange, von politischen Wirren ziemlich ungestörte Entwicklung hinter euch!« erwiderte Doorn, auf dessen Stirn sich eine tiefe Zornesfalte gebildet hatte. »Von unserer Heimat kann man das nicht gerade sagen.« »Ihr meint also, Terra Nostra wäre eine Art Schönwetterplanet ohne Gefahren!« faßte Apicius zusammen.
»So ist es!«
»Ihr vergeßt die Bedrohung durch die Zyzzkt, die hier ständig allgegenwärtig ist!«
»Soweit ich mich erinnere, hat es noch kein Zyzzkt durch die Wolke Gardas geschafft.«
»Andernfalls gäbe es uns wohl nicht - oder wir wären Sklaven.«
270 Bram Sass spürte, wie sich die Temperamente erhitzten. Das galt sowohl für Doorn, dessen Tonfall immer gereizter wurde, als auch für die beiden Römer. »Ihr könnt ja mal rüber auf einen unserer neuen Ovoid-Ring-raumer kommen, wenn ihr sehen wollt, wie ein richtiges Raumschiff technisch ausgerüstet sein sollte!« schlug Julius Dacius mit ätzendem Unterton vor. »Da gibt es Dinge, von denen werdet ihr in tausend Jahren noch träumen!« | »Du vergißt, daß zu viel Sicherheit den Geist zu lahmen vermag«, sagte Apicius mit ironischem Unterton. »Vielleicht brauchen diese Terraner ja die ständige Gefahr, die vom Flug
mit uralten Primitivraumem ausgeht!« (l Dacius grinste breit.
| »Oh, sicher! Es steckt gewiß ein genialer Plan des obersten Kommandanten dahinter!«
Die beiden Männer lachten.
Arc Doorrn ballte unwillkürlich die Fäuste.
Das ging ihm zu weit!
Was bildeten sich diese arroganten Römer eigentlich ein? Kamen an Bord der Flotte, um
zusätzliche Abschirmungstechnologie leinzubauen und bestaunten dabei die vorhandenen
Anlagen wie Knochenfunde aus der Steinzeit!
Bram Sass behielt die Ruhe.
Die endokrine Fehlfunktion seines Körpers machte sich positiv bemerkbar. Sein Hormonspiegel
blieb konstant. Anders als Doorn bestand bei ihm nicht die Gefahr, daß er die Kontrolle verlor.
Er legte Doorn eine Hand auf die Schulter, bevor der Sibirier eine giftige Erwiderung
auszustoßen vermochte.
»Wir werden ja sehen, ob die von euch eingebauten Vorrichtungen tatsächlich funktionieren.
Wenn ja, dann habt ihr Jungs meinen Respekt!«
Julius Dacius verzog das Gesicht zu einem grimassenhaften Lächeln.
»Wenn nicht, so liegt das an der Inkompatibilität eurer Uralt
271
technik mit unseren Geräten.«
Apicius ergänzte: »Wenn ihr Probleme bekommt, besorgen wir euch gerne ein paar Teile aus
dem Museum!«
Ein dünnes Lächeln stand in Bram Sass9 Gesicht.
»Soweit ich weiß, leidet ihr unter chronischem Mangel an Tofi-rit, weswegen ihr mit euren ach
so tollen Räumern kaum etwas anfangen könnt! Sei ehrlich, Dacius! Hast du überhaupt schon
einmal deine hübsche Römerhaut in einem Kampfeinsatz an Bord eines eurer Superraumer
riskiert? Oder bist du nur mit dem Mund ein solcher Held?«
Dacius' Gesicht wurde düster.
Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, der Mund wurde ein gerader Strich. »Nein«,
preßte er zwischen den Zähnen hindurch.
Doorn schlug sofort Kapital daraus.
»Nein was? Hat mein Freund da etwa einen wunden Punkt erwischt?«
Dacius reichte sein Handmodul an Apicius weiter und trat auf Bram Sass zu.
Der römische Ingenieur überragte Sass um beinahe einen Kopf. Unter der dünnen Tunika
zeichnete sich ein bestens durchtrainierter Oberkörper ab, mit dem er einem klassischen
Bildhauer gut und gerne hätte Modell stehen können.
»Du scheinst es darauf anzulegen, Terraner!«
»Um ehrlich zu sein, ich...«
»Also gut! Ganz wie du willst! Heute abend im Offiziersklub von Nova Roma! Ein Gleiter wird
dich abholen! Du kannst deine Freunde mitbringen, damit sie Zeuge deiner Schmach werden!«
Bram Sass hob die Augenbrauen. »Von welcher Schmach ist hier die Rede?«
»Von der Schmach jener Niederlage, die du heute abend im Offiziersklub erleiden wirst!«
»Spielen wir Karten oder Schach?«
Julius Dacius bleckte die Zähne wie ein Raubtier.
272
»Du hast mich herausgefordert, Terraner, und ich nehme mit Freuden an! Daher steht es mir zu,
die Art der Auseinandersetzung zu wählen! Wir beide werden uns im ehrlichen Faustkampf mes
sen.«
»Meine Herausforderung? Ich glaube, ich habe mich da wohl
verhört!«
»Keineswegs!«
»Ich habe niemanden herausgefordert, also schlage ich vor, wir lassen die Sache auf sich
beruhen, Dacius!«
Dacius lachte heiser.
»So willst du kneifen?« höhnte er.
Apicius ergänzte grinsend: »Ich sag's ja, die haben nicht nur schlechte Raumschiffe, sondern
auch schlechte Manieren, wie mir scheint!«
Bram Sass atmete tief durch.
Ein schöner Mist, in den ich mich da hineinmanövriert habe! schoß es ihm durch den Kopf.
»Ich habe keineswegs die Absicht zu kneifen...«
»Dann kann ich also davon ausgehen, daß du zu deiner Herausforderung stehst!« schloß Dacius.
»Ich werde es dir schon zeigen!« Sass schluckte. »Ich möchte einfach niemanden von euch verletzen«, erklärte der Cyborg trocken. Apicius brach in schallendes Gelächter aus. »Ich glaube, auf deine Rücksichtnahme kann Julius Dacius sehr gut verzichten. Wie das mit dir steht, weiß ich nicht. Ich schlage vor, du läßt dich von eurem Schiffsarzt begleiten!« »Du bist so schweigsam, Jim!« sagte Juanita. Ein flüchtiges Lächeln flog über Gisols Gesicht. Für sie bin ich immer noch Jim Smith - und werde es wahrscheinlich auch immer bleiben! über 273 legte er. Jener Jim Smith, der sie in Rio de Janeiro aufgelesen und bei sich aufgenommen hat...
»Ich bin nur müde, Juanita«, erklärte der Worgun. »Ich habe dir ja davon erzählt, daß die
Ingenieure von Terra Nostra einige Apparaturen an Bord unserer Schiffe installieren und...«
».. .daß du sie dabei beobachtest.«
»Ja.«
»Glaubst du wirklich, daß sie uns etwas Böses antun könnten? Das macht doch keinen Sinn!
Warum sollten uns die Römer dann überhaupt ihre Technik zur Verfügung stellen?«
»Da hast du natürlich recht«, mußte Gisol zugeben. »Aber weißt du, ich habe einfach schon
zuviel erlebt, um unseren Gastgebern vorbehaltlos trauen zu können. Die Galaxis Orn wird von
den Zyzzkt beherrscht, die alles Leben in ihrem Einflußbereich versklavt oder vernichtet haben.
Ich war ein Rebell und habe vergeblich gegen sie gekämpft.«
»Haben das nicht auch die Römer?«
»Ja. Aber vielleicht verfolgen sie ihre eigenen Interessen...«
»Was meinst du damit? Vielleicht, daß die Römer Geräte einbauen, die uns beim Weiterflug
verraten könnten?«
»Ich weiß es nicht, Juanita. Aber ich gehe davon aus, daß sie ihre eigenen Interessen vertreten,
die nicht unbedingt mit unseren identisch sein müssen. Und deswegen müssen wir auf der Hut
sein.« »Und jetzt gönnst du dir eine Pause«, stellte das Mädchen fest.
Der Worgun in Menschengestalt nickte leicht.
»Ja«, murmelte er.
Gisol alias Jim Smith ließ sich in einen Schalensitz fallen, der sich perfekt seiner Körperform
anpaßte. Über einen fenstergroßen Bildschirm konnte man sehen, was außerhalb der EPOY
geschah.
Gisol warf einen Blick dorthin. »Würde es dir gefallen, eine Weile auf Terra Nostra zu bleiben?«
fragte er.
Auf der glatten Stirn des Mädchens bildete sich eine Falte. Sie schien nicht so recht zu begreifen,
worauf der Worgun hinaus
274 |wollte.
l »Sieht nett aus.« l »Nett?« echote Gisol.
l »Na ja, mehr als man vom Raumschiff aus zu Gesicht bekommte . kenne ich ja auch nicht!« Sie
machte eine Pause, rieb unruhig die l Hände gegeneinander.
In mancher Beziehung mag sie einem gewöhnlichen Menschenkind ihres Alters voraus sein, überlegte Gisol. Aber nicht so weit, daß man es zulassen könnte, sie einer Kampfsituation auszusetzen. Und es wird Zeit, ihr das zu sagen. Auch wenn sie schrecklich protestieren wird... Juanita blickte den Worgun offen an. »Ich weiß nicht, was dein Gerede von einem längeren Aufenthalt auf Terra Nostra soll. Wir sind doch hier, um Orn zu erforschen. Also nehme ich an, daß Ren Dhark schon bald den Befehl zum Aufbruch geben wird...« »Genau das ist der Punkt, Juanita!« »Ich verstehe dich nicht!« »Wir werden in Gebiete kommen, die von Zyzzkt beherrscht werden, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß man uns dabei auch in Kampfeinsätze verwickelt.« »Na und? Ich glaube, es gibt niemanden an Bord der Flotte, dem nicht vor dem Aufbruch von der Erde klargewesen ist, daß es gefährlich werden könnte!« Das Mädchen atmete tief durch und ver schränkte die Arme vor der Brust. Die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte, schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen. »Ich möchte jedes Risiko für dich vermeiden, Juanita. Wenn dir etwas geschehen würde, könnte ich mir das nie verzeihen!« erklärte Gisol. »Und darum wirst du hier auf Terra Nostra bleiben, wenn wir aufbrechen.« »Aber...« Der Worgun ließ Juanita nicht zu Wort kommen. »Wenn du genauer darüber nachdenkst, wirst du begreifen, daß
275 es das Beste ist!«
»Behandle mich nicht wie ein kleines Kind!« »Du bist ein Kind!«
»Glaubst du vielleicht, in den Straßen von Rio war es nicht gefährlich?«
Gisol erhob sich aus dem Konturensitz. Ein flüchtiger Blick ging zum Chronometer am
Handgelenk. »Leider habe ich noch zu tun, Juanita...!
»Das kannst du nicht machen!«
»Wir sprechen später darüber!«
»Wenn du glaubst, daß ich mich dann wieder abgeregt habe, irrst du dich gewaltig! Ich werde
niemals damit einverstanden sein!«
Gisol wandte sich zur Tür. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Ein verhaltenes
Lächeln spielte um seine Lippen. »Warten wir es ab, Juanita.«
Die Übertragung der Datensätze ist abgeschlossen, meldete der Checkmaster, der Bordrechner
der POINT OF. Ren Dhark war mit ihm über die auf Alphafrequenzbasis arbeitende
Gedankensteuerung verbunden.
Immer wieder hatte die Künstliche Intelligenz des Checkmasters den Terranem Proben ihrer
überragenden Fähigkeiten geliefert.
Allerdings war der Checkmaster mindestens ebenso sehr für seinen Eigensinn bekannt.
Erst vor kurzem hatte er der Besatzung komplett den Gehorsam verweigert.
Ich möchte eine Analyse, forderte Ren Dhark über die Gedankensteuerung. Die Akademie von
Nova Roma hatte der POINT OF auf Anweisung von Nauta und Laetus einen Satz Sternenkarten
von Orn überspielt. Die Analyse des Checkmasters folgte ohne Verzögerung.
276
Das Kartenmaterial der Akademie übertrifft alles, was wir an 'Informationen über Orn besitzen
und ist außerordentlich detailliert. Dhark nickte zufrieden. Er hatte nichts anderes erwartet.
»Gisol wird die Daten noch mit seinem eigenen Material abglei-|chen müssen«, erklärte Anja
Riker, die Chefmathematikerin. l Dhark nickte erneut. »Aber wir können davon ausgehen, daß
die Sternkarten der Akademie auf einem aktuelleren Stand sind. So werden wir uns besser
ausgerüstet in Om umsehen können, als ich es je für möglich gehalten hätte!«
Dan Riker war ebenfalls anwesend.
Er quittierte Dharks Worte mit einem leichten Nicken. Ein deutlicher Zug von Skepsis stand
jedoch ebenfalls in seinem Gesicht. Dhark kannte Riker lange genug, um das sofort zu
registrieren.
»Bist du immer noch der Meinung, wir sollten uns allein mit der POINT OF in Om umsehen?«
»Warum sollte sich daran etwas geändert haben?«
»Du wirst bei den S-Kreuzerkommandanten damit kaum auf Gegenliebe stoßen.«
Dhark wollte etwas erwidern. Aber ein akustisches Signal hielt ihn davon ab. Glenn Morris von
der Funk-Z meldete sich. Sein Gesicht erschien auf einem Nebenbildschirm.
»Die Akademiepräsidenten Laetus und Nauta bitten, an Bord kommen zu dürfen!« meldete
Morris.
»Erlaubnis selbstverständlich erteilt.«
»Sie möchten Sie ausdrücklich in der Kommandozentrale aufsuchen.«
»Auch dagegen ist nichts einzuwenden.«
Dan Riker hob die Augenbrauen. »Langsam scheinen sich die Brüder hier wie zu Hause zu
fühlen!« murmelte er.
Dhark stellte eine Viphoverbindung mit Arc Doorrn her und erkundigte sich nach den
Fortschritten bei den Umbauarbeiten.
»Es geht gut voran«, meldete Doorn.
»Hat sich Ihr oder Gisols Mißtrauen in irgendeiner Weise bestä
277
tigt, Are?«
»Bis jetzt nicht, Sir. Aber das heißt noch lange nicht, daß ich ihnen blind vertraue.«
»Das verlangt auch niemand!«
»Da bin ich ja beruhigt!«
»Ich setze in zwei Stunden eine Lagebesprechung an, bei der ich auch Sie dabeihaben möchte.
Wir werden dann den Stand der Arbeiten genauer besprechen.«
»Bis dahin sind unsere römischen Freunde vielleicht schon fertig.«
Als Laetus und Nauta die Kommandozentrale der POINT OF betraten, blieben sie zunächst stehen und ließen den Blick schweifen. Vor kurzem waren sie schon einmal in der Zentrale gewesen. Ihre Faszination schien seitdem nicht nachgelassen zu haben. Eine Faszination, die alles zu betreffen schien, was irgendwie mit der POINT OF zu tun hatte. In ihren Augen stand ein eigenartiger Glanz. Das Schiff ist für sie eine Art Mythos, überlegte Dhark. Für einen Terraner vielleicht nur damit vergleichbar, wenn plötzlich jemand die Arche Noah gefunden hätte... Als sie das erste Mal ungefragt in der Zentrale aufgetaucht waren, war der Commander der Planeten alles andere als begeistert gewesen. Inzwischen sah er das gelassener. »Lang ist es her«, murmelte Nauta. »Man fühlt sich wie in eine vergangene Epoche versetzt, von der wir glaubten, sie wäre längst im Staub der Geschichte vergangen...« Laetus nickte. Er trat auf das Instrumentenpult der Kommandosteuerung zu, ohne auf Dhark oder irgendeinen der anwesenden terranischen Offiziere zu achten. Zwei Schwenksessel befanden sich dort, einer für den Piloten, der andere für den Kopiloten. Beim Start erschien 278
die Bildkugel darüber. Für Dhark war das seinerzeit ein erster Hinweis darauf gewesen, daß sich die Erbauer der POINT OF auch körperlich möglicherweise erheblich von der humanoiden Form unterschieden. »Wir kennen historische Rekonstruktionen dieses Schiffes und waren schon bei unserem ersten Besuch überrascht, wie sehr sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen«, bekannte Laetus schließ lich. Dhark wandte sich an Nauta. »Der Einbau Ihrer Technologie ging bis jetzt reibungslos vonstatten.« »Das freut mich«, erwiderte Nauta. »Ich bin hier, um Ihnen zusätzlich noch den Einbau eines erweiterten Ortungsschutzes anzubieten.« Ehe Dhark antworten konnte, hatte bereits Laetus das Wort ergriffen. »Sie werden auf eine gute Tarnung angewiesen sein, wenn Sie sich in Orn umsehen wollen... und Ihre vorhandene Techno logie dürfte da kaum ausreichen.« »Das Angebot nehme ich gerne an!« erklärte Dhark. Nauta und Laetus wechselten einen kurzen Blick. Schließlich fuhr Laetus fort: »Des weiteren würden wir es befürworten, wenn ein paar Kontaktoffiziere Ihre Mission an Bord Ihres Raumschiffs begleiteten. Das dürfte auch für Sie von unschätzbarem Vorteil sein, schließlich kennen sich unsere Leute hier mit Sicherheit wesentlich besser aus als Ihre Männer.« »Auch dagegen ist nichts einzuwenden.« »Es freut mich, daß wir uns so schnell einig wurden, Commander Dhark.«
75. Es war, als erwache die CHARR aus einem tiefen Schlaf, der ein einziger Alptraum gewesen war. Neue Energie durchströmte den Ellipsenraumer. Raum für Raum, Deck für Deck gingen die Lichter in dem Ovoid mit seiner golden schimmernden Hülle wieder an. Aggregate nahmen ihre Arbeit auf; die Umweltkontrollen erneuerten die Atmosphäre; Gravitationsgeneratoren bauten ihre Felder auf. Die Schwerkraft kehrte zurück; niemand verlor mehr den Boden unter den Füßen. Die Besatzung ging wieder an ihre Arbeit, und Sapinsky mit seinem Team konnte sicher sein, nicht mehr in dem Lagerraum sterben zu müssen. Es dauerte eine Weile, alle energieintensiven Komplexe und Aggregate wieder ans Netz zu bringen. Aber Chief Erkinsson und sein Team aus Ingenieuren und Technikern gelang in kürzester Zeit das Kunststück, die CHARR wieder zu einem lebendigen Schiff zu machen. Allerdings zu einem, das sich kein Jota von der Stelle bewegte, denn die Energieversorgung für den Hauptrechner ließ man unangetastet. Und ohne Computerunterstützung konnte weder eine astronomische Standortbestimmung gemacht noch eine vernünftige Navigation durchgeführt werden. Zumindest arbeiteten die Aggregate, die Konverter und Fusionsmeiler ohne Einschränkung. Die CHARR hatte sich in ihr Tam-feld gehüllt, war praktisch unsichtbar. Und wenn man die Stärken der gestaffelten Schutzschirme in Betracht zog, war sie auch unverwundbar. Mit Hochdruck machte sich deshalb das Team von Computerexperten aus der Wissenschaftssektion daran, unterstützt von den Meegs und den Kobaltblauen, über den nicht beeinträchtigten Rechner der FO I alle Computersubsysteme der CHARR nach Datenverstecken
der Künstlichen Intelligenz Turr-Aan zu durchfor 280
sten, um auch die letzten Spuren ihrer Existenz aus den Speichern zu löschen. Vor allem nahm man sich die Archive der Astrorech-ner und die der Bordbibliothek vor, die mit ihrem gewaltigen Umfang ein Eldorado für Datenverstecke boten. Der ersten Säuberung folgte eine zweite, um auch noch den letzten Datenkrümel der Kl aufzuspüren und zu entfernen. Gleichzeitig löschte man den zentralen Speicher des Hauptrechners vorsichtshalber gänzlich, um ihn anschließend komplett neu zu formatieren. Danach wurde er mit der letzten vollständigen Datensicherung wieder hochgefahren, die vor dem Eintreffen des Sonnentauchers - und der Kl! - an Bord des Ellipsenraumers gemacht worden war. Es war gängige Praxis an Bord von Schiffen der terranischen Flotte, zu jeder vollen Stunde Datensicherungen durchzuführen -ein automatisierter Vorgang - und auf leistungsfähige Speichermedien von der Größe kiemer Münzen zu übertragen. Dadurch konnte man das System der CHARR in jenen Zustand versetzen, in dem es sich vor der Rückkehr des Sonnentauchers aus der Nova-Station befunden hatte. Ein Problem blieb: Die Flugdaten seit der Übernahme durch Turr-Aan waren unwiederbringlich verloren. Ohne jegliche Information über ihre aktuelle Position trieb die CHARR im GezeitenStrom gal aktischer Schwerefelder durchs All.
Huxley betrat mit einem Thermobecher Kaffee in der Hand den Leitstand im Bug der CHARR
und ließ sich auf seinem Konturensitz zwischen Maxwell und Lee Prewitt nieder.
Er hatte zwei Stunden im Arboretum zugebracht, fühlte sich frisch, ausgeruht und in der Lage,
Bäume auszureißen, hätte es welche in der Leitzentrale der CHARR gegeben.
Arboretum, so nannte die menschliche Besatzung der CHARR den in der genauen Mitte des
Schiffskörpers gelegenen, hundert
281 Meter langen Erholungsraum. Er stellte eine mathematisch exakte Ellipse dar, in deren beiden Brennpunkten sich ein Wunderwerk nogkscher Technik befand: Zwei künstliche, sowohl in Bezug auf ihr Spektrum als auch auf die Zusammensetzung ihrer Strahlung voneinander getrennt regelbare Miniatursonnen. Die Nogk nannten das ellipsoide Gewölbe prosaisch »Sonnenhangar«. Eine für die Besatzung des Eiraumers immens nützliche Einrichtung, entfernt einem Solarium ähnelnd, nur größer, unvergleichlich wirkungsvoller und vielseitiger. Jetzt überflog er mit einem forschenden Blick die Instrumente und Sichtschirme, die vor ihm auf der bogenförmigen, leicht abgeschrägten Konsole angeordneten waren. Die Allsichtsphäre zeigte den umgebenden Raum, der auf den ersten Blick sehr fremd aussah. Auf den zweiten ebenfalls. Auf den Heckfeldem erstreckten sich verwirrende Konstellationen unbekannter Sterne. Dort erschien das All nicht als samtene Dunkelheit mit kalten Schleiern aus Lichtpunkten, sondern als feiner, rötlich schimmernder Nebel, durchsetzt mit gelben und violetten Sonnen. Voraus löste sich ein lockerer Sternhaufen in unzählige Einzelsonnen auf. Eine davon nicht mehr als höchstens ein Lichtjahr entfernt. »Bericht, Mr. Maxwell«, sagte Huxley und stellte den Thenno-becher auf der verbreiterten Armlehne ab. Maxwell war an seiner Navigationskonsole Zugange und versuchte eine Standortbestimmung. Er schien, seinen verkniffenen Gesichtszügen zufolge, nicht sehr glücklich mit den Ergebnissen zu sein. »Verdammt«, knurrte er halblaut, »wir müssen ganz schön vom Kurs abgekommen sein. Hoffentlich finden wir bald eine Position in den astronomischen Bibliotheken. Wenn nicht, dann...« Er ließ sich nicht näher darüber aus, was dann geschehen würde. »Wie wäre es, wenn wir über To-Funk um Hilfe nachsuchen würden?« Henroy richtete sich hoffnungsvoll in seinem Sitz auf. »Nicht daran zu denken«, schmetterte ihn Butrovich ab. »Wohin 282 sollen wir den Funkstrahl richten, ohne unsere eigene Position zu kennen? Einfach mit dem eng
gebündelten Strahl blind drauf los? Der Himmel mag wissen, wen alles wir dabei treffen, bloß
nicht unsere eigenen Leute.«
»War ja nur ein Vorschlag«, rechtfertigte sich der Kopilot.
»Du und deine Vorschläge«, murrte John Butrovich.
Huxley räusperte sich knapp aber unüberhörbar.
Henroy klappte den Mund zu, den er gerade zu einer neuerlichen Erwiderung geöffnet hatte, und
Butrovich wandte sich wieder seiner Arbeit zu, mit den hochempfindlichen Suchgeräten
irgendeine verwertbare Nachricht aus den Hintergrundgeräuschen des Weltraums herauszufiltem.
Eine Stunde später hatte sich die Lage noch nicht geändert. Die zweite neigte sich auch schon
wieder ihrem Ende zu.
Die CHARR schwebte weiter antriebslos im Raum.
Huxley hatte Prewitt seinen Platz an der Kommandantenkonsole überlassen und sich zu den
kobaltblauen Nogk begeben, die am linken Ende der Konsolenphalanx an ihren Terminals
arbeiteten, als er gerufen wurde.
Die Stimme war leise, doch deutlich und klar.
Die Stimme eines Mannes.
Sie kam aus dem Armbandvipho des Colonels.
»Kommandant!«
Huxley runzelte die Stirn; er war gerade in einer Diskussion mit Tantal über die Zugangscodes im
Computerraum verwickelt und war über die Unterbrechung im ersten Moment ein wenig
ungehalten.
»Was gibt es?« fragte er schroffer als beabsichtigt
»Spandle. Hangar II/B. Sie hatten uns gebeten, den Sonnentaucher einem genauen Check zu
unterziehen und ihn wieder startklar zu machen. Wir sind gerade in dem Beiboot. Hören Sie
mich?«
»Ich höre Sie, Spandle, und erinnere mich. Und jetzt sehe ich Sie auch.«
Das Gesicht eines Seniortechnikers im Innenraum eines Schiffes
283
stand auf dem winzigen Karree. Hinter ihm sah man stationäre Lichter und Farbspiele von
Instrumenten.
»Warten Sie eine Sekunde«, unterbrach Huxley den Mann. »Ich lege das Gespräch auf eine
Konsole... so, jetzt ist es besser. Was gibt es also, Mister Spandle? Ist etwas mit dem
Sonnentaucher?«
Spandle wirkte nervös. Unsicher. Undeutlich vernahm Huxley eine rasch geführte Unterhaltung
am anderen Ende der Funkverbindung - die anderen Mitglieder des Technikerteams - dann ge
wann erneut Spandles Stimme die Oberhand.
»Nein, mit dem Kurierboot ist soweit alles in Ordnung.«
»Soweit? Was heißt das?«
Huxleys Stimme wurde eine Spur schärfer.
»Nun. Wir haben als letztes den Bordrechner in den Diagnosemodus versetzt und die
Datenbanken geprüft, in denen die Koordinaten der Sonne gespeichert sind, und die Ergebnisse
mit den vorigen Werten verglichen, um zu vermeiden, daß sich auch nur ein Byte dieser Kl in den
Speichern befindet.«
»Die übliche Prozedur. Ich weiß. Damit kommen Sie zu mir!« Der Colonel runzelte die Stirn.
»Was soll das?«
Spandle wandte sich sichtlich.
»Wir haben da Abweichungen festgestellt. Ein Datensatz ist dabei, der vorher nicht da war. Es
handelt sich nach unserer Meinung um die Koordinaten eines Sternen- oder Planetensystems.«
»Um welches System handelt es sich?«
»Das ist ja das Problem.«
»Himmel!« sagte Frederic Huxley scharf. »Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der
Nase ziehen, Mann!«
»Das Problem ist, wenn wir den Datensatz aufrufen wollen, erscheint ein Schriftzug auf dem
Sichtschirm.«
»Welcher, Mister Spandle?«
Huxley hatte eingesehen, daß er nur mit Geduld weiterkam.
»Es ist... es handelt sich um nogksche Symbolsprache, soweit ich erkennen kann. Ich bin kein
ausgewiesener Experte in dieser Beziehung. Kann mich also auch täuschen. Aber ich bin der
Mei
284 nung, Sie sollten davon in Kenntnis gesetzt werden.«
»Daran haben Sie gut getan«, nickte Huxley mechanisch.
»Das Merkwürdige daran ist«, fuhr Spandle fort, »so oft wir den Rechner auch ausschalten, er
fährt immer wieder von selbst hoch. Offensichtlich haben wir eine Endlosschleife aktiviert.
Vielleicht möchten Sie sich das ansehen, bevor wir zu radikaleren Mitteln greifen und das Gerät
einfach verschrotten.«
»Unterstehen Sie sich!« drohte der Colonel. Er blickte hinüber zu Skett. »Begleitest du mich?«
Der Kobaltblaue signalisierte sein Einverständnis.
»In Ordnung«, sagte Huxley und nickte dem Seniortechniker zu. »Wir kommen.«
»Danke und Ende.«
Der Sichtschirm wurde dunkel.
»Nun zeigen Sie uns mal das Phänomen!«
Sie standen in dem kleinen Leitstand des Sonnentauchers, jenem schnellen Beiboot der CHARR,
das für seine Mission in der Korona Gerets von den Meegs mit einer Schmelzpanzerung
versehen worden war, was ihm ein gefahrloses Abtauchen bis zur Position der Nova-Station
ermöglicht hatte.
Spandle trat beiseite und gab damit den Blick frei auf den Sichtschirm über der Steuerkonsole,
den er bislang mit seiner vierschrötigen Gestalt verdeckt hatte.
»Sehen Sie, was ich meine?«
In der Tat. Über den Schirm lief fortwährend eine Datenzeile, die Huxley, der inzwischen mit
der Schriftsymbolik des insek-toiden Reptilienvolkes recht vertraut war, vor ein Problem stellte.
Dem nämlich, daß er sie nicht entziffern konnte. Er konnte nur erkennen, daß sie sich nach einer
kleinen Weile wiederholte.
»Sagten Sie nicht etwas von einem Datensatz, der Ihrer Meinung nach Koordinaten eines Stern-
beziehungsweise Planetensystems
285
beinhaltet? Ich sehe aber hier nichts dergleichen.«
»Sekunde.«
Spandle beugte sich zur Tastatur und drückte eine Schaltfläche.
Der Schriftzug verschwand und machte einer Darstellung Platz, die man durchaus als eine
Stemenkonstellation ansehen konnte.
»Wenn ich die Datei jetzt aufrufen will, so...« Spandle betätigte eine Tastenkombination, »...
geschieht dies!«
Die Darstellung verschwand und machte dem Schriftzug Platz.
»Hm.« Die Furchen auf Huxleys Stirn drückten Verwunderung aus. Dann wandte er sich an den
Seniortechniker.
»Lassen Sie uns bitte allein, Mister Spandle?«
»Selbstverständlich, Kommandant.«
»Und nehmen Sie Ihre Techniker mit.«
Huxley und Skett wartete, bis der Systemingenieur mit seinen Leuten das Beiboot verlassen hatte.
Der Nogk-Mutant nahm in dem Sessel vor der Konsole Platz. Seine Fühler vibrierten unstet. War
es ein Ausdruck seiner Überraschung, als er den Schriftzug zu Gesicht bekam?
Huxley stellte sich hinter ihn, sah ihm über die Schulter zu.
»Worum handelt es sich deiner Meinung nach, Skett?« fragte er.
»Es schaut aus wie eine ältere Version unserer Sprache.«
»Wie alt?«
»Ich bin mir nicht schlüssig.«
»Kannst du sie entziffern?«
»Nein«, erwiderte der Kobaltblaue, doch erst nach Sekunden des Schweigens. »Da sind viele
Begriffe, die ich noch nie gesehen habe, wenngleich mir etwas sägt, daß ich diese Schriftzeichen
kennen sollte, kennen müßte.« Er zögerte erneut, wiegte den Kopf mit den karbonschwarzen
Facettenaugen und den libellenartigen Fühlerpaaren. »Sie sind jedenfalls alt, sehr alt.«
»Helfen dir deine kollektiven Erinnerungen nicht weiter?«
»Sie reichen auch nicht länger zurück als 2000 eurer Jahre, Ratsmitglied Huxley«, signalisierte
ihm der Kobaltblaue. »Du weißt sehr gut, daß wir immer wieder versuchen, die zeitliche Be
286
grenzung unserer Kollektiverinnerungen zu überschreiten. Aber es will weder mir noch den anderen meiner Eibrüder gelingen. Die Charr-Ära ist die Barriere, hinter die ich nicht schauen kann.« Die Charr-Ära... Huxley wußte um diese imaginäre Grenze.
Als die Menschheit den Nogk zum ersten Mal begegnete, lebten die insektoiden Reptilienwesen im System dieser roten Riesensonne. Ihre Zivilisation prosperierte - bis sich abzeichnete, daß ihre Zentrumssonne, ein Stern der Spektralklasse K2, zu einer gefährlichen und unberechenbaren Variablen wurde und ihre Strahlen für die Nogk zur tödlichen Falle zu werden drohten. Sie konn ten sich dieser Gefahr nur durch eine überstürzte Flucht entziehen. Für eine Weile machten sie Zwischenstation auf Cinok, einem für ihre Verhältnisse durch und durch lebensfeindlichen Planeten. Ein unsäglicher Zustand, der erst sein Ende nahm, als ihre ausgeschwärmten Suchschiffe ein neues System entdeckten, das ihren Bedürfnissen entsprach. Unter dem Licht der blaugrünen Sonne Tantal fanden sie eine neue Bleibe. Tantal war ein Sonnentypus, dessen Spektrum diametral zu dem ihrer alten Sonne stand und der für die terranischen Wissenschaftler auch heute noch immer ein Rätsel darstellte, weil es sich bei ihm um einen Stern handelte, wie es ihn im bekannten Universum kein zweites Mal gab. Tantal war zudem die einzige Sonne in einem Radius von etwa hundert Lichtjahren im Halo der Milchstraße, auf der von Andromeda abgewandten Seite der Galaxis. Doch auch in diesem System war den Nogk keine Bleibe auf Dauer gegönnt, als die schattenhaften Invasoren, die Grakos, auftauchten und sie im Frühjahr 2057 irdischer Zeitrechnung in einen aussichtslosen Kampf verwickelten, der sie zwang, von ihrer Wohnwelt Nogk II nach Nogk I zu übersiedeln, der die Sonne Tantal in einem derart geringem Abstand umlief, daß jeder Aufenthalt auf seiner Oberfläche so gut wie unmöglich war, weshalb sie ihr Dasein in gewaltigen, unterirdischen Kavernen fristeten. Ein unhaltbarer Zustand, der erst endete, als sie auf der Flucht vor den erneut angreifenden Schatten quer durch die 287
Milchstraße auf die andere Seite der Galaxis zur Sonne Corr fanden, dreihunderttausend Lichtjahre vom Außenrand der Milchstraße entfernt. Seitdem lebten sie dort, in der Grauen Zone zwischen der Milchstraße und der Andromedagalaxis, jener fernen Stemen-insel, die sie eigentlich zu erreichen versucht hatten. Das war ihnen jedoch unmöglich gewesen, weil sie nicht in der Lage waren, das Exspect zu durchqueren, jene unfaßbare, energiefressende Zone, welche die Milchstraße damals umgab. Zwar existierte das Exspect nun nicht mehr, aber Corr war noch immer der vorläufige Schlußpunkt ihrer ewigen, nahezu biblischen Wanderschaft, die fast einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkam... Huxley konzentrierte sich wieder auf Skett, der eben signalisierte: »Vielleicht gelingt es mir, diese Datei zu öffnen.« Der Kobaltblaue startete mit atemberaubender Schnelligkeit eine Reihe von Suchprogrammen, die alle nur das eine Ziel hatten, die offensichtliche Sperre - nur um eine solche konnte es sich handeln - zu umgehen und in das Innere der Datei zu gelangen. Währenddessen spann Huxley den Faden seiner Gedanken weiter. Wenn man es recht bedachte, hatten die Nogk immer wieder im Verlauf ihrer Geschichte ihre Heimatsysteme verlassen müssen, weil deren Sonnen durch einen unbekannten Feind zur Explosion gebracht worden waren. Um welchen Feind es sich dabei handelte, war bis heute nicht herausgefunden worden. Eine Zeit lang war man der Ansicht gewesen, daß es die Grakos, die geheimnisvollen und letztlich unter schwersten Verlusten besiegten Schatten, hätten sein können. Aber daran hegte nicht nur Huxley erhebliche Zweifel. Im Juni 2057 waren die Nogk Richtung Andromeda aufgebrochen, um endlich eine dauerhafte Heimat zu finden. Huxley hatte dabei den Geleitschutz befehligt. Doch das Unternehmen war fehlgeschlagen. Zwischen der Milchstraße und Andromeda hatte das Exspect den Exodus der Nogk zumindest vorerst gestoppt. So hatte die kosmische Reise der Nogk zunächst im Corr-System ihr vorläufiges Ende gefunden. Siebzehn Planeten umkreisten das 288
360 Millionen Kilometer durchmessenden Zentralgestim dieses weit draußen im Leerraum zwischen den Galaxien gelegenen Systems, das darüber hinaus auch noch exakt jene Strahlungskomponenten aufwies, von denen die Nogk abhängig waren. Eine Ab-' hängigkeit, die den Nogk in der Vergangenheit immer wieder zum ' Verhängnis geworden war. Denn wenn sich die Strahlungszusammensetzung einer Sonne, auf deren Planeten sie gesiedelt hatten, änderte, so bedeutete dies eine Fortsetzung ihres Exodus. Eine derartige Veränderung konnte als Folge natürlicher Prozesse auftreten, die selbst die überlegene Technik der Nogk nicht zu beein flussen wußte. Oder aber durch Manipulationen des unbekannten ? Feindes, von dem man lange geglaubt hatte, er sei mit den insektoiden Grakos identisch. Vier der Planeten Corrs waren von den Nogk mit ihrer überlegenen Technologie umgeformt worden. Die Wasserwelten Corr VIII und IX dienten der Lebensmittelproduktion. Auf Corr VII,
Kraat genannt, was so viel wie »Herberge« bedeutete, hatten die Nogk Wohn statten für die sie
begleitenden Terraner errichtet, weil dort für Menschen angenehme klimatische Bedingungen
herrschten. Corr VI, die Wohnwelt, auf den Namen Reet getauft, stellte das Zentrum dessen dar,
was als das Nogk-Imperium galt. Der vierte Planet war auch Regierungssitz des Nogk-Herrschers
Charaua und Tagungsort des Rates der 500.
»Was ist mit Geret?« fragte Huxley. »Hat die Entdeckung des Planetensystems nicht euer
Kollektivgedächtnis weiter hinausgeschoben? Über die Charr-Barriere hinweg?«
»Nur unwesentlich«, ließ ihn der Kobaltblaue wissen. »Eigentlich bedeutet Geret eine Sackgasse,
wenn ich diese menschliche Metapher einmal anwenden darf.«
»Sackgasse ist gut«, stellte Huxley verdrossen fest. »Sie wäre es fast auch für uns geworden.
Wenn ich daran denke, welche Gefahren sich daraus ergeben haben...« Er schwieg einen
Moment. »Kommst du weiter?«
»Nein. Bislang waren meine Versuche allesamt negativ. Wir
289
werden das Rätsel hier wohl nicht lösen können, Huxley«, bekannte Skett, während ein leichtes
Zittern seine Fühler in Unruhe versetzte. »Ich werde unsere Meegs auf das Problem ansetzen.«
Sie verließen das Beiboot.
Im Hangar wandte sich Huxley noch einmal an Spandle.
»Frage: Der Rechner im Boot war zu keiner Zeit mit irgend einem anderen vom Schiff
verbunden. Richtig?«
»Richtig. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Vorsicht«, warnte Huxley, »auf diese Weise hat schon mancher mehr als nur die Hand
verloren.«
»Sir?« Der Techniker blickte irritiert.
»Ach, vergessen Sie's, Spandle. Sorgen Sie einfach dafür, daß dieser Rechner dort drin unter
Quarantäne bleibt. Niemand rührt ihn an, ausgenommen die Meegs. Verstanden?«
»Natürlich. Niemand sonst.«
Am Abend herrschte im Klub der römischen Raumflottenoffiziere von Nova Roma helle
Aufregung. Der Klub lag im obersten Stockwerk eines gewaltigen, quaderförmigen Gebäudes,
dessen Erbauer die klassisch-antike Säulenarchitektur nachgeahmt und ins Riesenhafte vergrößert
hatten.
Die Nachricht davon, daß einer der römischen Offiziere ein Besatzungsmitglied der POINT OF
nach alter Tradition zum Faustkampf gefordert hatte, hatte sich in Windeseile verbreitet.
Als Bram Sass, Arc Doorrn und etwa zwei Dutzend weitere Besatzungsmitglieder des
Flaggschiffes im Offiziersklub eintrafen, schlug ihnen ein wirres Stimmengewirr entgegen.
»Ich frage mich, ob es hier sonst auch so voll ist!« meinte Doorn.
Hen Falluta und Leon Bebir standen rechts von ihm. Links befand sich Holger Alsop, der sich
dieses Spektakel ebenfalls nicht entgehen lassen wollte. Der l ,82 Meter große Alsop war
seinerzeit
290
der erste Allround-Cyborg gewesen. Er strich sich mit einer beiläufigen Geste über das für einen
Sechsundzwanzigjährigen recht früh ergraute Haar.
»Hals- und Beinbruch, Bram!« raunte Alsop Sass zu.
»Wird schon schiefgehen!« erwiderte dieser.
»Wer so einen Hammerschlag hat wie du, braucht sich ja wohl kaum Sorgen zu machen!«
»Genau das macht mir ja Sorgen. Was glaubst du, wie gastfreundlich unsere Gastgeber noch sind,
wenn ich zu fest zuschlage und dieser aufgeblasene Römer nicht wieder aufsteht!«
Bram Sass sah sich um und entdeckte im Publikum hier und da Terraner von anderen Schiffen,
die zu Dharks Verband gehörten. Unter anderem war Captain Ralf Larsen, der Kommandant der
INVERNESS, anwesend.
Larsen drängte sich durch die Schar der Römer, ging auf Sass zu und fragte: »Haben Sie
überhaupt eine Ahnung davon, wie die Regeln des römischen Faustkampfes lauten?«
Sass schüttelte den Kopf.
»Nicht die Bohne!«
»Sie hätten mal die Datenbänke der POINT OF zu Rate ziehen sollen!«
»Es war keine Zeit!«
»Dann werde ich der humanistischen Bildung eines ladinischen Bauern mal etwas auf die
Sprünge helfen.«
»Ich bitte darum!«
Das Stimmengewirr wurde derart laut, daß Bram Sass beinahe schreien mußte.
Robotdiener von humanoider Gestalt reichten Wein. Die Stimmung strebte dem Siedepunkt
entgegen.
Larsen rief: »Die gute Nachricht ist, daß die Trefferfläche des römischen Faustkampfes einzig
und allein der Kopf war. Jeder Körpertreffer ist streng verboten. Und der Kampf endet mit Nie
derschlag oder Aufgabe. Es gab keine Gewichts- sondern lediglich Altersklassen und...«
291 Bram Sass unterbrach den Captain der INVERNESS.
»Dann soll dieser Kerl besser in der Seniorenklasse boxen!«
»Die schlechte Nachricht kommt noch!«
»Oh!«
»In die Bandagen, die die Kämpfer sich um die Hände wickelten, wurden teilweise Metallstücke
oder Schlagringe hineingelegt...«
»Daher kommt also der Ausdruck: Mit harten Bandagen kämpfen!«
»Gladiatoren kämpften sogar mit richtigen Metallhandschuhen. Ich weiß ja nicht, wie sich die
Sitten hier weiterentwickelt haben, aber...«
In diesem Augenblick wurde es ruhig.
Julius Dacius trat ein.
Er reckte die Arme und brachte die Anwesenden mit einer Geste zum Schweigen. In der Mitte
des Raumes bildete sich eine Gasse.
Dacius hatte den Oberkörper frei.
Sein grimmiger Blick fixierte Bram Sass, der seine normale Flottenkombination trug.
»Ich schlage vor, wir verzichten auf Bandagen«, schlug Dacius vor. »Schließlich ist es nicht
meine Absicht, für diplomatische Verwicklungen zu sorgen, in dem ich einen unserer
hochgeschätzten Gäste derart zusammenschlage, daß selbst ein sehr guter plastischer
Robotchirurg den Schaden nicht wieder richten könnte.«
»Vielleicht überlegst du es dir ja noch einmal!« erwiderte Sass.
Er hatte die mahnenden Worte Ren Dharks im Ohr, die er ihm und den anderen Terranem mit auf
den Weg gegeben hatte, bevor sie in den Mannschaftsgleiter der Römer gestiegen waren.
»Tun Sie alles, um die Lage nicht zu verkomplizieren, Bram!« hatte Dhark gesagt. Ein tadelnder
Unterton war dabei durchaus hörbar gewesen. Eigentlich mußte Sass dem Commander der Pla
neten sogar recht geben. Gab es nicht wirklich Wichtigeres, als daß zwei Männer ihren
Ehrenhändel mit den Fäusten austrugen wie in grauer Vorzeit?
292
Aber Sass fühlte sich in diesem konkreten Fall völlig unschuldig an der Entstehung der verfahrenen Situation. Ein Schlag, dachte der Cyborg. Und der muß sitzen! Nicht zu stark, nicht zu schwach. Ein Toter oder Schwerverletzter würde für die noch frischen Beziehungen zu den Römern von Terra Nostra wahrscheinlich die erste Krise bedeuten. Aber verprügeln lassen wollte Sass sich auch nicht.
»Wenn du noch irgendwelche Vorbereitungen zu treffen hast, Terraner, dann treffe sie jetzt!« rief
Julius Dacius. Er blähte seinen mächtigen Oberkörper auf, spannte die Muskeln und quittierte das
Raunen der Zuschauer mit einem selbstzufriedenen Lächeln.
»Ich bin fertig«, erklärte Sass.
»Sehr sportlich siehst du in deinem Aufzug nicht aus!«
»Der Kampf wird schnell vorbei sein. Es lohnt die Mühe nicht, auch nur ein Kleidungsstück
abzulegen!«
Dacius lachte gezwungen. »Zumindest mangelt es dir nicht an Selbstvertrauen!«
Der Römer ging in Kampfhaltung, hob dabei die Fäuste vor den Kopf.
»Ist es bei euch immer noch so, daß der Kopf die einzige legitime Trefferfläche darstellt?«
erkundigte sich Bram Sass, der keinerlei Anstalten machte, die Fäuste zu heben und eine
Deckung aufzubauen.
»Natürlich! Alles andere wäre unehrenhaft!«
»Es ist nur so, daß Kopftreffer manchmal schwer zu dosieren sind. Da dieser Kampf nun offenbar
aufgrund deiner Sturheit und deines übersteigerten Ehrgefühls nicht zu vermeiden zu sein scheint,
wäre es leichter, dich durch einen Magentreffer auszuschalten.«
»Pah! Das sagt einer, der nicht boxen kann und jetzt erkennt, daß er sich zu weit vorgewagt hat!«
»Irrtum!« widersprach Sass. »Das sagt einer, der um deine Gesundheit besorgt ist! Eine
Magenquetschung ist leichter zu heilen als ein schweres Himtrauma!« 293
»Wehr dich, du Schwätzer!« Julius Dacius wollte bereits zum Angriff übergehen.
Bram Sass hob jedoch die Hand. »Warte!« rief er durch das Getöse der anfeuernden Sprechchöre
hindurch. »Was ist noch?«
Bram Sass' Translator hing ihm an einem Riemen vor der Brust. Der Cyborg nahm das Gerät ab
und gab es an Arc Doorrn weiter. »Der Apparat soll nicht dafür büßen müssen, daß ich mich auf
diesen Mist eingelassen habe!« meinte er. Normalerweise hätte Bram Sass auf Grund seines
Cyborg-Programmgehirns keinen Translator nötig gehabt. Allerdings gehörten lateinische
Vokabeln bislang nicht zu den darin gespeicherten Daten. Warum auch? Wer in eine fremde,
Millionen Lichtjahre entfernte Galaxis unterwegs war, rechnete normalerweise kaum damit, in
einer antiken, ausgestorbenen irdischen Sprache angeredet zu werden. Und um die Datensätze
entsprechend zu ergänzen, war noch keine Zeit gewesen.
»Viel Glück, Bram!« raunte Arc Doorrn dem Cyborg zu.
»Das solltest du lieber meinem Gegner wünschen! Aber wenn die Medizin seines Planeten nur
halb so fortgeschritten ist wie die Raumfahrttechnik, wird es glimpflich für ihn ausgehen!«
Bram Sass' letzte Worte gingen in den Anfeuerungsrufen unter, die jetzt erneut anschwollen.
Vor dem Kampf der Fäuste entbrannte erst einmal ein Wettbewerb der Stimmen. Die Terraner
wurden davon ebenso angesteckt wie die Römer.
Mit tänzelndem Schritt und hoch erhobener Deckung kam Julius Dacius auf Bram Sass zu. Sass
reagierte ausweichend, verzichtete auf jedwede Deckung. Er verließ sich ganz auf seine
überlegene Schnelligkeit und Schlagkraft.
Dacius schnellte vor, ließ seine rechte Gerade hervorschießen.
Bram Sass wich aus.
Der Schlag ging ins Leere, wenn auch dicht an Sass' Kopf vorbei.
294
Den Sekundenbruchteil, in dem die Deckung des Römers zwangsläufig aufgelöst war, nutzte
Bram Sass entschlossen aus. Ein schneller Schlag traf Julius Dacius hart am Kinn und ließ den
Römer benommen zurücktaumeln.
Nur mit Mühe konnte Dacius sich auf den Beinen halten.
»Gib auf, Römer!« rief Sass.
Dacius schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und nahm erneut
Kampfstellung ein.
»Glück gehabt, Terraner!«
»Du hast Glück gehabt, Dacius!«
Der Römer versuchte erneut einen Angriff. Er täuschte mit links an, holte dann zu einem
wuchtigen Schlag mit der Rechten aus. Aber für Bram Sass war dieses Manöver leicht
auszurechnen.
Er tauchte unter dem Schlag weg, ließ dann die Linke auf Dacius' Kopf zusausen. Der Cyborg
erwischte den Römer diesmal an der Schläfe. Einem gefällten Baum gleich fiel er zu Boden und
rührte sich nicht mehr.
Plötzlich herrschte Stille im Offiziersklub.
Keiner der Römer sagte ein Wort.
Ein dunkelhaariger Römer mit dem Abzeichen der römischen Flotte an der Tunika kümmerte sich
um den am Boden liegenden Dacius.
Eine prekäre Situation, schoß es Bram Sass durch den Kopf. Alle Augen waren auf ihn gerichtet,
und es war ihm sehr wohl bewußt, daß von seinem Verhalten jetzt einiges abhing. Sass atmete
tief durch. Sein Hormonspiegel blieb absolut konstant. Kein Ad-renalinschub vernebelte ihm die
Sinne oder lahmte seinen Verstand.
Er streckte die Hand aus.
Arc Doorrn begriff sofort, was der Cyborg von ihm wollte.
Der Sibirier warf Bram Sass den Translator zu. Sass fing ihn sicher auf und ergriff das Wort.
»Römer! Hört mich an! Ich denke, wenn wir von euch die Raumtechnik und ihr von uns das
Boxen lernt, sind wir zusammen
295 unschlagbar!«
Ein befreiendes Gelächter brach aus.
Dacius kam wieder zu sich. Er war noch etwas benommen.
Mit der Rechten faßte er sich an den Kopf und betastete vorsichtig die Schläfe.
Bram Sass ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand.
Dacius zögerte zunächst, dann ließ er sich bereitwillig aufhelfen.
»Ich hoffe, daß es heute abend nur noch Brummschädel gibt, die vom Wein verursacht werden!«
rief Sass, woraufhin alle Anwesenden lauthals zustimmten.
»Laßt die Roboter die besten Tropfen einschenken!« rief Api-cius, der sich bislang sehr
zurückgehalten hatte.
Dacius' Augen wurden schmal, als er Bram Sass mit seinem Blick fixierte.
»Wolltest du mit deiner Bemerkung gerade etwa andeuten, daß man vom Wein Terra Nostras
einen Brummschädel bekommt, wir euch somit ein gepanschtes Gesöff anbieten wollten?«
»Kein Gedanke!« beeilte sich Sass.
»Komisch! Klang für mich beinahe so!«
»Muß am Translator liegen!«
Dacius atmete tief durch und nickte dann. »Das muß es sein!« fand er.
Zum Glück hat er offenbar keine Lust auf eine zweite Runde! überlegte Sass.
Mit noch wackeligem Schritt ging Dacius auf einen der Bedienungsroboter zu und nahm ihm
zwei Weinkrüge ab. Einen davon reichte er Sass. »Trinken wir auf die Brüderschaft zwischen
Terra-nem und Römern!« forderte er.
»Nichts dagegen einzuwenden!« lachte Sass.
Am nächsten Morgen fand eine große Lagebesprechung an Bord der POINT OF statt. Sämtliche
Schiffskommandanten der Zwanzi
296
gerflotte nahmen daran teil.
Ren Dhark legte seinen Plan dar, zunächst nur mit der POINT OF weiter nach Om vorzustoßen
und den Rest der Flotte als eine Art Reserve auf Terra Nostra zurückzuhalten.
»Commander, das ist nicht Ihr Ernst!« stieß Captain Ralf Larsen ziemlich entrüstet hervor. »Bei
allem Respekt, aber was diesen Punkt angeht, bin ich entschieden anderer Meinung.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
Der Kommandant des S-Kreuzers INVERNESS schien nicht der einzige zu sein, der so dachte.
Captain Janos Szardak meldete sich zu Wort. Er war Kommandant der RHEYDT. Der nur l ,64
Meter große Szardak war ein alter Weggefährte Dharks. Dhark und Szardak kannten sich seit
jener Zeit, als sie gemeinsam an Bord des Kolonistenraumers GALAXIS im
Doppelsonnensystem Col gestrandet waren.
Gestrandet auf einer Welt, der die Kolonisten den Namen Hope gegeben hatten.
Aber diese Verbundenheit hinderte Szardak nicht daran, hier und jetzt offen seine Meinung zu
äußern.
»Ich lehne diesen Plan ebenfalls ab«, erklärte er. »Nach allem, was wir bisher in Erfahrung
bringen konnten, wird es kein Zuckerschlecken, sich in Om näher umzusehen. Wir müssen mit
feindlichen Aktionen der Zyzzkt rechnen. Zwar verfügen wir jetzt über den römischen
Ortungsschutz, aber das wird uns nur eine relative Sicherheit bringen. Wir müssen damit rechnen,
plötzlich in harte Kämpfe verwickelt zu werden, wenn irgend etwas nicht so läuft, wie wir es
geplant haben. Daß sich die Zyzzkt mit langwierigen diplomatischen Verhandlungen aufhalten,
ist nicht anzunehmen. Selbst dann nicht, wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was die Bewohner
Terra Nostras über sie erzählen. Oder Gisol.« Janos Szardak machte eine kurze Pause. Einige der
Anwesenden nickten zustimmend. Hier und da war ein Raunen zu hören.
Scheint so, als stünde ich mit meinem Plan ziemlich allein da, überlegte Ren Dhark. Eigentlich
hätten mich schon Dans Beden-191
ken nachdenklich machen sollen...
Janos Szardak fuhr schließlich fort: »Die POINT OF wäre völlig auf sich gestellt, wenn sie
allein aufbrechen würde! Aber ich glaube, daß es wichtig ist, in einer so feindseligen
Umgebung, wie Om es zu sein scheint, mehr als nur eine Handlungsoption zu haben!«
»So ist«, stimmte Ralf Larsen lauthals zu.
»Auf sich gestellt dürfte sich die POINT OF kaum schützen können«, meinte auch John Martell,
der Kommandant der CALAIS. Martell war ehedem Leiter der legendären Terra-Basis T-XXX
gewesen, von der aus während der Giantherrschaft mehr vergeblich als erfolgreich Widerstand
gegen die damaligen Invasoren der Erde organisiert worden war. Von seinem Schreibtischjob in
der Raumfahrtindustrie hatte Martell die Nase gestrichen voll gehabt und sich sofort freiwillig
für die Teilnahme an der Om-Expedition ^gemeldet.
Ren Dhark hob beschwichtigpnd die Hände.
Das Gemurmel verstummte.
Alle Augen waren auf den Commander der Planeten gerichtet. »Wenn wir zumindest einen Teil der Flotte auf Terra Nostra zurücklassen würden, hätten wir immer noch die Möglichkeit, eine Hilfsexpedition loszuschicken!« erklärte er. John Martell machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir würden es dem Feind nur leichter machen, beide Abteilungen einzeln zu besiegen.« Gisol meldete sich nun zu Wort. Der Worgun schien sich ebenfalls auf die Seite der Mehrheitsmeinung geschlagen zu haben. »Genauso wie die Bewohner Terra Nostras die sogenannte M-Technik, wie die Terraner die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften meines Volkes bisher zu nennen pflegten, erheblich weiterentwickelt haben, so müssen wir auch damit rechnen, daß dies anderswo in Orn geschah. Die Zyzzkt bedienen sich schließlich derselben technischen Grundlagen. Angesichts eines wahrscheinlich überlegenen Gegners ist es um so wichtiger, alle Kräfte 298 zu konzentrieren!« »Außerdem sollten Sie mal an die Männer und Frauen an Bord unserer Schiffe denken«, meinte Ralf Larsen. »Die meisten haben sich freiwillig für diese Expedition gemeldet. Ihnen war klar, daß sie nicht damit rechnen konnten, an einer gefahrlosen Spazierfahrt teilzunehmen. Aber wenn Sie jetzt einen Großteil der Teilnehmer auf Terra Nostra zurücklassen, würden sie sich verprellt fühlen.« Ein Aspekt, den ich vielleicht nicht genug bedacht habe, überlegte Dhark. Aber auf einer so langen und gefahrvollen Reise darf man das nicht unterschätzen... allein mit der Autorität eine Amtes etwas durchsetzen zu wollen kann sich als Pyrrhussieg erweisen... Der Commander der Planeten blickte sich um, studierte die Gesichter. »Ich gehe also davon aus, daß die Anwesenden der Meinung sind, die Flotte solle komplett aufbrechen.« »Ich glaube kaum, daß sich irgendeiner der Kommandanten bereit erklären würde, mit seinem Schiff freiwillig auf Terra Nostra zu bleiben!« war Janos Szardak überzeugt. Dhark nickte. »Also gut. In diesem Fall lasse ich mich von der Mehrheitsmeinung überzeugen.« Das Aufatmen unter den Anwesenden war deutlich hörbar. Die Gesichter wurden entspannter. »Kommen wir zum nächsten Punkt«, fuhr Dhark fort. »Die Akademie der Wissenschaften von Terra Nostra hat uns einen neuen Satz Sternkarten zur Verfügung gestellt. Gisol hat sie mit seinem eigenen Material inzwischen verglichen und erwartungsgemäß festgestellt, daß die Karten der Römer wesentlich genauer und aktueller sind. Zusammen mit Gisol bin ich das Material durchgegangen. Wir haben nach einem geeigneten Zielgebiet für unsere Expedition gesucht und sind auch fündig geworden.« Dhark erhob sich. Er aktivierte eine Drei-D-Projektion der Galaxis Orn. Ein verworrener Sternendschungel mit Milliarden von Sonnensystemen, wie ihn auch die heimatliche Milchstraße dar 299
stellte. Es war unmöglich, ein so gewaltiges Gebilde vollkommen zu erforschen, geschweige denn zu beherrschen. Auch in der Milchstraße gab es selbst in unmittelbarer Nähe des SolSystems noch Planetensysteme, die vollkommen unerforscht waren und es vielleicht auch noch Jahrhunderte lang bleiben würden. Die Herrschaft der Zyzzkt in Om mußte ähnlich löchrig sein wie die der galaktischen Mächte über die Milchstraße. Ein Umstand, der einfach etwas mit der gewaltigen Ausdehnung zu tun hatte, die eine Spiralgalaxis hatte. Bei der Auswahl des Zielgebietes hatten Gisol und Dhark sich natürlich von dem Gedanken leiten lassen, daß es sich um eine Region handeln mußte, durch deren Aufklärung Rückschlüsse auf die Zustände in ganz Om möglich waren. Ein Gebiet, das einerseits für die gesamte Galaxis repräsentativ war, in dem andererseits die Gefahr einer Entdeckung allerdings auch nicht zu hoch sein durfte. »Wir werden uns auf unserer Expedition zunächst auf einen Abschnitt konzentrieren, der sich etwa 1200 Lichtjahre von der Wolke Gardas entfernt befindet«, fuhr Dhark fort. Die Projektion veränderte sich, zeigte nun einen Ausschnitt und vergrößerte ihn. »Den Angaben unserer römischen Freunde nach wurden von dort in letzter Zeit verstärkte Aktivitäten der Zyzzkt gemeldet.« John Martell nickte heftig. »Bin schon gespannt darauf, was wir dort vorfinden werden.« »Auf unserer Reise werden wir drei römische Kontaktoffiziere an Bord nehmen. Ihre Namen
wurden mir kurz vor Beginn dieser Sitzung von General Antonius Plautius, einem hohen Offizier
des römischen Generalstabs, mitgeteilt. Die drei warten in einem Nebenraum und würden sich
Ihnen gerne vorstellen. Nachdem wir die grundsätzlichen Entscheidungen nun getroffen haben,
wäre es nicht schlecht, die drei an den Detailplanungen zu beteiligen, da sie gewiß über eine
größere Kenntnis Orns verfügen, als wir alle zusammen. Einverstanden?«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
300 Einige der Kommandanten nickten.
Dhark fuhr fort: »Unsere römischen Begleiter möchten uns im übrigen ein sehr bemerkenswertes
Antrittsgeschenk machen... aber das sagen sie Ihnen am besten selbst!« Über Interkom gab Dhark
den wartenden Römern Bescheid. Augenblicke später betraten sie den Konferenzraum.
Die drei trugen schneeweiße Togen. Lediglich die Abzeichen auf ihren Schulterspangen wiesen
sie als Angehörige der Raumflotte Terra Nostras aus.
Sie schritten in gemessenem Schritt auf Dhark zu, verneigten sich leicht.
Dann stellten sie sich der Reihe nach kurz vor und gaben ihrer Freude darüber Ausdruck, an der
Expedition teilnehmen zu dürfen. Manlius war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit grauem,
exakt geschnittenem Haar. Sein Alter mochte zwischen fünfzig und sechzig Jahren liegen.
Zweifellos war er der ranghöchste unter den Dreien. Nuntius war mindestens zehn Jahre jünger,
ebenfalls hager und hatte dunkles, leicht gewelltes Haar. Aulus wiederum war ein eher
untersetzter, breitschultriger Mann mit kräftigen Oberarmen. Altersmäßig schätzte Dhark ihn
irgendwo zwischen den beiden anderen Offizieren ein.
Manlius wandte sich dann noch einmal an die Anwesenden.
Er trug wie seine Offizierskollegen einen Translator bei sich, um zu den Terranern sprechen zu
können. Schließlich hatte nicht jeder der Offiziere und Schiffskommandanten in der Schule
Latein gehabt beziehungsweise erinnerte sich noch gut genug daran, um das über die
Jahrtausende verfremdete Idiom von Terra Nostra verstehen zu können.
»Wir haben euch etwas mitgebracht, das für den Erfolg dieser Expedition von großem Nutzen
sein kann«, erklärte Manlius gedehnt. Dabei unterstrich er seine Worte mit einer ausholenden Ge
ste. »Von einem Transportgleiter wird gerade eine große Menge falscher ID-Dämpfer abgeladen,
wie Sie unter anderem euer wor-gunischer Gefährte Gisol trägt. Nur mit Hilfe dieser Geräte ist es
301
möglich, sich auf Welten, die von den Zyzzkt beherrscht werden, frei zu bewegen. Eines dieser
Geräte habe ich hier!«
Manlius holte den Apparat unter seiner Toga hervor, wo sich offenbar ein verborgenes Futteral
befand.
Der römische Offizier hob es hoch und legte es dann gut sichtbar auf den Tisch des
Konferenzraums.
Gisol starrte wie entgeistert auf das Gerät.
»Es scheint sich um denselben Gerätetyp zu handeln, wie er unter den Widerständlem auf Epoy
üblich war!«
Manlius lächelte flüchtig. »So sind Sie offenbar der berühmte Rebell Gisol, dessen Name in ganz
Om bekannt ist!«
»Der bin ich!« bestätigte der Worgun. »Stimmt meine Beobachtung?«
»Sie entspricht der Wahrheit, ehrenwerter Gisol.«
»Aber...«
»Diese Geräte wurden auf Terra Nostra entwickelt. Über geheime Kanäle lieferte sie unsere
Regierung unter anderem an den Widerstand auf Epoy!«
Gisol hob die Augenbrauen. Damit hatte der Worgun ganz offensichtlich nicht gerechnet.
Nuntius ergriff jetzt das Wort. »Wir wissen sehr wohl, was das Volk der Worgun für uns und die
Entwicklung unserer Zivilisation getan hat. Leider war es uns bislang nicht möglich, den Befrei
ungskampf dieses großen Volkes aktiver zu unterstützen. Aber sobald uns mehr Ala-Metall zur
Verfügung steht, wird sich das vielleicht ändern...«
Der Worgun verschluckte eine Bemerkung, die ihm fast herausgerutscht wäre: nämlich die, daß
es so gut wie keine Vertreter seines Volkes mehr gab, die noch aktiv für ihre Freiheit kämpften.
Die Meegs nahmen sich des Rechnerproblems an. Und sie hatten Erfolg. 302
Tantal überbrachte Huxley Stunden später die Nachricht, daß es ihnen gelungen war, den Sperrcode der Datei zu deaktivieren, die im Rechner des Sonnentauchers gefunden worden war. »Das ist nun wirklich mal eine gute Nachricht«, bekannte der Colonel mit Nachdruck. »Wo wollen wir sie uns anschauen?« »In der Arbeitsräumen der Meegs?« schlug Tantal vor. »Es ist alles bereits aufgebaut.« Huxley akzeptierte ohne Diskussion. Zusammen mit seinem Ortungsoffizier verließ er die Zentrale und schloß sich Tantal an. Sie begaben sich zum Achskorridor, der sich vom Bug bis zum Heck durch die CHARR zog. Während sie von den grünlich pulsierenden Energiefelder im schnellen Schritttempo durch den Leib des Riesenschiffes getragen wurden, fragte sich Huxley, was die Meegs herausgefunden hatten. Aber was auch immer, er hoffte, daß die Ergebnisse ihrer Arbeit der CHARR zu einer genauen Standortbestimmung verhelfen würden. Die Wirkungsstätte der Meegs, in der man sie bereits erwartete, befand sich in einem großen, grell erleuchteten Raum im Heckbereich der CHARR. Er machte weniger den Eindruck eines Labors oder Arbeitsraumes von Wissenschaftlern, sondern wirkte vielmehr wie die verkleinerte Steuerzentrale eines Nogkschiffes. Ausgerüstet mit mehreren hintereinander gestaffelten Konsolen und drehbaren, hochlehnigen Sitzgelegenheiten, in denen die Nogk Platz fanden. Keine Frage, die Meegs hatten sich für die Expedition mit der CHARR entsprechend vorbereitet. Eine große Allsichtsphäre dominierte die gegenüberliegende Stirnwand. »Es verging einige Zeit«, berichtete der Meeg Meenor, »bis ich die Sperrcodes umgangen hatte. Aber dann entdeckte ich, daß das Programm einer uralten Verschlüsselung unterzogen war, die ich in Ansätzen schon einmal in einer Herberge des Wissens gesehen hatte...« »Etwa im Kraat-kal-meeg auf Geret III?« warf Huxley ein. Meenor starrte den Colonel einige Augenblicke lang an. Das Licht brach sich in seinen starren Facettenaugen, die den Nogk 303
auch eine eingeschränkte Sicht nach hinten erlaubten, ohne daß sie den Libellenkopf drehen mußten. »Nein«, kamen dann seine semitelephatischen Bildimpulse. »Es war an einem anderen Ort.« An welchem, ließ er nicht verlauten. Huxley hatte für Bruchteile von Sekunden das Gefühl, als hätte der nogksche Mathematiker etwas gezögert mit seiner Antwort. Dann zuckte er innerlich die Schulter. Er konnte sich ja auch getäuscht haben. Offenbar sah er seit dem Erlebnis mit der Kl überall Gespenster. »Nun, ist ja auch egal. Wichtig ist nur, daß du den Sperrcode geknackt hast, Meenor«, ließ er den Meeg wissen. »Was also enthält die Datei?« Der Meeg aktivierte einen Holoprojektor an seiner Konsole. Während sich der Kubus hochlud, sagte er über seinen Translator: »Die Datei enthält eine Menge Textmaterial. Darin wird von einem >Leuchtenden< erzählt, einem >Erleuchteten< des Nogk-Volkes... der immer das Ohr des Alten Weisen haben wird... es ist nur eine Rohübersetzung, und ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich oder einer meiner verehrten Meeg-Brüder je eine vollständige Übertragung zustande bringen werden. Ich bin mir auch nicht schlüssig, ob ich den wahren Gehalt des Textes wiedergebe. Es sind viele Begriffe und Symbole, die ich noch nie zuvor gesehen habe. In keiner Herberge des Wissens, in der ich je gewesen bin. Der Text macht den Eindruck einer sehr alten Version unserer Schrift. Aber das ist nicht das Wesentliche, Ratsmitglied Huxley... du erwartest etwas anderes. Deshalb sieh!« Inzwischen hatte sich der Kubus vergrößert, hatte an räumlicher Tiefe gewonnen. Eine Art Sternenkarte erschien. Sie zeigte unbekannte Konstellationen. Eine Reihe von Zahlensymbolen erschien neben den verschiedenen Sternenballungen. Von einem dieser Sternenhaufen zog sich eine Lichtspur zu einer anderen Konstellation. Perry stieß zischend die Luft aus. »Was haben wir denn da?« Seine Stimme klang angespannt. 304
»Sieht aus wie eine Stemenkarte«, meinte Huxley.
»Es ist eine«, bestätigte Meenor.
»Von unserer Galaxis?« fragte Perry.
Der Meeg bejahte.
»Also doch keine fremde Galaxis... aber diesen Bereich habe ich noch in keinem Stemenkatalog
gesehen.« Der Ortungsspezialist schüttelte unsicher den Kopf.
»Eure Eroberung der Galaxis steht ja auch erst ganz am Anfang«, erklärte Tantal. »Ihr könnt sie
unmöglich schon zur Gänze kennen.«
»Wie wahr«, murmelte Perry fast unhörbar. Er folgte der Lichtspur. »Markiert die etwas
Bestimmtes?«
Der Meeg wiegte den monströsen Schädel.
»Eine Verbindung, eine Wegstrecke zwischen zwei Sternenreichen vielleicht. Wir sind noch
nicht hinter die Bedeutung der Spur gekommen«, bedauerte er.
Schweigend wog jeder für sich diese Hypothese ab.
»Aber ihr kennt unsere Position«, sagte Huxley. »Sonst machte diese Demonstration keinen Sinn,
nicht wahr?«
»Man kann nichts vor dir verheimlichen, Ratsmitglied«, gestand Meenor.
Da bin ich anderer Ansicht, dachte Huxley, ohne daß seine Gedanken die Nogk erreichten.
»Laut« jedoch sagte er: »Fast nichts, Meenor. Fast nichts. Das macht einen guten Kommandanten
aus, zumindest bei uns Menschen.« Er schwieg einen Moment. »Was hast du... was habt ihr in
Bezug auf unseren Standort herausgefunden?«
»Der Energiestatus der Meiler, den wir in unsere Berechnungen mit einbezogen, zeigt, daß wir ab
dem Zeitpunkt der Übernahme der CHARR durch Turr-Aan kaum mehr als 2000 Lichtjahre zu
rückgelegt haben können. Schlägt man von unserer letzten bekannten Position aus kugelförmig
einen Radius dieser Ausdehnung um uns als Mittelpunkt, können wir unmöglich die Galaxis
verlassen haben.«
305
»Wo befinden wir uns genau, Meenor?« Huxley war bemühte, seine Ungeduld nicht zu offen zu zeigen. »Da wir im Besitz eines hochentwickelten Rechenprogramms sind, das die unbekannten Stemkonstellationen unserer Umgebung - die übrigens denen auf dieser Datei entsprechen - mit den bekannten Sternkarten der Milchstraße in Korrelation zu bringen imstande ist, gelang uns eine Bestimmung. Grob gesagt befinden wir uns in einem so gut wie nicht erforschten Seitenarm der Galaxis. Hier sind die Koordinaten... und die des Ziels von Turr-Aan, vermuten wir.« Meenor übergab Huxley einen münzgroßen Datenspeicher, der ihn postwendend seinem Ortungsoffizier aushändigte. Perry verschwand auf der Stelle, um damit den Nav-Rechner in der Zentrale zu füttern. Tantal fuhr an Stelle Meenors fort: »Die letzte von Turr-Aan gesteuerte Transition hat die CHARR bis auf ein knappes Lichtjahr an jenen Stern dort herangebracht.« Der kobaltblaue Nogk-Mutant deutete mit seinem Reptilienmittelfinger auf das große Karree des Wandschirmes. Huxley betrachtete die Projektion. Es handelte sich um den gleichen Stern, den auch die Allsichtsphäre im Leitstand in den Mittelpunkt gerückt hatte. Der Colonel besaß ein Auge dafür. Er war in der Lage, sich eine Stemprojektion und die Strecke dorthin einzuprägen und sie dann nicht mehr zu vergessen. Ein Vorgang, den er durch Jahre harten Trainings fast bis zur Perfektion verfeinert hatte. »Ist er euch bekannt?« Es war Meenor, der Astronom und Mathematiker, der verneinte. »Warum war dann die Kl auf dem Weg zu ihm?« »War sie das?« stellte Tantal die Gegenfrage. »Weshalb sonst hatte sie ihn als Ziel ausgesucht? Sie muß einen Grund gehabt haben, hier herzufliegen.« Die Nogk blieben stumm, sowohl die Vertreter des alten Volkes, als auch die Generation der Neuen, die Kobaltblauen. 306 Huxley wartete exakt zwanzig Sekunden, ehe er sagte: »Na gut, wir werden es herausfinden.«
Es waren noch keine dreißig Minuten vergangen, seit die CHARR Fahrt aufgenommen und ihre
Warteposition mitten im unbekannten Raum verlassen hatte, in Richtung auf jenen Stern, der
auch Turr-Aans Ziel gewesen zu sein schien.
Frederic Huxley studierte die Allsichtsphäre und die in sie hin-einprojizierten Ansichten; die
Illusion, daß sich vor den Männern in der Zentrale ein riesiges, leicht gekrümmtes Fenster nach
draußen befand, war vollkommen.
Suprasensorische Signale wisperten aus den Tonphasen, während die Meßfühler den umgebenden
Raum durchforsteten und die Konsolen der einzelnen Stationen mit Daten und Informationen
versorgten.
Schließlich fuhr Huxley seinen Gliedersessel etwas in den Schienen zurück.
»Statusbericht, 1.0.!«
»Alle Systeme im grünen Bereich, Skipper«, meldete der Erste Offizier.
»Sehr gut«, brachte der hagere, grauhaarige Colonel seine Zufriedenheit zum Ausdruck. Er drehte seinen Gliedersessel etwas seitwärts. Seine Hand schloß einen Kontakt auf der verbreiterten Armlehne. »Astrometrie. Bannard hier. Colonel?« Professor Allister Bannard blickte von einem Monitor der Kommandantenkonsole. Wie die meisten an Bord der CHARR, hatte auch der Wissenschaftler bereits Dienst auf der FO I getan schon damals als Chef der Astroabteilung. »Professor, schon etwas Konkretes über den Zielstem?« »Nicht mehr, als daß es sich um einen Stern des Spektraltyps M handelt«, bedauerte Bannard. »Er ist in keiner unserer Karten ver 307 zeichnet. Er muß allerdings eine Menge Planeten besitzen, dem Grad und der Häufigkeit der
Bedeckungen zufolge. Wir haben ihm eine Katalognummer zugeteilt, mehr ist im Augenblick
nicht möglich.«
»Das ist doch schon etwas«, versicherte Huxley. »Zentrale Ende.«
Während das Bild aus der Astrometrie verblaßte, wandte sich der Colonel an seinen Zweiten.
»Bringen Sie uns hin, Mister Maxwell.«
»Zu Befehl!«
In einer einzigen Transition überwand die CHARR die für sie lächerlich geringe Distanz von
einem Lichtjahr und materialisierte nicht mehr als zwei Astronomische Einheiten außerhalb eines
Systems von 28 Planeten.
In einem Winkel von etwa zweiundzwanzig Grad schräg zur Ekliptik der Planetenbahnen
geneigt, bewegte sich das golden schimmernde Ellipsoid von »oben« ins Innere des Systems.
Jetzt sagte Huxley - und seine Stimme klang in gewohnter Weise beherrscht und ruhig: »Mister
Perry!«
Der Kopf des Dritten Offiziers und Ortungsspezialisten wandte sich ihm zu.
»Kommandant?«
»Ist im System die Verwendung von Energie feststellbar?«
»Energie in unserem Sinne? Nein!« erwiderte Perry. »Weder Hyperfunk noch überlichtschnelle
Raumfahrt.«
»Überhaupt keine Raumfahrt?«
»Das habe ich nicht gesagt. Kann durchaus sein, daß es Raumfahrt gibt, vergleichbar der unseren
Anfang des Jahrhunderts.«
Spannung breitet sich in der Zentrale aus. Alle Schirme waren in Betrieb. Das Schiff richtete
sämtliche Identifikationsinstrumente auf das System. In Sekundenabständen kam ein Strom
gebündelter Meßwerte und Tasteranalysen durch.
»Was sagt die Ortung, Mr. Perry?« fragte Huxley erneut und stemmte den linken Fuß auf die
Raste seines Kommandantenses
308
sels. »Wäre Leben möglich in diesem Durcheinander von Welten?«
Perry konsultierte seine Daten.
»Leben in unserem Sinn könnte auf Nummer sieben und acht existieren.«
»Details, Mister Perry, Details!«
Die Vergrößerungen holten die beiden Planeten heran.
Der eine, Nummer sieben, zeigte das fahle Gelbbraun einer heißen Wüstenwelt. Der andere,
Nummer acht, war laut Ferntastung zur Hälfte von Wasser bedeckt und wies aufgrund des
Albedos einer dichten Wolkendecke eine angenehme Durchschnittstemperatur auf.
Die CHARR drang tiefer in das System ein.
Alle Augen blickten auf die Schirme, sahen Nummer acht aus dem Gewimmel der Sterne
auftauchen und das Blickfeld ausfüllen. Der Planet wurde deutlicher und größer. Dann kamen die
ersten Informationen über ihn, die besagten, daß er eine erdähnliche Sauerstoffwelt mit einen
Durchmesser von 12 480 km war.
Über die nördliche Hemisphäre erstreckte sich eine rhombus-förmige Landmasse von der Größe
Nord- und Südamerikas, auf der laut den Auswertungen der Biosensoren Leben existierte, das
sich hauptsächlich an den Küsten entfaltete. Die Schatten weißer Wolken und langgestreckte
Filamente von Wasserdampf zogen durch seine Atmosphäre.
»Sieht fast aus wie die Erde.«
»Ist es aber nicht«, versetzte Colonel Huxley.
Lee Prewitt seufzte versteckt.
»Nein - natürlich nicht.«
Der Kommandant wandte sich der Funkzentrale zu. »Was sagt die Funkpeilung? Irgendwelche Signale aufzufangen?« John Butrovich bejahte. »Reger Mikrowellenfunk, Sir! Sie sind über das Dampfmaschinenzeitalter hinaus, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten. Wir sollten hinunter und uns umsehen. Ist si 309
eher interessant, eine neue Zivilisation zu entdecken.«
»Genau das werden wir nicht tun!« versicherte Frederic Huxley.
»Warum nur habe ich mir so was schon gedacht?« murmelte Butrovich.
Perry setzte zu einer scharfen Erwiderung an, aber eine Kopfbewegung des Kommandanten
brachte ihn davon ab.
Huxley wandte sich von der Teil Vergrößerung ab, die immer mehr die Schirme ausfüllte, und
den Männern in der Zentrale zu.
»Wir haben eine Mission zu erfüllen, meine Herren«, sagte er knapp und beherrscht. »Diese hat
Vorrang. Sollte sie sich zu unserer Zufriedenheit entwickeln, bin ich der letzte, der etwas gegen
die Erforschung einer neuen Zivilisation einzuwenden hätte.«
Tantal, der sich ebenfalls im Leitstand der CHARR aufhielt, wandte sich an den Colonel. »Wenn
dieses System wirklich das Ziel der künstlichen Intelligenz Turr-Aan war«, kamen seine bild
haften Impulse, »dann käme nur Planet sieben in Frage.«
Huxley signalisierte seine Zustimmung.
»Also widmen wir uns Nummer sieben.« Er schwieg einen Moment, dann nickte er seinem
Stellvertreter zu. »Ich sage Ihnen, was wir machen, Lee: Sie schleusen mit der FO I aus. Nehmen
Sie sich die übliche Besatzung. Wir teilen uns die Aufgabe der Exploration von Nummer sieben.
So gewinnen wir wesentlich rascher Ergebnisse.«
Die energetischen Gleitfelder des Hauptkorridors, der die CHARR vom Heck bis zum Bug
durchschnitt, trugen den Zweiten Offizier in den riesigen Hangar, in dem die FO I auf ihren
Bettungen ruhte. Der pfeilschlanke, zweihundert Meter lange Rumpf des ehemaligen
Forschungsraumers füllte den Großhangar nahezu vollständig aus. Die spindelförmige FO I, von
den Meegs seit Beginn von Huxleys Mitgliedschaft im Rat der Fünfhundert bei jeder sich nur
bietenden Gelegenheit immer wieder auf den neusten
310
Stand nogkscher Raumfahrttechnologie gebracht, w,ar bereits startklar. Die ständig präsente
zweite Besatzung war an Bord.
Der 11.0. enterte die Schleuse des Raumers. Nur wenig später nahm er seinen Platz hinter der
Kommandantenkonsole im Leitstand ein.
Er lehnte sich in seinem Gliedersessel zurück, der sich selbsttätig auf seine Körpermaße
einstellte. Schließlich ruhten seine Arme auf den ergonomisch geformten Lehnen, so daß er
bequem mit den Fingern die Kommunikations- und Kontrolltasten erreichte.
Er schloß einen Kontakt.
»Maschine?«
»Bereit«, kam die ruhige Antwort des Zweiten Ingenieurs aus der Antriebssektion im Heck.
»Konverter auf volle Leistung.«
»Waffenstationen?«
»Bereit.«
»Ortung?«
»Alle Taster in Betrieb...«
»Gut«, sagte Maxwell und studierte die hereinströmenden Daten auf seiner Konsole ein letztes
Mal. Dann nickte er seinem Kopiloten zu.
»Hangaröffnung einleiten, Mister Henroy!«
»Wird gemacht!«
Unter Henroys Schaltungen öffnete sich in der Außenhülle des Druckkörpers der CHARR das
zweihundertzwanzig Meter lange Hangartor und faltete sich seitlich zusammen. Ein energetisches
Kraftfeld verhinderte, daß während des Öffnungsvorganges die Luft aus dem Hangar entweichen
konnte.
Maxwell starrte hinaus in die stemengesprenkelte Schwärze. In der unteren Ecke seiner
Konsolensichtsphäre glänzte die gelbbraune Kugel von Planet VII unter den Strahlen des
mächtigen Zentralgestims.
»Ausschleusung eingeleitet«, meldete der Kopilot. »Beginn jetzt!« Diese Prozedur geschah ohne ihr Zutun. 311 Sobald die Schleuse vollständig geöffnet war, deaktivierten sich die magnetischen
Halteklammem.
Die FO I schwankte unmerklich, als A-Gravfelder sie aus ihren Bettungen hoben. Unter dem
Druck der Ausschleusungsfelder setzte sich der Forschungsraumer in Bewegung und glitt, den
Bug auf die von draußen hereinschimmemde Stemenkulisse gerichtet, in den Weltraum hinaus,
wobei er die energetische Membran durchdrang, ohne daß auch nur ein Luftmolekül aus dem
Hangar entweichen konnte.
Binnen Sekunden war die FO I im Weltraum.
»Schiff frei«, ließ sich Henroy vernehmen.
Maxwell schaltete die Triebwerke ein.
Das pfeilschlanke Schiff nahm Fahrt auf, und die gewaltige Masse der CHARR fiel hinter ihm
zurück.
Der Suprasensor übernahm.
Die FO I beschleunigte, ging in eine Abstiegsparabel zum Planeten, schwenkte in die
Umlaufbahn ein und zog in einer Höhe von dreihundert Kilometern über der rotgelben
Oberfläche ihre Suchkreise.
16. Huxley verfolgte auf dem Hauptschirm, wie die FO I sich von der CHARR entfernte und hinter
die Planetenkrümmung tauchte. Maxwell hatte den Orbit so gewählt, daß er die Welt von Nord
nach Süd umkreiste. Auch die CHARR schwenkte jetzt in ihren Orbit ein. Ebenfalls dreihundert
Kilometer über der Oberfläche zog sie ihre Kreise; sie würde von West nach Ost fliegen, hatte
Huxley bestimmt. So würden beide Schiffe die größtmögliche Wirkung erzielen. Die Taster
analysierten die Oberfläche; auf den korrespondierenden Bildschirme waren die Ergebnisse zu
verfolgen.
Welt VII war etwas größer als die Erde und bestand hauptsächlich aus einem System von Wüsten
und Steppen, die sich um den Äquatorkreis erstreckten. Sie trugen kaum Pflanzenwuchs und wa
ren von tiefen Wadis durchzogen. Laut den Analysen reichten sie mitunter tief in die
Planetenkruste und ließen die Oberfläche wie einen zersprungenen Spiegel wirken. Von Pol zu
Pol zogen sich einige Höhenrücken über den Planeten. Größere Wasserflächen waren keine
auszumachen, waren wahrscheinlich gar nicht vorhanden. Wenn doch, dann höchsten in
versteckten Senken oder auf dem Grund der Wadis.
In der trockenen Atmosphäre waren nur wenige, schleierartige Wolken zu sehen - augenfälligstes
Indiz für fehlende Feuchtigkeit.
Dem Grad seiner Achsenneigung und der Entfernung von der Sonne nach mußte der Planet in
etwa 28 Stunden um sich selbst rotieren und rund 510 Tage für einen Umlauf um sein Zentralge
stim benötigen. Trotz seines Umfanges und den geologischen Gegebenheiten lag die Gravitation
mit 0,984 Gravo bei Erdnorm.
»Ein richtig schöner Fleck zum Sonnenbaden«, ließ sich einer der Funktechniker aus Perrys Stab
vernehmen.
»Wenn jemand Sandpapierhaut mag, die sich in langen Bahnen vom Körper schält - nur zu!« ließ
sich Butrovich vernehmen und schüttelte sich gekonnt.
313
Die Bilder der Planetenoberfläche zogen auf der Allsichtsphäre vorüber.
Die CHARR jagte weiter nach Osten, rund zwanzigtausend Stundenkilometer schnell.
»Sehen Sie... dort unten, Kommandant!«
Es war John Butrovich, der Huxley auf etwas aufmerksam machte, das der Allsichtschirm zeigte.
»Voller Stopp, Mister Prewitt.«
Die CHARR verharrte von einer Sekunde zur anderen.
»Höhe?«
»Noch immer exakt dreihundert Kilometer über Grund.«
»Gehen Sie tiefer.«
Die CHARR fiel nahezu senkrecht aus dem Himmel,
Huxley behielt die Anzeigen im Auge.
»Stop!« sagte er, als die digitale Wiedergabe bei fünftausend Meter angelangt war.
»Was ist das dort unten?« fragte er die Ortung. »Vergrößern!«
In der Allsichtsphäre öffnete sich ein Fenster, hob sich in den Vordergrund und zeigte nähere
Einzelheiten.
Huxley runzelte die Brauen.
»Ein Wrack!« sagte Lee Prewitt und verstummte wieder.
Huxley mußte ihm beipflichten. Er betrachtete schweigend das, was der Sichtschirm zeigte: einen
Ausschnitt der Oberfläche von etwa vierzig Kilometern Ausdehnung. Ein Felsrücken zog sich
quer durch einen wüstenähnlichen Landstrich. Am Fuße eines Abbruchs, der einen langen
Schatten in die Wüste warf, lag das Wrack. Die eingeblendete Datenzeile der Auswertung gab
ihm die Größe eines Nogk-Schiffes, auch die Umrisse stimmten in etwa mit den Ellipsenschiffen
der Nogk überein. Es wirkte entfernt wie ein Ellipsoid oder Ei, doch genauere Einzelheiten waren
vorerst nicht auszumachen.
»Das sehen wir uns an«, bestimmte Huxley. »Vielleicht finden wir etwas Aufschlußreiches.«
»Wo landen wir?« ließ sich der I. 0. vernehmen.
314
»Suchen Sie einen Platz etwas entfernt von dem Wrack.«
Die CHARR fiel unter den Schaltungen des Ersten Offiziers aus dem dunkelblauen Himmel.
Wortlos deutete Prewitt auf die Leuchtanzeigen eines Kombigerätes, das bisher unablässig seinen
Dienst verrichtet hatte. Huxley warf einen Blick auf den Monitor.
Die Atmosphäre dieses Planeten war ähnlich wie die der Erde. Sie lag zwar am unteren
Grenzwert, hatte kein Zuviel an Sauerstoff, enthielt aber auch keine schädlichen Gase. Man
würde keine Atmosphären- oder Raumanzüge benötigen.
Huxley nickte zufrieden.
Dann landete die CHARR auf einer flachen Anhöhe etwa drei Kilometer vom Raumschiffswrack
entfernt und setzte sanft wie eine Feder auf ihren A-Gravpolstem auf.
Während Huxley seine Anweisungen zum Ausschleusen gab, meldete sich Maxwell aus der FO I
zu Wort. Er hatte über die ständig offene Phase zwischen den beiden Raumschiffen von der
Entdeckung vernommen.
»Ich habe einen geeigneten Landeplatz ganz in der Nähe des euren gefunden«, erklärte er. »Habe
ich Erlaubnis zur Landung?«
»Nichts da. Sie bleiben im Orbit, 11.0.«, befahl Huxley. »Ich möchte hier unten ungestört sein,
wenigstens für eine Weile. Halten Sie ein wachsames Auge auf den uns umgebenden Raum. Ver
standen?«
»Natürlich, Kommandant.« An Maxwells Tonfall war nicht zu erkennen, ob er mit der
Entscheidung seines Kommandanten konform ging. Aber Huxley grinste doch leicht.
Üblicherweise ließ sich Maxwells Verstimmung daran erkennen, daß er in bemüht sachlichem
Tonfall sprach.
Huxley lächelte noch immer amüsiert, als er sich umdrehte.
»Sind Sie fertig, Mister Foraker?«
»Natürlich. Die Gleiter warten bereits vor der Rampe.«
Huxley wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Mister Prewitt, Sie haben die Ehre, die Exkursion
zu leiten.«
315 Die Einöde war erdrückend. Während Lee Prewitt von den Energiefeldem der Rampe auf die Oberfläche getragen wurde, bot sich seinen Augen ein Bild absoluter Verlassenheit. Wüste, so weit das Auge reichte. Die Sonne am wolkenlosen Himmel war ein lodernder Ball in der hitzeflirrenden Luft. Die Temperatur betrug etwa dreißig Grad, wie der 1.0. mit einem Blick auf sein Armbandgerät feststellte. Und der nur leicht wehende Wind trug nicht zur Abkühlung bei, er schaffte es gerade, Sand und Staub in langen Fahren über den Boden zu treiben. Dann betrat Prewitt die fremde Welt. Er war dort, wo Turr-Aan hatte sein wollen. Wirklich? Schlagartig kamen ihm die Worte der Kl in den Sinn... »ich suche nach den Koordinaten meiner Heimat... ich muß zurück zu meinen Schöpfern.« Prewitt zog eine Grimasse. Wenn dies je eine Heimat- oder Basiswelt der Nogk gewesen war - jetzt war nichts mehr davon vorhanden. Weder die Taster der CHARR noch die der FO I hatten bisher irgendwelche Anzeichen einer Besiedelung dieser Welt entdeckt;
keinerlei Gebäudereste oder unterirdische Verteidigungsanlagen, wie man sie auf Geret III
vorgefunden hatte. Und Lee Prewitt war sich fast sicher, daß sie hier auch nicht den Hauch einer
Spur ehemaliger Nogk-Niederlassungen finden würden. Was immer die Kl hier gesucht haben
mochte, es war nicht vorhanden. Aber vielleicht war dieses System, dieser Planet gar nicht das
eigentliche Ziel! Was, wenn er oder es nur ein weiterer Wegpunkt einer Strecke war, die ganz
woanders hinführte?
Wie hatte Turr-Aan noch geantwortet, als er nach seinem Ziel gefragt wurde: »... das werdet ihr
erkennen, "wenn ich den Endpunkt erreicht habe.«
Diese Welt schien jedenfalls nicht jener ominöse Endpunkt zu sein.
316
Lern Foraker saß bereits hinter dem Steuer des schweren Gleiters; der Platz neben ihm war frei.
Dahinter saßen zwei blaue Nogk, Captain Sybilla Bontempi und vier schwerbewaffnete Männer
aus Forakers Truppe. Da man nicht wissen konnte, was auf die Gruppe zukam, waren Prewitt, die
Nogk und die Fremdvölkerexpertin selbst mit Lähmstrahlem und Blastem bewaffnet.
Der zweite Gleiter war ausschließlich mit Nogk, Meegs und Kobaltblauen besetzt.
»Okay, wir können!« sagte Prewitt und schwang sich auf seinen Sitz. Anerkennend bemerkte er,
daß das Funkgerät aktiviert war. Foraker wußte, daß die Verbindung mit dem Schiff wichtig war.
Die Gleiter hoben sich auf ihrem A-Gravfeld und setzten sich dann in Bewegung, etwa fünf
Meter über Grund.
»Zweitausend Meter«, sagte Foraker laut, ohne den Blick von der Strecke zu lassen. »Wir sollten
gleich da sein.«
Er flog in einer weit ausholenden Kurve auf das Wrack zu, während Prewitt hinausblickte. Es
schien rätselhaft, was die Kl hier gesucht hatte - gab es überhaupt Leben in dieser Wüste?
Dann kam das Raumschiffswrack in Sicht.
»Achtet auf Spuren!« sagte Lee Prewitt laut.
Die Gleiter umkreisten den zerstörten Rumpf mehrmals. Aus dieser relativen Nähe war
unverkennbar zu sehen, daß es tatsächlich einem Nogk-Ellipsoid ähnelte, wenn es auch nicht die
glatte Außenhaut der jetzigen Eiraumer besessen hatte. Die staubüber-krusteten Wandungen
waren von den Kuppeln und Aufsätzen außen angebrachter Waffensysteme übersät. Das Wrack
machte den Eindruck, als sei es von Explosionen im Inneren zerstört worden. Massive Schläge
hatten die Hülle nach außen getrieben, zerbeult, zerrissen und lange Scharten geschlagen. Es lag
auf der Seite, vor ihm war die Fläche von herumliegenden Trümmern gesäumt. Vor dem Schiff
lag das abgestürzte Wrack eines Beibootes unbekannter Bauart.
»Landen?« fragte Lern Foraker.
Prewitt nickte. »Gehen Sie runter. Lern.«
317
Das fünfhundert Meter messende Wrack warf einen elliptischen Schatten. Dort setzte der
Taktische Offizier den Gleiter ab, was Sybilla Bontempi dankbar vermerkte.
Die Gruppe stieg aus. Ihre Schritte wirbelten feinen Staub empor, der vom beständig wehenden
Wind davongetragen wurde; der Lüftzug brachte keine Abkühlung.
»Soll ich noch ein Team anfordern, Lee?« fragte Foraker den Ersten Offizier.
»Wollte ich gerade vorschlagen. Lern«, erwiderte Prewitt. »Man hat ja nie zu viele Leute bei
einer Außenmission.«
Lern Foraker sprach eine kurze Anweisung in das Funkgerät.
Dann folgte er den anderen, die sich zunächst dem Wrack des Beibootes widmeten. Es war
aufgeplatzt wie eine Frucht, die aus großer Höhe auf harten Untergrund aufgeschlagen war. Von
einer Besatzung, gleich welcher Art, fanden sich keine Spuren, auch keine sonstigen
verwertbaren Hinweise.
Sie wandten sich dem Raumschiffswrack zu.
Die mittlere Schleuse stand offen, aufgesprengt von innen heraus. Das schwere Portal lag unter
dem Wrack, halb im Flugsand eingegraben.
»Gehen wir hinein und sehen nach, was hier passiert ist«, schlug Prewitt vor und erntete
allgemeine Zustimmung
Dann erregte einer der Nogk seine Neugierde. Der Kobaltblaue, Prewitt wußte, daß er Soron hieß,
hatte ein seltsam aussehendes Meßgerät in den Fingern seiner viergliedrigen Reptilienhand, das
er auf das Metall des Wracks richtete.
Sekunden später sandte er seine Bildimpulse an seine Begleiter.
»Das Wrack ist sehr alt«, verkündete er über seinen Translator. »Mindestens tausend eurer Jahre,
Mensch Prewitt.«
»Nur Prewitt«, erwiderte der 1.0. mechanisch, um dann fortzufahren: »Ich dachte mir schon so
etwas. Alle Spuren deuten darauf hin, daß dieses Schiff lange Zeit den Witterungseinflüssen
dieser Welt ausgesetzt gewesen sein muß.« Er wollte noch etwas hinzufügen, wurde aber durch
eine laute Stimme aus seinem Armband-318
vipho daran gehindert.
»Achtung, an alle!« kam Maxwells Stimme aus der fernen FO I. »Wir haben ein fremdes
Raumschiff geortet, das auf einer ballistischen Bahn auf diesen Planeten zukommt. Die Analyse
der Bahnvektoren läßt die begründete Vermutung zu, daß es vom achten Planeten stammt. Es ist
offenbar automatisch gesteuert. Wir können keine Lebenszeichen an Bord orten...« Maxwells
Stimme verstummte für einen Augenblick, um dann fortzufahren: »Es schwenkt gerade auf eine
Kreisbahn um die Wüstenwelt ein!«
»Warum haben Sie es so spät entdeckt, Maxwell?« kam jetzt Huxleys Stimme mit einem
merkwürdigen Dopplereffekt aus Prewitts Vipho. Dann erkannte der Erste Offizier, daß die
aktive Tonphase des schweren Funkgeräts im Gleiter diesen Effekt erzeugte.
»Sir, das Schiff ist so winzig und energiearm, daß es selbst unsere Taster fast übersehen hätten.«
»Wieso? Wollen Sie mir etwa weismachen, es besteht aus Holz und Segeltuch?«
Maxwell erlaubte sich ein Lachen. »Nicht ganz, Sir. Aber nach unseren Analysen besteht es zu
achtzig Prozent aus Biomasse!«
Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen auf den Phasen.
»Sie scherzen nicht, 11.0.?«
»Würde ich mir nie erlauben, Kommandant«, versicherte der Zweite Offizier im Brustton der
Überzeugung.
»Möchte ich Ihnen auch geraten haben, mein Lieber. - Gut. Sie bleiben weiter im Orbit, Maxwell,
und verfolgen das Minischiff aus Ihrer Warte. Legen Sie mir alles, was Ihnen vor die Sensoren
kommt, auf unsere Allsichtsphäre. Huxley Ende.«
»Verstanden. Maxwell Ende.«
»Sollen wir unsere Mission abbrechen, Skipper?« klinkte sich Prewitt in den Funkverkehr zur
CHARR ein.
»Nicht nötig, 1.0.«, kam die prompte Erwiderung. »Machen Sie ruhig weiter. Ich glaube, dieses
Problemchen kriegen wir hier in den Griff.«
»In Ordnung.«
319 Die beiden Außenteams drangen in das Wrack ein. Sie stolperten über Trümmer, enterten über Notleitern die einzelnen Decks oder krochen durch geborstene Korridore und Kammern. Ein Wirrwarr von lose herunterhängenden Leitungen, Rohren und Glasfaserbündeln erschwerten das Vordringen. Das Chaos war perfekt. Und rätselhaft. Man gewann immer mehr den Eindruck, als seien an mehreren Stellen im Inneren des Raumers Bomben gezündet worden. Durch die zerstörten Segmente der Außenhaut drang Licht herein. Flugsand hatte sich angehäuft und füllte manche Räume, vor allem die, die unmittelbar hinter den Schiffswandungen lagen, zur Hälfte und höher mit Sand. Der Wind, der durch die Öffnungen seufzte und klagte, schien das Wrack mit den Geistern längst vergangener Zeiten zu füllen. Das Nogk-Team (außer Soron, der bei den Terranem blieb) hatte sich den Bereich der Triebwerkssektion vorgenommen und konnte berichten, daß die Meiler nicht hochgegangen, sondern merkwürdigerweise abgeschaltet worden waren. »Was ist hier geschehen, Lee?« knurrte der Taktische Offizier und half der zierlichen Anthropologin über ein Trümmerstück hinweg. Lee Prewitt zuckte ratlos mit den Schultern. Und die Ratlosigkeit erfuhr noch eine Steigerung, als sie auf einem Deck Reste von Kleidung fanden, die eindeutig militärischen Zuschnitts waren. Ein überschlägiger Vergleich von Sybilla Bontempi ergab, daß sie von etwa zwei Meter großen, humanoiden Wesen getragen worden sein mußten. Sorons Analysegerät gab den Uniformresten das gleiche Alter wie dem Schiff: 1000 irdische Jahre. Fatalerweise zerfielen sie zu Staub, sobald man sie berührte, so als habe etwas die Molekülket 320
ten der Kunstfaserstrukturen gewaltsam zerstört. »Oder es waren Naturfaserstoffe«, trug Sybilla noch mehr zur allgemeinen Verwirrung bei.
»Verdammt, was ist hier geschehen?« Lern Forakers laute Stimme brach sich als Echo in dem leeren Wrack. »Wir müssen in die Zentrale«, sagte Prewitt. »Vielleicht finden wir dort eine Antwort.« Es war den Nogk zu verdanken, die sich offenbar hervorragend in dem Wrack zurechtfanden, daß sie kurze Zeit später die Zentrale erreichten. Sie war hermetisch abgeriegelt und widerstand jedem Öffnungsversuch von Seiten der Meegs. Eine unversehrte Zentrale? Das bedeutete Zugriff auf Daten, die zur Aufklärung des Rätsels beitragen würden! Foraker schickte zwei seiner Soldaten hinunter zum Gleiter, um den »Büchsenöffner« zu holen, wie er sich ausdrückte. Lee Prewitt grinste und klärte die Fremdvölkerexpertin darüber auf, daß es sich um den gleichen Typ von Spezialroboter handelte, wie sie ihn schon auf Geret III im Einsatz gesehen hatte:* Viel gliedrige, autarke Maschinen, die in Methanatmosphären ebenso operieren konnten wie in den Tiefen von Ozeanen oder auf Welten mit extremer Schwerkraft. Lern Foraker hatte in weiser Voraussicht eines der High-Tech-Geräte an Bord des Gleiters bringen lassen. Geduldig warteten die Teams, bis die Maschine angestelzt kam. Foraker rief das für ihr Vorhaben nötige Programm ab, und der Vielzweckroboter fuhr einen Handlungsarm aus, der mit einem Laserschneider bestückt war. Der nadelfeine Strahl leuchtete grell und schnitt das Schott entlang der sichtbaren Falz auf. Als die Flamme ihren Ausgangspunkt wieder erreicht hatte, nickte Foraker seinen Männern zu. Sie traten das Metall mit ihren Stiefeln weg.
* Siehe Drakhon-Zyklus Band 15: »Welt der Goldenen
321 Der Weg in die Zentrale war frei. Sie traten ein. Prewitt vorneweg. Und dann blieb er stocksteif stehen. Unfähig, auch nur eine Bewegung zu machen, starrte er ungläubig auf die Szene, die sich seinen Blicken bot. Die anderen drängten nach vorne, an ihm vorbei - und erstarrten ebenso ungläubig. Von den Nogk kamen merkwürdigerweise keine Reaktionen, zumindest keine für die Terraner erkennbaren. Die Zentrale glich entfernt jener der CHARR und anderer Nogk-Schiffe. Eine fast identische Anordnung von Konsolen und Kontursitzen. Überall waren Uniformen achtlos auf dem Boden verstreut oder lagen auf den Sitzen - aber es gab keine Leichen. Nur kleine, kegelförmige Staubhäufchen, deren Anblick in Prewitt bruchstückhaft die Erinnerung über den endgültigen Tod der Nogk ins Gedächtnis rief. Diese zerfielen zu denselben kegelförmigen Staubhäufchen, wie sie hier überall im Leitstand anzutreffen waren. »Sie sind alle tot!« sagte er. »Zerfallen zu Staub.« Prewitt wagte kaum einen Schritt zu machen, aus Furcht, die Häufchen zu zerstören. Es erschien ihm wie ein Sakrileg, eine Störung der Totenruhe. Um derartige Überlegungen der Pietät scherte sich der Wind überhaupt nicht, der winselnd und seufzend durch das zerbrochene Schott eindrang und sein Werk begann. »Verdammt!« murmelte der 1.0., klopfte seine Taschen ab und fand nicht, was er suchte. Dann war es Sybilla Bontempi, die erkannte, was Prewitt zu tun beabsichtigte und ihm ein kleines, ver schließbares Gefäß aus ihrer Umhängetasche reichte. Dankbar nahm Prewitt es entgegen; gerade noch im letzten Moment gelang es ihm, eine Probe von einem der Staubhäufchen zu nehmen, ehe der Wind sie alle in einem Moment ungewöhnlicher Stärke erfaßte, in die Luft wirbelte und die mikroskopisch kleinen Partikel in alle Richtungen verwehte. Unwillkürlich begannen alle zu husten, als ihnen die Staubpartikel in Mund und Nase drangen. Sogar die Nogk stießen merkwür 322
dig bellende Laute aus - ihre Version des menschlichen Hustens.
Schließlich hatte sich der Staub verflüchtigt.
Das Räuspem und Husten verstummte.
»Nehmen wir uns den Rechner vor«, sagte Lee Prewitt und sah dabei die Nogk an. »Vielleicht
sind noch Informationen in ihm, die Aufschluß darüber geben können, was hier geschehen ist. Ihr
werdet mir allerdings dabei helfen müssen. Dies hier scheint ein Erzeugnis zu sein, das sich
meiner Vorstellungskraft entzieht.«
»Auch uns ist das nicht möglich«, drangen Sorons Impulse in verbaler Form aus seinem
Translator. »Diese Art von Rechner läßt sich ohne Spezialwerkzeuge aus unserem Labor in der
CHARR nicht öffnen.«
»Dann nichts wie zurück ins Schiff«, ordnete Lee Prewitt an. Bereits auf dem Weg zu den Gleitern registrierte der Terraner ein seltsames Verhalten der Nogk. Meegs wie Kobaltblaue machten einen ungewohnt matten Eindruck. Lee Prewitt führte dieses Verhalten auf die Konfrontation mit der toten Besatzung zurück, die in ihnen im Nachhinein offenbar doch einen tiefen Schock ausgelöst hatte. Auf dem Rückflug zu CHARR gab der Erste Offizier Colonel Huxley eine gedrängte Version der Geschehnisse im Wrack und informierte ihn über den Grund ihrer Rückkehr. Nach wenigen Minuten gelangten sie beim Raumschiff an. Und hier zeigten sich die ersten Symptome eines beginnenden Dramas, das weite Kreise ziehen sollte. Noch in der Schleuse brach plötzlich einer der blauhäutigen Nogk, die an der Außenmission teilgenommen hatten, zusammen. Die sofort herbeigerufenen Sanitäter nahmen sich des Außerirdischen an, und Doktor Berger isolierte vorsorglich alle Nogk, die an der Exkursion beteiligt gewesen waren, in einem eigens für derartige Fälle vorgesehenen Trakt der medizinischen Station. Prewitt schloß sich ihnen an, suchte aber eines der Labors auf, um die Probe untersuchen zu lassen, die er von den Staubhäufchen genommen hatte. 323
In der allgemeinen Aufregung ging die Funkmeldung der FO I fast unter, daß sich das
unbekannte Primitivraumschiff in eine Abstiegsbahn einbremste.
Gegen Mittag ließ Gisol sich mit einem Gleiter zur Akademie bringen. Er verlangte, einen der
beiden Präsidenten zu sprechen.
Er bekam sofort einen Termin.
Laetus empfing Gisol in einem sonnendurchfluteten Atrium. Springbrunnen plätscherten. Die
eigenwillige Säulenkonstruktion warf ein Muster von Schattenbahnen, das wie von einem
Künstler geschaffen aussah.
»Mein Freund und Kollege Nauta ist leider verhindert. Aber vielleicht kann ich Ihnen
weiterhelfen, Gisol!« begrüßte der Akademiepräsident den überraschten Worgun-Rebellen.
»Ich würde mich nicht so direkt an Sie wenden, wenn es nicht wirklich notwendig wäre«, erklärte
Gisol. Immerhin handelte es sich bei den Akademiepräsidenten um die höchsten planetaren
Autoritäten. Daß er überhaupt so schnell eine Audienz bekommen hatte, empfand Gisol als
erstaunlich.
Laetus lächelte nachsichtig. »Sie sind in unseren Augen ein Held, Gisol. Ein Freiheitskämpfer,
der jedwede nur mögliche Unterstützung verdient hat. Sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen
haben und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann!«
»Ich danke Ihnen!«
»Es wäre mir eine Ehre, Gisol. Und ich kann mir keinen Bewohner Terra Nostras vorstellen, der
in dieser Hinsicht anders als ich empfinden würde. Also frei heraus: Was ist Ihr Anliegen?«
Gisol nickte. »An Bord meines Schiffes befindet sich ein Kind. Ich habe es einst auf den Straßen
einer großen irdischen Stadt aufgelesen und bei mir aufgenommen.«
»Was ist mit seinen Eltern?«
»Die sind tot. Ihr Name ist Juanita Gonzales. Ren Dhark hat für
324 morgen mittag den Aufbruch unserer Flotte angeordnet, und bis dahin...« Gisol schluckte. Das Jim-Smith-Gesicht wirkte verkrampft. Es schien ihm schwerzufallen, weiterzusprechen. Du wirst sie sehr vermissen! ging es ihm durch den Kopf. Mehr, als du jetzt vielleicht wahrhaben willst. Aber die Kleine ist längst zu einem Teil deines Lebens geworden. Ein sehr eigenartiges Paar... ein Worgun in Menschengestalt und ein menschliches Kind, das als Vertreterin des sogenannten Evolutionssprungs gilt... aber es ist nicht zu ändern. An diesem Ort trennen sich unsere Wege. Zumindest vorerst. »Ich möchte nicht, daß dieses Kind einer Gefahr ausgesetzt wird«, erklärte Gisol schließlich nach einer längeren Pause. »Juanita hat mir gegenüber ihren Unmut zwar schon geäußert, aber ich bestehe darauf, daß sie auf Terra Nostra zurückbleibt. Während unserer Mission kann es zu Kampfeinsätzen kommen, und es wäre unverantwortlich, sie dem auszusetzen.« »In dieser Hinsicht teile ich Ihre Bedenken voll und ganz«, sagte Laetus. »Ich möchte Ihnen dazu einen Vorschlag machen. Wie wäre es, wenn ich dieses Kind in eine römische Familie vermitteln würde?« »Das wäre ideal.«
»Wie alt ist das Mädchen?« »Elf Erdenjahre...« »Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn ich etwas erreicht habe. Aber gehen Sie davon aus, daß es jeder Römer als Ehre empfinden wird, Ihnen diesen Gefallen zu tun, Gisol.« »Ich habe nur gesagt, daß ich mir alles einmal ansehen werde!« brummte Juanita an Gisol gewandt. Beide saßen in den Passagiersitzen eines Gleiters. Es handelte sich um ein Fahrzeug, das der römischen Raumflotte unterstand. Laetus hatte nicht nur den Kontakt zu einer Familie vermittelt, die bereit war, Juanita für die Zeit von Gisols Abwesenheit aufzuneh 325 men, sondern auch einen Gleiter geschickt. Entgegen der üblichen Praxis wurde er nicht etwa von
einem Roboter oder dem Autopiloten gelenkt, sondern manuell von einem jungen römischen
Offizier namens Claudius Rabanus.
»Glaub mir, es wird das Beste für dich sein«, versprach Gisol. Juanita hob den Kopf.
»Abwarten«, erwiderte sie betont kühl. »Die Familie des Martinus Flavius hat drei Kinder
zwischen acht und 14 Jahren. Darunter auch ein Mädchen in deinem Alter.«
»Wenn mir dieses Mädchen nicht gefällt, gehe ich zurück an Bord der EPOY.«
Gisol lächelte. »Nein, dann wirst du versuchen, dich mit ihr zu vertragen!«
Juanita atmete tief durch. Gedankenverloren blickte sie aus dem Sichtfenster des Gleiters. Der
Abendhimmel Terra Nostras war ein eigenartiger Anblick. Ein unvergleichliches Spiel der
Farben. Die Sonne ~ von den Römern nach ihrem Heimatgestirn schlicht Sol genannt - sandte
ihre letzten Strahlen über den Horizont, während die Materieballungen der Gaswolke Gardas
immer deutlicher sichtbar wurden. Dieses Gas leuchtete. Dort, wo es durch hohe Dichte beinahe
den Druck und die Temperatur einer Protosonne erreichte, aus eigener Kraft, andernorts als
Reflexion des Sonnenlichtes.
»Ich weiß, daß du es nur gut meinst und alles gut durchdacht hast. Und das Hologramm, daß ich
von diesem Mädchen gesehen habe, war ja auch ganz nett. Es wirkte zumindest so, als ob sie sich
tatsächlich darauf freut, für eine Weile Besuch zu haben.« »Warum sträubst du dich dann so?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht...« Der Gleiter flog einen weiten Bogen über die
Stadt Nova Roma. Er landete schließlich sanft auf einem Landeplatz nahe einer römischen
Atriumvilla.
»Ich werde auf Sie warten!« versprach Claudius Rabanus an Gisol gerichtet. Der Worgun nickte.
Das Außenschott öffnete sich. Er und Juanita verließen den Gleiter.
Ein Dienstroboter eilte von der Villa her und begrüßte Juanita in Portugiesisch, ihrer
Muttersprache.
»Born dia! Herzlich Willkommen im Haus von Martinus Flavius.«
Juanita wandte sich fragend an Gisol. Dieser lächelte. »Jim, wie kommt es, daß diese römische
Maschine so spricht wie die Leute in Rio?«
»Akademiepräsident Laetus bat mich, die entsprechenden Datensätze aus unseren Speichern
herauszusuchen und zu überspielen. Offenbar waren sie kompatibel.«
Juanita lachte.
»Es ist trotzdem komisch!«
»Du sollst dich ja ein bißchen heimisch fühlen.«
Der Robotdiener brachte sie ins Haus und führte die beiden schließlich ins Atrium, wo der
Hausherr mit seiner Familie auf Juanita wartete.
Martinus Flavius trat vor, begrüßte Gisol.
»Es ist mir eine Ehre, Ihnen diesen Gefallen erweisen zu dürfen!« wandte er sich an den
Gestaltwandler. Flavius benutzte dabei die Worgunsprache. Auch dies war als ein Respektbeweis
zu verstehen.
Anschließend wandte sich der Hausherr an Juanita.
Seine Worte wurden für sie per Translator übersetzt.
»Ich bin überzeugt davon, daß es dir bei uns gefallen wird. Meine Tochter Lydia freut sich schon
sehr auf gemeinsame Unternehmungen mit dir!« Flavius deutete auf die mittlere seiner drei
Töchter. Lydia trug schulterlanges, gelocktes Haar, das von einer Spange zusammengehalten
wurde.
Lydia trat vorsichtig auf Juanita zu.
Nach kurzem Zögern reichte die kleine Römerin Juanita die Hand.
»Ich habe einen Robothund konstruiert. Willst du ihn dir mal ansehen?«
327 »Gerne.« Juanita ließ sich von Lydia ein paar Schritte mitziehen. Dann blieb sie noch einmal
stehen, drehte sich zu Gisol herum. »Bis bald, Jim«, sagte sie.
Jeder an Bord der zwanzig Schiffe, mit denen Ren Dhark nach Orn gekommen war, fieberte dem
Augenblick des Aufbruchs entgegen.
Im Augenblick des Starts erschien die Bildkugel in der Kommandozentrale.
Ren Dhark hatte im Pilotensitz platzgenommen, neben ihm saß Dan Riker auf dem Platz des
Kopiloten.
»Ich habe fast das Gefühl, daß die Orn-Expedition jetzt erst wirklich beginnt!« bekannte Riker.
»Mir geht es ähnlich«, stimmte Dhark zu.
In der Kommandozentrale befanden sich außer den gerade diensthabenden Offizieren auch
Manlius, der Ranghöchste unter den römischen Verbindungsoffizieren. Gisol hingegen war an
Bord seines eigenen Schiffes gegangen.
Die zwanzig Ringraumer erhoben sich in den Himmel Terra Nostras.
Mit Hilfe des Sternensogs flogen die Schiffe im lockeren Verband durch die Wolke Gardas.
Danach wurde der neue Ortungsschutz aktiviert, mit dem alle Einheiten nun ausgestattet waren.
Für Raumschiffe der Zyzzkt waren sie nun kaum oder gar nicht auszumachen.
Ortungsoffizier Tino Grappa meldete sich zu Wort.
»Die Fernortung zeigt einen Ringraumer der Zyzzkt an. Entfernung etwa fünfzig Lichtjahre!«
»Wäre das nicht eine willkommene Gelegenheit, die Wirkung des neuen Ortungsschutzes
auszuprobieren?« fragte Manlius.
Der Erste Offizier Hen Falluta griff diesen Vorschlag auf und meinte: »Wir könnten uns dem
Zyzzkt-Raumer bis auf eine relativ
328
geringe Distanz von vielleicht einem halben Lichtjahr nähern und dann die Reaktion abwarten!«
Dhark wandte sich an Riker.
»Was ist deine Meinung, Dan?«
»Ich persönlich habe nicht den geringsten Zweifel an der Wirksamkeit der römischen
Technologie. Aber es würde uns allen mehr Sicherheit geben.«
»Besser, wir starten einen derartigen Test jetzt, als wenn wir es mit einer großen Zyzzkt-Flotte zu
tun haben, mit der wir im Ernstfall nicht fertigwerden könnten!« meldete sich Hen Falluta noch
einmal zu Wort.
»Also gut!« stimmte Dhark schließlich zu. »Funk-Z!«
»Sir?« meldete sich Elis Yogan, seines Zeichens zweiter Funker der POINT OF.
»Stellen Sie eine Konferenzschaltung zu allen Einheiten her!«
»Sofort.«
Sekunden später wandte sich Dhark über Funk an alle Kommandanten der Flotte und wies sie an,
die Koordinaten des georteten Ringraumers anzufliegen.
Fünfzig Lichtjahre waren für den Sternensog ein Klacks. Rasch kam die Flotte dem georteten
Zyzzkt-Schiff näher.
Tino Grappa, Ortungsoffizier der POINT OF, meldete sich bei Dhark.
»Sir, der Zyzzkt-Raumer hat uns bislang offenbar nicht bemerkt. Wir werden definitiv nicht
angepeilt.«
»Der neue Ortungsschutz scheint bestens zu funktionieren«, kommentierte Dan Riker die
Meldung des Ortungsoffiziers.
»Warten wir noch etwas ab«, schlug Hen Falluta vor. »Vielleicht sind die Zyzzkt nur etwas
langsam.«
Nach und nach trafen auch von den anderen Schiffen des Zwanziger-Verbandes Meldungen ein,
nach denen keinerlei Peilung zu verzeichnen war.
Kaum z,u glauben, dachte Dhark. Die Insektoiden scheinen nichts von uns zu bemerken...
329
Dhark ließ die POINT OF bis auf eine Lichtsekunde an den Zyzzkt-Raumer heranzufliegen. Der
Rest der Flotte blieb währenddessen in Position.
»Fremdschiff beschleunigt, fliegt in unsere Richtung!« meldete Grappa. »Aber das hat nichts mit
unserer Anwesenheit zu tun.«
»Wir werden weiterhin nicht angepeilt?« vergewisserte sich Dhark.
»So ist es«, bestätigte der Ortungsoffizier.
»Könnte sein, daß die Zyzzkt eine Transition vornehmen wollen«, vermutete Riker. Er sollte
recht behalten. Wenig später hatte der Fremdraumer die nötige Geschwindigkeit für den
Raumsprung erreicht und entmaterialisierte.
Gisol meldete sich von der EPOY aus auf einem kleinen Nebenschirm.
»Wir können davon ausgehen, daß wir uns vollkommen unbehelligt in Orn bewegen können!«
meinte er erfreut. Er hatte das Manöver der POINT OF von der EPOY aus natürlich genauestens
mitverfolgt und vom Bordrechner analysieren lassen.
Ein mildes Lächeln erschien auf Dharks Lippen.
»Also keine schlechten Aussichten für unser bevorstehendes Unternehmen.« Einen Augenblick
später wandte sich Dhark über Funk erneut an alle Kommandanten des Flotten Verbandes, um
den Befehl zur Transition in das eigentliche Zielgebiet zu geben.
Die Flotte rematerialisierte in der Nähe eines Sonnensystems, das in den römischen Sternkarten
mit dem Namen Cestus versehen war - benannt nach dem an der Akademie von Nova Roma leh
renden Astronomen Marcellus Goticus Cestus.
Die Femortung ergab erste Ergebnisse.
»Planet III ist erdähnlich, weist aber trotz seines Durchmessers von knapp 11.000 km eine
Schwerkraft von l ,49 Gravo auf«, meldete Tino Grappa.
330
»Das anderthalbfache der Erdschwere!« murmelte Dhark.
»Da kommt man ganz schön ins Schwitzen«, kommentierte Dan Riker.
»Es muß sich um eine Welt von ziemlich hoher mittlerer Dichte handeln«, erklärte Grappa
unterdessen. »Der Sauerstoffgehalt entspricht in etwa dem der Erdnorm. Es gibt Kontinente und
Ozeane.« Die holographische, mit dem Checkmaster vernetzte. Bildkugel zoomte automatisch an
den Planeten heran.
»Was sind diese kleinen Objekte in der Umlaufbahn?« fragte Dhark. »Die sehen aus wie...«
»Ringraumer der Zyzzkt«, gab Grappa die Antwort.
Die Bildkugel zoomte noch näher heran, so daß die Zyzzkt-Ein-heiten deutlich erkennbar
wurden. Etwa ein Dutzend Raumer schwebten in der Umlaufbahn von Cestus III, wie diese Welt
von der römischen Akademie der Wissenschaften genannt worden war.
Es war deutlich erkennbar, daß permanent Beiboote aus den Hangars ausgeschleust wurden und
danach mit dem Landeanflug auf den Planeten begannen.
»Was passiert dort?« fragte Dhark. »Liefern die Daten unserer Ortungssysteme irgendwelche
Anhaltspunkte?«
»Auf dem Planeten selbst wird offenbar an verschiedenen Stellen gekämpft. Allerdings nur mit
konventionellen Waffen. Es sind keine Anzeichen für Verstrahlungen erkennbar.«
»Dann werden da gerade Truppen der Zyzzkt ausgeschleust«, stellte Dan Riker fest.
Dhark nickte.
»Dieser Schluß liegt nahe«, stimmte er nachdenklich zu.
Hen Falluta mischte sich ein und meinte: »Offenbar will keine der kämpfenden Parteien den
Planeten unbewohnbar machen!«
Auf einer kleineren, schematischen Projektion waren die Gebiete auf Cestus III markiert, in
denen vermutlich gekämpft wurde. Von der Zurückhaltung im Hinblick auf Waffen, die die
Planetenober-fläche dauerhaft unbewohnbar machen, mal abgesehen, ist da unten einiges los!
ging es Dhark durch den Kopf. Über die Gründe
331
für die Kampfhandlungen konnte man nur spekulieren. Vielleicht befand sich eine einzelne Welt
im Kampf gegen den umfassenden Herrschaftsanspruch der Zyzzkt. Das konnten sich die
Herrscher der Galaxis Orn natürlich nicht bieten lassen und statuierten ein Exempel. Um die Lage
genauer beurteilen zu können, werden wir uns aufCestus III selbst umsehen müssen, überlegte
Dhark.
Gisol meldete sich über Funk von der EPOY aus.
»Ich möchte mich mit einem meiner speziellen Flash auf der Planetenoberfläche umsehen«,
erklärte der Worgun. Entschlossenheit klang in seiner Stimme mit.
Es war nicht die erste Mission dieser Art, die Gisol unternahm. Und die zusätzliche
Ortungsschutztechnik der Römer hielt das Risiko in akzeptablen Grenzen.
In Dharks Augen blitzte es.
Der weißblonde Terraner lehnte sich in seinem Konturensitz zurück.
»Okay, Gisol. Und ich möchte dich gerne begleiten!«
»Ren! Das ist nicht dein Ernst!« fiel ihm Dan Riker ins Wort.
Dhark zuckte mit den Achseln. »Warum? Die Zyzzkt sind uns gegenüber blind wie Maulwürfe!
Wo ist das Problem?«
»Du weißt so gut wie ich, daß ein derartiger Flug immer unwägbare Gefahren mit sich bringt!«
»Als besonders brenzlig stufe ich diese Außenmission nicht ein!«
»So leichtsinnig sollte sich der Commander der Planeten trotzdem nicht in Gefahr bringen«,
tadelte Dan Riker. »Und angesichts der Schwerkraftverhältnisse wäre es vielleicht auch
angebracht, wenn Gisols Begleiter körperlich etwas robuster wäre.«
»Du denkst an einen Cyborg?«
»Ist der Gedanke so abwegig, Ren?«
»Eigentlich nicht.«
Der Cyborg, der mit Hilfe des Transmitters von der POINT OP zur EPOY wechselte, war Holger
Alsop.
Gisol blickte ihm erstaunt entgegen.
»Hatten Sie mit jemand anderem gerechnet?« fragte Alsop. »Ich habe mich freiwillig gemeldet.«
Gisol musterte den Cyborg einige Augenblicke lang.
»Ich freue mich auf den Flug mit Ihnen«, sagte er schließlich.
»Danke.«
Es war noch gar nicht lange her, da hatte Alsop unter lähmenden Muskelschmerzen gelitten, die
durch einen mutierten Phant-Virus ausgelöst worden waren. Inzwischen war er geheilt worden
und brannte darauf, an einer Mission wie dieser teilzunehmen. Gisol konnte das nach vollziehen.
»Kommen Sie, wir wollen keine Zeit verlieren«, forderte Gisol.
»Ganz meine Meinung!«
Sie gingen zu den Flashhangars der EPOY.
»Ich habe vor, mit Stemensog direkt in den Planetenkern hineinzufliegen und erst dort auf
Unterlicht zu gehen«, erklärte Gisol. Während der sogenannte Stemensog aktiviert war, wurde
ein Flash von einem Intervallfeld umgeben, das es ermöglichte, Überlichtgeschwindigkeit zu
erreichen, ohne dabei einen Raumsprung durchzuführen. Ein Raumer, der von einem Intervallfeld
umschlossen war, entschwand nicht einfach in den Hyperraum, um dann an irgendeinem anderen
Punkt des Universums wieder aufzutauchen. Dieses Feld versetzte das betreffende Schiff
vielmehr in eine Art Übergangsebene zwischen Hyperraum und Normaluniversum. Ein
Nebeneffekt war, daß sich feste Materie durchfliegen ließ, als wäre sie nicht vorhanden. Das
funktionierte auch im unterlichtschnellen Bereich, wenn der SLE-Antrieb eingesetzt wurde. Nur
das Intervallfeld mußte eingeschaltet bleiben.
»Klingt gefährlich, das Manöver, das Sie da vorschlagen!«
»Ich fliege es nicht zum ersten Mal!«
»Na, da bin ich ja beruhigt!«
Der Flash unterschied sich äußerlich nicht von den baugleichen
333
Modellen, die sich sonst noch im Hangar der EPOY befanden. Gi-sol und Alsop stiegen in das
zylinderförmige, etwa drei Meter lange Beiboot ein, das genau auf Gisol eingestellt war.
Der Worgun übernahm die Steuerung per Gedankenbefehl.
Das Außenschott des Hangars öffnete sich, und der Flash schoß hinaus in den freien Raum.
Das Intervallfeld wurde aktiviert.
Mit Überlichtgeschwindigkeit schnellte das Beiboot auf Cestus III zu. An Bord der Zyzzkt-
Raumer nahm man davon offenbar wie erwartet keine Notiz. Der Ortungsschutz funktionierte
auch diesmal.
Im Stemensog schnellte der Flash auf die Planetenoberfläche zu. Über den Köpfen der beiden
Insassen befand sich jeweils eine Drei-D-Projektion, die wie die verkleinerte Ausgabe einer holo
graphischen Bildkugel wirkte, wie es sie etwa in der Kommandozentrale der POINT OF gab.
»Ich habe meine Flash im Laufe der Jahre ein wenig verbessert«, erklärte Gisol. »Sie sind
praktisch eine Art Erweiterung meines Körpers - so gut habe ich sie angepaßt.«
»In welcher Region des Planeten wollen wir uns umsehen?« fragte Holger Alsop. »So wie ich das
sehe, müssen wir möglichst nahe an die Kampfzonen heran, um herauszufinden, wer da gegen
wen zu Felde zieht.«
»Richtig«, nickte Gisol. »Aber es bleibt immer noch Zeit, uns ein geeignetes Areal auszusuchen,
wenn wir uns im Planetenkem befinden. Von dort aus können wir überall hin.«
Der Flash drang in die Atmosphäre von Cestus III ein. Im Schutz des Intervallfeldes erreichte das
Beiboot der EPOY fast ohne Zeitverzögerung die Wasseroberfläche eines ausgedehnten Ozeans,
der zwei Kontinente voneinander trennte.
Noch immer flog der Flash schneller als das Licht, so daß wiederum nur Sekundenbruchteile
später der Meeresboden durchdrungen wurde.
Gisol verfolgte den Kurs des Beibootes auf seiner Bildprojek
334
tion. Die sieben Kilometer dicke planetare Kruste stellte im Verhältnis gesehen kaum mehr als die dünne Schale eines Apfels dar. Immer tiefer stieß der Flash vor, erreichte glutheißes Magma. Um dreißig Grad pro Kilometer stieg die Temperatur, so daß man im Inneren des Planetenkerns mit Temperaturen bis über 4000 Grad Celsius zu rechnen hatte. Auch der Druck nahm enorm zu. Er lag bereits bei 250 Hekto-pascal und stieg innerhalb von Augenblicken auf den geradezu astronomischen Wert von vier Milliarden Hektopascal. Der Antrieb und der Intervallfeldgenerator des Flash wurden schon bald extrem belastet. Vor allem auf das Intervallfeld kam es an. Es bildete eine dünne Schutzmembran um das Beiboot, ohne die es völlig unmöglich gewesen wäre, in dieser Umgebung zu existieren. Der Druck war enorm, aber er erreichte den Flash nicht, weil er sich in seinem eigenen Mini-Universum befand. Der innere Kern von Cestus III bestand aus festem Metall, das unter mörderisch hohem Druck derart fest zusammengepreßt wurde, daß es nicht den Aggregatzustand wechseln und flüssig werden konnte. Die massive Kernregion war erheblich ausgedehnter als bei der Erde, der dieser Planet ansonsten recht ähnlich war. Somit lag auch seine mittlere Dichte erheblich höher, was erklärte, weshalb Cestus III bei ähnlicher Größe wie die Erde eine um fast die Hälfte höhere Schwerkraft besaß. Erst in der inneren Kemregion bremste Gisol seinen Flash brutal ab. Das Intervallfeld schützte vor den mörderischen Temperaturen, aber der Generator konnte dieses Feld nicht unbegrenzt lange aufrechterhalten. »Ich hoffe, dieser Vogel hält das aus, was Sie ihm antun!« feixte Alsop. Ihm war bewußt, daß Gisol dieses Flugmanöver nicht zum ersten Mal durchführte. Dennoch war ihm etwas mulmig, was er durch seine flapsige Bemerkung zu überspielen versuchte. »Vergessen Sie nicht, daß es meine Rasse war, die diesen Vogel 335
erschaffen hat!« erwidert Gisol kühl.
Manchmal könnte man es fast vergessen, daß sich hinter der Gestalt eines Terraners namens Jim
Smith in Wahrheit ein amöbenhaftes, gestaltwandlerisches Wesen verbirgt, dessen Äußeres mit
unserer Physiognomie nicht das Geringste gemein hat, machte sich Holger Alsop klar. Der
menschliche Geist gibt sich in dieser Hinsicht nur allzu gern einer Illusion des vertrauten Scheins
hin. Und das gilt offenbar selbst für einen Cyborg...
Während des Flugs in den Planeten hinein hatten die Ortungssysteme des Flash eine umfassende
Abtastung zumindest einer Planetenhemisphäre vornehmen können.
Gisol ließ sich die gewonnenen Daten mit Hilfe einer Projektion darstellen.
Es wurde wirklich an vielen Fronten gekämpft. Die aufgezeichneten Energiesignaturen sprachen
da eine ganz eindeutige Sprache.
»Ich habe eine Region ausgewählt«, erklärte Gisol. Der Flash beschleunigte wieder. Allerdings
blieb Gisol jetzt deutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit.
»Schön, daß Sie mich in Ihre Entscheidungen so einbeziehen!« versetzte Alsop ironisch.
Gisol blieb vollkommen sachlich.
»Wir werden in einer alpinen Bergregion an die Oberfläche gehen. Dort sind wir vor frühzeitiger
Entdeckung einigermaßen sicher. Es gibt dort mehrere Ansiedlungen...«
»Und die Kampfzone?«
»In der Nähe sind auch Kampfaktivitäten zu vermuten. Ich denke, wir werden herausbekommen,
was dort vor sich geht!«
Per Gedankensteuerung ließ Gisol den Flash noch weiter beschleunigen, bremste dann kurz vor
Austritt aus der Planetenkruste erneut ab.
Holger Alsop hatte schon registriert, daß das Durchstoßen der Kruste diesmal einige volle
Sekunden gedauert hatte.
Das konnte nicht nur mit der im Verhältnis zum Eintritt vermin
336 derten Geschwindigkeit zu tun haben. Offenbar war die Planetenkruste von Cestus III an dieser Stelle auch wesentlich dicker als unter dem Meer. Endlich schoß das Beiboot ins Freie. Gisol bremste es noch weiter ab. Wenig später landete der Flash an einer Stelle, die vom Bordrechner unter topographischen Gesichtspunkten ausgewählt worden war. Bis zu zweitausend Meter hohe, schneebedeckte Gipfel leuchteten im Sonnenlicht. Ein beeindruckendes Bergpanorama, das jedem alpinen Erholungsgebiet alle Ehre gemacht hätte. Gisol und Alsop stiegen aus dem Beiboot und legten sich ihre Ausrüstung für den Außeneinsatz an. Warme Kleidung, Biaster, Paraschocker, Ortungsgeräte und natürlich die falschen ID-Dämp fer, die bei einer Begegnung mit den Zyzzkt äußerst hilfreich sein konnten.
»Marschieren wir los!« sagte Gisol. »Einige Kilometer talabwärts befindet sich eine Siedlung.«
Alsop atmete tief durch. Der Luftdruck war wesentlich höher als aufTerra.
»l ,49 Gravo sind kein Pappenstiel«, meinte er.
»Etwa so, als würden Sie einen schweren Rucksack tragen!«
Der Cyborg nickte langsam.
»Ich werde auf das Zweite System umschalten.«
»Tun Sie das.«
Alsop hatte durch das Umschalten auf das sogenannte Zweite System die Steuerung seines
Körpers dem implantierten Pro-grammhim übertragen. Sein Blick wurde starr. Im umgeschalteten
Zustand war der Cyborg einem Roboter beinahe ähnlicher als einem Menschen. Seine
Entscheidungen wurden nun von nüchterner Logik gefällt, ohne jede störende Emotion.
Außerdem war er in diesem Zustand in der Lage, sofort zu phanten, wodurch sämtliche
Körperflüssigkeiten und -gase gebunden wurden. Aus diesem Grund konnte ein Cyborg eine im
wahrsten Sinn des Wortes übermenschliche Stärke und Widerstandskraft erlangen. Für kurze
337 Zeit waren selbst Einsätze im freien Weltraum möglich.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen vermochte Alsop diesen Mechanismus auszulösen. Ein
unschätzbarer Vorteil in einer Gefahrensituation.
Gisol sah seinem Begleiter einen Augenblick lang nachdenklich ins Gesicht. Ich schätze, auf
einen witzigen Gesprächspartner werde ich wohl in nächster Zeit verzichten müssen, überlegte er.
Terranischer Humor hat nun einmal meistens etwas mit Unlogik zu tun - und die verträgt sich
nicht mit dem Zweiten System...
Etwa drei Stunden dauerte der Fußmarsch durch die felsige Landschaft. Schließlich konnten sie
von einer kanzelartigen Formation aus auf eine Siedlung hinunterblicken. Gisol studierte die
Anzeigen seines Ortungsgerätes.
Die Bewohner des Dorfes waren humanoid und wirkten gedrungen. Die durchschnittliche Größe
Erwachsener betrug etwa ein Meter und fünfzig.
»Sind zur Zeit irgendwelche Kampfhandlungen in der näheren Umgebung festzustellen?« fragte
Alsop.
Gisol schüttelte den Kopf.
»Nein, es scheint, als hätte dieses Gebiet zur Zeit Ruhe von der Geißel des Krieges. Die
entsprechenden Energiesignaturen wandern von hier aus nordwärts. Das Kampfgeschehen
scheint sich zu verlagern.«
Alsop ließ den Blick über die Gebäude schweifen. Ein Schweber tauchte hinter einer Bergkette
auf und landete sanft neben einem der quaderförmigen Häuser. Die Architektur dieser
Humanoiden war zweckmäßig und schlicht. So, wie man es von praktisch veranlagten
Bergbewohnern erwarten konnte.
»Der technische Standard scheint recht hoch zu sein. Ich sehe auch Roboter...« stellte Alsop fest,
der die Lage durch ein Sichtgerät sondierte.
338
»Wir sollten sehen, ob wir noch etwas näher herankommen«, schlug Gisol vor. »Ich empfange hier zwar eine Fülle verschiedener Kommunikationssignale, aber zur Analyse brauchen wir eine breitere Datengrundlage.« »In Ordnung«, sagte Holger Alsop ohne jede Emotion. Gisol blickte erstaunt auf die Anzeigen seines Ortungsgerätes. Die Verwunderung hatte sich tief in sein Gesicht eingegraben. Er wirbelte plötzlich mit dem Kopf herum. Seine Hand fuhr zum Pa raschocker an der Seite. Doch es war zu spät. Gisol hatte nicht auf die Lebensformen geachtet, die sein Ortungsgerät in unmittelbarer Nähe registrierte. Schockstrahlen erfaßten den Worgun. Ein Hinterhalt! durchzuckte es Gisol noch. Der Ursprung des Beschusses lag hinter einer Felsengruppe, etwa dreißig Meter entfernt. Die Jim-Smith-Gestalt wurde ebenso von den Strahlen erfaßt wie Holger Alsop. Gisols menschlicher Körper verlor unter dem Einfluß des Schockers seine Form. Innerhalb von Sekunden war sein Äußeres nur noch eine amorphe Karikatur von Jim Smith. Wenig später war nichts mehr davon zu erkennen. Gisol fiel zurück in seine eigentliche Körperform. Er glich einer etwa hundert Kilo schweren, formlosen Riesenamöbe. Die Körpersubstanz Gisols ergoß sich
förmlich auf den Boden, vermochte mit Ausnahme ihrer äußeren Membran keinerlei Struktur
mehr aufrecht zu halten. Hier und da bildeten sich kurz kleinere Tentakel aus, verschwanden aber
sogleich wieder.
Lediglich jene Ausrüstungsgegenstände blieben zurück, die Gisol nicht aus seiner eigenen
Körpersubstanz geformt hatte. Auf der amorphen Masse des amöbenähnlichen Wesens^ lag der
falsche ID-Dämpfer.
Holger Alsop hatte noch versucht, hinter einem nahen Felsen in Deckung zu hechten, als ihn die
Schockstrahlen erfaßten. Das Pro-
grammgehim hatte vollkommene Kontrolle über ihn. Automatisch war der Phant-Mechanismus
ausgelöst worden. Alsop lag am Boden. Schwindel hatte ihn für einige Augenblicke erfaßt, inzwi
schen aber deutlich nachgelassen. Schmerzhafte Muskelkrämpfe machten sich jetzt bemerkbar.
Aber das dauerte nur wenige Sekunden.
Er blieb bei Bewußtsem.
Die Tatsache, daß ich im Zweiten System war und noch rechtzeitig phanten konnte, hat mich vor
der Bewußtlosigkeit bewahrt! wurde ihm klar. Sein Programmhirn überprüfte, inwieweit die
vollkommene Körperkontrolle gewährleistet war. Eigentlich könnte ich jetzt aufstehen, zu meiner
Waffe greifen und den Angreifern Paroli bieten! ging es dem Cyborg durch den Kopf.
Aber er entschied sich dagegen.
Er konnte Gisol nicht einfach im Stich lassen.
Der Worgun war durch den Beschuß offensichtlich erst einmal ausgeschaltet worden. An eine
schnelle Flucht war im Hinblick auf Gisol nicht zu denken. Selbst dann nicht, wenn Gisol umge
hend aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte. Bis der Worgun eine Körperform angenommen hatte,
die eine einigermaßen rasche Fortbewegung erlaubte, konnten Minuten vergehen.
Alsops Programmgehim arbeitete messerscharf.
Offenbar wollte man uns nur paralysieren und nicht töten, erkannte er. Daher entschied er sich
dafür, erst einmal den Bewußtlosen zu mimen. Die rechte Hand wie zufällig in der Nähe des Im
pulsstrahlergriffs.
Alsop wartete ab.
Seine Augen waren offen und starr.
Er hatte keinen Zweifel daran, die Angreifer optisch täuschen und zumindest für einige
Augenblicke davon überzeugen zu können, daß sie ihn paralysiert hatten.
Auf dem steinigen Untergrund hörte Alsop Schritte, die sich näherten.
Und Stimmen.
340
Ruhelos tigerte Colonel Huxley in seinem Aufenthaltsraum hin und her. Von Zeit zu Zeit blieb er
stehen und warf nachdenkliche Blicke auf den Sichtschinn, der die Einöde der Planetenoberfläche
zeigte. Etwas fesselte die Aufmerksamkeit des Kommandanten für einen Moment. Ein winziger
Punkt löste sich aus dem gelbroten Hintergrund der Wüste und bewegte sich auf die CHARR zu.
Vermutlich eines der Erkundungsfahrzeuge, die Huxley unabhängig von der Untersuchung des
Raumschiffwracks ausgeschickt hatte.
Er nahm seine ruhelose Wanderung wieder auf.
Ein Summton durchbrach die Stille.
»Ja?«
Das massive Innenschott glitt zur Seite. Ein Maat trat in den Raum. In der linken Hand trug er ein
Tablett.
»Ihr Kaffee.«
Huxley nickte. »Stellen Sie ihn dorthin.« Er deutete auf den niedrigen Tisch vor dem Drehsessel
und sah abwesend zu, wie der Maat das Tablett absetzte.
»Danke, Duvan. Ich gieße selbst ein.«
Der Mann ging.
Huxley goß umsichtig das heiße Gebräu in den unzerbrechlichen Becher mit dem Aufdruck einer
Ausrüstungsfirma der TF.
Die erste Tasse trank er im Stehen und in kleinen, vorsichtigen Schlucken. Dann goß er nach und
setzte sich schwer in den Gliedersessel. Er lehnte sich zurück und starrte den Schirm an, ohne
etwas zu sehen. Während er von Zeit zu Zeit trank, versuchte Huxley Ordnung in seine Gedanken
zu bringen.
Nachdem die Kanne leer war, fühlte sich der Colonel wieder einigermaßen in der Lage zu
handeln.
Er öffnete die Phase zur medizinischen Abteilung.
Sofort meldete sich die Krankenstation. »Geben Sie mir Doktor Berger«, forderte Huxley, als
sich ein
341
Sanitätsmaat zeigte.
»Sofort.«
»Doktor«, sagte der Colonel und sah im Hintergrund einen der nogkschen Patienten. »Was gibt es
Neues? Wie ist der Zustand unserer Freunde?«
»Ich habe kaum etwas zu melden«, erklärte der Mediziner mit erschöpfter Miene.
»Lassen Sie auch das Wenige hören, Doktor.«
»Die Patienten rühren sich nicht, leben aber. Wir ernähren sie nach den Anweisungen eines
weniger erkrankten Meegs künstlich, überwachen ihre Vitalfunktionen. Mehr können wir im
Moment nicht für sie tun, da ich mich mit der Physiologie der Nogk weit weniger gut auskenne
als mit der menschlichen. Das ganze Krankheitsbild ist so unspezifisch, daß ich keinen
Ansatzpunkt finde. Ich habe nur herausgefunden, daß sich offensichtlich Virenstämme an den
Ganglien festsetzen und den ganzen Metabolismus in Aufruhr bringen. Aber... «
»Ja, Doktor?« drängte Frederic Huxley, als Berger verstummte.
»Das sind leider nicht alle Probleme«, verkündete der Mediziner dann mit ungewöhnlich ernster
Miene.
»Welche Befürchtungen hegen Sie?«
»Die unbekannten Viren«, versetzte Dr. Berger einsilbig.
»Was ist mit ihnen?«
»Sie verbreiten sich exponentiell. Befallen alle Nogk, auch die, die nicht an der Außenmission
teilgenommen haben.«
»Sagen Sie bloß...?« Huxley erschrak.
»Tantal ist ebenfalls unter ihnen«, bestätigte Dr. Berger die Befürchtungen des Colonels. »Wir
haben vorsorglich jeden Nogk isoliert, bis wir wissen, worum es sich handelt. Das Problem ist,
daß die Viren ständig neue Mutationen hervorbringen. Jedesmal, wenn wir glauben, einen
Ansatzpunkt gefunden zu haben, hat sich ihre DNS bereits wieder verändert, und wir stehen
wieder am Anfang.«
»Was macht die Probe meines Ersten Offiziers?«
342
»Das ist auch so eine Sache«, seufzte Doktor Berger. »Zwischen den undefinierbaren Staubpartikeln, die wir den Überresten der toten Besatzung zuordnen können, finden sich wie erwartet die äußerst aggressiven Virenstämme. Entweder hat die unbekannte Besatzung aus dem Wrack die Krankheit auf diesen Planeten eingeschleppt, oder sie wurde hier von ihr befallen. Das läßt sich mit unseren Mitteln nicht herausfinden. Aber es ist erwiesen, daß die Viren die Erkrankung der Nogk verursachen. Ach ja«, sagte er wie nebenbei, »einer meiner Laboranten hat in Prewitts Atemluft inzwischen die selben Viren isoliert. Sie mutieren im menschlichen Metabolismus mit der gleichen Schnelligkeit. Es handelt sich offenbar um eine der seltenen Hyperkrankheiten, die unterschiedliche Spezies gleichermaßen befallen. Wir behalten Ihren Ersten Offizier im Interesse aller noch Gesunden gleich hier, um ihn zu beobachten.« Huxley fühlte eine tiefgreifende Verzweiflung. Ging denn mit einem Mal alles schief? »Wie geht es ihm?« fragte er tonlos. »Noch scheint er gesund - so wie Sie und ich.« Huxley zog eine Grimasse. »Was wissen Sie über meine Gesundheit?« sagte er. »Aber immerhin, wenigstens ein winziger Lichtblick. - Danke, Doktor«, schloß er. ^Keine Ursache, Colonel. Kommen Sie doch gelegentlich vorbei«, empfahl der Arzt, »und lassen Sie sich ein Elektrokardiogramm machen. Kann sein, daß Ihr Herz die Aufregungen der letzten Stunden mit einigen Koronarinsuffizienzen beantworten wird. Dem wollen wir doch vorbeugen, nicht wahr?« Der grauhaarige Colonel zog erneut eine Grimasse. »Sie sind so gut zu mir, Doc«, murmelte er, löschte die Verbindung und wechselte die Phase, weil in der unteren Ecke des Schirmes ein Alarmsignal pulsierte. »Ja?« »Ortung hier. Colonel? 343
»Was gibt es, Perry?«
»Unser Besucher aus dem All.«
»Was ist mit ihm?« Huxley hatte für einen Moment Schwierigkeiten, auf die neue Situation
umzuschalten. Doch dann hatte er sich gefangen und lauschte konzentriert den Worten seines
Dritten Offiziers.
»Das fremde Raumboot ist jetzt eindeutig auf einem ballistischen Endkurs. Die Annahme, es sei
unbemannt, können wir nicht länger aufrechterhalten. Jemand an Bord korrigiert die Kursvekto
ren so, als wolle er mit Absicht auf die CHARR stürzen.«
»Sie scherzen!« Huxley sah den Ausdruck auf der Miene seines Dritten und nickte. »Sie scherzen
nicht, Perry. Aber ich sehe keine Gefahr für die CHARR. Die Feldschirme lassen keinen
Asteroiden auf Kollisionskurs durch, geschweige denn ein derart kleines Boot.«
»Der Meinung bin ich auch, Sir. Aber meine Sorge galt eigentlich mehr der Besatzung des
unbekannten Raumfahrzeugs. Sie käme bei dem Aufprall ums Leben.«
»Da haben Sie recht. Vorschläge, Perry?«
Der Dritte überlegte nicht länger als vier Sekunden.
»Wir werden«, sagte er, »unsere todesmutigen Besucher mit einem negativ gepolten Traktorfeld
abfangen.«
»Machen Sie es so«, stimmte Frederic Huxley zu.
»Merkwürdige Vorstellung haben manche von einem Raumfahrzeug«, ließ sich der Dritte
Offizier vernehmen.
Frederic Huxley war inzwischen im Leitstand erschienen und betrachtete auf dem großen Oval
der Allsichtsphäre jede Einzelheit des etwa zehn Meter großen Primitivraumschiffs, das Perry
mit dem umgepolten Traktorfeld sanft abgefangen und auf den Boden vor der Schleuse der
CHARR abgestellt hatte.
Die Bemerkung seines Dritten Offiziers war nachvollziehbar.
Obwohl das fremde Boot laut der Tasteranalyse auf Perrys Konsole eine metallene Außenhaut
aufwies, schien es hauptsächlich aus Biokomponenten zu bestehen. So wirkten die Landestützen
wie verblüffend starke Lianen, deren Wurzeln sich auf dem sandigen Grund wie Auflageteller
verzweigten. Die Antriebsdüsen glichen großen Blütenkelchen. Wie es im Inneren aussehen
mochte, entzog sich der Vorstellung der Männer.
Sie sahen nur, wie eine lidförmige Öffnung in der Außenhaut erschien, als würde sich ein Auge
öffnen, und drei entfernt huma-noide Gestalten ins Freie stürzten. Sie steckten in merkwürdigen
Anzügen, die osmotischen Blasenhüllen glichen. Die Stäbe in ihren Händen waren sicher keine
Zeremoniengeräte, sondern handfeste Waffen, obwohl sie nicht aus Metall gefertigt schienen. Die
Taster der CHARR konnten sie jedenfalls nicht als solche einordnen. Die drei Fremden hielten
sich keine Sekunde auf, sondern stürmten auf die CHARR zu, als beabsichtigten sie, das
mächtige, golden schimmernde Zeugnis einer überlegenen Technik in ihre Gewalt bringen.
Es war, als wollten drei winzige Ameisen einen riesigen Bienenstock erstürmen. Todesmutig,
jede Gefahr mißachtend.
Huxley wandte sich mit leichtem Kopfschütteln in Richtung einer offenen Tonphase.
»Macht dem Schauspiel ein Ende«, befahl er mit harter Stimme.
Als Reaktion darauf erschienen auf der energetischen Gleitrampe der CHARR zwei Roboter aus
der Fertigung von Wal-lis Industries. Die Paralysatoren in ihren Waffenarmen sandten gebündelte
Strahlen aus - und die drei fremden Raumfahrer stürzten zu Boden, als hätte man ihnen alle
Sehnen durchtrennt.
Andere Roboter eilten hinzu, deponierten die drei reglosen Gestalten auf eine Schwebeplattfonn
und brachten sie ins Innere des Schiffes.
»Was machen wir mit dem Boot?« wollte Perry wissen.
»Stehen lassen«, war die knappe Antwort. »Darum kümmern wir uns später.«
345
»Aye, Sir. Ich werde es jedoch vorsichtshalber mit einem Kraftfeld versiegeln.«
»Tun Sie das, Perry«, nickte Huxley. »Sie haben die Zentrale. Ich werde mal schauen, wer sich
da auf einen Kampf gegen Windmühlenflügel einlassen wollte.« Sprach's und verließ den
Leitstand.
Auf dem Weg zum Quarantänetrakt begann er erstmals ein leichtes Unwohlsein zu verspüren.
Um Himmels Willen, dachte er irritiert, ich werde doch nicht... Er wies den Gedanken weit von
sich. Dennoch änderte er seinen Weg und schaute im Arboretum vorbei. Dreißig Minuten unter
den beiden Sonnen würde alles wieder ins rechte Lot rücken, dessen warersicher.
Aber eine kleine, hämische Stimme tief in seinem Innern war gegenteiliger Ansicht. Er beschloß,
sie zu ignorieren.
Man hatte den drei Fremden bis auf die seltsamen Anzüge alles abgenommen, was sie bei sich
hatten, und sie in einem separaten Teil des Quarantänetrakts hinter einer Energiebarriere unterge
bracht. Als reine Vorsichtsmaßnahme, sowohl für sie, als auch für die Besatzung der CHARR und jeden, der sich mit ihnen zu beschäftigen hatte. Sybilla Bontempi saß diesseits der transparenten Barriere und wartete auf eine Regung der Fremden. Rechts von ihr war der Zugang zum Schiff, links der Durchgang zur eigentlichen Quarantänestation und zu Dr. Bergers Reich. Um sie herum standen Mikrophone, Viphogeräte, tragbare Programmierpulte für den Schiffstranslator, Sichtschirme. Kabelbäume und Steckverbindungen schlängelten sich über den Boden. Alles machte den Eindruck eines überhastet eingerichteten Provisoriums. Was es im Grunde auch war. Der Raum diente üblicherweise nicht der Befragung von 346
Fremdwesen, sondern der Behandlung von Schwerverletzten. Die zierliche Anthropologin und Fremdvölkerexpertin mit der blauschwarzen Pagenfrisur schien Colonel Huxley auf Grund ihres Fachwissens die geeignetste Person zu sein, sich mit den Fremden zu befassen. Die drei fremden Raumfahrer waren inzwischen aus ihrer Starre erwacht. Sie hatten sich auf den eilig herbeigeschafften Sitzpolstern niedergelassen, die Augen geschlossen und seither nicht mehr gerührt. Ihr äußeres Erscheinungsbild war mit Abstrichen als humanoid zu bezeichnen: zartgliedrige, große Geschöpfe mit großen, dunklen Augen. Der Raum, in dem sie sich befanden, war, abgesehen von ein paar Sitzgelegenheiten und einem Monitor, völlig leer. Die physiologischen Untersuchungen mit den Geräten der Medizinischen Station, durchgeführt, während sie noch paralysiert gewesen waren und unter den wachsamen Augen bewaffneter Sicherheitsleute aus Forakers Team, hatten nichts Aufregendes ergeben. Sie waren Warmblüter, das war alles, was man herausfinden konnte. Ihr Metabolismus funktionierte ähnlich dem der Menschen. Inzwischen hatte man die menschlichen Wachen abgezogen und vier Roboter an ihrer Stelle neben dem Eingang postiert. Zusätzlich befand sich noch ein Meeg im Raum, der unter seinen Nogk-Kollegen als hervorragender Sprachwissenschaftler galt. Obwohl ihm anzusehen war, daß er krank war, ließ er es sich nicht nehmen, anwesend zu sein. »Wer seid ihr?« Während sie redete, projizierte der Universaltranslator Sybillas Worte als vielfältige
Schriftsprache auf einen Monitor, den man im Innern des Quarantäneraums vor den drei fremden
Raumreisenden aufgestellt hatte.
»Wer seid ihr? - Woher kommt ihr? - Ich bin eine Terranerin!«
Und wieder: »Redet mit mir!«
Sie atmete tief durch.
Setzte neu an. Ging das gesamte Angloter-ABC durch.
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Und wieder: »Redet mit mir...«
Plötzlich bewegten sich die Fremden, zeigten erstmals eine Regung.
Captain Bontempi hielt für einen Augenblick den Atem an. Dann reagierte sie. Ihre Hand schloß
einen Kontakt auf der Konsole vor ihr. »Colonel Huxley! Ich...« Sie brach mit ungläubigem
Staunen ab.
Die drei Fremden hatten sich erhoben, völlig überraschend, und starrten in eine bestimmte
Richtung.
Sybilla Bontempi drehte sich zur Seite, folgte der Richtung ihrer Blicke.
Drüben hatte sich die Tür geöffnet, die in die Medizinische Station führte. Tantal trat heraus und
näherte sich.
Arme streckten sich aus und deuteten auf den kobaltblauen Nogk, als wollten sie ihn aufspießen.
Der Translator sprang an, sagte einen einzigen Satz. Und auf den angeschlossenen Monitoren
erschien nur eine einzige Zeile. Aber die immer wieder: DIE BLAUEN TEUFEL SIND
ZURÜCK!