John Updike
TERRORIST
Roman Deutsch von Angela Praesent
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John Updike
TERRORIST
Roman Deutsch von Angela Praesent
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel «Terrorist» im Verlag Alfred A. Knopf, New York Die Zitate aus dem Koran folgen der Übersetzung von Rudi Paret (Verlag Kohlhammer, Stuttgart} unter gelegentlicher Benutzung der von Dr. L. Assmann (Bibliothek der Weltreligionen, Voltmedia, Paderborn). Die Bibel wird nach der Einheitsübersetzung zitiert. Redaktion Hans Georg Heepe 1. Auflage August 2006 Copyright © 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg "Terrorist» Copyright © 2006 by John Updike Alle deutschen Rechte vorbehalten Satz Caslon 540 PostScript, InDesign, von Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 13: 978 3 498 06885 1 ISBN 10: 3 498 06885 7
Darum nimm mir jetzt lieber das Leben, Herr! Denn es ist für mich besser zu sterben als zu leben. Da erwiderte der Herr: Ist es recht von dir, zornig zu sein? Jona 4:3–4 Der Unglaube ist robuster als der Glaube, denn er stützt sich auf das sinnlich Wahrnehmbare. Gabriel Garcia Márquez Von der Liebe und anderen Dämonen
I Teufel, denkt Ahmed. Diese Teufel wollen mir meinen Gott nehmen. Den ganzen Tag wiegen sich an der Central High School die Mädchen, verhöhnen einen, stellen ihr ver‐ lockendes Haar und ihre weichen Körper zur Schau. Ihre nackten, mit funkelnden Nabelpiercings und abenteuerlich tief ansetzenden lila Tattoos geschmückten Bäuche fragen: Gibt´s vielleicht sonst noch was zu sehen? Jungen mit stumpfen Augen stolzieren oder zotteln umher und tun mit ihren kantigen Killergesten und ihrem achtlosen, abschätzigen Lachen kund, dass es keine andere Welt gibt als diese hier – ein von Lärm erfüllter, schmutzabweisend gestrichener, von Metallspinden gesäumter Gang mit der weißen Wand am Ende, die so oft durch Graffiti geschändet und wieder über‐ tüncht worden ist, dass es einem vorkommt, als rücke sie Millimeter um Millimeter näher. Die Lehrer, schlaffe Christen oder nichtpraktizierende Juden, halten im Unterricht demonstrativ zu Tugend und redlicher Selbstbeherrschung an, doch ihre unsteten Augen und leblosen Stimmen verraten ihren fehlenden Glauben. Sie werden von der Stadt New Prospect und dem Staat New Jersey dafür bezahlt, dass sie diese Dinge sagen. Es mangelt 7
ihnen am wahren Glauben; sie sind nicht auf dem rechten Weg; sie sind unrein. Ahmed und die zweitausend anderen Schüler können sie nach der Schule auf dem rissigen, mit Abfall übersäten Parkplatz in ihre Autos huschen sehen wie Krebse, bleiche oder dunkle, die sich in ihre Schalen zurück‐ ziehen; sie sind Männer und Frauen wie alle anderen, voller Ängste und Gelüste und besessen von käuflichen Dingen. Als Ungläubige glauben sie, irdischen Besitz anzuhäufen und sich durch den flackernden Fernsehapparat zerstreuen zu lassen, verleihe Sicherheit. Sie sind Sklaven von Bildern, von falschen Bildern, die Glück und Reichtum vorgaukeln. Doch selbst wahrhafte Bilder sind sündige Nachahmungen Gottes, der allein erschaffen kann. Vor Erleichterung, ihren Schülern für einen weiteren Tag unbeschadet entkommen zu sein, schnattern die Lehrer, wenn sie sich auf den Fluren und auf dem Parkplatz voneinander verabschieden, zu laut, wie Trinker, deren Erregungspegel steigt. Die Lehrer las‐ sen sich’s gut sein, wenn sie nicht in der Schule sind. Man‐ che haben die geröteten Lider, den Mundgeruch und den schwammigen Körper von Leuten, die gewohnheitsmäßig zu viel trinken. Manche lassen sich scheiden; manche leben unverheiratet mit anderen zusammen. Ihr Leben außer‐ halb der Schule ist unordentlich, lüstern und zügellos. Die Regierung des Bundesstaats unten in Trenton und die sata‐ nische Regierung noch weiter unten, in Washington, bezahlt sie dafür, dass sie ihren Schülern Tugendhaftigkeit und de‐ mokratische Werte nahe bringen, doch die Werte, an die sie glauben, sind gottlos: Biologie, Chemie und Physik. Von de‐ ren Fakten und Formeln bestärkt, scheppern ihre falschen Stimmen durch die Klassenzimmer. Sie sagen, alles entsteht aus erbarmungslosen, blinden Atomen, die das kalte Gewicht von Eisen, die Durchsichtigkeit von Glas, die Reglosigkeit 8
von Ton, die Erregung des Fleisches erzeugen. Elektronen strömen durch Kupferdrähte und Computerzugänge und sogar durch die Luft, wenn sie durch die Interaktion von Wassertröpfchen zum Blitzen gebracht werden. Nur was wir messen und aus den Messungen schließen können, ist wahr. Das Übrige ist der Traum, den wir Ich nennen. Ahmed ist achtzehn. Es ist Anfang April; wieder kriecht müdes Grün in die erdigen Risse der Stadt. Von seiner neu erlangten Höhe blickt Ahmed hinab und denkt, wenn die unsichtbaren Insekten im Gras ein Bewusstsein hätten wie er, dann wäre er für sie Gott. Im vergangenen Jahr ist er um fast acht Zentimeter auf einen Meter achtzig gewachsen – weitere unsichtbare, materielle Mächte, die ihn ihrer Willkür unterwerfen. Größer, glaubt er, wird er nicht werden, weder in diesem noch im nächsten Leben. Falls es ein nächstes gibt, raunt ein Teufel in ihm. Was außer den flammenden, gött‐ lich inspirierten Worten des Propheten beweist schon, dass es ein nächstes Leben gibt? Wo würde es sich verbergen? Wer würde das Feuer der Hölle in alle Ewigkeit schüren? Welche nie versiegende Energiequelle würde den Über‐ fluss des Paradieses speisen, die dunkeläugigen Huris dort nähren, die strotzenden Früchte zum Schwellen bringen, die Bäche und plätschernden Springbrunnen erneuern, an denen Gott, wie in der neunten Sure des Koran beschrie‐ ben, stets Wohlgefallen hat? Wo bliebe da das zweite ther‐ modynamische Gesetz? Das Sterben von Würmern und Insekten, deren Körper so rasch in der Erde, im Unkraut und im Teer der Straßen verschwinden, spricht dafür, dass sein eigener Tod ebenso unbedeutend und endgültig sein wird. Auf dem Weg zur Schule ist Ahmed ein Zeichen aufgefallen, eine Spirale, auf das Pflaster geschrieben mit dem leuchtenden Schleim, 9
den engelgleichen Körpersäften eines Wurms oder einer Schnecke, irgendeines niedrigen Lebewesens, von dem nur diese Spur übrig geblieben ist. Wohin war das Ge‐ schöpf, dessen Pfad sich ohne Ziel einwärts ringelt, unter‐ wegs? Wenn es dem heißen Gehweg entkommen wollte, auf dem es in der glühenden Sonne verbrannte, dann war es ihm nicht gelungen, und es hatte sich fatal im Kreis be‐ wegt. Doch in der Mitte der Spirale gab es keinen kleinen Wurmkörper mehr. Wohin also war der Körper geflogen? Vielleicht hatte Gott ihn aufgepickt und geradewegs in den Himmel geholt. Ahmeds Lehrer Scheich Rashid, der Imam der Moschee in der ersten Etage der West Main Street 2781½, sagt, dass sich nach der geheiligten Tradition der hadith solche Dinge manchmal ereignen: Der Bote, der das geflügelte weiße Pferd Buraq ritt, wurde vom Engel Gabriel durch die sieben Himmel an einen Ort geleitet, wo er mit Jesus, Moses und Abraham betete, bevor er auf die Erde zurückkehrte und zum letzten der Propheten wurde, dem letzten und höchs‐ ten. Den Beweis für seine Abenteuer an jenem Tag bildet der deutliche Hufabdruck, den Buraq auf dem Felsen unter der heiligen Kuppel im Zentrum von Al‐Quds hinterließ, der Stadt, welche die Ungläubigen und Zionisten – deren Qualen im Feuer von djehannim in der siebten, elften und fünfzehnten Sure des Buchs der Bücher gut beschrieben stehen – Jerusalem nennen. Wunderbar klangvoll rezitiert Scheich Rashid die einhun‐ dertvierte Sure, die al‐Hutama, das alles fressende Feuer, behandelt: Doch wie kannst du wissen, was al‐Hutatna ist? Es ist das Feuer Gottes, das in der Hölle angefacht ist und den Verdammten bis ins Herz dringt. 10
Seine Flammen schlagen über ihnen zusammen in langgestreckten Feuersäulen. Als sich Ahmed bemüht, den Bildern im Arabischen des Korans – den langgestreckten Säulen, fi amadin mumadda‐ da, dem Gewölbe hoch über den Herzen der Menschen, die sich angsterfüllt zusammenkauern und in den sich auf‐ türmenden Dunst weißer Hitze, nāru ‘l‐lāhi ‘mūqada, hin‐ einzuspähen versuchen – irgendeinen Hinweis darauf zu entnehmen, dass der Barmherzige Nachsicht walten lässt und al‐Hutama Einhalt gebietet, da senkt der Imam, dessen Augen von einem überraschend hellen Grau sind, sanft und unbestimmbar wie die einer Heidenfrau, den Blick und sagt, dass diese Beschreibungen von Visionen des Propheten im übertragenen Sinn zu verstehen sind. In Wahrheit geht es in ihnen um die glühende Pein der Trennung von Gott und um unser loderndes Bereuen von Sünden wider seine Ge‐ bote. Der Ton jedoch, in dem der Imam dies sagt, gefällt Ahmed nicht. Er erinnert ihn an den wenig überzeugenden Ton seiner Lehrer an der Central High. Er vernimmt darin das Raunen Satans, eine Verneinung im Mantel einer posi‐ tiven Aussage. Der Prophet meinte physisches Feuer, wenn er unversöhnliches Feuer predigte; er konnte die Tatsache ewigen Feuers gar nicht oft genug betonen, Scheich Rashid ist nicht so viel älter als Ahmed – viel‐ leicht zehn, vielleicht zwanzig Jahre. Die weiße Haut sei‐ nes Gesichts weist kaum Falten auf. Seine Bewegungen sind scheu, aber sicher. In den Jahren, die er Ahmed an Alter übertrifft, hat die Welt ihn geschwächt. Wenn ihm das Raunen der Teufel, die von innen an ihm nagen, anzuhören ist, hat Ahmed das Gefühl, er könnte sich erheben und den Imam vernichten, so wie Gott den armen Wurm im Zen‐ trum der Spirale verglühen ließ. Der Glaube des Schülers ist 11
fester als der des Lehrers. Es beängstigt Scheich Rashid, das geflügelte, unaufhaltsam vorwärts stürmende weiße Ross des Islam zu reiten. Er ist bestrebt, die Worte des Propheten abzumildern, sie mit unserem Denken zu verschmelzen, doch dafür sind sie nicht geschaffen: Sie dringen in unsere menschliche Weichheit ein wie ein Schwert. Allah ist der Höchste und über jegliche Besonderheit erhaben. Es gibt keinen Gott außer ihm, dem lebendigen, dem unwandel‐ baren. Er ist das Licht, neben dem die Sonne schwarz wirkt. Er verschmilzt nicht mit unserer Vernunft, sondern zwingt sie, sich so tief zu neigen, dass sie sich im Staub die Stirn auf‐ schürft und wie Kain mit dem Mal dieses Staubs gezeichnet ist. Mohammed war ein Sterblicher, doch er hat das Paradies gesehen und die Wirklichkeit dort erfahren. Unsere Taten und Gedanken wurden dem Bewusstsein des Propheten in goldenen Lettern eingeschrieben wie die lodernden Worte von Elektronen, die ein Computer aus Pixeln erzeugt, wäh‐ rend wir auf der Tastatur tippen. Auf den High‐School‐Fluren riecht es nach Parfüm und Kör‐ perausdünstungen, nach Kaugummi, unreinem Kantinen‐ essen und nach Stoffen, erwärmt von jungen Körpern – Baumwolle, Wolle und das synthetische Material der Snea‐ kers. Zwischen den Unterrichtsstunden herrscht ein tosen‐ des Hin und Her; der Krach überdeckt als dünne Schicht die darunter brodelnde, gerade noch gezügelte Gewalt. In der Flaute am Ende des Schultages, wenn der auftrumpfen‐ de, höhnische Rummel des Aufbruchs sich gelegt hat und nur noch die Schüler, die an Arbeitskreisen teilnehmen, in dem großen Gebäude zurückbleiben, macht sich Joryleen Grant manchmal an Ahmed heran, wenn er in seinem Spind kramt. Er treibt im Frühjahr Leichtathletik; sie singt im 12
Mädchenchor. Nach den Maßstäben von Central High sind sie beide «brave» Schüler. Ihn hält seine Religion von Las‐ ter und Drogen fern, allerdings auch auf Distanz zu seinen Klassenkameraden und zu den Fächern des Lehrplans. Jo‐ ryleen ist klein und rundlich, sie weiß sich im Unterricht gut auszudrücken, was dem Lehrer gefällt. Sie verströmt ein ge‐ winnendes Selbstvertrauen, wenn ihre braunen Rundungen so prall die Sachen füllen, die sie trägt – heute mit Flicken und Strass besetzte Jeans, auf der Sitzfläche verblichen und abgewetzt, und darüber ein dunkelrotes, geripptes Shorty‐ überteil, das sowohl weiter ausgeschnitten als auch kürzer ist, als es sich schickt. Blaue Plastikspangen ziehen ihr Haar so glatt nach hinten, wie es nur geht; im wulstigen Rand ihres rechten Ohrs stecken mehrere kleine Silberringe. Sie singt bei Schulanlässen, immer Lieder, in denen es um Je‐ sus oder um sexuelles Verlangen geht, beides Themen, die Ahmed zuwider sind. Dennoch freut es ihn, dass sie von ihm Notiz nimmt und ihn ab und zu umspielt wie eine Zunge einen empfindlichen Zahn. «Kopf hoch, Ahmed», sagt sie neckisch. «So schlimm kann’s doch gar nicht stehen.» Sie rollt mit der halbnackten Schulter, deutet ein Achselzucken an, um ihm zu zeigen, dass sie es nicht ernst meint. «Tut’s auch nicht», sagt er. «Ich bin nicht traurig.» Vom Duschen nach dem Lauftraining kribbelt es ihn unter den Kleidern – weißes Hemd, schmale schwarze Jeans – an sei‐ nem ganzen langen Körper. «Du siehst unheimlich ernst aus», stellt sie fest. «Du soll‐ test dir angewöhnen, mehr zu lächeln.» «Warum? Warum sollte ich denn lächeln, Jorylcen?» «Weil dich die Leute dann mehr mögen.» «Das ist mir egal. Ich will gar nicht gemocht werden.» 13
«O doch», sagt sie. «Jeder will gemocht werden.» «Du bestimmt», sagt er höhnisch von seiner jüngst erlang‐ ten Höhe hinab. Wie große Blasen wölben sich ihre Brüste in den runden Ausschnitt ihres unanständigen Oberteils, das an seinem unteren Saum das Fett auf ihrem Bauch und den Umriss ihres tief liegenden Nabels entblößt. Ahmed stellt sich vor, wie ihr glatter brauner Körper, dunkler als Karamel, jedoch heller als Schokolade, in jener Feuerhölle schmort und sich mit Brandblasen überzieht; ein Anflug von Mitleid überkommt ihn, denn sie versucht ja, nett zu ihm zu sein, wie es dem Bild, das sie von sich hat, entspricht. «Haupt‐ sache, du bist beliebt –», sagt er verächtlich. Das kränkt sie, und sie wendet sich ab, wobei sie den Stapel von Büchern, die sie mit nach Hause nehmen will, von unten gegen ihre Brüste presst, sodass sich die Kluft zwischen ihnen vertieft. «Du bist ein Arsch, Ahmed», sagt sie, versuchsweise noch eine Spur liebevoll, und lässt ihre weiche, volle Unterlippe ein wenig hängen. Das Flicht der Neonröhren an der Decke, die den Gang in sichere Hellig‐ keit tauchen, bricht sich funkelnd auf ihrem speichelnassen Zahnfleisch. Zwar hat sich Joryleen schon abgewandt, um dem Gespräch ein Ende zu machen, versucht aber noch zu retten, was zu retten ist, und setzt hinzu: «Wenn’s dir egal war, würdst du dich doch nicht in Schale werfen wie ein Pre‐ diger und jeden Tag ein frisches weißes Hemd anziehen. Wieso lässt deine Mutter sich das eigentlich gefallen, die ganze Bügelei?» Er spricht nicht aus, dass seine wohlüberlegte Art, sich zu kleiden, eine neutrale Botschaft aussendet, da sie so‐ wohl Blau, die Farbe der Rebellen, der afroamerikanischen Clique von Central High, als auch Rot meidet, die Farbe, mit der sich die Diabolos, die Hispano‐Gang, zu erkennen 14
geben, und sei es auch nur an einem Gürtel oder Stirnband. Ebensowenig lässt er Joryleen wissen, dass seine Mutter selten bügelt, da sie Schwesternhelferin am Saint Francis Community Hospital und in ihrer verbleibenden Zeit Male‐ rin ist und ihren Sohn in vierundzwanzig Stunden oft kaum eine Stunde sieht. Seine Hemden kommen, auf Pappe ge‐ faltet, aus der Reinigung zurück, deren Rechnungen er mit dem Geld bezahlt, das er bei Shop‐a‐Sec verdient, wo er an zwei Abenden in der Woche und am Wochenende, wenn die meisten Jungen seines Alters die Straßen unsicher machen, sowie an christlichen Feiertagen arbeitet. Dennoch, seine Kleidung verrät Eitelkeit, das weiß er, einen Stolz, der die Reinheit des Allumfassenden verletzt. Er spürt, dass Joryleen nicht nur versucht, nett zu sein: Er weckt ihre Neugier. Sie möchte ihm nahe kommen, ihn besser beschnüffeln können, obwohl sie bereits einen Freund hat, der bekanntermaßen zu den «Schlimmen» ge‐ hört. Frauen sind Tiere, die sich leicht führen lassen, hat Scheich Rashid ihm warnend erklärt, und Ahmed sieht selbst, dass die High School und die weitere Welt voller Schnüffelschw..., voll blinder Herdentiere ist, die einander anrempeln auf ihrer Suche nach einem tröstlichen Geruch. Trost aber, sagt der Koran, gibt es nur für jene, die an das nie gesehene Paradies glauben und das Gebot, fünfmal am Tag zu beten, befolgen, das der Prophet von seiner nächtlichen Reise auf Buraqs breitem, leuchtend weißem Rücken auf die Erde mitgebracht hat. Joryleen steht noch immer da, beharrlich, zu nah. Ihr Parfüm dringt Ahmed in die Nase; die Kluft zwischen ihren Brüsten beunruhigt ihn. Sie verlagert die schweren Bücher, die sie in den Armen hat. Auf dem Rücken des dicksten liest er, mit Kugelschreiber geschrieben, JORYLEEN GRANT. 15
Ihr Mund, matt pink geschminkt, damit er schmaler wirkt, verblüfft ihn durch verlegenes Stammeln. «Eigentlich woll‐ te ich dich ja fragen», bringt sie so zögernd hervor, dass er sich zu ihr hinunterbeugt, um sie besser zu verstehen, «ob du am Sonntag vielleicht in die Kirche kommen möchtest, um mich zu hören – ich singe da im Chor ein Solo.» Er ist schockiert, abgestoßen. «Ich gehöre nicht deinem Glauben an», ruft er ihr nachdrücklich in Erinnerung. Darauf reagiert sie locker und sorglos. «Ach, so ernst neh‐ me ich das alles nicht», sagt sie. «Ich singe einfach gern.» «Jetzt hast du mich doch traurig gemacht, Joryleen», sagt Ahmed. «Wenn du deine Religion nicht ernst nimmst, dann solltest du nicht in die Kirche gehen.» Er schlägt seine Spindtür mit einem Zorn zu, der vor allem ihm selbst gilt, weil er sie getadelt und abgewiesen hat, wo sie doch ver‐ wundbar geworden war, als sie die Einladung aussprach. Mit glühendem Gesicht wendet er sich verwirrt von seinem zu‐ geknallten Spind ab, um sich den Schaden zu betrachten, den er angerichtet hat, und sie ist weg. Sorglos saust ihr ausgebleichtes, strassbesticktes Jeanshinterteil den Gang entlang. Die Welt ist schwierig, denkt er, weil sich Teufel darin herumtreiben, alles durcheinander bringen und das Gerade krumm machen. Als die High School im letzten Jahrhundert errichtet wur‐ de, im zwanzigsten nach christlicher Zeitrechnung und im dreizehnten nach der Hegira des Propheten von Mekka nach Medina, ragte sie über der Stadt auf wie ein Schloss, wie ein Palast der Gelehrsamkeit für die Kinder von Fabrik‐ arbeitern wie deren Vorgesetzten, geschmückt mit Säulen und Simsen und einem in Granit gemeißelten Motto: WIS‐ SEN IST FREIHEIT. Nun steht das Gebäude, reich an 16
Narben und unausrottbarem Asbest, hart und glänzend vor Bleifarbe und mit Gittern vor seinen hohen Fenstern, am Rand eines breiten Sees von Schutt, der einst Teil einer von Straßenbahngeleisen geäderten Innenstadt war. Auf alten Fotografien schimmern die Geleise inmitten von Männern mit Strohhüten und Krawatten und kastenförmigen Auto‐ mobilen, die alle die Farbe von Leichenwagen haben. So viele Kinomarkisen ragten damals über die Trottoirs und warben für rivalisierende Hollywood‐Streifen, dass man in einem Regenschauer von einem Vordach zum nächsten flit‐ zen konnte, ohne groß nass zu werden. Es gab sogar eine öf‐ fentliche Toilette, auf deren Scheiben in dezenten Lettern LADIES und GENTLEMEN geschrieben stand und die man von East Main Street auf Höhe der Tilden Avenue aus über zwei verschiedene Treppen erreichte. In jeder der un‐ terirdischen Toiletten hielt eine ältere Person die Schüsseln und Becken sauber; zu Beginn der sechziger Jahre wurde die Einrichtung geschlossen, nachdem sie zu einem übelrie‐ chenden Ort des Drogenhandels, homosexueller Kontakte und gelegentlicher Überfälle geworden war. Zweihundert Jahre zuvor hatte man die Stadt New Pro‐ spect getauft, weil sie einen so großartigen Blick auf den Wasserfall bot, jedoch auch wegen ihrer Zukunft, die man sich mit Inbrunst ausmalte. Der Fluss mit seinen pittores‐ ken Kaskaden und strudelnden Stromschnellen, der sie durchfloss, würde Fabriken anziehen, glaubte man, als die Nation noch jung war, und nach vielen Fehlstarts und Bank‐ rotten tat er dies schließlich auch – Webereien, Seidenfär‐ bereien, Ledermanufakturen, Fabriken, die Lokomotiven herstellten, pferdelose Wagen und Kabel für die mächtigen Brücken, die sich über die Flüsse und Häfen der mittleren Atlantikküste spannten. Als das neunzehnte Jahrhundert ins 17
zwanzigste mündete, gab es ausgedehnte, blutige Streiks; die Wirtschaft gewann nie wieder den Optimismus zu‐ rück, der den Emigranten aus Osteuropa, dem östlichen Mittelmeerraum und aus dem Nahen Osten half, Vierzehn‐ Stunden‐Tage voll mühseliger, giftiger, ohrenbetäubender, monotoner Plackerei zu ertragen. Die Fabriken zogen nach Süden und Westen, wo die Arbeitskräfte billiger und füg‐ samer und die Transportwege für Eisenerz und Kohle kür‐ zer waren. Die Menschen, die heute die Innenstadt bewohnen, sind in ihrer Mehrzahl braun, in sämtlichen Schattierungen dieser Farbe. Die wenigen verbliebenen weißen Geschäfts‐ leute erzielen noch einen mageren Profit aus dem Verkauf von Pizza, Chili con Carne, bunt verpacktem Junkfood, Zigaretten und Lotterielosen, weichen jedoch mehr und mehr neu eingewanderten Indern und Koreanern, die sich bei Einbruch der Dunkelheit weniger gezwungen fühlen, in die noch gemischt bewohnten Randbezirke und Vororte der Stadt zu flüchten. Weiße Gesichter wirken in der Innen‐ stadt zweifelhaft und schäbig. Spätabends, wenn ein paar schicke Folklore‐Restaurants ihre Gäste aus den Vororten entlassen haben, halt schon einmal ein Streifenwagen, und weiße Fußgänger werden verhört, weil man sie für Dealer hält. Oder über die Gefahren dieser Gegend aufklären will. Ahmed selbst ist das Produkt einer rothaarigen ame‐ rikanischen Mutter irischer Abstammung und eines ägyp‐ tischen Austauschstudenten, dessen Vorfahren seit der Zeit der Pharaonen auf den heißen, schlammigen Feldern der überfluteten Nilufer gebräunt worden sind. Den Teint des Sprosses dieser Mischehe ließe sich als lohfarben bezeich‐ nen, eine matte Nuance heller als beige; der seines Ersatz‐ vaters Scheich Rashid ist von einem weißlichen Wachston, 18
den er mit Generationen vielschichtig verhüllter jemeniti‐ scher Krieger teilt. Wo einst fünf Stockwerke hohe Kaufhäuser und die dicht gedrängten Kontore jüdischer und protestantischer Aus‐ beuter eine ununterbrochene Fassade aus Glas, Backstein und Granit bildeten, tun sich nun von Bulldozern gerissene Lücken auf, und die Sperrholzflächen, die einmal Schau‐ fenster waren, sind mit einem Gewirr von Graffiti besprüht. In Ahmeds Augen behaupten die wulstigen Lettern der Graffiti, ihr aufgedunsenes Protzen mit dieser oder jener Bandenzugehörigkeit, eine Bedeutung, an der es den Tä‐ tern sonst erbärmlich mangelt. Diese Schmierereien sollen verlorenen jungen Männern, die im Morast der Gottlosig‐ keit versinken, eine Identität verleihen. Inmitten der Rui‐ nen stehen einige wenige neue Kästen aus Aluminium und blauem Glas, Beschwichtigungszeichen der Fürsten des westlichen Kapitalismus – Niederlassungen von Banken, deren Zentralen in Kalifornien oder North Carolina liegen, und Außenposten der zionistisch beherrschten Bundes‐ regierung, die mit Wohlfahrtsmaßnahmen und Anwerbung von Rekruten versucht, die Verarmten von Aufruhr und Plünderung abzuhalten. Und doch macht das Zentrum am Nachmittag einen festlichen, geschäftigen Eindruck: Auf East Main Street herrscht, zumindest ein Stück südlich und nördlich der Til‐ den Avenue, der Karneval des Müßiggangs, bevölkert von dem Gewimmel dunkelhäutiger, grell und bunt gekleideter Bürger, ein Mardi‐Gras‐Umzug von Kostümen, liebevoll komponiert von Menschen, deren Rechte kaum eine Fin‐ gerlänge über ihre Haut hinaus Geltung besitzen und die ihre dürftigen Vermögenswerte sichtbar mit sich führen. Ihre schrille Fröhlichkeit grenzt an Trotz. Aus ihren gackernden, 19
lärmenden Stimmen dröhnt dörfliche Kumpanei, die über‐ schwängliche wechselseitige Beachtung von Menschen, die wenig zu tun und keine fernen Ziele haben. Nach dem Bürgerkrieg hielt in New Prospect das Stre‐ ben nach Pracht Einzug, und ein stattliches Rathaus wurde errichtet, ein ausladendes, mit Türmchen verziertes, mau‐ risch inspiriertes Gebilde aus Rundbögen und kunstvollen Schmiedearbeiten im Rokokostil, gekrönt von einem gran‐ diosen Turm mit vielen Luken, dessen gewölbte Außensei‐ te wie Fischschuppen vielfarbige Schindeln bedecken und der vier weiße, mit römischen Ziffern versehene Uhrblätter trägt, jedes von der Größe eines Brunnens. Die breiten kup‐ fernen Dachrinnen und Fallrohre, die von den Fertigkeiten der damaligen Metallhandwerker künden, sind im Lauf der Zeit minzgrün geworden. Dieses Gebirge des Bürger‐ sinns, dessen wichtigste bürokratische Funktionen längst in flachere, modernere, weniger imposante, jedoch klima‐ tisierte und leichter beheizbare Gebäude dahinter verlagert worden sind, wurde vor kurzem, nach langem Schieben und Zerren, in den Rang eines nationalen Architekturdenkmals erhoben. Es steht in Sichtweite der High School, eine Quer‐ straße von ihr entfernt, und das einst großzügig bemessene Grundstück, auf dem es steht, ist infolge von Straßenver‐ breiterungen und unverfrorenen Immobiliengeschäften, er‐ möglicht durch bestochene Beamte, stark geschrumpft. Am östlichen Rand des Sees von Schutt, wo befriedete Parkplätze sich mit dem kabbeligen Wellengang abgerisse‐ nen Mauerwerks abwechseln, trägt eine dickwandige Kirche aus Eisenstein einen wuchtigen Kirchturm und lockt auf ei‐ nem gesprungenen Anzeigebrett mit ihrem preisgekrönten Gospel‐Chor. Die Fenster dieser Kirche, auf denen Gott blasphemischerweise ein Gesicht, gestikulierende Hände, 20
Füße mit Sandalen und farbige Gewänder zugewiesen wer‐ den – kurz, ein menschlicher Körper samt allem, was daran unrein und beschwerlich ist –, sind vom Fabrikruß von Jahr‐ zehnten geschwärzt und durch schützende Drahtgitter noch weiter unkenntlich gemacht. Heute zieht die religiöse Bild‐ lichkeit Hass auf sich, wie in den Reformationskriegen. Die gesittete Glanzzeit der Kirche, als fromme weiße Bürger ihre Bänke füllten, ist ebenfalls lange vorbei. Nun bringen afrikanisch‐amerikanische Gemeindemitglieder ihre un‐ ordentliche Schrei‐Religion hierher, und ihr preisgekrönter Chor zersetzt ihnen das Hirn, bis sie in eine rhythmische Verzückung geraten, die ebenso illusorisch ist wie (Scheich Rashid hat höhnisch die Analogie hervorgehoben) die schlurfende, brabbelnde Trance brasilianischer Candomble. An diesem Ort singt Joryleen. An dem Tag, nachdem sie Ahmed eingeladen hat, sie im Chor singen zu hören, steuert auf dem Schulflur ihr Freund, Tylenol Jones, auf Ahmed los. Tylenols Mutter hatte das Wort während ihrer Schwangerschaft einmal in einem Wer‐ bespot für Schmerzmittel gesehen, und der Klang hatte ihr gefallen. «He, du, Araber», sagt Tylenol. «Du bist Joryleen quer gekommen, hör ich.» Ahmed versucht, in der Sprache des anderen zu reden. «Quer? Ich? Nicht die Bohne. Wir haben ein bisschen pala‐ vert. Sie hat mich angequatscht.» Genau abschätzend streckt Tylenol die Hand aus, legt sie dem schmächtigeren Jungen auf die Schulter und bohrt seinen Daumen in die empfindliche Stelle unter dem Schul‐ tcrgelenk. «Sie sagt, du respektierst ihre Religion nicht.» Sein Daumen dringt tiefer, bis an Nerven, die Ahmed noch nie im Leben gespürt hat. Tylenol hat ein quadratisches Ge‐ 21
sicht von der Farbe feuchter Möbelpolitur auf Nussbaum‐ holz. Er ist Stürmer der Central‐High‐Football‐Mannschaft und im Winter Turner an den Ringen, und daher sind seine Hände stark wie Eisen. Sein Daumen zerknittert Ahmeds gestärktes weißes Hemd. Mit einem ungeduldigen Schul‐ terrucken versucht der größere Junge, die feindselige Hand abzuschütteln. «Sie hat die falsche Religion», erklärt er Tylenol, «und außerdem bedeutet sie ihr nichts, hat sie gesagt, von der blöden Chorsingerei mal abgesehen.» Der eiserne Daumen drückt weiter zu, doch aus einem Adrenalinschub heraus schlägt Ahmed mit der Handkante den dicken Muskel‐ strang weg. Tylenols Gesicht verdunkelt sich und kommt mit einem Ruck näher. «Komm du mir bloß nicht mit blöd, Araber‐ du bist ja selber so blöd, dass keiner was von dir will.» «Außer Joryleen», gibt Ahmed mit adrenalinverstärkter Kühnheit flink zurück. Innerlich fühlt er sich puddingweich, und er befürchtet, dass sein Gesicht vor Angst beschämend starr wirkt, doch einem überlegenen Gegner Paroli zu bie‐ ten und die massige Kraft der Wut in sich zu spüren, erfüllt ihn mit frommer Seligkeit. Man wird fest, wenn man Wider‐ stand leistet, und ganz ruhig. Er wagt sich weitet vor. «Und blöd fand sie mich auch nicht gerade. Dass jemand wie Jory‐ leen einfach nur freundlich sein kann, rafft ein Typ wie du natürlich nicht.» «Ein Typ wie ich? Wie ist der denn? Ein Typ wie ich hat nichts übrig für einen Typ wie dich, merk dir das, du Blöd‐ mann. Du schwuler Arsch. Du Tunte.» Sein Gesicht ist so nah, dass Ahmed den Käse von den Makkaroni in der Schulkantine riecht. Er setzt Tylenol die Faust auf die Brust und sorgt für Abstand. Andere scharen 22
sich nun auf dem Flur um sie, die Cheerleader‐Girlies und Computer‐Freaks, die Rastas und die Grufties, die Mauer‐ blümchen und die Schlaffis, und warten darauf, dass etwas Unterhaltsames passiert. Tylenol behagt das Publikum; er blubbert: «Gegen Black Muslims hab ich nichts, aber du bist ja keiner. Gar nichts bist du, bloß ein armer Spinner. Kein Wollkopf, bloß ein Wirrkopf.» Ahmed rechnet damit, dass Tylenol ihn ebenfalls zurück‐ schubsen wird, was er hinnehmen würde, um auf billige Weise aus dieser Konfrontation herauszukommen, zumal es gleich zur nächsten Unterrichtsstunde läuten muss. Tylenol ist jedoch nicht auf Waffenstillstand aus; er versetzt ihm einen hinterhältigen Hieb in den Magen, von dem Ahmed die Luft wegbleibt, Ahmeds verdutzte Miene, sein aufge‐ rissener Mund bringen die zuschauenden Mitschüler zum Lachen, einschließlich der kalkgesichtigen Grufties, einer Gruppe von Weißen an Central High, die stolz darauf sind, nie ein Gefühl zu zeigen wie ihre Idole, die nihilistischen Punk‐Rock‐Stars, und samt einiger quirliger, draller brauner Mädchen, denen es nur darum geht, wie beliebt sie sind, und die, findet Ahmed, freundlicher sein sollten. Eines Ta‐ ges werden sie Mütter sein. Eines baldigen Tages. Kleine Huren. Er ist dabei, das Gesicht zu verlieren, und hat keine an‐ dere Wahl, als sich in Tylenols eiserne Pranken zu stürzen und, wenn er kann, dessen panzergleichen Brustkorb und quadratisches poliertes Nussbaumgesicht ein bisschen zu verbeulen. In dieser Runde bleibt es weitgehend bei Ge‐ rempel, Geschubse und Gegrunze, denn bei einem richti‐ gen Boxkampf würden sie gegen die Spinde prallen, und der Krach würde Lehrer und Sicherheitskräfte auf den Plan rufen. In diesem Moment, kurz bevor die Glocke ertönt und 23
sie in ihre verschiedenen Unterrichtsräume sausen müssen, gibt Ahmed die Schuld weniger dem anderen Jungen – der ist schließlich nur ein Roboter aus Fleisch und Blut, ein jun‐ ger, von seinen Körpersäften und Reflexen gelenkter hirn‐ loser Koloss – als Joryleen. Warum musste sie ihrem Freund auch in allen Einzelheiten von einem Gespräch unter vier Augen erzählen? Warum müssen Mädchen überhaupt im‐ mer alles erzählen? Um sich wichtig zu machen, genau wie die Typen, die diese aufgepumpten Graffiti‐Lettern auf wehrlose Wände sprayen. Sie hatte von Religion zu reden angefangen – mit ihrer blöden Einladung in ihre Kirche, wo er mit kruselhaarigen Heiden zusammensitzen würde, die vom Höllenfeuer so angesengt sind wie rösch gegrillte Hüh‐ nerschlegel. Die Teufel ihn ihm müssen ja erwachen und zu murmeln beginnen, wenn Gott es so vielen grotesk irrigen, korrupten Religionen gestattet, Millionen von Menschen auf ewig in die Hölle hinabzulocken, wo der Allmächtige ih‐ nen doch mit einem einzigen aufblitzenden Lichtstrahl den Weg zeigen, den Rechten Weg weisen könnte. Es ist, als wäre es dem Barmherzigen, dem Gütigen (raunen Ahmeds Teufel, während er und Tylenol fuchtelnd und schubsend aufeinander losgehen und sich bemühen, keinen Lärm zu machen), egal. Die Glocke in ihrem kleinen, gegen unbefugte Eingriffe gesicherten Kasten hoch oben an der senffarbenen Wand ertönt. Ein Stück weiter den Flur entlang öffnet sich kli‐ ckend eine Tür mit großer Milchglasscheibe; Mr. Levy, ein Schülerberater, erscheint. Sein Jackett passt nicht zu seiner Hose, es sieht aus, als hätte er sich blindlings einen zer‐ knüllten Anzug zusammengesucht. Erst abwesend, dann alarmiert starrt er auf die verdächtige Schar von Schülern. Sofort muckst sich keiner mehr, Ahmed und Tylenol lassen 24
voneinander ab und frieren den Tumult ein. Mr. Levy, ein Jude, der schon seit einer Ewigkeit in diesem Schulsystem tätig ist, sieht alt und müde aus. Er hat Tränensäcke unter den Augen, sein schütteres Haar ist ungekämmt, und ein paar Strähnen stehen ihm wirr vom Kopf ab. Bei seinem plötzlichen Erscheinen fährt Ahmed zusammen, wie von Gewissensbissen überkommen: Später in der Woche hat er einen Termin bei Mr. Levy, um mit ihm seine Zukunft nach dem High‐School‐Abschluss zu besprechen. Ahmed braucht eine Zukunft, das weiß er, aber sie kommt ihm un‐ wirklich vor, und sie weist seine Annäherungsversuche ab. Die Leitung ist Leitung Gottes, heißt es in der dritten Sure. Tylenol und seine Gang werden ihm von jetzt an auf‐ lauern. Nachdem der Quälgeist mit dem eisernen Daumen so ziemlich aufgelaufen war, würde es sich mit weniger als einem blauen Auge, einem ausgeschlagenen Zahn oder ge‐ brochenen Finger nicht zufrieden geben – es musste zu se‐ hen sein. Ahmed weiß, dass es Sünde ist, eitel auf die äuße‐ re Erscheinung Wert zu legen: Eigenliebe ist eine Form des Wetreiferns mit Gott, und Gott duldet das nicht. Wie aber kann ein Junge umhin, seine herangereifte Männlichkeit zu lieben, seine lang gewordenen Glieder, seinen vollen, glän‐ zenden Haarschopf, seine makellose, beigefarbene Haut, heller als die seines Vaters, jedoch nicht so sommersprossig und fleckig rosa wie die seiner rothaarigen Mutter und die der Wasserstoffblondinen, die im Weißbrot essenden Ame‐ rika als Inbegriff der Schönheit gelten? Obwohl Ahmed die verweilenden, interessierten Blicke der dunkelhäutigen Mädchen, von denen er an Central High umgeben ist, als ungesittet und unrein meidet, möchte er seinen Körper doch nicht verunstaltet sehen. Er möchte ihn so bewahren, wie der Schöpfer ihn geschaffen hat. Tylenols Feindschaft 25
ist ein weiterer Grund, diese Höllenburg zu verlassen, wo die Jungen andere nur zum Spaß quälen und verletzen und die ungläubigen Mädchen hautenge Hüfthosen tragen, die fast‐bis auf einen Zentimeter, hat Ahmed geschätzt‐so tief sitzen, das sie den Blick auf die obersten Schamhaarlöck‐ chen freigeben. Die ganz schlimmen Mädchen, die bereits durch und durch verdorbenen, haben Tattoos an Stellen, an denen nur ihre Freunde sie zu sehen bekommen und in die der Tätowierer seine Nadel höchst behutsam stechen musste. Die teuflischen Verrenkungen nehmen kein Ende, sobald sich Menschen frei fühlen, mit Gott zu konkurrieren und sich selbst zu erschaffen. Ahmed hat nur noch zwei Monate Schulzeit vor sich. Hinter den Backsteinmauern, den hohen, vergitterten Fens‐ tern liegt Frühling in der Luft. Die Kunden von Shop‐a‐Sec erledigen ihre armseligen Einkäufe neuerdings mit guter Laune und wiedererwachter Redseligkeit. Ahmeds Füße fliegen über die alte Aschenbahn der Schule, als träfe jeder seiner Schritte auf eine Feder. Als er auf dem Gehweg stehen geblieben war, um über die gewundene Spur des verseng‐ ten und verschwundenen Wurms zu rätseln, brachten rings um ihn her junge grüne Sprösslmge, Knoblauch, Klee und Löwenzahn, die vom Winter erschöpften Grasflecken zum Leuchten, und Vögel erkundeten in flinken, aufgekratzten Bögen die unsichtbare Substanz, die sie trug. Jack Levy wacht jetzt, da er dreiundsechzig ist, zwischen drei und vier am Morgen auf, den Geschmack von Angst im Mund, den, während er träumte, schleppende Atemzüge ausgetrocknet haben. Jack Levys Träume sind düster voll‐ gesogen mit dem Elend der Welt. Er liest die an mangelnden Anzeigen sterbende Lokalzeitung New Prospect Perspective 26
und die New York Times oder Post, wenn jemand sie im Leh‐ rerzimmer liegen gelassen hat, und – als hätte er damit noch nicht genug von Bush, Irak und hiesigen Morden, solchen in Queens und East Orange, sogar an Kindern von zwei, vier oder sechs Jahren, so jung, dass es ihnen wie Blasphemie vorkäme, sich lauthals gegen die Mörder, ihre Eltern, zur Wehr zu setzen, so wie es Blasphemie gewesen wäre, hätte Isaac sich Abraham widersetzt – am Abend zwischen sechs und sieben wendet sich Levy, während die korpulente Frau, die Bestandteile des Abendessens vom Kühlschrank zum Mikrowellenherd trägt, sich immer wieder vor dem kleinen Bildschirm des Fernsehers in der Küche vorbeischiebt, der Nachrichtenzusammenfassung aus dem Großraum New York und den Nachrichtensprechern der Networks zu, bis ihn die Werbespots, die er alle bereits des Öfteren gesehen hat, ihn so aufregen, das er das elende Gerät abstellt. Über die Nachrichten hinaus hat Levy eigenes Unglück zu er‐ tragen, Unglück, das er «stemmen» muss, wie man heut‐ zutage sagt – die Bürde des kommenden, des hinter all diesem Dunkel grauenden Tages. Angst und Ekel rumoren in ihm gleich den Bestandteilen einer dieser miesen Res‐ taurantmahizeiten, wie sie einem heutzutage zugemutet werden – doppelt so viel an Essen, wie man braucht. Die Angst schlägt die Tür vor ihm wieder zu und wirft Levy in den Schlaf zurück, in das sich von Tag zu Tag verstärkende Gefühl, dass es für seinen Körper auf der Erde nichts weiter mehr zu tun gibt, als sich auf den Tod vorzubereiten. Seine Balz‐ und Paarungspflicht hat er erfüllt; er hat ein Kind ge‐ zeugt; er hat gearbeitet, um dieses Kind, den kleinen Mark mit seinen scheu blickenden Augen und der feuchten Un‐ terlippe, zu ernähren und mit all dem Ramsch auszustatten, den er gemäß der diktatorischen Kultur der Zeit haben 27
musste, um nicht hinter seine Altersgenossen zurückzufal‐ len. Jetzt bleibt Jack Levy nur noch die Pflicht, zu sterben und damit auf diesem überfrachteten Planeten ein bisschen Platz, ein bisschen Luft freizumachen. Diese Aufgabe hängt dicht über seinem schlaflosen Gesicht wie ein Spinngewebe mit einer reglosen Spinne in der Mitte. Seine Frau Beth, ein Wal von weiblichem Wesen, das durch seine Speckschicht zu viel Wärme absondert, atmet hörbar neben ihm. Ihr unermüdlich scharrendes Schnarchen ist die Fortsetzung ihrer Monologe während des Tages. Wenn er sie mit der unterdrückten Wut vergeblichen Tuns mit dem Knie oder Ellbogen anstößt oder ihr sanft die Hand auf eine unter dem hochgerutschten Nachthemd entblößte Pohälfte legt, dann verstummt sie brav, und dann befürchtet Jack, sie geweckt und das unausgesprochene Gelübde ge‐ brochen zu haben, das zwischen zwei Menschen besteht, die irgendwann einmal, vor wie langer Zeit auch immer, übereingekommen sind, ein Bett zu teilen. Er möchte nur, dass ihr Schlaf so leicht wird, dass ihre Atemzüge nicht mehr geräuschvoll in ihrer Nase vibrieren. Es gleicht dem Stimmen der Geige, die er als Junge gespielt hat. Ein neuer Heifetz, ein neuer Isaac Stern – hatten sich seine Eltern das von ihm erhofft? Er hatte sie enttäuscht, und das war einer der Punkte, an denen sein Unglück mit dem der Welt zu‐ sammenfiel. Seine Eltern waren tief bekümmert gewesen. Trotzig hatte er ihnen erklärt, er gehe nicht mehr zum Gei‐ genunterricht. Das Leben in den Büchern und auf der Stra‐ ße hatte ihm mehr bedeutet. Da war Jack elf oder zwölf, und er hat die Geige seither nie wieder angerührt, obwohl er manchmal – wenn er im Autoradio einen Fetzen von Beetho‐ ven, ein Mozart‐Konzert oder Dvořáks Zigeunermusik hört, die er einst in einer Bearbeitung für Schüler geübt hat – zu 28
seiner Überraschung merkt, wie seine linke Hand die Griffe wiederzufinden sucht und auf dem Lenkrad zuckt wie ein sterbender Fisch. Warum sich geißeln? Er hat sich ganz ordentlich geschla‐ gen, mehr als ordentlich sogar: mit Auszeichnung von Cen‐ tral High abgegangen, Abschlussjahrgang 59, als einem die Schule noch nicht wie ein Gefängnis vorkam, als man noch fleißig lernen und das Lob der Lehrer mit Stolz entgegen‐ nehmen konnte; als Student emsig zum Community College von New York gependelt, dann die Wohnung in SoHo, die er mit zwei jungen Männern und einem Mädchen geteilt hat‐ te, das seine Zuneigung mal diesem, mal jenem von ihnen gewährte; nach dem College‐Abschluss zwei Jahre in der Armee, zu der Zeit, als es noch die Wehrpflicht gab und be‐ vor der Vietnam‐Konflikt heißlief; Grundausbildung in Fort Dix, Schreibstubenhengst in Fort Meade, Maryland, immer‐ hin so weit südlich der Mason‐Dixon‐Linie, dass es dort von antisemitischen Südstaatlern wimmelte; das letzte Jahr dann in Fort Bliss in El Paso, in der Personalabteilung, wo sie die passenden Leute für bestimmte Aufgaben ausgesucht hat‐ ten und wo er begonnen hatte, Teenager zu beraten; danach das Master‐Studium an der Rutgers University, finanziert mit den bereits gekürzten Mitteln aus dem gesetzlichen Weiterbildungsprogramm für GIs; seitdem einunddreißig Jahre High‐School‐Lehrer für Geschichte und Gemein‐ schaftskunde, die letzten sechs Jahre dann ausschließlich als Schülerberater tätig. Die bloßen Fakten seiner Laufbahn gaben ihm das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein, in einen Lebenslauf, so dicht verschlossen wie ein Sarg. Im Dunkeln bekam er nun nur noch mühsam Luft, und verstohlen dreh‐ te er sich von der Seitenlage auf den Rücken, lag nun wie eine katholische Leiche bei der Aufbahrung. 29
Wie laut Bettlaken sein können, so nah am Ohr, wie bre‐ chende Wellen! Er möchte Beth nicht wecken. Wo er schier am Ersticken ist, kann er nicht auch noch mit ihr zurande kommen. Einen Moment lang mildert die neue Lage seine Pein, wie der erste Schluck aus einem Glas, bevor die Eis‐ würfel den Whisky verwässern. Auf dem Rücken liegend, erfüllt ihn die Ruhe eines Toten, nur dass er nicht gleich über der Nasenspitze einen Sargdeckel hat. Es ist still auf der Welt – der Berufsverkehr hat noch nicht eingesetzt, die Nachtschwärmer mit ihren kaputten Auspuffrohren haben endlich ins Bett gefunden. Jack hört einen einsamen Laster vor der blinkenden Ampel an der nächsten Kreuzung den Gang wechseln und, zwei Zimmer weiter, Carmela, die kas‐ trierte, klauenlose Katze der Levys, auf weichen Pfoten einen rastlosen Galopp hinlegen. Ihrer Krallen beraubt, wie sie ist, kann man sie nicht ins Freie lassen, denn die Katzen aus der Nachbarschaft könnten sie umbringen. Im Haus ge‐ fangen, verbringt sie den Tag größtenteils schlafend unter dem Sofa, doch des Nachts, wenn es im Haus still geworden ist, halluziniert sie anscheinend und besteht in ihrer Phanta‐ sie die animalischen Abenteuer, die Kämpfe und das Davon‐ kommen, was sie zu ihrem eigenen Wohle nie erleben darf. So trostlos ist die sinnlich wahrnehmbare Umwelt in diesen Stunden vor dem Morgengrauen, und so allein kommt sich Jack Levy vor, dass ihn der leise Aufruhr einer wahnsinni‐ gen, kastrierten Katze beinahe so weit besänftigt, dass sein Verstand, seiner Wächterpflichten enthoben, in den Schlaf zurückgleitet. Und doch liegt er, von einer quengelnden Blase wach‐ gehalten, da, wie einem Übelkeit erregenden Ausbruch von Radioaktivität dem Eindruck ausgeliefert, sein Leben sei ein überflüssiger Fleck – ein Klecks, ein lang nach‐ 30
wirkender Fehler – auf der sonst makellosen Fläche dieser unmenschlichen Stunde. Er hat im finsteren Wald der Welt den rechten Weg verpasst. Aber gibt es denn einen rechten Weg? Oder ist es bereits ein nicht wieder gutzumachender Fehler, am Leben zu sein? In der abgespeckten Fassung von Geschichte, wie er sie lange Schülern vermittelt hatte, die Mühe hatten zu glauben, dass die Welt nicht mit ihrer eigenen Geburt und der Verbreitung von Computerspie‐ len begonnen hatte, erreichten selbst die größten Männer nichts als ein Grab; ihre Visionen blieben unerfüllt – Karl der Große, Karl V., Napoleon, der unaussprechliche, jedoch recht erfolgreiche und in gewissen arabischen Ländern noch immer bewunderte Adolf Hitler. Geschichte ist eine Maschine, welche die Menschheit unablässig zu Staub zer‐ mahlt. Die Beratungsgespräche hallen in Jacks Kopf nach als kakophonischer Wust von Missverständnissen. Er sieht sich als erbärmliche ältliche Gestalt an einem Ufer, die einer Flotte von jungen Leben Warnungen zuruft, während sie in den fatalen Sumpf der Welt hineingleiten – der Welt mit ih‐ ren schrumpfenden Ressourcen, ihren schwindenden Frei‐ heiten, ihrer gnadenlosen Werbung und ihrer absurden, auf Bier, Musik und unglaublich dünnen, fitten jungen Frauen beruhenden Popularkultur. Oder waren die meisten Frauen in ihrer Jugend einmal so dünn gewesen wie die Geschöpfe in den Werbespots für Bier und Coke, selbst Beth? Wahrscheinlich, aber sich daran zu erinnern, fällt ihm so schwer, wie den Bildschirm im Auge zu behalten, wenn sie davor hin‐ und hergeht, um das Abendessen zusammenzutragen. Sie hatten sich während seiner anderthalb Jahre an der Rutgers University kennen gelernt. Beth war ein Mädchen aus Pennsylvania, aus der East‐Mount‐Airy‐Gegend Philadelphias, das Biblio‐ 31
thekswissenschaften studierte. Ihre Leichtigkeit hatte ihn angezogen, ihr Lachen, ihr listiges Geschick, alles, sogar sein Werben um sie, ins Komische zu ziehen. Was für männ‐ liche Babys würden wir wohl haben? Ob sie halb beschnitten auf die Welt kommen? Sie, Elizabeth Fogel, war Deutschamerika‐ nerin und hatte eine weniger liebenswerte ältere Schwester namens Hermione. Er war Jude, jedoch kein stolzer, vom Alten Bund bestärkter Jude. Sein Großvater hatte in der Neuen Welt jegliche Religion abgeworfen und gläubig auf eine Welt nach der Revolution gesetzt, in der die Mächtigen nicht mehr mittels Aberglauben herrschen konnten und wo ein gut gedeckter Tisch und ein solides, schützendes Dach über dem Kopf die unzuverlässigen Versprechen eines un‐ sichtbaren Gottes ersetzten. Nicht dass der Gott der Juden je zu großartigen Verspre‐ chen geneigt hätte – ein zerbrochenes Glas zur Hochzeit, ein hastiges Begräbnis im Leichentuch, wenn man stirbt, keine Heiligen, kein Leben nach dem Tod, nur lebenslan‐ ge, loyale Plackerei für den Tyrannen, der von Abraham ver‐ langt hatte, ihm seinen einzigen Sohn als Brandopfer dar‐ zubringen. Der arme Isaak, dieser vertrauensselige Esel, der fast von seinem eigenen Vater getötet worden wäre, wurde als alter blinder Mann auch noch von seinem Sohn Jakob und seiner eigenen, verschleiert aus Paddan‐Aram herbei‐ geführten Frau Rebekka um seinen Segen betrogen. Wenn man sämtliche Regeln befolgte – und für die orthodoxen Juden war die Liste der Regeln lang –, erhielt man dafür in jüngster Zeit einen gelben Stern und eine Karte einfache Fahrt in die Gaskammern. Nein, danke: Jack Levy fand ein halsstarriges Vergnügen darin, einer der halsstarrigen Nein‐ sager des Judentums zu sein. Er hatte seine Umgebung darin bestärkt, «Jacob» in «Jack» zu verwandeln, und sich 32
der Beschneidung seines Sohnes widersetzt, obwohl ein aal‐ glatter weißer Protestant von Krankenhausarzt Beth dazu überredete, «aus rein hygienischen Gründen»; Studien hät‐ ten gezeigt, behauptete er, dass dadurch für Mark das Risiko sinke, sich mit Geschlechtskrankheiten zu infizieren, und für seine Partnerinnen dasjenige, an Gebärmutterhalskrcbs zu erkranken. Da hatten sie einen Neugeborenen vor sich, gerade eine Woche alt, dessen Schwanz noch nicht größer war als ein Knopf auf dem gesäumten Nadelkissen seiner Eier, und schon wollten sie sein Sexleben verbessern und noch ungeborene weibliche Säuglinge vor Gefahren bewah‐ ren! Beth gehörte als Lutheranerin einem herzhaften christ‐ lichen Bekenntnis an, das mehr auf Glauben als auf Arbeit setzte und mehr auf Bier als auf Wein, und Jack erwartete, sie werde mäßigend auf seine sture jüdische Tugendhaftig‐ keit einwirken, die älteste der aussichtslosen Lehren, die in der westlichen Welt noch aktiv sind. Selbst der sozialis‐ tische Glaube seines Großvaters war ob der Entwicklung, die der Kommunismus in der Praxis genommen hatte, sauer und schal geworden. Jack hatte seine und Beth’ Ver‐ eheliehung – im ersten Stockwerk des lächerlichen Rat‐ hauses von New Prospect, in Anwesenheit lediglich ihrer Schwester sowie seiner Eltern – als tapfere Mesalliance be‐ trachtet, als ein aus historischer Sicht belangloses Liebes‐ kuddelmuddel wie so vieles, was sich im Jahr 1968 ereigne‐ te. Nach sechsunddreißig gemeinsam im Norden von New Jersey verbrachten Jahren haben sich die religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen ihnen abgeschliffen und einer glanzlosen Gleichartigkeit Platz gemacht. Sie sind zu einem Paar geworden, das am Wochenende gemeinsam bei ShopRite und Best Buy einkauft und das unter einem ver‐ 33
gnügten Abend eine Bridge‐Runde an zwei Tischen ver‐ steht, zusammen mit drei anderen Paaren von der Schule oder der Clifton Public Library, wo Beth an vier Tagen in der Woche arbeitet. An einem Freitag oder Samstag versu‐ chen sie sich gelegentlich aufzumuntern, indem sie abends essen gehen, abwechselnd in dem chinesischen oder dem italienischen Restaurant, wo sie Stammgäste sind und wo der lächelnde Oberkellner sie an einen Tisch führt, an dem Beth ein wenig mehr Platz hat, oder indem sie sich einen Film ansehen, wenn sie einen finden können, in dem nicht allzu viel Gewalt oder Sex vorkommt und der nicht gar zu offensichtlich die idiotische Zielgruppe der vierzehn‐ bis siebzehnjährigen männlichen Zuschauer anpeilt. Um die Zeit, als Beth und Jack sich kennen lernten und dann frisch verheiratet waren, brach das System der Studios zusammen, und atemberaubende, subversive Filme kamen heraus – Midnight Cowboy, Easy Rider, Bob & Caroline & Ted & Alice, The Wild Bunch, Uhrwerk Orange, Dirty Harry, Die Kunst zu lieben, Der letzte Tango in Paris, Der Pate, Die letzte Vorstellung, American Graffiti –, ganz zu schweigen von den späten Berg‐ man‐Werken und jenen französischen und italienischen Filmen, die noch voll existenzieller Angst, Schärfe und na‐ tionaler Eigenart waren. Gute Filme waren das gewesen, die ein Paar nicht geistig erschlaffen ließen. Damals hatte als Relikt von 68 noch das Gefühl in der Luft gelegen, die Welt könne von jungen Leuten nach deren Vorstellungen umgemodelt werden. In sentimentaler Erinnerung an jene damals gemeinsam erlebten Offenbarungen, als das ge‐ meinsame Erleben in einer Ehe für sie beide neu gewe‐ sen war, stiehlt sich Jacks Hand im Kino auch heute noch manchmal zu Beth hinüber, findet auf ihrem Schoß ihre leicht gedunsene, heiße Hand und hält sie fest, während 34
die Explosionen irgendeines viel späteren, auf simplere Erwartungen hin kalkulierten Reißers ihre Gesichter über‐ fluten und die unverfrorenen Grobheiten und eiskalt be‐ rechneten Schocks in dessen kindischem Script ihr Alter verhöhnen. Schlaflos, der Verzweiflung nahe, erwägt Jack, unter der Decke nach Beth’ Hand zu tasten; wenn er jedoch versucht, inmitten der Wülste ihres bewusstlosen Körpers ihre Hand zu finden, könnte er Beth stören und ihre unermüdliche, unersättliche, immer noch kindliche Stimme wecken. Fast so verstohlen wie ein Krimineller zieht er die Füße auf dem Betttuch an, schiebt behutsam die Decke beiseite und ent‐ kommt aus dem ehelichen Bett. Als er über den Bettvor‐ leger hinaustritt, spürt er an den bloßen Füßen die April‐ kälte. Der Thermostat ist noch auf die Nachttemperatur eingestellt. Jack tritt an ein Fenster mit vergilbten Spitzen‐ vorhängen und betrachtet im grauen Licht der Quecksilber‐ dampflampen die Gegend, in der er wohnt. Das Orange des Gulf‐Schilds an der rund um die Uhr geöffneten Tankstelle an der übernächsten Straßenecke sticht als einzig deutlicher Farbtupfer in der nächtlichen Szenerie hervor. Hier und da in der Nachbarschaft erwärmt ein fahles Niedrigvoltlicht das Fenster eines Kinderzimmers oder eines Treppenabsatzes. Im unentschiedenen Dunkel unter einem lackschwarzen Gewölbe, an dem der aufsteigende Schimmel des städti‐ schen Glimmens nagt, verschwinden die verkürzten Winkel von Dachlinien, Schindeln und Fassadenverkleidungen im Unendlichen. Siedlung, denkt Jack Levy. Häuser sind zu Siedlungen aneinandergerückt, aufgrund von steigenden Grundstücks‐ preisen und Parzellierung enger aneinander geschoben. Wo es seiner Erinnerung nach hinter und zwischen den 35
Häusern Gärten mit blühenden Bäumen, Gemüsebeeten, Wäscheleinen und Schaukeln gegeben hatte, herrschen nun betonierte Wege und asphaltierte Parkflächen vor, die man den einst – wie es den Vorstellungen des Planers vom Wohnglück im Grünen entsprach – großzügig bemessenen Rasenstücken abgeknapst hat und an denen ein paar strup‐ pige Büsche um Kohlendioxyd und feuchte Erde kämpfen. Als maßgebend haben sich die Bedürfnisse des Automobils erwiesen. Die entlang der Bordsteine gepflanzten Robi‐ nien, die an den Zäunen und Hausmauern rasch Wurzel fassenden wilden Akazien, die wenigen Rosskastanien, die aus der Zeit der Eiswagen und Kohlelaster überlebt haben – all diese Bäume, ihre Knospen und kleinen jungen Blätter, die sich im Lampenlicht als silbriger Flaum fri‐ schen Wachstums zu erkennen geben, sind in Gefahr, bei der nächsten Straßenverbreiterung entwurzelt zu werden. Die schlichten Konturen der Doppelhäuser aus den dreißi‐ ger Jahren und die Ranch‐Häuser im Kolonialstil der fünf‐ ziger sind bereits überfrachtet mit nachträglich eingefügten Dachfenstern, aufgesetzten Terrassendecks und spirrigen Außentreppen, mit denen der gesetzlich vorgeschriebene Zugang zu Studio‐Apartments geschaffen wurde, die ein‐ mal Gästezimmer gewesen waren. Die Fläche bezahlbarer Grundstücke wird immer kleiner, wie ein Blatt Papier, das gefaltet und noch einmal gefaltet wird. Aussortierte Scheidungswitwen, überflüssig gewordene Facharbeiter aus Industriezweigen, die ins Ausland verlagert wurden, und hart arbeitende Menschen dunkler Hautfarbe aus den innerstädtischen Slums, die nach der nächsten Sprosse der Aufstiegsleiter grapschen, ziehen in diese Wohngegend und können es sich nicht leisten, wieder fortzuziehen. Jun‐ ge Paare richten heruntergekommene Doppelhaushälften 36
wieder her und hinterlassen darauf ihre Markierung, indem sie die Veranden, Gicbeleinfassungen und Fensterrahmen in ausgefallenen Farben streichen – Ncon‐Flicdcr, Gift‐ grün –, und die grellen Kleckse an der Straße werden von den älteren Anwohnern als Beleidigung empfunden, als Fanale der Verachtung, als unansehnliche Spielerei. Die kleinen Lebensmittelgeschäfte an den Ecken sind eines nach dem anderen eingegangen und haben das Feld Ket‐ tenläden überlassen, deren Logos und Dekor so unbeküm‐ mert schrill sind wie die gigantischen Farbabbildüngen ihres fettmachenden Fast Foods. Amerika ist, wenn man Jack Levy fragt, lückenlos mit Fett und Teer zugepflastert, ein von Küste zu Küste reichender Fliegenfänger, an dem wir alle festkleben. Selbst auf unsere vielgerühmte Freiheit brauchen wir uns nicht mehr viel einzubilden, nachdem die Kommunisten aus dem Rennen ausgeschieden sind: Sie macht es nur leichter für Terroristen, unauffällig ein‐ und auszureisen, Flugzeuge und Transporter anzumieten und Webseiten einzurichten. Religiöse Spinner und Computer‐ Freaks: eine sonderbare Kombination für Jack, der altmo‐ discherweise Intellekt und Glauben als Gegensätze emp‐ findet. Diese Irren, die die Flugzeuge in das World Trade Center geflogen haben, waren technisch gut ausgebildet. Der Anführer hatte einen deutschen Universitätsabschluss in Stadtplanung. New Prospect hätte seine Fachkenntnisse brauchen können. Ein positiverer, vitalerer Mensch als er, nimmt Jack an, würde diese Stunden nutzen, bevor seine Frau aufwacht, die Zeitung auf der Veranda landet und der sternenlose Himmel über den Dächern zu schmutzigem Grau gerinnt. Er könn‐ te hinuntergehen und nach einem der Bücher suchen, von denen er die ersten dreißig Seiten gelesen hat, oder Kaffee 37
machen oder sich ansehen, wie sich die Muntermacher in den TV‐Frühnachrichten heiser quasseln. Aber er steht lieber hier und flutet seinen leeren Kopf mit dem sehr ir‐ dischen Anblick der Straße. Eine gestreifte Katze – oder ist es ein kleiner Waschbär? – flitzt über die leere Fahrbahn und verschwindet unter einem geparkten Auto, dessen Marke Jack nicht benennen kann. Autos sehen jetzt alle gleich aus, gar nicht mehr wie die mit den großen Flossen und den chromblitzenden, grinsenden Mäulern in der Zeit, als er ein Junge war; der Buick Riviera hatte sogar Bullaugen und der Studebaker eine Boxernase; und erst die tollen langen Cadillacs der fünfziger Jahre – die waren wirklich aerodynamisch. Angeblich der Aerodynamik und des Bcnzinsparens wegen sind heutzutage sämtliche Autos, vom Mercedes bis hinab zum Honda, ein bisschen pummlig und gedrungen und neutral lackiert, damit man den Straßen schmutz weniger sieht. Ein großer Parkplatz wird dadurch zum Albtraum, und man fände nie den eige‐ nen Wagen wieder, wenn es den kleinen Blipp nicht gäbe, der aus einer gewissen Entfernung die Lichter aufblinken lässt oder, wenn auch das nicht hilft, ein Hupsignal auslöst. Eine Krähe mit etwas Bleichem und Langem im Schna‐ bel schwingt sich träge von dem Loch auf, das sie in einen grünen Plastiksack gehackt hat, der gestern Abend für die Müllabfuhr hinausgestellt worden ist. Ein Stück weiter un‐ ten an der Straße eilt ein Mann im grauen Anzug von einer Veranda hinunter, steigt in einen Wagen, einen bulligen, durstigen Geländewagen, und braust dröhnend – ist ihm doch gleich, ob irgendwelche Nachbarn wach werden – da‐ von, vermutlich nach Newark, zu einem frühen Flug, nimmt Jack an. Da steht er, starrt durch die frostigen Fensterschei‐ ben und denkt: Das also ist das Leben. In einer Siedlung 38
zu wohnen, Essen runterzuschlingen, sich am Morgen zu rasieren und zu duschen, damit man den anderen am Kon‐ ferenztisch nicht mit seinen Pheromonen den Atem nimmt. Ein ganzes Leben hat es gedauert, bis ihm klar wurde, dass Menschen stinken. Als er noch jünger war, ist ihm der schale Geruch nie aufgefallen, der jetzt von ihm ausgeht, wenn er sich einfach nur ruhig durch den Tag bewegt, ohne je ins Schwitzen zu geraten. Nun – wenn er all das sieht, ist er immerhin noch am Leben. Vermutlich ist das nicht das Schlechteste, aber es strengt an. Wer war noch der Grieche in diesem Buch, von dem sie damals am Community College alle so hingerissen waren? Oder vielleicht war es später, an der Uni, beim Mas‐ terstudium. Sisyphus. Der bergan zu wälzende Felsen, der unweigerlich abwärts rollt. Jack steht noch am Fenster, aber er sieht nichts mehr, sondern sein Bcwusstsein kämpft ge‐ gen die Gewissheit an, dass all das eines Tages für ihn enden wird. Die Bilder in seinem Kopf werden vollkommen er‐ löschen, und doch wird alles ohne ihn weitergehen – immer neue Tage werden anbrechen, Autos werden anspringen und wilde Geschöpfe auf vom Menschen vergiftetem Land nach Nahrung suchen. Carmela ist unhörbar die Treppe hin‐ aufgeschlichen und reibt sich unter lautem Schnurren an Jacks nackten Knöcheln, in der Hoffnung, früh gefüttert zu werden. Auch das ist das Leben, ein Leben, das ein anderes berührt. Jacks Augen fühlen sich sandig und tranig an. Er hätte nicht aufstehen sollen, meint er nun; an der Seite seiner massigen, warmen Frau hätte er vielleicht noch eine Stunde Schlaf ergattert. Jetzt muss er seine Müdigkeit durch einen langen, mit Terminen voll gepackten Tag schleppen, an dem in jedem Moment jemand etwas von ihm will. Er hört 39
das Bett quietschen; Beth hat sich bewegt und die Matratze von ihrem Gewicht erlöst. Die Badezimmertür geht auf und zu, der Riegel klickt ein und springt wieder heraus, was Jack schon lange aufbringt. Als er noch jünger war, hätte er ver‐ sucht, das zu beheben, doch seit Mark in New Mexico lebt und allenfalls einmal im Jahr nach Hause kommt, gibt es keinen sonderlichen Grund mehr, für Diskretion im Bad zu sorgen. Beth’ Verrichtungen bringen das Wasser in den Rohren im ganzen Haus zum Gurgeln. Eine Männerstimme, sehr schnell sprechend und mit Musik unterlegt, quillt vom Nachttisch her in den Raum; wenn Beth aufwacht, stellt sie als Erstes das verdammte Ding an und geht dann davon. Ständig nimmt sie elektro‐ nisch Verbindung mit einer Welt auf, in der sie beide phy‐ sisch in zunehmender Isolation leben, ein alterndes Paar, dessen einziges Kind ausgeflogen ist. Dabei versetzt sie beide ihre Tätigkeit tagtäglich unter unbekümmert junge Leute. In der Bücherei war Beth gezwungen zu lernen, mit Computern umzugehen, nach Informationen zu suchen, sie auszudrucken und Halbwüchsigen auszuhändigen, die zu blöd sind, Bücher zu durchstöbern, soweit es zu ihren Fra‐ gen noch Bücher gibt. Jack hat versucht, die ganze Revolu‐ tion zu ignorieren, er kritzelt die Aufzeichnungen zu seinen Beratungsgesprächen stur weiter mit der Hand und macht sich nur selten die Mühe, sich in den Computer einzulog‐ gen, in dem die Daten der zweitausend Schüler von Central High gespeichert sind. Wegen dieses Versagens oder dieser Weigerung rügen ihn oft seine Berater‐Kollegen, deren Zahl sich in dreißig Jahren verdreifacht hat, zumal Connie Kim tut es, eine zierliche Koreaamerikanerin, deren Spezialität Problemkinder sind, farbige Schulschwänzerinnen, und Wesley Ray James, ein ebenso korrekter wie effizienter 40
Schwarzer, dessen noch nicht lange zurückliegenden sport‐ lichen Leistungen ihm bei den Jungen helfen. Jack ver‐ spricht zwar, dass er sich ein oder zwei Stunden hinsetzen und die Daten nachtragen wird, aber Wochen vergehen, ohne dass er dafür Zeit findet. Es hat mit Vertraulichkeit zu tun; es liegt ihm nicht, den Inhalt vertraulicher Gespräche in ein elektronisches Netzwerk einzufüttern, das jedermann in der Schule zugänglich ist. Beth ist da mehr auf dem Laufenden, bereiter, nachzuge‐ ben und sich zu verändern. Sie hat damals die standesamtli‐ che Trauung akzeptiert, obwohl sie ihm errötend gestanden hatte, es würde ihren Eltern das Herz brechen, wenn die Hochzeit nicht in ihrer Kirche stattfände. Was es ihrem ei‐ genen Herz antun würde, hatte sie nicht gesagt, und er hatte erwidert: «Lass es uns schlicht halten. Ohne Hokuspokus.» Die Religion bedeutete ihm nichts, und als sie zum Ehepaar verschmolzen, bedeutete sie auch Beth nichts mehr. Heute fragt er sich, ob er ihr damit nicht etwas genommen hat, wie grotesk es auch sein mag, und ob sie sich dafür nicht durch ihr unaufhörliches Geplapper und Gcfutter Ersatz ver‐ schafft. Mit einem halsstarrigen Juden verheiratet zu sein, ist sicher nicht leicht. In Bahnen von Frotteestoff gehüllt, taucht sie aus dem Bad auf, sieht ihn stumm und reglos am Fenster des oberen Flurs stehen und ruft erschrocken aus: «Jack! Was ist mit dir?» Mit einem gewissen ehelichen Sadismus beschützt er seinen Trübsinn, indem er ihn nur halbherzig vor ihr ver‐ birgt. Jack möchte Beth das Gefühl geben, sie sei an seinem Befinden schuld, obwohl der Verstand ihm sagt, dass dem nicht so ist. «Das Übliche», sagt er. «Ich bin wieder mal zu früh aufgewacht. Und konnte nicht wieder einschlafen.» 41
«Das ist ein Anzeichen von Depressionen, haben sie neulich im Fernsehen gesagt. Oprah hatte eine Frau in der Sendung, die ein Buch dazu geschrieben hat. Vielleicht soll‐ test du einen ... ich weiß ja auch nicht, das Wort ‹Psychiater› macht jedem, der nicht reich ist, Angst, hat die Frau gesagt. Also, vielleicht solltest du einen Spezialisten für seelische Gesundheit konsultieren, wenn es dir so elend geht.» «Einen Weltschmerz‐Spezialisten.» Jack wendet sich um und lächelt sie an. Obwohl auch sie über sechzig ist – ein‐ undsechzig, zwei Jahre jünger als er –, ist ihr Gesicht falten‐ los; was bei einer schlanken Frau tiefe Furchen wären, sind auf ihrem runden Gesicht zarte Striche; das Fett glättet ihre Haut und verleiht ihr eine mädchenhafte, zarte Straffheit. «Nein, danke, Liebes», sagt er. «Ich gebe den ganzen Tag lang weise Sprüche von mir, da schaffe ich es nicht, selbst welche entgegenzunehmen. Ich habe zu viele Antikörper.» Wenn er Beth bei einem Thema abwehrt, dann wirft sie sich, wie er im Lauf der Jahre herausgefunden hat, rasch auf ein anderes, um seine Aufmerksamkeit nicht gänzlich zu verlieren. «Apropos Antikörper, Herm hat mir gestern am Telefon gesagt – das ist absolut vertraulich, Jack, nicht mal ich dürfte es wissen, versprich mir, dass du’s keinem erzählst «Versprochen.» «Sie erzählt mir solche Sachen, weil sie sich irgendwo aussprechen muss und weil ich mich ja nicht in den dortigen Kreisen bewege – sie hat erwähnt, dass ihr Chef im Begriff ist, die Tetroralarmstufe für New York und den Norden von New Jersey von Gelb auf Orange zu erhöhen. Ich dachte, sie melden es vielleicht im Radio, aber da kam nichts. Was das wohl zu bedeuten hat?» Hermiones Chef in Washington ist der Minister für Hei‐ 42
matschutz, ein pedantischer wiedergeborener rechter Ultra mit einem Kraut‐Namen, Haffenreffer oder so ähnlich. «Es bedeutet, dass sie uns das Gefühl vermitteln wollen, sie sä‐ ßen nicht bloß auf unseren Steuern. Dass sie wüssten, wie das Problem anzugehen ist. Nur wissen sie es nicht.» «Machst du dir darum Sorgen, wenn du dich sorgst?» «Nein, Liebes. Ehrlich gesagt, das ist das Letzte, was mich beschäftigt. Sollen sie doch kommen. Als ich so aus dem Fenster geschaut habe, ist mir vielmehr durch den Kopf gegangen: Die ganze Gegend hier könnte eine tüchti‐ ge Bombe vertragen.» «Ach, Jack, du solltest darüber wirklich keine Scherze machen – denk doch nur an die armen jungen Männer dort oben in den höchsten Stockwerken, die über Handy ihre Krauen angerufen haben, um ihnen zu sagen, dass sie sie lieben.» «Ich weiß, ich weiß. Ich sollte wirklich keine Scherze machen.» «Markie sagt immer, wir sollten irgendwo hinziehen, von wo es nicht so weit ist bis zu ihm nach Albuquerque.» «Das sagt er, Liebes, aber er meint es nicht. Uns in seiner Nähe zu haben, ist das Letzte, was er sich wünscht.» Da Jack befürchtet, er habe mit dem Aussprechen dieser Wahrheit die Mutter des Jungen gekränkt, setzt er scherzend hinzu: «Keine Ahnung, warum das so ist. Wir haben ihn schließlich nie geschlagen oder in eine dunkle Kammer gesperrt.» «Auf die Wüste würden sie nie Bomben werfen», fährt Beth fort, als stünde als nächster Punkt der Tagesordnung der Beschluss zur Debatte, nach Albuquerque zu ziehen. «Das stimmt. Sie, wie du sie nennst, lieben die Wüste.» Sie nimmt an seinem Sarkasmus immerhin so viel Anstoß, dass sie ihn nun in Ruhe lässt, wie Jack mit einer Mischung aus 43
Erleichterung und Bedauern bemerkt. Ihr gelingt eine brüske, altmodisch hochmütige Kopfbewegung, und sie sagt: «Es muss herrlich sein, sich so wenig betroffen zu füh‐ len von dem, was sonst jedem Sorge macht.» Dann dreht sie sich um und geht zurück ins Schlafzimmer, um das Bett zu machen und um sich, mit dem gleichen schnaufenden Kraftaufwand, den sie den Kissen widmet, für ihren Tag in der Bücherei anzuziehen. Womit nur, fragt sich Jack, habe ich solche Treue, so viel ehe‐ frauliches Vertrauen verdient? Ein wenig enttäuscht es ihn, dass sie seine harsche Feststellung nicht zurückgewiesen hat, ihr gemeinsamer Sohn (ein erfolgreicher Augenarzt mit drei lieben, von der Sonne verwöhnten, pflichtschuldig Brillen tragenden Kindern und einer blondierten, rein jü‐ dischen, an der Oberfläche freundlichen, im Grunde aber reservierten Frau aus Short Hills) wolle seine Eltern nicht in der Nähe haben. Jack und Beth teilen gewisse Mythen, und einer davon besagt, dass Mark sie ebenso liebt wie sie ihn – hilflos, dem einzigen Ei in ihrem Nest ausgeliefert. Genau genommen hätte Jack gar nichts dagegen, sich aus der Umgebung hier zu verabschieden; nach einem ganzen Leben in einem Industriestädtchen der Ostküste, das ab‐ stirbt und sich in einen Dritte‐Welt‐Dschungel verwandelt, täte ihm ein Umzug in den Sonnengürtel womöglich gut. Beth ebenso. Der letzte Winter hat der mittleren Atlantik‐ region grausam zugesetzt, und im Dauerschatten zwischen manchen der dicht aneinander gerückten Häuser liegen noch immer kleine, von Schmutz geschwärzte Schneehau‐ fen. Das Zimmer des Schülerberaters von Central High ist eines der kleinsten – ein einstiger Vorratsraum, noch immer mit 44
dessen grauen Metallregalen ausgestattet, auf denen nun verstreut ein paar College‐Kataloge, Telefonbücher und psychologische Handbücher liegen, sowie Stapel von alten Nummern einer bescheiden aufgemachten Wochenzeit‐ schrift im Magazinformat, die Metro Job Market heißt und die laufend über den Bedarf an Arbeitskräften und über die technischen Ausbildungsstätten in der Region informiert. Als das palastartige Schulgebäude vor achtzig Jahren er‐ richtet wurde, erachtete man es nicht als notwendig, be‐ sondere Räumlichkeiten für Beratungsgespräche bereit‐ zustellen; Beratung fand überall statt, im kleinen Rahmen durch liebevolle Eltern, im großen durch eine moralistische Nationalkultur und dazwischen durch Ratgeber jedweder Art. Einem Kind wurden mehr Ratschläge eingetrichtert, als es verdauen konnte. Jetzt aber spricht Jack Levy ge‐ wohnheitsmäßig mit Kindern, die keine Eltern aus Fleisch und Blut zu haben scheinen – denen die Außenwelt ihre Anweisungen ausschließlich durch elektronische Geister zukommen lässt, die durch den schwarzen Schaumstoff von Kopfhörern brabbeln, am Ende eines überfüllten Raums vorüberflackern oder in den subtil programmierten Action‐ Figuren verschlüsselt sind, die durch die Explosionen pro‐ duzierenden Algorithmen eines Videospiels zucken. Die Schüler stellen sich ihrem Berater dar wie wechselnde CDs, deren schimmernde Oberfläche keinen Hinweis auf ihren Inhalt gibt, wenn man nicht über die richtigen Ab‐ spielgeräte verfügt. Dieser Schüler im letzten Schuljahr, der fünfte, der an diesem erschöpfend langen Vormittag zum Beratungs‐ gespräch erscheint, ist ein hoch aufgeschossener, dünner, beigehäutiger Junge in schwarzen Jeans und einem ver‐ blüffend sauberen weißen Hemd. Das Weiß des Hemdes 45
tut Jack Levy in den Augen weh; nach der kurzen Nacht ist sein Kopf ein wenig empfindlich. Außen auf der Mappe mit den Schulergebnissen des Jungen steht Mulloy (Ashmawy), Ahmed. «Ein interessanter Name», sagt Levy zu dem jungen Mann. Etwas an ihm – diese höfliche Wachsamkeit des weichen Mundes, das sorgfältig geschnittene und gekämm‐ te Haar, ein drahtiger Schopf, der über der Stirn gleich in die Höhe streben möchte – ist Jack sympathisch. «Wer ist Ashmawy?», fragt der Berater. «Sir, gestatten Sie, dass ich es Ihnen erkläre?» «Ja, bitte.» Der Junge spricht mit künstlicher Würde; er ahmt, glaubt Levy, irgendeinen Erwachsenen nach, den er kennt, einen gewandten, formellen Redner. «Ich bin das Produkt einer weißen amerikanischen Mut‐ ter und eines ägyptischen Austauschstudenten; als sie beide an der State University von New Jersey studierten, haben sie sich auf dem Campus von New Prospect kennen gelernt. Meine Mutter, die inzwischen Schwesternhelferin gewor‐ den ist, hat damals einen Abschluss in bildender Kunst an‐ gestrebt. In ihrer freien Zeit malt sie und entwirft Schmuck, mit einem gewissen Erfolg, aber wir können davon allein nicht leben. Er‐» Der Junge stockt, als sei er auf ein Hin‐ dernis in seiner Kehle gestoßen. «Ihr Vater», hilft ihm Levy weiter. «Genau. Er hatte, wie meine Mutter mir erklärt hat, die Hoffnung, sich amerikanische Techniken der Unterneh‐ mensführung und des Marketing anzueignen. Doch so ein‐ fach, wie man es ihm dargestellt hatte, war das nicht. Sein Name war – ist; ich habe das deutliche Gefühl, dass er noch lebt – Omar Ashmawy, und meine Mutter, die irisch‐ame‐ 46
rikanischer Abstammung ist, heißt Teresa Mulloy. Sie haben einige Zeit vor meiner Geburt geheiratet. Ich bin ehelich geboren.» «Nun gut, das habe ich keineswegs bezweifelt. Nicht dass es darauf ankäme. Wenn überhaupt jemand einen Verstoß begeht, dann jedenfalls nie das Baby, wenn Sie verstehen, was ich meine.» «Allerdings, Sir. Ich danke Ihnen. Er wusste genau, dass ihm eine Heirat mit einer Amerikanerin, sie mochte noch so gewöhnlich und unmoralisch sein, die amerikanische Staatsbürgerschaft einbringen würde, und deshalb hat er sie geheiratet, nicht aber amerikanisches Know‐how und das Netz von Beziehungen, das zu amerikanischem Wohlstand führt. Als ich drei war, hatte er alle Hoffnung aufgegeben, je mehr ais ein dürftiges Einkommen zu erzielen, und er brach sein Lager ab. Verwende ich den Ausdruck richtig? Ich bin darauf in einem autobiographischen Werk des großen ame‐ rikanischen Schriftstellers Henry Miller gestoßen, das auf Miss Mackenzies Lektüreliste für den Leistungskurs Eng‐ lisch stand.« «Wirklich? Du meine Güte, Ahmed – wie sich die Zeiten ändern. Früher war Miller nur unter der Theke zu haben. Kennen Sie den Ausdruck ‹unter der Theke›?» «Natürlich. Ich bin ja kein Ausländer. Ich war noch nie im Ausland.» «Sie haben nach ‹das Lager abbrechen› gefragt. Ein altmodischer Ausdruck, aber die meisten Amerikaner ver‐ stehen ihn. Ursprünglich war damit das Abbrechen eines militärischen Lagers gemeint.» «Miller verwendet es, glaube ich, im Zusammenhang mit einer Ehefrau, die ihn verlassen hat.» «Ja. Kein Wunder. Dass sie ihr Lager abgebrochen hat, 47
meine ich. Miller wird wohl kein einfacher Ehemann ge‐ wesen sein.» Diese schlüpfrigen Dreier mit der Ehefrau in Sexus. Setzten sie im Fachbereich Englisch jetzt etwa Sexus auf die Leselisten? Gibt es nichts mehr, was man erst als Er‐ wachsener erfährt? Der junge Mann schweift von den etwas abseitigen Be‐ merkungen seines Beraters auf überraschende Weise ab. «Meine Mutter sagt, ich könne keine Erinnerungen an meinen Vater haben, aber ich erinnere mich doch an ihn.» «Nun ja, Sie waren drei. Entwicklungspsychologisch ge‐ sehen, könnten Sie da schon noch ein paar Erinnerungen haben.» Das ist nicht die Richtung, in die Jack Levy das Gespräch hatte lenken wollen. «Ein warmer, dunkler Schatten», sagt Ahmed und beugt sich mit einem Ruck vor, so ernst ist es ihm. «Sehr weiße, quadratische Zähne. Ein kleiner, gepflegter Schnurrbart. Ich achte selbst auf ein gepflegtes Äußeres, das habe ich be‐ stimmt von ihm. Unter anderem erinnere ich mich auch an einen süßlichen Geruch, von einem Rasierwasser vielleicht, jedoch mit dem Hauch eines Gewürzes darin, vielleicht von einem orientalischen Gericht, dass er gerade zu sich genom‐ men hatte. Er war dunkel, dunkler als ich, aber elegant und schmal. Er trug den Scheitel fast in der Mitte.» Diese intensive Abschweifung bereitet Levy Unbehagen. Der Junge setzt sie ein, um etwas zu überdecken‐aber was? Um ihn zu ernüchtern, sagt Jack: «Vielleicht haben Sie eine Fotografie mit einer Erinnerung verwechselt.» «Ich habe nur zwei, drei Fotografien. Meine Mutter hat vielleicht noch einige mehr, aber sie versteckt sie vor mir. Als ich noch klein und unschuldig war, hat sie sich immer geweigert, auf meine vielen Fragen nach meinem Vater zu antworten. Ich glaube, sein Verschwinden hat viel Wut in ihr 48
aufgestaut. Eines Tages möchte ich ihn gern finden. Nicht irgendweicher Ansprüche oder Schuldzuweisungen wegen, sondern um einfach mit ihm zu reden, so wie zwei Muslime miteinander sprechen.» «Nun, Mr. –? Wie möchten Sie gern angeredet werden? Mr. Multoy oder» – Jack blickt erneut auf die Mappe – «Ashmawy?» «Meine Mutter hat mir ihren Namen beigegeben, er steht auf meiner Sozialversicherungskarte, meinem Führerschein und an ihrer Wohnung, wo ich zu erreichen bin. Wenn ich aber die Schule hinter mir habe und unabhängig bin, werde ich Ahmed Ashmawy sein.» Levy hält den Blick auf die Mappe gesenkt. «Und wie haben Sie vor, sich diese Unabhängigkeit zu ermöglichen? In Geschichte, Englisch und so fort hatten Sie gute Noten, Mr. Mulloy, aber wie ich sehe, sind Sie im letzten Jahr zum berufsvorbereitenden Zweig übergewechselt. Wer hat Ihnen dazu geraten?» Der junge Mann senkt nun seinerseits den Blick – lange Wimpern verdecken das feierliche schwarze Leuchten sei‐ ner Augen – und reibt sich am Ohr, als säße da eine Mücke. «Mein Lehrer», sagt er. «Welcher Lehrer? Ein solcher Kurswechsel hätte mit mir besprochen werden sollen. Wir hätten darüber sprechen können, Sie und ich, auch wenn wir nicht beide Muslime sind.» «Mein Lehrer ist nicht hier. Er ist an der Moschee. Scheich Rashid, der Imam. Wir studieren zusammen den heiligen Koran.» Levy versucht, sein Missfallen nicht zu zeigen, und sagt: «So. Weiß ich eigentlich, wo sich die Moschee befindet? Ich fürchte, nein, es sei denn, es handelt sich um die riesige an 49
der Tilden Avenue, die von den Black Muslims nach den Aufruhren der sechziger Jahre eingerichtet wurde. Meinen Sie die?» Er klingt borstig, und das will er nicht. Es war nicht dieser Junge hier, der ihn um vier Uhr geweckt, ihm das Ge‐ hirn mit Gedanken an den Tod verschmutzt oder Beth so erdrückend fett gemacht hat. «An der West Main Street, Sir, etwa sechs Querstraßen südlich vom Linden Boulevard.» «Den sie im vergangenen Jahr in Reagan Boulevard um‐ benannt haben», sagt Levy und verzerrt missbilligend den Mund. Der Junge fängt den Ball nicht auf. Für diese Teenager ist Politik ein Randgefilde des Star‐Himmels. Sie halten Ken‐ nedy für den zweitbesten Präsidenten nach Lincoln, weil er Star‐Qualitäten besaß und weil sie von den übrigen ohnehin keinen kennen, nicht einmal Ford und Carter, allenfalls Clin‐ ton und die Bushs, falls sie die auseinander halten können. Der junge Mulloy – den anderen Namen kann sich Levy aus irgendeinem Grund nicht merken – sagt: «Sie liegt an einer Straße mit Geschäften, über einem Friseursalon und einem Laden, wo man sich Schecks auszahlen lassen kann. Beim ersten Mal ist sie nicht so leicht zu finden.» «Und der Imam dieser schwer zu findenden Moschee hat Ihnen aufgetragen, zum berufsvorbereitenden Zweig zu wechseln.» Wieder zögert der Junge; irgendetwas will er beschützen. Dann blickt er mit seinen großen schwarzen Augen, in denen man die Iris schwer von der Pupille unterscheiden kann, Levy kühn ins Gesicht und erklärt: «Er hat gesagt, auf dem Zweig, der aufs College vorbereitet, sei ich verderb‐ lichen Einflüssen ausgesetzt – schlechter Philosophie und schlechter Literatur. Die westliche Kultur ist gottlos.» 50
Jack Levy lehnt sich auf seinem quietschenden, altmo‐ dischen hölzernen Drehsessel zurück und seufzt: «Ach, wäre sie das nur.» Da er jedoch Ärger mit der Schulaufsicht und den Zeitungen befürchtet, sollten sie davon Wind be‐ kommen, dass er das vor einem Schüler gesagt hat, rudert er zurück: «Das ist mir nur so rausgerutscht. Manche von den fundamentalistischen Christen bringen mich auf die Palme, weil sie Darwin dafür verantwortlich machen, dass Gott so nachlässig gearbeitet hat, als er die Welt erschuf.» Der Junge hört jedoch nicht zu, sondern folgt seinem ei‐ genen Gedankengang. «Und weil sie keinen Gott besitzt, ist sie auf Sex und Luxusgüter versessen. Schauen Sie sich doch nur das Fernsehen an, Mr. Levy. Immer setzen sie dort Sex ein, um Ihnen Sachen zu verkaufen, die Sie nicht brauchen. Schauen Sie sich den Geschichtsunterricht an der Schule an – der reine Kolonialismus. Schauen Sie sich an, wie die Christenheit die eingeborenen Amerikaner ausge‐ rottet, dann Asien und Afrika unterdrückt hat und sich jetzt den Islam vornimmt, während in Washington die Juden alle Fäden in der Hand haben, weil sie sich in Palästina halten wollen.» «Wow», macht Jack und fragt sich, ob dem Jungen klar ist, dass er mit einem Juden redet. «Da haben Sie ja wirk‐ lich eine satte Liste von Gründen, aus dem Schulzweig, der aufs College vorbereitet, auszuscheren.» Als Ahmed ob so viel Ungerechtigkeit die Augen aufreißt, fällt Jack auf, dass sie nicht schlicht schwatz sind, sondern dass jede braune Iris einen Hauch von Grün aufweist, eine Prise seines Mul‐ loy‐Erbes. Levy lässt sich von der Feder in der Rücklehne nach vorne wippen, sodass er sich nun vertraulich über den Schreibtisch beugt. «Hat der Imam jemals erwähnt», fragt er Ahmed, «dass sich ein schlauer Junge wie Sie in einer 51
vielfältigen, toleranten Gesellschaft wie dieser mit einer Vielzahl von Ansichten auseinander setzen muss?» «Nein, Sir», sagt Ahmed überraschend brüsk, und sein weicher Mund kräuselt sich trotzig. «Das hat Scheich Ra‐ shid nicht erwähnt. Er ist der Überzeugung, dass ein solcher relativistischer Ansatz die Religion trivialisiert, was hieße, dass sie nicht weiter wichtig ist. Sie glauben dies, ich glaube das, wir kommen alle miteinander aus – das ist der amerika‐ nische Stil.» «Richtig. Und der amerikanische Stil gefällt ihm nicht?» «Er hasst ihn.» Jack Levy, der noch immer vorgebeugt dasitzt, stützt die Ellbogen auf die Tischplatte und das Kinn nachdenklich auf die verschränkten Hände. «Und Sie, Mr. Mulloy? Hassen Sie ihn auch?» Scheu senkt der Junge wieder den Blick. «Ich hasse na‐ türlich nicht alle Amerikaner. Aber der amerikanische Stil ist der von Ungläubigen. Ihm steht ein entsetzliches Ver‐ hängnis bevor.» Er sagt nicht: Amerika will mir meinen Gott wegnehmen. Er beschützt seinen Gott vor diesem müden, ungekämmten, ungläubigen alten Juden und schirmt zugleich seinen Ver‐ dacht ab, dass Scheich Rashid in seinen Lehren darum so zornig absolut ist, weil Gott insgeheim aus dem geflohen ist, was hinter seinen blassen jeminirischen Augen liegt, den ge‐ spenstisch graublauen Augen einer Heidin. In den vaterlo‐ sen Jahren an der Seite seiner unbekümmert glaubenslosen Mutter hat sich Ahmed daran gewöhnt, der einzige Hüter Gottes zu sein, der einzige, für den Gott ein unsichtbarer, aber fühlbarer Begleiter ist. Gott ist stets bei ihm. Wie es in der neunten Sure von ihm heißt: Außer ihm habt ihr weder Freund noch Helfer. 52
Gott ist eine zweite Person, ganz nah bei ihm, ein mit ihm überall, innen wie außen, verbundener siamesischer Zwilling, an den er sich in jedem Moment betend wenden kann. Gott ist sein ganzes Glück. Diese Urbindung möchte der alte jüdische Teufel da, wie listig, welterfahren und vä‐ terlich er sich auch gibt, im Grunde kappen. Er will ihm den Allbarmherzigen und Lebenspendenden nehmen. Jack Levy seufzt erneut und denkt an seinen nächsten Termin – mit einem weiteren bedürftigen, mürrischen, ir‐ regeführten Teenager, der im Begriff ist, in den Morast der Welt einzutauchen. «Nun, ich sollte das vielleicht nicht sagen, Ahmed, aber in Anbetracht Ihrer Noten und Test‐ ergebnisse, Ihrer überdurchschnittlichen Ausgeglichenheit und Ernsthaftigkeit, bin ich der Meinung, dass Ihr – wie lautet das Wort noch – Ihr Imam Ihnen geholfen hat, Ihre High‐School‐Jahre zu vergeuden. Ich wünschte, Sie wären dabei geblieben, sich aufs College vorzubereiten.» Ahmed beeilt sich, Scheich Rashid zu verteidigen. «Sir, es gibt keinerlei Mittel für ein College‐Studium. Meine Mutter bildet sich ein, sie sei Künstlerin; als ich noch in der Vorschule war, hat sie ihre eigene Ausbildung da abgebro‐ chen, wo sie nur Schwesternhelferin werden konnte, statt zwei weitere Jahre in ihre Ausbildung zu investieren.» Levy verstrubbelt sein bereits wirres, schütteres Haar noch mehr. «Okay, klar. Zurzeit herrscht überall Knappheit, zumal die erhöhten Aufwendungen für Sicherheit und für Bushs Kriege den einstigen Überschuss auffressen. Aber seien wir doch realistisch: Es gibt noch immer eine Menge Stipendien für gescheite, verantwortliche junge Leute aus ethnischen Minderheiten. Eines davon hätten wir Ihnen be‐ stimmt verschaffen können. Vielleicht nicht für Princeton, auch nicht für Rutgers, aber auch Colleges wie Bloomfield 53
oder Seton Hall, Fairleigh Dickinson oder Kean können aus‐ gezeichnet sein. Nun, sei dem, wie dem sei, der Zug ist wohl abgefahren. Bedauerlich, dass ich nicht früher über Ihren Fall unterrichtet war. Sorgen Sie dafür, dass Sie Ihr High‐ School‐Diplom bekommen, und denken Sie in einem Jahr oder in zwei noch einmal darüber nach, ob Sie nicht doch aufs College wollen. Wo Sie mich finden können, wissen Sie, und ich würde für Sie tun, was ich nur kann. Wenn ich fragen darf, was hatten Sie nach dem Schulabschluss vor? Wenn Sie keine Job‐Möglichkeiten sehen, denken Sie an die Armee. Die ist zwar heute nicht mehr überall beliebt, bietet aber noch immer eine ganze Menge – bringt Ihnen ein paar technische Dinge bei und hilft Ihnen anschließend, eine Ausbildung zu finanzieren. Wenn Sie ein wenig Ara‐ bisch können, nehmen sie Sie mit Kusshand.» Ahmeds Miene erstarrt. «Die Armee würde mich in den Kampf gegen meine Brüder schicken.» «Oder möglicherweise in den Kampf für Ihre Brüder. Nicht alle Iraker sind Aufständische, wissen Sie. Die meis‐ ten sind es nicht. Sie wollen nur ihr Leben weiterführen. Die Kultur hat dort begonnen. Vor Saddam hatten sie dort ein nettes, viel versprechendes Land.» Voll Groll zieht der Junge die Brauen zusammen, die so buschig und breit sind wie die eines Mannes, wenngleich die Haare feiner wirken. Er steht auf und will gehen, doch Levy ist noch nicht willens, ihn ziehen zu lassen; er hakt nach. «Ich hatte Sie gefragt, ob Sie einen Job in Aussicht haben.» Die Antwort kommt zögernd. «Mein Lehrer meint, ich sollte einen Lastwagen fahren.» «Einen Lastwagen fahren? Was für einen denn? Es gibt solche und solche Lastwagen. Sie sind erst achtzehn; zu‐ 54
fällig weiß ich, dass Sie den Führerschein für einen Sattel‐ schlepper, einen Tankwagen oder sogar für einen Schulbus frühestens in drei Jahren erwerben können. Die Prüfung dafür – für den Gewerbeführerschein – ist schwer. Bevor Sie nicht einundzwanzig sind, dürfen Sie nicht außerhalb des Bundesstaats fahren. Sie dürfen keine gefährlichen Stoffe transportieren.» «Das darf ich nicht?» «Soweit ich mich erinnere, nein. Ich hatte vor Ihnen schon andere junge Männer, die sich dafür interessiert haben; sehr viele sind dann davor zurückgeschreckt, der technischen Seite und der vielen Vorschriften wegen. Sie müssen der Transportgewerkschaft beitreten. Im Lkw‐Gewerbe gibt’s eine Menge harter Burschen.» Ahmed zuckt die Achseln; Levy merkt, dass er den jun‐ gen Mann in seiner Bereitschaft, kooperativ und höflich zu bleiben, überfordert hat. Der Junge hat seine Schalen zu‐ geklappt. Na schön, dann tut Jack Levy es ebenfalls. Er ist schon länger im Geschäft als dieses dünne Bürschchen. Das weniger erfahrene männliche Wesen, hofft Levy, knickt ein und bricht das Schweigen. Ahmed verspürt den Drang, sich vor diesem unglückli‐ chen Juden zu rechtfertigen. Von Mr. Levy geht der Geruch von Unglück aus wie manchmal von Ahmeds Mutter, nach‐ dem ein Freund sie sitzen gelassen hat, wenn det nächste noch nicht in Sicht ist und wenn sie seit Monaten keines ihrer Bilder verkauft hat. «Mein Lehrer kennt Leute, die einen Fahrer brauchen. Da hätte ich auch jemanden, der mir die Tricks beibringt.» Und er setzt hinzu: «Der Lohn ist gut.» «Und die Arbeitszeit lang», sagt der Berater und klappt die Akte dieses Schülers zu, nachdem er auf das dafür vor‐ 55
gesehene Blatt «AF» und «KF» gekritzelt hat, seine Kürzel für «aussichtsloser Fall» und «keine Fortbildung». «Sagen Sie mir noch eins, Mulloy. Ihr Glaube – ist Ihnen doch wich‐ tig?» «Ja.» Der Junge beschützt etwas; Jack wittert es. «Gott – Allah – ist für Sie sehr real.» Langsam, wie in Trance oder als rezitiere er etwas aus‐ wendig Gelerntes, sagt Ahmed: «Er ist in mir und an meiner Seite.» «Gut. Gut. Freut mich zu hören. Weiter so. Ich bin ein wenig mit religiösen Dingen in Berührung gekommen, meine Mutter hat immer die Chanukkakerzen angezündet, aber ich hatte einen Spötter zum Vater, also bin ich seinem Beispiel gefolgt und habe die Religion nicht beibehalten. Zu verlieren hatte ich da eigentlich nichts, weil ich es mir nie wirklich angeeignet hatte. Staub zu Staub – darin ist für mich schon alles enthalten. Tut mir leid.» Der Junge blinzelt und nickt, ein wenig erschrocken über ein solches Geständnis. Seine Augen wirken über dem grcllweißen Hemd wie runde, schwarze Strahlenquellen; sie brennen sich in Levys Gedächtnis ein und tauchen gele‐ gentlich wieder vor ihm auf wie Nachbilder der Sonne beim Sonnenuntergang oder wie der unerwartet schnell kommen‐ de Blitz einer Kamera, wenn man sich gerade artig in Pose setzt, um ganz natürlich zu wirken. Levy lässt nicht locker: «Wie alt waren Sie, als Sie ... als Sie zu Ihrem Glauben gefunden haben?» «Elf Jahre, Sir.» «Komisch – genau in dem Alter habe ich erklärt, ich gebe die Geige auf. Alle waren sie dagegen. Ich habe mich durch‐ gesetzt. Zum Teufel mit ihnen allen.» Der Junge starrt ihn 56
weiter an, verweigert die Gemeinsamkeiten. Levy gibt sich geschlagen. «Okay. Ich möchte über Sie noch ein bisschen nachdenken. Könnte sein, dass ich Sie noch einmal sehen möchte, um Ihnen ein paar wichtige Unterlagen zu geben, bevor Sie Ihren Abschluss haben.» Er steht auf und schüt‐ telt spontan die zerbrechlich wirkende Hand des großen, schlanken Jungen, was er am Ende einer Beratung nicht bei jedem Schüler tut und bei einem Mädchen heutzutage niemals tun würde – die geringste Berührung kann eine Beschwerde nach sich ziehen. Ein paar von diesen heißen kleinen Gören bilden sich schnell etwas ein. Die Hand, die Jack hält, ist bestürzend schlaff und feucht: Also doch noch ein schüchterner Junge, noch kein Mann. «Falls wir uns aber nicht mehr sehen, Ahmed», sagt der Berater abschließend, «wünsche ich Ihnen ein wundervolles Leben.» Am Sonntagmorgen, während die meisten Amerikaner noch im Bett liegen, wenngleich einige auch widerstrebend zur Frühmesse oder zu einer verabredeten Partie Golf vor Tau und Tag aufbrechen, erhöht der Minister für Heimatschutz die so genannte «Terrorbedrohungsstufe» von Gelb, was lediglich «erhöht» bedeutet, auf «Orange», was für «hoch» steht. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass die erhöhte Stufe nur für bestimmte Bereiche von Washington, New York und den Norden von New Jersey gilt; für die übrige Nation bleibt es bei Gelb. Mit seinem kaum noch merklichen pennsylvanischen Akzent erklärt der Vlinister der Nation, jüngste Geheim‐ dienstberichte wiesen in, wie er es formuliert, «beunruhi‐ gend spezifischen und übereinstimmenden Einzelheiten» daraufhin, dass ein Angriff auf sensible Ziele in ebenjenen Ballungszonen der Ostküste geplant sei, die von den «Fein‐ 57
den der Freiheit mit den fortschrittlichsten Observations‐ verfahren ausgekundschaftet worden seien. Finanzzentren, Sportarenen, Brücken, Tunnel, Untergrundbahnen – nichts ist sicher. «Sie sollten damit rechnen», teilt er der Linse der Fernsehkamera mit, die einem blaugrauen Bullauge gleicht, auf dessen anderer Seite sich ein Meer von vertrauensvollen, bangen Bürgern staut, «auf spezielle Pufferzonen zu stoßen, mit denen die Umgebung von Gebäuden gegen nicht zu‐ fahrtsberechtigte Fahrzeuge und Lastwagen gesichert wird; auf Sicherheitskräfte, die mittels Kennmarken und Digital‐ fotos alle Personen registrieren, die in bestimmten Gebäu‐ den ein und aus gehen; auf verstärkte Polizeipräsenz; und auf rigorose Überprüfung von Fahrzeugen, Paketen und Lieferungen.» Genussvoll betont er die Wendung «rigorose Über‐ prüfung». Sie beschwört die Vorstellung von strammen Männern in grünen oder graublauen Overalls herauf, die Fahrzeuge und Pakete zerlegen und mit ihrer Energie dem Minister, den seine schwierige Aufgabe täglich frustriert, Erleichterung verschaffen. Seine Aufgabe ist es, eine wider‐ willige Nation von fast dreihundert Millionen anarchischer Seelen zu beschützen, deren Millionen irrationaler Impulse und zügelloser Akte tagtäglich jeder Überwachung knapp entgehen. Ihre vereinten Unterlassungen und Unbotmäßig‐ keiten bilden eine perfekte, raue Oberfläche, auf welcher der Feind eines seiner zähen, weit verzweigten Komplotte reifen lassen kann. Zu zerstören, hat der Minister schon oft gedacht, ist so viel einfacher, als zu errichten, und Durch‐ einander so viel leichter herbeizuführen als soziale Ord‐ nung, dass die Hüter einer Gesellschaft stets denen hinter‐ herhinken müssen, die diese Gesellschaft zerstören wollen, gerade so wie (er war in seiner Jugend Footballspieler für 58
Lettigh) ein schnellfüßiger Receiver dem verteidigenden Cornerback stets einen Schritt zuvorkommen kann. «Und Gott segne Amerika», schließt er für die Öffentlichkeit. Das rote Licht über dem kleinen Bullauge erlischt. Er ist nicht mehr auf Sendung. Plötzlich schrumpft er im Format; was er nun sagt, wird nur die Hand voll Fernsehtechniker und getreuer Mitarbeiter um ihn herum vernehmen, hier in diesem beengten Medienkomplex, bombensichere dreißig Meter unter den Straßen von Washington, D. C. Andere Po‐ litiker im Kabinettsrang erhalten Amtsgebäude mit so lan‐ gen Marmor‐ und Kalksteinfassaden, dass ein jedes seinen eigenen Horizont besitzt, wohingegen er kümmerlich in einem kleinen fensterlosen Büro im Souterrain des Weißen Hauses amtieren muss. Mit einem herkulischen Seufzen des Missmuts wendet sich der Minister von der Kamera ab. Er ist ein massiger Mann mit Muskelpaketen auf dem Rücken, die den Schneidern seiner dunkelblauen Anzüge zusätzliche Mühe bereiten. Sein mächtiger Kopf lässt den Mund klein und brutal erscheinen. Auch sein Haarschnitt wirkt kleinlich auf diesem Kopf, als hätte man ihm den Hut von jemand anderem aufgedrückt. Sein pennsylvanischer Akzent ist nicht das breite, silbenverschluckende Geknurre eines Lee Iacocca oder das durchdringende Gedröhn eines Arnold Palmer; eine Generation jünger als diese, spricht er ein neutrales, medienfreundliches Englisch, das nur durch seine angespannte Getragenheit und durch bestimmte Vo‐ kalnuancen seine Herkunft aus einem Gemeinwesen verrät, welches für seinen Ernst bekannt ist, für zähes Streben und stoische, kooperative Unterordnung, für Quaker und Kohle fördernde Bergleute, für Amish‐Farmer und gottesfürchtige presbyterianische Stahlmagnaten. «Wie fanden Sie’s?», fragt er eine Mitarbeiterin, eine 59
schlanke, rosaäugige Frau namens Hermione Fogel, eben‐ falls aus Pennsylvania stammend, vierundsechzig, jedoch von jungfräulicher Anmutung. Hermiones durchsichtiger Teint und ihr hektisches, ver‐ legenes Gebaren bringen die instinktive Sehnsucht einer Untergebenen, unsichtbar zu sein, zum Ausdruck. Da sich Zuneigung und Vertrauen des Ministers in plumpem Humor äußern, hat er Hermione aus Harrisburg mitkommen lassen und ihr einen inoffiziellen Titel verliehen: Unterstaatssekre‐ tärin für Damenhandtaschen. Das Problem bestand durch‐ aus: Damenhandtaschen, voll mit abgesunkenen Sehätzen, waren Abgründe der Konfusion, in deren Tiefen sich unzäh‐ lige kompakte Terrorwaffen – Teppichmesser, explodieren‐ de Sarin‐Kapseln, Schusswaffen in Lippenstiftform – ver‐ bergen ließen. Hermione war es, die dazu beigetragen hatte, die Durchsuchungsmethoden für diese kritischen Dunkel‐ zonen zu entwickeln, einschließlich des schlichten Holz‐ stöckchens, mit dem Sicherheitsleute an den Eingängen die Taschentiefen explorieren konnten, ohne durch Stöbern mit bloßen Händen Anstoß zu erregen. Sicherheitsleute sind in der Mehrzahl Angehörige von Minderheiten, und viele Frauen, zumal ältere, schauderte es, wenn schwarze oder braune Hände in ihre Taschen fassten. Der dösende Riese des amerikanischen Rassismus, der jahr‐ zehntelang von offizieller Seite mittels liberalen Singsangs eingelullt worden war, regte sich von neuem, als Afroameri‐ kaner und Latinos, die – so die oft zu hörende Klage – «nicht einmal die Sprache richtig beherrschen», Vollmacht erhiel‐ ten, zu durchsuchen, zu befragen, aufzuhalten, den Zugang zu Flugzeugen und die Erlaubnis zum Abflug zu gewähren oder zu verweigern. In einem Land, in dem sich die Anzahl der Sicherheitstore vervielfachte, nahm auch die Anzahl 60
der Torhüter um ein Vielfaches zu. Den gut bezahlten Of‐ fiziellen, die auf dem Luftweg reisen und die neuerdings zu Festungen gewordenen Regierungsgebäude frequentieren, kam es vor, als hätte eine trübe Unterschicht tyrannische Machtbefugnisse erhalten. Wohlsituierte Menschen, die sich noch ein Jahrzehnt zuvor auf den Routen der Privilegierten unbehelligt bewegt und allenthalben Einlass gefunden hat‐ ten, werden nun bei jedem Schritt, wie es ihnen scheint, an Barrieren aufgehalten, wo aufreizend bedächtige Wachen grübelnd auf Führerscheine und Bordkarten blicken. Wo einst ein selbstsicheres Auftreten, ein korrekter Anzug mit Krawatte und eine Visitenkarte von fünfmal neun Zentime‐ tern als Türöffner genügt hatten, schnappt der Riegel jetzt nicht mehr auf; die Tür bleibt zu. Wie kann der bewegliche, hydraulisch reagierende Kapitalismus, geschweige denn der intellektuelle Austausch und das Beziehungsgeflecht von ausgedehnten Familien, im Dickicht so unbeugsamer Vor‐ sichtsmaßnahmen noch funktionieren? Der Feind hat sein Ziel erreicht: Das Geschäftsleben wie die Erholung sind in der westlichen Welt zu enorm zähflüssigen Angelegenhei‐ ten geworden. «Es ist sehr gut gelaufen, fand ich, wie meistens», antwor‐ tet Hermione Fogel auf eine Frage, die der Minister schon fast vergessen hat. Er ist beschäftigt: Der Konflikt zwischen den Forderungen nach Annehmlichkeiten und Privatsphäre einerseits und Sicherheit andererseits ist sein täglich’ Brot, und doch wird er dafür so gut wie gar nicht mit öffentlicher Bewunderung entlohnt und in finanzieller Hinsicht aus‐ gesprochen bescheiden, obwohl er Kinder hat, die sich dem Alter nähern, in dem eine College‐Ausbildung fällig wird, und eine Frau, die im unermüdlichen gesellschaftlichen Leben des republikanischen Washington mithalten muss. 61
Mit Ausnahme einer alleinstehenden schwarzen Frau, einer vielsprachigen Akademikerin und ausgewiesenen Pianistin, die für die langfristige globale Strategie zuständig ist, ent‐ stammen die Kabinettskollegen des Ministers alle reichen Familien und haben in ihrem achtjährigen Urlaub von öffent‐ lichen Ämtern während der Clinton‐Ära im privaten Sektor zusätzliche Vermögen angehäuft. In jenen fetten Jahren hat sich der Minister über niedrig dotierte Posten in der Regie‐ rung von Pennsylvania nach oben gequält. Nun scheffeln die Clintonianer, einschließlich der Clintons selbst, alle‐ samt ein Schweinegeld mit ihren Enthüllungsmemoiren, während der Minister, loyal und schwerfällig, wie er ist, sich für alle Zeit zu strikter Geheimhaltung verpflichtet sieht. Er weiß nur, was seine Arabisten ihm berichten; die Welt elektronischen Geplappers, die sie überwachen, knisternd durchsetzt mit poetischen Euphemismen und armseliger Prahlerei, ist dem Minister so fremd und zuwider wie jede Unterwelt schlafloser Käuze, selbst solcher kaukasischen Geblüts und christlicher Erziehung. Wenn dann der Him‐ mel sich im Osten spaltet und rot ist wie eine Rose oder ein frisch abgezogenes Fell: Die Einfügung des nichtkoranischen «im Osten» in diese Koran‐Stelle – wenn man sie neben di‐ verse salbadernde «Geständnisse» gefangener Aktivisten hält – mag die Erhöhung der Wachsamkeit rechtfertigen (oder auch nicht), welche Polizei und Armee an der Ostküs‐ te bestimmten Finanzinstitutionen von der spektakulären, in den Himmel ragenden Sorte widmen, die auf die aber‐ gläubische Mentalität des Feindes so anziehend wirkt. Der Feind ist auf heilige Orte versessen und ebenso wie die al‐ ten kommunistischen Erzfeinde davon überzeugt, dass der Kapitalismus eine Zentrale besitzt, ein Haupt, das sich ab‐ schlagen lässt, woraufhin sich Scharen von Gläubigen dank‐ 62
bar in den Pferch einer asketischen, dogmatischen Tyrannei werden scheuchen lassen. Der Feind kann nicht glauben, dass Demokratie und Konsumdrang Fieberkeime sind, die im Blut von jedermann zirkulieren, natürliche Folgen des instinktiven Optimismus und Freiheitsverlangens eines jeden Individuums. Selbst für einen wackeren Kirchgänger wie den Minister sind ein Gottes‐Wille‐geschehe‐Fatalismus und eine todsichere Wette auf die nächste Welt Dinge, die fernen, finsteren Zei‐ ten angehören. Diejenigen, die an solch einer Wette noch immer festhalten, haben einen Vorteil: Sie sind erpicht dar‐ auf zu sterben. Und du wirst sicher finden, heißt es in einem weiteren Vers, der im Internet‐Rauschen immer wieder zu vernehmen ist, über die Ungläubigen, dass sie mehr als die anderen Menschen am Leben hängen. «Sie werden mich dafür verprügeln», vertraut der Mi‐ nister trübsinnig seiner so genannten Unterstaatssekretärin an. «Wenn nichts passiert, bin ich ein Bangemacher. Wenn doch, dann bin ich ein fauler Blutegel, der zugelassen hat, dass Tausende ums Leben kamen.» «Niemand würde so etwas sagen», versichert ihm Her‐ mione, und ihr altjüngferlich fahles Gesicht errötet vor Mit‐ gefühl. «Jeder, selbst die Demokraten, weiß, dass Sie einen unmöglichen Job haben, der aber dennoch getan werden muss, um unseres Überlebens als Nation willen.» «Damit wäre das Wichtigste wohl gesagt», gibt er zu; ver‐ schmitzt zieht er die Lippen ein, sodass sein Mund noch kleiner wirkt. Reibungslos trägt der Aufzug sie, zusammen mit zwei bewaffneten Leibwächtern (einer männlich, einer weiblich) und einem Trio von Assistenten in grauen Anzü‐ gen zur Souterrainebene des Weißen Hauses. Draußen im Sonnenschein – einer Melange aus Virginia‐ und Maryland‐ 63
Strahlen – läuten Kirchenglocken, Laut sinnt der Minister vor sich hin. «Diese Leute dort draußen ... Warum wollen sie nur so entsetzliche Dinge tun? Warum hassen sie uns? Was gibt es da nur zu hassen?» «Sie hassen das Licht», erklärt ihm Hermione loyal. «Wie Kakerlaken. Wie Fledermäuse. Und das Licht leuchtet in der Finsternis», zitiert sie, wohlwissend, dass sein Herz für penn‐ sylvanische Frömmigkeit zugänglich ist, «und die Finsternis hat es nicht erfasst.» 64
II Die rußfleckige Eisensteinkirche neben dem See von Schutt ist voll von pastellfarbenen Baumwollkleidern und schulterbetonten Polyesteranzügen. Ahmeds überreizte Au‐ gen finden keine Linderung in den bunten Fenstern, auf de‐ nen Männer in skurrilen, orientalisch gemeinten Trachten Szenen aus dem kurzen, ruhmlosen Leben des vorgeblichen Herm der Christen nachstellen. Einen Gott zu verehren, der bekanntermaßen gestorben ist – schon diese Idee mutet Ah‐ med an wie ein unerklärlicher Gestank, der von einem ver‐ stopften Rohr oder einem toten Tier in der Wand herrühren mag. Und doch sonnen sich die Gemeindemitglieder – von denen einige sogar hellhäutiger sind als er selbst in seinem gestärkten weißen Hemd – im frisch geschrubbten Glück ihrer sonntagmorgendlichen Zusammenkunft. Die vielen Bankreihen, in denen Menschen beiderlei Geschlechts gemischt nebeneinander sitzen, und der bühnenartige, unübersichtliche Bereich vorn mit seinem gedrechselten, fest eingebauten Mobiliar und dem hohen, schmutzigen dreiflügeligen Fenster mit der Darstellung einer Taube, die auf dem Haupt eines langbärtigen Mannes landet, das auf‐ gekratzte Begrüßungsgemurmel und das Knarzen des höl‐ 65
zernen Kirchengestühls unter schweren Hinterteilen, die ihr Gewicht verlagern, all dies gemahnt Ahmed eher an einen Kinosaal vor Beginn der Vorstellung als an eine heilige Mo‐ schee mit ihren dicken, dämpfenden Teppichen, dem lee‐ ren, gekachelten mihrab und den fließenden Lā‐ilāha‐illā‐ Allah‐Gesängen aus den Mündern von Männern, die nach ihrer Freitagsplackerei riechen und die ihre rhythmischen Verneigungen gemeinsam und so eng aneinandergekauert vollziehen, dass sie den Segmenten einer Raupe gleichen. Die Moschee ist ein Reich der Männer; hier in der Kirche dominieren in ihrem Frühlingsglanz und mit ihren weichen, ausladenden Körpern die Frauen. Er hatte gehofft, dass er hinten in die Kirche schlüpfen könne, wenn er genau beim 10.00‐Uhr‐Läuten käme, wird jedoch nachdrücklich begrüßt von einem rundlichen Skla‐ ven‐Nachfahren im pfirsichfarbenen Anzug mit breitem Revers, auf dessen einem ein kleiner Maiglöckchenstrauß prangt. Der Schwarze händigt Ahmed ein gefaltetes farbi‐ ges Blatt aus und geleitet ihn den Mittelgang hinauf zu den Bankreihen ganz vorn. Die Kirche ist fast voll besetzt, und nur die vordersten, anscheinend weniger begehrten Reihen sind leer. Gewohnt an Andächtige, die auf dem Boden kau‐ ern und knien, wodurch sie betonen, wie hoch über ihnen Gott steht, kommt sich Ahmed selbst im Sitzen schwin‐ delerregend, ja ketzerisch groß vor. Die christliche Sitte, träge aufrecht dazusitzen wie bei einer UnterhaltungsVer‐ anstaltung, deutet darauf hin, dass Gott als Unterhaltungs‐ künstler gilt, der von der Bühne entfernt und durch eine andere Nummer ersetzt werden kann, wenn er nicht mehr unterhält. Ahmed nimmt an, er werde die Kirchenbank für sich allein haben, zum Trost dafür, dass er sich hier so fremd 66
und unbehaglich fühlt, doch ein anderer Platzanweiser ge‐ leitet über den langen Teppich des Mittelgangs eine große schwarze Familie, in der kleine Mädchenköpfe mit kunst‐ vollen, schleifchengeschmückten Flechtfrisuren auf und nieder hopsen. Ahmed wird ans äußere Ende der Bank ge‐ drängt, und um sich für die Vertreibung zu entschuldigen, streckt der Patriarch des Clans den Arm über die Schöße mehrerer kleiner Töchter hinweg und reicht Ahmed seine breite braune Hand mit einem willkommen heißenden Lächeln, in dem ein Goldzahn funkelt. Die Mutter der Sippe sitzt zu weit entfernt, um den Fremden zu erreichen, schließt sich ihrem Gatten jedoch mit einem Winken und einem Nicken an. Die kleinen Mädchen schauen auf und bieten ihre Augen als weiße Halbmonde dar. All diese heid‐ nische Freundlichkeit – Ahmed weiß weder, wie er sie ab‐ wehren soll, noch, welche weiteren Übergriffe ihm während der Zeremonie bevorstehen. Schon jetzt hasst er Joryleen dafür, dass sie ihn in eine so klebrige Falle gelockt hat. Wie um nicht angesteckt zu werden, hält er den Atem an und starrt geradeaus, wo die sonderbaren Schnitzereien an dem, was er für die christliche Entsprechung des minbar hält, sich allmählich als geflügelte Engel herausstellen; den einen, der ein langes Blasinstrument spielt, identifiziert Ahmed als Ga‐ briel, und die Massenszene somit als ebenjenes Jüngste Ge‐ richt, das Mohammed zu seinen ekstatischsten poetischen Höhenflügen bewegt hat. Welch ein Irrweg, denkt Ahmed, das unnachahmliche Werk des Schöpfergottes, Al‐Khaliq, in Holz abbilden zu wollen, das schon durch seine Maserung die Täuschung zur Schau stellt. Einzig die Bildlichkeit des Wortes ergreift, wie der Prophet wusste, die Seele in ih‐ rem spirituellen Kern. Gesetzt den Fall, die Menschen und die Dschinn tun sich zusammen, um etwas beizubringen, was diesem 67
Koran gleich ist, so werden sie das nicht können. Auch nicht, wenn sie sich gegenseitig dabei hülfen. Endlich beginnt die Zeremonie. Erwartungsvolle Stille tritt ein, und dann setzt machtvoll ein pulsierendes Tosen ein, dessen spielzeugartiges Timbre Ahmed von Schulver‐ sammlungen her als das einer elektrischen Orgel erkennt, eines armen Verwandten der richtigen Orgel, deren Pfeifen wie er sieht, hinter dem christlichen minbar verstauben. Alle erheben sich, um zu singen. Als wäre Ahmed an die anderen gekettet, wird er auf die Füße gezogen. Eine blau gewandete Schar, ein Chor, flutet den Mittelgang hinauf und füllt die Fläche hinter einem niedrigen Gitter, über das die Gemeinde sich anscheinend nicht hinauswagt. In dem gesungenen, vom Rhythmus und dem schleppenden Akzent dieser afrikanischen zanj verzerrten Text geht es, soweit Ahmed ihn versteht, um einen Berg in weiter Ferne und um ein altes Bitternis bringendes Kreuz. Aus seiner ent‐ schlossenen Stummheit erspäht er Joryleen in dem Chor, den überwiegend Frauen bilden, wuchtige Frauen, neben denen Joryleen mädchenhaft jung und relativ schmal wirkt. Sie ihrerseits entdeckt Ahmed auf seiner Bank ganz vorne in der Kirche; ihr Lächeln enttäuscht ihn, denn es ist zag‐ haft, flüchtig, nervös. Auch sie weiß, dass er nicht hier sein sollte. Hoch, hinunter – alle in seiner Reihe außer ihm und dem kleinsten Mädchen knien nieder und setzen sich dann wieder. Eine Gruppe rezitiert etwas, die andere antwortet darauf – Ahmed kann dem nicht folgen, obwohl der Vater mit dem Goldzahn ihm vorn im Gesangbuch die Seite zeigt. Wir glauben dieses und jenes, dem Herm sei Dank für dies und das. Dann folgt ein langes Gebet des christlichen Imam, eines kaffeefärbenen Mannes mit schmalem Gesicht, rand‐ 68
loser Brille und einem blanken, länglichen Kahlkopf. Seine heisere Stimme wird elektrisch verstärkt, sodass sie nicht nur von vorn, sondern auch von der Rückwand der Kirche her dröhnt. Während sich der Prediger, die Augen hinter den Brillengläsern fest geschlossen, tiefer in das Dunkel versenkt, das vor seinem geistigen Auge herrscht, werden hier und da in der Gemeinde zustimmende Rufe laut: «Wie wahr!» – «Sagen Sie’s laut, Reverend!» – «Gelobt sei der Herr!» Gleich einem Schweißfilm auf der Haut bildet sich als Grundton ein beipflichtendes Gemurmel heraus, zumal nach dem zweiten Gesang, in dem es um die Freude geht, Jesus auf seinem Weg zu begleiten; nun nämlich steigt der Prediger auf den hohen minbar hinauf, den geschnitzte Engel zieren. Indem er sich mit dem Mund der Reichwei‐ te des Verstärkersystems bald nähert, bald entzieht, sodass seine Stimme an‐ und abschwillt wie die eines Mannes im höchsten Mast eines vom Sturm gebeutelten Schiffs, be‐ richtet er in zunehmend wogenden Tönen von Moses, der das erwählte Volk aus der Sklaverei hinausgeführt hat und dem doch selbst der Zugang zum Gelobten Land versagt blieb. «Warum geschah das?», fragt er. «Moses hatte dem Herm als Sprecher gedient, in Ägypten wie auch anderswo. Als Sprecher: Unser Präsident unten in Washington hat einen Sprecher, unsere Firmenchefs in ihren stolzen Büros in Manhattan und Houston, auch sie haben ihre Sprecher, in einigen Fällen ihre Sprecherinnen, was wir natürlich nicht unterschlagen wollen, nicht wahr, meine Brüder? Beim Barmherzigen, und wie sich unsere geliebten Schwestern aufs Sprechen verstehen! Gott hat Eva nicht die Kraft un‐ serer Arme und Schultern geschenkt, doch ihrer Zunge hat er doppelte Macht verliehen. Ich höre da jemanden lachen, 69
aber das ist kein Scherz, sondern schlicht Evolution, und dar‐ in wollen sie unsere unschuldigen Kinder ja an allen öffent‐ lichen Schulen unterrichten. Aber im Ernst: Niemand traut sich mehr, für sich selbst zu sprechen. Zu riskant. Zu viele Anwälte, die einen beobachten und notieren, was man sagt. Also, wenn ich eine Sprecherin hätte, hier und jetzt, dann säße ich zu Hause, sähe mir im Fernsehen eine Talkshow mit Mr. William Moyers oder Mr. Theodore Koppel an und würde mir noch eine zweite oder dritte Scheibe von dem köstlichen siruptriefenden French Toast zu Gemüte führen, den mir meine liebe Tilly morgens manchmal auftischt, wenn sie sich ein neues Kleid gekauft hat, ein neues Kleid oder eine schicke Alligatortasche, und deswegen ganz zarte Gewissensbisse verspürt.« Während die Heiterkeit, die diese lange Abschweifung ausgelöst hat, noch anhält, fährt der Prediger fort: «Dann würde ich meine Stimme schonen. Dann müsste ich mich nicht laut vor euer aller Ohren fragen, warum Gott Moses daran gehindert hat, das Gelobte Land zu betreten. Wenn ich nur einen Sprecher oder eine Sprecherin hätte.» Auf Ahmed wirkt es, als würde der Prediger auf einmal, inmitten dieser erwartungsvollen, aufgeheizten Menge dunkelhäutiger Heiden vor sich hin grübeln und hätte ver‐ gessen, warum er hier ist – warum sie alle hier sind, während aus Autos, die draußen auf der Straße vorübersausen, höh‐ nisch laute Radiomusik zu vernehmen ist. Doch der Mann erwacht – er reißt die Augen hinter den Gläsern auf, schlägt mit der flachen Hand auf die dicke Goldschnittbibel, die auf dem Pult des minibar ruht, und sagt: «Der Grund ist der: Gott nennt ihn im Buch Deuteronomium, Kapitel zweiunddrei‐ ßig, Vers einundfünfzig: ‹Denn ihr seid mir untreu gewesen inmitten der Israeliten beim Haderwasser von Kadesch in 70
der Wüste Zin und habt mich inmitten der Israeliten nicht als den Heiligen geehrt.›» Der Prediger in seinem weitärmeligen blauen Gewand, aus dem am Hals ein Hemdkragen und eine rote Krawatte hervorlugen, lässt mit vor Staunen geweiteten Augen den Blick über die Gemeinde schweifen und konzentriert sich, so kommt es Ahmed vor, besonders auf ihn, vielleicht, weil sein Gesicht hier neu ist. «Was bedeutet das?», fragt der Prediger. «‹Mir untreu gewesen›? ‹Nicht als den Heiligen geehrt›? Was hatten die armen, leidgeprüften Israeliten an der Oase Kadesch in der Wüste Zin nur falsch gemacht? Wer es weiß, hebe die Hand.» Niemand tut es, auf diese Frage war man nicht gefasst, und der Prediger stürmt weiter, schlägt in seiner großen Bibel einen Stoß goldgeränderter Seiten um und gelangt zu einer Stelle, die er markiert hat. «Alles ist hierin enthalten, meine Freunde. Alles, was ihr wissen müsst, findet sich prompt hier. Das Große Buch be‐ richtet, dass von dem Volk, das Moses weit aus Ägypten hinausführte, Kundschafter ausgesandt wurden, die in die Wüste Negev und nach Norden zum Jordan zogen, und als sie zurückkamen, erzählten sie, das Land, das sie erkundet hatten, sei, wie es im dreizehnten Kapitel des Buches Nu‐ meri heißt, ‹wirklich ein Land, in dem Milch und Honig fließen›, doch ‹das Volk, das im Land wohnt, ist stark, und die Städte sind befestigt und sehr groß›, und obendrein – obendrein! – leben dort ‹die Söhne des Anak›, und das sind Riesen, neben denen sie selbst sich klein wie Grashüpfer vorkamen, ‹und auch ihnen erschienen wir so›. Sie wussten es, und wir, Brüder und Schwestern, haben es gewusst – ne‐ ben ihnen waren wir nur kleine Grashüpfer, Grashüpfer, die ein paar kurze Tage zwischen den Halmen leben, auf einer Wiese, bevor sie gemäht wird, in der Umgebung eines Base‐ 71
ballfelds, in die nie jemand den Ball schlägt; und dann sind sie verschwunden, denn ihre Exoskelette, die so raffiniert gebaut sind wie alles, was unser gütiger Herr erschaffen hat, sind rasch im Schnabel einer Krähe oder Schwalbe, einer Möwe oder eines Kuhstarlings zermalmt.» Nun flattern die blauen Ärmel des Predigers, Speichel‐ tröpfchen aus seinem Mund funkeln im Schein der Lese‐ pultleuchte, der Chor unter ihm wogt, und Joryleen wogt mit. «Und Kaleb sagt: ‹Wir können trotzdem hinaufziehen und das Land in Besitz nehmen› – Riesen hin oder her, wir können sie besiegen. Los, packen wir’s an!» Und in einem vibrierenden Ton, der viele Stimmen in sich vereint, liest der hochgewachsene, kaffeefarbene Mann rasch vor: «‹Da erhob die ganze Gemeinde ein lautes Geschrei, und das Volk weinte die ganze Nacht. Alle Israeliten murrten über Moses und Aaron, und die ganze Gemeinde sagte zu ihnen: Wären wir doch in Ägypten oder wenigstens hier in der Wüste gestorben!›» Ernst schaut er auf die Gemeinde, die Gläser vor seinen Augen werden zu reinen, blinden Kreisen aus Licht, und er wiederholt: «‹Wären wir doch in Ägypten gestorben!› Warum also hat Gott uns aus der Sklaverei in diese Wüs‐ te gebracht?» Er zieht sein Buch zurate. «‹Etwa damit wir durch das Schwert umkommen und unsere Frauen und Kinder eine Beute der Feinde werden?› Eine Beute? Das wird ernst. Da machen wir uns besser schleunigst auf die So‐ cken und kehren um.» Er sieht in das Buch und liest einen Vers laut vor: «‹Und sie sagten zueinander: Wir wollen einen neuen Anführer wählen und nach Ägypten zurückkehren^ So schlecht war der Pharao dort gar nicht. Unter ihm hatten wir zu essen, wenn auch nicht viel. Er hat uns Hütten zum Schlafen gegeben, unten an den Sümpfen, wo die Moskitos 72
nisten. Halbwegs regelmäßig hat er uns Sozialhilfeschecks geschickt. Er hat uns Jobs gegeben, Fritten‐Austeilen bei McDonald’s, zum Mindestlohn. Freundlich war er, der Pharao, verglichen mit den Riesen dort, den hünenhaften Söhnen des Anak.» Er richtet sich straff auf und lässt das Rollenspiel vor‐ läufig sein. «Und was haben Moses und sein Bruder Aaron gegen all dieses Gerede unternommen? Hier – in Numeri vierzehn, Vers fünf, heißt es: ‹Da warfen sich Moses und Aa‐ ron vor der ganzen Gemeindeversammlung der Israeliten auf ihr Gesicht nieder.› Aufgegeben haben sie. Zu dem Volk – dem Volk, das sie doch im Auftrag des Allmächti‐ gen führen sollten – haben sie gesagt: ‹Vielleicht habt ihr ja Recht. Wir haben’s satt. Wir waren seit dem Auszug aus Ägypten zu lange auf den Beinen. Die Wüste macht einen einfach fertig.› Und Josua – ihr wisst doch, das war der Sohn Nuns, aus dem Stamm Ephraim, und mit Kaleb einer von den zwölf Kundschaftern –, Josua stand auf und sagte: ‹Moment mal. Moment mal, Brüder. Die Kanaaniter dort haben richtig gutes Land. Fürchtet euch doch nicht vor diesen Kanaa‐ nitern, denn› – und jetzt zitiere ich – ‹sie werden unsere Beute. Ihr schützender Schatten ist von ihnen gewichen, denn der Herr ist mit uns. Habt keine Angst vor ihnen!›» Langsam und feierlich wiederholt der Prediger: «‹Der Herr ist mit uns. Habt keine Angst vor ihnen.› Und wie haben diese kümmerlichen Israeliten reagiert, als die beiden tap‐ feren Krieger aufstanden und sagten: ‹Los, brechen wir auf. Habt vor den Kanaanitern keine Angst›? Sie haben gesagt: ‹Steinigt sie. Steinigt diese großmäuligen Halunken.› Und sie lasen Steine auf – in der öden Wildnis liegen mächtig scharfe, gefährliche Brocken herum – und wollten Kaleb 73
und Josua damit schon Schädel und Kiefer zertrümmern, als etwas Erstaunliches geschah. Lasst mich euch vorlesen, was sich da ereignet hat: ‹Da erschien die Herrlichkeit des Herm am Offenbarungszelt allen Israeliten, und der Herr sprach zu Moses: ‹Wie lange verachtet mich dieses Volk noch, wie lange noch wollen sie nicht an mich glauben trotz all der Zeichen, die ich mitten unter ihnen vollbracht habe?› Manna vom Himmel war ein Zeichen gewesen. Wasser aus dem Felsen von Horeb war ein anderes Zeichen gewesen. Die Stimme aus dem brennenden Dornbusch war ein ein‐ deutiges Zeichen gewesen. Die Wolkensäulen bei Tag und die Feuersäulen bei Nacht waren weitere Zeichen gewesen. Zeichen über Zeichen, rund um die Uhr, nonstop, wie man heute sagt. Und doch fehlte den Leuten der Glaube. Sie wollten zu‐ rück nach Ägypten und zu dem guten Pharao. Sie zogen den Teufel, den sie kannten, dem Gott vor, den sie nicht kann‐ ten. Das Goldene Kalb reizte sie noch immer. Es machte ihnen nichts aus, wieder zu Sklaven zu werden. Sie wollten ihre Bürgerrechte aufgeben. Sie wollten ihre Sorgen ver‐ gessen, indem sie Drogen nahmen und sich Samstagabends unzüchtig aufführten. Der gütige Herr sagt: ‹Ich kann dieses Volk nicht ertragen.‹ Diesen Stamm Israel. Und wie neben‐ bei fragt er Moses und Aaron: ‹Wie lange soll das mit dieser bösen Gemeinde so weitergehen, die immer über mich murrt?› Er wartet die Antwort nicht ab; er erteilt sie selbst. Er erschlägt sämtliche Kundschafter, außer Kaleb und Josua. Allen übrigen, der gesamten bösen Gemeinde verkündet er: ‹Hier in der Wüste sollen eure Leichen liegen bleiben.› Er verurteilt sie, alle, die zwanzig Jahre alt oder älter sind, zu vierzig Jahren in der Wüste: ‹Eure Söhne müssen vierzig Jahre lang ihr Vieh in der Wüste weiden lassen; sie haben 74
so lange unter eurer Untreue zu leiden, bis ihr alle tot in der Wüste liegt.› Stellt euch das vor: vierzig Jahre, ohne Strafverkürzung bei guter Führung.» Er wiederholt: «Ohne Strafverkürzung bei guter Führung, denn ihr wart eine böse Gemeinde.» Eine männliche Stimme aus der Gemeinde ruft: «Recht so, Reverend! Böse!» «Keine Strafverkürzung, denn», fährt der christliche Imam fort, «euch hat der Glaube gefehlt. Der Glaube an die Macht Gottes des Allmächtigen. Das war eure Schuld – hört es euch genau an, dieses wunderbare alte Wort: ‹Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.› Moses ver‐ sucht, Gott zu erweichen; das Sprachrohr fleht seinen Auf‐ traggeber an – ‹Verzeih also diesem Volk seine Sünde nach deiner großen Huld›, heißt es hier im Buch, ‹wie du diesem Volk auch schon bisher vergeben hast, von Ägypten bis hier‐ her.» – ‹Kommt gar nicht infrage›, gibt der Herr zurück. ‹Ich bin das ewige Verzeihen leid, das von mir erwartet wird. Zur Abwechslung will ich mal ein bisschen Herrlichkeit erleben. Ich will eure Leichen in der Wüste sehen.›» Ein wenig müde lässt sich der Prediger auf der Kanzel hängen und stützt die Ellbogen ungezwungen auf das dicke Buch mit dem Goldschnitt. «Meine Freunde», sagt er ver‐ traulich, «jetzt seht ihr, worauf Moses hinauswollte. Was war denn daran schon so furchtbar, so –», er deutet ein Lächeln an, «schuldhaft, sich in Feindesland zu begeben, die Lage zu erkunden, heimzukehren und einen ehrlichen, vorsichtigen Bericht abzugeben? ‹Es sieht nicht gut aus. Diese Kanaa‐ niter und Riesen haben ihre Milch und ihren Honig unter Verschluss. Wir halten uns da besser raus.› Klingt doch nur vernünftig, oder? ‹Kommt dem Mann nicht in die Quere. 75
Ihm gehören die Aktien und die Anleihen, er kann die Peit‐ sche schwingen und mit den Ketten rasseln, er verfügt über die Pro‐duk‐tiooons‐mittel.›» Mehrere Zurufe ertönen. «Richtig so. Vernünftig. Kommt dem bloß nicht quer.» «Und um seinen Standpunkt zu unterstreichen, schick‐ te der Herr Plagen und Seuchen, und die Leute trauerten und beschlossen zu spät, in die Berge hinaufzuziehen und den Kanaanitern, die ihnen jetzt nicht mehr gar so furcht‐ erregend vorkamen, entgegenzutreten, und Moses, das gute alte Sprachrohr, der schlaue Anwalt, riet ihnen: ‹Zieht nicht hinauf, denn der Herr ist nicht bei euch; ihr werdet von eu‐ ren Feinden nur geschlagen werden.› Aber die verbohrten Israeliten zogen doch hinauf, und was lesen wir da im letz‐ ten Vers von Numeri vierzehn? ‹Da kamen die Amalekiter und die Kanaaniter, die dort im Gebirge wohnten, herunter und schlugen die Israeliten und zersprengten sie bis nach Horma.› – ‹Bis nach Horma›: Das ist weit. Bis nach Horma ist es sehr, sehr weit. Ihr seht, meine Freunde, der Herr war doch bei ihnen. Er gab ihnen die Chance, mit ihm in seiner ganzen Herrlich‐ keit voranzuschreiten, und was taten sie? Sie zögerten. Sie übten Verrat an ihm mit ihrem Zögern – mit ihrer Vorsicht, ihrer Feigheit –, und Moses und Aaron verrieten ihn, indem sie sich beeinflussen ließen, gerade so wie die Politiker, wenn sie die neusten Umfrageergebnisse erfahren – denn Meinungsforscher und Sprecher gab es auch damals schon, in der biblischen Zeit –, und dafür wurden sie, Moses und Aaron, daran gehindert, ins Gelobte Land zu ziehen, und mussten von dem Berg, auf dem sie standen, in das Land Kanaan hinüberschauen wie Kinder, die sich das Gesicht am Schaufenster des Bonbonladens platt drücken. Hinüber 76
durften sie nicht. Sie waren unrein. Sie hatten versagt. Sie hatten es dem Herm nicht ermöglicht, durch sie zu handeln. Sie waren menschlich und hatten gute Absichten, aber nicht genügend Vertrauen in Gott. Gott ist vertrauenswürdig. Wenn er sagt, er wird das Unmögliche bewirken, dann tut er es auch – und man erklärt ihm nicht, dass er nicht dazu imstande ist.» Ahmed merkt, dass er langsam ebenso erregt ist wie die übrigen Versammelten, die sich auf ihren Plätzen regen und vor sich hin murmeln, um sich von der Anstrengung zu erholen, die es kostet, jeder Wendung der Predigt zu fol‐ gen; selbst die kleinen Mädchen mit den vielen Zöpfchen auf der Bank neben ihm bewegen die Köpfe vor und zu‐ rück, wie um eine Verspannung im Nacken zu lösen, und eines von ihnen schaut zu Ahmed auf wie ein verschreckter Hund, der sich fragt, ob es wohl Sinn hat, dieses mensch‐ liche Wesen anzubetteln. Die Augen der Kleinen leuchten, als spiegele sich in ihnen ein Juwel wider, das sie in Ahmed entdeckt hat. «Gottvertrauen!», verkündet der Prediger mit rauer Rhe‐ torenstimme, griesig wie Kaffee mit zu viel Zucker darin. «Was ihnen fehlte, war Gottvertrauen. Darum waren sie eine böse Gemeinde. Darum wurden die Israeliten von Seuchen heimgesucht, von Schande und Niederlagen in der Schlacht. Abraham, der Vater des Stammes, hatte Gottvertrauen, als er das Messer hob, um Isaak zu opfern. Jona im Bauch des Wals hatte Vertrauen. Daniel in der Löwengrube hatte Gottver‐ trauen. Jesus am Kreuz hatte Gottvertrauen – er fragte den Herm, warum er ihn verlassen habe, doch mit dem nächsten Atemzug wandte er sich dem Dieb an dem Kreuz neben ihm zu und sagte zu dem Mann, zu einem Übeltäter: ‹Heu‐ te noch wirst du mit mir im Paradiese sein.› Martin Luther 77
King hatte Gottvertrauen, auf der Mall in Washington und in dem Hotel in Memphis, wo James Earl Ray ihn zum Märty‐ rer machte – er war dorthin gekommen, um die streikenden Müllarbeiter zu unterstützen, die Leute, die ganz unten ste‐ hen, die Unberührbaren, die unseren Abfall wegschleppen. Rosa Parks, in jenem Bus in Montgomery, Alabama – sie hatte Gottvertrauen.» Der Körper des Predigers lehnt sich vor, er wird größer, und seine Stimme wechselt die Tonfarbe – ihm ist ein neuer Gedanke gekommen. «Sie hat sich auf einen Platz vorne im Bus gesetzt», sagt er im Plauderton. «Genau das haben die Israeliten nicht getan. Sie hatten Angst, vorn im Bus Platz zu nehmen. Der Herr sagte zu ihnen: ‹Dort ist es, gleich hinter dem Fahrer, das Land Kanaan voller Milch und Honig, das ist euer Platz›, und sie sagten: ‹Nein, danke, Herr, es gefällt uns hinten im Bus. Da lassen wir ein biss‐ chen die Würfel rollen, reichen unsere Flasche Four Roses herum, da haben wir unser Crack‐Pfeifchen, unsere Heroin‐ nadel, unsere minderjährigen cracksüchtigen Freundinnen, die uns unsere unehelichen Kinder gebären, die wir dann im Schuhkarton bei der Abfallbeseitigungs‐ und Wieder‐ aufbereitungsanlage am Stadtrand abladen können – schick uns bloß nicht den Berg hinauf, Herr. Gegen die Riesen da kommen wir nicht an. Gegen Bull Connor und seine Polizei‐ hunde kommen wir nicht an. Wir bleiben hinten im Bus, wo’s duster und gemütlich ist.›» Nun legt der Prediger die Maske ab und spricht wieder mit seiner eigenen Stimme: «Brüder und Schwestern, seid nicht wie sie. Sagt mir, was ihr braucht.» «Vertrauen», kommt es, unsicher noch, aus ein paar Mün‐ dern. «Lasst mich das nochmal hören, lauter. Was brauchen wir alle?» 78
«Vertrauen», ertönt es zur Antwort, geschlossener nun. Selbst Ahmed spricht das Wort, doch so, dass es keiner hö‐ ren kann, außer dem kleinen Mädchen neben ihm. «Schon besser, aber nicht laut genug. Was haben wir, Brü‐ der und Schwestern?» «Vertrauen!» «Vertrauen in was? Lasst es mich so hören, dass die Ka‐ naaniter in ihren großen Ziegenlederstiefeln erzittern!» «Vertrauen in Gott!» «Ja, o ja», setzen einzelne Stimmen hinzu. Hier und da schluchzt eine Frau. Die Wangen der noch jungen, hübschen Mutter in Ahmeds Reihe schimmern, bemerkt er. Noch ist der Prediger mit ihnen nicht ganz fertig. «In wessen Herm?», fragt er und antwortet sich selbst, fast jun‐ genhaft erregt. «In den Herm Abrahams.» Er holt Luft. «In den Herm Josuas.» Er holt erneut tief Luft. «In den Herm von König David.» «In den Herm Jesu», fügt eine Stimme aus dem Hinter‐ grund der alten Kirche hinzu. «In den Herm Marias», ruft eine weibliche Stimme. «In den Herm Batsebas», steuert kühn eine andere bei. «In den Herm Zipporas», meldet sich eine dritte. Der Prediger befindet, dass es an der Zeit ist, zum Schluss zu kommen. «In den Herm von uns allen», dröhnt er, dem Mikrophon so nah wie ein Rockstar. Mit einem weißen Taschentuch wischt er sich den Glanz von seinem hohen kahlen Kopf. Er ist von Schweiß benetzt. Sein gestärkter Kragen hat sich gewellt. Auf seine Heidenart hat er mit Teu‐ feln gerungen, sogar mit Ahmeds Teufeln. «In den Herm von uns allen», wiederholt er mit Grabesstimme. «Amen.» «Amen», sagen viele, erleichtert und ernüchtert. Stille tritt ein, und dann sind gedämpfte, geschäftige Schritte zu 79
vernehmen. Vier Männer im Anzug schreiten, je zwei ne‐ beneinander, den Mittelgang hinauf, um Holzschalen ent‐ gegenzunehmen, während sich der Chor unter mächtigem Geraschel erhebt und sich anschickt zu singen. Ein kleiner Mann im langen Gewand, der zum Ausgleich für seine Kleinwüchsigkeit sein krauses Haar zu einem hohen Helm hat wachsen lassen, hebt zum Zeichen der Bereitschaft die Arme, während die feierlichen Männer in pastellfarbenen Polyesteranzügen mit den Schalen, die ihnen der Prediger übergeben hat, ausschwärmen, zwei den Mittelgang hinab und zwei zu den Seitengängen. Sie erwarten, dass man ih‐ nen Geld in die Schalen wirft, die mit rotem Filz ausgelegt sind, um das Klirren der Münzen zu dämpfen. Das in der Predigt unerwartete Wort unrein kommt Ahmed wieder in den Sinn; innerlich bebt er angesichts seines unreinen Ein‐ dringens in fremdes Terrain, bei dem er Zeuge davon wird, wie diese schwarzen Ungläubigen hier ihren Ungott ver‐ ehren, ihren dreiköpfigen Götzen; es ist, wie Leute beim Sex zu beobachten, wie die rosigen Szenen, auf die sein Blick manchmal in der Schule gefallen ist, wenn er Jungen, die ihren Computer zweckentfremdeten, über die Schulter sah. Abraham, Noah: Diese Namen sind Ahmed nicht völlig fremd. In der dritten Sure hat der Prophet versichert: Wir glauben an Gott und an das, was auf uns, und was auf Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und die Stämme Israels herabgesandt worden ist, und was Moses, Jesus und die Propheten von ihrem Herm er‐ halten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen einen Unterschied machen. Die Leute, die Ahmed hier umgeben, sind auf ihre Wei‐ se ebenfalls Leute der Schrift. Ihr Leute der Schrift! Warum glaubt ihr nicht an die Zeichen Gottes? Ihr Leute der Schrift! Wes‐ 80
halb haltet ihr Leute, die gläubig sind, vom Weg Gottes ab, indem ihr wünscht, dass er krumm sei, wo ihr doch Zeugen der göttlichen Wahrheit seid? Die elektrische Orgel – gespielt von einem Mann, in dessen Nacken sich faltige Wülste stauen, als wollten sie ein weiteres Gesicht bilden – lässt erst ein paar Töne dahin‐ tröpfeln, dann bringt sie einen ganzen Schwall hervor, wie einen Guss eisigen Wassers. Der Chor, mit Joryleen in der vordersten Reihe, beginnt zu singen. Ahmed hat nur Augen für sie – wie weit sie den Mund auftut, wie rosig die Zunge darin ist hinter ihren kleinen runden Zähnen, die halb ver‐ grabenen Perlen gleichen. «Welch einen Freund wir doch in Jesus haben», lauten, wenn Ahmed recht versteht, die ers‐ ten Worte, so schleppend intoniert, als müsse die Bürde des Liedes aus einem Keller des Leids hervorgezerrt werden. «Nimmt auf sich all unsere Sünden, unsern Gram!» Die Gemeinde hinter Ahmed begrüßt die Worte mit gejuchzten und gegrunzten Lauten des Einverständnisses: Man kennt dieses Lied, man liebt es. Vom Seitengang aus lässt ein feierlicher, auffällig großer Mann im zitronengelben Anzug die Kollektenschale, die in seiner knubbligen Pranke klein wie ein Untertasse wirkt, durch die Reihe wandern, in der Ahmed sitzt. Rasch reicht Ahmed sie weiter, ohne etwas hineinzutun; sie will ihm aus der Hand fliegen, so über‐ raschend leicht ist das Holz, aber er schafft es, sie auf die Höhe des kleinen Mädchens neben ihm zu senken, das mit seinen braunen, gerade nicht mehr babyhaften Krabbelhänd‐ chen danach grapscht und sie weiterreicht. Die Kleine, die mit strahlenden Hundeaugen zu ihm aufgeschaut hat, hat sich unmerklich zu ihm hinübergelehnt, so heimlich, dass sie glauben mag, er merke nicht, dass ihr drahtiger kleiner Körper ihn berührt. Ahmed, der sich noch immer als Ein‐ 81
dringling empfindet, ignoriert sie und blickt steif geradeaus, wie um den Sängern in ihren Roben die Worte vom Mund abzulesen. «Welch eine Gnade, in Gebeten», versteht er, «Gott alles darzubringen.» Ahmed selbst liebt es zu beten, er liebt das Gefühl, die lautlose innere Stimme in ein Gefäß des Schweigens an sei‐ ner Seite strömen zu lassen; eine unsichtbare Erweiterung seiner selbst in eine Dimension zu überführen, die reiner ist als die drei Dimensionen dieser Welt. Joryleen hat ihm gesagt, sie werde ein Solo singen, aber sie bleibt in ihrer Reihe, zwischen einer fetten älteren Frau und einer dünnen, deren Haut von der Farbe gegerbten Leders ist, und alle schaukeln sie leicht in ihren schimmernden blauen Roben und bewegen ihre Münder mehr oder weniger im Einklang, sodass er die Stimme von Joryleen nicht heraushören kann. Ihr Blick bleibt auf den helmhaarigen Dirigenten geheftet und schweift nicht ein einziges Mal zu Ahmed hin, obwohl er doch das Höllenfeuer riskiert, indem er ihrer Einladung gefolgt ist. Er fragt sich, ob in der bösen Gemeinde hinter ihm auch Tylenol anwesend ist; an der Stelle, wo Tylenol ihn gepackt hat, tat Ahmed die Schulter einen Tag lang weh. «... nur weil wir in Gebeten», singt der Chor, «nicht alles Gott darbringen.» Gemeinsam bilden die Stimmen der Frauen, vor den tieferen der Männer in der Reihe dahinter, eine würdevolle Front, wie eine furchtlos vorrückende Ar‐ mee. Die vielen Kehlen verschmelzen zu einem Orgelton, jeder Entgegnung entrückt, wehmütig, weit entfernt von der einzelnen Stimme eines Imam, der die Musik des Koran intoniert, eine Musik, die einem in die Räume hinter den Augen dringt, in die Stille des Gehirns. Der Organist gleitet in einen anderen Rhythmus hin‐ über, einen hoppeligen Galopp, von holzigen Klopfklängen 82
punktiert, die jemand hinter dem Chor erzeugt – mit einem Instrument aus Stöcken, das Ahmed nicht sehen kann. Die Gemeinde nimmt den Tempowechsel mit billigendem Ge‐ murmel auf, und der Chor hält den Rhythmus nun mit den Füßen, mit den Hüften. Von der Orgel kommen Klänge, als verschlucke sie sich – als stürze sie ab. Das Lied entledigt sich seines Wortgewands, wird schwerer verständlich – ir‐ gendetwas über Plagen, Versuchungen und Kummer irgend‐ wo. Die dünne, verdorrte Frau neben Joryleen tritt vor und fragt die Gemeinde mit männlich klingender Stimme: «Wo finden wir einen so treuen Freund, der all unsere Sorgen teilt?» Der Chor hinter ihr singt immer nur: «Hör uns beten, hör uns beten, hör uns beten.» Der Organist dotzt auf und nieder, macht sich scheinbar selbständig, bleibt aber doch im Einklang mit ihnen. Ahmed hatte nicht gewusst, dass es auf den Orgeltasten so viele Töne gibt, hohe und niedrige, die in Schwärmen jäh aufsteigen können, höher, noch höher. «Hör uns beten, hör uns beten, hör uns beten», kommt es im Singsang vom Chor, der den fetten Organisten sein Solo verkünden lässt. Dann ist Joryleen an der Reihe; unter versprengtem Beifall tritt sie vor und streift mit dem Blick geradewegs Ahmeds Gesicht, bevor sie das vollmundige Oval ihres Ge‐ sichts den vielen zuwendet, die hinter ihm sitzen und über ihm, auf der Empore. Sie holt Luft; Ahmed stockt das Herz, er hat Angst für sie. Aber ihre Stimme ist wie ein Faden Sei‐ de. «Sind wir schwach und schwer beladen, niedergedrückt von Sorgen?» Ihre Stimme ist jung, rein und zerbrechlich; sie bebt ein wenig, bis ihre Nervosität sich legt. «Gütiger Heiland, unsere Zuflucht», singt sie. Ihre Stimme entspannt sich, nimmt eine metallische Färbung an, mit einem heise‐ ren Unterton, dann schwingt sie sich, plötzlich befreit, zu 83
einem gellenden Aufschrei empor, gleich dem eines Kindes, das verlangt, hinter eine verschlossene Tür eingelassen zu werden. Zu diesen Freiheiten, die sie sich nimmt, brummelt die Gemeinde beifällig. «Ve‐her‐schmähen, ve‐her‐lassen deine Freunde dich?» «Hey, na, tun sie’s?», fällt die fette Frau neben ihr fragend ein, als sei Joryleens Solo ein warmes Bad, das unwidersteh‐ lich geworden ist. Sie springt hinein, nicht um Joryleen zu bedrängen, sondern um sich ihr anzuschließen; sobald Jo‐ ryleen diese andere Stimme neben sich vernimmt, probiert sie ein paar gewagt schräge Töne aus, findet zur Harmonie zurück; ihre junge Stimme wird kühner, in Selbstverges‐ senheit versetzt. «In seinen Armen», singt sie, «in seinen Armen wird er dich wiegen und beschützen; in seinen barm‐ herzigen Armen wirst du Tröstung finden.» «Ja, Tröstung, ja, Tröstung wirst du finden», hallt es von der dicken Frau wider, und in einem brausenden Sturm der Anerkennung, der Liebe vonseiten der Gemeinde tritt sie vor, denn ihre Stimme, Ahmed spürt es, zieht die Leute bis auf den Grund ihres Lebens und dann sogleich wieder aus dessen Tiefen empor. Diese Stimme ist gereift durch Leiden, das Joryleen zum größten Teil noch bevorsteht, das allenfalls einen Schatten auf ihr junges Leben wirft. Mit dieser Autorität beginnt die dicke Frau erneut «Welch ein Freund» zu singen. Ihr Gesicht ist so breit wie das eines steinernen Götzenbildes; sie hat Grübchen nicht nur unter den Wangenknochen, sondern auch an den Augenwinkeln und, wenn sie heftig die Nüstern bläht, an den Flügeln ihrer breiten, flachen Nase. Das Kirchenlied ist allen hier Versammelten längst so in Adern und Nerven eingegangen, dass sie an jedem beliebigen Punkt einsetzen können. «All unsere Sünden, ja, all unsere Sünden und unsern Gram – 84
hörst du uns, o Herr?« Der Chor mit Joryleen in seiner Mit‐ te hält unerschrocken stand, während die ekstatische Dicke die Arme umherschnellen lässt, sie einen Moment lang ironisch flott im Wechsel schwingt wie jemand, der nach stürmischer Seefahrt triumphierend eine Gangway hinab‐ stolziert, herrisch eine deutende Hand in Richtung der sturmbewegten Küste der Empore schleudert und «Hört ihr, hört ihr?» gellt. «Wir hören’s, Schwester», erwidert eine Männerstimme. «Was hört ihr, Bruder?» Sie gibt die Antwort: «All unsere Sünden und all unsern Gram nimmt er auf sich. Denkt an diese Sünden, denkt an diesen Gram. Das sind doch unsere Babys, nicht? Sünden und Gram, unsere unehelichen Ba‐ bys.» Immer noch schleppt der Chor die Melodie mit, doch jetzt wird er schneller. Die Orgel klimmt und rüttelt, die un‐ sichtbaren Schlegel klopfen weiter, die fette Frau schließt die Augen und klatscht das Wort «Jesus», verkürzt zu «Jus, Jus, Jus», über den blind weiter pulsierenden Beat, und als sickere ein anderes Lied ein, schwenkt sie über zu: «Danke, Jesus. Danke, Herr. Danke für die Liebe, am Tag wie in der Nacht.» Während der Chor «O wie unnütz wir uns quälen» singt, schluchzt sie: «Unnütz, unnütz. Zu Jesus müssen wir es tragen, zu ihm, zu ihm!» Als der Chor, noch immer unter der Führung des kleinen Mannes mit dem hohen Haarpols‐ ter, bei der letzten Zeile anlangt, trifft auch die dicke Frau dort ein, singt die Zeile jedoch auf ihre Weise: «Alles, alles, jedes kleine, dumme Fetzchen, trag im Gebet zu Gott. O jaaah.» Der Chor, in dem Joryleens Mund der am weitesten ge‐ öffnete, der frischste ist, beendet seinen Gesang. Ahmed merkt, dass seine Augen heiß sind und dass in seinem Ma‐ gen ein Aufruhr herrscht, der ihn befürchten lässt, er müs‐ 85
se sich übergeben, hier unter den jaulenden Teufeln. Die falschen Heiligen in den rußverschmutzten hohen Fenstern schauen herab. Das grollende Gesicht eines Weißbärtigen erglüht unter einem flüchtigen Sonnenstrahl. Das kleine Mädchen hat sich, ohne dass Ahmed es bemerkt hat, an ihn geschmiegt; auf einmal ermattet, ist sie inmitten der mäch‐ tigen, antreibenden Musik eingeschlafen. Die ganze übrige Familie auf der langen Kirchenbank lächelt zu ihm und der Kleinen hin. Er weiß nicht, ob er draußen vor der Kirche auf Joryleen warten soll, während die Andächtigen in ihrem pastellfar‐ benen Frühlingsstaat in das Aprilwetter hinausdrängen, das feucht und kühl geworden ist und von tief hängenden Wol‐ ken eingetrübt. Unentschlossen bleibt er halb verborgen hinter einer Robinie am Straßenrand stehen, die die Abriss‐ arbeiten überlebt hat, bei welchen der Schuttsee entstan‐ den ist, und stellt zu seiner Beruhigung fest, dass Tylenol nicht unter den Kirchenbesuchern war. Dann, gerade als er beschließt, sich zu verdrücken, ist sie plötzlich da, kommt auf ihn zu und bietet all ihre Rundungen dar wie Früchte auf einem Teller. In einem Nasenflügel trägt sie eine kleine silbrige Perle. Unter dem blauen Gewand hat sie offensicht‐ liche die gleichen Sachen angehabt wie die, in denen sie zur Schule kommt, keine feinen Sonntagskleider. Sie nehme die Religion nicht gar so ernst, hat sie gesagt; nun fällt es Ahmed wieder ein. «Hab dich gesehen», sagt sie. «Unter den Johnsons tust du’s wohl nicht.» «Unter den Johnsons?» «Die Familie, neben der du gesessen hast. Das sind ganz wichtige Leute in der Gemeinde. Ihnen gehören Wasch‐ salons in der City und drüben in Passaic. Schon mal was 86
von der schwarzen Buur‐schwaa‐sie gehört? Schau dir nur die Johnsons an, dann weißt du, was das ist. Wo starrst du eigentlich hin, Ahmed?» «Auf das kleine Ding da in deiner Nase. Das ist mir noch nie aufgefallen. Bloß die kleinen Ringe außen an deinem Ohr.» «Der Stecker ist neu. Gefällt’s dir nicht? Tylenol findet es gut. Er kann’s kaum erwarten, dass ich mir einen in die Zunge setzen lasse.» «Die Zunge willst du dir durchstechen lassen? Das ist ja grauenvoll, Joryleen.» «Tylenol sagt, Gott liebt eine scharfe Frau. Und was sagt dein Mister Mohammed dazu?» Ahmed hört den Spott heraus und kommt sich dennoch groß vor neben diesem kleinen, drallen Mädchen; an ihrem schelmisch funkelnden Gesicht vorbei sieht er auf die Wöl‐ bungen ihrer Brüste hinunter, die in dem weiten Ausschnitt einer frühlingshaften Bluse sichtbar werden, noch wie lasiert von der Aufregung und Anstrengung des Singens. «Er rät Frauen, ihre Reize zu verhüllen», erklärt er Joryleen. «Gute Frauen, sagt er, gehören zu guten Männern und unreine Frauen zu unreinen Männern.» Ihre Augen werden größer, und sie blinzelt; dass er so gar nicht lächelt und so ernst spricht, nimmt sie als etwas hin, an das sie sich bei ihm gewöhnen muss. «Na, wo ich da hin‐ gehöre, weiß ich nicht so recht», sagt sie vergnügt. «Den Be‐ griff Unreinheit haben sie damals ganz schön weit gefasst», setzt sie hinzu und streicht über eine feuchte Stelle an ihrer Schläfe, wo die Härchen so fein sind wie die des Schnurr‐ barts eines Jungen, bevor er daran denkt, mit dem Rasieren zu beginnen. «Wie hat dir denn mein Singen gefallen?» Ahmed nimmt sich Zeit zum Nachdenken; schwatzende 87
Gemeindemitglieder, für diese Woche ihrer Pflicht entledigt, schlendern vorüber, und das sprießende Laub der Robinie wirft schwache, fiedrige Schatten, wenn kurz die Sonne durchbricht. «Du hast eine herrliche Stimme», sagt Ahmed zu Joryleen. «Sie ist sehr rein. Nur die Art und Weise, wie sie eingesetzt wird, ist nicht rein. Das Singen, besonders das der sehr dicken Frau – » «Eva‐Marie», wirft Joryleen ein. «Sie ist Spitze. Sie gibt immer alles, darunter macht sie’s nicht.» «Es kam mir sehr sinnlich vor, wie sie sang. Und vieles von dem Text habe ich nicht verstanden. Inwiefern ist Jesus für euch alle ein solcher Freund?» «Welch ein Freund, welch ein Freund», hechelt Joryleen leichtsinnig, und ahmt damit nach, wie der Chor die Verse des Kirchenlieds zerhackt und dadurch auf die monotonen (wie Ahmed sie verstand) Bewegungen beim Geschlechts‐ verkehr angespielt hatte. «Das ist er nun mal», erklärt Jory‐ leen. «Die Leute fühlen sich besser, wenn sie glauben, er ist immer für sie da. Wenn er sich nicht um sie kümmert, wer sonst, oder? Ist doch bei deinem Mohammed nicht anders, nehm ich mal an.» «Der Prophet ist für seine Anhänger vieles, aber einen Freund nennen wir ihn nicht. So kuschlig geht es bei uns nicht zu.» «Hey», sagt sie, «lassen wir das mal. Danke, dass du ge‐ kommen bist, Ahmed. Hätte ich nie gedacht.» «Es war freundlich von dir, mich einzuladen, und ich war neugierig. Bis zu einem bestimmten Punkt ist es nützlich, den Feind zu kennen.» «Den Feind? Oh Mann. Du hattest hier doch keine Fein‐ de.» «Mein Lehrer an der Moschee sagt, alle Ungläubigen 88
sind unsere Feinde. Der Prophet hat gesagt, dass letztlich alle Ungläubigen vernichtet werden müssen.» «Oh Mann. Wie bist du bloß so geworden? Du hast doch eine irische Mutter mit Sommersprossen, oder? Sagt Tylenol jedenfalls.» «Tylenol, Tylenol. Wie nah, wenn ich fragen darf, stehst du diesem Ausbund von Weisheit eigentlich? Betrachtet er dich als seine Frau?» «Ach, der probiert bloß dies und das aus. Um sich auf eine einzige Freundin festzulegen, dafür ist er zu jung. Ge‐ hen wir doch mal ein Stückchen weiter, wir fangen uns hier zu viele Blicke ein.» Sie gehen am nördlichen Rand des Brachlands entlang, das seiner Bebauung harrt. Ein großes farbiges Schild zeigt ein dreistöckiges Parkhaus, das die Kauflustigen in die In‐ nenstadt zurücklocken wird, doch seit zwei Jahren ist nichts gebaut worden, nur das zunehmend vollgekrakelte Schild steht da. Als die Sonne von Süden her über den neuen Glas‐ gebäuden der City schräg durch die Wolken dringt, sieht man den feinen Staub, der in einer Brise aus dem Schutt aufsteigt, und als die Wolkendecke sich wieder schließt, wird die Sonne, als wäre ein makellos rundes Loch in die Wolken gebrannt, zu einer weißen Scheibe, genau von der Größe des Mondes. Da Ahmed von der einen Seite die Son‐ ne auf sich spürt, wird ihm die Wärme bewusst, die ihn auf der anderen Seite erreicht, die Wärme von Joryleens sich bewegendem Körper, einem System sich überlappender Kreise und weicher Partien. Die Perle an ihrem Nasenflügel funkelt wie eine glühende Nadelspitze; die Sonne steckt eine gleißende Zunge in die Mulde hinter dem Schalkragen von Joryleens Bluse. «Ich bin ein guter Moslem in einer Welt, die den Glauben verhöhnt», sagt Ahmed zu ihr. 89
«Möchtest du dich nicht manchmal gut fühlen, statt im‐ mer nur gut zu sein?», fragt Joryleen. Sie möchte es wirklich wissen, glaubt er; mit seinem strengen Glauben stellt er für sie ein Rätsel, ein Kuriosum dar. «Das eine geht vielleicht aus dem anderen hervor», bietet er ihr an. «Das Fühlen aus dem Sein.» «Du bist in meine Kirche gekommen», sagt sie, «da könn‐ te ich auch mit dir in deine Moschee gehen.» «Das ist nicht möglich. Wir könnten nicht beieinander sitzen, und du könntest keiner Andacht beiwohnen, bevor du dich nicht religiösen Unterweisungen unterzogen und deine Aufrichtigkeit bekundet hast.» «Wow! Für all das hätte ich wahrscheinlich gar keine Zeit. Aber sag mal, Ahmed, was tust du eigentlich, wenn du mal Spaß haben willst?» «Zum Teil das Gleiche wie du, allerdings kommt es im Leben eines guten Moslem auf ‹Spaß›, wie du dich aus‐ drückst, nicht an. Zweimal die Woche habe ich Stunden in der Sprache und den Lehren des Koran. Ich bin an der Cen‐ tral High, wie du weißt. Im Herbst bin ich in der Fußball‐ mannschaft – übrigens habe ich in der letzten Saison fünf Tore geschossen, darunter einen Elfmeter – und im Früh‐ jahr treibe ich Leichtathletik. Um Taschengeld zu haben und meine Mutter zu unterstützen – die Irin mit den Som‐ mersprossen, wie du sie nennst –» «Wie Tylenol sie genannt hat.» «Wie ihr beide sie offenbar nennt. Also, ich arbeite noch zwölf bis achtzehn Stunden pro Woche bei Shop‐a‐Sec, und das kann schon ‹Spaß› machen – die Kunden zu be‐ obachten, mit ihren verschiedenen Aufmachungen und individuellen Verrücktheiten, zu denen die amerikanische Lockerheit herausfordert. Es gibt im Islam keine Vorschrif‐ 90
ten, die es verbieten würden, fernzusehen oder ins Kino zu gehen, obwohl da alles so von Verzweiflung und Ungläubig‐ keit vollgesogen ist, dass es mich nicht interessiert, sondern abstößt. Ebensowenig ist es im Islam verboten, Umgang mit dem anderen Geschlecht zu pflegen, wenn strikte Verbote beachtet werden.» «Und die sind so strikt, dass überhaupt nichts läuft, was? Bieg hier mal nach links ab, wenn du mich nach Hause be‐ gleiten willst. Das brauchst du aber nicht. Wir kommen hier jetzt in die übleren Gegenden, und du willst ja keinen Ärger kriegen.» «Ich möchte dich nach Hause bringen.» Und er fährt fort: «Diese Verbote dienen weniger dem Mann als dem Weib. Ihre Jungfräulichkeit und Reinheit bestimmen entschei‐ dend über ihren Wert.» «Du meine Güte», sagt Joryleen. «In wessen Augen denn? Ich meine, wer entscheidet denn über diesen Wert?» Wenn er auf diese Fragen auch nur antwortet, hat ihn Joryleen an den Rand der Blasphemie geführt. Im Unter‐ richt ist ihm aufgefallen, wie redegewandt sie war; die Lehrer ließen sich auf sie ein und merkten nicht, dass Jo‐ ryleen sie vom vorgesehenen Pensum ablenkte und ihnen Unterrichtszeit stahl. Sie kann ganz schön boshaft sein. «In den Augen Gottes», erklärt er ihr. «Wie der Prophet darlegt: ‹Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, dass ihre Zierde be‐ deckt ist.› Das steht in derselben Sure, in der den Frauen auch geraten wird, den Schmuck, den sie am Körper tra‐ gen, nicht offen zu zeigen, ja nicht einmal aufzustampfen, weil sonst das Klirren ihrer verborgenen Fußreifen zu hö‐ ren ist, und dass sie ihren Busen mit einem Schleier ver‐ hüllen sollen.» 91
«Du findest, ich zeig zu viel von meinen Titten – das merk ich daran, dass es deine Augen ständig da hinzieht.» Allein das Wort «Titten» aus ihrem Mund zu hören, er‐ regt ihn unziemlich. Er blickt starr geradeaus und sagt: «Reinheit ist ein Wert an sich. Wie gesagt, wer gut ist, fühlt sich auch gut.» «Und wie ist das denn mit all den Jungfrauen im Jen‐ seits? Wenn die ganzen jungen Märtyrer dort hinkommen, wo bleibt denn dann die Reinheit?» «Als Tugendhafte genießen sie ihren Lohn und bleiben dabei, in dem von Gott geschaffenen Umfeld, rein. Mein Lehrer an der Moschee meint, die großäugigen Jungfrauen symbolisieren eine Seligkeit, die man sich ohne konkrete Bilder nicht vorstellen kann. Es ist typisch für den sexbeses‐ senen Westen, dass er dieses Bild herausgegriffen hat, um den Islam ins Lächerliche zu ziehen.» Sie gehen weiter in die Richtung, die Joryleen angegeben hat. Die Umgebung, durch die sie kommen, wird schäbiger; die Büsche sind nicht gestutzt, die Häuser nicht gestrichen, die Platten des Gehwegs sind an manchen Stellen von Baumwurzeln hochgestemmt worden oder sind gesprun‐ gen, die kleinen Vorgärten sind mit Abfall übersät. In den Häuserreihen klaffen gelegentlich, an ausgeschlagene Zäh‐ ne mahnend, Lücken, die zwar abgezäunt sind, doch der dicke Maschendraht ist aufgeschnitten und verbogen unter dem unsichtbaren Druck von Leuten, die Zäune hassen, die rasch irgendwo hinwollen. Streckenweise gerinnen die Reihenhäuser an der Straße zu einem einzigen langen Ge‐ bäude mit vielen abblätternden Türen und je vier Stufen davor, alt und aus Holz oder neu und aus Beton. Über einem verhaken sich hohe Äste in den Leitungen, die durch die gesamte Stadt Strom fließen lassen, schlaffe Harfensaiten 92
in Breschen, die Baumpflege‐Teams gehauen haben. Die spärlichen Blüten und sich eben entfaltenden Blätter in Tönen zwischen Gelb und Grün wirken leuchtend vor dem schmutzig bewölkten Himmel. «Ahmed», sagt Joryleen, auf einmal gereizt, «angenom‐ men, das alles ist nicht wahr – angenommen, du stirbst und dann gibt es nichts mehr, absolut gar nichts? Was hat dir die ganze Reinheit dann gebracht?» Bei der Vorstellung krampft sich ihm der Magen zu‐ sammen. «Wenn nichts von alldem wahr ist», sagt er, «dann ist die Welt zu furchtbar, als dass ich mich an sie klammern könnte, und ich würde sie ohne Bedauern verlassen.» «Mann! Du bist vielleicht ein seltener Fall. In der Mo‐ schee, da müssen sie dich ja zu Tode lieben!» «Es gibt viele wie mich», sagt er zu ihr, steif und sanft und ein wenig tadelnd. «Manche davon sind» – er will nicht «schwarz» sagen, denn das Wort ist zwar politisch korrekt, klingt aber nicht freundlich – «deine so genannten Brüder. Von der Moschee und dem Lehrer erfahren sie, was ihnen das christliche Amerika verächtlich vorenthält – Respekt und eine Herausforderung, die ihnen etwas abverlangt: Nüchternheit. Selbstbeherrschung. Amerika will von seinen Bürgern, wie dein Präsident gesagt hat, ja nur eins – dass wir kaufen. Dass wir Geld für törichten Luxus ausgeben und damit die Wirtschaft anheizen, in seinem eigenen Interesse und dem anderer reicher Männer.» «Der ist nicht mein Präsident. Wenn ich in diesem Jahr schon wählen könnte, würde ich dafür stimmen, ihn raus‐ zuschmeißen und durch AI Sharpton zu ersetzen.» «Wer Präsident ist, ist gleichgültig. Alle wollen sie, dass die Amerikaner egoistisch und materialistisch bleiben, in der Konsumkultur mitspielen. Aber die menschliche Seele 93
sehnt sich nach Selbstverleugnung. Sie sehnt sich danach, zu der physischen Welt zu sagen: ‹Nein›!» «Du machst mir Angst, wenn du so redest. Es klingt, als würdest du das Leben hassen.» Und mit dem, was sie noch sagt, offenbart sie sich so freimütig, als sänge sie. «Für mein Empfinden kommt die Seele aus dem Körper, wie Blumen aus der Erde kommen. Wenn du deinen Körper hasst, hasst du dich selbst – die Knochen, das Blut, die Haut und die Scheiße, die dich zu dem machen, der du bist.» Wie in dem Moment, als er über der gleißenden Spur des verschwundenen Wurms oder der Schnecke stand, fühlt Ahmed sich groß, schwindelerregend groß, während er auf das gedrungene, rundliche Mädchen hinunterblickt, dessen Stimme vor Empörung über sein Verlangen nach Reinheit so lebhaft und quirlig wird. Wo ihre Lippen die andere Haut ihres Gesichts berühren, ist eine schmale Linie, fast wie der Rand, den Kakao innen in einer Tasse zurücklässt. Er stellt sich vor, wie er sich in ihren Körper versenkt, und daran, wie satt und wohlig diese Vorstellung ist, erkennt Ahmed, dass der Teufel sie ihm eingegeben hat. «Man soll den Körper nicht hassen», korrigiert er sie, «aber auch nicht dessen Sklave sein. Wenn ich mich um‐ schaue, sehe ich lauter Sklaven – Drogensklaven, Mode‐ sklaven, Sklaven des Fernsehens, Sklaven von Sportheroen, die nicht einmal von diesen Sklaven wissen, Sklaven der hässhchen, unwichtigen Meinungen anderer über sie. Du hast ein gutes Herz, Joryleen, aber so träge, wie du denkst, bist du auf dem besten Wege in die Hölle.» Sie ist an einer trübseligen, baumlosen Stelle auf dem Trottoir stehen geblieben, und er nimmt an, ihr Ärger über ihn, ihre den Tränen nahe Enttäuschung habe sie zum An‐ halten gebracht, doch dann wird ihm klar, dass Joryleen hin‐ 94
ter der verwaschenen Eingangstür da mit den vier hölzernen Stufen davor, so grau gebeizt wie von immer währendem Regen, zu Hause ist. Ahmed selbst wohnt wenigstens in einem mehrstöckigen Backsteinhaus an der Nordseite des Boulevards. Dass sie enttäuscht ist, bereitet ihm ein schlechtes Gewissen, denn indem sie es ihm erlaubt hat, sie zu begleiten, hat sie das Risiko einer Verwundung auf sich genommen. «Wenn einer nicht weiß, wohin er unterwegs ist», sagt sie, als sie sich abkehrt, um ins Haus zu gehen, die Zehenspit‐ zen bereits auf der unterste Treppenstufe, «dann du. Wer nicht weiß, was gut ist und was schlecht, bist du.» Ahmed sitzt an dem schweren, alten, runden, braunen Tisch, den er und seine Mutter den Esstisch nennen, obwohl sie nie daran essen, und studiert die Broschüren zur Vorberei‐ tung auf die Gewerbeführerschein‐Prüfung. Es sind vier Blätterstapel, jeder zusammengeheftet, die er aus Michigan hat kommen lassen, mit Hilfe von Scheich Rashid, der auch den Scheck in Höhe von 89,50 Dollar dafür ausgestellt hat, lautend auf das Konto der Moschee. Ahmed hat immer an‐ genommen, Lastwagen zu fahren, sei etwas für Dummköpfe wie Tylenol und dessen Kumpel in der Schule; tatsächlich aber ist dafür eine verwirrende Menge von Spezialkennt‐ nissen erforderlich; zum Beispiel muss man sämtliche ge‐ fährlichen Stoffe kennen, die gut sichtbar und voneinander getrennt angezeigt werden müssen, wozu es vier verschie‐ dene quadratische Schilder von zweiunddreißig Zentimeter Seitenlänge gibt, die auf der Spitze stehend anzubringen sind. Es gibt entzündliche Gase wie Wasserstoff und giftige beziehungsweise toxische Gase wie komprimiertes Fluor; es gibt leicht brennbare feste Stoffe wie mit Wasser phlegma‐ 95
tisiertes Ammonium‐Pikrat, selbstentzündliche wie weißer Phosphor und solche, die selbstentzündlich sind, wenn sie nass werden, wie Natrium. Dann gibt es da echte Gifte wie Zyankali, infektiöse Substanzen wie das Anthrax‐Virus, ra‐ dioaktive Stoffe wie Uran und ätzende wie die Batterieflüs‐ sigkeit. Sie alle müssen per Lastwagen transportiert werden, und jedes Auslaufen, jeder Schwund ab einer bestimmten Quantität (die je nach Toxizität, Flüchtigkeit und chemi‐ scher Stabilität verschieden ist) muss der Verkehrsbehörde und der Umweltschutzbehörde gemeldet werden. Ahmed wird ganz übel, wenn er an all die auszufüllenden Formulare denkt, an die Transportpapiere, die vor Ziffern, Kodes und Verboten starren. Giftige Stoffe dürfen niemals zusammen mit Nahrungsmitteln oder Tierfutter geladen werden; gefährliche Stoffe, selbst wenn sie sich in versiegel‐ ten Behältern befinden, dürfen niemals in der Fahrerkabine verstaut werden; es gilt, Hitze, Lecks und plötzliche Tem‐ powechsel zu vermeiden. Neben gefährlichen Substanzen gibt es noch ABUS (anderen Beschränkungen unterworfe‐ ne Stoffe), die eine betäubende, reizende oder schädigende Wirkung auf den Fahrer und seine Beifahrer entfalten kön‐ nen, wie etwa Monochloroazeton oder Diphenylchloroarsin, sowie solche die, wenn sie auslaufen sollten, das Fahrzeug beschädigen können, wie die ätzenden Flüssigkeiten Bro‐ min, Natriumkalk, Salzsäure, Natriumhydroxydlösung und Batteriesäure. Im ganzen Land, wird Ahmed nun klar, wer‐ den gefährliche Stoffe durchgerüttelt, laufen aus, geraten in Brand, zerfressen Straßenbeläge und Lasterchassis – ein chemisches Teufelswerk, welches das geistige Gift des Ma‐ terialismus offenbart. Sodann, erfährt Ahmed aus den Broschüren, gibt es beim Transport von Flüssigkeiten im Tanklaster den Spielraum, 96
auch Leckage genannt, der benennt, um wie viel die La‐ dung unterhalb des Tankvolumens bleiben muss, damit der Tank nicht platzt, wenn sich der Inhalt während des Trans‐ ports ausdehnt – wenn die Außentemperatur zum Beispiel auf fünfundfünfzig Grad Celsius steigt. Außerdem muss der Fahrer eines Tanklasters das Schwappen der Ladung be‐ rücksichtigen, das heftiger und gefährlicher ist im Falle so‐ genannter Glattraumtanks als bei solchen mit Schotten oder mit vollständig getrennten Kammern. Selbst bei solchen Tanks jedoch kann das Seitwärtsschwappen einen Laster, der eine Kurve zu eng nimmt, zum Umkippen bringen. Ein Schwappen in Längsrichtung kann den Laster an einer roten Ampel oder einem Stoppschild in den Verkehr hinausschie‐ ben. Dennoch sind Schotten nach den Hygienevorschriften untersagt bei Tanklastern, die Milch oder Fruchtsaft trans‐ portieren; Schotten erschweren das Säubern des Tanks, und Verunreinigungen sind die Folge. Das Transportwesen strotzt von Gefahren, die Ahmed noch nie bedacht hat. Gleichwohl findet er es aufregend, sich vorzustellen, wie er – gleich dem Piloten einer 727, dem Kapitän eines Super‐ tankers oder dem winzigen Hirn eines Brontosaurus – ein mächtiges Fahrzeug durch den Dschungel grauenvoller Fährnisse in die Sicherheit steuert. Es freut ihn, in den Ver‐ ordnungen zum Betrieb von Lkws auf Reinheitsvorschriften von beinahe religiöser Strenge zu stoßen. Jemand klopft an die Tür, abends um Viertel vor acht. Das Geräusch, so nah bei dem Tisch, an dem Ahmed im Schein einer verdellten Stehlampe die Broschüren studiert, reißt ihn jäh aus der Konzentration auf Schwappen und Flie‐ ßen, Leckage und Tonnage. Flink taucht seine Mutter aus ihrem Zimmer auf, das auch ihr Malatelier ist, und während sie zur Tür geht – sogar hineilt –, plustert sie mit der Hand 97
ihr nackenlanges Haar auf, dessen helles Rot sie mit Henna noch verstärkt. Unerwartete Unterbrechungen begrüßt sie freudiger als Ahmed. Obwohl es zehn Tage her ist, dass er der Andacht in der Kirche der Ungläubigen beigewohnt hat, ist ihm deswegen noch immer unwohl; er hat sich auf Tyle‐ nols Terrain gewagt, und es ist nicht auszuschließen, dass ihm dieser Quälgeist mit seiner Gang irgendwann, selbst abends, auflauert und ihn aus seiner Wohnung ruft. Und wenn es auch unwahrscheinlich ist, so besteht doch die Möglichkeit, dass ein Abgesandter von Scheich Rashid an seine Tür klopft. Der Meister hat nicht viele Schüler. Er hat in letzter Zeit reizbar gewirkt, als laste etwas auf ihm; auf Ahmed wirkt er wie ein fein kalibriertes Element in einer Struktur, die unter allzu großer Spannung steht. In dieser Woche hat der Imam Ahmed gegenüber Ungeduld an den Tag gelegt, als sie über einen Vers aus der dritten Sure sprachen: Und diejenigen, die ungläubig sind, sollen ja nicht meinen, der Umstand, dass wir ihnen Aufschub gewähren, sei für sie selber gut. Wir gewähren ihnen nur darum Aufschub, damit sie der Sünde immer mehr verfallen. Eine erniedrigende Strafe haben sie dereinst zu erwarten. Ahmed hatte seinen Lehrer zu fragen gewagt, ob an dem Tadel in diesem Vers und in den vie‐ len ähnlichen nicht etwas Sadistisches sei. «Sollte es nicht Gottes Ziel sein», hatte er gefragt, «durch den Mund des Propheten die Ungläubigen zu bekehren? Sollte Gott ihnen jedenfalls nicht Barmherzigkeit erweisen, statt über ihr Leid zu frohlocken?» Der Imam bot ein halbes Gesicht dar, denn die untere Hälfte verbarg ein gestutzter grau melierter Bart. Seine dün‐ ne Nase war gebogen und die Haut seiner Wangen bleich, jedoch nicht so bleich wie bei Angelsachsen oder Iren, nicht – wie der Teint von Ahmeds Mutter – sommersprossig 98
und zu raschem Erröten neigend (ein Zug, den er leider ge‐ erbt hat), sondern auf jemenitische Art bleich – wächsern, ebenmäßig, undurchdringlich. Die violetten Lippen im Bart des Imam verzerrten sich. Er fragte zurück: «Die Kakerla‐ ken, die unter der Fußleiste und unter dem Spülbecken her‐ vorkommen – hast du mit ihnen Mitleid? Die Fliegen, die um das Essen auf dem Tisch herumsirren, darauf umher‐ krabbeln mit ihren schmutzigen Füßen, die eben noch über Kot und Aas spaziert sind – hast du mit ihnen Mitleid?» Ahmed hatte tatsächlich Mitleid mit ihnen, denn ihn fas‐ zinierten die unermesslichen Insektenscharen, von denen es vor den Füßen gottgleicher Menschen wimmelt, doch da er wusste, dass jede Einschränkung, jedes Anzeichen von weiteren Einwänden seinen Lehrer erzürnen würde, ant‐ wortete er: «Nein.» «Nein», pflichtete ihm Scheich Rashid mit Genugtuung bei und zupfte mit einer zierlichen Hand leicht an seinem Bart. «Du willst sie vernichten. Mit ihrer Unsauberkeit sind sie dir lästig. Sie wollen deinen Tisch, deine Küche in Be‐ schlag nehmen; sie setzen sich gar in das Essen, das du zum Munde führst, wenn du sie nicht vernichtest. Sie empfinden nichts. Sie sind Äußerungen des Satans, und Gott wird sie am Tag des Jüngsten Gerichts erbarmungslos vernichten. Er wird frohlocken, wenn sie leiden. Du, Ahmed, tu gleicher‐ maßen. Wer meint, Kakerlaken verdienten Erbarmen – er‐ hebt sich über Ar‐Rahim, maßt sich mehr Erbarmen an als der Barmherzige.» Ahmed kam es vor, als nähme sein Lehrer zu Metaphern Zuflucht, um die Wirklichkeit abzuwehren; gerade so, wie er es getan hatte, als es um die Umstände im Paradies ge‐ gangen war. Joryleen war eine Ungläubige und hatte doch Gefühle; sie äußerten sich in ihrem Singen und darin, wie 99
die anderen Ungläubigen darauf reagierten. Aber es stand Ahmed nicht zu, mit seinem Lehrer zu disputieren; seine Pflicht war es, zu lernen, sich in dem großartigen Gebäude des Islam, dem sichtbaren wie dem unsichtbaren, mit sei‐ nem Platz zu begnügen. Vielleicht ist seine Mutter so rasch zur Tür gegangen, weil sie einen ihrer Verehrer erwartet hat, doch ihr Ton sagt ihm, das sie zurückgewichen ist, nicht vor Beunruhigung, sondern verblüfft und respektvoll. Mit einer höflichen, müden Stimme, die Ahmed vage bekannt vorkommt, stellt sich der Besucher als Mr. Levy vor, Beratungslehrer an der Central High School. Ahmed atmet auf; es ist nicht Tylenol oder jemand von der Moschee. Aber warum Mr. Levy? Nach ihrem Gespräch war Ahmed unbehaglich zumute gewesen; der Berater hatte erkennen lassen, dass ihn Ahmeds Zu‐ kunftspläne nicht zufrieden stellten, und hatte angedeutet, er gedenke einzugreifen. Wie ist er überhaupt so weit vorgedrungen, bis zur Woh‐ nungstür? Ihr Apartmenthaus war zusammen mit zwei wei‐ teren dreißig Jahre zuvor errichtet worden, anstelle von Reihenhäusern, die so heruntergekommen und drogenver‐ seucht waren, dass die Verwaltungsbeamten von New Pro‐ spect meinten, zehn Stockwerke hohe Klötze mit Wohn‐ einheiten für Mieter verschiedener Einkommensklassen könnten diesen Teil der Stadt neu beleben. Zudem speku‐ lierten sie darauf, dass sich die zwangsenteigneten Grund‐ stücke für einen Park mit Sport‐ und Spielplätzen sowie für eine Schnellstraße nutzen ließen, die im Bogen aus der In‐ nenstadt hinausführen sollte, damit die Autos rascher in die Vororte gelangten. Wie nach der Trockenlegung malariage‐ fährdeter Landstriche waren die Probleme jedoch wiederge‐ kehrt: Die Söhne früherer Drogendealer übernahmen den 100
Handel, und die Süchtigen und die Dealer benutzten die Parkbänke, die Büsche und die Treppenhäuser der Apart‐ mentblocks und huschten nachts in den Eingangshallen umher. Ursprünglich war an jedem Eingang ein Wachmann vorgesehen gewesen, aber die Gemeinde musste Budget‐ kürzungen vornehmen, und die kleinen Pförtnerlogen, von denen aus die Hallen und Korridore auf Monitoren über‐ wacht werden sollten, waren unregelmäßig besetzt. Stun‐ denlang hing dort oft ein Zettel, auf dem in Handschrift In 15 Minuten zurück geschrieben stand. Um diese abend‐ liche Zeit gingen Bewohner und Besucher gewöhnlich frei ein und aus. Mr. Levy musste in die Halle getreten sein, auf die Briefkästen geschaut haben und mit dem Aufzug heraufgekommen sein; dann hatte er an der Wohnungstür geklopft. Und da steht er nun, diesseits der Schwelle, vor der Küche, und stellt sich vor – lauter und förmlicher, als er bei dem Beratungsgespräch mit Ahmed geredet hat. Damals hatte er vorsichtig, träge und sehr müde gewirkt. Ahmeds Mutter ist rot geworden, sie spricht hoch und schnell; den Besuch einer Vertreters der fernen Obrigkeiten, die über ihr einsames Leben wachen, findet sie aufregend. Mr. Levy spürt das und versucht, Gelassenheit zu ver‐ strömen. «Bitte entschuldigen Sie, dass ich so in Ihre Pri‐ vatsphäre eindringe», sagt er zu einem Punkt in der Mitte zwischen der stehenden Mutter und dem sitzenden Sohn, der nicht aufsteht. «Aber als ich die Nummer angerufen habe, die in Ahmeds Schulakte steht, bekam ich eine Band‐ ansage: ‹Kein Anschluss unter dieser Nummer.›» «Die Nummer mussten wir abmelden, nach dem elften September», erklärt sie, noch immer ein bisschen atemlos. «Wir bekamen Schmähanrufe, antimoslemische Anrufe. Ich habe die Nummer wechseln lassen und verlangt, dass die 101
neue ungelistet bleibt, auch wenn das im Monat ein paar Dollar mehr kostet. Die sind es wert, kann ich Ihnen sa‐ gen.» «Es tut mir sehr leid, das zu hören, Mrs. ... Ms. ... Mul‐ loy», sagt der Beratungslehrer und wirkt dabei nicht nur so traurig wie immer, sondern als tue es ihm wirklich leid. «Es gab nur zwei, drei solche Anrufe», wirft Ahmed ein. «Keine große Sache. Die meisten Leute sind cool geblieben. Ich war ja auch erst fünfzehn, als das passiert ist.» Wieder einmal muss seine Mutter ein Nichts zu einer Riesensache aufblasen, was Ahmed rasend macht. «Es waren mehr als zwei oder drei. Das kann ich Ihnen sagen, Mr. Levine.» «Levy.» Noch immer konnte er nicht erklären, warum er gekommen ist. «Ich hätte Ahmed in der Schule in mein Büro rufen lassen können, aber eigentlich wollte ich mit Ihnen sprechen, Ms. Mulloy.» «Teresa, bitte.» «Teresa.» Er tritt an den Tisch und blickt Ahmed über die Schulter. «Aha, schon dabei, wie ich sehe – Vorbereitung auf den Gewerbeführerschein. Aber mehr als den C‐Schein werden Sie nicht kriegen, ehe Sie einundzwanzig sind, das ist Ihnen ja sicher klar – keine Lkws mit Anhänger, keine gefährlichen Ladungen.» «Ja, weiß ich», sagt Ahmed und blickt angelegentlich auf die Seite, mit der er beschäftigt gewesen war. «Aber das ganze Gebiet ist interessant, stellt sich heraus. Da hab ich mir gesagt, wenn ich schon dabei bin, will ich auch gleich alles lernen.» «Sehr vernünftig, mein Lieber. Jemandem, der so ge‐ scheit ist wie Sie, dürfte das ziemlich leicht fallen.» Ahmed scheut sich nicht davor, Mr. Levy zu widerspre‐ 102
chen. «Es ist komplizierter, als man meint. Erst mal gibt es jede Menge strenge Regeln, und dann muss man sämtliche Teile des Lkws kennen und wissen, wie man ihn instand zu halten hat. Wenn ein Laster liegen bleibt, kann das einen üblen Schaden anrichten.» «Okay, bleiben Sie dran. Nur lassen Sie sich dadurch nicht von der Schule ablenken; Sie haben noch einen Monat Unterricht und allerlei Prüfungen vor sich. Sie wollen den High‐School‐Abschluss doch, oder?» «Sicher.» Ahmed will nicht gegen alles, was Mr. Levy sagt, Einwände erheben, obwohl er ihm die angedeutete Drohung übel nimmt. Sie sind doch ganz wild darauf, ihm das Abschlusszeugnis zu geben, damit sie ihn los sind. Und wohin entlassen sie ihn? In ein imperialistisches Wirtschafts‐ system, in dem alles nur zum Vorteil reicher christlicher Un‐ gläubiger läuft. Mr. Levy hat den mürrischen Ton vernommen und fragt: «Stört es Sie, wenn ich kurz mit Ihrer Mutter spreche?» «Nein. Was soll mich daran schon stören? Und wenn, was dann?» «Sie möchten mit mir sprechen?», sagt die Frau bereitwil‐ lig, um die Unhöflichkeit ihres Sohnes zu kaschieren. «Nur ganz kurz. Also, noch einmal, Mrs. ... Ms. ... egal, Teresa! Es tut mir leid, dass ich Sie belästige, aber wenn ich etwas auf dem Herzen habe, dann lässt es mir einfach keine Ruhe. Ich muss es loswerden. So ein Typ bin ich nun mal.» «Hätten Sie gern eine Tasse Kaffee, Mr. –?» «Jack. Meine Mutter hat mich Jacob genannt, aber die meisten Leute sagen Jack zu mir.» Er sieht ihr ins Gesicht; ihre sommersprossigen Wangen sind gerötet, ihre Augen quellen übereifrig vor. Offenbar ist sie darauf bedacht, an‐ 103
dere zufrieden zu stellen. Eltern bringen Pädagogen längst nicht mehr so viel Respekt entgegen wie früher, und für manche Eltern ist man geradezu ein Feind, wie die Polizei, nur lächerlicher, weil man keine Knarre hat. Die Frau hier jedoch gehört zwar einer Generation an, die jünger ist als er, könnte aber ihrem Alter nach noch eine kirchliche Er‐ ziehung genossen und von den Nonnen Respekt gelernt haben. «Nein, danke», sagt er. «Ich schlafe auch so schon miserabel.» «Ich kann einen koffeinfreien machen», bietet sie allzu eifrig an. «Das wäre dann aber Pulverkaffee.» Ihre Augen sind hellgrün, wie die Coca‐Cola‐Flaschen, als sie noch aus Glas waren. «Danach wäre mir schon», gesteht er, «wenn’s nicht zu viel Mühe macht. Wo können wir hingehen, damit wir Ah‐ med hier nicht länger stören? In die Küche?» «Da ist es zu unordentlich. Ich habe das Geschirr noch nicht weggeräumt. Ich wollte an mein Bild gehen, solange ich noch genug Elan hatte. Gehen wir doch in mein Atelier. Da habe ich eine Kochplatte.» «In Ihr Atelier?» «Ich nenne es so. Dort schlafe ich auch. Sehen Sie über das Bett hinweg. Der Raum muss eben mehreren Zwecken dienen, damit Ahmed sein Zimmer ganz für sich hat. Jahre‐ lang haben wir uns ein Schlafzimmer geteilt, zu lange viel‐ leicht. In diesen billigen Wohnungen sind die Wände ja wie aus Pappe.» Sie macht die Tür auf, aus der sie zehn Minuten zuvor herausgekommen ist. «Wow!», macht Jack Levy, als er ein‐ tritt. «Ahmed hat mir zwar erzählt, dass Sie malen, glaube ich, aber –» «Ich versuche, kühner zu arbeiten, leuchtender. Das Le‐ 104
ben ist so kurz, wurde mir plötzlich klar, warum soll ich mich da weiter mit den Details abquälen? Perspektive, Schatten, Fingernägel – auf das alles achten die Leute gar nicht, und die Kollegen, die anderen Maler, werfen einem vor, man würde sich von den Markterwartungen korrumpieren las‐ sen. Einige meiner Stammkunden, ein Geschenkladen in Ridgewood zum Beispiel, wo sie mich seit ewigen Zeiten verkaufen, finden diese neue Richtung von mir ein bisschen verstörend, aber ich sage ihnen: ‹Ich kann’s nicht ändern, da geht es für mich jetzt weitere Wenn man nicht wächst, stirbt man, stimmt’s?» Jack Levy geht um das nachlässig gemachte Bett herum und betrachtet mit respektvoll zusammengekniffenen Augen die Wände. «Und diese Sachen verkaufen Sie wirk‐ lich?» Er bedauert seine Ausdrucksweise; sie geht in Abwehr‐ haltung. «Manche, nicht alle. Nicht mal Rembrandt und Picasso haben alle ihre Sachen verkauft, jedenfalls nicht gleich.» «Aber nein, ich wollte damit ja nicht sagen ...» Er ver‐ haspelt sich. «Sie sind sehr eindrucksvoll; nur ist man auf so etwas nicht gefasst, wenn man hereinkommt.» «Ich experimentiere zur Zeit damit, die Farben direkt aus der Tube aufzutragen», sagt sie, besänftigt und zu wei‐ teren Mitteilungen bereit. «Dann mischen sich die Farben im Auge des Betrachters.» «Toll», sagt Jack Levy in der Hoffnung, diesen Teil des Gesprächs hinter sich zu haben. Er fühlt sich nicht in sei‐ nem Element. Sie hat inzwischen einen Wasserkessel auf die kleine elektrische Kochplatte gesetzt, die auf einer Kommode steht, deren Oberfläche verkrustet ist von verschütteter oder 105
abgewischter Ölfarbe. Jack Levy findet die Gemälde ziem‐ lich barbarisch, aber die Atmosphäre des Raums behagt ihm, das Durcheinander und das eisig klare Licht der Leucht‐ röhren an der Decke. Der Geruch nach Farbe beschwört für ihn, wie der Duft von Holzspänen, jene Zeit herauf, als die Menschen noch über ihre Arbeit gebeugt bei sich zu Hause, in ihren Hütten, Gegenstände mit der Hand herstellten. «Vielleicht hätten Sie lieber einen Kräutertee?», fragt Te‐ resa Mulloy. «Nach Kamillentee schlafe ich wie ein Baby.» Forschend blickt sie zu ihm hin. «Nur wache ich dann vier Stunden später auf.» Was sie nicht ausspricht, ist: Weil ich pinkeln muss. «Genau», sagt Jack Levy, «das ist das Problem.» Sie errötet, denn sie weiß, dass er vorweggenommen hat, was ihr durch den Sinn gegangen ist, und kümmert sich um das Wasser; aus dem Loch in der aufklappbaren Kappe über der Kesseltülle dringt bereits eine Dampffahne. «Ich weiß schon nicht mehr, was Sie zu den Teesorten gesagt haben. Kamille oder was anderes?» Er sträubt sich gegen die New‐Age‐Seite dieser Frau. Wenn er nicht aufpasst, holt sie gleich ihre Kristalle und ihre I‐Ching‐Stäbe hervor. «Ich dachte, wir hätten uns auf koffeinfreien Pulverkaffee geeinigt, auch wenn er ziemlich mies schmeckt.» Ihr Teint unter dem Gesprenkel von Sommersprossen wird nicht blasser. «Wenn Sie’s so sehen, wollen Sie viel‐ leicht gar nichts.» «Nein, nein, Ms. ... Mrs. ...« Er gibt es auf, sie anzure‐ den. «Alles ist mir recht, wenn’s nur nass und heiß ist. Das ist sehr freundlich von Ihnen, ich hab wirklich nicht erwar‐ tet, dass –» «Ich hol mal schnell den koffeinfreien und schaue bei 106
Ahmed rein. Er mag’s nicht, wenn er am Lernen ist und ich nicht immer mal wieder ins Wohnzimmer komme; dann fühlt er sich nicht gewürdigt, wissen Sie.» Teresa verschwindet, und als sie zurückkommt, einen ge‐ drungenen Glasbehälter mit braunem Pulver in der Hand – einer tatkräftigen Hand mit kurzen Nägeln –, hat Jack die Heizplatte abgedreht, damit das Wasser nicht verkocht. Ihr Bemuttern hat einige Minuten gedauert; Jack hat gehört, wie sie leichthin, weiblich‐neckisch, aber forschend geredet hat, und dann das kaum tiefere Maunzen und Ächzen ihres Sohnes, diese abwehrenden, inartikulierten Schülerlaute, die Jack nur zu gut kennt – als ob das bloße Vorhandensein von Erwachsenen eine unnötige, grausame Prüfung darstell‐ te, der sie unterworfen werden. Er versucht, an diesen Fa‐ den anzuknüpfen: «Sie betrachten Ihren Sohn also als einen ziemlich typischen, durchschnittlichen Achtzehnjährigen?» «Ist er das denn nicht?» Ihre mütterliche Seite ist ver‐ letzlich; ihre hell meergrünen Augen quellen ihm zwischen Wimpern entgegen, die wohl gelegentlich getuscht werden, doch heute und gestern ist das nicht geschehen. An den Wurzeln ist ihr Haar von einem helleren, stumpferen Rot als der metallische Schopf darüber. Von ihrer Mundstel‐ lung – sie hat die füllige Oberlippe ein wenig geschürzt wie jemand, der genau hinhört – liest Jack ab, dass er ihren an‐ fänglichen Schwall von Freundlichkeit überstrapaziert hat. Sie kommt anderen Menschen lebhaft entgegen; dann wird sie ungeduldig. «Mag sein», sagt er. «Aber irgendetwas wirft ihn aus der Bahn.» Nun kommt er auf den Punkt zu sprechen, dessent‐ wegen er gekommen ist. «Hören Sie, er sollte nicht Lastwa‐ genfahrer werden.» «Nein? Er findet aber, er sollte, Mr. –» 107
«Levy, Teresa. Jemand setzt Ahmed unter Druck, aus wel‐ chen Gründen auch immer. Er kann es zu viel mehr bringen als zum Lkw‐Fahrer. Er ist ein gescheiter, klar profilierter Junge, der in hohem Maße imstande ist, sich selbst zu moti‐ vieren. Ich wollte ihm eigentlich die Kataloge von Colleges hier in der Gegend bringen, deren Bewerbungsfristen noch nicht abgelaufen sind. Für Princeton und Rutgers ist es viel zu spät, aber im New Prospect Community College – das kennen Sie sicher, ein Stück flussaufwärts, hinter dem Was‐ serfall –, in Fairleigh Dickinson und in Bloomfield könn‐ te er aufgenommen werden, und zu jedem davon könnte er pendeln, wenn die Wohnkosten dort über Ihre Mittel gehen. Das Geschickteste wäre, ihn an einem von diesen Colleges anfangen zu lassen, in der Hoffnung, dass er später auf ein besseres wechseln kann, je nachdem, wie er klar‐ kommt. Heutzutage ist jedes College auf soziale und eth‐ nische Vielfalt aus, das verlangt ihre Politik, und Ihr Junge, mit seiner religiösen Bindung und, verzeihen Sie, dass ich davon überhaupt spreche, Hautfarbe, stellt geradezu eine Minderheit unter den Minderheiten dar – da werden sie ihn glatt nehmen.» «Was sollte er am College denn studieren?» «Was alle tun – Naturwissenschaften, Kunst, Geschichte. Die Geschichte der Menschheit, der Zivilisation. Wie wir hierher gekommen sind, was nun zu tun wäre. Soziologie, Ökonomie, selbst Ethnologie – was immer ihn reizt. Lassen Sie’s ihn selbst herausfinden. Die wenigsten Collegestu‐ denten wissen heute von Anfang an, was sie einmal wer‐ den wollen, und bei denen, die es wissen, ändert sich das noch. Dafür ist das College da, dass sich die Einstellung der Studenten verändert, damit sie mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert klarkommen. Ich selber komme damit nicht 108
klar. Als ich auf dem College war, hatte man da vielleicht je etwas von Informatik gehört? Wer wusste schon über Genome Bescheid und wie sich daran die Evolution zurück‐ verfolgen lässt? Sie sind viel jünger als ich, da kommen Sie vielleicht mit alldem klar. Bei den neuartigen Bildern, die Sie malen – gut möglich, dass Sie damit schon den Anfang machen.» «Im Grunde sind sie sehr konservativ», sagt sie. «Die Abstraktion ist schließlich ein alter Hut.» Ihr eben noch offener Mund hat sich geschlossen; Jacks Bemerkung zur Malerei war töricht. Er beeilt sich, ans Ziel seines Vorstoßes zu kommen. «Also, Ahmed –» «Mr. Levy. Jack.» Auf einmal ist sie eine andere Person geworden, wie sie da mit ihrem zu heißen koffeinfreien Kaffee auf einem ungestrichen gekauften und nie lackierten Hocker sitzt. Sie zündet sich eine Zigarette an, stützt einen Fuß im kreppbesohlten Segeltuchschuh auf eine Sprosse und schlägt die Beine übereinander. Ihre Hose, eng sit‐ zende, verblichene Jeans, entblößt ihre Knöchel. Bläuliche Adern durchziehen ihre weiße, ihre irisch‐weiße Haut; die Fußgelenke sind knochig und schmal im Verhältnis zu ihrer sonst weichen, kräftigen Figur. Das Gewicht von Beth hatte zwanzig Jahre länger Zeit als dasjenige dieser Frau hier, nach unten zu sacken, Wülste über ihren Schuhen zu bilden und ihrem Hintern die anatomische Form ganz zu nehmen. Ob‐ wohl Jack früher einmal zwei Päckchen Old Golds am Tag geraucht hat, ist er an Raucher jetzt nicht mehr gewöhnt, nicht einmal mehr im Lehrerzimmer, und der Geruch brennenden Tabaks ist ihm zutiefst vertraut, mutet ihn aber zugleich als fast skandalös an. Die stilisierten Gebärden des Anzündens, Inhalierens und heftigen Ausstoßens von Rauch aus zusam‐ 109
mengezogenem Mund verleihen Terry — wie ihre Gemälde signiert sind, in großen, gut leserlichen Lettern, ohne Nach‐ namen – etwas Kühnes. «Jack, dass Sie für Ahmed Interesse aufbringen, weiß ich wohl zu schätzen, und noch mehr hätte ich es zu schätzen gewusst, wenn die Schule schon früher irgendein Interesse an meinem Sohn gezeigt hätte und nicht erst einen Monat vor Ende seiner Schulzeit.» «Wir sind im Kollegium einfach überfordert», unterbricht sie Jack. «Bei zweitausend Schülern, von denen sich jeder zweite, freundlich ausgedrückt, dysfunktional verhält. Auf die Räder, die am meisten quietschen, wird eben zuerst ge‐ achtet, und Ihr Sohn hat nie Probleme gemacht, das war sein Fehler.» «Sei dem, wie dem sei, in seiner jetzigen Entwicklungs‐ phase betrachtet er die Collegeausbildung mitsamt den Fächern, die Sie genannt haben, als Teil der gottlosen west‐ lichen Kultur, und von der will er nichts wissen, außer dort, wo er sich ihr absolut nicht entziehen kann. Er hat nie Pro‐ bleme gemacht, sagen Sie, aber dahinter steckte mehr: Für ihn sind seine Lehrer die Problemgestalten, unspirituell, zy‐ nisch und nur wegen des Gehalts dabei – wegen der kurzen Arbeitszeit und der Sommerferien. Er findet, sie geben ein schlechtes Beispiel. Kennen Sie die Redensart ‹Jemand schwebt über allem›?» Levy nickt nur und lässt diese nun keck gewordene Frau reden. Vielleicht würde sich noch einmal als nützlich erwei‐ sen, was sie ihm über Ahmed mitteilte. «Mein Sohn schwebt über allem», stellt sie fest. «Er glaubt an den islamischen Gott und an das, was ihm der Ko‐ ran sagt. Ich selbst bin dazu natürlich nicht imstande, aber ich habe nie versucht, seinen Glauben zu untergraben. Jemand wie ich, die so gut wie keinen Glauben besitzt, 110
die das katholische Bündel mit sechzehn abgeworfen hat, empfindet seine Gläubigkeit als etwas Schönes.» Was sie bewegt, ist also Schönheit – ihre Annäherungs‐ versuche daran hängen an den Wänden, der süßliche Ge‐ ruch trocknender Farbe geht von ihnen aus; und ihren Sohn lässt sie ähnlich hängen, lässt ihn in seinem grotesken, ge‐ walttätigen Aberglauben trocknen. «Wie ist er eigentlich so geworden?», fragt Levy. «So – fromm? Wollten Sie ihn von Anfang an im islamischen Glauben aufwachsen lassen?» «Bei Gott, nein!», erwidert sie. Sie spielt die Kesse und nimmt einen tiefen Zug, sodass ihre Augen zusammen mit dem Ende ihrer Zigarette aufzuglimmen scheinen. Ihr wird bewusst, was sie da gesagt hat, und sie lacht. «Wie finden Sie denn diesen freudschen Versprecher? ‹In nomine Do‐ mini – nein.› Der Islam hat mir nichts bedeutet – genauer gesagt, weniger als nichts: Er war für mich negativ besetzt. Und viel mehr hat er Ahmeds Vater auch nicht bedeutet. Soweit ich es mitbekam, ist Omar nie in eine Moschee ge‐ gangen, und jedes Mal, wenn ich den Versuch unternom‐ men habe, auf das Thema zu sprechen zu kommen, wurde er ganz verschlossen und zog ein mürrisches Gesicht, als wollte ich mich in etwas einmischen, was mich nichts an‐ ging. ‹Eine Frau sollte einem Mann dienen, nicht von ihm Besitz ergreifen wollen›, hat er oft gesagt, als würde er aus irgendeiner heiligen Schrift zitieren. Er hatte es erfunden. Was für ein aufgeblasener Chauvi er war, was für ein Arsch mit Ohren! Aber ich war jung und verliebt – vor allem darin verliebt, dass er so exotisch war, wissen Sie, so gestelzt und Dritte Welt, und dass ich, indem ich ihn heiratete, beweisen konnte, wie liberal und emanzipiert ich war.» «Ich kenne das Gefühl. Ich bin Jude, und meine Frau war Lutheranerin.» 111
«War? Ist sie denn konvertiert, wie Elizabeth Taylor?» Jack Levy stößt ein brummiges Glucksen aus, blickt auf die unerwünschten Collegekataloge, an die er sich noch immer klammert, und gibt zu: «So hätte ich mich nicht aus‐ drücken sollen, sie hat nie gewechselt, sie geht einfach nicht mehr zur Kirche. Ihre Schwester dagegen arbeitet für die Regierung in Washington und ist kirchlich sehr aktiv, wie all die wiedergeborenen Christen dort unten. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass die einzige lutherische Kirche hier die litauische ist, und als Litauerin versteht sich Eliza‐ beth nun wirklich nicht.» «Ein hübscher Name, Elizabeth. Man kann so gut damit spielen: Liz, Lizzie, Beth, Betsy. Aus Teresa lässt sich nur Terry machen, und das klingt wie ein Jungenname.» «Oder wie der eines Malers.» «Es ist Ihnen also aufgefallen. Stimmt, ich signiere so, weil die Geltung von Malerinnen immer geringer war als die der Männer, egal wie groß sie als Künstlerinnen waren. Mit ‹Terry› bringe ich die Leute zum Raten.» «Mit ‹Terry› lässt sich doch eine Menge anfangen: Ter‐ rier. Terror. Terrine. Infant terrible. Und dann gibt es auch noch die Terry Times.» «Was ist denn das?», fragt sie ganz erschrocken. So un‐ erschütterlich sie auch erscheinen möchte, sie gerät leicht ins Schleudern, diese Frau, die einen Mann geheiratet hat, den ihr irischer Vater und ihre irischen Brüder sicher als Nigger bezeichnet haben. Keine Mutter, die sichere Parolen ausgibt; eher eine, die ihren Sohn entscheiden lässt. «Ach, etwas aus längst vergangenen Zeiten – eine Serie von Zeichentrickfilmen. Sie können sich daran natürlich nicht erinnern, dafür sind Sie zu jung. Wenn man uralt ist, 112
erinnert man sich an Dinge, von denen sonst keiner mehr etwas weiß.» «So alt sind Sie doch gar nicht», sagt sie unwillkürlich. Innerlich schwenkt sie in eine neue Richtung. «Könnte sein, dass ich ein paar davon gesehen habe, als Ahmed noch klein war und ich mit ihm viel ferngesehen habe.» Wieder wechselt sie innerlich die Spur. »Omar Ashmawy war ein gut aussehender Mann. Ich fand, er sah wie Omar Sharif aus. Haben Sie ihn in Doktor Schiwago gesehen?» «Nur in Funny Girl. Und den habe ich mir wegen Barbra Streisand angesehen.» «Natürlich.» Sie lächelt, und unter der kurzen Oberlippe kommen unvollkommene irische Zähne zum Vorschein, un‐ regelmäßig und ein bisschen vorstehend. Jack und sie ha‐ ben ein Stadium erreicht, in dem alles, was einer von ihnen sagt, dem anderen behagt; ihre Sinne sind hellwach. Da sitzt sie mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem hohen, unlackierten Hocker und streckt sich, dehnt den Hals und versetzt ihren Rücken in eine langsame Wellenbewegung, wie um eine Verspannung loszuwerden, die sie sich beim Stehen an der Staffelei zugezogen hat. Wie ernst kann es ihr mit der Arbeit an diesem Zeug sein? Wenn sie wollte, könn‐ te sie am Tag drei davon raushauen, schätzt Jack. «Was, so gut sah er aus? Hat Ihr Sohn –» Aber sie spinnt ihren eigenen Faden weiter: «Und ein phantastischer internationaler Bridgespieler ist er auch.» «Wer? Mr. Ashmawy?», fragt Jack, obwohl er natürlich weiß, wen sie meint. «Nein, Sie Dummerchen, der andere. Sharif.» «Was ich ihn beinahe gefragt hätte: Hat Ihr Sohn ein Bild von seinem Vater in seinem Zimmer?» «Was ich gerade sagen wollte, Sie müssen Gedanken le‐ 113
sen können. Erst in diesem Jahr hat Ahmed die Fotos von seinem Vater, die er in seinem Zimmer hatte, abgehängt und in eine Schublade gelegt, mit dem Gesicht nach unten. Das Bild eines Menschen, den Gott geschaffen hat, zu ver‐ vielfältigen, sei Frevel, hat er mir erklärt – eine Form von Fälschung, Betrug wie die Prada‐Taschen, die auf der Straße verhökert werden. Die Intuition sagt mir, dass dieser Hund von Lehrer an der Moschee ihn dazu aufgehetzt hat.» «Da wir gerade von Terriern geredet haben», wirft Jack Levy rasch ein. Vor vierzig Jahren hat er sich für geistreich gehalten, für schlagfertig. Er hat sogar davon geträumt, sich dem Gagschreiber‐Team eines der jüdischen Fernsehkomi‐ ker anzuschließen. In seiner Gruppe am College galt er als Witzbold, immer für eine Pointe gut. «Inwiefern ist er ein Hund? Warum?» Mit den Händen und den Augen bedeutet sie ihm, dass Ahmed im Nebenzimmer lauschen könnte, während er so tut, als lerne er. Sie senkt die Stimme, sodass Jack einen Schritt näher kommen muss. «Von ihren Sitzungen kommt Ahmed oft ganz verstört zurück», sagt sie. «Ich glaube, der Mann – ich bin ihm schon begegnet, sehr flüchtig al‐ lerdings – bekundet nicht genügend Gewissheit, und damit kann Ahmed sich nicht abfinden. Ich weiß, mein Sohn ist achtzehn und sollte so naiv eigentlich nicht mehr sein, aber er erwartet von Erwachsenen immer noch, dass sie absolut aufrichtig und sich ihrer Sache gewiss sind.» Wie sie «mein Sohn» sagt, gefällt Levy. Er nimmt hier mehr fürsorgliche Umsicht wahr, als er nach seinem Ge‐ spräch mit Ahmed erwartet hatte. Teresa mag zwar eine dieser alleinstehenden Frauen sein, die frech versuchen, auf Kosten anderer zu leben, aber sie hat auch etwas Haus‐ mütterliches. «Ob er ein Foto von seinem Vater besitzt, hat 114
mich darum interessiert», verrät er ihr in einem konspirativ gedämpften Ton, «weil ich mich gefragt habe, ob seine ... Gläubigkeit nicht vielleicht mit klassischer Überschätzung zusammenhängt. In, nun ja, in schwarzen Familien» – war‐ um musste er nur immer darauf herumreiten? – «sieht man das oft, dass die Kinder den abwesenden Vater idealisieren und ihre ganze Wut an der armen Mama auslassen, die sich Arme und Beine ausreißt, um ihnen das Dach über dem Kopf zu sichern.» Teresa Mulloy ist gekränkt; sie sitzt so aufrecht auf dem Hocker, dass Jack schier vor sich sieht, wie sich die harte Holzscheibe des Sitzes in ihren angespannten Po drückt. «Ach, das ist also Ihr Bild von uns alleinerziehenden Müt‐ tern, Mr. Levy? So rundum unterbewertet und mit Füßen getreten?» Alleinerziehende Mütter, denkt er. Was für ein putziger, sen‐ timentaler, pseudokämpferischer Ausdruck. Wie öde doch jedes Gespräch heutzutage dadurch wird, dass jede erdenk‐ liche Gruppe, weiße Männer ausgenommen, mit geballten Fäusten in Abwehrhaltung geht. Er paddelt zurück. «Nein, ganz und gar nicht. Ich finde alleinerziehende Mütter toll, Terry – sie sind das Einzige, was unsere morsche Gesell‐ schaft zusammenhält.» «Ahmed hat keinerlei Illusionen, was seinen Vater an‐ geht», sagt sie, schon wieder ein wenig lockerer; sie ist eine empfängliche Frau. «Ich habe ihm sehr deutlich dargestellt, was für ein Versager sein Vater war. Ein ahnungsloser, ver‐ klemmter Opportunist, der uns seit fünfzehn Jahren keine Nachricht mehr hat zukommen lassen, geschweige denn einen verdammten Scheck.» Jack gefällt der «verdammte Scheck» – sie lockert sich zusehends. Statt eines Malerkittels trägt sie über den Jeans 115
ein blaues Arbeiterhemd, dessen Taschen von ihren Brüsten nach vorn geschoben werden. «Als Paar waren wir eine Ka‐ tastrophe», vertraut sie Jack an, noch immer so leise, dass Ahmed es nicht hören kann. Wie um von dem zusätzlichen Raum, den dieses Geständnis ihr verschafft, Besitz zu nehmen, drückt sie, auf dem hohen, ungestrichenen Holz‐ hocker balancierend, katzenhaft den Rücken durch und schiebt ihre Brüste noch ein paar Zentimeter weiter vor. «Es war verrückt von uns, zu glauben, dass wir heiraten sollten. Beide dachten wir, der andere wüsste die Antwort auf alle Fragen – dabei sprachen wir buchstäblich nicht mal die gleiche Sprache. Obwohl er gar nicht schlecht englisch konnte, muss ich fairerweise sagen. Er hatte es in Alexandria gelernt. Noch so etwas, worauf ich abgefahren bin – dieser leichte Akzent, fast ein Lispeln, irgendwie britisch. Er klang so kultiviert! Und immer war er so adrett, hielt seine Schuhe blitzblank, sein Haar geschniegelt. Dichtes, pechschwarzes Haar, wie es kein Amerikaner hat, ein bisschen gelockt hin‐ ter den Ohren und im Nacken, und dann natürlich seine Haut – glatt und ebenmäßig, dunkler als die von Ahmed, aber vollkommen matt, wie ein angefeuchtetes Tuch, oliv‐ beige mit einer Prise Lampenruß darin, aber es färbte nicht ab, wenn man darüberstrich –» O Gott, denkt Levy, sie lässt sich hinreißen, gleich schildert sie mir auch noch seinen violetten Dritte‐Welt‐Schwanz. Sie spürt sein Unbehagen, nimmt sich zusammen und sagt nur noch: «Jedenfalls überschätzt Ahmed seinen Vater nicht, keine Sorge. Er verabscheut ihn, wie es sich gehört.» «Sagen Sie mir eins, Terry: Glauben Sie, Ahmed würde sich bei seinem IQ nach dem High‐School‐Abschluss mit einem Lastwagenfahrerjob zufrieden geben, wenn sein Va‐ ter noch da wäre?» 116
«Das weiß ich nicht. Omar wäre nicht mal dazu imstande gewesen. Er hätte zu träumen angefangen und wäre von der Straße abgekommen. Als Autofahrer war er unmöglich; selbst damals, als ich die Rolle der unterwürfigen jungen Ehefrau spielen sollte, habe immer ich das Steuer über‐ nommen, wenn ich mit im Auto saß. ‹Es geht auch um mein Leben›, habe ich zu ihm gesagt. Und ihn gefragt: ‹Wie willst du denn Amerikaner werden, wenn du nicht Auto fahren kannst?›» Wie kommt es nur, dass Omar überhaupt zum Thema geworden ist? Ist Jack Levy denn der einzige Mensch auf der Welt, der sich um die Zukunft des Jungen sorgt? «Sie müssen mir helfen», erklärt er Ahmeds Mutter mit großem Ernst, «Ahmed in eine Richtung zu lenken, die sei‐ nem Potenzial eher entspricht.» «Ach, Jack», sagt sie, gestikuliert fahrig mit ihrer Ziga‐ rette und schwankt ein wenig auf dem Hocker – eine weis‐ sagende Sibylle auf ihrem Dreifuß. «Glauben Sie nicht, dass Menschen ihr Potenzial finden, wie Wasser seinen Pegelstand? Ich habe noch nie daran geglaubt, dass Men‐ schen Tonklumpen sind, die geformt werden müssen. Die Form ist in ihrem Inneren angelegt, von Anfang an. Ich habe Ahmed als Gleichen behandelt, seit er elf war. Das war die Zeit, als er so religiös wurde. Ich habe ihn darin be‐ stärkt. In den Wintermonaten habe ich ihn nach dem Un‐ terricht von der Moschee abgeholt. Ich muss sagen, dieser Imam, den er da hat, ist so gut wie nie auf ein Wort heraus‐ gekommen, es war ihm zuwider, mir die Hand zu geben, das habe ich gefühlt. Er hat nie erkennen lassen, dass er mich bekehren wollte. Wenn Ahmed den entgegengesetz‐ ten Weg eingeschlagen hätte, wenn er sich von dem gan‐ zen Gottesrummel ganz abgekehrt hätte, wie ich’s getan 117
habe, dann hätte ich auch das geschehen lassen. Religion ist für mich nur eine Sache der Einstellung. Sie bedeutet, zum Leben ja zu sagen. Man muss darauf vertrauen, dass es einen Sinn gibt, sonst geht man unter. Wenn ich male, muss ich einfach daran glauben, dass Schönheit entstehen wird. Wenn man abstrakt malt, hat man keine hübsche Landschaft oder eine Schale mit Orangen, an die man sich anlehnen kann; alles muss rein aus einem selbst kommen. Man muss sozusagen die Augen zumachen und springen. Man muss ja sagen.» Nachdem sie zu ihrer Zufriedenheit Stellung bezogen hat, beugt sie sich weit zu einem Arbeitstisch hinüber und drückt ihre Zigarette in einem schmutzigen Schraubdeckel aus. Von der Anstrengung spannt sich ihr Hemd über den Brüsten, und ihre Augen treten hervor. Diese glasig‐hellgrü‐ nen Augen richtet sie nun auf ihren Gast und fügt noch hin‐ zu: «Wenn Ahmed so sehr an Gott glaubt, soll Gott sich auch um ihn kümmern.» Dann schwächt sie den gleichgültigen, frivolen Eindruck, den ihre Bemerkung hinterlassen haben könnte, ab und schlägt einen beschwörenden Ton an: «Das Leben eines Menschen ist nichts, was man unter Kontrolle bringen muss. Unsere Atmung, unsere Verdauung, unseren Herzschlag haben wir nicht unter Kontrolle. Das Leben will gelebt werden. Man muss es geschehen lassen.» Die Situation ist Jack unheimlich geworden. Diese Frau hat seine Pein, seine Trostlosigkeit von vier Uhr am Morgen gespürt und leistet ihm nun Beistand, ihre Stimme wirkt wie eine Massage. Bis zu einem bestimmten Punkt mag er es, wenn sich Frauen geistig vor ihm entblößen. Aber er ist schon zu lange hier. Beth wird schon unruhig sein; er hat zu ihr gesagt, er müsse kurz in der Schule vorbeischauen und ein paar Unterlagen holen. Das war nicht gelogen; jetzt 118
hat er die Unterlagen übergeben. «Danke für den Koffein‐ freien», sagt er. «Ich könnte auf der Stelle einschlafen.» «Ich auch. Und ich muss um sechs am Arbeitsplatz sein.» «Um sechs?» «Da fängt im Saint Francis Hospital die Frühschicht an. Ich bin Schwesternhelferin. Krankenschwester wollte ich eigentlich nie recht werden, die ganze Chemie war mir zu viel, und dann das Betriebswirtschaftliche; sie werden genauso wichtigtuerisch wie die Ärzte. Schwesternhelfe‐ rinnen tun heutzutage das, was früher Krankenschwestern getan haben. Ich mag den direkten Kontakt – mich mit den Leuten auf der Ebene ihrer wirklichen Bedürfnisse zu befassen. Auf der Bettpfannenebene. Sie haben doch wohl nicht angenommen, dass ich davon lebe?» Mit ihren tat‐ kräftigen, sachlich manikürten Händen deutet sie auf ihre grellen Wände. «Nein», gibt er zu. Sie schwärmt weiter. «Das gönne ich mir einfach, es ist mein Hobby – meine Seligkeit, wie vor ein paar Jahren die‐ ser Mensch im Fernsehen gesagt hat. Klar, manche finden Käufer, aber das ist mir nicht so wichtig. Das Malen ist mei‐ ne Leidenschaft. Sie haben sicher auch eine Leidenschaft, Jack, oder?» Er weicht zurück; allmählich kommt sie ihm besessen vor, eine Priesterin auf ihrem Dreifuß, mit Schlangen im Haar. «Eigentlich nicht.» Er steigt morgens aus dem Bett, als müsste er eine Bleidecke von sich schieben, und stürmt mit gesenktem Kopf in seinen Tageslauf, der darin besteht, Kindern hinterherzuwinken, die im Begriff sind, in den Morast der Welt zu rutschen. Eine letzte Bemerkung kann er sich doch nicht verkneifen. «Da Sie selbst einen Pflege‐ 119
beruf ausüben, haben Sie da Ahmed nie nahe gelegt, Arzt zu werden? Er strahlt eine gewisse Ruhe aus, er ist ganz da. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen, wenn ich krank wäre.» Ihre Augen werden zu Schlitzen, schlau und – wie seine Mutter zu sagen pflegte, meist über andere Frauen – ge‐ wöhnlich. «Das ist eine langwierige, kostspielige Angele‐ genheit, Jack, so eine Medizinerausbildung. Und die Docs, die ich kenne, stöhnen immer nur über den Papierkram und darüber, dass ihnen die Versicherungen im Nacken sitzen. Früher war das einmal ein Beruf, der einem viel Respekt und solides Geld einbrachte. Aber die Medizin ist nicht mehr das lukrative Gebiet, das sie mal war. Auf die eine oder andere Weise wird sie irgendwann sozialisiert werden, und dann bekommen Ärzte ein Gehalt wie Lehrer.» Jack lacht über diesen kleinen Seitenhieb; sie agiert ver‐ blüffend wendig. «Also kein gutes.» «Lassen Sie ihn seine Leidenschaft entdecken», rät sie dem Berater. «Im Moment sind es die Lastwagen, die Be‐ weglichkeit. ‹Mom›, sagt er zu mir, ‹ich muss die Welt se‐ hen.›» «Nach allem, was ich über die Bestimmungen zum Ge‐ werbeführerschein weiß, kriegt er, bis er einundzwanzig ist, nichts als New Jersey zu sehen.» «Das ist doch schon mal was», sagt sie und gleitet wendig von ihrem Hocker. Die obersten beiden Knöpfe ihres farb‐ verklecksten Arbeiterhemds hat sie offen gelassen, sodass Jack ihre Brüste hüpfen sieht. Diese Frau hat wahrhaftig eine Menge Ja in sich. Doch das Gespräch ist beendet; es ist halb neun. Levy nimmt die drei unerwünschten Collegekataloge mit, durch das Zimmer, in dem der Junge noch immer über seinen 120
Heften sitzt, und bleibt an dem schweren, alten, dunklen, runden Tisch, der ein Erbstück sein muss, stehen. Er er‐ innert ihn an die schweren, deprimierenden Sachen seiner Eltern und Großeltern, in dem Haus, in dem er groß gewor‐ den ist, draußen in der Totowa Road. Von hinten betrachtet, sieht Ahmeds Hals dünn und verletzlich aus, und die oberen Ränder seiner adretten, eng gefurchten Ohren weisen ein paar Sommersprossen auf, die er seiner Mutter stibitzt hat. Levy legt die Kataloge behutsam auf dem Tischrand ab und tippt den Jungen im weißen Hemd auf die Schulter, um sei‐ ne Aufmerksamkeit zu gewinnen. «Ahmed, blättern Sie das hier doch bei Gelegenheit einmal durch und überlegen Sie, ob etwas darin Sie so interessiert, dass Sie’s mit mir erörtern möchten. Noch können Sie sich anders entscheiden.» Der Junge nimmt die Berührung wahr und reagiert. «Hier steht etwas Interessantes, Mr. Levy.» «Nämlich?» Nachdem er die Mutter kennen gelernt hat, fühlt er sich dem Jungen näher und kann leichter auf ihn eingehen. «Eine typische Frage, die sie einem stellen werden.» Levy schaut Ahmed über die Schulter und liest: 55. Sie fahren einen Tanklaster und die Vorderräder beginnen zu schlittern. Was ist die wahrscheinlichste Folge? a. Sie steuern so weit dagegen wie notwendig, um die Kontrolle zu behalten. b. Durch das Schwappen des Tankinhalts wird der Auflieger auf Kurs gehalten. c. Durch das Schwappen des Tankinhalts wird die Zugmaschine auf Kurs gehalten. d. Sie rollen in gerader Linie weiter vorwärts, egal wie stark Sie gegensteuern. 121
«Klingt nach einer ziemlich üblen Situation», räumt Levy ein. «Welche Antwort ist Ihrer Meinung nach die richtige?» Ahmed hat ihn herankommen gespürt, dann die dreiste, vergiftende Berührung seiner Schulter. Nun nimmt er wahr, dass sich seinem Kopf zu nah der Bauch des Mannes be‐ findet und dass davon neben Wärme ein Geruch ausgeht, mehrere Gerüche sogar, ein Gemisch aus Schweiß und Al‐ kohol, Jüdischem und Gottlosem, ein intensiver, unreiner Mief, den das Gespräch mit Ahmeds Mutter hervorgebracht hat, mit dieser Mutter, die ihm peinlich ist, die er zu ver‐ bergen, für sich zu behalten versucht. Die beiden erwachse‐ nen Stimmen nebenan hatten sich widerwärtig flirtend mit‐ einander verflochten; zwei alternde ungläubige Tiere, die sich füreinander erwärmten. Nachdem Mr. Levy mit dem unermüdlichen Gequatsche von Ahmeds Mutter überschüt‐ tet worden ist, mit ihrem unersättlichen Bedürfnis, aller Welt ihr sentimentales Bild von sich aufzudrängen, fühlt er sich nun berechtigt, ihrem Sohn gegenüber den väterlichen Freund zu spielen. Mitleid und Anmaßung haben diese unziemliche, übel riechende Nähe herbeigeführt. Doch der Koran drängt die Gläubigen zu Höflichkeit; dieser Jude, ob‐ wohl ein Eindringling, ist zu Gast in Ahmeds Zelt. «Ich weiß nicht recht, mein Lieber», sagt der Eindring‐ ling. «Mit schwappenden Flüssigkeiten habe ich es eher selten zu tun. Ich tippe mal auf ‹a›, gegensteuern.» In ruhigem Ton, der den Anflug von innerem Triumph kaschiert, entgegnet Ahmed: «Nein, ‹d› ist die richtige Ant‐ wort. Ich hab’s in der Antwortenliste nachgeschlagen, die sie einem mitschicken.» Der Bauch nah an seinem Ohr gibt ein beunruhigtes Rumpeln von sich, und das Gesicht darüber, das Ahmed 122
nicht sieht, grunzt. «Uff. Steuern bringt also nichts. So etwas Ähnliches hat Ihre Mutter gerade auch zu mir gesagt. Ent‐ spannen. Dem eigenen Wohlgefühl vertrauen.» «Nach einer Weile», erklärt ihm Ahmed, «verliert der Laster von selbst an Fahrt.» «Allahs Wille», sagt Mr. Levy; er versucht, witzig zu sein, oder freundlich – sich an den Ort in Ahmed zu versetzen, den dieser, vom Allumfassenden erfüllt, dicht verschlossen hält. Die Grenzen zwischen dem einst ausgedehnten Gelände von Central High und den privaten Liegenschaften der Innenstadt sind zu einer komplizierteren Sache geworden, seit die Sportplätze der Schule sich nicht mehr zaunlos bis zu einer Straße mit viktorianischen Häusern erstrecken, die so unterschiedlich sind und so weit auseinander stehen, dass sie als Villen durchgehen können. Diese Gegend, nord‐ westlich des imposanten Rathauses, war einmal in der Hand der Mittelschicht, die ihr Geld aus den Fabriken längs des Flusses bezog, und lag nur einen kurzen Fußweg von den Mietskasernen der Arbeiterklasse am Rand des damals sehr belebten Geschäftsviertels entfernt. Doch die Häuser, die einmal fast Villen waren, sind zu Behausungen geworden, wie Jack Levy findet. Knapp kalkulierende Bauunterneh‐ mer haben sie in Apartments aufgeteilt und ihre großzügi‐ gen Rasenflächen zerstückelt oder aber sie ganz abgerissen, um Platz für Zeilen von schlichten Mietreihenhäusern zu schaffen. Das Bevölkerungswachstum und vandalistische Übergriffe übten ihren Druck auf die grüne Weite des schul‐ eigenen Geländes aus, bis schließlich in einem Schachzug, der diversen städtischen Komitees schlau und einträglich vorkam, der Footballplatz, der im Frühling zum Trainings‐ 123
feld der Leichtathleten wurde, und der Baseballplatz, auf dessen Vorfeld sich während der Footballsaison die Nach‐ wuchsmannschaften tummelten, auf das fünfzehn Busmi‐ nuten entfernte, angekaufte Land einer alten Farm verlegt wurden, deren Milchkühe die Knochen von Generationen junger Bürger von New Prospect mit Kalzium versorgt hat‐ ten. Aus den Sportplätzen in der Stadt wurden übervölkerte Slums. Sodann wurde die High School mit ihren Nebengebäu‐ den von italienischen Maurern mit Mauern umgeben, die man später noch mit gleißenden Rollen von Stacheldraht krönte. Die Einmauerung erfolgte schubweise, als Re‐ aktion auf Beschwerden, Fälle von Beschädigungen und explosionsartiges Auftreten von Graffiti‐Sprayern. Die verunstaltenden, rostenden Befestigungen ließen unbe‐ absichtigterweise lauschige Plätzchen entstehen, wie zum Beispiel die paar Quadratmeter rissigen Betons längs des halb in die Erde versenkten gelben Klinkerbaus, in dem sich die riesigen, ursprünglich mit Kohle beheizten Kessel befinden, die jedes Schulzimmer mit empört rumorendem Dampf beschicken. An einer gelben Klinkerwand ist ein Basketballkorb befestigt, dessen Reif fast bis in die Ver‐ tikale heruntergebogen wurde von Jungen, die den Stil von NBA‐Profis – Andotzen, Reindippen, Ranhängen – nach‐ ahmen. Zwanzig Schritte weiter, im Hauptgebäude, wird bei warmem Wetter mit Keilen eine Flügeltür offen gehal‐ ten, die mit Stangen gegen Bruch gesichert ist; durch sie ge‐ langt man auf Stahltreppen hinunter ins Souterrain mit den Spinden – die der Jungen am einen Ende, die der Mädchen am anderen und dazwischen die Kantine und die Holz‐ und Metallwerkstätten für die Schüler des berufsvorbereitenden Zweiges. Aus den Rissen des Betonfußbodens erheben sich 124
Fingergras, Wollkraut, Löwenzahn und kleine, wie Kaffee‐ satz schimmernde Trichter der darunter befindlichen Erde, die Ameisen heraufbefördert haben. Dort, wo der Beton be‐ sonders gründlich unterminiert und zerbröselt ist, sind sogar richtige kleine Beete entstanden, auf denen, sobald der Frühling in den Norden von New Jersey einsickert, grünes Unkraut sprießt. In dieser grusigen, unüberwachten Ecke mit dem abge‐ knickten Basketballkorb, die zu nichts taugt als zu ein paar raschen Zügen, einem Schluck oder zum Showdown zwi‐ schen feindlichen Jungen, nimmt Tylenol sich Ahmed vor, der noch seine Laufshorts trägt. Der Bus hat ihn von der fünfzehn Minuten entfernten Aschenbahn auf dem Schul‐ parkplatz abgesetzt. Heute bleiben ihm zehn Minuten, um zu duschen, sich umzuziehen und die zehn Blocks zur Mo‐ schee und zu seinem zweimal in der Woche anberaumten Koranunterricht zu rennen. Er hofft, sich ein paar Schritte sparen zu können, indem er die Flügeltür anpeilt, die an diesem warmen Tag offen stehen dürfte. So lange nach dem regulären Unterricht ist dieser Bereich des Schulgeländes gewöhnlich verlassen, bis auf ein paar Neuntklässler, die den verbogenen Basketballreif hinnehmen, wie er ist, und sich dennoch daran im Einwerfen üben. Heute jedoch hängt dort eine ganze Schar von Schwarzen und Latinos herum, die ihre Gang‐Zugehörigkeit durch das Blau und Rot der Gürtel in ihren weiten, hängenden Hosen, ihrer Stirnbänder und eng am Schädel anliegenden Kopfbedeckungen kund‐ tun, bunt durcheinander, als hätte das milde Wetter für ei‐ nen Waffenstillstand gesorgt. «He, du, Araber.» Breitbreinig steht Tylenol vor ihm, flankiert von mehreren andern in knappen blauen Bizeps‐ Trikots. Ahmed fühlt sich verwundbar, fast nackt in seinen 125
Laufshorts, den gestreiften Socken, federleichten Spikes‐ schuhen und dem ärmellosen Hemd, das auf dem Rücken und vorn schmetterlingförmige dunkle Schweißflecken trägt; für sein Empfinden ist er, mit seinen langen, entblöß‐ ten Gliedmaßen, schön, und Schönheit ist ein Affront für die Grobiane dieser Welt. «Ahmed», verbessert er den andern; still steht er da und spürt, wie ihm nach all den ans Herz gehenden Sprints und Sprüngen die Anstrengung noch heiß aus allen Poren dringt. Leuchtend kommt er sich vor, und Tylenols tief sitzende kleine Augen schrecken bei seinem Anblick zurück. «Hab gehört, du warst in der Kirche, Joryleen singen hö‐ ren. Wie kommt’s?» «Sie hat mich aufgefordert.» «Quatsch. So ein Araber wie du geht da nicht hin.» «Ich war aber da. Die Leute waren freundlich zu mir. Eine Familie hat mir die Hand geschüttelt und mich breit angelächelt.» «Die wussten nichts über dich. Du hast ihnen was vor‐ gemacht.» Ahmed steht mit leicht gespreizten Beinen da, die Füße in den extraleichten Schuhen fest aufgestemmt, um nicht die Balance zu verlieren, wenn Tylenol ihn gleich angreift. Doch dessen gramvoll verkniffene Miene verwandelt sich in ein Grinsen. «Ihr seid hinterher gesehen worden, wie ihr zusammen rumspaziert seid.» «Ja, nach der Kirche. Und?» Jetzt kommt der Angriff ganz bestimmt. Ahmed hat vor, als Finte den Kopf ruckartig nach rechts zu bewegen, dann die rechte Faust in Tylenols weichen Bauch zu stoßen und abrupt das Knie hochzuziehen. «Und gar nichts, sagt sie. Aber ich soll dir was von ihr ausrichten.» 126
«Ach ja?» Die anderen Jungen, die Kreaturen in den blauen Shirts, hören zu. Wenn Tylenol sich erst keuchend auf dem bröseligen Beton krümmt, plant Ahmed, zwischen den verdutzten anderen hindurch in die relative Sicherheit des Schulgebäudes zu flitzen. «Sie hasst dich, sagt sie. Keinen Selbstschuss bist du ihr wert. Weißt du, was das ist, Araber?» «Den Ausdruck habe ich schon mal gehört.» Er fühlt sein Gesicht erstarren wie unter einer warmen Wachsschicht. «Das mit dir und Joryleen ist mir jetzt egal», erklärt Ty‐ lenol und beugt sich näher heran, beinahe liebevoll. «Wir lachen über dich. Besonders, wenn ich sie ficke. Und in letzter Zeit ficken wir viel. Ein Selbstschuss ist, wenn du’s dir selber besorgst, wie’s ihr Araber alle macht. Ihr seid doch alle schwul, Mann.» Das kleine Publikum um sie herum lacht, und Ahmed merkt, dass er rot wird, so heiß fühlt sich sein Gesicht an. Dies macht ihn so wütend, dass er sich blindlings zwischen muskulösen Körpern durchdrängt und auf die Tür zu den Spindräumen zurennt, um endlich zu duschen – und kein Mensch hält ihn auf. Stattdessen pfeifen und johlen sie ihm hinterher, als wäre er ein weißes Mädchen mit hübschen Beinen. Die Moschee, die bescheidenste von mehreren in New Pro‐ spect, liegt in der erste Etage über einem Nagelsalon und einer Scheckauszahlungsstelle, und in den benachbarten Häusern befinden sich weitere kleine Läden, darunter eine Pfandleihe mit verstaubten Schaufenstern, ein Buchanti‐ quariat, ein Schuh‐ und Sandalenmacher, eine chinesische Wäscherei, zu der man ein paar Stufen hinuntersteigt, eine Pizzabäckerei und ein Lebensmittelgeschäft, das auf 127
die Küche des Vorderen Orients spezialisiert ist – getrock‐ nete Linsen und Favabohnen, Hummus und Halva, Fala‐ fel, Couscous und Taboule, die in schlicht bedruckten, für Ahmeds amerikanische Augen seltsam abbildungslosen, in großen Lettern beschrifteten Packungen verstauben. Noch etwa vier Querstraßen weit westwärts längs der Main Street erstreckt sich das so genannte arabische Viertel, einst von den Türken und Syriern begründet, die als Gerber und Färber in den alten Fabriken arbeiteten, doch dorthin wagt sich Ahmed nie vor; für ihn endet die Erkundung seiner islamischen Identität bei der Moschee. Sie hat ihn als Kind aufgenommen; sie hat ihn neu erschaffen. Er öffnet eine abblätternde grüne Tür, an der die Haus‐ nummer 2781 ½ steht, zwischen dem Nagelsalon und der Einrichtung, auf deren großem, mit langen, hellen Jalousien undurchsichtig gemachtem Fenster BARGELD GEGEN SCHECKS – minimale Gebühren zu lesen steht. Eine schma‐ le Treppe führt zum al‐masjid al‐’jami hinauf, dem Ort, wo man sich niederwirft, der Gebetshalle. Die Treppe, die grüne Tür haben Ahmed Angst eingeflößt, als er die ersten Male herkam, vage auf der Suche, nachdem er die schwar‐ zen Jungen seiner Umgebung von ihren Moscheen, ihren Predigern hatte schwatzen hören. Andere Jungen wurden Chorknaben oder schlössen sich den Pfadfindern an – er hatte sich gedacht, vielleicht könne er in dieser Religion den gut aussehenden Vater finden, der in dem Moment, mit dem seine Erinnerungen einsetzen, versehwunden war. Ahmeds flatterhafte Mutter, die nie zur Messe ging und über die Vorschriften ihrer Religion klagte, war so nett, ihn die ersten Male zu dieser Moschee zu fahren. Der große, nun dem Gebet geweihte Raum war einmal ein Tanzstudio, und das Büro des Imam befindet sich in dem Zimmer, in 128
dem die Stepp‐ und Gesellschaftstanzschüler – wenn sie Kinder waren, in Begleitung von Müttern oder Vätern – auf ihre Unterrichtsstunden warteten. Zwar sind die Räumlich‐ keiten im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts gepachtet und umgewandelt worden, aber Ahmed meint, in der stickigen Atmosphäre noch immer den Nachhall von Klaviergeklimper und den Dunst linkischer, profaner An‐ strengungen wahrzunehmen. Die abgetretenen, welligen Dielen, auf denen so viele bemühte Schritte geübt wurden, sind nun mit großen orientalischen Teppichen ausgelegt, einer über dem anderen, die ihrerseits allmählich Anzeichen von Verschleiß aufweisen. Ein Hausmeister, ein verhutzelter älterer Libanese mit krummem Rücken und einem lahmen Bein, saugt die Teppi‐ che und hält das Büro des Imam sowie den Kinderhüteraum in Ordnung, der eingerichtet wurde, um westlichen Baby‐ sitting‐Gepflogenheiten zu genügen; die Fenster jedoch, so hoch, dass sie jeden Einblick, sei es auf Tanzende oder Betende, ausschließen, sind für den verkrüppelten Haus‐ meister unerreichbar und trüb von alten Schmutzschichten. Allenfalls Wolken kann man durch sie wahrnehmen, und auch die nur verschleiert. Selbst am freitäglichen şalāt al‐ Jum’a, an dem vom minbar aus gepredigt wird, ist die Ge‐ betshalle nicht gefüllt, während sich in den blühenden mo‐ dernistischen Moscheen von Harlem und Jersey City neue Immigranten aus Ägypten, Jordanien, Malaysia und den Philippinen drängen. Die Black Muslims von New Prospect und die Anhänger der von ihnen abgespaltenen Nation of Islam halten sich an ihre eigenen Andachtsorte in Lofts und Ladenlokalen. Scheich Rashids Hoffnung, in einem seiner Räume in der zweiten Etage eine kuttah einrichten zu kön‐ nen, in der Scharen von Kindern im Grundschulalter Koran‐ 129
unterricht erteilt werden soll, harrt ihrer Verwirklichung. Vor sieben Jahren hat Ahmed als Elfjähriger gemeinsam mit vielleicht acht anderen Jungen im Alter zwischen neun und dreizehn die ersten Unterrichtstunden genommen, und nun ist er der einzige verbliebene Schüler. Er ist allein mit seinem Lehrer, dessen leise Stimme ohnehin einer kleinen Zuhörerschaft am ehesten gemäß ist. Ahmed fühlt sich bei seinem Meister nicht wirklich wohl, verehrt ihn jedoch als denjenigen, der ihm die Lehren des Koran und der Hadith vermittelt. Seit sieben Jahren kommt Ahmed zweimal in der Woche für anderthalb Stunden hierher, um die Sprache des Koran zu erlernen, doch in der übrigen Zeit mangelt es ihm an Gelegenheit, sich im klassischen Arabisch zu üben. Die ge‐ hobene Sprache, al‐lugha al‐fushā, mit ihren kehligen Silben und den punktierten emphatischen Konsonanten will ihm noch schwer von der Zunge und verwirrt seine Augen: Die kursive Druckschrift mit dem Gesprenkel diakritischer Zei‐ chen erscheint ihm winzig, und um von rechts nach links zu lesen, muss er im Kopf noch immer umschalten. Im Laufe der Lektionen, bei denen sie langsam, unter Wiederholun‐ gen, Rekapitulationen und Erörterungen von Feinheiten, im heiligen Text voranschreiten, hat Scheich Rashid seine Vorliebe für die kürzeren Suren aus der frühen Mekka‐Pe‐ riode offenbart, die poetisch, intensiv und kryptisch sind im Vergleich zu den prosaischen Passagen in der ersten Hälfte des Buches, aus der Zeit, in der sich der Prophet anschick‐ te, Medina mit Gesetzen und weltlichen Ratschlägen zu regieren. Heute sagt der Lehrer: «Wenden wir uns ‹Dem Elefan‐ ten› zu, Sure einhundertfünf.» Da Scheich Rashid nicht das mühsam erworbene klassische Arabisch seines Schülers mit 130
den Lauten einer modernen Umgangssprache, al‐lugha al‐ ‘ámmiyya, wie seinem raschen jemenitischen Dialekt verder‐ ben will, unterrichtet er in seinem fließenden, jedoch recht steifen Englisch, das er mit einem gewissen Widerwillen spricht, sodass sich sein violetter, von dem gepflegten Bart und Schnurrbart gerahmter Mund kräuselt, wie um eine iro‐ nische Distanz zu wahren. «Lies mir die Sure vor», befiehlt er Ahmed, «aber bitte mit etwas rhythmischem Gefühl.» Er schließt die Augen, um besser lauschen zu können; seine gesenkten Lider weisen ein Gespinst von feinen blauröt‐ lichen Adern auf, die einen deutlichen Kontrast zu seinem wachsbleichen Gesicht bilden. Ahmed rezitiert die Anrufungsformel: «Bi‐smi Ilāhi r‐ rahmāni r‐rahīm», und hebt dann, angespannt, weil sein Meister von ihm rhythmisches Gefühl fordert, laut zum ers‐ ten langen Vers der Sure an: «A‐lam tara kayfafa’ala rabbuka bi‐sh ‘fil.» Noch immer mit geschlossenen Augen lehnt sich Scheich Rashid in die Polster seines ausladenden, silber‐ grauen Sessels mit hoher Rückenlehne zurück, in dem er an seinem Schreibtisch sitzt und seine Schüler empfängt, die an der Ecke des Schreibtisches auf einem spartanischen Stuhl aus gepresstem Plastik hocken, wie man ihn im Schnellimbiss eines kleinen Flughafens finden könnte, und nun ermahnt er Ahmed: «S, h: zwei separate Laute – nicht ‹sch›. Sprich sie aus wie in, nun, ‹asshole›. Verzeih, aber das ist das einzige Wort in der Sprache der Teufel, das einem dazu in den Sinn kommt. Und artikuliere die glottalen Ver‐ schlusslaute nicht so übertrieben; das klassische Arabisch ist doch keine afrikanische Klicklautsprache. Versuch, den Laut anmutig zu verwischen, als sei er dir zur zweiten Natur geworden. Das ist er schließlich für Menschen, deren erste Sprache das Arabische ist, und hinlänglich fleißige Schüler 131
sollten es sich aneignen können. Behalte trotz schwieri‐ ger Laute den Rhythmus bei. Betone die letzte Silbe, die Reimsilbe. Denk an die Regel: Betont wird ein langer Vokal zwischen zwei Konsonanten oder ein Konsonant, dem ein kurzer Vokal und zwei Konsonanten folgen. Jetzt bitte wei‐ ter, Ahmed.» Selbst diesen Namen spricht der Meister mit der sanften Schärfe, dem seelenvollen Drall des im Rachen gebildeten Reibelauts aus. «... A‐lamyaj ‘a lkaydahum fi tadlīl –» «Das ‹lil› stärker», sagt Scheich Rashid müde, die Augen noch immer geschlossen, die Lider zittern, als drücke von hinten Gallert dagegen. «Das hört man sogar noch in den kuriosen Übersetzungen des Reverend Rodwell aus dem 19. Jahrhundert: Hat er nicht ihre List misslingen lassen?» Die Augen jetzt halb offen, während er erklärt: «Das heißt, die List der Leute oder Begleiter des Elefanten. Angeblich bezieht sich die Sure auf ein Ereignis, das tatsächlich statt‐ gefunden hat, einen Angriff, den Abraha al‐habashi – der Herrscher übrigens über den Jemen, das lavendelduftende Land meiner untadeligen Vorfahren – auf Mekka unternom‐ men hat. Armeen benötigten damals natürlich Elefanten; Elefanten waren die Sherman‐MI‐Panzer, die armierten Humvees der damaligen Zeit. Hoffen wir einmal, dass sie über eine dickere Haut verfügten als die unseligen Hum‐ vees, mit denen Bushs tapfere Truppen im Irak ausgerüstet sind. Das historische Ereignis soll etwa um die Zeit stattge‐ funden haben, als der Prophet geboren wurde, im Jahr 570 der üblichen Zeitrechnung. Er dürfte darüber von seinen Verwandten gehört haben – nicht von seinen Eltern, denn sein Vater starb, bevor er geboren wurde, und seine Mutter, als er sechs war, aber vielleicht haben sein Großvater, ‘Abd al‐Muttalib, und sein Onkel Abu Tālib im Feuerschein der 132
haschemitischen Lager von dieser legendären Schlacht er‐ zählt. Eine Zeit lang wurde das Kind einer Beduinenamme anvertraut, und manche Gelehrte vermuten, bei ihr könnte er die himmlische Reinheit seiner arabischen Sprache auf‐ gesogen haben.» «Sir, Sie sagen, ‹angeblich›, dabei wird im ersten Vers der Sure gefragt: ‹Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den Leuten des Elefanten verfahren ist?›, als hätten der Prophet und seine Zuhörer es tatsächlich gesehen.» «Mit seinem geistigen Auge», erwidert der Lehrer seuf‐ zend. «Mit seinem geistigen Auge hat der Prophet vieles gesehen. Was die Frage angeht, ob der Angriff durch Abra‐ ha ein historisches Faktum war, sind sich Gelehrte, die an‐ sonsten gleich fromm und gleichermaßen der Überzeugung sind, dass der Koran göttlicher Eingebung entsprungen ist, uneins. Lies mir nun die letzten drei Verse vor, die von be‐ sonderer Tiefe sind. Atme gleichmäßig, möglichst durch die Nase. Ich möchte den Wüstenwind wehen hören.» «Wa arsala ‘alayhim tayran abābīl», intoniert Ahmed und versucht seine Stimme von einem Ort der Feierlichkeit und Schönheit tief in seiner Kehle aufsteigen zu lassen, damit er die heiligen Schwingungen in seinen Nebenhöhlen ver‐ spürt. «Tarmihim b‐hijāratin min sijjīl», fährt er fort und er‐ zeugt, zumindest für seine eigenen Ohren, einen Nachhall wie in einem Gemäuer, «fa‐ja ‘alahum ka‐’asfin makūl.» «Besser», bemerkt Scheich Rashid gleichmütig und winkt mit seiner weichen, weißen Hand ab. Die Finger daran wir‐ ken sehnig und lang, obwohl sein Körper, in einen zart be‐ stickten Kaftan gewandet, insgesamt schmächtig und klein ist. Unter dem Kaftan trägt er die weißen, sirwāl genannten Hosen, und auf seinem adretten Kopf die randlose, weiße, geklöppelte Kappe, die amāna, die ihn als Imam kennzeich‐ 133
net. Seine schwarzen Schuhe, so klein und steif wie die eines Kindes, kommen unter dem Saum des Kaftans hervor, als er die Füße anhebt und auf den gepolsterten Schemel stellt, der mit dem gleichen kostbaren, von tausend schimmern‐ den Silberfäden durchwirkten Stoff überzogen ist wie der thronartige Sessel, von dem aus er lehrt. «Und was wollen diese herrlichen Verse uns sagen?» «Sie sagen uns» – Ahmed errötet vor Beschämung, dass er den heiligen Text mit einer linkischen Umschreibung besudelt, die obendrein weniger auf seiner Lektüre des ehrwürdigen arabischen Wortlauts als auf dem heimlichen Studium englischer Übertragungen fußt –, «sie sagen uns, dass Gott Scharen von Vögeln freiließ, sie gegen Steine aus gebranntem Lehm schleuderte und die Leute des Elefan‐ ten gleichsam zu Grashalmen machte, die gefressen worden sind. Verschlungen.» «Ja, mehr oder weniger», sagt Scheich Rashid. «Die ‹Steine aus gebranntem Lehm›, wie du sie nennst, bildeten vermutlich eine Mauer, die sodann unter dem Ansturm der Vögel einstürzte – ein Bild, das für uns ein wenig rätselhaft bleibt, auch wenn es vermutlich in dem gemeißelten Urtext des Koran, der sich im Paradies befindet, kristallklar auf‐ leuchtet. Ah, das Paradies – man kann es kaum erwarten.» Allmählich schwindet die Röte aus Ahmeds Gesicht, hin‐ terlässt darauf jedoch eine Kruste von Unbehagen. Wieder hat der Scheich verträumt die Augen geschlossen. Als das Schweigen quälend lange anhält, fragt Ahmed: «Sir, wollen Sie damit sagen, dass die Version, die uns zugänglich ist und die von den Kalifen innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Tod des Propheten aufgezeichnet wurde, im Vergleich zu der ewigen Fassung irgendwie unvollkommen ist?» «Das Unvollkommene», erklärt der Lehrer, «muss von 134
uns herrühren – von unserer Unwissenheit, und Mitschrif‐ ten der Worte des Propheten, die von den ersten Schülern und Schreibern angefertigt wurden. Schon der Titel unserer Sure zum Beispiel könnte eine falsche Transkription des Namens von Abrahas königlichem Herm sein, Alfilas; die Endung wurde vergessen, und übrig blieb al‐fil – ‹der Ele‐ fant›. Man nimmt an, dass die Scharen von Vögeln eine Me‐ tapher für eine Art von Munition darstellen, die mit Schleu‐ dern abgeschossen wurde; anderenfalls müssen wir uns mit der ungelenken Vorstellung von geflügelten Geschöpfen abfinden, weniger imposant als der Vogel Rock in Tausend‐ undeine Nacht, jedoch wohl zahlreicher, die ihre Schnäbel in die Backsteine, die bi‐hijāritin, rammen. Nur in diesem Vers, dem vierten, kommen, wie dir aufgefallen sein wird, lange Vokale vor, die nicht das Ende eines Verses bilden. Obwohl der Prophet die Bezeichnung ‹Dichter› verschmäht, sind ihm doch, besonders in diesen frühen Versen aus Mekka, raf‐ finierte Effekte gelungen. Gleichwohl, ja: Es wäre zwar eine Blasphemie, die uns überlieferte Fassung unvollkommen zu nennen, doch aufgrund unseres Unwissens als Sterbliche bedarf sie in hohem Maße der Auslegung, und Auslegungen wechseln im Lauf von vierzehn Jahrhunderten. Zu der prä‐ zisen Bedeutung des Wortes abābīl etwa kann man nach so langer Zeit nur Mutmaßungen anstellen, denn es erscheint nirgendwo sonst. Für solch ein Wort, das nur einmal vor‐ kommt und dessen Bedeutung daher nicht zu erschließen ist, gibt es einen griechischen Begriff, mein Lieber: hapax legomenon. Ein weiteres rätselhaftes Wort in derselben Sure ist sijjīl, obwohl es im heiligen Buch dreimal vorkommt. Der Prophet selbst hat Schwierigkeiten vorhergesehen, und im siebenten Vers der dritte Sure, Die Sippe Imrans›, räumt er ein, dass manche Ausdrücke klar – muhkamāt — sind, andere 135
jedoch nur für Gott verständlich. Auf diese unklaren Stel‐ len, die so genannten mutashābhāt, stürzen sich die Feinde des wahren Glaubens, die ‹böse Ränke schmieden›, wie der Prophet formuliert, während die Verständigen und Gläu‐ bigen sagen: ‹Wir glauben daran. Alles, was in der Schrift steht, stammt von unserm Herrn.› Langweile ich dich, mein Lieber?» «Aber nein», erwidert Ahmed aufrichtig; denn während sein Lehrer leise und ungezwungen weiterspricht, fühlt der Schüler, wie sich eine Kluft in ihm auftut, ein Abgrund, der ihn von dem Problematischen, von dem Unzugänglichen, dem Alten trennt. Nun beugt sich der Scheich in seinem prachtvollen Sessel abrupt vor und setzt zu einer heftigen Tirade an, zu welcher seine langfingrigen Hände entrüstet gestikulieren. «Die atheistischen Gelehrten des Westens behaupten in ihrer sündhaften Verblendung, die Heilige Schrift sei ein Sammelsurium von Fragmenten und Fälschungen, hastig zusammengeschustert und unter dem kindischsten aller möglichen Gesichtspunkte geordnet, dem des schieren Um‐ fangs: die längsten Suren vorweg. Sie fänden darin, behaup‐ ten sie, dunkle und verzwickte Stellen ohne Ende. Zum Beispiel gab es unlängst eine recht amüsante Kontroverse über die Thesen eines deutschen Altorientalisten namens Christoph Luxenberg, der behauptet, viele Unklarheiten des Koran verschwänden, sobald man die Wörter nicht als arabische, sondern als altsyrische liest. Am berühmtesten ist seine These, dass in den großartigen Suren ‹Der Rauch› und ‹Der Berg› die Stellen, die traditionell als ‹großäugige Huris› gelesen werden, in Wirklichkeit ‹weiße Trauben› von ‹kristallener Klarheit› bedeuten. Ähnlich solle man die Stelle in der Sure ‹Der Mensch›, wo junge Knaben mit ver‐ 136
streuten Perlen verglichen werden, vielmehr mit ‹gekühlte Trauben› wiedergeben – was sich auf ein kühlenden Trau‐ bengetränk beziehe, das im Paradies mit erlesener Höflich‐ keit dargeboten wird, während die Verdammten in der Hölle geschmolzenes Metall trinken. Freilich würde das Paradies besonders durch diese neue Lesart doch für viele junge Männer entscheidend weniger attraktiv, befürchte ich. Was sagst du dazu, mein junger Freund?» Mit einer Lebhaftig‐ keit, die fast humorvoll wirkt, beugt sich der Lehrer noch weiter vor und setzt die Füße auf den Boden, sodass seine schwarzen Schuhe plötzlich außer Sicht geraten; sein Mund und seine Lider klappen erwartungsvoll auf. Erschrocken sagt Ahmed: «O nein, mich dürstet nach dem Paradies», obwohl die Kluft in ihm immer weiter auf‐ reißt. «Es ist nicht nur eine Attraktion», setzt Scheich Rashid nach, «nicht nur ein ferner Ort, den man gern besuchen würde, wie Hawaii, sondern etwas, wonach wir uns sehnen, uns brennend sehnen, nicht wahr?» «Ja.» «So sehr, dass uns Ungeduld mit dieser Welt hier erfüllt, mit diesem trüben, trostlosen Schattenbild der nächsten?» «Ja, richtig.» «Und selbst wenn die großäugigen Huris lediglich weiße Trauben wären – vermindert das dein Verlangen nach dem Paradies?» All diese Bilder vom Jenseits wirbeln Ahmed durch den Kopf; dennoch sagt er: «Aber nein, Sir, ganz und gar nicht.» Andere könnten diesen provokativen Launen von Scheich Rashid als satirische Anflüge deuten, ja sogar als gefährliches Liebäugeln mit dem Höllenfeuer, doch Ahmed hat sie immer mäeutisch verstanden, als Mittel, den Schüler zur Preisgabe 137
seiner unumgänglichen Verdüsterungen und Wirrnisse zu reizen und dadurch einer seichten, krass naiven Gläubigkeit Tiefe zu verleihen. Heute aber empfindet Ahmed den mä‐ eutischen Sarkasmus als ätzend, sein Magen reagiert gereizt darauf; er möchte, dass die Unterrichtsstunde endet. «Gut», befindet der Lehrer, und sein Mund zieht sich ruckartig zu einer prallen, fleischigen Knospe zusammen. «In mir hat immer das Empfinden überwogen, dass die Huris Metaphern für eine unvorstellbare Seligkeit sind, für eine keusche, unendliche Seligkeit, und nicht buchstäblich das Versprechen der Kopulation mit leibhaftigen – warmen, runden, unterwürfigen – Frauen. Gewiss ist die Kopulation, wie sie im Allgemeinen erlebt wird, geradezu der Inbegriff des irdisch Vergänglichen, des nichtigen Genusses.» «Aber ...», stößt Ahmed aus. Wieder wird er rot. «Aber –?» «Aber das Paradies muss doch real sein, ein realer Ort.» «Natürlich – was denn sonst, mein Junge? Gleichwohl, um noch kurz weiter auf die Frage der Vollkommenheit des Textes einzugehen: Selbst in den unverfänglicheren Aussagen jener Suren, die dem Wirken des Propheten in Medina zugeordnet werden, meinen die ungläubigen Ge‐ lehrten Peinliches entdecken zu können. Könntest du mir vorlesen – ich weiß, die Schatten werden länger, der Früh‐ lingstag vor unseren Fenstern neigt sich seinem traurigen Ende entgegen –, lies mir doch bitte Vers fünfzehn aus der vierundsechzigsten Sure, ‹Die Übervorteüung›, vor.» Nach umständlichem Blättern findet Ahmed in seiner eselsohrigen Koranausgabe die Seite und müht sich laut durch «yā ayyubā ‘lladhlna āmanū inna min azwāßkum wa awladikum ‘aduwwan Zākum fa ‘hdharūhum, wa in ta’fū wa tasfahü wa tagbfirū fa‐inna ‘llāha gbafūrun rahm». 138
«Gut. Das heißt, immerhin. An deinem Akzent müssen wir natürlich noch arbeiten, Ahmed. Kannst du mir nun kurz sagen, was das heißt?» «Hm, dass man in seinen Frauen und Kindern Feinde hat. Dass man sich vor ihnen hüten soll. Wenn man aber, hm, vergibt und verzeiht und nachsichtig ist, dann verzeiht Gott und ist gnädig.» «Aber deine Frauen, deine Kinder! Was ist denn an ihnen feindlieh? Warum bedürfen sie der Vergebung?» «Nun ja, vielleicht, weil sie einen vom Dschihad ablen‐ ken, von dem Kampf, heiliger zu werden und Gott näher zu kommen.» «Ausgezeichnet! Was für ein wunderbarer Schüler du doch bist, Ahmed! Besser hätte ich es nicht formulieren können. ‹Ta’fū wa tasfahū wa lagbfirū› – ‘afā und safaha, ent‐ halte dich und wende dich ab! Komme ohne diese Frauen von nichthimmlischer Leiblichkeit aus, ohne dieses irdische Gepäck, ohne diese unreinen Geiseln, die dich vom Glück abhalten! Reise mit leichtem Gepäck, geradewegs ins Pa‐ radies! Sag mir, Ahmed, fürchtest du dich davor, ins Paradies einzuziehen?» «O nein, Sir. Warum auch? Ich freue mich darauf, wie alle guten Muslime.» «Ja. Natürlich. So ist es. Wir freuen uns darauf. Du machst mir das Herz froh. Bereite bis zur nächsten Stunde doch bitte ‹Der Barmherzige› und «Die hereinbrechende Katastrophe› vor. Der Nummerierung nach die fünfundfünfzigste und sechs und fünfzigste Sure – ganz praktisch nebeneinander. Ach, und, Ahmed –?» «Ja?» Der Frühlingstag ist vorüber, jenseits der Fenster, durch die man aufwärts, dem Abend entgegenblickt, herrscht ein indigoblauer Himmel, den die bräunlichen Lichter der 139
Innenstadt von New Prospect zu sehr beschmutzen, als dass mehr als eine Hand voll Sterne an ihm zu erkennen wären. Ahmed versucht sich zu erinnern, ob die Arbeitszeit seiner Mutter im Krankenhaus es möglich macht, dass sie zu Hause ist. Sonst steht vielleicht noch ein Becher Joghurt im Kühlschrank, oder er müsste sich an einen Snack von zweifelhafter Reinheit im Shop‐a‐Sec halten. «Ich verlasse mich darauf, dass du nicht noch einmal die Heidenkirche im Zentrum besuchst.» Der Scheich zögert, dann fährt er fort, als zitiere er einen heiligen Text: «Die Unreinen können glanzvoll erscheinen, und die Schlechten sind gewandt darin, Engel nachzuahmen. Halte dich an den Geraden Weg – ihdin ‘s‐sirāta ‘l‐mustaqim. Hüte dich vor jedem, er mag noch so erfreulich sein, der dich von Allahs Reinheit ablenkt.» «Aber die gesamte Welt stellt doch eine solche Ablen‐ kung dar», bekennt Ahmed. «Das muss nicht so sein. Der Prophet selbst war ein welt‐ licher Mann: Kaufmann, Gatte, Vater von Töchtern. Und dennoch hat Gott ihn, als er jenseits der vierzig war, zum Ge‐ fäß erkoren, um seine endgültigen und höchsten Lehren zu verkünden.» Da beginnt das Handy, das tief in des Scheichs Schichten von Gewändern nistet, auf einmal trillernd und unbestimmt melodisch zu quengeln, und Ahmed nutzt den Moment, um in den Abend hinauszuflüchten, hinaus in die Welt mit ihren heimwärts drängenden Scheinwerferherden, ihren nach gesottenen Speisen duftenden Straßen und den Ästen voll leuchtender Kätzchen über ihm. So sentimental sie sind und sooft Jack Levy auch schon an ihnen teilgenommen hat, die Abgangsfeiern an Central High rühren ihn jedes Mal fast zu Tränen. Stets beginnen 140
sie mit «Pomp and Circumstance» und dem feierlichen Ein‐ zug der Schüler des Abschlussjahrgangs in ihren wehenden schwarzen Talaren und besorgniserregend wacklig auf‐ gesetzten quadratischen Kopfbedeckungen und enden mit deren flotter – unter Grinsen, High Fives, und Begrüßungen der Eltern – verlaufenden Auszug durch den Mittelgang zu den Klängen von «Colonel Bogey’s March» und «When the Saints Go Marchin’ In». Selbst die aufsässigsten und wider‐ borstigsten Schüler, selbst solche, auf deren Kopfbedeckun‐ gen in Lettern aus weißem Klebeband ENDLICH FREI prangt oder die in ihre Huttroddel frech einen Strauß von Papierblumen eingeflochten haben, wirken wie gezähmt von dem feierlichen, finalen Zauber der Zeremonie und dem abgenutzten Pathos der Reden. Leistet einen Beitrag zu Amerika, bekommen sie zu hören. Nehmt euren Platz in den Armeen des demokratischen Unternehmergeistes ein. Auch wenn ihr nach Erfolg strebt, seid freundlich zu euren Mitmenschen. Behaltet das Gemeinwohl im Sinn, trotz aller Skandale um ungesetzliche Geschäftspraktiken und politische Korruption, mit denen uns die Medien täg‐ lich entmutigen und anwidern. Nun beginnt das wirkliche Leben, bekommen sie zu hören: der Garten Eden der Schu‐ le hat seine Pforte geschlossen. Ein Garten, überlegt Levy, des schablonenhaften, geflissentlich ignorierten Unterrichts, jedoch gleichwohl ein Garten, ein von Unkraut überwucher‐ ter Acker der Hoffnungen, eine struppige, schlecht bestellte Plantage dessen, was dieses Land gern sein möchte. Sieh über die bewaffneten Polizisten hinweg, die hier und dort hinten im Auditorium Posten bezogen haben, und über die Metalldetektoren an jedem Eingang, der nicht verrammelt und verriegelt ist. Achte vielmehr auf die Schulabgänger, auf den lächelnden Ernst, den sie an den Tag legen, auf den 141
loyalen Beifall, der keinem von ihnen vorenthalten wird, auch nicht dem Geringsten und Unscheinbarsten unter ihnen, auf ihren kurzen Gang über die Bühne, unter dem Proszenium, das an ein altes Kino gemahnt, und zwischen Blumen‐ und Farnarrangements hindurch, um ihre Urkun‐ den aus der Hand des aalglatten Nat Jeffcrson entgegen‐ zunehmen, dem das Schulsystem von New Prospect unter‐ steht, während die amtierende Schulleiterin, die winzige Irene Tsoutsouros, ihre Namen ins Mikro singt. Der Ver‐ schiedenartigkeit der Namen entspricht diejenige der Fuß‐ bekleidungen, die unter den wippenden Talarsäumen zum Vorschein kommen: In ausgelatschten Nikes schlendern sie nach vorne, trippeln auf Stilettabsätzen vorbei oder schlur‐ fen in schlappen Sandalen dahin. Es verschnürt Jack Levy die Kehle. Diese Gefügig‐ keit menschlicher Geschöpfe, ihre ewige Bereitschaft zu gefallen. Europas Juden, die sich in ihrer besten Kleidung eingefunden haben, um sich in die Todeslager abführen zu lassen. Die Schüler und Schülerinnen hier, die, plötzlich zu Männern und Frauen geworden, Nat Jeffersons routinierte Hand schütteln, etwas, was sie noch nie getan haben und nie wieder tun werden. Der breitschultrige schwarze Ver‐ waltungsmann – ein meisterlicher Surfer auf den Wellen der Lokalpolitik, in der die Wählermacht von den Weißen auf die Schwarzen und nun auf die Latinos übergegangen ist – frischt sein Lächeln für jedes einzelne Schulabgänger‐ gesicht auf und begegnet, wie Jack bemerkt, mit besonderer Huld den Weißen, die an dieser Schule eine klare Minder‐ heit bilden. Danke, dass du uns die Stange gehalten hast, besagt sein lang anhaltender Händedruck. Wir werden dafür sor‐ gen, dass Amerika/New Prospect/Central High funktioniert. Auf halber Strecke durch ihre scheinbar endlose Liste verliest 142
Irene «Ahmed Ashmawy Mulloy». Der Junge bewegt sich anmutig, trotz seiner Größe nicht linkisch, erfüllt seine Rol‐ le, ohne sich zur Schau zu stellen – es ist unter seiner Wür‐ de, sich winkend und kichernd für Anhänger im Publikum in Positur zu werfen, wie einige andere es tun. Er hat nicht viele Anhänger – der Applaus für ihn fällt spärlich aus. Ver‐ stohlen kämpft Levy mit geballter Hand gegen die Tränen an, die ihn zu beiden Seiten der Nase zu kitzeln beginnen. Der Segen wird von einem katholischen Priester und, zur Beschwichtigung der muslimischen Gemeinschaft, von einem Imam gesprochen. Ein Rabbi und ein presbyteria‐ nischer Geistlicher haben bereits Bittgebete vorgetragen, beide übertrieben lang für Levys Geschmack. Der Imam, in einem Kaftan und einem engen, blendend weißen Turban, steht am Vortragspult und quengelt einen Zopf arabischer Laute hervor, als stäche er mit einem Dolch auf das stumme Publikum ein. Dann spricht er auf Englisch weiter; viel‐ leicht trägt er nun die Übersetzung vor: «Im Namen dessen, der über das Verborgene wie über das Sichtbare Bescheid weiß! Des Erhabenen! Des Höchsten! Gott ist der Schöpfer aller Dinge! Er ist der Eine! der Allgewaltige! Er hat vom Himmel Wasser herabkommen lassen, und da strömten gan‐ ze Wadis mit Wasser, so viel ihnen zugemessen war. Und die Flut trug an der Oberfläche Schaum. Und bei dem, was man im Feuer erhitzt in der Absicht, Schmuck oder Gerät zu er‐ halten, gibt es Schaum, der ihm ähnlich ist. Was den Schaum betrifft, so vergeht er als Abfall. Was aber das betrifft, was für die Menschen von Nutzen ist, so bleibt es in der Erde. Zu denen, die heute von der Schule abgehen, sagen wir: Er‐ hebt euch über den Schaum, den Abfall, und erweist euch als nützlieh auf Erden. Denjenigen, die der gerade Weg in Gefahr führt, rufen wir die Worte des Propheten zu: ‹Und 143
sagt nicht von denen, die um der Sache Gottes willen getö‐ tet werden, sie seien tot. Sie sind vielmehr lebendig! ›» Levy betrachtet den Imam genau – ein schmächtiger, makellos gewandeter Mann, der ein Glaubensgebäude verkörpert, das wenige Jahre zuvor unter anderem den Tod Hunderter von Pendlern aus dem Norden New Jerseys herbeigeführt hat. An den höheren Aussichtspunkten in New Prospect ver‐ sammelten sich damals Menschenmengen, um den Rauch aus den beiden Türmen des World Trade Center quellen und nach Brooklyn driften zu sehen, die einzige Wolke an jenem klaren Tag. Als Levy an das umkämpfte Israel und an die jammervoll wenigen verbliebenen Synagogen Europas denkt, die bei Tag und bei Nacht von Polizisten bewacht werden müssen, schwindet sein anfänglich guter Wille dem Imam gegenüber dahin: Dieser Mann im weißen Gewand steckt wie eine Gräte im Schlund der Feier. Levy stört sich nicht daran, dass Hochwürden Corcoran den Segen des drei‐ faltigen Gottes in den Deckel der Zeremonie nagelt; seit Generationen haben sich Juden und Iren die Städte Ame‐ rikas geteilt, und nicht Jack Levys Generation, sondern die seines Vaters und Großvaters musste erdulden, als «Chris‐ tusmörder» geschmäht zu werden. «So, Mann, geschafft», sagt der Lehrer rechts von Jack Levy, Adam Bronson, ein Immigrant aus Barbados, der die zehnten und elften Klassen in kaufmännischem Rechnen unterrichtet. «Ich danke Gott jedes Mal, wenn das Schuljahr ohne Morde abgelaufen ist.» «Du siehst zu viel fern», sagt Jack zu ihm. «Wir sind kein Columbine; das war Colorado – der Wilde Westen. Cen‐ tral ist jetzt sicherer als zu der Zeit, als ich hier zur Schule gegangen bin. Damals hatten die schwarzen Gangs selbst‐ gebastelte Knarren, und es gab weder Sicherheitsschleu‐ 144
sen noch Sicherheitspersonal. Die Kollegen, die auf den Gängen Aufsicht führten, sollten für Sicherheit sorgen. Die hatten Glück, wenn sie nicht die Treppe hinuntergestoßen wurden.» «Als ich hier ankam, könnt ich’s erst nicht glauben», er‐ zählt ihm Adam in seinem schwer verständlichen Akzent, in den Klängen einer sanften Insel, mit melodischen Steel‐ drum‐Salven im Hintergrund, «auf den Fluren und in der Kantine Polizisten! In Barbados haben wir uns zerfledderte Bücher geteilt und Notizpapier auf beiden Seiten voll ge‐ schrieben, jeden kleinsten Zettel, so kostbar war Bildung für uns. Nicht im Traum hätten wir daran gedacht, Mist zu bauen. In dieser grandiosen Burg hier braucht ihr Wärter wie in einem Knast, und die Schüler benehmen sich so destruk‐ tiv, wie sie nur können. Diesen amerikanischen Hass auf Anstand und Ordnung begreife ich einfach nicht.» «Ich verstehe ihn als Freiheitsliebe.» «Meine Schüler glauben nicht, dass sie je im Kopf wer‐ den rechnen müssen. Der Computer wird das alles für sie erledigen, bilden sie sich ein. Sie meinen, der menschliche Verstand ist von jetzt an auf Dauerurlaub und nur noch dazu da, Unterhaltung aufzunehmen.» Der Lehrkörper schließt sich in Zweierreihen der Pro‐ zession an, und Adam tritt vor Levy neben einen Lehrer, der auf der gegenüberliegenden Seite gesessen hat, in den Mittelgang hinaus, wendet sich dann aber um und setzt das Gespräch fort. «Sag mir eins, Jack. Es gibt da was, wonach ich keinen fragen mag, weil’s mir zu peinlich ist. Wer ist eigentlich dieser J. Lo? Von dem reden meine Schüler an‐ dauernd.» «Eine Frau. Eine Sängerin, Schauspielerin», ruft Jack nach vorn. «Latina, sehr gut gebaut, hat offenbar einen tol‐ 145
len Hintern. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Es kommt nun mal eine Zeit im Leben», erklärt er, um auf den Mann aus Barbados nicht schroff zu wirken, «in der einem Pro‐ minente nicht mehr so viel bedeuten wie früher.» Der Lehrer, mit dem er in der Auszugsprozession geht, ist, sieht er erst jetzt, eine Lehrerin. Miss Mackenzie, Eng‐ lisch, Oberstufe, Vorname Caroline. Groß, kantiges Kinn, Fitnessfreak. Sie trägt ihr grau werdendes Haar in einem altmodischen Pagenschnitt, Pony bis an die Augenbrauen. «Carrie», sagt Jack freundlich, «was muss ich da hören? Du gibst deinen Schülern Sexus zum Lesen auf?» Sie lebt mit einer Frau zusammen, oben in Paramus. Levy glaubt, dass er sie aufziehen kann wie einen Mann. «Mach’s halblang, Jack», sagt sie, ohne zu lächeln. «Es war ein Teil seiner Memoiren, das Buch mit Big Sur im Titel. Und es stand auf der freiwilligen Leseliste, niemand musste es lesen.» «Und die, die es gelesen haben, was konnten die damit anfangen?» «Ach», sagt sie mit trotz des Schwatzens und Füßeschur‐ rens und der Auszugsmusik mit leiser, aber langsam feind‐ selig werdender Stimme, «denen macht das nichts. Die kennen das alles von zu Hause.» Die zusammengewürfelte Menschenmenge dieser Gala‐ veranstaltung – Schulabgänger, Lehrer, Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, Nichten und Neffen – drängt aus dem Auditorium in die Eingangshalle, wo die Sporttrophäen Wache stehen, die magische Vergangenheit, in langen Glas‐ vitrinen versiegelt wie der Schatz eines toten Pharao, dann im Triumphzug durch das Hauptportal, dessen weit geöff‐ nete Flügeltüren den Sonnenschein eines frühen Junitags einlassen und die staubige Aussicht auf den Schuttsee frei‐ 146
geben, und die imposante Eingangstreppe hinunter. Diese prächtigen Granitstufen führten einst auf eine weitläufige grüne Rasenfläche mit symmetrisch angeordneten Büschen; doch die Bedürfnisse des Automobils knabberten erst an diesem Parkstück und verschlangen es dann im Zuge der Erweiterung der Tilden Avenue (trotzig so umbenannt von einem Gemeinderat mit solider demokratischer Mehrheit, nachdem 1877 eine von Republikanern dominierte Wahl‐ kommission das Präsidentenamt an sich gerissen hatte, in stillschweigendem Einverständnis mit den Südstaaten, de‐ nen daran gelegen war, die Protektion ihrer Negerbevölke‐ rung durch den Norden loszuwerden), sodass die unterste Gruppe von Stufen nun direkt auf ein Trottoir führt, das zur Asphaltstraße hin einen schmalen Grünstreifen aufweist, der freilich nur für ein paar Wochen grünt, bevor ihn die glühende Sommerhitze und unzählige achtlose Schritte in eine flache Matte toten Grases verwandeln. Die Asphalt‐ fläche der Avenue jenseits des Bordsteins, so wellig wie ein hastig gemachtes Bett mit ihren immer von neuem ge‐ flickten Schlaglöchern und den Teermulden, die unter dem Gewicht der ständig darüber hinwegdonnernden Autos und Laster entstanden sind, ist für diese Stunde mit oran‐ gefarben gestreiften Barrikaden für den Verkehr gesperrt worden, damit die zahlreichen Besucher der Abgangsfeier irgendwo umherstehen, sich selbst beglückwünschen und auf die soeben entlassenen Schulabgänger warten können, die in ihren Talaren noch einmal durch das Gebäude ziehen, um endgültig Abschied zu nehmen. Als Jack Levy durch die Menge streift – denn es drängt ihn nicht, nach Hause zu gehen und sich dem Beginn eines Sommers in Gesellschaft seiner Frau zu stellen und miss‐ launig nach seinem lustigen Dialog mit Carrie Mackenzie 147
spürend, dass er mit der «Anything‐goes»‐Gesellschaft nicht mithalten kann, stößt er auf Teresa Mulloy; ihr Gesicht ist unter den Sommersprossen vor Hitze rosig, und sie trägt auf der verknitterten Jacke ihres hellen Leinenkostüms eine bereits welke Orchidee. Jack begrüßt sie förmlich: «Herz‐ lichen Glückwunsch, Ms. Mulloy.» «Hallo!», anwortet sie überlaut; sie nimmt das Treffen zum Anlass, flüchtig Jacks Arm zu berühren, wie um die knospende Intimität ihrer letzten Begegnung wiederherzu‐ stellen. Atemlos grapscht sie nach den ersten Worten, die ihr in den Sinn kommen: «Sie müssen doch einen herrlichen Sommer vor sich haben!» Die Idee verdutzt ihn. «Ach, immer das Gleiche», sagt er. «Wir unternehmen nicht viel; Beth hat nur ein paar Wochen Urlaub von der Bibliothek. Ich versuche, mit Nachhilfe‐ stunden ein bisschen Geld hinzuzuverdienen. Wir haben einen Sohn in New Mexico, und gewöhnlich besuchen wir ihn im August für eine Woche; es ist heiß dort, aber nicht so schwül wie hier. Beth hat eine Schwester in Washington, aber da ist es noch schwüler, und darum ist sie früher oft zu uns heraufgekommen, und wir sind für eine Woche ir‐ gendwohin in die Berge gefahren, meistens in die Nähe der Delaware‐Schlucht. Aber jetzt hat sie teuflisch viel zu tun, denn es gibt ja einen Ausnahmezustand nach dem anderen, da wird in diesem Sommer wohl nicht viel ...» Halt endlich den Mund, Levy. Reit es nicht zu Tode. War vielleicht ganz gut, dass ihm das «Wir» entschlüpft ist, damit die Frau hier nicht vergisst, dass er verheiratet ist. Er stellt sie sich tatsächlich zusammen vor, die beiden hellhäutigen Frauen mit der Ten‐ denz zum Rundlichwerden, obwohl Beth auf diesem Weg längst abstoßend weiter vorangekommen ist. «Und Sie? Sie und Ahmed, meine ich.» 148
Sie ist ziemlich bieder gekleidet – eierschalfarbenes Lei‐ nenkostüm über einer weißen Spitzenbluse –, jedoch mit farbigen Tupfern, die eine freie Seele signalisieren, eine Künstlerin, die auch Mutter ist. Klunker von Türkisringen beschweren ihre Hände mit den kurzen Fingernägeln, diese festen, tatkräftigen Hände, und an ihren Armen, an denen in der Sonne ein weißlicher Flaum aufschimmert, klirren al‐ lerlei Goldreifen und Korallkettchen. Am verblüffendsten aber ist das große Seidentuch mit einem Muster aus ecki‐ gen, abstrakten Formen und klaffenden Kreisen, das, unter dem Kinn geknotet, ihr Haar bis auf ein paar feine Strähn‐ chen bedeckt, die dort hervorlugen, wo das Tuch an der Wölbung ihrer irisch‐weißen Stirn abschließt. Terry verfolgt Jacks Blicke, sieht, dass sie bei ihrem flott‐biederen Kopf‐ tuch hängen bleiben, und lacht auf. «Ahmed wollte, dass ich das aufsetze. Er hat gesagt, er wünscht sich zum Schul‐ abschluss nur eins – dass seine Mutter nicht wie eine Hure aussieht.» «Du meine Güte! Aber seltsamerweise steht es Ihnen gut. Und die Orchidee war auch seine Idee?» «Eigentlich nicht. Die anderen Jungen schenken sie ihren Müttern, da wäre es ihm peinlich gewesen, aus der Reihe zu tanzen. Er hat eben auch etwas Konformistisches.» Ihr Gesicht mit den vortretenden grünen Augen, so hell wie Glasscherben am Strand, scheint ihn unter dem Kopf‐ tuch um eine Ecke herum anzusehen; die Verhüllung stellt eine Provokation dar, da sie eine letztlich zu erlangende, atemberaubende Nacktheit verheißt. Das Kopftuch zeugt von Unterwerfung. Im Gedränge nähert er sieh ihr, als wol‐ le er sie beschützen. Teresa sagt: «Ich habe noch ein paar andere Mütter mit Kopftüchern entdeckt, Black‐Muslim‐ Frauen – dramatische Gestalten, so ganz in Weiß –, und auch 149
unter den Schulabgängern ein paar Türkentöchter – zu mei‐ ner Mädchenzeit nannten wir die dunkelhäutigen Männer in den Fabriken ‹Türken›, aber das waren sie natürlich nicht alle. Die ganze Zeit dachte ich: Ich bin die mit den rötesten Haaren unter dem Fummel. Die Nonnen wären entzückt. Die haben immer gesagt, ich würde mit meinen Reizen prun‐ ken. Damals habe ich mich immer gefragt, was eigentlich ‹Reize› sind und wie man damit prunken kann. Sie waren einfach da, schien mir.» Genau wie Jack Levy neigt sie in dieser aufgekratzten Menge dazu, unkontrolliert zu plappern. Ruhig und auf‐ richtig sagt er: «Es war lieb von Ihnen, auf Ahmeds Wunsch einzugehen.» Das schalkhafte Funkeln in ihrem Mienenspiel erlischt. «Eigentlich hat er in all den Jahren so wenig von mir ge‐ fordert, und nun geht er fort. Er kam mir immer so allein vor. Diese ganze Allah‐Kiste hat er sich allein angeeignet, ohne jede Hilfe von mir. Im Gegenteil sogar – ich hab’s ihm übel genommen, dass ihm ein Vater so wichtig war, der keinen Furz auf ihn gab. Auf uns. Aber vermutlich braucht ein Junge eben einen Vater, und wenn er keinen hat, erfin‐ det er sich einen. Na, was sagen Sie zu meinem Freud‐Ver‐ schnitt?» Weiß sie denn, was sie ihm antut, indem sie ihn dazu bringt, sie zu begehren? Beth käme nie auf die Idee, Freud ins Spiel zu bringen. Freud, der ein ganzes Jahrhundert dazu ermutigt hat, getrost weiterzuvögeln. «Das war ein erfreu‐ licher Anblick, Ahmed in seinem Talar dort oben auf dem Podium. Es tut mir leid, dass ich Ihren Sohn erst so spät ein wenig kennen gelernt habe. Er bedeutet mir etwas, obwohl ich den Verdacht habe, dass das einseitig ist.» «Da irren Sie sich, Jack – er weiß es sehr wohl zu schät‐ 150
zen, dass Sie seinen Blickwinkel erweitern wollen. Vielleicht gelingt es ihm später allein. Vorläufig brummt er mit Vollgas auf diesen Lkw‐Führerschein zu. Die schriftliche Prüfung hat er bestanden, und den Termin für die körperliche Taug‐ lichkeitsprüfung hat er schon; für Passaic County findet sie drüben in Wayne statt. Da stellen sie fest, ob einer nicht far‐ benblind ist und ob sein peripheres Sehen ausreicht. Ahmed hat schöne Augen, das hab ich schon immer gefunden. Tin‐ tenaugen. Die seines Vaters waren eigenartigerweise heller, so irgendwie lebkuchenfarben. Ich sage ‹eigenartigerweise›, weil man doch annehmen sollte, dass Omar dunklere hatte, wo meine ja so hell sind.» «Ein Anflug von Ihrem Grün habe ich auch in Ahmeds Augen entdeckt.» Sie überhört die Schmeichelei und redet einfach weiter: «Allerdings sieht er nicht auf beiden Augen gleich gut, nicht zwanzig Prozent zu zwanzig Prozent, eher so was wie zwanzig zu dreißig, aber er war immer zu eitel, eine Brille zu tragen. Man sollte ja annehmen, dass er bei all seiner Frömmigkeit nicht eitel sein kann, aber das ist er. Vielleicht ist’s ja auch gar keine Eitelkeit, sondern er meint, wenn Allah wollte, dass man eine Brille trägt, würde er einem eine geben. Beim Baseballspielen hatte er Schwierigkeiten, den Ball zu sehen; deshalb hat er auch als Frühjahrssport mit dem Laufen be‐ gonnen.» Dieser Schwall von Details zu einem Jungen, der sich in Jack Levys Augen nicht sehr von den Hunderten unterschei‐ det, mit denen er sich jedes Jahr abgibt, verstärkt sein Ge‐ fühl, dass diese Frau ihn wiedersehen möchte. «Ich nehme also an», sagt er, «dass er die Collegeunterlagen nicht mehr braucht, die ich vor einem Monat vorbeigebracht habe.» «Hoffentlich findet er sie noch – sein Zimmer ist ein Sau‐ 151
stall, abgesehen von der Ecke, in der er betet. Er hätte sie Ihnen längst zurückgeben sollen, Jack.» «No problema, señora.» Er nimmt wahr, dass in der fröh‐ lichen, drängelnden, jedoch bereits abnehmenden Men‐ schenmenge andere zu ihnen beiden herschauen und ihnen ein wenig Raum lassen, weil sie spüren, dass sich da etwas anspinnt. Er fühlt sich geradezu schuldig an Terrys Über‐ schwang, während er lediglich bemüht ist, sein Lächeln dem ihres runden, lichten, mit Sommersprossen bestirnten Gesichts anzupassen. Der Schatten einer Wolke wischt den Sonnenschein fort und wirft einen stumpfen Schleier über die Szene – den Schuttsee, die für den Verkehr gesperrte Straße, die tapfer leuchtend gekleidete Rotte von Eltern und Verwandten, die bürgerstolze Fassade der Central High School mit ihrem säulengeschmückten Portal und ihren ver‐ gitterten Fenstern, die in ihrer eindrucksvollen Höhe wie der Prospekt einer Opernbühne wirkt, vor dem der Sänger und die Sängerin bei ihrem Duett zu Zwergen werden. «Das war sehr ungehörig von Ahmed», sagt dessen Mut‐ ter, «sie Ihnen nicht in der Schule zurückzugeben. Aber jetzt ist es dafür zu spät.» «Wie gesagt, kein Problem. Ich kann doch irgendwann einmal vorbeikommen und sie abholen?», fragt er. «Ich würde Sie vorher anrufen, damit ich weiß, ob Sie zu Hause sind.» Als Junge, der in der damals bis auf die Bauernhäuser noch fast ländlichen Totowa Road wohnte, hat sich Jack manchmal im Winter zur Mutprobe auf das Eis eines mo‐ rastigen Teichs hinausgewagt, an dem sein Schulweg vor‐ beiführte und der längst zugebaut ist. Das Wasser war nicht so tief, dass man darin hätte ertrinken können – Teichkol‐ ben und grasbewachsene Inselchen verrieten einem, wie 152
gering die Wassertiefe war; doch wenn er einbräche, würden seine guten ledernen Schulschuhe nass und schmutzig wer‐ den, vielleicht gar unbrauchbar, und in einer Familie, die so knapp bei Kasse war wie die seine, wäre das eine Ka‐ tastrophe gewesen. Am silbrigen Rand der Wolke brechen Sonnenstrahlen hervor, bringen Terrys seidenes Kopftuch zum Schimmern, und bebend horcht Jack auf das Knacken des Eises.
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III Das Telefon läutet. Beth kämpft sich aus ihrem Lieblings‐ sessel hervor – einem Schaukelstuhl Modell La‐Z‐Boy, mit mittelbraunem, auf genarbtes Rindsleder getrimmtem Vinyl bezogen, gepolsterte Fußstütze per Hebel zu verstellen –, in dem sie von einem Teller Hafer‐Rosinen‐Cookies (kalorien‐ arm im Vergleich zu Schokochip‐Cookies oder zu denen mit Cremefüllung) gegessen und sich All My Children angesehen hat, bis sie um zwei, wenn As the World Turns beginnt, um‐ schalten wird. Sie hat schon oft daran gedacht, eine längere Schnur anzuschließen, damit sie das Telefon an den Tagen, an denen sie nicht in der Clifton‐Bibliothek arbeitet, zu ih‐ rem Sessel mitnehmen und für die Stunden, die sie da ver‐ bringt, auf den Boden stellen kann; aber sie vergisst immer, Jack zu sagen, er solle im Telefonladen, der weit außerhalb liegt, im Einkaufszentrum an der Route 23, die Verlänge‐ rungsschnur besorgen. Zu ihrer Mädchenzeit rief man ein‐ fach AT&T an, dann schickten sie einem einen Mann in grauer Uniform (oder war sie grün?) und schwarzen Schu‐ hen, der für ein paar Dollars alles regelte. AT&T war eine Monopolgesellschaft, und Beth weiß, dass das eine schlech‐ te Sache war – Ferngespräche wurden einem nach Minuten 155
berechnet, und heute kann sie stundenlang mit Markie oder Herm sprechen, und es kostet so gut wie nichts, nur repariert einem heute keiner mehr ein Telefon. Man wirft sie weg, genau wie alte Computer und die Zeitung vom Vortag. Außerdem will sie sich eigentlich das Leben nicht noch leichter machen, als es bereits ist; jedes bisschen Bewegung hat sie bitter nötig. Als sie noch jünger war, aber schon verhei‐ ratet, war sie den ganzen Vormittag über mit Bettenmachen, Staubsaugen und Geschirreinräumen beschäftigt und auf Trab, aber sie hat darin nun so viel Erfahrung, dass sie diese Dinge fast im Schlaferledigen kann; wie eine Traumwand‐ lerin bewegt sie sich durch einen Raum, macht die Betten und räumt auf, obwohl sie, das stimmt schon, nicht mehr so gründlich saugt wie früher – die neuen Geräte sind leichter und sollen ja sogar effizienter sein, das weiß sie wohl, aber nie hat sie die richtige Aufsteckbürste zur Hand, und dann ist das Fach dafür so schwierig aufzukriegen, findet sie; die Teile zusammenzusetzen, ist das reinste Puzzle im Vergleich zu den Stabstaubsaugern, die man einfach anschaltete und die auf dem Teppich breite gesaugte Bahnen gesträubten Flors hinterließen wie ein Rasenmäher auf dem Rasen und die vorne darauf dieses niedliche Lämpchen hatten, wie ein Schneepflug bei Dunkelheit, so heimelig. Die Hausarbeit ging ihr von der Hand wie nichts. Freilich musste sie da auch noch weniger Gewicht umherbewegen – das ist nun mal das Kreuz, das ihr auferlegt ist, ihre Kasteiung, wie die frommen Leute früher sagten. Viele ihrer Kollegen an der Clifton‐Bibliothek und die jungen Leute, die dort ein und aus gehen, haben Handys in der Tasche oder am Gürtel, aber Jack sagt, das ist Ge~ schäftemacherei, die Kosten läppern sich zusammen, wie beim Kabelfernsehen, und das wollte sie haben, nicht er. 156
Die so genannte elektronische Revolution, behauptet Jack, hat jede Menge Tricks mit sich gebracht, uns durch monat‐ liche Beiträge für Dienstleistungen, die wir nicht benötigen, schmerzlos Geld aus der Tasche zu ziehen, aber mit dem Ka‐ belfernsehen ist das Bild ja wirklich klarer geworden – keine Geisterschatten mehr, kein Wackeln, kein Flimmern –, und die Programmauswahl ist unvergleichlich größer; selbst Jack schaltet an manchen Abenden den History Channel ein. Er behauptet zwar, Bücher seien besser, liest aber fast nie eines zu Ende. Zu der Handyfrage hat er doch glatt zu ihr gesagt, er will nicht ständig erreichbar sein, schon gar nicht während der Beratungsstunden – wenn sie einen medizi‐ nischen Notfall hat, soll sie 911 anrufen, nicht ihn. Nicht gerade sehr sensibel. In gewisser Hinsicht würde es ihm nichts ausmachen, wenn sie tot wäre, das weiß sie; er hätte dann hundertfünfundzwanzig Kilo weniger zu schultern. Andererseits würde er sie nie verlassen, das weiß sie auch: Das hängt mit seinem jüdischen Verantwortungsgefühl zu‐ sammen und mit einer sentimentalen Loyalität, die eben‐ falls ein jüdischer Zug sein muss. Wenn man zweitausend Jahre lang verfolgt und geächtet wurde, dann ist man so ver‐ nünftig, seinen Nächsten gegenüber loyal zu bleiben, denn dadurch erhöht man seine Überlebenschancen. Sie sind etwas Besonderes, da hat die Bibel sich nicht ge‐ täuscht. Bei der Arbeit, in der Bibliothek, sind immer sie es, von denen die Witze kommen, aber auch die Ideen. Als sie Jack an der Rutgers University kennen lernte, kam sie sich wie elektrisiert vor; so etwas hatte sie zuvor noch nie erlebt. Die anderen Frauen, die er gekannt hatte, seine Mutter eingeschlossen, mussten sehr gescheit gewesen sein, ausge‐ sprochen jüdisch‐intellektuell. Beth fand er lustig, so locker und sorglos, wie sie war. Sie sei im Schoß des lutherischen 157
Teddybärgottes aufgewachsen, erklärte er ihr; er hatte ihre Nerven von einer Watteschicht befreit und sich auf sie ge‐ stürzt; in sie hineingebohrt hatte er sich, in jeder Hinsicht; er war damals selbst noch dünner und sehr von sich einge‐ nommen, der geborene Lehrer, wie sich dann herausstellte, so schlagfertig und flink, dass er daran dachte, Gagschreiber für Jack Benny zu werden; oder war damals Milton Berle der große Star? Wer weiß, wo er jetzt ist, irgendwo da draußen unterwegs an diesem unmöglich stickig‐heißen Sommertag, an dem sie sich kaum rühren kann. Sie wäre lieber bei der Arbeit, dort gibt’s wenigstens eine brauchbare Klimaanlage; die‐ jenige, die sie im Schlafzimmerfenster installiert haben, macht hauptsächlich Krach, und Jack war immer zu knick‐ rig, um eine für unten anzuschaffen, wegen der Stromrech‐ nung. Sie streifen nun mal gern umher, die Männer, und nehmen an der Gesellschaft teil. Sie selbst war immer eher jemand von der stillen Sorte, auf jeden Fall im Vergleich zu Hermione, die immer von ihren Theorien und Idealen schwafeln musste. Ihre Eltern machten sie wahnsinnig, sagte Hermione, immer nähmen sie lau hin, was ihnen die Gewerkschaften, die Demokraten und die Saturday Evening Post gerade weismachten; Elizabeth dagegen fand die laue Passivität ihrer Eltern beruhigend. Stets hatte sie sich zu stillen Orten hingezogen gefühlt, zu Parks und Friedhöfen und zu Bibliotheken, bevor es auch in denen laut wurde; in manchen läuft nun sogar Hintergrundmusik wie in Res‐ taurants, da die Leute ja ohnehin zur Hälfte Kassetten oder jetzt DVDs entleihen. Als junges Mädchen fand sie es wun‐ derbar, an der Pleasant Street zu wohnen; von da war man zu Fuß rasch im Ashbury Park mit seiner weiten Grünfläche, und wenn man noch ein Stück weiter ging und von Chew 158
Avenue abbog, war man im Arboretum, wo man sich unter der Trauerweide wie in einem mächtigen grünen Iglu vor‐ kam und wo sich Beth’ Vorstellung vom Himmel irgendwie mit den schwankenden Wipfeln der hohen, hohen Bäume verhedderte, den Pappeln, die bei der leichtesten Brise die hellen Unterseiten ihrer Blätter zeigen, als lebten Geister darin, sodass es einem schon einleuchtet, dass primitive Menschen einmal Bäume angebetet haben. Wenn man zur nahen Germantown Avenue schlenderte und von dort mit der Trambahn in die entgegengesetzte Richtung fuhr, kam man zum Fairmont Park, der nun wirklich unermesslich war und vom Wissahickon durchflossen; die Haltestelle lag am Lutherischen Theologischen Seminar mit seinen schönen alten Gebäuden und all den gut aussehenden, ernsten jun‐ gen Männern, die man auf den Parkwegen immer im Schat‐ ten gehen sah; von solchen Dinge wie Gitarrenmusik in der Kirche, weibliche Pastoren oder gleichgeschlechtliche Ehen waren damals noch keine Rede. Heute unterhalten sich die jungen Leute in der Bibliothek so laut, als wären sie bei sich daheim im Wohnzimmer, im Kino ist’s genauso, keiner hat mehr Manieren, alle sind vom Fernsehen verdorben. Wenn Beth und Jack nach New Mexico fliegen, um Markie in Albuquerque zu besuchen, sitzen im Flugzeug andere Passagiere dreist in Shorts und in Sachen da, die wie Schlaf‐ anzüge aussehen: Das Fernsehen hat dazu geführt, dass sich die Leute jetzt überall wie zu Hause fühlen, dass es ihnen egal ist, wie sie aussehen – Frauen, mindestens so fett wie sie selbst, in Shorts! In den Spiegel schauen die wohl nie. Da sie an vier Tagen in der Woche in der Bibliothek arbei‐ tet, kann sie die Serien, die um die Mittagszeit laufen, nicht so lückenlos verfolgen, dass sie jede Verwicklung mitkriegt, aber die Plots, oder, wie es jetzt üblich ist, die drei oder vier 159
miteinander verflochtenen Plots, entfalten sich so langsam, dass sie nicht das Gefühl hat, sie hätte was verpasst. Sie hat sich angewöhnt, mittags ihr Sandwich oder ihren Salat oder, da Jack seinen Teller anscheinend nie mehr leer isst, die in der Mikrowelle aufgewärmten Reste der letzten paar Abendessen und zum Nachtisch ein Stückchen Käsekuchen oder ein paar Cookies, Hafer‐Rosinen‐Cookies, wenn sie einen Anfall von Tugendhaftigkeit hat, mit zu ihrem Sessel zu nehmen, und dann lässt sie sich überfluten – von all den jungen Schauspielern und Schauspielerinnen, gewöhnlich zwei, drei davon gleichzeitig in einem dieser Drehorträume, die einem für Zimmer, in denen wirklich jemand wohnt, immer viel zu groß und zu neu möbliert vorkommen und über denen so ein Bühnenhall hängt und diese Klimper‐ musik, mit der sie alle Serien untermalen, nicht Orgelmusik wie in den alten Hörspielserien im Radio, sondern Syn‐ thesizerklänge, so nennt man das wohl, manchmal wie von einer Harfe, dann wieder wie ein Xylophon mit Geigen, wie auf Zehenspitzen gespielt, um Spannung zu erzeugen. Die Musik unterstreicht die dramatischen Bekenntnisse oder die Dinge, die zwei Widersacher einander entgegenschleu‐ dern, woraufhin die Schauspieler einander in Nahaufnahme fassungslos anstarren, mit Augen, die glänzen vor Schmerz oder Hass, denn im endlosen Gitterwerk ihrer Beziehungen balanciert unentwegt jemand über einen schmalen Steg: «Kendalls Wohlergehen ist mir eigentlich völlig egal ...» – «Du wusstest doch bestimmt, das Ryan nie Kinder haben wollte; er hatte panische Angst vor dem Familienfluch ...» – «Ich komme an mein eigenes Leben nicht mehr dran. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was ich denke ...» – «Ich seh’s dir an den Augen an; ein Sieger wird eben von allen geliebt.» – «Wenn du dir etwas wert bist, musst du diesen 160
Mann verlassen. Überlass ihn deiner Mutter, wenn sie ihn haben will – die beiden haben einander verdient ...» – «Wirklich und wahrhaftig, ich hasse mich zutiefst...» – «Ich irre durch eine Wüste, so fühle ich mich ...» – «Ich habe noch nie im Leben für Sex gezahlt und werde jetzt nicht damit anfangen.» Dann eine weniger aggressive, furchtsame Stimme, die direkt den Zuschauer anspricht: «Die Kurven einer Frau können zu Wundheit führen. Die Schöpfer von Monostat verstehen dieses intime Problem und stellen dar‐ um ein neues, beispielloses Produkt vor.» Die jungen Schauspielerinnen haben eine neue Art zu sprechen, so kommt es Beth vor: Sie zurren die Wörter am Ende ihrer Satze zusammen und schlürfen sie wieder ein, als setzten sie zum Gurgeln an; und sie wirken natürlicher, oder zumindest weniger unnatürlich und plastikpuppenartig, als die jungen Männer, die mehr wie bloße Schauspieler aus‐ sehen als die Frauen – mehr wie Ken, Barbies Gegenstück, als die Mädchen Barbie gleichen. Wenn auf dem Bildschirm drei Personen agieren, sind es meist zwei Frauen, die sich um einen Mann‐Jungen kabbeln, der mit starrer Kinnlade verlegen herumsteht; und wenn es vier sind, ist einer davon ein älterer Mann mit wundervoll ergrauendem Haar, wie der «Vorher»‐Kopf in den Werbespots für dieses Tönungs‐ shampoo, und die atmosphärischen Gegenströmungen ver‐ dichten sich, bis die leicht außerirdische Klinglinglingmusik die Akteure vorübergehend rettet, indem sie signalisiert, dass die Zeit für eine weitere Werbepause voller «Botschaf‐ ten» gekommen ist. Beth ist fasziniert von der Vorstellung, dass so das Leben ist, so voller Rivalität bis hin zum Mord, zu welchem Sex, Eifersucht und Geldgier sie hindrängen, diese angeblich ganz normalen Leute aus dem typisch pennsylvanischen Ort Pine Valley. Beth stammt aus Penn‐ 161
sylvania, und so einen Ort hat sie nie kennen gelernt. Wie kommt es nur, dass ihr so viel vom Leben entgangen ist? «Ich komme an mein eigenes Leben nicht mehr dran», hat eine Figur in All My Children einmal gesagt, Erin vielleicht. Oder Krystal. Wie ein Pfeil ist diese Äußerung in Beth ge‐ fahren. Liebevolle Eltern; eine glückliche, wenn auch nicht ganz den Konventionen entsprechende Ehe; ein wunder‐ bares Kind; eine intellektuell interessante, körperlich wenig anstrengende Tätigkeit, Bücher entleihen und im Internet recherchieren: Die ganze Welt hat sich verschworen, Beth weich und übergewichtig werden zu lassen, isoliert gegen die Leidenschaften und Gefahren, die dort hervorbrechen, wo sich Menschen wirklich aneinander reiben. «Ryan, ich möchte dir so gern helfen, dass ich wirklich alles tun wür‐ de; selbst deine Mutter würde ich vergiften, wenn du mich darum bitten würdest.» Niemand sagt so etwas zu Beth; das Extremste, das ihr je widerfahren ist, war die Weigerung ih‐ rer Eltern, ihrer standesamtlichen Trauung mit einem Juden beizuwohnen. Die Jungen‐Männer, denen diese glühenden Gelübde gelten, sagen meistens wenig dazu. Wo die Konversation versiegt, füllt ein unheimliches, vollmundiges Schweigen die Lücke. Oft befürchtet Beth, sie hätten ihren Text ver‐ gessen, doch dann ringen sie sich die nächste Bemerkung ab, nach so langer Pause. In weit höherem Maße als die Abendprogramme – die Polizeiserien, Sitcoms, die aktuel‐ len Sendungen mit ihren vier flachsenden Hosts am langen Tisch (ein Mann und eine Frau als Zuständige für die Nach‐ richten, ein forscher Sportreporter und, als Zielscheibe ihrer Scherze und gutmütigen Nörgeleien, der ein wenig blöde Wettermensch) – spielen sich die Seifenopern, die am Tag laufen, vor dem Hintergrund intensiven, schwelenden 162
Schweigens ab, das all die erotischen Offenbarungen, ver‐ krampften Beichten, falschen Versicherungen und gärenden Feindseligkeiten nicht vertreiben können, so wenig wie es das unirdisch melodische Geklingel und der plötzlich an‐ hebende lahme Popsong vermögen, der als Schlussthema herhalten muss. Ein beängstigendes Schweigen ist die Grundlage, die sie alle festhält wie Magneten auf einer Kühlschranktür, die gesamte Besetzung in ihren hallenden Räumen mit drei Wänden und Beth in ihrem extrabreiten Sessel, die sich ärgert, weil sie sich ein paar Hafercookies zu wenig auf ihren Teller gelegt hat und weil nun das Tele‐ fon nicht aufhört zu läuten, sodass sie ihre La‐Z‐Boy‐Insel des idealen Polsterkomforts verlassen muss, obwohl doch gerade David, der unglaublich gutaussehende Kardiologe, ominös vielsagende Worte an Maria richtet, die hinreißende Hirnchirurgin, deren Mann Edmund, Journalist und Pulit‐ zerpreisträger, in einer früheren Episode, die Beth leider verpasst hat, ermordet worden ist. Sie erhebt sich stufenweise, zieht erst den Hebel, um die Fußstütze abzusenken, bugsiert dann, gegen die Schaukel‐ stuhlbewegung ankämpfend, die Füße auf den Boden, packt mit beiden Händen die linke Armlehne des Sessels, um sich hochzuwuchten, und verlagert schließlich unter hörbarem Ächzen das Gewicht auf ihre versteiften Knie, die sich lang‐ sam, unerträglich schmerzhaft, durchdrücken, während Beth Atem schöpft. Zuerst wollte sie den leeren Teller in Sicher‐ heit bringen und ihn von der Sessellehne auf den Beistell‐ tisch stellen, hat aber die Fernbedienung auf ihrem Schoß vergessen, die zu Boden fällt. Dort sieht Beth sie Liegen, die bezifferten Tasten der kleinen rechteckigen Schalttafel in‐ mitten der Flecke von Kaffee und verschüttetem Essen, die sich im Lauf der Zeit auf dem blassgrünen Teppich ange‐ 163
sammelt haben. Jack hat sie damals davor gewarnt, jeden Fleck werde man auf diesem Teppich sehen, aber helle Teppichböden waren in jenem Jahr aktuell, wie ihr der Fachverkäufer verraten hatte. «Sie ergeben einen lässigen, modernen Look», versicherte er ihr. «Der Raum wirkt da‐ durch größer.» Nun weiß zwar jeder, dass man Flecken auf Orientteppichen am wenigsten sieht, doch wann konnten sie und Jack sich jemals einen leisten? Es gibt da am Reagan Boulevard ein Geschäft, wo sie gebraucht zu Schnäppchen‐ preisen zu haben sind, aber gemeinsam kommen sie und Jack nie in die Gegend, vor allem die Schwarzen kaufen dort ein. Außerdem, gebraucht – da weiß man schließlich nie, was die Leute davor verschüttet haben, und überhaupt ist schon die Vorstellung unangenehm, wie Teppichböden in Hotelzimmern. Beth mag gar nicht daran denken, dass sie sich mit dem ganzen Körper umdrehen und hinunterbeu‐ gen sollte, um die Fernbedienung aufzuheben – ihr Gleich‐ gewichtssinn wird mit den Jahren immer schlechter –, und es muss wohl einen dringenden Grund für den Anruf geben, sonst hätte die Person längst aufgelegt. Eine Zeit lang hat‐ ten sie einen Anrufbeantworter angeschlossen, aber es ka‐ men so viele verrückte Anrufe von Eltern, deren Kinder an den Colleges, die Jack empfohlen hatte, nicht angenommen worden waren, dass Jack den Apparat wieder ausgestöpselt hatte. «Wenn ich da bin, werde ich damit schon fertig», hatte er gesagt. «Wenn die Leute am anderen Ende eine lebendige Stimme hören, werden sie nicht so verdammt un‐ verschämt.» Beth rafft sich zu einem weiteren Schritt auf, lässt die Leute auf dem Bildschirm in ihrem reichlich vorhandenen eigenen Saft schmoren, wankt zu dem Tisch an der Wand und nimmt das Telefon auf. Die neuartigen Telefone ste‐ 164
hen aufrecht in ihrer Konsole, und in dem kleinen Fenster unterhalb der perforierten Stelle, durch die man etwas hört, sollten eigentlich der Name und die Nummer des Anru‐ fers erscheinen. Da steht FERNGESPRÄCH, also ist es entweder Markie oder ihre Schwester in Washington oder jemand, der mit seinem Marktforschungsauftrag oder Wer‐ beangebot von irgendwoher anruft, eventuell sogar aus In‐ dien. «Hallo?» Die perforierte Stelle am anderen Ende des Geräts kommt ihrem Mund nicht so entgegen wie bei den alten Telefonen, den schweren, schlichten aus ehrlichem schwarzen Bakelit, deren Hörer mit den Muscheln nach un‐ ten auf einer Gabel ruhte, und Beth neigt dazu, die Stimme zu heben, weil sie dem Ding nicht traut. «Beth, hier ist Hermione.» Herm klingt immer betont flott und energisch, wie um ihre träge, sich selbst verhät‐ schelnde jüngere Schwester zu beschämen. «Wieso hast du so lange gebraucht? Ich wollte schon auflegen.» «Na, das wäre mir ganz recht gewesen.» «Keine sehr freundliche Bemerkung.» «Ich bin nun mal nicht wie du, Herm. So flink bin ich nicht mehr auf den Beinen.» «Wer redet denn da im Hintergrund? Ist jemand im Zim‐ mer?» Immer stürzt sie sich auf die Dinge, auf eines nach dem anderen. Dennoch ist Herms fast schroffe, unverblüm‐ te Art Beth willkommen als Überbleibsel des typischen pennsylvaniadeutschen Benehmens ihrer Mädchenjahre. Die Tonart erinnert Beth an zu Hause, an den Nordwesten von Philadelphia mit seinem vielen feuchten Grün und den Lebensmittelläden an den Straßenecken, in denen es ber‐ geweise Brot von Maier’s und Freihofer’s gab. «Das ist nur der Fernseher. Ich hab nach dem Klickding gesucht, um ihn abzustellen» – sie mag nicht zugeben, dass 165
sie zu faul und schwerfällig gewesen war, um sich danach zu bücken –, «und konnte das verflixte Teil nicht finden.» «Na, dann geh’s mal suchen, weit kann’s ja nicht sein. Ich warte. Bei dem Gebrabbel können wir nicht reden. Was hast du dir überhaupt angesehen, mitten am Tag?» Beth legt das Telefon hin, ohne zu antworten. Sie klingt wie Mutter, denkt sie und schleppt sich zu der Stelle hinüber, wo die Fernbedienung – merkwürdig, dass sie dem Telefon so gleicht und sich auch ähnlich anfühlt, mattschwarz und voll gepfropft mit Schaltkreisen: zwei schlecht zusammen‐ passende Schwestern – auf dem blassgrünen («Schilf» hat der Verkäufer den Farbton genannt) Teppichboden liegt, die abgerundete Seite nach unten. Aufstöhnend greift Beth mit einer Hand nach der Sessellehne und mit der anderen hinunter, eine Anstrengung, die in ihren wenig geübten Muskeln die Erinnerung an eine exercise wachruft, an eine arabesque penchée, die sie mit acht oder neun in der Ballett‐ stunde gelernt hat, in Miss Dimitrovas Studio über einem Speiselokai an Broad Street in der Altstadt; sie hebt das Ding auf und richtet es auf den Bildschirm, wo As the World Turns eben in einer Wolke von schicksalsschwerem Klingklang auf Channel Seven dem Ende entgegengeht. Beth nimmt noch wahr, dass sich Craig und Jennifer gerade in hitzigem Zwie‐ gespräch befinden, und fragt sich noch in dem Moment, in dem sie abschaltet, was sie wohl sagen. Sie schrumpfen zu einem Lichtpunkt, der kaum eine Sekunde nachglimmt. Im Ballettunterricht war sie die geschmeidigere Schwes‐ ter, von der man sich mehr versprach; Hermione mangelte es, wie Miss Dimitrova auf ihre verächtliche weißrussische Art zu sagen pflegte, an ballon. «Leicht, leicht», rief sie so dringlich, dass die Sehnen an ihrer hageren Kehle her‐ vorschnellten. «Vous avez besoin de légèreté! Stellt euch vor, 166
ihr seid des oiseaux! Ihr seid Luftgeschöpfe!» Damals war Hermione, linkisch, groß für ihr Alter und sichtlich dazu bestimmt, unscheinbar zu bleiben, der Trampel von ihnen beiden und Beth diejenige, die sich, en faisant des pointes, wie ein Vogel fühlte, wenn sie umherwirbelte, die dünnen Arme ausgebreitet. «Du schnaufst ja», sagt Hermione vorwurfsvoll, als Beth wieder ans Telefon kommt und sich ächzend auf den klei‐ nen harten Stuhl fallen lässt, der vom Küchentisch hierher geraten ist, nachdem Mark aus dem Haus war und nicht mehr mit seinen Eltern aß. Der Stuhl, aus Ahorn und den Shakerstühlen nachempfunden, hat eine so kleine Sitzflä‐ che, dass sie mit ihrem Hinterteil danach zielen muss; vor ein paar Jahren hat Beth sie einmal halb verfehlt, und der Stuhl kippte um und ließ sie auf dem Boden landen. Sie hätte sich das Becken brechen können, wenn sie nicht so gut gepolstert wäre, hatte Jack gesagt. Zunächst aber war er nicht belustigt gewesen. Entsetzt kam er herbeigerannt, und als sie ihm zu verstehen gab, dass sie sich nicht verletzt hatte, wirkte er enttäuscht. Hermione fragt nun scharf: «Es gab doch wohl keine Eilmeldung, oder?» «Im Fernsehen? Nein – ist denn eine zu erwarten?» «Nein –», ihr Zögern ist so bedeutungsschwanger wie die Pausen in den Seifenopern –, «nur sickert manchmal etwas durch. Manche Dinge dringen nach draußen, bevor sie’s sollten.» «Was dringt denn nach draußen?», fragt Beth, die weiß, dass sie am besten ahnungslos tut, um Hermione zum Re‐ den zu bringen, die es juckt, sich als ihrer Schwester über‐ legen zu erweisen. «Nichts, Liebes. Ich kann natürlich nicht darüber reden.» Doch sie erträgt Beth’ Schweigen nicht und fährt fort: «Das 167
Rauschen im Internet nimmt zu. Wir vermuten, dass sich da etwas zusammenbraut.» «Oje», sagt Beth brav. «Wie geht denn der Minister damit um?» «Wie ein Heiliger. Der Arme ist ja so gewissenhaft, wo er für das gesamte Land verantwortlich ist. Ich mache mir ehrlich Sorge um ihn. Schließlich hat er einen hohen Blut‐ druck, weißt du?» «Im Fernsehen sieht er eigentlich ganz gesund aus. Al‐ lerdings frag ich mich, ob ihm nicht ein etwas anderer Haar‐ schnitt gut täte. Mit dem jetzigen wirkt er so kriegslüstern. Das fordert die Araber und die Liberalen nur dazu heraus, in Abwehrhaltung zu gehen.» Sie kann das Verlangen nach einem weiteren Hafer‐Rosinen‐Cookie, einem einzigen nur, einfach nicht verscheuchen – wie es in ihrem Mund zerbröseln würde, wie ihr Speichel die Rosinen herauslöst, damit ihre Zunge sie finden und damit spielen kann, bevor sie zubeißt. Früher hat sie sich zu einem Schwatz am Tele‐ fon immer mit einer Zigarette niedergelassen; dann hat der Surgeon General ihr unentwegt erklärt, es sei schlecht für sie; also hat sie es aufgegeben und im ersten Jahr vierzehn Kilo zugelegt. Was kümmert es eigentlich die Regierung, ob die Leute sterben? Sie gehören ihr doch nicht. Schon wie‐ der ein paar weniger, die regiert werden müssen, darüber müssten sie doch eigentlich erleichtert sein, würde Beth mal annehmen. Andererseits, stimmt schon, Lungenkrebs belastet das öffentliche Gesundheitssystem und kostet die Wirtschaft Millionen Arbeitsstunden; das schadet der Pro‐ duktivität. «Ich hab so den Verdacht», sagt Beth gutwillig, «viel von diesem Internet‐Rauschen stammt von Schülern und College‐Kids, die Unfug treiben. Manche davon be‐ zeichnen sich bloß als Mohammedaner, um ihre christlichen 168
Eltern zu ärgern, das weiß ich. Da gibt’s zum Beispiel an der High School einen Jungen, den Jack beraten hat. Der hält sich für einen Muslim, weil sein Tunichtgut von Vater einer war, und seine tüchtige irisch‐katholische Mutter, bei der er lebt, beachtet er einfach nicht. Überleg doch mal, was unsere Eltern gesagt hätten, wenn wir ihnen als künftige Ehemänner Muslime ins Haus gebracht hätten.» «Na, du hast dir immerhin das geleistet, was gleich da‐ nach kommt», lässt Hermione sie wissen, zur Rache dafür, dass Beth den Haarschnitt des Ministers kritisiert hat. Beth setzt sich über diese Entgleisung hinweg. «Der arme Jack», sagt sie, «Arm und Bein hat er sich dafür ausgeris‐ sen, den Jungen aus den Klauen seiner Moschee zu retten. Diese Leute sind wie fundamentalistische Baptisten, nur noch schlimmer, weil es ihnen nichts ausmacht, wenn sie sterben.» Als geborene Friedensstifterin – wie es vielleicht alle jüngeren Schwestern sind – kommt Beth auf Hermiones Lieblingsthema zurück. «Was macht ihm zur Zeit besonders Sorge? Dem Minister, mein ich.» «Die Häfen», lautete die prompte Antwort. «Hunderte von Containerschiffen legen in unseren amerikanischen Häfen täglich an und ab, und keiner weiß, was auch nur ein Zehntel davon an Bord hat. Sie könnten Atomwaffen ins Land bringen, die als argentinische Kuhhäute oder sonstwas deklariert sind. Als brasilianischer Kaffee – wer weiß schon sicher, dass es auch Kaffee ist? Oder denk an die riesigen Tanker, die ja nicht nur Öl transportieren, sondern beispiels‐ weise auch flüssiges Propangas. So wird Propan nämlich verschifft, in flüssiger Form. Nur überleg mal, was in Jer‐ sey City oder unter der Bayonne‐Brücke passieren würde, wenn sie da mit ein paar Kilo Semtex oder TNT drankä‐ men – einen Flächenbrand gäbe das, Beth, mit Tausenden 169
von Toten. Oder an die New Yorker Subway‐Tunnel – siehe Madrid. Siehe Tokio vor ein paar Jahren. Der Kapitalismus muss so offen sein – das muss er, sonst funktioniert er nicht. Nun stell dir ein paar Männer mit Sturmgewehren in einem Einkaufszentrum vor, irgendwo in Amerika. Oder bei Saks oder Bloomingdale’s. Erinnerst du dich noch an das alte Wanamaker’s? Mit welchem Herzklopfen wir als Kinder dort immer hingegangen sind? Wie ein Paradies kam es einem vor, besonders die Rolltreppen und die Spielzeugabteilung in der obersten Etage. Mit alldem ist es vorbei. Wir können nie wieder glücklich sein, wir Amerikaner.« Beth hat Mitleid mit Hermione, die sich alles so zu Her‐ zen nimmt, und sagt: «Ach, die meisten wursteln sich doch immer noch ganz munter weiter durch, oder? Irgendeine Gefahr gibt’s im Leben immer – Seuchen, Kriege. Oder Tor‐ nados, draußen in Kansas. Die Menschen machen weiter. Du lebst weiter, bis du zum Anhalten gezwungen wirst, und dann bist du bewusstlos.» «Genau, das ist es eben, Betty – sie sind darauf aus, uns zum Anhalten zu zwingen. Überall, egal wo – sie brauchen nur eine kleine Bombe, ein paar Gewehre. Eine offene Ge‐ sellschaft ist so wehrlos. Alle Errungenschaften der moder‐ nen Welt sind so zerbrechlich.» Nur Hermione nennt sie noch immer Betty, und auch sie nur dann, wenn sie gekränkt ist. Jack und ihre Freundinnen am College nannten sie Beth, und nachdem sie geheiratet hatte, versuchten sogar ihre Eltern, sich umzustellen. Um die kleine Panne vergessen zu machen, schmeichelt Her‐ mione ihr, versucht, Beth mit ihrer Schwärmerei für den Mi‐ nister anzustecken. «Er und die Fachleute, die wir haben, sind Tag und Nacht bemüht, die schlimmsten denkbaren Szenarien durchzuspielen. Zum Beispiel Computer, Beth. 170
Wir haben sie so in unser System integriert, dass jeder davon abhängig ist, nicht bloß Bibliotheken, sondern die Industrie, die Banken, die Brokerhäuser, die Fluggesellschaften, die Atomkraftwerke – ich könnte endlos weiter aufzählen.» «Zweifellos.» Die sarkastische Note entgeht Hermione völlig. «Es könn‐ te sich etwas ereignen, das sie Cyberangriff nennen. Es gibt da diese Würmer, die an Firewalls vorbeikommen und App‐ lets, so heißen die, einschleusen, die dann verdeckte Rück‐ meldungen senden, in denen das Netz, das sie geknackt haben, beschrieben ist, und damit alles lähmen, die so ge‐ nannten Routingtabellen durcheinander bringen und die Gatewayprotokolle umgehen, sodass nicht bloß die Börse und die Verkehrsampeln ausfallen, sondern alles – die Stromver‐ sorgung, die Krankenhäuser, sogar das Internet selber, kannst du dir das ausmalen? Die Würmer wären so programmiert, dass sie sich immer weiter verbreiten, bis sogar der Fernseher, vor dem du eben noch gesessen hast, den Geist aufgibt oder auf sämtlichen Kanälen bloß noch Osama bin Laden zeigt.» «Herm, mein Sehatz, ‹den Geist aufgeben› habe ich seit Philadelphia nicht mehr gehört! Werden denn diese Wür‐ mer und Viren nicht ständig verschickt, und dann stellt sich heraus, dass die Quelle irgendein armer, einsamer Teenager ist, der in Bangkok oder in der Bronx in seiner verlotterten Bude hockt? Für eine Weile richten solche Typen vielleicht ein bisschen Durcheinander an, aber die Welt bricht ihret‐ wegen nicht zusammen. Irgendwann werden sie geschnappt und landen im Gefängnis. Du vergisst die vielen schlauen Männer und auch Frauen, die diese Firewalls oder was im‐ mer entwickeln. Bestimmt können sie auch weiter einen Vorsprung vor ein paar fanatischen Arabern halten – schließ‐ lich haben den Computer wir erfunden, nicht die.» 171
«Nein, aber sie haben die Null erfunden, wie du wahr‐ scheinlich weißt. Sie brauchen den Computer nicht zu er‐ finden, um uns damit auszulöschen. Das nennt der Minister Cyberkrieg. Und in dem befinden wir uns, im Cyberkrieg, ob’s dir nun gefällt oder nicht. Die Würmer wuseln bereits überall umher; täglich muss der Minister Hunderte von Be‐ richten prüfen, die ihn über Angriffe informieren.» «Über Cyberangriffe.» «Genau. Du findest so etwas lustig, das höre ich dir an, aber da irrst du dich. Es ist todernst, Betty.» Der Shakerstuhl setzt Beth allmählich zu; sie müssen körperlich anders gebaut gewesen sein, die Quaker und Pu‐ ritaner von einst, müssen anders über Bequemlichkeit ge‐ dacht, andere Bedürfnisse gehabt haben. «Nein, ich finde es nicht lustig, Herm. Natürlich können sehr schlimme Dinge passieren, und einige sind bereits passiert, aber –» Sie weiß nicht mehr, was auf das «Aber» folgen sollte. Es geht ihr durch den Sinn, mit dem schnurlosen Telefon in die Küche zu gehen und in die Cookie‐Schublade zu greifen. Die Kon‐ sistenz von Cookies dieser Sorte mag sie ganz besonders; sie werden nur in einem einzigen altmodischen Eckladen an der Eleventh Street verkauft. Jack besorgt sie ihr dort. Sie fragt sich, wann Jack wohl heimkommen wird; seine Nach‐ hilfestunden scheinen in letzter Zeit länger zu dauern als früher. «Aber meines Wissens hat es in der letzten Zeit nicht besonders viele Cyberangriffe gegeben.» «Nun, dafür solltest du dem Minister danken. Sogar mit‐ ten in der Nacht gehen ihm Berichte zu. Es macht ihn alt, das muss ich ehrlich sagen. Er bekommt schon weiße Haare über den Ohren und Ringe unter den Augen. Ich fühle mich da so hilflos.» «Hermione, hat er nicht eine Frau? Und x Kinder? Ich 172
hab sie in der Zeitung gesehen, alle zusammen unterwegs zum Ostergottesdienst.» «Natürlich hat er Familie. Das weiß ich. Ich kenne mei‐ nen Status. Unsere Beziehung ist rein dienstlicher Natur. Und da du mich so provozierst – das ist jetzt sehr vertrau‐ lich: Zu den Regionen, aus denen er die meisten Berichte erhält, gehört der Norden von New Jersey. Tucson, die Re‐ gion um Buffalo sowie der Norden von New Jersey. Er ist sehr verschwiegen – das muss er sein –, aber es gibt da ei‐ nige Imame, wenn ich das Wort richtig ausspreche, die ent‐ schieden unter Beobachtung stehen. Fürchterliche Sachen gegen Amerika predigen sie zwar alle, aber einige von ihnen gehen noch weiter. Das heißt, sie treten für Gewalt gegen den Staat ein.» «Na, wenigstens sind’s die Imame. Wenn die Rabbis da‐ mit anfangen würden, müsste Jack sich ja zu den Waffen melden. Obwohl er nie in eine Synagoge geht. Vielleicht würde er sich sogar besser fühlen, wenn er’s täte.» Nun hält Hermione ihre Empörung nicht mehr zurück. «Also wirklich! Manchmal frage ich mich, was Jack eigent‐ lich in dir sieht. Nichts nimmst du ernst.» «Das unter anderem hat ihn angezogen. Er ist depressiv, da hat ihm die Leichtigkeit an mir gefallen.» Eine Pause entsteht, und Beth hat das Gefühl, dass ihre Schwester sich die naheliegende Replik verkneift: Leicht ist sie jetzt wahrhaftig nicht. Unten in Washington seufzt Hermione auf. «Tja, dann lasse ich dich mal wieder zu dei‐ ner Seifenoper gehen. Mein anderes Telefon blinkt rot; er will etwas von mir.» «War nett, mit dir zu reden», lügt Beth. Ihre ältere Schwester hat die Rolle ihrer Mutter über‐ nommen und lässt sie nicht vergessen, was alles an Beth 173
nicht in Ordnung ist. Sie hat sich, wie man so sagt, «gehen lassen». Der Geruch ihres Körpers dringt aus den tiefen Falten zwischen den Fettwülsten, in denen sich eine dunkle Schweißschmiere ansammelt, an ihre Nase; in der Bade‐ wanne schwabbelt ihr Fleisch um sie herum wie ein Ge‐ bilde aus riesigen Blasen – eine zähflüssige Masse, die träge nach oben blubbert. Wie ist das nur mit ihr geschehen? Als junges Mädchen hat sie gegessen, was sie wollte; nie hatte sie das Gefühl, sie esse mehr als andere, und hat es noch immer nicht; bei ihr setzt das Essen nur mehr an. Manche Menschen haben größere Zellen als andere, hat sie gelesen. Einen anderen Stoffwechsel. Vielleicht hängt es damit zu‐ sammen, dass sie in diesem Haus hier gestrandet ist, und in dem davor, an der Ninth Street, und in dem noch davor, eine halbe Meile näher am Zentrum, bevor die Gegend gar zu sehr herunterkam – ausgesetzt von einem Mann, der sie ver‐ lassen hat, ohne es ausdrücklich zu tun. Wer könnte es ihm auch verübeln, wo er Tag für Tag an der High School seinen Lebensunterhalt verdienen muss? In den ersten Jahren ihrer Ehe tat es ihr leid für ihn, aber mit dem Älterwerden hat sie allmählich erkannt, dass er alles dramatisiert – den Umstand, dass er im Winter bei Dunkelheit aus dem Haus muss und wegen seiner Nebenverpflichtungen erst bei Dunkelheit heimkommt, seine Problemschüler, seine Notsitzungen mit den Eltern straffällig gewordener Schüler. Wie oft war er deprimiert nach Hause gekommen wegen all der Probleme, die er nicht lösen konnte, wegen der Leute, die ihr Leben in New Prospect vergeudeten und ihre Ziellosigkeit nun an die Kinder weitergaben, wegen der Hoffnungslosigkeit? «Beth, alles ist ihnen schnurzegal. Sie haben nie eine Ord‐ nung kennen gelernt. Sie können sich kein Leben vorstel‐ len, das über die nächste Spritze, das nächste Besäufnis, den 174
nächsten Ärger mit der Polizei, der Bank oder der Einwan‐ derungsbehörde hinausreicht. Diese armen Kinder – in den Genuss einer Kindheit sind sie nie gekommen. Du siehst, wie sie die neunte Klasse noch mit einem Rest von Hoff‐ nung beginnen, mit einer Spur des Eifers, den Zweitklässler haben, die noch daran glauben, dass man belohnt wird, wenn man die Regeln lernt und richtig büffelt; und bis sie ihr Ab‐ schlussdiplom haben, falls sie so weit kommen, haben wir es ihnen restlos ausgetrieben. Wer ‹wir› ist? Amerika, nehme ich an, obwohl man kaum den Finger auf die Stelle legen kann, an der es falsch läuft. Mein Großvater hat geglaubt, der Kapitalismus sei zum Untergang verdammt, die Unter‐ drückung werde notwendigerweise immer stärker, bis das Proletariat endlich die Barrikaden stürmt und das Paradies der Arbeiterklasse errichtet. Doch das ist nicht eingetreten; entweder waren die Kapitalisten zu schlau, oder das Pro‐ letariat war zu dumm. Vorsichtshalber haben sie das Etikett ‹Kapitalismus› ersetzt durch solche, auf denen ‹freie Markt‐ wirtschaft› und ‹Konsumkultur› steht, nur roch das immer noch zu sehr nach Hund‐frisst‐Hund, nach allzu vielen Ver‐ lierern und maßlos abrahmenden Gewinnern. Wenn man die Hunde aber sich nicht miteinander balgen lässt, dann liegen sie den ganzen Tag im Zwinger und pennen. Im Grund be‐ steht das Problem darin, dass die Gesellschaft anständig zu sein versucht, und mit Anstand ist gegen die menschliche Natur nichts auszurichten. Nicht das Geringste. Wir sollten alle wieder Jäger und Sammler werden, dann hätten wir eine hundertprozentige Beschäftigungsquote und ein gesundes Magenknurren.» Später kam Jack deprimiert nach Hause, weil die unlös‐ baren Probleme ihn allmählich langweilten und weil es zur Routine wurde, so zu tun, als könnte er sie lösen – zur Num‐ 175
mer, zum bloßen Job, zum Schwindel. «Was mich wirklich runterzieht», sagte er oft, «ist, dass sie sich weigern, zu be‐ greifen, wie schlecht sie dran sind. Sie finden, es geht ihnen ganz toll, wo sie doch irgendwelche schrillen neuen Klamot‐ ten haben, zum halben Preis gekauft, oder das allerneuste obergewalttätige Computerspiel oder eine neue heiße CD, die jeder haben muss, oder irgendeine lächerliche neue Religion, nachdem sie ihr Gehirn mit Drogen in die Stein‐ zeit zurückgeknallt haben. Da fragt man sich ernstlich, ob Menschen es überhaupt verdienen zu leben – ob nicht die Drahtzieher der Massaker in Ruanda, im Sudan und im Irak auf der richtigen Spur sind.» Und indem Beth es zuließ, dass sie fett wurde, hat sie sich disqualifiziert als Frau, die ihn so aufmuntern kann, wie sie es früher einmal konnte. Er würde das nie aussprechen. Er würde nie taktlos sein. Sie fragt sich, ob dies das Jüdische an ihm ist – die Sensibilität, der tiefe Grundton, ein gewis‐ ses «Noblesse oblige», das ihn drängt, seinen Schmerz nach Kräften für sich zu behalten, früh aufzustehen und zum Fenster zu gehen, statt sie damit zu wecken, indem er im Bett bleibt. Sie haben ein gutes gemeinsames Leben ge‐ habt, befindet Beth und hievt sich von dem Shakerstuhl mit der winzigen, harten Sitzfläche hoch, indem sie eine Hand auf die Rückenlehne stützt, vorsichtig, damit ihr Gewicht den Stuhl nicht zum Kippen bringt. Das wäre vielleicht ein schöner Anblick, sie mit gebrochenem Becken und gespreiz‐ ten Beinen auf dem Fußboden und nicht einmal imstande, hinunterzufassen und ihren Bademantel zu schließen, bevor die Sanitäter kommen. Sie muss aus ihrem Bademantel raus und einkaufen gehen. Die notwendigsten Dinge werden knapp – Seife, Waschmittel, Papierhandtücher, Toilettenpapier, Mayon‐ 176
naise. Cookies und Knabberzeug. Sie kann Jack nicht auch noch bitten, das alles einzukaufen, wo er doch bereits die Mikrowellengerichte bei ShopRite besorgt oder Essen vom Chinesen mitbringt, wenn sie bis sechs in der Bibliothek Dienst hat. Und Katzenfutter. Wo ist Carmela überhaupt? Sie wird nicht genug gestreichelt, schläft den ganzen Tag depressiv unter dem Sofa und saust dann nachts wie wild umher. In einer Hinsicht war’s nicht richtig, ihr die Tuben durchtrennen zu lassen, aber wenn man’s nicht tut, kommen Kätzchen ohne Ende. Sie und Jack haben beide ein gutes Leben gehabt, sagt sie sich; sie konnten ihren Unterhalt mit dem Kugel‐ schreiber in der Hand verdienen – jetzt mit dem Tippen auf Computertasten – und indem sie freundlich und hilfs‐ bereit zu den Leuten waren. Das war mehr, als Amerika‐ nern früher gegönnt gewesen war, die in den Fabriken von New Prospect oder Philly geschuftet hatten, als in solchen Städten noch etwas hergestellt wurde; die Leute fürchten sich vor den Arabern, dabei sind es die Japaner, Chinesen, Mexikaner, die Guatemalteken und andere in Niedriglohn‐ regionen, die uns fertig machen, die unseren Werktätigen die Arbeit nehmen. Da kommen wir in dieses Land hier, sperren die Indianer in Reservate, erbauen Wolkenkratzer und Superschnellstraßen, und dann wollen alle ein Stück von unseren Binnenmärkten abhaben – wie die Haie, die in dieser Hemingway‐Story über den Wal herfallen ... nein, das war ein Marlin. Egal, das Bild bleibt gleich. Und Her‐ mione hat ebenfalls Glück gehabt, hat einen wichtigen Job bei einer der Schlüsselfiguren in der Regierung an Land gezogen, bloß ihr ewiges Getue um ihren Chef ist doch zu lachhaft – wenn man sie so hört, könnte man meinen, er sei der Retter von uns allen. Diese altjüngferliche Mentalität 177
kommt durch den Hormonstau zustande, wie bei den Non‐ nen und Priestern, die sich als grausam und lüstern heraus‐ stellen und offenbar, nach ihrem Handeln zu urteilen, über‐ haupt nicht an das glauben, was sie predigen, sondern arme, vertrauensselige Kinder missbrauchen, die sich bemühen, gute Katholiken zu sein. Jedenfalls ist es normal für eine Frau, zu heiraten und zu erfahren, wie Männer nun mal sind, wie sie riechen und sich verhalten: Das hilft gegen Frustrationen und treibt einem die albernen romantischen Ideen aus. Schon auf dem Weg zur Treppe und zum Schlaf‐ zimmer, um sich zum Ausgehen herzurichten (nur was soll sie anziehen? Das ist das Problem; fünfundvierzig überzäh‐ lige Kilos lassen sich durch nichts kaschieren, es gibt nichts, was sie auf der Straße wieder schick aussehen ließe), denkt Beth, auch wenn sie gerade zu Mittag gegessen hat, hätte sie nicht übel Lust, in der Küche nachzuschauen, ob’s nicht im Kühlschrank etwas zu knabbern gibt, und wie um diesen Impuls zu unterdrücken, lässt sie sich wieder in den La‐Z‐ Boy‐Sessel plumpsen und hebt die Fußstütze an, damit das Pochen in ihren Fußgelenken abklingt. Odematös, sagt der Arzt dazu, dabei konnte Jack einmal Daumen und Mittel‐ finger um ihre Fußgelenke schließen. Kaum sitzt sie wieder, merkt sie, dass sie pinkeln muss. Nun ja, wenn man so ein Bedürfnis ignoriert, vergeht es, das weiß sie aus langer Er‐ fahrung. Wo ist denn die Fernbedienung hingeraten? Beth hat sie aufgehoben und das Fernsehen damit abgestellt, aber alles Weitere ist ihr glatt entfallen. Erschreckend, wie oft sie sich nicht erinnert. Sie schaut auf beiden Sessellehnen nach, späht dann angestrengt über die Lehnen hinunter auf den blassgrünen Teppich, den ihr der Mann aufgeschwatzt hat, und denkt dabei zum zweiten Mal an diesem Tag an Miss 178
Dimitrova und ihre Streckübungen. Das Ding muss auf ei‐ ner der Seitenlehnen gelegen haben und dann in die Ritze neben dem Sitzpolster geglitten sein, als sie sich einfach hier hat hineinfallen lassen, statt hinaufzugehen und sich an‐ zuziehen. Mit den Fingern der rechten Hand sondiert Beth die enge Ritze, fühlt den Vinylbezug, der eine Kuhhaut aus dem Wilden Westen von einst imitiert, der wahrscheinlich, wenn man darin lebte, so toll nicht war, und dann tun die Finger ihrer linken Hand das Gleiche in der Ritze auf der anderen Seite und stoßen tatsächlich darauf – auf die küh‐ le, mattierte Kante der Fernbedienung. Alles ginge ja viel leichter, wenn Beth’ Körper nicht so sehr im Weg wäre und das Polster so eng an die Seitenlehne presste, dass Beth sich in Acht nehmen muss, um nicht mit einem Fingernagel an einer Naht oder an etwas Metallischem hängen zu bleiben. Haarnadeln und Münzen sammeln sich in solchen Ritzen an, selbst Näh‐ und Stecknadeln. Beth’ Mutter hatte immer irgendetwas genäht oder gestopft in dem alten karierten Polstersessel mit den bis zum Boden reichenden Stoffschö‐ ßen, der zu Hause am Fenster stand, damit sie lange Licht hatte und durch die getüpfelten Musselingardinen auf den breiten hölzernen Fenstersims mit dem Geranienkasten und dem Grün dahinter blicken konnte, das so üppig war, dass sich die feuchten Stellen bis zur Tagesmitte hielten. Beth richtet die Fernbedienung auf den Fernseher, klickt Kanal zwei, CBS, an, und langsam sammeln sich die herauf‐ beschworenen Elektronen, ergeben Töne und ein Bild. Die Hintergrundmusik von As the World Turns ist einen Tick orchestraler als der säuselnde Pop, der zu All My Children erklingt – Flöten und tiefe Saiteninstrumente inmitten der mehr geisterhaften Töne, einem Klopp‐Klopp wie von Huf‐ schlägen, die in der Ferne verklingen. Aus der aufgewühl‐ 179
ten Musik und den Mienen des jungen Schauspielers und seiner Partnerin, die gerade geredet haben – sie ziehen die Brauen zusammen und machen wütende, ja verängstigte Gesichter –, kann Beth schließen, das sie soeben etwas höchst Bedeutsames, Lebensentscheidendes zueinander gesagt, sich auf einen Abschied oder Mord geeinigt haben, aber Beth hat es verpasst; sie hat den Wendepunkt im Lauf der Welt verpasst. Sie könnte heulen. Doch seltsam, wie das Leben ist: Die Rettung naht. Wie aus dem Nichts taucht Carmela auf und springt Beth auf den Schoß. «Ja, wo war sie denn, meine Kleiner», fragt Beth mit hoher, verzückter Stimme. «Mama hat dich ja so ver‐ misst!» Eine Minute später jedoch schubst sie die Katze, die es sich schnurrend auf ihrem ausladenden, warmen Leib bequem machen will, ungeduldig hinunter und kämpft sich erneut aus dem La‐Z‐Boy hervor. Auf einmal gibt es so viele Dinge zu tun. Zwei Wochen nach der Abschlussfeier an Central High be‐ stand Ahmed an der Prüfstelle in Wayne die Prüfung für den Gewerbeführerschein. Seine Mutter, die ihm in so mancher Hinsicht gestattet hatte, sich selbst zu erziehen, begleitete ihn in dem verbeulten kastanienbraunen Su‐ baru Station Wagon, mit dem sie zum Krankenhaus fuhr, ihre Bilder in den Geschenkladen in Ridgewood und zu anderen Ausstellungsorten, die ihr zugänglich waren, trans‐ portierte, darunter Amateurausstellungen in Kirchen und Schulaulen. Die unteren Ränder der Karosserie sind vom Streusalz vieler Winter angefressen, und ihr unbekümmer‐ ter Fahrstil und die hastig geöffneten Türen anderer Autos auf Parkplätzen und in Hochgaragen haben an den Seiten und an den Kotflügeln Spuren hinterlassen. Den rechten 180
vorderen Kotflügel, Opfer eines Missverständnisses an ei‐ ner mit Stoppschildern versehenen Kreuzung, hat notdürf‐ tig einer ihrer Freunde zu rechtgespachtelt, ein erheblich jüngerer Mann, der Schrottskulpturen zusammenbastelte und nach Tubac, Arizona, gezogen war, bevor er dazu kam, die Delle glatt zu schleifen und zu lackieren. Also ist sie rau, uneben und Spachtelmassenfarben geblieben, und an anderen Stellen, vor allem auf der Motorhaube und auf dem Dach, ist der jeder Witterung im Freien ausgesetzte kastanienbraune Lack zu einem Pfirsichton verblichen. Wie Ahmed es sieht, möchte seine Mutter offenbar ihre Ar‐ mut zur Schau tragen, ihr alltägliches Versagen vor der Auf‐ gabe, in der Mittelschicht aufzugehen, als wäre ein solches Versagen unabdingbar für ein Künstlerleben und die indi‐ viduelle Freiheit, die ungläubigen Amerikanern so kostbar ist. Mit ihren unzähligen Armreifen, den Wohlstandssym‐ bolen einer bestimmten Boheme, und ihrer kuriosen Klei‐ dung – wie die vom Hersteller bekleckst gelieferten Jeans und die lila eingefärbte Lederweste, die sie an diesem Tag trägt – gelingt es ihr unfehlbar, Ahmed in Verlegenheit zu bringen, wann immer sie sieh zusammen in die Öffentlich‐ keit wagen. An jenem Tag in Wayne hat sie mit dem älteren Mann, diesem erbärmlichen Lakai des Staates, der die Prüfung ab‐ nahm, geflirtet. Sie hat gesagt: «Ich hab keine Ahnung, warum er meint, er würde gern Laster fahren. Die Idee hat ihm sein Imam in den Kopf gesetzt – nicht seine Mama, sein Imam. Das liebe Kind bezeichnet sich nämlich als Moslem.» Den Mann hinter dem Sehreibtisch im regionalen Dienst‐ leistungszentrum des Kraftfahrzeugverbands in Wayne schien dieser Schwall von mütterlichem Bekenntnisdrang zu verwirren; er dachte erst einmal nach. «Kann einer schon 181
regelmäßig sein Geld damit verdienen», brachte er schließ‐ lich heraus. Ahmed merkte, dass dem Staatsdiener Worte schwer über die Lippen kamen, dass er das Gefühl hatte, seinen inneren Vorrat an einem kostbaren, knappen Rohstoff zu vergeuden. So geduckt, wie er da unter seinen flackernden Leuchtröhren an seinem Schreibtisch hockte, nahm sich sein perspektivisch verkürztes Gesicht auf schwer bestimm‐ bare Weise entstellt aus, als sei es einmal von einer heftigen Empfindung aufgewühlt worden und dann erstarrt. Und einen so hoffnungslosen Trottel überschüttete Ahmeds Mutter mit ihren neckischen Zuwendungen, auf Kosten der Würde ihres Sohnes! In sein Spinnennetz von Verord‐ nungen verstrickt, bekam dieser scheintote Typ nicht mit, dass Ahmed wohl alt genug war, den Führerschein Klasse C CDL zu beantragen, jedoch noch nicht ganz Manns ge‐ nug, seine Mutter zu verleugnen. Zu dem Kerl drang gerade noch durch, dass sich die Frau ungebührlich verhielt und ihn möglicherweise verspottete, und daher schnappte er sich aus der Hand des Antragstellers den ausgefüllten Fra‐ gebogen zu dessen körperlichem Zustand und ließ Ahmed den Kopf in einen Kasten stecken, der von ihm verlangte, mit jeweils einem Auge Buchstaben in wechselnden Far‐ ben zu lesen und Rot von Grün sowie beide von Gelb zu unterscheiden. Die Maschine maß Ahmeds Tauglichkeit, eine andere Maschine zu lenken, und der Mann, der den Test überwachte, litt vor Ingrimm an einem anhaltenden Starrkrampf, denn der Job, den er Tag für Tag machte, hatte ihn seinerseits in eine Maschine verwandelt, in ein leicht zu ersetzendes Teil im Räderwerk des gnadenlosen, mate‐ rialistischen Westens. Nur dank dem Islam, hatte Scheich Rashid des Öfteren ausgeführt, waren die Kenntnisse der 182
Griechen in Naturwissenschaft und simpler Mechanik er‐ halten geblieben, während das gesamte christliche Europa jener Zeit, barbarisch, wie es war, alles vergessen hatte. In der Welt der Gegenwart sind die Helden des islamischen Widerstands gegen den großen Satan ehemalige Arzte und Ingenieure, beschlagen im Umgang mit technischen Gerä‐ ten wie Computern, Flugzeugen und Bomben am Straßen‐ rand. Im Gegensatz zum Christentum fürchtet der Islam die wissenschaftliche Wahrheit nicht. Allah hat die physische Welt geschaffen, und alle in ihr verborgenen Pläne und Ent‐ würfe sind, wenn man sie zu heiligen Zwecken gebraucht, heilig. Unter solchen Überlegungen nahm Ahmed seinen Lkw‐Führerschein entgegen. Für den C‐Schein wurde eine praktische Prüfung auf der Straße nicht gefordert. Scheich Rashid ist erfreut. «Der Augenschein kann täu‐ schen», erklärt er Ahmed. «Unsere Moschee wirkt zwar, wie ich wohl weiß, auf jugendliche Blicke schäbig und äußerlich verschlissen, sie ist jedoch aus starken Fäden geknüpft und auf Wahrheiten gegründet, die tief in den Herzen von Männern verankert sind. Die Moschee besitzt Freunde – Freunde, deren Macht ihrer Frömmigkeit nicht nachsteht. Erst kürzlich hat mich das Oberhaupt der Fami‐ lie Chehab wissen lassen, dass sein prosperierendes Unter‐ nehmen einen jungen Lastwagenfahrer sucht, der keinen unreinen Gewohnheiten frönt und in unserem Glauben ge‐ festigt ist.» «Ich habe ja nur den C‐Schein», sagt Ahmed und weicht einen Schritt vor dem zurück, was er als allzu leichten und raschen Eintritt in die Erwachsenenwelt empfindet. «Ich darf nicht außerhalb des Bundesstaats fahren und keine gefährlichen Ladungen transportieren.» In den Wochen seit dem Schulabschluss hat er es genos‐ 183
sen, in halbem Müßiggang bei seiner Mutter zu leben, zu wechselnden Zeiten für ein paar grell beleuchtete Stunden bei Shop‐a‐Sec zu arbeiten und gewissenhaft seine täglichen Gebete zu verrichten. Hin und wieder hat er sich ins Kino gewagt, hat den Aufwand, den Verbrauch an Munition, den man sich in Hollywood leistet, und die Schönheit der Ex‐ plosionen dort bewundert und ist in seinen alten Laufshorts durch die Straßen gerannt, manchmal bis in die Reihenhaus‐ gegend, durch die er an jenem Sonntagmittag mit Joryleen gegangen ist. Er bekommt sie nie zu sehen, nur Mädchen von ähnlicher Hautfarbe, die, wenn sie wissen, dass sie be‐ obachtet werden, so daherschlendern wie sie. Während er durch die heruntergekommenen Straßen flitzt, erinnert er sieh an Mr. Levys unbestimmtes Gerede von einem Col‐ legestudium und dessen nebulösem, aber imposantem Gegenstand, «Naturwissenschaft, Kunst, Geschichte». Tat‐ sächlich ist der Beratungslehrer noch ein‐, zweimal zu ihnen in die Wohnung gekommen und war dann zwar zu Ahmed durchaus freundlich, ging jedoch jedes Mal rasch wieder, als wüsste er nicht mehr, warum er gekommen war. Ohne sonderlich auf das zu achten, was ihm geantwortet wurde, hatte er Ahmed gefragt, wie es um seine Pläne stehe und ob er vorhabe, in der Gegend zu bleiben oder aufzubrechen und sich die Welt anzusehen, wie es sich für einen jungen Mann gehöre. Was sonderbar klang, zumal aus dem Mund von Mr. Levy, der sein ganzes Leben in New Prospect verbracht hat, mit Ausnahme seiner Collegezeit und dem Militärdienst, der für amerikanische Männer früher einmal Pflicht war. Ob‐ wohl damals der zum Scheitern verurteilte amerikanische Krieg gegen die vietnamesische Selbstbestimmung im Gan‐ ge war, wurde Mr. Levy nie außerhalb der USA eingesetzt und hatte immer nur Bürojobs, was sein Gewissen belastet, 184
denn wenn der Krieg auch ein Irrtum war, bot er doch die Chance, Mut und die Liebe zum eigenen Land zu beweisen. Das weiß Ahmed, weil seine Mutter manchmal mit ihm über Mr. Levy spricht – was für ein netter Mann er anscheinend sei, wenn auch kein sehr glücklicher: Von der Schulver‐ waltung werde er zu wenig gewürdigt, und seiner Frau und seinem Sohn bedeute er nicht mehr viel. Ahmeds Mutter ist in letzter Zeit ungewöhnlich gesprächig und neugierig; sie nimmt an Ahmeds Leben mehr Anteil, als er bisher erwarten konnte, fragt ihn jedes Mal, wenn er ausgeht, wann er zu‐ rückkommen will, und wird manchmal ärgerlich, wenn er «Ach, irgendwann» erwidert. «Und wann genau wird das bitte sein?» «Mutter! Lass mich doch mal in Frieden. Ziemlich bald. Kann sein, dass ich noch ein bisschen in der Bibliothek rumstöbere.» «Möchtest du vielleicht ein bisschen Geld fürs Kino?» «Ich habe Geld, und ich hab mir gerade ein paar Filme an‐ gesehen, einen mit Tom Cruise und einen mit Matt Dämon. In beiden ging’s um Berufskiller. Scheich Rashid hat schon Recht – Filme sind sündhaft und töricht, ein Vorgeschmack der Hölle.» «Auweia, wie fromm wollen wir denn noch werden! Hast du denn keine Freunde? Haben Jungen deines Alters nicht im Allgemeinen Freundinnen?» «Moni, ich bin nicht schwul, falls du das meinst.» «Und woher weißt du das?» Das schockierte ihn. «Ich weiß es eben.» «Nun, ich weiß nur eins», sagte sie und harkte sich mit den angewinkelten Fingern der linken Hand das Haar aus der Stirn, eine rasche Geste, die bedeutete, dass sie einsah, wie verheddert dieses Gespräch war, und dass sie es kappen 185
wollte, «und zwar, dass ich nie weiß, wann du hier mal wie‐ der auftauchen wirst.» In ähnlich gereiztem Ton antwortet nun Scheich Rashid: «Sie wollen gar nicht, dass du außerhalb des Staates fährst. Sie wollen dich keine gefährlichen Ladungen transportieren lassen – sondern Möbel. Die Chehabs sind die Besitzer der Firma Excellency, Wohnbedarf, am Reagan Boulevard, die dir schon aufgefallen sein muss. Jedenfalls habe ich die Fa‐ milie Chehab sicher schon einmal erwähnt.» «Die Chehabs?» Manchmal befürchtet Ahmed, dass er, in sein Gefühl versunken, Gott sei ihm ganz nahe – so nah, dass sie eine einzigartige heilige Einheit bilden, näher als die Halsschlagader, wie es der Koran ausdrückt‐, weniger ir‐ dische Details wahrnimmt als andere, nichtreligiöse Men‐ schen. «Habib und Maurice Chehab», stellt der Imam klar, mit einer Ungeduld, die seine Worte so präzise abhackt, wie sein Bart gestutzt ist. «Sie sind Libanesen, jedoch weder Maroniten noch Drusen. Sie sind als junge Männer in dieses Land gekommen, in den sechziger Jahren, als es so aussah, als würde der Libanon zum Trabanten des zionistischen Ge‐ bildes werden. Sie haben ein gewisses Kapital mitgebracht und es in Execellcncy gesteckt. Preiswerte Möbel, neu und gebraucht, für die Schwarzen – das war die grundlegende Geschäftsidee, und sie hat sich als erfolgreich erwiesen. Habibs Sohn, Charlie für seine Freunde, war bisher im Ver‐ kauf tätig und hat sich um die Lieferungen gekümmert, aber nun möchten sie, dass er eine gewichtigere Rolle in der Geschäftsleitung übernimmt, denn Maurice hat sich bis auf ein paar Sommermonate nach Florida zurückgezogen, und Habib ist durch seinen Diabetes zunehmend in seiner Leis‐ tungsfähigkeit beeinträchtigt. Charlie wird dir – wie sagt 186
man gleich? – zeigen, wo’s langgeht. Du wirst ihn mögen, Ahmed. Er ist sehr amerikanisiert.» Die grauen, femininen Augen des Jemeniten verengen sich; er ist belustigt. Für ihn ist Ahmed ein Amerikaner. Er kann noch so viel Eifer an den Tag legen, noch so fleißig den Koran studieren, an der Herkunft seiner Mutter und der Abwesenheit seines Vaters ändert es nichts. Das Fehlen von Vätern, die bedauerliche Tatsache, dass die Vaterschaft Männer nicht mehr loyal an ihren Hausstand zu binden vermag, ist eines der Merkmale dieser dekadenten, wurzel‐ losen Gesellschaft. Scheich Rashid – schmal wie ein Dolch, ein schmächtiger Mann, der eine gefährliche Schläue aus‐ strahlt und gelegentlich imstande ist anzudeuten, mög‐ licherweise habe der Koran nicht schon seit Ewigkeiten im Paradies existiert, wohin sich der Prophet bei seinem nächtlichen Ritt auf dem übernatürlichen Pferd Buraq be‐ geben hat – bietet sich nicht selbst als Vatergestalt an; die Beachtung, die er Ahmed gewährt, hat einen Anflug von Bruderzwist, von Hohn; es steckt ein Splitter von Feindse‐ ligkeit darin. Doch er behält Recht, Ahmed mag Charlie Chehab wirk‐ lich. Er ist ein gedrungener Mittdreißiger, gut eins achtzig groß, mit tiefen Knitterfalten in seinem dunklen Gesicht und einem breiten, geschmeidigen Mund, der viel in Be‐ wegung ist. «Ahmed», sagt er, wobei er beide Silben gleich stark betont und den zweiten Vokal dehnt wie in «Armee» oder in «Asket». «Na, wen verarztest du denn so, Medizin‐ mann?» Darauf erwartet er keine Antwort, sondern fährt fort: «Willkommen bei Excellency, wie wir nun mal heißen. Mein Dad und mein Onkel konnten noch nicht richtig Eng‐ lisch, als sie die Firma so genannt haben; sie glaubten, das hieße so viel wie etwas Exzellentes.» Während er spricht, 187
ziehen komplizierte innere Regungen über sein Gesicht, Verachtung, Selbstironie, Misstrauen und – nun zieht er die Brauen hoch – gutmütiger Spaß daran, dass er und sein Ge‐ genüber irgendwie in einer vertrackten Lage stecken. «Wir konnten sehr wohl Englisch», protestiert sein Vater, der neben ihm steht. «Wir haben’s in Beirut an der amerika‐ nischen Schule gelernt. ‹Excellency› bedeutet, dass etwas hervorragend ist. Wie ‹new› in New Prospect. Das heißt ja nicht, dass hier jetzt Aussicht auf Neues besteht – damals war’s so. Wenn wir die Firma ‹Möbel Chehab› nennen, fra‐ gen die Leute doch bloß, ‹Was heißt denn das, Chehab?›» Er spricht das «Ch» leicht gehaucht aus, ein Laut, den Ah‐ med mit seinen Koranstunden in Verbindung bringt. Charlie ist gut einen Kopf größer als sein Vater, und so kann er mühelos den Arm um den Kopf des älteren, blas‐ seren Mannes legen und ihn liebevoll an sich drücken, was sich wie ein argloser Ringergriff ausnimmt. So umschlungen, sieht der Kopf von Mr. Chehab senior wie ein riesiges Ei aus, auf dem Scheitel haarlos und insgesamt dünnhäutiger als der seines gummigesichtigen Sohnes. Das Gesicht des Vaters wirkt ein wenig durchsichtig und gedunsen, mögli‐ cherweise aufgrund der Zuckerkrankheit, von der Scheich Rashid gesprochen hat. Doch obwohl Mr. Ghehab von einer glasigen Fahlheit ist, verhält er sich nicht wie ein kränk‐ licher Mann; er muss älter sein als etwa Mr. Levy, wirkt aber jünger, füllig, nervig und aufgeschlossen für Humor, sogar für den seines Sohnes. Beschwörend wendet er sieh an Ahmed: «Amerika! Wie man das Land hier hassen kann, verstehe ich nicht. Ich bin als junger Mann hierher gekom‐ men, nur mit meinem Bruder – ich war zwar schon verhei‐ ratet, aber meine Frau musste ich zurücklassen –, und es gab keine Spur von all dem Hass und den Schießereien wie 188
in meinem Land, wo alle zu irgendwelchen Stämmen ge‐ hören. Christen, Juden, Araber, gleichgültig, schwarz, weiß, irgendwas dazwischen – hier kommen alle miteinander aus. Hast du was Gutes zu verkaufen, dann kaufen’s die Leute. Hast du Arbeit zu vergeben, dann finden sich auch Leute dafür. Alles ist klar und deutlich, zumindest an der Ober‐ fläche. Macht das Geschäft einfach. Keinerlei Probleme, von Anfang an. In der Alten Welt haben wir unsere Preise immer hoch angesetzt und uns dann runterhandeln lassen, aber hier versteht das keiner. Sogar arme zanj – wenn die ein Sofa oder einen Sessel kaufen wollen, bezahlen sie, was auf dem Preisschild steht, genau wie im Supermarkt. Bloß, es kommen nicht viele. Wir verstehen, setzen die Preise, die wir uns erwarten, auf die Möbel – niedrigere Preise –, und mehr Leute kommen. Da sag ich zu Maurice: ‹Wir sind hier in einem ehrlichen, freundlichen Land. Hier werden wir keine Probleme haben.›» Charlie hat seinen Vater mittlerweile freigegeben; er schaut dem neuen Angestellten auf gleicher Höhe in die Augen, denn Ahmed ist ungefähr so groß wie er, wenn auch fünfzehn Kilo leichter, und zwinkert ihm zu. «Papa», sagt er gedehnt, «es gibt sehr wohl Probleme. Die zanj hatten keinerlei Rechte, die mussten sie sich erst erkämpfen. Sie wurden gelyncht und nicht in Restaurants gelassen, sogar eigene Trinkwasserhähne gab’s für sie, sie mussten bis zum Obersten Gericht gehen, um als Menschen anerkannt zu werden. Nichts ist gratis in Amerika, um alles muss ge‐ kämpft werden. Es gibt keine umma, keine sharia. Lass es dir von dem jungen Mann hier sagen, er hat gerade die High School hinter sich. Um alles wird Krieg geführt, hab ich nicht Recht? Schau dir doch Amerika im Ausland an – Krieg. In Palästina haben sie ein Land für Juden reingequetscht, 189
damit haben sie den Nahen Osten an der Gurgel, und jetzt dringen sie mit Gewalt in den Irak vor, um ein kleines Ame‐ rika daraus zu machen und um an das Öl zu kommen.» «Glaub ihm bloß nicht», sagt Habib Chehab zu Ahmed. «Er redet solches Propagandazeug, aber er weiß, dass er’s hier gut hat. Er ist ein guter Junge. Siehst du? Da lächelt er.» Und Charlie lächelt nicht nur, er wirft den Kopf zurück, sodass der Hufeisenbogen seiner oberen Zähne und der körnige, an einen dicken Wurm erinnernde Muskel seiner Zunge sichtbar werden, und er lacht. Sein geschmeidiger Mund kräuselt sich zu einer nachdenklichen Schnute; seine wachsamen Augen unter den dichten Brauen sind forschend auf Ahmed gerichtet. «Und wie siehst du das alles, Medizinmann? Der Imam sagt, du bist sehr fromm.» «Ich bemühe mich, den rechten Weg zu gehen», gibt Ahmed zu. «Das ist nicht leicht in diesem Land. Es gibt zu viele Wege, es wird zu viel Unnützes verkauft. Sie geben mit ihrer Freiheit an, aber Freiheit ohne Ziel wird zu einer Art von Gefängnis.» Der Vater unterbricht ihn laut. «Du hast noch nie ein Ge‐ fängnis erlebt. In diesem Land hier fürchten sich die Leute nicht vor dem Gefängnis. Im Gegensatz zur Alten Welt. Im Gegensatz zu den Saudis, zum Irak von früher.» «Papa», sagt Charlie beschwichtigend, «in den USA gibt’s mehr Häftlinge als sonst wo in der Welt.» «Nicht mehr als in Russland. Oder in China, bloß erfah‐ ren wir’s nicht.» «Ganz schön viele jedenfalls – bald zwei Millionen. Für die jungen schwarzen Frauen gibt’s nicht mal genug Män‐ ner, weil die alle im Gefängnis sitzen!» 190
«Gefängnisse sind für Verbrecher da. Drei‐, viermal im Jahr brechen sie im Laden ein. Wenn sie kein Geld finden, schlagen sie die Möbel kaputt und scheißen überall hin. Ekelhaft!» «Papa, sie sind unterprivilegiert. Für sie sind wir reich.» «Dein Freund Saddam Hussein weiß, was Gefängnisse sind. Die Kommunisten früher wussten’s auch. Der Durch‐ schnittsmensch in diesem Land hier hat keine Ahnung von Gefängnissen. Er fürchtet sich nicht davor. Er macht seinen Job, hält sich an die Gesetze. Sind ja auch nicht schwer ein‐ zuhalten, die Gesetze: nicht stehlen. Nicht töten. Nicht die Frau von jemand anderm bumsen.» Einige von Ahmeds Schulkameraden an Central High hatten gegen Gesetze verstoßen, waren vor das Jugendge‐ richt gekommen und wegen Drogenbesitz, Einbruch oder Trunkenheit am Steuer verurteilt worden. Die übelsten darunter betrachteten Gerichte und Gefängnisse als einen Teil des normalen Lebens, der für sie keinen Sehrecken barg; sie hatten sich bereits damit abgefunden. Diese Erfah‐ rungen würde Ahmed gern zu der Debatte beitragen, doch Charlie kommt ihm zuvor; pfiffig gibt er zu erkennen, dass er den Frieden sucht, gleichzeitig aber darauf brennt, sein schlagendes Argument vorzubringen: «Und was ist mit un‐ serem kleinen Konzentrationslager in Guantanamo, Papa? Die armen Kerle dort haben nicht mal Zugang zu einem An‐ walt. Sie haben nicht mal Imame, die keine Spitzel sind.» «Das sind feindliche Soldaten», sagt Habib Chehab ver‐ drossen; er möchte die Diskussion beenden, kann sich aber nicht geschlagen geben. «Das sind gefährliche Leute. Sie wollen Amerika zerstören. Das sagen sie vor Reportern, ob‐ wohl sie von uns besser ernährt werden als jemals von den Taliban. Für sie war der elfte September ein großer Spaß. 191
Für sie ist das Krieg, Dschihad. Das sagen sie sogar selber. Was erwarten sie denn – dass die Amerikaner kuschen und sich nicht verteidigen? Sogar Bin Laden rechnet mit Gegen‐ wehr.» «Dschihad muss nicht Krieg bedeuten», sagt Ahmed so schüchtern, dass ihm die Stimme kippt. «Es bedeutet, dass man bestrebt ist, den Weg Gottes zu gehen. Es kann auch einen inneren Kampf bedeuten.» Der ältere Chehab betrachtet ihn mit neu erwachtem Interesse. Seine Augen sind von einem helleren Braun als die seines Sohnes; sie sind goldene Murmeln auf wässrig‐ weißem Grund. «Du bist ein guter Junge», sagt er feierlich. Charlie legt seinen kräftigen Arm fest um Ahmeds hagere Schultern, wie um zum Ausdruck zu bringen, dass zwischen ihnen dreien Solidarität herrscht. «Das sagt er nicht zu je‐ dem», vertraut er dem Neuling an. Das Einstellungsgespräch findet hinten in der Ausstel‐ lungshalle statt, wo eine Theke ein paar Stahlschreibtische von dem übrigen Raum abtrennt; jenseits der Tische füh‐ ren zwei Milchglastüren zu den Büros. Sonst dient die ge‐ samte Halle als Ausstellungsfläche – ein Grauen erregen‐ des Labyrinth aus Stühlen, Beistelltischen, Couchtischen, Tischlampen, Stehlampen, Sofas, Sesseln, Esstischen mit passenden Stühlen, Fußschemeln, Büfetts, Kronleuchtern, die so dicht hängen wie Dschungelranken, Wandleuchten, emailliert oder in unterschiedlich behandeltem Metall, großen und kleinen Spiegeln in sachlichen bis prunkvollen Ausführungen, in vergoldeten Rahmen oder in solchen, die versilberte Gebinde aus Blättern und prallen Blüten bilden, aus geschnitzten Bändern und Adlern im Profil, mit erhobenen Schwingen und gekrümmten Krallen; über Ahmeds verschrecktes Spiegelbild hinweg glotzen ame‐ 192
rikanische Adler ihm entgegen, einem schmalen Jungen gemischter Abstammung in weißem Hemd und schwarzen Jeans. «Eine Treppe tiefer», sagt der gedrungene, rundliche Va‐ ter mit der glänzenden, gebogenen Nase und den dunklen Tränensäcken unter den müden goldenen Augen, «haben wir die Gartenmöbel stehen, für Rasen und Veranda, aus Korbgeflecht oder zum Zusammenklappen, und sogar ein paar Pavillons in Aluminium, rundum mit Drahtgeflecht ausgestattet, damit die Familie vor Insekten geschützt ist, wenn sie mal im Freien durchatmen will. Im Obergeschoss stehen die Schlafzimmermöbel, die Betten und Nacht‐ tische und Kommoden, die Toilettentische für die Dame des Hauses, die Schränke für Wohnungen, in denen es zu wenig Stauraum gibt, Chaiselongues, damit die Dame mal die Füße hochlegen kann, Polstersesselchen und Hocker für die gleichen Momente der Entspannung, Stehlämpchen, die ein weicheres Licht geben, passend zu dem, du weißt schon, was in einem Schlafzimmer so laufen sollte.» Vielleicht sieht Charlie, dass Ahmed rot wird, denn er sagt unwirsch: «Neu, gebraucht – da unterscheiden wir nicht so genau. Das Preisschild sagt alles, und der Zustand des Stücks natürlich. Möbel sind nicht wie Autos; sie haben keine großen Geheimnisse. Was du siehst, das kriegst du. Aber jetzt zu dem Punkt, wo du und ich ins Spiel kommen: Ware für mehr als hundert Dollar liefern wir innerhalb des Bundesstaats kostenlos ins Haus. Das finden die Leute toll. Nicht dass bei uns sehr viele Kunden aus Cape May herein‐ schauen, aber allein die Vorstellung, dass sie etwas umsonst kriegen, finden die Leute toll.» «Und Teppiche», sagt Habib Chehab. «Die Leute wol‐ len nun mal Orientteppiche, als ob Libanesen aus Arme‐ 193
nien kommen würden oder aus dem Iran. Also führen wir im Untergeschoss eine Auswahl, und jeder Teppich, der im Geschäft liegt, ist zu kaufen. Wir reinigen ihn, bevor er an den Kunden geht. An der Reagan Avenue gibt’s zwar auch reine Teppichhändler, aber die Leute glauben an unsere günstigen Preise.» «Sie glauben an uns, Papa», sagt Charlie. «Wir haben ei‐ nen guten Ruf.» An Ahmeds Nase dringt die Aura von Sterblichkeit, die von diesem gedrängten Wust von Wohngegenständen aus‐ geht, die Polster, Teppiche und Stofflampenschirme in sich aufgesogen haben, der Geruch organischen Menschen‐ lebens mit seinen vielleicht gerade mal erbärmlichen sechs Stellungen und Bedürfnissen, die sich zwischen den mit Spiegeln voll gepflasterten Wänden in einer verzweifelten Vielfalt von Stilen und Profilen wiederholen, die jedoch immer auf das gleiche alltägliche Elend hinauslaufen, mit seiner Abnutzung und Langeweile, mit seinen abge‐ schlossenen Räumen, den Fußböden und Zimmerdecken, die konstant Endlichkeit markieren, mit der stummen, sti‐ ckigen Hoffnungslosigkeit eines Lebens ohne Gott als na‐ hem Gefährten. Das Schauspiel ruft in Ahmed eine Emp‐ findung wach, die in den Falten seiner Kindheit vergraben gelegen hat – das falsche Kaufglück, die Versuchung, die von dem trügerischen Überfluss an Produkten ausgeht. Mit seiner Mutter ist er damals die Rolltreppen hinaufgefahren und durch die Parfumwogen auf den Gängen des letzten, dahinsiechenden Kaufhauses der Innenstadt gestreift; oder, im Trab, um mit den energischen Schritten der Mutter mit‐ zuhalten, und verlegen ob ihrer Sommersprossen, die zu seinem lohfarbenen Teint so schlecht passten, über geteer‐ te Parkplätze in die riesigen Hallen hastig hochgezogener 194
Hangars im Kastenstil, in denen sich unter unverkleideten Eisenträgern abgepackte Waren stapelten. Bei solchen Ein‐ kaufstrips, gezielt nur unternommen, um ein bestimmtes, nicht mehr reparierbares Haushaltsgerät oder ein Stück von Ahmeds Jungenkleidung zu ersetzen, aus dem er un‐ erbittlich herausgewachsen war, oder um – bevor der Is‐ lam ihn gegen derlei immun machte – ein lang begehrtes elektronisches Spiel zu erstehen, das in der Saison darauf bereits veraltet sein würde, wurden Mutter und Sohn von allen Seiten bedrängt von attraktiven, ingeniösen Dingen, die sie nicht brauchten und sich nicht leisten konnten; potenzielle Besitztümer, die andere Amerikaner offenbar mühelos erwarben, die sie selbst aber vom Gehalt einer alleinstehenden Schwesternhelferin unmöglich abzwacken konnten. Ahmed hatte vom amerikanischen Überfluss ge‐ kostet, indem er von unten daran leckte. Wie Teufel ka‐ men sie ihm vor, all die vielen protzigen Packungen, die langen Ständer mit der fadenscheinigen Mode des Tages, die Regale, voll mit mörderischen chipgesteuerten Trick‐ filmen, Filmen, die die Massen zum Kauf anstacheln, zum Konsum, solange die Welt noch über Ressourcen verfügt, die sich konsumieren, am Futtertrog verschlingen lassen, bevor der Tod die gierigen Münder für immer schließt. Bei all dieser Verlockung Bedürftiger zum Schuldenmachen stand unter dem Strich der Tod, er war die Theke, auf der die dahinschwindenden Dollars landeten. Eil dich, kauf jetzt, denn die reinen, schlichten Freuden des Jenseits sind hohle Märchen. Auch bei Shop‐a‐Sec werden natürlich Waren verkauft, vorwiegend jedoch Tüten und Schachteln mit schädlichem, stark salzigem oder zuckerhaltigem Knabberzeug, dazu Fliegenklatschen aus Plastik und in China hergestellte Blei‐ 195
stifte mit unbrauchbaren Radiergummis; hier jedoch, in diesem großartigen Ausstellungsraum, hat Ahmed das Ge‐ fühl, für die Armee des Handels rekrutiert zu werden, und trotz der nahen Präsenz des Gottes, von dem alle materiel‐ len Dinge lediglich einen Schatten darstellen, findet er es erregend. Der Prophet selbst war Händler. Der Mensch wird nicht müde, um das zu beten, was gut ist, heißt es in der einund‐ vierzigsten Sure. Zu diesen guten Dingen müssen auch die Erzeugnisse der Welt gerechnet werden. Ahmed ist jung; also bleibt ihm noch viel Zeit, folgert er, für materialistische Verirrungen Vergebung zu erlangen, falls er deswegen der Vergebung bedarf. Gott ist ihm näher als seine Halsschlag‐ ader, und Gott weiß, was es heißt, Komfort zu begehren, sonst hätte er das nächste Leben nicht so komfortabel ge‐ schaffen: Im Paradies, versichert der Koran, gibt es Teppi‐ che und Sofas. Ahmed wird aufgefordert, nach draußen mitzukommen und sich den Laster anzusehen, seinen künftigen Laster. Charlie führt ihn an den Schreibtischen vorbei und einen Korridor entlang, der fleckig von einem Oberlicht be‐ leuchtet wird, auf dem abgefallene Zweige, Blätter und geflügelte Samen liegen. Auf dem Korridor gibt es einen Wasserkühler, einen Kalender, dessen Ziffernkästchen randvoll mit Lieferdaten zugekritzelt sind, und einen Ge‐ genstand, der, wie Ahmed erfahren wird, eine Stechuhr ist, und daneben an der Wand einen Ständer mit Fächern für die täglich einzuschiebende Zeitkontokarte eines jeden Angestellten. Charlie öffnet eine weitere Tür, und da wartet der Laster, rückwärts an eine Laderampe aus dicken Planken herange‐ fahren, über die ein Schutzdach ragt. Der Laster, ein hoher, orangefarbener Kasten, an jeder Kante mit aufgenieteten 196
Metallstreifen verstärkt, erschreckt Ahmed, als er sich ihm zum ersten Mal nähert; von der Ladeplanke aus erscheint ihm das Fahrzeug wie ein gewaltiges, plattstirniges Tier, das ihm allzu nah kommt, wie es sich da so dicht an die Rampe drängt, als wollte es gefüttert werden. Auf den orangefar‐ benen, vom Straßenstaub ein wenig stumpf gewordenen Seitenflächen steht in kursiven indigoblauen Lettern mit goldenen Konturen das Wort Excellency, darunter in Block‐ buchstaben WOHNBEDARF und darunter, kleiner, die Adresse und Telefonnummer des Unternehmens. Der Lkw hat hinten Doppelreifen. Seine wuchtigen chrom‐ glänzenden Seitenspiegel ragen hervor. Die Fahrerkabine grenzt ohne Abstand an den kastenförmigen Laderaum. Ein stolzes, aber freundliches Fahrzeug. «Ein verlässliches altes Vieh», sagt Charlie. «Hat hundertzehntausend Meilen auf dem Buckel, ohne größere Scherereien. Komm runter und mach dich damit bekannt. Nicht springen – nimm die Stufen da drüben. Würd uns gerade noch fehlen, dass du dir am ersten Arbeitstag den Knöchel brichst.» Dieser Hof kommt Ahmed bereits irgendwie vertraut vor. In Zukunft wird er ihn gut kennen lernen – die Laderampe, die rissige, in der wabernden Sommerglut brütende Beton‐ fläche des Parkplatzes, die umliegenden flachen Backstein‐ gebäude und die Rückseiten von Reihenhäusern, an denen sich Gerumpel häuft, ein rostender Kipplaster im Winkel des Hofs von einem längst eingegangenen Unternehmen, das halb wahrgenommene ozeanische Rauschen des vor‐ überwogenden Verkehrs auf der nahen vierspurigen Ausfall‐ straße. Dieser Ort wird für Ahmed immer magisch bleiben, friedvoll wie nicht von dieser Welt, wie verstärkt von einer erhabenen Macht beäugt. Es ist ein von Gott angehauchter Ort. 197
Ahmed geht die vier dicken hölzernen Stufen hinunter und steht auf der gleichen Ebene wie der Laster. Auf einer Plakette an der Fahrertür steht Ford Triton E‐350 Super Duty. Charlie öffnet diese Tür und sagt: «Auf geht’s, Medi‐ zinmann. Steig ein.» In der Kabine hängt ein warmer, ledriger Geruch nach Männerkörpern, abgestandenem Zigarettenrauch, kaltem Kaffee und der Fleischfüllung unterwegs verzehrter italie‐ nischer Sandwichs. Nach all den Stunden, die Ahmed mit dem Studium der Lehrgangsbroschüren zum Gewerbefüh‐ rerschein verbracht hat, in denen so viel von zweimaligem Kupplungtreten und Runterschalten auf gefährlich abschüs‐ sigen Strecken die Rede war, überrascht ihn das Fehlen ei‐ nes Schaltknüppels. «Wie schalten wir hier denn?» «Gar nicht», erklärt Charlie. Unmut zerknittert sein Ge‐ sicht, aber sein Ton bleibt ziemlich neutral. «Er hat Auto‐ matik, genau wie ein braves Familienauto.» Wie der peinliche Subaru von Ahmeds Mutter. Sein neu‐ er Freund spürt, dass er verlegen ist, und sagt beruhigend: «Bei Gangschaltung musst du dich bloß um eine Sache mehr kümmern. Wir hatten mal einen neuen Fahrer, der hat beim Abwärtsfahren den Rückwärtsgang eingelegt und das Getriebe damit gekillt.» «Aber soll man an einem steilen Hang nicht runterschal‐ ten? Statt den Fuß auf der Bremse zu halten und die Brems‐ beläge abzunutzen?» «Kannst du machen; du kannst mit dem Hebel da am Steuer runterschalten. Aber mit Bergen hat’s dieser Teil von New Jersey nicht gerade. Ist ja nicht so, als ob wir in West Virginia wären.» Charlie kennt die Staaten; er ist ein Mann von Welt. Nun geht er vorne um den Laster herum, und mit affenartig aus‐ 198
holenden Armen hangelt er sich in einem einzigen Schwung lässig auf den Beifahrersitz. Für Ahmed fühlt es sich so an, als wäre jemand zu ihm ins Bett gesprungen. Charlie zieht ein rotweißes Zigarettenpäckchen aus der Tasche seines Hemds – aus grobem, robustem Gewebe, ähnlich wie Denim, nur militärgrün statt blau – und schnippt gewandt dagegen, sodass sich mehrere Zigaretten mit hellbraunem Filter ein Stück weit vorschieben. «Nimmst du eine, für die Nerven?», fragt er Ahmed. «Nein, danke, Sir. Ich rauche nicht.» «Ach was? Wie klug von dir, Medizinmann. Dann lebst du ewig. Schenk dir das ‹Sir›, ‹Charlie› reicht völlig. Na schön, jetzt wollen wir dich die Kiste hier mal fahren sehen.» «Jetzt gleich?» Charlie schnaubt und prustet eine Rauchwolke in Ahmeds Gesichtsfeld. «Nächste Woche wär dir’s lieber? Wozu bist du denn sonst gekommen? Mach kein so ängstliches Gesicht, du schaffst das glatt. Sogar Schwachsinnige kriegen’s hin, das kannst du mir glauben. Man braucht dafür kein Raum‐ fahrtspezialist zu sein.» Es ist acht Uhr dreißig – für Ahmeds Empfinden zu früh am Morgen für eine Initiation. Doch wenn der Prophet seinen Leib dem Furcht erregenden Ross Buraq anver‐ traut hat, dann kann auch Ahmed auf den hohen schwarzen Sitz steigen, auf dem diverse Vorgänger Risse, Flecken und Schrunden hinterlassen haben, und diesen alles überragen‐ den orangefarbenen Kasten auf Rädern steuern. Als er den Schlüssel im Zündschloss dreht und der Motor anspringt, vernimmt er ein tiefes Röhren, als ob der Treibstoff aus ei‐ ner dickflüssigeren, zäheren Substanz als Benzin bestünde. «Ist das ein Diesel?», fragt Ahmed. Wieder blubbert Charlie speichelgetränkten Rauch 199
hervor; immer mehr davon kommt tief aus seiner Lunge. «Mach keine Witze! Bist du so einen schon mal gefahren? Ein Diesel verpestet alles, und bis der Motor warm wird, dauert’s ewig. Du kannst nicht einfach reinsteigen und das Pedal durchdrücken. Aber eins musst du dir merken: Es gibt keinen Rückspiegel über dem Armaturenbrett. Fall nicht in Panik, wenn du aus Gewohnheit da hinschaust, und es gibt da nichts. Benutz deine Seitenspiegel. Und noch was, denk dran, dass alles länger dauert – anhalten dauert länger, losfahren auch. An einem Stoppschild brauchst du gar nicht erst versuchen, als Erster loszubrausen – du kannst das Rennen nicht gewinnen. Der Kasten hier ist wie eine alte Dame: Dräng sie nicht, aber unterschätz sie auch nicht. Wenn du für eine Sekunde nicht aufpasst, kann sie jemanden töten. Aber lass dir von mir keine Angst ein‐ jagen. So, dann versuchen wir’s mal. Auf geht’s. Moment: erst vergewissern, ob die Automatik noch auf ‹Rückwärts› steht. Wir haben schon mehr als einen Zusammenstoß mit der Rampe erlebt. Derselbe Fahrer, von dem ich schon ge‐ redet habe. Weißt du, was ich im Laufe der Jahre gelernt habe? Etwas kann noch so blöd sein, immer geht einer hin und macht es. Schlag ein, fahr geradeaus vom Hof, dann bist du auf der Thirteenth Street, und am Reagan Boule‐ vard biegst du nach rechts ein. Nach links kannst du nicht, da steht ein Betonpolier; aber wie gesagt, etwas kann noch so blöd sein, jemand macht’s trotzdem, drum sag ich’s lie‐ ber. » Charlie redet noch immer, als Ahmed im sauberen Halb‐ kreis so wendet, dass der Laster parallel zur Rampe steht, und vorwärts vom Hof rollt. Wenn man so hoch über der Erde dahinfährt und auf die Dächer von Autos hinabblickt, schwebt man, entdeckt Ahmed. Als er in den Boulevard ein‐ 200
biegt, nimmt er die Kurve zu eng und zerrt die rechten Hin‐ terräder auf den Bordstein hinauf, aber er spürt es kaum. Er ist in eine andere Größenordnung, auf eine andere Ebene versetzt. Charlie ist damit beschäftigt, seine Zigarette in dem Aschenbecher im Armaturenbrett auszudrücken, und sagt nichts zu dem Geholper. Nach ein paar Querstraßen haben sich Ahmeds Augen daran gewöhnt, zum linken Außenspiegel zu huschen, der die Längsseite des Fahrzeugs erfasst, und dann durch das Beifahrerfenster zum rechten. Der orangefarbene, in Chrom gerahmte Anblick der eigenen Flanke von Excel‐ lency beunruhigt Ahmed nicht mehr, sondern wird ein Teil von ihm, wie die Schultern und Arme, die in seiner peripheren Wahrnehmung auftauchen, wenn er eine Stra‐ ße entlanggeht. Seit seiner Kindheit fliegt er manchmal im Traum Flure entlang oder einen Meter hoch über Gehwege hinweg, und manchmal erwacht er dann mit einer Erekti‐ on oder, noch beschämender, mit einem großen feuchten Fleck auf dem Schlitz seiner Schlafanzughose. Vergeblich hat er im Koran sexuellen Rat gesucht. Darin ist von Un‐ reinheit die Rede, jedoch nur in Hinblick auf Frauen, ihre Menstruation, das Stillen von Säuglingen. In der zweiten Sure hat er die rätselhaften Worte gefunden: Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt! Und legt euch einen Vorrat an! Und fürchtet Gott! Ihr müsst wissen, dass ihr ihm begegnen werdet. Im Vers davor hat er ge‐ lesen, dass Frauen eine Plage sind. Darum haltet euch wäh‐ rend der Menstruation von den Frauen fern, und kommt ihnen nicht nahe, bis sie rein sind! Wenn sie sich dann gereinigt haben, dann geht zu ihnen, so wie Gott es euch befohlen hat! Gott liebt die Bußfertigen. Und er liebt die, die sich reinigen. Im Lastwagen fühlt Ahmed sich rein, über die Niederungen der Welt, ihre 201
Straßen voller Hundekot und umhergewehter Papier‐ und Plastikfetzen erhaben; solange er in den Spiegeln den oran‐ gefarbenen Kastendrachen hinter ihm fliegen lässt, fühlt er sich rein und frei. «Nicht rechts überholen», warnt ihn Charlie plötzlich in scharfem Ton. Ahmed bremst ab und merkt erst jetzt, dass er dabei war, Autos auf der Spur links von ihm zu überholen, jenseits der Fahrbahnmarkierung, einer ununterbrochenen Folge schmutziger New‐Jersey‐Nägel. «Warum heißen die eigentlich New‐Jersey‐Nägel?», fragt er. «Wie heißen sie denn in Maryland?» «Nicht ablenken, Medizinmann. Du kannst nicht da‐ hocken und träumen, wenn du einen Laster fährst. Dein Verhalten entscheidet über Leben oder Tod, mal ganz zu schweigen von den Reparaturen, die fällig werden, wenn du Mist baust, und von den Versicherungsprämien, die dann in die Höhe schießen. Du mampfst hier keine Hot Dogs und quatschst in kein Handy, wie’s die Leute in ihren Autos machen. Du bist größer, also musst du besser sein.» «Echt?» Ahmed versucht, den Älteren, seinen libane‐ sisch‐amerikanischen Bruder, mit einem Scherz aus der ver‐ düsterten Stimmung zu holen. «Sollten die Autos nicht mir aus dem Weg gehen?» Charlie kapiert nicht, dass Ahmed ihn neckt. Durch die Windschutzscheibe fixiert er stur die Straße und sagt: «Sei doch nicht so blöd, Junge: Sie können’s nicht. Es ist wie mit Tieren. Ratten und Kaninchen misst du nicht mit gleicher Elle wie Löwen und Elefanten. Du misst den Irak nicht mit gleicher Elle wie die USA. Wer größer ist, hat gefälligst besser zu sein.» Diese politische Bemerkung kommt Ahmed sonderbar vor, eine Spur unpassend. Aber er steckt mit Charlie unter 202
einer Decke und unterwirft sich willig, wohin die Fahrt auch gehen soll. «Das war der Himmel», sagt Jack Levy. «So ist das Leben eigentlich gemeint. Das hatte ich ganz vergessen, und nie hätte ich erwartet, dass mich jemand daran erinnert.» So vorsichtig, wie es die Umstände verlangen, und ohne Beth’ Namen auszusprechen, zollt er seiner Frau gleichsam Tri‐ but, die vor langer Zeit ihrerseits Gelegenheit hatte, ihm zu zeigen, wie das Leben eigentlich gemeint ist. Teresa Mulloy, die nackt neben ihm liegt, pflichtet ihm bei: «Ja, das ist wahr», setzt dann jedoch zum eigenen Schutz hinzu: «Nur hält es nicht an.» Ihr rundes Gesicht mit den ein wenig vorquellenden Augen ist erhitzt, sodass ihre Sommersprossen, hellbraun auf rosigem Hintergrund, nahezu verschwinden. «Was hält schon an?», fragt Jack. Es gefällt ihr nicht, dass er einer so gleichmütigen Bemerkung zustimmt. Nun errö‐ tet sie so tief wie stets, wenn sie sich getadelt fühlt; sie wird sich ihrer Wehrlosigkeit in diesem aussichtslosen Abenteuer bewusst; wieder einmal ein verheirateter Freund. Er wird seine fette Beth niemals verlassen, und würde sie selbst es überhaupt wollen? Er ist dreiundzwanzig Jahre älter als sie, und sie braucht einen Mann, von dem sie bis zu ihrem Le‐ bensende etwas hat. Der Sommer in New Jersey ist bei seiner unablässig drü‐ ckenden Julihitze angelangt, und dennoch empfinden sie den Luftzug auf ihrer liebesheißen Haut als so kühl, dass sie das obere Laken – verkrumpelt und feucht, weil es unter ihre Körper geraten war – über sich gezogen haben. An das Kissen gelehnt, sitzt Jack halb aufrecht da und entblößt die schlaffen Muskeln und die schüttere graue Wolle auf seiner 203
Brust, und da Terry in ihrer liebenswerten Hippie‐Scham‐ losigkeit das Tuch auf ihrer Seite nicht höher gezogen hat, ragen ihre Brüste – cremig weiß dort, wo die Sonne sie nie erreicht – unverhüllt auf, damit er sie bewundern und ihre Schwere erneut fühlen kann, wenn ihm danach ist. Hier im Bett seiner Geliebten lullen Jack die Düfte von Farb‐ verdünnern und Leinöl ein. Terry malt jetzt, wie sie selbst gesagt hat, kühner, leuchtender. Wenn sie beim Vögeln auf seinem Schoß sitzt und sich von seiner Erektion pfählen lässt, hat er das Gefühl, dass zusammen mit seinen Händen die von ihren Wänden abstrahlenden Farben seitlich an ih‐ rem Brustkorb – an ihrem sich verjüngenden, von Rippen durchzogenen, hochmütigen, irisch‐weißen Brustkorb – hin‐ abfließen. Was Beth angeht, so kann er sich ihr Gewicht auf seinem Becken so wenig vorstellen, wie dass sie die Beine weit genug spreizen könnte; ihnen sind die Stellungen aus‐ gegangen, bis auf die Löffelposition, und selbst in der wird er von ihrem gewaltigen Hintern weggedrängt wie von ei‐ nem eifersüchtigen Kind im ehelichen Bett. «Die Sache ist die», fährt Jack fort, da er Terrys Schwei‐ gen als Distanzierung von einer Taktlosigkeit deutet, die ihm unterlaufen sein muss, «solange es dauert, ist’s einem gleichgültig, dass es nicht so bleiben wird – Mutter Natur sagt: ‹Wen schert’s schon?› Es fühlt sich an, als wär’s für immer. Ich finde deine Titten übrigens wundervoll, hab ich das in letzter Zeit schon mal gesagt?» «Sie fangen an, schlaff zu werden. Du hättest sie mal sehen sollen, als ich achtzehn war. Da waren sie sogar noch größer, und standen prall ab.» «Terry, bitte. Wenn du so redest, werde ich wieder erregt, und ich muss gehen.» Auch die von Beth, erinnert er sich, hatten gestürzten Schüsselchen geglichen, so groß wie die, 204
aus denen man seine Frühstücksflocken isst, mit Nippeln, die ihm im Mund wie eine einzelne Blaubeere vorkamen, so hart. «Wohin denn jetzt, Jack?» Terry klingt unwirsch. Eine Geliebte weiß es, wenn der Mann ein Lügner ist, wohin‐ gegen die Ehefrau es nur ahnt. «Zu einer Nachhilfestunde, einer richtigen. Auf der an‐ deren Seite der Stadt. Ich hab den Wagen, und in anderthalb Stunden braucht sie ihn, um zur Bibliothek zu fahren.» Bei der Leere, die seine Benommenheit nach dem Orgasmus in seinem Kopf hinterlassen hat, ist er sich nicht sicher, wie viel von dem, was er da sagt, wahr ist. Irgendwann braucht Beth das Auto, so viel weiß er. Terry hört seine Unsicherheit heraus und beklagt sich. «Jack, immer läufst du gleich wieder weg. Hab ich etwa Kör‐ pergeruch oder so?» Das ist eine grausame Frage, denn Beth hat wirklich Kör‐ pergeruch, eine scharf riechende Ausdünstung der tiefen Falten zwischen ihren Wülsten; des Nachts erfüllt er das Bett und trägt zu Jacks Unwohlsein und Ängsten bei. «Nicht die Bohne», sagt er; so viel hat er vom Jargon sei‐ ner Schüler immerhin aufgeschnappt. «Nicht mal –» Weiter mag er nicht gehen. «In meiner Möse. Sag’s doch.» «Nicht mal da», räumt er ein, «besonders da nicht. Du schmeckst süß. Du bist mein süßes Pfläumchen.» Wenn er bei der Wahrheit bliebe, müsste er jedoch sagen, dass er sich scheut, mit dem Gesicht zu lange zwischen ihren Beinen zu bleiben, weil er befürchtet, Beth könnte die andere Frau beim Gutenachtkuss an ihm wittern – nur ein kurzes spitzes Küsschen, aber eine Gewohnheit, die sie über sechsund‐ dreißig Ehejahre hinweg beibehalten haben. 205
«Sag mir was über meine Möse, Jack, ich möcht es hören. Sei nicht so verkrampft.» «Terry, bitte. Das ist doch grotesk.» «Wieso denn, du prüder Pingel, du jüdischer Zimperling? Was ist denn so grotesk an meiner Möse?» «Nichts, nichts.» Er muss sich geschlagen geben. «Sie ist perfekt, sie ist prachtvoll, sie ist –» «Was denn? Was ist so ... perfekt und prachtvoll?» «Deine Möse.» «Gut. Weiter.» Vielleicht will sie darauf hinaus, dass er ihre Möse benutzt, wie er Terry benutzt, ohne ihr genug Beachtung zu schenken, ohne das Gesamtbild in sich auf‐ zunehmen – den Duft, die Nebensächlichkeiten, ihren Kla‐ gelaut der Einsamkeit, wenn er sich zurückzieht; ihr Gefühl, benutzt zu werden, und auch noch verschämt benutzt zu werden. «Sie ist feucht», fährt er fort, «und samtig, weich wie das Innere einer Blüte, und dehnbar –» «Oh, das ist interessant», sagt sie. «Dehnbar. Und sie mag – sag du mir, was sie mag.» «Sie mag geküsst werden, geleckt werden, sie mag’s, wenn mit ihr gespielt, in sie eingedrungen wird – zwing mich nicht, weiterzumachen, Terry. Für mich macht das alles kaputt. Ich bin verrückt nach dir, das weißt du. Du bist das Netteste –» «Das brauchst du mir nicht zu erzählen», sagt sie ärger‐ lich, wirft das Leintuch von sich und schnellt aus dem Bett, wobei ihre Pobacken wabbeln; sie fangen an, wie sie von einer anderen Partie gesagt hat, zu erschlaffen. Sie bekom‐ men Dellen. Als spüre sie seinen Blick auf ihrem Hinterteil, dreht sie sich auf der Schwelle zum Badezimmer um und zeigt ihm ihren kleinen zedernfarbenen Busch; ihre ganze 206
teigige Weichheit – Weißbrot ohne Kruste – enthüllt sie ihm, trotzig, wie ihm vorkommt; er hat ihre Einladung zu Freundlichkeiten nicht entschieden genug angenommen. Von ihrem Anblick – so nackt und weiblich, so empfindsam und plump – wird ihm der Mund trocken, sein normaler‐ weise bekleidetes, gewissenhaftes Leben kollabiert. Und sie beendet seinen Satz für ihn: «... das Netteste, was dir seit Beth, als sie noch keine fette Kuh war, begegnet ist. Du hast nichts dagegen, mich zu bumsen, willst aber nicht ‹bumsen› sagen, weil sie’s irgendwie hören könnte. Anfangs hast du mich durchgebumst und bist gleich weggerannt, aus Angst, Ahmed könnte jeden Augenblick zurückkommen, aber jetzt, wo er den ganzen Tag lang jobbt, hast du immer eine andere Ausrede, warum du nicht eine Minute länger bleiben kannst. Genieß mich einfach, mehr hab ich nie ver‐ langt – aber nein, Juden brauchen nun mal ihre Schuldge‐ fühle, das ist ihre Art, zu zeigen, dass sie was Besonderes sind, dass sie was Besseres sind als alle anderen – Gott wird nur auf sie böse, mit ihrem stinkigen, ach so wichtigen Bund. Jack Levy, du bist zum Kotzen!» Sie knallt die Badezim‐ mertür zu, die jedoch an einer plüschigen Fußmatte hängen bleibt und sich nur langsam schließt, erst nachdem er durch den Spalt, im Schein des von Terry wütend angeschalteten Lichts, noch ihren irischen, nie von der Wüstensonne ge‐ küssten Po hat wackeln sehen. Todtraurig liegt Jack da; er würde sich gern wieder an‐ ziehen, weiß aber, dass er ihr damit nur Recht gäbe. Als sie schließlieh aus dem Bad kommt, geduscht und von ihm ge‐ reinigt, hebt sie ihre Unterwäsche vom Boden auf und zieht sie betont langsam an. Ihre Brüste pendeln, als sie sich hin‐ unterbeugt, und sie sind die erste Körperpartie, die sie be‐ deckt; sie stülpt ihnen die Gazekörbchen des B H s über und 207
greift dann mit einer Grimasse nach hinten, um die Häk‐ chen zu schließen. Dann steigt sie erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß in ihr Unterhöschen, wobei sie sich mit ausgestrecktem Arm und wohlgeformter, fester Hand an der Kante der Kommode festhält, auf der dicht an dicht die Tuben mit Malerölfarben bereitliegen. Erst mit einer Hand, dann mit beiden, zupft sie gewandt das Nylonfetzchen nach oben; der zedernfarbene Fleck krausen Haars quillt, als er eingefangen werden soll, kurz über den elastischen Bund wie die Blume eines zu ungeduldig eingeschenkten Biers. Ihr BH ist schwarz, ihr Stringhöschen aber fliederfarben. Der tiefe elastische Bund lässt die Wölbung ihres Bauchs frei bis dort, wo die kühnsten Hüftjeans enden würden, doch wohin‐ ein sie als Nächstes fährt, sind gewöhnliche, alte Jeans mit hoher Taille und ein paar Farbspritzern vorne darauf. Noch ein Rippenpullover und Segeltuchsandalen, dann wird sie vollaufgerüstet sein, sich der Straße und ihren Möglichkei‐ ten zu stellen. Ein anderer Mann könnte sie stehlen. Jedes Mal, wenn Jack sie nackt sieht, fürchtet er, es könnte das letzte Mal gewesen sein. Trostlosigkeit überkommt ihn so plötzlich, dass er aufschreit: «Zieh doch nicht die ganzen Klamotten an! Komm wieder ins Bett, Terry. Bitte.» «Du hast keine Zeit.» «Doch. Zu dem Nachhilfeschüler muss ich erst um drei, ist mir gerade eingefallen. Der Junge ist ohnehin ein hoff‐ nungsloser Fall, er wohnt drüben in Fair Lawn, und seine Eltern meinen, ich kann ihn für Princeton zurechtbimsen. Kann ich aber nicht. Bitte, meine Süße?» «Hm ... vielleicht für einen Moment, nur so zum Ku‐ scheln. Ich mag’s überhaupt nicht, wenn wir uns streiten. Wir sollten gar keinen Grund dazu haben.» «Wir streiten uns», erklärt er ihr, «weil wir uns gern ha‐ 208
ben. Wenn wir einander egal wären, würden wir uns nicht streiten.» Sie öffnet wieder den Bundknopf ihrer Jeans, wobei sie den Bauch einzieht und für eine Sekunde komisch stiel‐ äugig aussieht, und flink schlüpft sie in ihrer schwarzen und fliederfarbenen Unterwäsche wieder unter das verknitter‐ te Laken. Ihr Aufzug ist so unbekümmert nuttenhaft wie der Teenie‐Schlampen‐Look, den die kesseren Mädchen an Central High pflegen, dass sein Penis insgeheim vor Schreck zu pochen beginnt. Er versucht ihn zu ignorieren, legt den Arm um Terrys Schultern – der Haarflaum an ihrem Nacken ist noch feucht vom Duschen – und zieht sie näher an sich, ganz der keusche Kamerad. «Wie läuft’s denn so mit Ahmed?», fragten Terry antwortet mit Bedacht; gar zu abrupt soll sie aus der Haut der Hure in die der Mutter schlüpfen. «Es scheint ihm ganz gut zu gehen. Er mag die Leute, für die er arbeitet – zwei Libanesen, Vater und Sohn, die sich vor ihm als Ge‐ spann nach dem Muster guter Bulle/böser Bulle aufführen. Der Sohn scheint ein außergewöhnlicher Typ zu sein. Und Ahmed liebt den Lkw.» «Den Lkw?» «Es ist ein ganz gewöhnlicher Laster, aber es ist seiner. Du weißt ja, wie es mit der Liebe ist. Jeden Morgen prüft er den Reifendruck, die Bremsen, sämtliche Flüssigkeiten. Von denen berichtet er mir – Motoröl, Kühlmittel, Schei‐ benwaschflüssigkeit, Batterie, Servolenkung, Automatik ... Ich glaube, das ist alles. Er überprüft, ob die Ventilatorrie‐ men straff sind, und was weiß ich noch alles. Er sagt, die Mechaniker in der Werkstatt, wo die regelmäßigen Inspek‐ tionen stattfinden, stehen zu sehr unter Zeitdruck und sind zu verkatert, um es richtig zu machen. Der Laster hat sogar 209
einen Namen: Excellency. Excellency Home Furnishings. Sie dachten mal, das hieße so viel wie hervorragend.» «Naja», sagt Jack, «das heißt es ja auch fast. Ein witziger Firmenname, finde ich.» Sein Steifer bildet sich zurück, während er daliegt und versucht, in Terry die Mutter und Berufstätige zu sehen, die Schwesternhelferin und abstrak‐ te Malerin, eine intelligente, vielseitige Person, mit der er auch dann gern bekannt wäre, wenn sie nicht dem anderen Geschlecht angehörte. Doch seine Gedanken sind von ihrer seidigen Unterwäsche in Schwarz und Flieder ausgegangen und davon, wie locker, ja sogar sorglos sie sich ihm gegen‐ über sexuell verhält – so viel Erfahrung, so viele Freunde in den fünfzehn Jahren, seit Ahmeds Vater das amerikanische Rätsel nicht lösen konnte und die Flucht ergriffen hat. Und selbst damals war sie ein katholisch aufgewachsenes Mädchen, das nicht davor zurückschreckte, sich mit einem Feudel, einem Muselmanen, zusammenzutun. Sie war ein Wildfang, eine Regelbrecherin. Ein Enfant terri‐ble ein Stö‐ renfried. Er fragt sie: «Wer hat dir eigentlich etwas von den Juden und dem Bund erzählt?» «Weiß ich nicht mehr. Jemand, den ich mal kannte.» «Den du wie gut kanntest?» «Den ich eben kannte. Jack, wir haben doch eine Abma‐ chung? Du stellst mir keine Fragen, und ich erzähle nichts. Ich bin verlassen worden, und in den Jahren, die im Leben einer Frau angeblich die besten sind, war ich allein. Jetzt bin ich vierzig. Nimm mir doch mein bisschen Vergangenheit nicht übel.» «Mit dem Kopf tu ich das natürlich nicht. Aber, wie wir vorhin festgestellt haben: Wenn man jemanden mag, dann entwickelt man Besitzansprüche.» «Das haben wir festgestellt? Ist mir entgangen. Ich habe 210
nur gehört, dass du an Beth gedacht hast. An die arme, hilf‐ lose Beth.» «In der Bibliothek ist sie gar nicht so hilflos. Da sitzt sie am Auskunftsschalter und surft viel besser im Internet um‐ her, als ich es kann.» «Klingt ja wundervoll.» «Nein, aber sie ist jemand.» «Na toll. Und wer ist das nicht? Willst du damit etwa sa‐ gen, dass ich niemand bin?» Wenn man es mit einem irischen Temperament zu tun hat, lernt man die Lutheraner wieder schätzen. Jacks Schwanz reagiert auf das veränderte Klima und welkt da‐ hin. «Wir sind alle jemand», besänftigt er sie. «Du ganz be‐ sonders. Aber was den Bund angeht, so hast du hier einen Juden vor dir, der das nie empfunden hat. Mein Vater hat die Religion gehasst, und die einzigen Bünde, von denen ich gehört habe, gab es in Wohngegenden, in denen Juden unerwünscht waren. Wie religiös ist Ahmed eigentlich jetzt?» Sie entspannt sich ein wenig und lässt sich auf ihr Kissen zurückfallen. Sein Blick wandert ein wenig tiefer in den schwarzen BH. Die sommersprossige Haut ihres Dekolletes hat in Jahren der Schädigung durch die Sonne einen leich‐ ten Crepeseideneffekt angenommen, im Gegensatz zu dem cremeweissen Streifen unter dem BH. Also ist vor mir schon ein anderer Jude hier gewesen, denkt Jack. Und wer sonst noch alles? Ägypter, Chinesen, Gott weiß wer. Viele der Maler, die sie kennt, sind halb so alt wie sie. Für diese Jungen ist sie eine Mutter, die sich bumsen lässt. Vielleicht ist ihr ei‐ gener Junge deswegen schwul, falls er das ist. Sie sagt: «Schwer zu sagen. Er hat noch nie viel darüber geredet. Der arme kleine Kerl sah immer so zart und angst‐ 211
lich aus, wenn ich ihn an der Moschee abgesetzt habe und er dann ganz allein die Treppe hinaufgestiegen ist. Wenn ich ihn hinterher gefragt habe, wie es gewesen sei, sagte er immer ‹Toll› und sonst nichts. Er wurde sogar rot. Das war etwas, worüber er sich nicht mitteilen konnte. Jetzt, wo er arbeitet, ist es manchmal schwierig für ihn, freitags in die Moschee zu gehen, hat er mir erzählt, und dieser Charlie, mit dem er ständig zusammen ist, nimmt offenbar seine religiösen Pflichten nicht sonderlich ernst. Aber alles in allem kommt mir Ahmed wirklich viel lockerer vor, weißt du – schon wie er mit mir spricht, von gleich zu gleich, viel mehr wie ein Mann. Jetzt kann er mir in die Augen sehen. Er verdient Geld, ist mit sich zufrieden und – aber vielleicht bilde ich mir das nur ein – offener für neue Ideen, nicht mehr gefangen in diesem meiner Ansicht nach sehr be‐ grenzten, intoleranten Glauben. Er wird auf neue Gedan‐ ken gebracht.» Jack Levy ist Terry dankbar dafür, dass sie sich für ein anderes Thema als seine Schwächen erwärmt. «Hat er ei‐ gentlich eine Freundin?» «Soweit ich weiß, nein», sagt sie. Er liebt diesen irischen Zug um ihren Mund, wenn sie nachdenklich wird und ihn zu schließen vergisst; dann tritt die kleine Beere in der Mitte ihrer geschürzten Oberlippe so deutlich hervor. «Ich glaube, ich wüsste es. Er kommt müde nach Hause, lässt sich von mir etwas zu essen machen, liest den Koran oder in letzter Zeit die Zeitung – dieser blöde Krieg gegen den Terror –, damit er mit diesem Charlie darüber reden kann, und legt sich in seinem Zimmer schlafen. Auf seinen Bett‐ tüchern» – sie bedauert bereits, dass sie davon angefangen hat, spricht aber dennoch weiter – «sind keine Flecken. Was nicht immer so war.» 212
«Woher wüsstest du es denn, wenn er ein Mädchen hät‐ te?» «Ach, das würde er erwähnen, und wenn auch nur, um mich zu ärgern. Er konnte es noch nie ausstehen, dass ich Freunde hatte. Und er würde abends ausgehen. Tut er aber nicht.» «Kommt einem irgendwie nicht ganz richtig vor. Er ist doch ein gut aussehender Junge. Könnte es sein, dass er schwul ist?» Die Frage verstört sie nicht; sie hat selbst schon darüber nachgedacht. «Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich glau‐ be, auch das wüsste ich. Sein Lehrer an der Moschee, dieser Scheich Rashid, hat etwas Verdrücktes; aber das nimmt Ah‐ med selbst wahr. Er verehrt ihn, traut ihm aber nicht.» «Hast du nicht gesagt, dass du dem Mann schon begeg‐ net bist?» «Nur ein‐, zweimal, wenn ich Ahmed abgeholt oder hin‐ gebracht habe. Mir gegenüber hat er sich sehr höflich und korrekt benommen, aber ich habe den Hass gespürt. Für ihn war ich ein Stück Fleisch – unreines Fleisch.» Unreines Fleisch. Jacks Erektion ist wieder erwacht. Er möchte sich noch eine Minute darauf konzentrieren, bevor er Terry diese möglicherweise ungelegene Entwicklung kundtut. Dieses Ding zu haben – es ist allein schon eine Lust, die er vergessen hatte, diesen festen, kräftigen, lästi‐ gen Stängel, das protzige kleine, soeben zum Zentrum der eigenen Person erhobene Ding, das einen empfinden lässt, man stelle mehr dar. «Und wie ist’s mit seinem Job», fragt er abschließend, «kommt er auf lange Arbeitszeiten?» «Unterschiedlich», sagt Terry. Von ihrem Körper geht, vielleicht in Reaktion auf etwas, das Jack verströmt, eine flirrende Melange von Düften aus, voran der Seifenduft 213
ihres Nackens. Als Thema verliert ihr Sohn für sie an Interesse. «Er kann Schluss machen, wenn er die Möbel ausgeliefert hat – an manchen Tagen früh, an den meisten spät. Manchmal fahren sie bis nach Camden oder Atlantic City.» «Eine ganz schön weite Fahrt, um ein Möbelstück zu liefern.» «Sie liefern nicht nur, sie holen auch Sachen ab. Viele von ihren Möbeln sind gebraucht. Sie machen den Leuten ein Angebot auf ihre Habseligkeiten und fahren den Kram dann ab. Es gibt da so etwas wie ein Netzwerk; welche Rol‐ le der Islam dabei spielt, weiß ich nicht. Die meisten ihrer Kunden in der Umgebung von New Prospect sind schwarze Familien. Manchmal sind sie erstaunlich gut eingerichtet, sagt Ahmed. Es gefällt ihm sehr, in andere Umgebungen zu kommen, zu sehen, wie die Menschen leben.» «Ah, die Welt sehen.» Jack seufzt. «Erst mal mit New Jersey anfangen. So hab ich’s auch gemacht, nur hab ich die Welt dann ausgelassen. Und jetzt, Mädchen, haben wir ein Problem, du und ich.» Teresa Mulloys vorstehende, hell beryllfarbenen Augen weiten sich; sie ist leicht beunruhigt. «Ein Problem?» Jack lüpft das Betttuch und zeigt ihr, was sich unter‐ halb seiner Gürtellinie getan hat. Hoffentlich hat er ihr von seinem Leben im Allgemeinen immerhin so viel mitgeteilt, dass sie bereit ist, dieses Phänomen mit ihm zu teilen. Sie starrt darauf und berührt mit der Zungenspitze die pralle Beere in der Mitte ihrer Oberlippe. «Das ist kein Pro‐ blem», befindet sie. «No problema, señor.» Charlie Chehab geht oft mit Ahmed auf Tour, auch wenn Ahmed das Laden oder Entladen der Möbel allein be‐ 214
wältigen könnte. Der Junge wird von all dem Tragen und Schleppen stärker. Er hat darum gebeten, dass seine Lohnschecks – fast fünfhundert Dollar in der Woche, an Stundenlohn das Doppelte von dem, was ihm Shop‐a‐Sec gezahlt hat – auf Ahmed Ashmawy ausgeschrieben werden, obwohl er noch immer bei seiner Mutter wohnt. Da sowohl auf seiner Sozialversicherungskarte als auch auf seinem Führerschein als Familienname Mulloy steht, ist seine Mut‐ ter mit ihm in die Innenstadt zur Bank gegangen, die sich in einem der neuen Glasgebäude befindet, um die Sache zu erläutern und neue Formulare für ein getrenntes Konto aus‐ zufüllen. So ist sie neuerdings: Sie setzt ihm keinerlei Wi‐ derstand entgegen; sehr deutlich hat sie das allerdings noch nie getan. Seine Mutter ist, wie er nun erkennt, eine typi‐ sche Amerikanerin, ohne starke Überzeugungen, und daher mangelt es ihr auch an dem Mut und an dem Trost, den sie mit sich bringen. Sie ist ein Opfer der amerikanischen Freiheitsreligion – Freiheit über alles, doch Freiheit zu welchem Handeln und mit welchem Ziel? Das bleibt völlig offen, da gibt’s nur heiße Luft. In der Luft explodierende Bomben – der leere Luftraum ist das perfekte Symbol für die amerikanische Freiheit. Es gibt hier keine ummah, das heben sowohl Charlie wie auch Scheich Rashid hervor – kein umfassendes Gebäude frommer Rechtsprechung, das Reiche wie Arme dazu bringt, sich Schulter an Schulter zu verneigen, kein Ehrenkodex der Selbstaufopferung, keine leidenschaftliche Unterwerfung, wie sie im Herzen des Is‐ lam besteht, ihm sogar den Namen gibt. Stattdessen gibt es eine Vielfalt widersprüchlicher Lehren der individuellen Selbstsuche, deren Schlagworte Carpe diem und Den letzten beißen die Hunde und Hilf dir selbst, so hilft dir Gott lauten und die in der Summe so viel bedeuten wie: Es gibt keinen Gott, 215
kein Jüngstes Gericht; hilf dir selbst. Der Doppelsinn von «help yourself» – Selbstverantwortung und «Raff an dich, was du kriegen kannst» – amüsiert den Scheich, der nach zwanzig unter diesen Ungläubigen verbrachten Jahren stolz darauf ist, wie fließend er ihre Sprache beherrscht. Ahmed kann sich manchmal kaum des Verdachts erwehren, dass sein Lehrer in einer scheinrealen Welt der reinen Worte weilt und den heiligen Koran vornehmlich dessen Sprache wegen liebt, einer Hülle aus gewaltsamen Verkürzungen, deren Gehalt in ihren Silben liegt, in dem ekstatischen Strom von Ls und As und gutturalen Verschlusslauten, diesem Nach‐ hall der Schreie und des Edelmuts berittener, in wallende Gewänder gehüllter Krieger unter dem wolkenlosen Him‐ mel von Arabia Deserta. Ahmed betrachtet seine Mutter als alternde Frau, die im Herzen ein Mädchen geblieben ist, das mit der Liebe und der Kunst spielt – denn sie ist in letzter Zeit von einer zerstreuten Lebhaftigkeit, hinter der ihr Sohn einen neuen Liebhaber wittert, der sich jedoch nicht, wie die meisten sei‐ ner Vorgänger, in der Wohnung breit macht und mit Ahmed um die Vorherrschaft rangelt. Sie mag ja deine Mutter sein, aber ich bumse sie, besagte deren Gebaren, und auch das war etwas Amerikanisches, die sexuelle Leistung höher zu bewerten als alle familiären Bindungen. Das amerikanische Grundmuster verlangt, dass man seine Familie hasst und vor ihr flieht. Sogar die Eltern unterstützen dies, indem sie Anzeichen von Unabhängigkeit an einem Kind begrüßen und über Un‐ gehorsam lachen. Es gibt hier keine solche Liebesbindung wie die des Propheten an seine Tochter Fatima: Fatima ist ein Teil meines Körpers; wer ihr wehtut, hat mir wehgetan, und wer mir wehtut, hat Gott wehgetan. Ahmed hasst seine Mutter nicht, dafür ist sie zu fahrig, zu sehr von ihrem Streben nach Glück 216
in Anspruch genommen. Obwohl sie weiterhin zusammen in dieser Wohnung leben, in der immer ein leicht süßlicher oder beizender Geruch nach Ölfarben hängt, hat seine Mutter mit der Person, die er am Tage für die Außenwelt darstellt, so wenig zu tun wie der schweißgetränkte Pyjama, in dem er nachts schläft und den er vor dem Duschen abstreift, um gleich danach in die morgendliche Reinheit des Arbeitstages hinauszueilen und den guten Kilometer bis zur Firma zu Fuß zurückzulegen. Seit ein paar Jahren schon ist es ihm pein‐ lich, den beschränkten Raum der Wohnung körperlich mit seiner Mutter zu teilen. Zu dem, was sie unter gesundem, natürlichem Benehmen versteht, gehört es, vor ihrem Sohn in ihrer Unterwäsche oder in einem Sommernachthemdchen zu erscheinen, unter dem sich unübersehbar ihre intimen Partien abzeichnen. Im Sommer trägt sie auf der Straße trä‐ gerlose Oberteile und Miniröcke, weit aufgeknöpfte Blusen und tief geschnittene Jeans, die dort am engsten sitzen, wo sie am fülligsten ist. Wenn er ihre Aufmachung als unschick‐ lich und provozierend tadelt, verspottet sie ihn und neckt ihn, als würde er mit ihr flirten. Nur im Krankenhaus, wo sie über ihren indiskreten Straßenklamotten die dezent weite, hellgrüne Uniform trägt, entspricht sie dem Gebot, das der Prophet in der vierundzwanzigsten Sure den Frauen auf‐ erlegt – ihre Brust mit Schals zu verhüllen und ihre Zier‐ den nur ihren Männern, Vätern, Söhnen, Brüdern, Sklaven, Eunuchen zu zeigen sowie, das betont das Heilige Buch, Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Als Kind von zehn Jahren und jünger hat Ahmed oft, wenn es an einem Babysitter fehlte, im Saint Francis Hospital auf sie gewartet und sich immer gefreut, sie dort zu sehen, von der Arbeitshetze rosig im Gesicht, von der Taille abwärts in der weiten Uniformhose, in dicksohligen Laufschuhen und 217
ohne dass klirrende Armreifen die Stille störten. Ein kriti‐ scher Moment ergab sich, als Ahmed mit fünfzehn größer wurde als sie und ihm dunkler Flaum auf der Oberlippe spross: Damals, mit Ende dreißig, hoffte sie törichterweise noch immer, einen Mann zu ergattern, sich einen reichen Arzt aus der Mitte seines Harems hübscher Untergebener zu schnappen, und ein Teenager als Sohn verriet, dass sie in den mittleren Jahren angekommen war. Für Ahmeds Begriffe sah sie jünger aus und benahm sich jünger, als es sich für eine Mutter gehörte. In den Mittel‐ meerländern und im Mittleren Osten zogen sich Frauen hinter Falten und in eine stolze Unförmigkeit zurück; eine unziemliche Verwechslung zwischen einer Mutter und ei‐ ner Gefährtin war ausgeschlossen. Ahmed hat, Allah sei ge‐ priesen, nie davon geträumt, mit seiner Mutter zu schlafen, sie in jenen zerebralen Zonen, in denen Satan Träumer und Tagträumer mit Widerwärtigem bedrängt, niemals entklei‐ det. In Wahrheit ist sie – insofern es sich der Junge gestattet, derartige Gedanken mit seinem Mutterbild zu verknüp‐ fen – nicht sein Typ. Ihre rosafleckige, mit Sommersprossen gesprenkelte Haut kommt ihm unnatürlich weiß vor, wie die einer Aussätzigen; nach seinem Geschmack, der sich in den Jahren an Central High herausgebildet hat, sind eher dunkle, kakao‐, karamell‐ und schokoladenfarbene Teints, und verlockend geheimnisvolle Augen, deren auf den ers‐ ten Blick undurchdringliches Schwarz sich zum Violett von Pflaumen oder zum glitzernden Braun von Ahornsirup ver‐ tieft – Augen wie die der großäugigen Huris, von denen es im Koran heißt, sie seien wohlverwahrten Perlen zu vergleichen. Sie verspricht das Heilige Buch den Frommen und Aus‐ erwählten, zum Lohn für das, was sie in ihrem Erden leben getan haben. Ahmed betrachtet seine Mutter, Allah möge ihm ver‐ 218
geben, als einen Fehler, der seinem Vater unterlaufen ist, der ihm selbst jedoch nie passieren würde. Charlie ist verheiratet, mit einer Libanesin, die Ahmed selten sieht, denn sie kommt erst gegen Ladenschluss ins Geschäft, nach ihrer eigenen Arbeit in einer Beratungsstel‐ le, wo für diejenigen, die selbst nicht dazu imstande sind, Steuerformulare ausgefüllt und Eingaben an die Behörden der Stadt, des Bundesstaates und des Landes aufgesetzt werden, die ihren Tribut von allen Bürgern fordern. Mit ihrer westlichen Kleidung und ihren Hosenanzügen hat sie etwas Maskulines, und nur durch ihren olivfarbenen Teint und ihre dichten, ungezupften Augenbrauen unterscheidet sie sich von einer Heidin. Buschig steht ihr das halblange Haar vom Kopf ab, doch auf dem Foto, das Charlie auf sei‐ nem Schreibtisch stehen hat, trägt sie ein großes Kopftuch, das jedes Haar bedeckt, und lächelt über die Gesichter von zwei kleinen Kindern hinweg. Charlie spricht nie von ihr, obwohl er oft über Frauen redet, besonders über diejenigen, die in Werbespots im Fernsehen erscheinen. «Hast du die in der Werbung für Levitra gesehen, diese Pillen für Typen, die ihn nicht hochkriegen?» «Ich seh selten fern», sagt Ahmed darauf. «Jetzt, wo ich kein Kind mehr bin, interessiert’s mich nicht mehr.» «Sollte es aber – wie sonst kannst du erfahren, was die Konzerne, die dieses Land unter ihrer Fuchtel haben, so al‐ les mit uns machen? Die Frau in der Levitra‐Werbung ist für mich der Inbegriff von Tussi. Da schnurrt sie was von ihrem ‹Kerl›, dem die ‹Qualität› seiner Erektionen ja so wichtig ist – sie sagt natürlich nicht ‹Erektionen›, aber nur darum geht’s ja in dem Spot, um ordentlich harte Latten, schließ‐ lich sind Erektionsstörungen das dickste Geschäft, das sich die Pharmaindustrie seit Valium erschlossen hat –, und wie 219
sie da so träumerisch in die Weite guckt und feuchte Au‐ gen kriegt, siehst du glatt, mit dem Blick einer Frau, diesen langen, steifen Schwengel vor dir, hart wie Stein, und mit ihrem Mund tut sich etwas Komisches – sie hat einen tollen Mund –, er bewegt sich irgendwie in Wellen, die winzig kleinen Muskeln in den Lippen sorgen dafür, und da weißt du, das sie sich ausmalt, wie sie ihm einen bläst – sie hat den idealen Mund zum Schwanzlutschen –, und dann guckt sie ganz verschwommen, weißt du, so selbstgefällig und sexuell befriedigt, wendet sich dem Typ zu – so einem männlichen Model, im wirklichen Leben wahrscheinlich schwul –, sagt: ‹Sieh mal da!›, und berührt blitzartig seine Wange, das Grübchen, das ihm gekommen ist, während er sich einfältig angehört hat, wie toll er ist. Nun fragst du dich: Wie zum Teufel haben die das hingekriegt – wie viele Takes haben sie schon aufgezeichnet, bevor ihr das eingefallen ist, oder hatte der Mensch, der das Script zum Spot geschrieben hat, schon die Idee, und es war von vorneherein vorgesehen? Aber es wirkt dermaßen spontan, dass du dich fragst, wie sie es geschafft haben, die Frau so heiß aussehen zu lassen. Sie hat echt dieses Selige an sich, weißt du, das Frauen kriegen, wenn sie gut gevögelt worden sind. Und das liegt nicht nur an dem Weichzeichner.» Das, denkt Ahmed ein wenig trist, ist das Männergere‐ de, das er, in seinem strengen weißen Hemd und seinen schwarzen Jeans, an der High School gemieden hat und das ihm sein Vater vielleicht in gemäßigter, weniger obszöner Form geboten hätte, wäre Omar Ashmawy lange genug ge‐ blieben, um die Vaterrolle zu spielen. Ahmed ist Charlie dankbar dafür, dass er ihn in die Clubrituale der Männer‐ freundschaft einbezieht. Charlie, der fünfzehn Jahre älter ist als er und verheiratet, auch wenn er nicht so klingt, scheint 220
vorauszusetzen, dass alles, was er weiß, auch Ahmed weiß oder, falls dem nicht so ist, erfahren möchte. Wenn Charlie neben ihm sitzt, wenn Ahmed geradeaus durch die Wind‐ schutzscheibe des Lastwagens blicken kann und die Hände am Steuer hat, fällt es ihm leichter, mit Charlie zu reden, als wenn er ihn gegenüber hat. Nun wird er rot, denn er muss seine Frömmigkeit offenbaren. «Ich finde, das Fernsehen hilft einem nicht, die Gedanken rein zu halten.» «Mann! Nee, wirklich nicht! Wach endlich auf: Das soll’s auch gar nicht. Das meiste, was sie bringen, ist bloß Mist, mit dem sie die Zeit zwischen den Werbestrecken füllen. Das würde ich gern machen, wenn ich nicht Dads Geschäft vorm Untergang bewahren müsste. Sein Bruder, der’s mit ihm zusammen aufgebaut hat, hockt jetzt unten in Florida und blutet uns aus, bei dem Gewinnanteil, der ihm zusteht. Ich würde unheimlich gern Werbefilme machen. Alles planen, alles zusammenbringen – Regisseur, Besetzung, Drehorte, Script – und das Ganze dann Mr. Allerweltspu‐ blikum so in die Fresse knallen, dass er nie wieder gerade denken kann. Ihm verklickern, was er unbedingt haben muss, von Bauch zu Bauch. Was bieten sie uns denn sonst schon, die Medienmoguln? Die Nachrichten sind doch bloß Schluchzkram – Diane Sawyer, die armen afghanischen Ba‐ bys, hu‐huu – oder glatte Propaganda: Bush beklagt sich, Putin würde sich in Stalin verwandeln, dabei sind wir übler, als der klotzige alte Kreml jemals war. Die Kommies woll‐ ten dir bloß eine Gehirnwäsche verpassen, aber die neuen Machthaber, das heißt die internationalen Konzerne, wollen dir das Gehirn komplett wegspülen. Sie wollen Konsumma‐ schinen aus uns machen – eine Hühnerstallgesellschaft. Die gesamte Unterhaltung ist Kacke, Medizinmann, die gleiche Kacke, mit der sie in der Weltwirtschaftskrise die Massen 221
zum Stillhalten gebracht haben, bloß hast du dich damals an der Kinokasse angestellt und deine fünfundzwanzig Cents geblecht, während sie’s dir heute umsonst aufs Auge drü‐ cken und die Werbeagenturen eine Million pro Minute für die Chance zahlen, dich zu verblöden.» Ahmed, der am Steuer sitzt, bemüht sich, Charlie bei‐ zupflichten. «Der gerade Weg führt nicht über das Fernse‐ hen.» «Soll das ein Witz sein? TV ist nicht der gerade Weg, sondern die gelbe Ziegelsteinstraße aus dem Zauberer von Os, gepflastert mit verführerischen Absichten.» Ver‐füh‐re‐ risch, denkt Ahmed und erinnert sich an die letzte Predigt zu diesem Thema, die er hat über sich ergehen lassen. Am Rand seines Gesichtsfelds sieht er, dass Charlie Speichel‐ tröpfchen versprüht, so überstürzt spricht er. «Sport!» Er spuckt das Wort gerade aus. «Da zahlen sie zig Millionen für die Rechte, Sportereignisse auszustrahlen. Und was du dann zu sehen kriegst, ist eine Realität, an der nichts echt ist. Das Geld hat die Profi‐Ligen kaputtgemacht; keiner bleibt mehr bei seiner Mannschaft, für fünfzehn Milliön‐ chen mehr springt jeder ab, dabei können sie den Zaster, den sie so schon haben, nicht mal mehr zählen. Es gab mal so was wie Mannschaftstreue und Lokalpatriotismus, aber die Schwachköpfe auf den Tribünen wissen ja nicht, was ih‐ nen entgeht. Die glauben, es war schon immer so – raffgieri‐ ge Spieler und neue Rekorde jedes Jahr. Barry Bonds – der ist besser als Ruth, besser als DiMaggio, aber wer kann so einen mürrischen gedopten Mistkerl lieben? Die Fans heute wissen nicht mehr, was Liebe ist. Die geht ihnen am Arsch vorbei. Sie machen keinen Unterschied zwischen Sport und Videospielen; die Spieler sind Hologramme. Wenn du dir die Talkshows im Radio anhörst, dann möchtest zu diesen 222
Cheeseheads oder Jetheads, oder wer da gerade endlos am Labern ist, sagen: ‹Bitte, leb erst mal.› Mein Gott, die armen Schlucker können die ganzen Statistiken auswendig runter‐ beten, als ob sie das Gehalt von A‐Rod bekämen. Und die so genannten Komödien, die den Leuten von den Sendern aufgetischt werden – Himmel nochmal, wer lacht da eigent‐ lich? Spülwasser. Und Leno, Letterman – auch. Aber die Werbespots, die sind phantastisch. Phantastisch wie Faber‐ ge‐Eier. Wenn sie dir in diesem Land was verkaufen wollen, dann stürzen sie sich wirklich drauf und lassen nicht mehr locker. Wenn du dir denselben Spot zwanzigmal anschaust, merkst du, dass sie jede Sekunde auf die Goldwaage gelegt haben. Die Dinger sind randvoll mit dem, was die Physiker Informationen nennen. Wüsstest du zum Beispiel, dass die Amerikaner dermaßen krank sind, an Verdauungsstörung, Impotenz und Haarausfall leiden, sich ständig in die Hose machen und wunde Arschlöcher haben, wenn du dir keine Werbung angucken würdest? Ich weiß ja, du siehst sie dir nie an, aber den Ex‐Lax‐Spot solltest du dir wirklich nicht entgehen lassen – da schaut dieses reizende Geschöpf mit langen, glatten Haaren und langen, protestantischen Zäh‐ nen durch die Kamera hinaus und erzählt dir, nur dir, der du mit deiner Tüte Fritos vor ihr sitzt, dass sie eine Schwä‐ che für Junkfood hat – spindeldünn, aber angeblich spitz auf Junk – und gelegentlich unter Verstopfung leidet! Wie alt mag sie sein? Höchstens sechsundzwanzig, sehnig wie Lance Armstrong, und du könntest darauf wetten, dass sie noch an keinem Tag im Leben unverrichteter Dinge vom Klo aufgestanden ist, aber der CEO von Ex‐Lax möchte nun mal, dass sich die alten Damen draußen im Land ihres verstopften Darms nicht schämen. ‹Seht mal›, sagt er ihnen, der CEO von Ex‐Lax, ‹sogar ein flottes weißes Ding aus 223
gutem Stall wie die hier kann nicht immer scheißen oder auf dem Golfplatz ihr Höschen trocken halten oder sicher sein, dass ihr die Hämorrhoiden nicht den Tag auf der Eh‐ rentribüne vermiesen; also bist du, Oma, kein altes Stück Schrott – nein, du sitzt mit diesen jungen Glamourpuppen in einem Boot!›» «Diese Gesellschaft fürchtet sich davor, alt zu werden», sagt Ahmed und bremst schon einmal ab, denn er sieht vor‐ aus, dass eine grüne Ampel in der Ferne auf Rot schalten wird, bevor der Laster dort ankommt. «Ungläubige verste‐ hen nichts vom Sterben.» «Nein», sagt Charlie vorsichtig. Sein unaufhaltsamer Re‐ defluss stockt. «Wer versteht denn was davon?» «Wahre Gläubige», erklärt ihm Ahmed, da er nun einmal danach gefragt hat. «Sie wissen, dass die Rechtschaffenen das Paradies erwartet.» Durch die hohe, schmutzige Wind‐ schutzscheibe von Excellency starrt er auf die ölbesudelte Fahrbahn, auf rote Rücklichter und gleißende Flecken re‐ flektierten Sonnenscheins, die einen Sommertag auf einer Lkw‐Fernstraße in New Jersey ausmachen, und zitiert den Koran: «Gott macht euch lebendig und lässt euch hierauf sterben. Und er versammelt euch hierauf zum Tag der Auferstehung, an dem nicht zu zweifeln ist.» «Genau», sagt Charlie. «Gute Sache, der ‹Tag der Auf‐ erstehung, an dem nicht zu zweifeln ist›. Für meinen Teil hätt ich auch nichts dagegen abzutreten, wenn sich ein guter Grund dafür ergeben würde. Du bist zu jung dafür. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.» «Das stimmt nicht», sagt Ahmed. Er hat in Charlies bar‐ scher Äußerung nicht das Beben des Zweifels, den seidigen Schimmer der Ironie vernommen, den er in Scheich Rashids Stimme entdeckt. Charlie ist ein Mann von Welt, doch der 224
Islam ist ein fester Bestandteil dieser Welt. Weder sind Li‐ banesen so geschliffen und doppelzüngig wie Jemeniten, noch sind sie so schön und rasch wieder verschwunden wie Ägypter. «Ich habe schon länger gelebt als viele Märtyrer im Iran und im Irak», hält er schüchtern fest. Doch Charlie ist noch nicht fertig mit den Frauen, die er in den TV‐Werbespots sieht. «Und jetzt haben die Phar‐ makartelle mit Viagra und so weiter ein solches Bomben‐ geschäft gemacht», sagt er, «dass sie den Frauen sexuelle Entfaltung, wie sie’s nennen, verkaufen. Es gibt da einen Spot – du hast ihn vielleicht noch nicht gesehen, er läuft nicht oft –, da zeigen sie eine Frau, so der sensible, un‐ scheinbare Typ, Lehrerin, könnte man sich vorstellen, oder Büroleiterin in irgendeiner mittelgroßen technischen Firma, nicht in einem Spitzenkonzern, die runzelt so eine Spur die Stirn, dass du weißt, in ihrem Leben fehlt etwas, und die Musik liefert dazu noch die Unterströmung, so etwas wie ein Gequengel in Moll, und im nächsten Moment siehst du die Frau auf einmal dahinschweben, barfuß, in hauchdün‐ nen Stoff gehüllt; ist auch besser, dass sie barfuß ist, denn wenn du genau hinguckst, hinterlässt sie kleine Wellen – sie geht über Wasser, ganz nah am Strand zwar, wo es nur ein paar Zentimeter tief ist, aber sie sinkt trotzdem nicht ein, und eine neue Frisur und ein besseres Make‐up hat sie auch, deswegen liegt jetzt so ein Dunstschleier über ihrem Gesiecht, genau wie bei der tollen Lutscherin, von der ich er‐ zählt habe – ich glaub, sie tun den Frauen erweiternde Trop‐ fen in die Augen, damit sie so aussehen –, und dann erfährst du, was dahintersteckt, sie zeigen dir das Logo von diesem neuen ‹Hormonsteigerungspräparat›, wie sie’s nennen. Die Nachricht ist: Sie ist gebumst worden. Sie hat sich vor lau‐ ter multiplen Orgasmen dumm und dusselig gevögelt. Das 225
hätten sie vor zehn, fünfzehn Jahren in der Werbung nie zu‐ gegeben – dass Frauen es wollen, dass sie davon nicht genug kriegen können: Gebumst zu werden ist ein Abführmittel und ein Schönheitsmittel. Wie steht’s denn so mit dir, Me‐ dizinmann? Kriegst du zur Zeit genug?» «Genug was?» Vielleicht hat Ahmed auf anderes geachtet. Sie haben die Abfahrt Bayway genommen und fahren nun durch ein namenloses Ortszentrum, wo viele Autos in der zweiten Reihe parken, was zu Engstellen führt, an denen mit Excellency schlecht durchzukommen ist. «Genug vors Rohr», sagt Charlie gereizt und atmet hör‐ bar ein, als sich der orangefarbene Laster haarscharf an ei‐ nem dahinschleichenden Schulbus voller herüberstarrender kleiner Gesichter vorbeischiebt. «Muschis», setzt er klärend hinzu. Als Ahmed rot wird, ohne sich zu äußern, verkün‐ det Charlie im Tonfall unverbrüchlicher Entschiedenheit: «Wir müssen dafür sorgen, dass du was vors Rohr kriegst.» Die Orte im Norden von New Jersey gleichen einander so sehr – Ladenfronten, Gehwege, Parkuhren, Neonschilder und kleine kommunale Grünflächen, die man rasch hinter sich lässt –, dass sie in einem sogar dann, wenn man in einem rollenden Fahrzeug sitzt, die Empfindung wecken können, man stecke fest. Die Gegenden, durch die Ahmed und Charlie fahren, mit ihren Sommergerüchen nach weich gewordenem Teer, ausgelaufenem Motoröl, nach Zwiebeln und Käse, die aus kleinen Imbissbuden auf die Straße we‐ hen, bleiben sich weitgehend gleich, bis sie über South Am‐ boy hinaus nach Süden oder auf dem Jersey Pike zur Aus‐ fahrt Sayreville kommen. Und dennoch entdeckt Ahmed allmählich, während ein Städtchen dem nächsten weicht, dass sie nie einander wie ein Ei dem andern gleichen und dass in jedem soziale Vielfalt existiert. In manchen Wohn‐ 226
gegenden machen sich im Schatten, weit von der Straße entfernt, auf üppigen Rasenflächen große Häuser breit, von kompakt gestutzten Büschen umstanden wie von Sicher‐ heitspersonal. In solche Häuser liefert Excellency selten, kommt jedoch an ihnen vorbei auf seinem Weg zu Reihen‐ häusern in der Ortsmitte, wo die Stufen direkt vom Geh‐ weg zur Haustür hinaufführen und kein Haus auch nur so tut, als hätte es einen Vorgarten. Gewöhnlich wohnen hier die Leute, die eine Lieferung erwarten: dunkelhäutigere Familien, bei denen aus hinteren Räumen, in die kein Ein‐ blick möglich ist, Stimmen und TV‐Geräusche dringen, als ginge vom Eingangsflur eine Ziehharmonika von Räumen mit immer weiteren Familienmitgliedern aus. Manchmal gibt es Anzeichen für islamische Bräuche – Gebetsteppi‐ che, Frauen in Hijabs, gerahmte Bilder der zwölf Imame einschließlich des Verborgenen Imam mit seinem unkennt‐ lichen Gesicht zeigen, dass man sich in einem schiitischen Haushalt befindet. Solche Häuser bereiten Ahmed Unbe‐ hagen, wie auch die innerstädtischen Gegenden, in denen die Geschäfte abwechselnd auf Arabisch und auf Englisch für sich werben und wo man Moscheen geschaffen hat, indem man das Kreuz einer einst protestantischen Kirche durch einen Halbmond ersetzte. Ahmed hält sich dort nicht gern länger auf, im Gegensatz zu Charlie, dem es gelingt, in jedem arabischen Dialekt, der ihm entgegenquillt, zu plaudern und die Verständigungslücken mit Gelächter und Gebärden zu überbrücken. Ahmed fühlt sich in seinem Stolz auf seine Isolierung und sclbstgeschaffene Identität bedroht durch die Massen gewöhnlicher Männer, die knapp bei Kasse sind, und unscheinbarer, handfester Frauen, die dem Islam nur aus Trägheit angehören, weil es ihrer eth‐ nischen Identität entspricht. Zwar war Ahmed an Central 227
High nicht der einzige Gläubige, aber ganz so wie er war kein anderer Schüler gewesen – gemischter Herkunft und doch glühend in seinem Glauben, den er selbst gewählt hatte, nicht lediglich von einem Vater ererbt, der da war und den Sohn in seiner Glaubenstreue bestärkte. Ahmed ist in den USA geboren, und auf seinen Fahrten durch New Jer‐ sey interessiert er sich weniger für die Enklaven, in denen ein verwässerter Lebensstil des Nahen Ostens herrscht, als für die ringsum bestehende amerikanische Realität, ein wu‐ cherndes Ferment, dem Ahmed mit der mitleidigen Milde begegnet, die man einem gescheiterten Experiment schul‐ dig ist. Diese brüchige, hergelaufene Nation hat eine Geschich‐ te, die nur mangelhaft in dem pompösen Rathaus von New Prospect und in dem See von Stadtplanungsschutt zum Ausdruck kommt, an dessen gegenüberliegendem Ufer die Schule und die rußige schwarze Kirche mit ihren vergitter‐ ten Fenstern stehen. Jeder Ort birgt in seiner Mitte Überres‐ te des neunzehnten Jahrhunderts, kommunale Gebäude aus klotzigem braunem Sandstein oder aus weichen roten Zie‐ gelsteinen, mit vorspringenden Simsen und Rundbögen um die Eingänge, schmucke, stolze Gebäude, dazu bestimmt, die hinfälligeren Bauten des zwanzigsten Jahrhunderts zu überdauern. Diese älteren, kräftigeren Gebäude sind Aus‐ druck einer vergangenen industriellen Blüte, eines auf Handarbeit, maschineller Produktion und Eisenbahnen be‐ ruhenden Wohlstands, in dessen Geschirr sich eine Nation von Arbeitern abrackerte; Ausdruck einer Ära der inneren Konsolidierung und der bereitwilligen Aufnahme von Ein‐ wanderern aus aller Welt. Sodann gibt es noch Relikte einer weiteren Schicht, eines vorangegangenen Jahrhunderts, das die folgenden erst möglich machte. Der orangefarbene 228
Laster rattert an kleinen eisernen Plaketten und leicht zu übersehenden Monumenten vorüber, die an einen Aufstand erinnern, der zur Revolution wurde; an einen Krieg, der in Schlachten von Fort Lee bis Red Bank ausgefochten wor‐ den war und in dem Tausende von Jungen unter dem Gras ihre Ruhe fanden. Charlie Chehab, ein Mann mit vielen grundverschiedenen Eigenschaften, weiß erstaunlich viel über jenen alten Kon‐ flikt: «In New Jersey nahm die Revolution ihre Wende. Auf Long Island war’s katastrophal verlaufen; in New York City nicht viel besser. Rückzug, Rückzug. Seuchen, Deserteure. Kurz vor dem Winter sechsundsiebzig auf siebenundsiebzig sind die Briten von Fort Lee nach Newark vorgerückt, dann nach Brunswick, Princeton und Trenton, so mühelos, wie ein Messer Butter schneidet. Mit einer Armee in Fetzen ist Washington über den Delaware gewankt – ob du’s glaubst oder nicht, viele von ihnen waren barfuß. Barfuß, und der Winter stand bevor. Wir waren geliefert. In Philadelphia ver‐ suchte jeder, wegzukommen, außer den Tories – die war‐ teten in aller Ruhe auf den Einmarsch ihrer Freunde, der Rotröcke. Oben in New England nahm eine britische Flotte kampflos Newport und Rhode Island ein. Es war aus.» «Ja, aber warum war’s dann doch nicht aus?», fragt Ah‐ med, verwundert darüber, dass Charlie diese patriotische Geschichte mit so glühender Anteilnahme erzählt. «Nun, aus mehreren Gründen», erwidert Charlie. «Ein paar gute Dinge sind eben doch passiert. Der Kontinental‐ kongress wachte auf und versuchte nicht länger, den Krieg zu lenken. ‹Okay›, haben die Delegierten aus den dreizehn Kolonien gesagt, ‹lassen wir’s George richten.›» «Kommt da die Redensart her?» «Gute Frage; ich glaub, nicht. Der andere führende 229
amerikanische General, eine Witzfigur namens Charles Lee – Fort Lee ist nach ihm benannt, was für eine Ehre –, ließ sich in einer Taverne in Basking Ridge gefangen neh‐ men, und damit war Washington allein für den ganzen Laden verantwortlich. Zu dem Zeitpunkt konnte er froh sein, dass er überhaupt noch eine Armee hatte. Nach Long Island waren die Briten nämlich nicht so streng mit uns umgegangen. Sie ließen zu, dass sich die Kontinental‐ armee über den Delaware zurückzog. Das stellte sich als Fehler heraus, denn, wie du in der Schule sicherlich gelernt hast – was zum Teufel bringen sie einem in der Schule ei‐ gentlich noch bei, Medizinmann? –, Washington und eine gerupfte Schar von halb erfrorenen Freiheitskämpfern überquerten am Weihnachtstag den Delaware, vertrieben die hessischen Truppen aus ihrer Garnison in Trenton und machten eine Menge Gefangene. Und als Cornwallis dann eine große Streitmacht aus New York abzog und meinte, jetzt hätte er die Amerikaner südlich von Trenton in der Falle, da schlich sich Washington durch die Wälder davon, zog um die Barrens und den Großen Bärensumpf herum und marschierte nordwärts, auf Princeton zu! Das alles mit zerlumpten Soldaten, die tagelang nicht geschlafen hatten! Die Menschen hielten damals einfach mehr aus. Sie fürch‐ teten sich nicht zu sterben. Als Washington dann südlich von Princeton auf eine britische Einheit stieß und ein ame‐ rikanischer General namens Mercer gefangen genommen wurde, da nannten die Briten ihn einen verdammten Re‐ bellen und verlangten, er solle um Schonung bitten. Aber Mercer sagte, er sei kein Rebell, und weigerte sich, um irgendwas zu bitten, und daraufhin erstachen sie ihn mit ihren Bajonetten. So nette Kerlchen, wie’s in Masterpiece Theatre dargestellt wird, waren die Briten nicht. Als es bei 230
Princeton wirklich übel stand, da ritt Washington seinen Leuten auf einem weißen Pferd voran – sage und schrei‐ be, auf einem weißen Pferd! –, mitten ins britische Feuer hinein, und führte die Wende herbei. Dann setzte er den zurückweichenden Rotröcken nach und brüllte: ‹Auf, auf, zur fröhlichen Fuchsjagd, meine Jungs!»» «Er muss ja ziemlich grausam gewesen sein», sagt Ah‐ med. Charlie schnaubt durch die Nase, bringt dieses wegwer‐ fende amerikanische Umph hervor und sagt: «Eigentlich nicht. Krieg ist immer grausam, aber die Leute, die ihn füh‐ ren, sind’s nicht in jedem Fall. Washington war ein Gentle‐ man. Als die Schlacht von Princeton vorbei war, hielt er bei einem verwundeten britischen Soldaten an und machte ihm ein Kompliment zu dem tapferen Kampf, den sie geliefert hätten. In Philadelphia nahm er die hessischen Gefangenen vor der aufgebrachten Menge in Schutz, die sie umgebracht hätte. Dazu musst du wissen, dass die Hessen, wie die meis‐ ten europäischen Berufssoldaten, darauf gedrillt waren, nur unter ganz bestimmten Umständen Schonung walten zu lassen und sonst keine Gefangenen zu machen – so haben sie’s auf Long Island gehalten, uns abgeschlachtet –, und sie waren über die menschliche Behandlung, die ihnen wider‐ fuhr, so verblüfft, dass ein Viertel von ihnen hier geblieben ist, als der Krieg vorbei war. Sie haben sich mit Frauen aus Pennsylvania verheiratet und wurden Amerikaner.» «Du scheinst von George Washington ja fasziniert zu sein.» «Möglich. Warum auch nicht?», sagt Charlie verdutzt, als wolle Ahmed ihn in eine Falle locken. «Muss man ja sein, wenn einem New Jersey wichtig ist. Hier hat er sich seine Sporen verdient. Das Großartige an ihm ist, dass er stän‐ 231
dig dazugelernt hat. Zum Beispiel hat er gelernt, mit den Leuten von New England auszukommen. In den Augen eines Plantagenbesitzers aus Virginia waren die ein unge‐ hobelter Haufen von Anarchisten; sie hatten Schwarze und Indianer in ihren Reihen, wie sie’s auch auf ihren Walfang‐ schiffen hielten – gerade so, als ob die Kerle weiß wären. Washington selber hatte übrigens einen großen schwarzen Draufgänger als Burschen, ebenfalls Lee mit Namen, aber nicht mit Robert E. verwandt. Als der Krieg vorbei war, schenkte Washington ihm die Freiheit, für seine Verdienste um die Revolution; er hatte gelernt, die Sklaverei als ein Übel zu betrachten. Irgendwann rang er sich dazu durch, die verstärkte Rekrutierung von Schwarzen zu befürworten, obwohl er sich anfangs dagegen gesträubt hatte. Sagt dir das Wort ‹pragmatisch› was?» «Natürlich.» «Das war Georgie – ein Pragmatiker. Er lernte zu neh‐ men, was gerade kam, und die Guerillataktik anzuwenden: zuschlagen und untertauchen, zuschlagen und untertau‐ chen. Er zog sich zwar zurück, gab aber niemals auf. Er war der Ho Chi Minh seiner Zeit. Wir waren wie die Hamas; wir waren Al‐Qaida. Mit New Jersey war die Sache die», be‐ eilt sich Charlie fortzufahren, denn Ahmed holt Luft, wie um etwas einzuwerfen, «die Briten wollten ein vorbildlich befriedetes Gebiet daraus machen – die Herzen und den Verstand für sich gewinnen; kommt dir bestimmt bekannt vot. Wie sie auf Long Island vorgegangen waren, war kon‐ traproduktiv gewesen, das sahen sie ein; es hatte nur noch mehr Widerstand erzeugt, und hier wollten sie sich nun artig geben, die Kolonisten wieder für das Mutterland gewinnen. Bei Trenton machte Washington den Briten aber klar: ‹Es ist uns ernst. Artig war einmal.›» 232
«Artig war einmal», wiederholt Ahmed. «So könnte eine TV‐Serie heißen. Regie: Charlie Chehab.» Charlie geht auf das Gedankenspiel nicht ein; er hat etwas zu verkaufen. «Er hat der Welt gezeigt, wie man als der ungleich Schwächere gegen eine Großmacht vorgehen kann. Er hat gezeigt, dass in einem Krieg zwischen einer imperialistischen Besatzungsmacht und der einheimischen Bevölkerung – und hier kommen Vietnam und Irak ins Spiel – am Ende die Einheimischen die Oberhand behal‐ ten. Sie kennen das Gelände. Sie haben mehr zu verlieren. Sie können nirgendwo sonst hingehen. Entscheidend wa‐ ren nicht nur die Aktionen der Kontinentalarmee, sondern die der örtlichen Milizen, kleiner, gerissener Grüppchen von Einheimischen überall in New Jersey, die selbständig agierten, britische Soldaten einzeln ausschalteten und wie‐ der in der Landschaft untertauchten – mit anderen Worten, an den Spielregeln des Gegners gemessen, verhielten sie sich nicht fair. Auch der Angriff auf die hessischen Truppen war gerissen – mitten in einem Schneesturm und an einem Feiertag, an dem nicht einmal Soldaten arbeiten sollten. Washington machte allen klar: ‹He, das hier ist unser Krieg.› Aber zu Valley Forge: Valley Forge wird immer enorm her‐ vorgehoben, dabei kampierte er in den Wintern danach in New Jersey – in Middlebrook in den Watchung‐Bergen und dann in Morristown. Der erste Winter in Morristown war der kälteste seit einem Jahrhundert. Sie haben sechshundert Morgen Eichen‐ und Kastanienwald gefällt, um sich Hütten zu bauen und Feuerholz zu beschaffen. Es gab in diesem Winter so viel Schnee, dass der Nachschub nicht durchkam und sie fast verhungert wären.» «Für die Welt heute wär’s vielleicht besser gewesen», wirft Ahmed ein, um mit Charlie Schritt zu halten, «wenn 233
sie tatsächlich verhungert waren. Dann wäre aus den Ver‐ einigten Staaten so etwas wie Kanada geworden, ungläubig zwar, aber ein friedliches, vernünftiges Land.» Charlies überraschtes Lachen schlägt in ein nasales Schnauben um. «Na, träum schön weiter, Medizinmann. Für Frieden und Vernunft gibt’s hier zu viel Energie. Wider‐ streitende Kräfte – so steht’s in der Verfassung, und mit de‐ nen haben wir’s zu tun.» Er verlagert sein Gewicht auf dem Sitz und schüttelt sich eine Marlboro aus dem Päckchen. Durch den Rauch, der sein Gesicht umwabert, starrt er mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzschei‐ be und denkt offenbar über die Dinge nach, die er seinem jungen Fahrer gerade gesagt hat. «Wenn wir das nächste Mal auf der Neun nach Süden unterwegs sind, sollten wir einen Abstecher zum Schlachtfeld von Monmouth machen. Die Amerikaner fielen zurück, hielten sich aber gegen die Briten immerhin so gut, dass die Franzosen fanden, es könnte sich lohnen, sie zu unterstützen. Die Spanier und Holländer ka‐ men zum gleichen Schluss. Ganz Europa war damals darauf aus, England zurechtzustutzen – wie heute die Vereinigten Staaten. Bloß war die Ironie die: Ludwig der Sechzehnte gab so viel Geld zu unserer Unterstützung aus, dass er die Franzosen wegen der Steuern, die er ihnen abforderte, der‐ art reizte, dass sie sich gegen ihn erhoben und ihn köpften. Eine Revolution führte zur nächsten. So was kommt vor.» Charlie atmet tief aus, und dann verkündet er mit gedämpf‐ ter Stimme, als sei er sich nicht sicher, ob Ahmed seine Wor‐ te vernehmen sollte, eine geheime Botschaft: «Weißt du, die Geschichte ist nie aus und vorbei. Sie findet auch jetzt statt. Die Revolution hört nie auf. Wenn du ihr einen Kopf abschneidest, wachsen ihr zwei neue.» «Die Hydra», sagt Ahmed, um zu zeigen, dass er nicht 234
völlig unwissend ist. In Scheich Rashids Predigten taucht sie immer wieder auf, er illustriert damit die Vergeblichkeit des amerikanischen Kreuzzugs gegen den Islam; zuerst je‐ doch ist Ahmed dem Bild im Kinderfernsehen begegnet, in den Zeichentrickfilmen, die er sonntagmorgens sah, wenn seine Mutter noch schlief. Dann war er im Wohnzimmer mit dem Fernsehgerät ganz allein – dort der aufgeregte, anma‐ ßende elektronische Kasten mit all den Schluckaufs, Knalls und Crashs, mit den überdrehten, kieksigen Stimmen der Zeichentrickabenteuer, und hier sein Publikum, das reglose und still zuschauende Kind, das den Ton ganz leise gestellt hat, damit seine Mutter sich nach ihrer Verabredung vom Abend davor ausschlafen kann. Die Hydra war eine Comic‐ figur, deren viele Köpfe aufwogenden Hälsen miteinander plapperten. «Aus den Revolutionen der Vergangenheit», fährt Charlie vertraulich fort, «lässt sich für unseren Dschihad eine Men‐ ge lernen.» Da Ahmed darauf gar nichts sagt, fühlt sein Mit‐ fahrer sich bemüßigt, rasch eindringlich zu fragen: «Du bist doch dem Dschihad verpflichtet?» «Selbstverständlich. Der Prophet fordert es ja im Heili‐ gen Buch.» Und Ahmed zitiert: «Mohammed ist der Gesandte Gottes. Und diejenigen, die mit ihm sind, sind den Ungläubigen gegenüber heftig, unter sich aber mitfühlend.» Dennoch, der Dschihad kommt Ahmed sehr fern vor. Um moderne Möbel auszuliefern und andere abzuholen, die für deren tote Besitzer einmal modern gewesen sind, fahren er und Charlie auf Excellency durch einen in der Hitze schmach‐ tenden Morast von Pizzerias und Nagelstudios, Discountern und Tankstellen, Niederlassungen von White Castle und Blimpie, Krispy Kreme und Lovely Laundry, Midas und 877‐ TEETH‐14, Starlite Motel und Prime Office Suitcs, Bank 235
of America und Metro Information Shredding, Testigos de Jehovah und New Christian Tabernacle: In schwindelerre‐ gender Vielzahl brüllen die Schilder heraus, was sie zur po‐ tenziellen Verbesserung der unzähligen Leben anzubieten haben, die dort zusammengepfercht sind, wo einst Weiden und von Wasserkraft getriebene Fabriken lagen. Die für die Ewigkeit errichteten Bauten des Gemeinsinns mit ihren mächtigen Mauern stehen noch und dienen nun als Museen, Apartmenthäuser oder städtische Behörden. Amerikanische Flaggen wehen überall, manche davon so zerfleddert und verblichen, dass sie offensichtlich an ihren Masten vergessen worden sind. Eine Zeit lang waren die Hoffnungen der Welt hier konzentriert gewesen, doch jene Zeit war vorbei. Durch die hohe Windschutzscheibe von Excellency sieht Ahmed junge Leute seines Alters, Jungen wie Mädchen, in quat‐ schenden Gruppen herumstehen, in einer Untätigkeit, die etwas Bedrohliches besitzt, die braunhäutigen Mädchen in knappen Shorts und eng anliegenden, kurzen Bustiers, die Jungen in Tanktops, grotesk die Oberschenkel umschlab‐ bernden Shorts, Ohrringen und wollenen Kappen – Clowns, die sich über sich selbst lustig machen. Mit dem blendenden, grellen Licht, das auf die staubige Windschutzscheibe fällt, überkommt Ahmed auf einmal Pa‐ nik angesichts der Bürde, ein Leben zu haben, das er wird ausfüllen müssen. Diese zum Untergang verurteilten Tiere, die sich dort, Paarung und Unfug witternd, zusammenge‐ rottet haben, genießen immerhin den Trost, sich in einer Herde von ihresgleichen zu befinden, und jedes von ihnen hat irgendeine Hoffnung oder einen Plan für die Zukunft – einen Job, ein Ziel, einen Ehrgeiz, und sei es auch nur der, in der Hierarchie der Drogendealer oder Zuhälter aufzustei‐ gen. Wohingegen er, Ahmed, mit seinen, wie Mr. Levy ihm 236
bescheinigt hat, stattlichen Fähigkeiten keinen Plan besitzt: Der Gott, der wie ein unsichtbarer Zwilling mit ihm ver‐ bunden ist, ist kein Gott des Unternehmungsgeists, sondern ein Gott der Unterwerfung. Obwohl Ahmed sich bemüht, fünfmal am Tag zu beten – auch wenn er es in der eckigen Höhle des Lkw‐Laderaums zwischen Deckenstapeln und Verpackungsmaterial tun muss oder hinter einem Schnell‐ imbiss an der Landstraße auf einem Kiesstück, wo er für reinigende fünf Minuten seine Matte ausbreiten kann –, hat der Barmherzige und Gnädige ihm keinen geraden Weg zu einer Berufung vor Augen geführt. Es ist, als wäre ihm, im köstlichen Schlummer seiner Hingabe an Allah, seine Zu‐ kunft amputiert worden. Als er in einer der langen Flauten des Meilenfressens Charlie seine Beunruhigung gesteht, scheint der sonst gesprächige und wohlinformierte Mann ausweichen zu wollen und in Verlegenheit zu sein. «Na ja, in kaum drei Jahren kriegst du den A‐Schein und kannst alles fahren – Risikoladungen, Sattelschlepper –, auch außerhalb des Bundesstaats. Dann machst du richtig Kohle.» «Aber wozu? Um Konsumgüter zu konsumieren, wie du’s nennst? Um meinen Körper, der irgendwann hinfällig und unbrauchbar wird, zu ernähren und zu bekleiden?» «Das ist eine Art, es zu betrachten. ‹Das Leben stinkt, und am Ende stirbst du.› Aber wird da nicht eine Menge übersehen?» «Was denn? ‹Frau und Kinder›, wie es immer heißt?» «Na ja, stimmt schon, wenn du Frau und Kinder an Bord hast, packst du viele von diesen großen, existenziellen Was‐ ist‐der‐Sinn‐des‐Ganzen‐Fragen auf den Rücksitz.» «Du hast eine Frau und Kinder, aber du redest kaum von ihnen, mir gegenüber jedenfalls.» 237
«Was gibt’s da schon zu sagen? Ich liebe sie. Und wie steht’s denn bei dir mit der Liebe, Medizinmann? Fühlst du die denn nicht in dir? Wie gesagt, wir müssen dafür sorgen, dass du was vor die Latte kriegst.» «Das ist sicher freundlich von dir gemeint, aber ohne ver‐ heiratet zu sein, wäre es gegen meine Überzeugungen.» «Ach, jetzt mach’s mal halblang. Der Prophet selbst war kein Mönch. Ein Mann kann vier Frauen haben, hat er ge‐ sagt. Das Mädchen, das wir dir beschaffen würden, wäre ja auch keine gute Muslimin, sondern eine Nutte. Ihr würd’s nichts ausmachen, und dir sollte es das auch nicht tun. Eine schmutzige Ungläubige wäre sie in jedem Fall, ob du’s nun mit ihr treibst oder nicht.» «Nach Unreinem habe ich kein Verlangen.» «Also, wonach zum Teufel hast du denn Verlangen, Ah‐ med? Vergiss jetzt mal die Bumserei, tut mir leid, dass ich davon geredet hab. Aber einfach nur lebendig sein – wie wär’s denn damit? Die Luft in der Lunge spüren, die Wol‐ ken anschauen? Ist das etwa nicht besser, als tot zu sein?» Plötzlich sprenkelt Sommerregen – aus wolkenlosem, überwiegend zinngrauem, mit erstickten Sonnenstrahlen durchsetztem Himmel – auf die Windschutzscheibe; auf Ahmeds Knopfdruck hin nehmen die Scheibenwischer ihr schwerfälliges Geflappe auf. Der auf der Fahrerseite lässt einen Regenbogen von Nässe stehen; in seinem Gummi‐ blatt ist eine Kerbe; Ahmed nimmt sich vor, das schadhafte Blatt auszutauschen. «Kommt drauf an», sagt er zu Charlie. «Nur die Ungläubigen fürchten grundsätzlich den Tod.» «Was ist mit den alltäglichen Freuden? Du liebst das Leben, Medizinmann, streit das doch nicht ab. Schon wie du jeden Morgen so früh zur Arbeit kommst, ganz gespannt darauf, wie unser Plan aussieht. Wir hatten auch schon ganz 238
andere junge Kerle auf dem Laster – gar nichts haben die gesehen, alles waren ihnen egal, hinter den Augen waren sie tot. Denen kam’s nur darauf an, bei den Junkfood‐Ketten anzuhalten, sich den Bauch vollzuschlagen, zu pissen und, wenn der Tag vorbei war, mit ihren Kumpeln auszugehen und sich zuzudröhnen. Du, du hast noch was in dir.» «Hat man mir bereits gesagt. Aber wenn ich das Leben liebe, wie du meinst, dann als ein Geschenk, das Gott mir zu geben beschlossen hat und das er mir jederzeit wieder nehmen kann.» «Nun dann, okay. Wie Gott will. Genieß es in der Zwi‐ schenzeit.» «Das tu ich.» «Gut so.» Eines Tages im Juli dirigiert ihn Charlie auf der Rückfahrt zum Laden nach Jersey City hinein, durch eine Lagerhaus‐ gegend, die von Maschendrahtzäunen, gleißenden Stachel‐ drahtspiralen und den rostenden Schienen aufgegebener Frachtgeleise strotzt. Sie rollen an den Glasfassaden neuer, hoher Apartmenthäuser vorüber, die anstelle alter Lagerhal‐ len errichtet werden, zu einem Park auf einer Landzunge, von der aus man die Freiheitsstatue und das untere Man‐ hattan sich in greifbarer Nähe erheben sieht. Als die beiden Männer auf der Aussichtsplattform aus Beton stehen – Ah‐ med in schwarzen Jeans, Charlie in einem geräumigen oli‐ venfarbenen Overall und gelben Arbeitsstiefeln –, ziehen sie misstrauische Blicke von älteren christlichen Touristen auf sich. Kinder, die gerade im mit einer Kuppel überdach‐ ten Liberty Science Center gewesen sind, flitzen aus und ein und springen auf das niedrige Eisengeländer, das die Plattform zum Fluss hin schützt. Eine Brise und Schwärme von blendenden Glitzerpünktchen gleichenden Mücken 239
drängen aus der Richtung der Upper Bay auf sie zu. Die weltberühmte Statue jenseits der Wasserfläche, kupfergrün, bietet sich aus diesem Blickwinkel ziemlich verkürzt von der Seite dar, das untere Manhattan aber schiebt sich vor wie eine prachtvoll Stachel bewehrte Schnauze. «Schön, das mal zu sehen, nachdem die Türme weg sind.» Ahmed ist von dem Anblick zu gefangen, um darauf zu reagieren. «Sie waren hässlich», stellt Charlie klar, «vollkommen unpropor‐ tioniert. Sie gehörten da nicht hin.» Ahmed sagt: «Sogar von New Prospect aus, von der An‐ höhe über den Wasserfällen, konnte man sie sehen.» «Halb New Jersey konnte die verdammten Dinger sehen. Eine Menge von den Leuten, die darin umgekommen sind, haben in New Jersey gewohnt.» «Ich hatte Mitleid mit ihnen. Besonders mit denen, die gesprungen sind. Wie furchtbar, so von Hitze umzingelt zu sein, dass es besser ist, in den sicheren Tod zu springen. Ich muss immer an das Schwindelgefühl denken, das einen be‐ fällt, wenn man hinunterblickt, bevor man springt.» Hastig, als zitiere er jemanden, sagt Charlie: «Die Leute dort waren im Finanzwesen tätig und haben die Interessen des amerikanischen Imperiums vertreten, das Israel unter‐ hält und täglich Palästinenser und Tschetschenen, Afgha‐ nen und Iraker in den Tod schickt. Im Krieg darf man kein Mitleid kennen.» «Es waren viele Wachleute und Kellnerinnen darunter.» «Sie haben auf ihre Weise auch dem Imperium gedient.» «Einige waren Muslime.» «Ahmed, du musst das Ganze als Kriegsgeschehen be‐ trachten. Im Krieg geht’s nun mal nicht säuberlich zu. Es kommt zu Kollateralschäden. Die Hessen, die George Wa‐ shington im Schlaf überfallen und erschossen hat, waren 240
sicher brave deutsche Jungen, die ihren Sold an ihre Mütter nach Hause geschickt haben. Ein Imperium saugt den un‐ terworfenen Völkern so geschickt das Blut aus, dass sie gar nicht mehr wissen, warum sie absterben, warum sie keine Kraft besitzen. Die Feinde hier um uns herum, die Kinder und die fetten Leute in Shorts, die uns ihre schmutzigen Seitenblicke zuwerfen –hast du’s bemerkt? –, verstehen sich nicht als Mörder und Unterdrücker, sondern als unschuldige, ganz von ihrem Privatleben in Anspruch genommene Men‐ schen. Jeder ist unschuldig – sie sind’s, die Leute, die aus den Türmen gesprungen sind, waren unschuldig, George W. Bush ist unschuldig – schlicht ein bekehrter Säufer aus Te‐ xas, der seine nette Frau und seine unartigen Töchter liebt. Und dennoch brütet diese ganze Unschuld Böses aus. Die westlichen Mächte stehlen uns unser Öl, sie nehmen uns unser Land –» «Sie nehmen uns unseren Gott», unterbricht Ahmed un‐ geduldig seinen Mentor. Einen Moment lang starrt Charlie vor sich hin, dann stimmt er zögernd zu, als sei ihm dieser Gedanke neu. «Ja. Vermutlich. Sie nehmen den Muslimen ihre Traditionen und ihr Selbstwertgefühl, den Stolz auf sich selbst, auf den jeder Mensch ein Anrecht hat.» Das ist nicht ganz das, was Ahmed gesagt hat, und es klingt ein wenig falsch, ein wenig gezwungen und sehr weit weg von dem konkreten, lebendigen Gott, der Ahmed so nahe ist wie der wärmende Sonnenschein auf seinem Hals. Charlie steht ihm gegenüber; seine dichten Brauen knaulen sich, und sein beweglicher Mund ist wie erstarrt vor so et‐ was wie schmerzhaftem Eigensinn; so soldatisch steif, wie er dasteht, bringt er das Bild des anregenden Reisegefährten zum Erlöschen, den Ahmed am Rand seines Blickfelds zu 241
haben gewohnt ist. Von vorn betrachtet, passt Charlie, der es an diesem Morgen unterlassen hat, sich zu rasieren, und dessen Augenbrauen über der faltigen Nasenwurzel zu‐ sammenstoßen, ganz und gar nicht zu der schönen Weite des Tages – dem wolkenlosen Himmel, bis auf ein paar ver‐ sprengte weiße Kissen in der Ferne über Long Island; nicht zu der Atmosphäre von so überhöhter Klarheit, dass sie einer glattwandigen Grube aus blauem Feuer gleicht; den zu ei‐ ner einzigen gleißenden Masse verschmolzenen Turmbau‐ ten im Süden von Manhattan, den schnurrenden Schnell‐ booten und schräg im Wasser liegenden Segelbooten in der Bucht, dem Gekreisch und Geplapper der vielen Touristen, die eine harmlose, ungleichmäßige Geräuschkulisse für das Gespräch zwischen Ahmed und Charlie abgeben. Diese Schönheit, denkt Ahmed, muss etwas zu bedeuten haben – einen Fingerzeig Allahs, einen Vorgeschmack des Paradieses. Charlie stellt ihm gerade eine Frage. «Würdest du also gegen sie kämpfen?» Worauf sich das «sie» bezieht, ist Ahmed entgangen, aber er sagt ja, als melde er sich bei einem Appell. Offenbar wiederholt Charlie etwas, was er schon einmal gesagt hat: «Würdest du mit deinem Leben kämpfen?» «Wie meinst du das?» Charlie lässt nicht locker; seine Brauen senken sich. «Würdest du dein Leben hingeben?» Die Sonne schmiegt sich an Ahmeds Hals. «Natürlich», sagt er und versucht, dem Zwiegespräch ein wenig Leich‐ tigkeit zu geben, indem er die rechte Hand hochschnellen lässt. «Wenn Gott es will.» Der eine Spur falsche, bedrohliche Charlie fällt in sich zusammen und wird durch den gutmütigen Dampfplaude‐ rer ersetzt, den Ersatz für einen nicht vorhandenen älteren 242
Bruder, und der grinst nun, zum Zeichen, dass sie dieses Gespräch hinter sich haben, dass er es abgeheftet hat. «Ge‐ nau, wie ich’s mir gedacht habe», sagt er. «Du bist ein guter, tapferer Junge, Medizinmann.» Als der Sommer voranschreitet und im August die Sonne später aufgeht und die Dämmerung früher einsetzt, gilt Ah‐ med als so kompetent, als ein so vertrauenswürdiges Mit‐ glied des Teams von Excellency, dass er einen Lieferungs‐ tag allein, mit einem Rollhund hinten im Laster, bewältigen kann. Bis zehn Uhr haben er und zwei schwarze Mindest‐ lohnkräfte – «die Muskelpakete» nennt sie Charlie – den Lkw beladen, und Ahmed fährt los, versehen mit einer Liste von Adressen, einem Bündel Lieferscheine und seinem Satz farbiger Hagstrom‐Landkarten, die von Sussex County bis nach Cape May hinunter den gesamten Bundesstaat abde‐ cken. Zu den Aufträgen, die er an diesem Tag abzuwickeln hat, zählt die Lieferung eines rosshaargepolsterten, lederbe‐ zogenen Puffs in einen Küstenort südlich von Asbury Park; das ist an diesem Tag das am weitesten entfernte Ziel und das letzte, das er anfahren wird. Er nimmt den Garden State Parkway, über Route 18 hinweg und um den Ostrand des Munitionsdepots der US‐Marine herum, und fährt auf der Ausfahrt 195 Ost ab, Richtung Camp Evans. Über Landstra‐ ßen, durch eine dunstige, tief gelegene Landschaft bewegt er seinen Laster Richtung Meer; der wilde, salzige Geruch wird stärker, und sogar die Ohren nehmen etwas wahr – das präzise rhythmische Ein‐ und Ausatmen der Brandung. Die Küstengegend ist reich an architektonischen Kurio‐ sitäten, Bauten in Form von Elefanten oder Bonbongläsern, Windmühlen und Gipsleuchttürmen. In diesem seit langer Zeit besiedelten Staat gibt es auf den Friedhöfen – Charlie hat 243
mehrmals damit geprahlt – Grabsteine, die in Gestalt eines riesigen Schuhs, einer Glühbirne oder des geliebten Mercedes eines Verstorbenen gemeißelt sind; inmitten von Kiefernwäldern und an Bergstraßen liegen einige Herren‐ häuser, in denen es angeblich spukt, und Irrenanstalten, was Ahmed flüchtig in den Sinn kommt, als der Tag allmählich verblasst. Excellencys Scheinwerfer treffen auf dichte Reihen von Strandhütten mit struppigen Vorgärten, in denen auf san‐ digem Boden schütteres Gras wächst. Motels und Nacht‐ bars machen mit Neonschildern auf sich aufmerksam, deren defekte Röhren in der Dämmerung sirren. Mit kunstvollen Drechselarbeiten verzierte Villen, einst als Sommerresi‐ denzen für große, wohlhabende Familien mit zahlreichen Dienstboten errichtet, müssen sich nun damit bescheiden, Gästezimmer oder Logis und Frühstück anzubieten. Selbst im August ist dies kein überlaufener Ferienort. An dem, was die Hauptstraße zu sein scheint, sind hier und da Restau‐ rants mit Sperrholzplatten verrammelt; sie werben noch für ihre Austern und Muscheln, Krabben und Hummer, servie‐ ren sie aber nicht mehr fangfrisch. Von den ausgebleichten Planken, die hier als Gehweg dienen, glotzen Grüppchen von Leuten auf Ahmeds hohen orangefarbenen Kasten, als wäre sein Auftauchen ein Ereignis; wie sie da in allen mög‐ lichen Kombinationen von Badeanzügen, Strandtüchern, abgerissenen Shorts und T‐Shirts, mit hedonistischen Sprü‐ chen und Witzeleien bedruckt, herumstehen, sehen sie wie Flüchtlinge aus, die nicht mehr Zeit hatten, ihre Habselig‐ keiten zusammenzuraffen. Die Kinder unter ihnen tragen hoch aufragende Schaumstoffhüte, und Gestalten, die ihre Großeltern sein könnten, haben jeden Gedanken an Wür‐ de aufgegeben und machen sich in eng anliegenden, grell 244
bunten und gemusterten Sachen lächerlich. Gebräunt und Überernährt, wie sie sind, tragen einige von ihnen in fröh‐ licher Selbstverhöhnung die gleichen grotesken Schaum‐ gummihüte wie ihre Enkel, gestreifte Zylinder wie in den Büchern von Dr. Seuss oder Kopfbedeckungen in Form eines aufgerissenen Haimauls oder eines Hummers, der mit riesigen, handschuhartigen Scheren um sich greift. Teufel! Die mächtigen Bäuche der Männer hängen und die mons‐ trösen Hintern der Frauen wackeln beängstigend, wenn sie in prallen Laufschuhen den Gehweg entlangtrotten. Nur noch ein paar Schritte vom Tod entfernt, trotzen diese alten Amerikaner allem, was sich ziemt, und takeln sich auf wie Kleinkinder. Auf der Suche nach der Adresse des letzten Lieferauftrags des Tages lenkt Ahmed den Lastwagen durch ein Raster von Straßen abseits des Strands. Dort gibt es weder Bord‐ steine noch Gehwege; die Ränder der geteerten Fahrbahn zerbröseln in verdorrten Grasflecken. Die kleinen, schindel‐ verkleideten Katen stehen dicht an dicht; alles deutet dar‐ aufhin, dass zu ihrer Instandhaltung nur das Notwendigste geschieht und dass sie nur für die Saison vermietet werden. Etwa die Hälfte davon weisen Anzeichen dafür auf, dass sie bewohnt sind – Licht, ein flimmernder TV‐Bildschirm. In manchen Vorgärten haben Kinder knallbunte Strand‐ spielsachen herumliegen lassen; hinter dem Drahtgespinst der Veranden warten Surfbretter, aufblasbare Nessies und Schaumkopffiguren auf das nächsten Herumtollen in den Wellen. Wilson Way, Nummer 292. Von außen lässt nichts vermu‐ ten, dass die Kate bewohnt ist; die Fenster nach vorne sind durch geschlossene Jalousien uneinsehbar gemacht, und daher fährt Ahmed zusammen, als die Haustür, schon Se‐ 245
kunden nachdem er das Glockenspiel der Klingel ausgelöst hat, aufspringt. Ein großer Mann mit einem schmalen Kopf, der durch die dicht beieinander stehenden Augen und das kurz geschorene schwarze Haar noch schmaler erscheint, steht hinter der Fliegentür. Im Gegensatz zu den Scharen in Strandnähe trägt er keine sonnenfreundliche Kleidung, eine graue Hose und ein langärmeliges, an den Handgelenken und am Hals geschlossenes Hemd in der unbestimmbaren Farbe von Ölflecken. Sein starrer Blick ist nicht freundlich. Sein ganzer Körper wirkt auf drahtige Weise gespannt; sein Bauch ist bewundernswert flach. «Mr.» – Ahmed wirft einen Blick auf seinen Liefer‐ schein – «Karini? Ich habe für Sie eine Lieferung von Ex‐ cellency Wohnbedarf in New Prospect.» Er schaut erneut auf den Lieferschein. «Ein Puff in mehrfarbigem Leder.» «In New Prospect», wiederholt der flachbäuchige Mann. «Nicht Charlie?» Ahmed versteht nicht gleich. «Ah – ich fahr jetzt den Las‐ ter. Charlie hat im Büro zu tun, er soll sich mit den Abläufen da vertraut machen. Sein Vater ist zuckerkrank.» Diese über‐ flüssigen Sätze werden wohl unverständlich sein, befürchtet Ahmed und errötet, obwohl er im Dunkeln steht. Der hochgewachsene Mann dreht sich um. «New Pro‐ spect», wiederholt er für die anderen im Raum. Drei weitere Personen sind anwesend, sieht Ahmed nun, alles Männer. Einer davon ist klein, untersetzt und älter als die beiden an‐ deren, die nicht viel älter sind als Ahmed. Alle sind sie nicht für einen Ferienort gekleidet, sondern wie zu körperlicher Arbeit; sie sitzen auf den gemieteten Möbeln, als warteten sie nur darauf, mit der Arbeit loszulegen. Aus dem beifäl‐ ligen Gebrabbel, mit dem sie auf ‹New Prospect» reagieren, meint Ahmed die Wörter fulūs und kāfir, unter Flexions‐ 246
endungen verborgen, herauszuhören; der Lange bemerkt, dass Ahmed lauscht, und fragt ihn schneidend: «Enta btehki ‘arabī?» Ahmed errötet wieder und sagt: La’ – ana aasif. Inglizi.» Befriedigt und eine Nuance weniger angespannt sagt der Mann: «Reinbringen, bitte. Ganzen Tag warten wir.» Excellency Wohnbedarf verkauft nicht viele Puffs; sie gehören, wie das Rathaus von New Prospect, einer an Schnörkeln reicheren Epoche an. Das Stück, zum Schutz seiner empfindlichen, aus gefärbten Lederflecken zu einem sechszackigen geometrischen Muster zusammengenähten Haut in dicke, durchsichtige Plastikfolie gehüllt, besteht aus einem gepolsterten Zylinder, stabil genug, das Gewicht eines sitzenden Mannes auszuhalten, jedoch auch weich genug, als angenehme Stütze der in Pantoffeln steckenden Füße von jemandem zu dienen, der sich behaglich in einem Sessel fläzt. Der Gegenstand, leicht auf die Arme zu neh‐ men, raschelt ein wenig, als Ahmed ihn vom Laster über das Fingergras ins Wohnzimmer trägt, wo die vier Männer im trüben Schein einer einzigen Tischlampe umhersitzen. Keiner von ihnen erbietet sich, ihm die Last abzunehmen. «Auf Boden ist okay», wird ihm gesagt. Ahmed setzt das Ding ab. «Das dürfte hier sehr hübsch hinpassen», sagt er, um das Schweigen im Raum zu brechen, und richtet sich auf. «Würden Sie bitte hier unterschreiben, Mr. Karini?» «Karini nicht da. Ich unterschreiben für Karini.» «Keiner von Ihnen ist Mr. Karini?» Die drei Männer werfen ihm jenes erwartungsvolle Lä‐ cheln zu, das über die Gesichter von Mensehen zieht, die eine Frage nicht verstanden haben. «Ich unterschreiben für Karini. Ich Kollege von Karini.» 247
Ohne weiteren Widerstand legt Ahmed den Lieferschein auf den Couchtisch mit der schwachen Lampe und deutet mit dem Kugelschreiber auf die Stelle, die für die Unterschrift vorgesehen ist. Der namenlose dünne Mann unterschreibt. Die Unterschrift ist völlig unleserlich, stellt Ahmed fest, und jetzt erst fällt ihm auf, dass einer der Chehabs, Vater oder Sohn, «FH» auf den Lieferschein gekritzelt hat – frei Haus –, obwohl der Wert der Ware erheblich unter dem für eine kostenlose Lieferung erforderlichen Minimum von hundert Dollar liegt. Als Ahmed die Fliegentür hinter sich zuzieht, gehen im Wohnzimmer weitere Lichter an, und als er über den san‐ digen Rasen zum Lkw zurückgeht, hört er angeregtes ara‐ bisches Schnattern, mit Gelächter durchsetzt. Er steigt auf den Fahrersitz des Lasters und lässt den Motor aufdröhnen, damit sie ihn auch wirklich abfahren hören. Er rattert den Wilson Way bis zur ersten Kreuzung entlang, biegt nach rechts ab und parkt vor einem Häuschen, das unbewohnt aussieht. Flink, leise und flach atmend geht Ahmed auf dem Trampelpfad, der anstelle eines Gehwegs ins Gras getreten ist, zurück. Kein Auto, kein Mensch ist in dem schäbigen Sträßchen unterwegs. Ahmed geht zum Seitenfenster des Wohnzimmers von Nummer 292, wo ein kümmerlicher Hortensienbusch mit welken lavendelfarbenen Blüten ihn einigermaßen verbirgt, und späht vorsichtig hinein. Der Puff ist aus seiner Plastikhülle genommen und auf einen gekachelten Teetisch gesetzt worden, der vor einem zerschlissenen karierten Sofa steht. Mit einem Schnapp‐ messerchen, vielleicht einen halben Finger lang, hat der Anführer die Stiche an einem der dreieckigen Flicken auf‐ getrennt, die auf der kreisrunden Lederfläche einen sechs‐ zackigen Stern bilden, eine rot‐grüne Schneeflocke. Als die‐ 248
ses Dreieck zu einer losen Lasche von ausreichender Größe geworden ist, kann die schmale Hand des Anführers hinein‐ gleiten und, zwischen zwei lange Finger geklemmt, Stapel grüner amerikanischer Banknoten hervorziehen. Durch den sterbenden Hortensienbusch hindurch vermag Ahmed die Ziffern auf den Scheinen nicht zu erkennen, doch nach der Ehrfurcht zu urteilen, mit der die Männer die Banknoten zählen und auf dem Kacheltisch sortieren, sind die Nenn‐ werte hoch.
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IV Maurice, Charlies Onkel und Habib Chehabs Bruder, kommt selten aus Florida herauf, nur die Hitze und Feuch‐ tigkeit von Miami im Juli und August treiben ihn für diese Monate nach Norden. Mit Unterbrechungen wohnt er dann bei Habib in Pompton Lakes und taucht gelegentlich bei Excellency auf, wo Ahmed ihn zu sehen bekommt – er gleicht seinem Bruder in vieler Hinsicht, nur dass er größer und steifer ist, ein Herr mit einem Hang zu Seersucker‐An‐ zügen, weißen Lederschuhen und allzu offensichtlich auf‐ einander abgestimmten Hemden und Krawatten. Er reicht Ahmed förmlich die Hand, als sie sich zum ersten Mal be‐ gegnen, und der Junge hat das unangenehme Gefühl, von Augen taxiert zu werden, die noch goldener schimmern als die von Habib, die jedoch weniger offen sind und weniger zu amüsiertem Zwinkern neigen. Maurice ist der jüngere der beiden Brüder, stelle sich heraus, obwohl er die anmaßende Art eines älteren an sich hat. Als Einzelkind ist Ahmed von Bruderschaft fasziniert – von ihren Vor‐ und Nachteilen, von dem, was es bedeutet, in mancher Hinsicht einen Doppel‐ gänger zu haben. Wäre Ahmed mit einem Bruder gesegnet, fühlte er sich vielleicht weniger allein und wäre weniger auf 251
den Gott angewiesen, den er mit sich herumträgt, in seinem Pulsschlag und in seinen Gedanken. Wann immer Ahmed und Maurice sich im Laden sehen, nickt der stattliche, ge‐ schmeidige Mann in der hellen Garderobe ihm mit einem leichten Lächeln zu, das besagt: Ich weiß über dich Bescheid, junger Mann. Ich habe dich durchschaut. Der kurze Blick, den Ahmed auf die Dollars werfen konn‐ te, die er den vier Männern in dem kleinen Haus an der Küste geliefert hat, lebt in ihm fort als ein Augenblick der Teilhabe am Übernatürlichen, an jenem gcsichtslosen Un‐ ermesslichen, das gleichwohl nach seinem unergründlichen Willen in unser Leben einzugreifen geruht. Ahmed fragt sich, ob er wagen soll, Charlie seine Entdeckung zu gestehen. Hat Charlie um den Inhalt des Puffs gewusst? Wie viele andere Möbelstücke, die sie geliefert und abgeholt haben, sind in ihren Ritzen und Hohlräumen ähnlich gefüllt gewesen? Und zu welchem Zweck? Das Rätsel riecht nach den Fällen von politischer Gewalt im Ausland und von häuslicher Gewalt, die hier und da im Inland vorkommen und über die in den Zeitungen berichtet wird, von denen Ahmed allenfalls die Schlagzeilen zur Kenntnis nimmt, sowie in den abendlichen Nachrichtensendungen, die er vor dem veralteten Admiral‐ Fernseher seiner Mutter durchzappt. Er hat begonnen, im Fernsehen nach Spuren Gottes in dieser ungläubigen Gesellschaft zu suchen. Er sieht sich Schönheitswettbewerbe an, bei denen Mädchen mit leuch‐ tend heller Haut und weißen Zähnen – neben einer farbigen Kandidatin oder zweien – darin wetteifern, den Zeremonien‐ meister mit ihren Gesangs‐ oder Tanztalenten zu bezaubern, wie auch mit wiederholten, freilich hastigen Dankesbekun‐ dungen an den Herm für ihre Gaben, die sie nach ihrer Zeit des Singens im Badeanzug einmal den Mitmenschen zu 252
widmen gedenken, indem sie so hehre Berufe wie den der Ärztin, Pädagogin, Agronomin ergreifen wollen, oder den heiligsten von allen, denjenigen der Hausfrau und Mutter. Ahmed entdeckt einen besonders christlichen Kanal, in dem Männer mittleren Alters mit tiefen Stimmen auftreten, die Anzüge in ungewöhnlichen Farben mit breiten, glänzenden Revers tragen und die von ihrer leidenschaftlichen Rhetorik («Seid ihr bereit für Jesus?», fragen sie und: «Habt ihr Je‐ sus in euer Herz aufgenommen?») auf einmal ablassen, um einen verstohlenen Flirt mit den älteren Frauen im Publi‐ kum aufzunehmen oder aber fingerschnalzend in Gesinge auszubrechen. Christlicher Gesang interessiert Ahmed, vor allem Gospelchöre in changierenden Gewändern, mit fetten schwarzen Frauen, die wogen und sich mit einer Inbrunst wiegen, die manchmal künstlich herbeigeführt wirkt, in anderen Momenten aber, beim nächsten Chorus etwa, wirk‐ lich in ihren Seelen entfacht zu werden scheint. Die Frauen erheben die Hände im Einklang mit ihren Stimmen und klatschen rhythmisch, dass auch die wenigen Weißen unter ihnen davon angesteckt werden, denn dies ist ein Bereich amerikanischer Erweckung, in welchem, wie im Sport und in der Kriminalität, fraglos dunklere Teints überwiegen. Aus Scheich Rashids dürren, von einem hauchfeinen Lä‐ cheln umspielten Andeutungen weiß Ahmed von den Ver‐ zückungen und Ekstasen der Sufis, die vor undenklichen Zeiten den Islam heimgesucht haben, findet davon jedoch nicht einmal mehr ein schwaches Echo auf den islamischen Kanälen, die von Manhattan und Jersey City aus gesendet werden – nur die fünf Aufrufe zum Gebet, die zu einem unbewegten Bild von der großen Moschee von Mohammed Ali in Saladins Zitadelle ertönen, sowie ernste Gesprächs‐ runden, bei denen bebrillte Professoren und Mullahs über 253
den antiislamischen Affekt diskutieren, der widersinniger‐ weise vom heutigen Westen Besitz ergriffen hat, und einen turbantragenden, an einem kahlen Tisch sitzenden Imam, dessen Predigten von einer starren Kamera aus einem strikt bilderleeren Studio übertragen werden. Schließlich ist Charlie derjenige, der auf das Thema zu sprechen kommt. Als sie eines Tages im Laster auf einer un‐ gewöhnlich öden Strecke im nördlichen New Jersey unter‐ wegs sind, zwischen einem weitläufigen Friedhof und einem überlebenden Stück der Meadows – einer brackigen Wasser‐ fläche, in der Teichkolben und Binsen mit schimmernden Blättern wurzeln –, fragt Charlie: «Bedrückt dich was, Medi‐ zinmann? Du kommst mir in letzter Zeit so still vor.» «Ich bin doch meistens still, oder? » «Schon, aber jetzt ist’s anders. Anfangs warst du ‹Zeig’s‐ mir›‐still, jetzt bist du mehr ‹Was‐ist‐los?›‐still.» Ahmed hat nicht so viele Freunde auf der Welt, dass er es riskieren kann, einen zu verlieren. Von diesem Punkt an gibt es für ihn kein Zurück, das weiß er; er besitzt nicht viel, worauf er zurückkommen könnte. «Vor ein paar Tagen», er‐ zählt er Charlie, «als ich allein auf Liefertour war, hab ich was Seltsames gesehen. Ich hab gesehen, wie Männer bün‐ delweise Geld aus dem Puff gezogen haben, die ich an die Küste geliefert habe.» «Sie haben sie vor dir aufgemacht?» «Nein. Ich bin abgefahren, dann hab ich mich zurück‐ geschlichen und hab durchs Fenster geschaut. Wie sie sich verhalten haben, hat mich misstrauisch gemacht. Und neu‐ gierig ... » «Du weißt doch, wie’s der neugierigen Katze ergangen ist, oder?» «Es hat sie den Kopf gekostet. Aber Unwissenheit kann 254
auch den Kopf kosten. Wenn ich Lieferungen machen soll, sollte ich schon wissen, was ich liefere.» «Warum nur, Ahmed?», fragt Charlie beinahe zärtlich. «Wie ich’s gesehen habe, wolltest du nicht mehr wissen, als du verkraften kannst. Wirklich, zu neunundneunzig Prozent sind die Möbelstücke, die du lieferst, nur das – Möbel.» «Aber wer sind die glücklichen Gewinner des restlichen einen Prozents?» Nun, da der kritische Punkt hinter ihm liegt, fühlt Ahmed sich auf angespannte Weise frei. So erlöst und verantwortlich zugleich, stellt er sich vor, müssen sich ein Mann und eine Frau fühlen, wenn sie zum ersten Mal zusammen ihre Kleider ablegen. Auch Charlie empfindet anscheinend so; nun, da er sich weniger verstellen muss, klingt seine Stimme unbeschwerter. «Die Glücklichen sind wahre Gläubige.» «Sie glauben an den Dschihad?» «Sie glauben» – vorsichtig formuliert Charlie Ahmeds Vermutung um – «an die Tatkraft. Sie glauben, dass man etwas tun kann. Dass der muslimische Bauer auf Mindanao nicht hungern, das Kind in Bangladesh nicht ertrinken, der ägyptische Fellache nicht an Schistosomiase erblinden muss, dass die Palästinenser nicht das Feuer israelischer Hubschrauber erdulden müssen, dass die Getreuen nicht den Sand und Kameldung der Welt essen müssen, während der große Satan sich an Zucker, Schweinefleisch und zu bil‐ lig abgegebenem Erdöl mästet. Sie glauben, dass eine Mil‐ liarde Anhänger des Islam sich nicht Augen, Ohren und die Seele von Hollywood‐Unterhaltung und einem skrupello‐ sen ökonomischen Imperialismus vergiften lassen müssen, dessen christlich‐jüdischer Gott ein verbrauchter Götze ist, eine bloße Maske, hinter der sich die Verzweiflung von Atheisten verbirgt.» 255
«Wo kommt das Geld her?», fragt Ahmed, als Charlie in seinem Text – dessen Weltbild sich schließlich gar nicht so sehr von dem unterscheidet, das Scheich Rashid in zarteren Farben malt – zum Ende gelangt ist. «Und was sollen die Empfänger mit diesen Mitteln tun?» «Das Geld kommt von Menschen, die Allah lieben», er‐ klärt ihm Charlie, « in den Staaten wie im Ausland. Du soll‐ test die vier Männer dort als ausgesäte Samen betrachten und das Geld als das Wasser, das die Erde feucht hält, damit die Samen eines Tages ihre Hülsen sprengen und Blüten treiben. Allāhu akbar! » Beharrlich fragt Ahmed weiter. «Kommt das Geld irgend‐ wie über Onkel Maurice? Seit seiner Ankunft hat sich etwas verändert, so kommt’s mir vor, obwohl es unter seiner Würde ist, sich mit dem Tagesgeschäft der Firma zu befassen. Und dein guter Vater – inwieweit ist er an alldem beteiligt?» Charlie lacht; er lacht mit der Nachsicht eines Sohns, der über seinen Vater hinausgewachsen ist, ihn jedoch weiter ehrt, wie Ahmed es mit seinem Vater hält. «He, wer bist du eigentlich, die CIA? Mein Vater ist ein Immigrant alten Stils, ein loyaler Anhänger des Systems, das ihn aufgenom‐ men und ihm erlaubt hat, zu Wohlstand zu kommen. Wenn er wüsste, worüber wir hier reden, du und ich, würde er uns beim FBI anzeigen.» In seiner neu gewonnenen Stärke versucht Ahmed, einen Scherz anzubringen: «Wo sie die Anzeige schleunigst ver‐ legen würden.» Charlie lacht nicht. Er sagt: «Du hast wichtige geheime Dinge aus mir herausgeholt, bei denen es um Leben oder Tod geht, Medizinmann. Im Moment frage ich mich gerade, ob’s nicht ein Fehler von mir war, dir so viel zu erzählen.» Ahmed bemüht sich, möglichst herunterzuspielen, was 256
zwischen ihnen vorgefallen ist. Ihm wird klar, dass er Wis‐ sen in sich aufgenommen hat, das er nicht wieder abgeben kann. Wissen ist Freiheit, stand über dem Eingang von Central High. Wissen kann jedoch auch ein Gefängnis sein – wenn man sich einmal darin befindet, entkommt man ihm nicht mehr. «Du hast keinen Fehler gemacht. Du hast mir nur ganz wenig gesagt. Und du warst es ja auch nicht, der mich an das Fenster zurückgebracht hat, wo ich sie hab Geld zäh‐ len sehen. Es hätte alle möglichen Erklärungen für das Geld geben können. Du hättest sagen können, du wüsstest nichts davon, und ich hätte dir’s geglaubt.» «Hätte ich sagen können», räumt Charlie ein. «Vielleicht hätte ich’s tun sollen.» «Nein. Das hätte Lügen zwischen uns gebracht, wo bis‐ her Vertrauen war.» «Dann musst du mir eins sagen: Bist du auf unserer Sei‐ te?» «Ich bin auf der Seite derer», sagt Ahmed langsam, «die auf der Seite Gottes sind.» «Okay. Das muss genügen. Aber sei in dieser Sache auch so verschwiegen wie Gott. Erzähl deiner Mutter nichts da‐ von. Deiner Freundin auch nicht.» «Ich habe keine Freundin.» «Stimmt. Ich hab versprochen, was dagegen zu unterneh‐ men, oder?» «Du hast gesagt, ich sollte was vors Rohr kriegen.» «Genau. Ich werd mich darum kümmern.» «Bitte nicht. Es ist nicht deine Aufgabe, da etwas zu un‐ ternehmen. » «Freunde helfen einander», sagt Charlie nachdrück‐ lich. Er fasst hinüber, legt die Hand auf die Schulter seines jungen Fahrers und drückt fest zu. Ahmed mag das nicht 257
so besonders; es erinnert an Tylenols gemeinen Griff von damals, auf dem Schulflur. Mit neu errungener Manneswürde erklärt der Junge: «Noch eine Frage, und danach werde ich zu diesen Dingen nichts mehr sagen, außer ich werde darauf angesprochen: Entwickelt sich aus den Samen, die da bewässert werden, bereits ein Plan?» Ahmed kennt Charlies Mimik so gut, dass er im Laster gar nicht zur Seite blicken muss, um vor sich zu sehen, wie der andere die gummiartigen Lippen einzieht, als wollte er die Form seiner eigenen Zähne bestimmen, und dann so tief ausatmet, dass es sich wie ein übertriebenes Seufzen der Ungeduld anhört. «Wie gesagt, man zieht immer eine Reihe von Projekten in Erwägung, und wie sie sich entwickeln, ist einigermaßen schwer vorherzusagen. Wie heißt es noch in der Schrift, Medizinmann? Und die Juden schmiedeten Ränke. Aber auch Gott schmiedete Ränke. Er kann es am besten.» «Werde ich bei diesen Ränken jemals eine Rolle zu spie‐ len haben?» «Könnte schon sein. Würde dir das gefallen, Kleiner?» Wieder spürt Ahmed, dass ein Wendepunkt erreicht ist und dass sich eine Pforte hinter ihm schließt. «Ich glaube, ja.» «Du glaubst? Da musst du aber mehr bieten.» «Wie du gesagt hast – einzelne Ereignisse sind nicht leicht vorherzusagen. Aber die Linien liegen fest.» «Die Linien?» «Die Kampflinien. Die Armeen Satans gegen diejenigen Gottes. Wie es in der Schrift heißt: Der Versuch, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, ist schlimmer als Töten.» «Richtig. Völlig richtig», sagt Charlie und schlägt sich auf den Schenkel, als wäre er auf dem Beifahrersitz eingenickt 258
und wollte sich wecken. «Schlimmer als Töten. Das gefällt mir.» Er ist von Natur aus ein gesprächiger, humorvoller Mensch, und es ist ihm schwer gefallen, die Pokermiene zu wahren und mit Ahmed zu reden, als wären sie zwei Männer, die über einen Friedhof gehen, auf dem sie möglicherweise einmal liegen werden. «Eins darf man nicht vergessen», setzt er noch hinzu. «Ein Jahrestag steht an, im September. Und die Leute, die am Drücker sitzen – unsere Generäle so‐ zusagen –, haben einen altmodischen Sinn für Jahrestage.» Jack und Teresa ziehen nach dem Sex die Laken über ihre nackten Körper. Die Brise, die durch das Fenster von Tere‐ sas Zimmer weht, ist kühl. Der September nähert sich; ver‐ einzelt blitzen bereits gelbe Blätter im erschlaffenden Grün der Bäume auf. Ein paar Kilo weniger täten ihnen beiden gut, denkt Jack nach seinem warmen Bad in ihrem Schoß. An den Stellen, wo sie keine Sommersprossen hat, ist ihre Haut fast schon zu bleich, wie die einer Plastikpuppe, nur dass sie nachgibt, wenn er mit dem Daumen zudrückt, und eine rosa Delle entsteht, die nur langsam wieder verschwin‐ det. Seine zottigen Arme und seine Brust sind ihm peinlich, so schlaff und faltig sehen sie aus; der Badezimmerspiegel zu Hause hat ihm gezeigt, dass er unebene, brustähnliche Wülste anzusetzen beginnt, und auf seinem Bauch hat sich unter den beiden symmetrischen schwarzen Haarwirbeln eine weitere Falte gebildet. Die weißen Haare auf seiner Brust sind nicht gekräuselt und stehen wie flimmernde An‐ tennen ab: die Behaarung eines alten Mannes. Terry kuschelt sich an ihn, ihre Stupsnase wühlt sich in seine Achselhöhle. Seine Liebe zu ihr regt sich in ihm wie beginnende Übelkeit. «Jack?», haucht sie. 259
«Was ist?» Es klingt schroffer als beabsichtigt. «Was macht dich so traurig?» «Ich bin nicht traurig», sagt er, «nur ausgepumpt. Du schaffst mich – wirklich. Ich dachte schon, mein altes Fahr‐ gestell wäre reif für den Schrottplatz, aber du bringst die Zündkerzen wieder richtig zum Sprühen. Du bist hinrei‐ ßend, Terry.» «Schenk dir den Schmus, wie mein Vater immer sagte. Du hast auf meine Frage noch nicht geantwortet: Warum bist du traurig?» «Vielleicht habe ich gedacht: Bald ist Labor Day, dann wird es schwieriger, uns einzuplanen.» Er hat gelernt, von seinen Problemen beim Betrügen seiner Frau zu sprechen, ohne Beth’ Namen zu nennen, den Terry aus irgendeinem ihm unverständlichen Grund nicht hören will. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müsste doch Beth die Eifersüchti‐ ge und Aufgebrachte sein. Terry wittert sofort, was ihm durch den Kopf geht. «Du fürchtest dich so sehr davor, dass Beth es rauskriegt», sagt sie gehässig. «Soll sie doch. Wo kann sie schon hin? Wer würde sie schon nehmen, so, wie sie aussieht?» «Kommt es denn darauf an?» «Nicht? Worauf kommt’s denn an, Schätzchen? Sag mir das mal.» «Anderen nicht wehzutun?», schlägt er vor. «Meinst du, mir tut’s nicht weh? Meinst du, gebumst und gleich darauf verlassen zu werden, tut nicht weh?» Jack seufzt. Da ist er wieder, der immer gleiche, alte Streit. «Es tut mir leid. Ich wäre gern mehr mit dir zusam‐ men.» In Wirklichkeit behagt es ihm zu gehen, bevor er sich zu langweilen beginnt. Frauen können langweilig sein. Alles nehmen sie persönlich. Sie sind so sehr auf Selbsterhaltung, 260
Selbstdarstellung, Selbstdramatisierung fixiert. Männern gegenüber braucht man nicht ständig zu taktieren, man schlägt einfach zu. Mit einer Frau umzugehen, ist wie Jutsu, immer muss man auf das gestellte Bein gefasst sein. Sie spürt, dass seine Gedanken eine gefährliche Richtung nehmen, und sagt begütigend, wenn auch brummig: «Wahr‐ scheinlich hat sie’s ohnehin längst erraten.« «Ach, woher denn?» Aber natürlich hat Terry Recht. «Frauen wissen so etwas», erklärt sie ihm selbstgefällig und zur Aufwertung ihres Geschlechts. Sie schmiegt sich enger an ihn und spielt aufreizend mit dem Haar auf seinem faltigen, schlaffen Bauch. «Ich sag mir immer: Lieb ihn ein bisschen weniger, Mädchen, es ist zu deinem Guten. Und zu seinem auch.» Doch während Terry das sagt, fühlt sie, wie etwas in ihr ins Rutschen gerät, und ahnt schon die Erleichterung voraus, die sie verspüren könnte, wenn er ihr tatsächlich einmal weniger bedeuten sollte – wenn ihr unordentliches Verhältnis zu diesem melancholischen alten Loser von Be‐ ratungslehrer wirklich zu einem Ende käme. Mit ihren vier‐ zig Jahren hat sie sich schon von einer ganzen Reihe von Männern verabschiedet, und wie viele davon hätte sie gern wieder? Mit jedem Bruch, so kommt es ihr im Rückblick vor, ist sie mit neuer Aufgeschlossenheit und Energie zu ihrem Singleleben zurückgekehrt, als stünde sie nach ein paar Tagen fern der Staffelei einer leeren, straffen, grun‐ dierten Leinwand gegenüber. Der unterbrochene Kreis, der sie selbst ist – mit der Lücke, die sie in der Hoffnung offen hält, ein bestimmter Mann werde anrufen, jemand werde an die Tür klopfen, von außen eindringen und eine Verwandlung bewirken –, würde sich wieder schließen. Dieser Jack Levy, so gescheit er auch ist, manchmal sogar 261
sensibel, ist ein schwerer Fall. Schuldgefühle und jüdische Schwermut ziehen ihn hinunter und, wenn sie es zulässt, sie auch. Sie braucht jemanden, der mehr ihres Alters ist und nicht verheiratet. Diese verheirateten Männer sind immer viel verheirateter, als sie am Anfang zugeben. Sie versuchen sogar, sie zu heiraten, ohne zuerst die offizielle Ehefrau aufzugeben. «Wie geht es Ahmed?», fragt er mit aufgesetzter Väter‐ lichkeit. Ständig fragt er sie nach Ahmed, obwohl sie, wenn’s nach ihr geht, vom Bemuttern wegkommen und sich zu etwas hinbewegen möchte, worin sie besser ist. «Ich hatte in letzter Zeit Nachtschicht», sagt sie, «und er macht an vielen Tagen bis in die Dunkelheit seine Lieferfahrten, also sehen wir uns kaum. Er ist im Gesicht voller gewor‐ den und insgesamt muskulöser von der ganzen Schleppe‐ rei – dieser Charlie, den er so liebt, rührt keinen Finger, wenn ich mich nicht täusche. Diese Libanesen holen aus ihren Mitarbeitern wirklich alles raus. Die Schwarzen, die sie einstellen, laufen ihnen ständig davon, hat Ahmed mal erwähnt. Vor kurzem scheinen sie ihn befördert zu haben – zumindest kommt er später heim, und wenn ich ihn mal sehe, benimmt er sich, als sei er in Gedanken ganz woan‐ ders.» «Woanders?», fragt Jack, der selbst in Gedanken woan‐ ders ist – sicher bei der dicken Beth. Jetzt mal ganz nüch‐ tern, Terry: Zwar würden ihr Jacks Schmeicheleien im Bett – wenn sie es bis dorthin schaffen – ziemlich fehlen, aber nachweinen würde sie ihm bestimmt nicht. Vielleicht braucht sie einen anderen Künstler, selbst wenn er so wie Leo ist, ihr letzter: Leo‐ohne‐Löwenherz, völlig in sich ver‐ rannt, ein Tröpfler und Schrubber, der mit sechzig Jahren 262
Verspätung Pollock nachempfindet und rasch zurückknufft und zurückhaut, wenn er von Alkohol oder Meth enthemmt ist, der sie aber wenigstens zum Lachen gebrachte und nicht versucht hat, ihr irgendeine Schuld anzuhängen und still‐ schweigend zu unterstellen, er hätte eine bessere Mutter für Ahmed abgeben können als sie. Oder vielleicht sollte sie mit einem von den Assistenzärzten ausgehen, mit dem kleinen neuen etwa, der immer so niedlich blinzelt und stot‐ tert und in der Ausbildung zum Neurochirurgen ist; bloß ist sie, nüchtern gesehen, für einen Assistenzarzt zu alt, und au‐ ßerdem hängen sie die Schwestern, die sie bumsen, immer schnell wieder ab und machen sich an die Proktologentoeh‐ ter ran. Trotzdem, wenn sie an das Spektrum von Männern denkt, die da draußen warten, sogar auf eine ihres Alters, sogar im nördlichen New Jersey, dann wird sie hartherzig gegenüber diesem kläglichen, langweilig wohlmeinenden, schal riechenden Mann. «Als hätte er irgendwas zu verheimlichen», sagt sie zur Erklärung. «Vielleicht hat er ja ein Mädchen gefunden. Ich will’s hoffen. Er ist doch längst überfällig, nicht?» Jack sagt: «Die jungen Leute heutzutage müssen sich um mehr Dinge Sorgen machen als wir. Genauer gesagt, als ich – ich sollte nicht so tun, als wären wir gleichaltrig.» «Ruhig weiter so. Bedien dich.» «Das liegt nicht nur an Aids und so weiter; es gibt da einen gewissen Hunger nach, wie soll man’s nennen, nach dem Absoluten, da alles so relativ ist und die ökonomischen Kräfte ihnen sofortige Befriedigungen und Kreditkarten‐ schulden aufdrängen. Diesen Hunger gibt es nicht nur bei den Christen im rechten Lager – siehe Ashcroft und seine morgendliche Erweckungsrunde unten in Washington. Du nimmst ihn auch an Ahmed wahr. Und an den Black Mus‐ 263
lims. Die Leute wollen zu simplen Unterscheidungen zu‐ rück – schwarz und weiß, richtig und falsch –, nur sind die Dinge eben nicht so simpel.» «Also ist mein Sohn ein Simpel.» «In einer Hinsicht. Aber der größte Teil der Menschheit ist so. Weil es sonst zu schwer zu ertragen ist, Mensch zu sein. Im Gegensatz zu den anderen Tieren wissen wir zu viel. Sie, die anderen Tiere, wissen gerade genug, um ihren Job zu machen und zu sterben. Um zu essen, zu schlafen, zu vögeln, Babys zu kriegen und zu sterben.» «Jack, alles, was du sagst, ist deprimierend. Deswegen bist du so traurig.» «Ich sage nur, dass junge Leute wie Ahmed ein Bedürfnis nach etwas haben, was sie von der Gesellschaft nicht mehr bekommen. Die Gesellschaft lässt sie nicht mehr unschul‐ dig sein. Die verrückten Araber haben Recht: Hedonismus, Nihilismus – sonst haben wir nichts zu bieten. Hör dir doch nur die Texte dieser Rockstars und Rapper an – die selbst noch Kids sind, wenn auch Kids mit gerissenen Agenten. Kids müssen mehr Entscheidungen treffen als früher, weil die Erwachsenen ihnen nicht sagen können, was sie tun sollen. Wir wissen eben nicht, was einer tun sollte, wir haben nicht mehr wie früher Antworten parat; wir wursteln uns bloß weiter durch und versuchen, nicht nachzudenken. Niemand erklärt sich für verantwortlich, und darum nehmen die Kids, manche jedenfalls, die Verantwortung auf sich. Sogar an ei‐ ner Müllhalde wie Central High, wo schon die demographi‐ schen Daten sämtlichen Schülern die Aussichten verbauen, ist das zu beobachten – der Wunsch, das Richtige zu tun, gut zu sein, sich für irgendetwas zu engagieren: für die Armee, die Marschkapelle, die Gang, den Chor, die Schülervertre‐ tung, sogar für die Pfadfinder. Nun wollen, wie sich heraus‐ 264
stellt, die Pfadfinderführer, die Priester den Kids nur an die Wäsche, aber die Kids gehen trotzdem weiter hin, weil sie hoffen, irgendeinen Rat, eine Anleitung zu erhalten. Wenn du auf den Fluren ihre Gesichter siehst, bricht dir das Herz, so voller Hoffnung sind sie, so gut wollen sie sein, so drin‐ gend anderen etwas bedeuten. Sie erwarten etwas von sich. Wir sind hier in Amerika, wo wir alle etwas erwarten, sogar die Soziopathen haben auf ihre Art eine hohe Meinung von sich. Weißt du, was aus den schlimmsten Disziplinarfällen schließlich wird? Sie werden am Ende Polizisten und High‐ School‐Lehrer. Sie wollen der Gesellschaft gefallen, obwohl sie das Gegenteil behaupten. Sie möchten sich gern als wertvoll erweisen – wenn wir ihnen nur sagen könnten, was wertvoll ist.» Hastig und rau hat er seinen Redeschwall tief aus seiner behaarten Brust hervorgeknarzt, doch jetzt gerät er ins Schlingern: «Oh, Mist – vergiss, was ich gerade gesagt habe. Die Priester und Pfadfinderführer wollen ihnen nicht nur an die Wäsche; sie wollen auch selbst gute Menschen sein. Aber das können sie nicht, die kleinen Jungenpopos sind einfach zu verlockend. Terry, sag mal: Warum schwafle ich eigentlich so lange?» Der Umschwung in ihr lässt sie sagen: «Vielleicht, weil du spürst, dass dies deine letzte Chance ist.» «Meine letzte Chance zu was?» «Dich mir mitzuteilen.» «Was willst du damit sagen?» «Jack, es geht nicht. Es tut deiner Ehe nicht gut und mir auch nicht. Anfangs war das anders. Du bist ein prima Kerl – nur nicht für mich. Im Vergleich zu manchen von den Ärschen, mit denen ich’s zu tun hatte, bist du ein Heiliger. Das mein ich ernst. Aber ich muss mit der Realität zurecht‐ kommen, ich muss an meine Zukunft denken. Ahmed ist 265
bereits aus dem Haus – das Einzige, was er noch von mir braucht, ist etwas zu essen im Kühlschrank.» «Ich brauche dich, Terry.» «Einerseits ja, andererseits nein. Meine Malerei ist für dich das Letzte –» «Aber nein! Ich finde deine Malerei wundervoll. Ich fin‐ de es wundervoll, dass du diese weitere Dimension besitzt. Ja, wenn Beth –» «Wenn Beth noch eine weitere Dimension hätte, dann würde sie durch den Fußboden krachen.» Lachend setzt sie sich im Bett auf, und ihre Brüste hüpfen unter dem Bett‐ tuch hervor, zum Hals hin gesprenkelt, in der Partie mit den Brustwarzen von der Sonne unberührt, egal wie viele andere Männer dort schon Hand und Mund angelegt haben. Das Irische an ihr, denkt Jack. Das ist es, was er liebt, wor‐ auf er nicht verzichten kann. Dieses Unverschämte, den trotzigen Funken Verrücktheit, den Menschen an sich ha‐ ben, auf denen lang genug herumgeritten worden ist – die Iren haben es, die Schwarzen und die Juden haben es, nur in ihm ist es abgestorben. Er wollte einmal Komiker werden, ist aber zum humorlosen Vollstreckungsgehilfen eines Sys‐ tems geworden, das an sich selbst nicht glaubt. Mit jedem Morgen, an dem er zu früh wach geworden ist, hat er sich Zeit zum Sterben gegeben. Lerne in deiner Freizeit sterben. Was hat Emerson noch über das Totsein gesagt? Dann bist du wenigstens den Zahnarzt los. Das hat ihm einen Schlag versetzt, damals, vor vierzig Jahren, als er noch Dinge lesen konnte, auf die es ankommt. Dieser saftige Rotschopf hier ist noch nicht tot, und sie weiß es. Dennoch, gegen ihre Bemerkungen über Beth muss er sich verwahren. «Lassen wir sie aus dem Spiel. Sie kann nichts für den Zustand, in dem sie ist.» 266
«Was für ein Quatsch. Wenn sie nichts dafür kann, wer sonst? Und was das Aus‐dem‐Spiel‐Lassen angeht – ich hätte das liebend gern getan, aber du kannst es nicht. Du schleppst sie mit. Es gibt da so eine Miene von dir, einen Gesichtsausdruck, der sagt: ‹Herr, steh mir bei, es ist doch nur für eine Stunde.› Du behandelst mich wie eine Schul‐ stunde von fünfzig Minuten. Ich spüre richtig, wie du auf das Klingeln wartest.» Das ist die richtige Masche, denkt sie. So kann sie ihn abstoßen, sich selbst abstoßend machen – indem sie seine Frau angreift. «Du bist verheiratet, Jack. Und zwar verflucht gründlich verheiratet, für meinen Geschmack.» «Nicht.» Es hört sich wie ein Winseln an. «Doch», sagt Terry. «Ich hab versucht, es zu vergessen, aber du wolltest es mich nicht vergessen lassen. Ich gebe auf. Um meinetwillen muss ich aufgeben, Jack. Lass mich jetzt ziehen.» «Und was ist mit Ahmed?» Das überrascht sie. «Was hat denn er damit zu tun?» «Ich mach mir um ihn Sorge. Irgendwas an diesem Mö‐ belgeschäft ist faul.» Ihre Langmut ist allmählich erschöpft; dass Jack einfach in der schweißgesättigten Wärme ihres Betts liegen bleibt, als wäre er noch ihr Geliebter und hätte sie irgendwie ge‐ pachtet, macht sie nicht geduldiger. «Na und?», sagt sie. «Heutzutage ist überall was faul. Ich kann nicht Ahmeds Leben für ihn leben und deines auch nicht. Ich hab nichts gegen dich, Jack, wirklich nicht. Du bist ein lieber, trauriger Mensch. Aber wenn du mich noch einmal anrufst oder hier vorbeikommst, nachdem du heute zur Tür hinaus bist, dann zählt das als Belästigung.» «Sag doch so was nicht», bringt er gebrochen hervor; er möchte nur, dass alles wieder so wird wie vor einer Stunde, 267
als sie ihn, noch bevor die Wohnungstür hinter ihnen zu war, mit einem feuchten Kuss begrüßt hat, der bis in die Lenden fortwirkte. Es hat ihm behagt, eine Frau nebenbei zu haben. Was sie mitbringt, hat ihm behagt – dass sie Mutter, Malerin, Schwesternhelferin ist, dass sie den Körpern anderer nach‐ sichtig begegnet. Sie erhebt sich aus dem Bett, das nach ihnen beiden riecht, und bleibt gerade außerhalb seiner Reichweite stehen. «Lass los, Jack», sagt sie. Wachsam und flink bückt sie sich nach ein paar Kleidungsstücken, die sie auf den Boden hatte fallen lassen. Ihr Ton wird nun pädagogisch, vorwurfsvoll. «Sei kein Blutegel. Ich könnte wetten, dass du dich auch bei Beth wie ein Blutegel verhältst. Du saugst und saugst, saugst einer Frau die Lebenskräfte aus, zerrst sie in den Schlund deines gewaltigen Selbstmitleids. Kein Wunder, dass sie frisst. Ich hab dir gegeben, was ich kann, Jack, jetzt muss ich weiterziehen. Bitte, mach’s mir nicht schwer.» In ihm regt sich Widerwillen und Widerstand gegen den tadelnden Ton dieser Schnalle. «Ich kann’s nicht glauben, dass das passiert», sagt er, «ohne jeden Grund.» Er fühlt sich weich, zu schlaff und feucht, um ihr Bett zu verlassen; dass sie ihn mit einem Blutegel verglichen hat, ist in ihn eingedrungen. Vielleicht hat sie ja Recht; er fällt der Welt zur Last. Er sträubt sich. «Lassen wir uns ein Weilchen Zeit, um darüber nachzudenken», sagt er. «In einer Woche rufe ich dich an.» «Wag das bloß nicht.» Dieser herrische Befehl macht ihn fuchtig. «Was war nochmal dein Grund?», faucht er sie an. «Der ist mir ganz entgangen.» «Du bist doch Lehrer, da wirst du ja wohl wissen, was eine saubere Tafel ist.» 268
«Ich bin Beratungslehrer.» «Na, dann geh mal mit dir zurate und komm mit dir ins Reine.» «Wenn ich Beth loswürde, was würde dann passieren?» «Keine Ahnung. Nicht viel, wahrscheinlich. Aber wie würdest du sie überhaupt los?» Ja, wie eigentlich? Terry hat den Büstenhalter wieder an, zerrt gerade voller Wut ihre Jeans hoch, und zunehmend empfindet er seine träge Nacktheit als beschämend und erniedrigend. «Okay. Genug geredet», sagt er. «Tut mir leid, wenn ich schwer von Begriff war.» Dennoch bleibt er liegen. Eine Melodie aus lang vergangener Zeit, als die Innenstadt noch vor Kinoreklamen starrte, kommt ihm in den Sinn – eine kaskadenartige, plätschernde Melodie. Er summt die letzten Takte: «Didi‐dh‐da‐da‐daa.» «Was ist denn das?», fragt sie, ärgerlich, obwohl sie ge‐ siegt hat. «Keine Terry‐Iodie. Etwas anderes, eine Wiedererken‐ nungsmelodie für Warner Brothers. Am Schluss sprang im‐ mer ein stotterndes Schweinchen aus einer Trommel und sagte: ‹D‐d‐das war’s, liebe Leute!›» «Du bist nicht sehr witzig, weißt du.» Er tritt das Laken weg. Er mag das Gefühl, ein nacktes, haariges Tier zu sein, mit schlabbernden, verausgabten Genitalien und käsig riechenden gelblichen Fußsohlen; er mag die aufflackernde Unruhe in den glasigen, vorstehen‐ den Augen des anderen Tiers. So steht Jack Levy in seiner faltigen, hängenden sechzigjährigen Pracht nackt da und er‐ klärt Terry: «Du wirst mir höllisch fehlen.» Als ein kühler Luftzug über seine Haut streicht, fällt ihm etwas ein, das er vor Jahren gelesen hat – der Paläontologe Leakey, der in der Olduvai‐Schlucht das älteste menschliche Wesen der Welt 269
gefunden hat, behauptete, ein nackter Mensch könne jede Beute, die kleiner sei als er, selbst ein Raubtier mit Reiß‐ zähnen, laufend einholen und mit bloßen Händen töten. Dieses Potenzial verspürt Jack in sich. Er könnte die klei‐ nere Artgenossin dort zu Boden ringen und erdrosseln. «Du warst meine letzte –» «Deine letzte was? Fotze? Das ist dein Problem, nicht meines. Man kann so was auch mieten.» Ihr sommerspros‐ siges Gesicht ist rosig vor Verachtung. Sie begreift nicht, dass sie nicht gegen ihn ankämpfen, grob werden und alles ausbuchstabieren muss. Er weiß, wann er durchgefallen ist. Seinen entblößten Körper empfindet er als totes Gewicht. «Hey, Terry, nicht so heftig. Meine letzte Lebensfreude, wollte ich sagen. Mein letzter Grund weiterzuleben.» «Komm mir nicht mit jüdischen Rührseligkeiten, Jack. Du wirst mir auch fehlen.» Dann muss sie ihm wehtun und hinzusetzen: «Für eine Weile.» Anfang September begrüßt Charlie eines Morgens Ahmed mit den Worten: «Heute ist dein Glückstag, Medizin‐ mann!» «Wieso das?» «Wirst du schon sehen.» Charlie war in letzter Zeit sach‐ lich, aber kurz angebunden, als nage etwas an ihm, doch diese Überraschung, worin sie auch bestehen mag, freut ihn so naiv, dass der Winkel seines nie still stehenden Mundes, von der Seite betrachtet, eine Kerbe in die Wange zieht und ein Lächeln erzeugt. «Aber erst mal haben wir eine Menge Lieferungen vor uns, darunter eine, für die wir ganz bis nach Camden hinuntermüssen.» «Müssen dazu beide hin? Mir macht’s nichts aus, allein zu fahren.» Mittlerweile zieht Ahmed das vor. In der Einsam‐ 270
keit der Fahrerkabine ist er nicht allein; Gott ist mit ihm. Doch Gott selbst ist allein, er ist der Inbegriff von Einsam‐ keit. Ahmed liebt seinen einsamen Gott. «Ja, das geht nur zu zweit. Wir haben ein Schrankbett auf der Liste, die Dinger wiegen eine Tonne wegen den ganzen Metallteilen, die da drin sind, und nach Camden muss ein Sofa, eins achtzig lang, echt Leder, Ziernagelapplikation, Flügellehnen. Nur darf man es nicht an den Lehnen pa‐ cken, die brechen sofort ab, wie einer deiner Vorgänger und ich mal festgestellt haben. Heruntergesetzt von über ein‐ tausend, für den Warteraum einer feinen Klinik für gestörte Kinder.» «Für gestörte Kinder?» «Gut, wer ist das nicht? Egal, mit den zwei passenden Sesseln dazu bringt das zwei Riesen, und solche Geschäfte fallen uns nicht alle Tage in den Schoß. Pass auf den Tank‐ laster links von dir auf; ich glaub, der Typ ist bekifft.» Ahmed hat den zu schnell fahrenden, schmutzigen Getty‐ Tanker jedoch bereits im Auge und fragt sich, ob der Fahrer wohl das Schwappen flüssiger Ladungen und andere Risiko‐ faktoren ausreichend berücksichtigt. Der September bringt auf Orts‐ und Fernstraßen eine zusätzliche Gefahr mit sich, denn die rückkehrenden Urlauber kämpfen unter Gerempel und Gedrängel um ihren alten Platz im Rudel. «Excellency ist dabei, zum Premium‐Anbieter zu werden», sagt Charlie gerade, «kein Wunder bei all den neuen Häusern, die für eine Million und mehr weggehen. Ist dir aufgefallen, dass in den Quiz‐Shows das Publikum nicht mehr lacht, wenn einer sagt, er kommt aus New Jersey? Wir sind dabei, zu Süd‐Connecticut zu werden, nur einen Tunnel von Wall Street entfernt. Mein Vater und mein Onkel haben noch be‐ scheiden gedacht – gebeiztes Pappelholz und getackertes 271
Vinyl für die Masse –, aber jetzt kommen diese gehobenen Pendler aus Montclair und Short Hills zu uns, die gar nichts dabei finden, zwei Riesen für eine Sitzgruppe in Anilinleder hinzublättern oder drei für, sagen wir mal, ein stilvolles Ess‐ zimmer mit passender Nippesvitrine, alles in Eiche, Hand‐ arbeit. Die Art von Ware läuft zur Zeit; das hatten wir noch nie. Früher haben wir bei einer Nachlassauflösung das rare Stück von Wert eben mit übernommen, und dann stand es jahrelang bei uns herum. Sogar im armen, alten New Pro‐ spect gibt’s jetzt neuen Reichtum.» «Gut, dass die Geschäfte laufen», sagt Ahmed vorsichtig. Um sich Charlies optimistischer Laune anzupassen, riskiert er noch eine weitere Bemerkung: «Vielleicht erwarten die neuen Kunden ja, dass sie in ihren Polstern einen versteck‐ ten Rabatt vorfinden.» Charlies Profil lässt nicht erkennen, dass er einen Scherz vernommen hat. Sein Tonfall bleibt beiläufig. «Wir haben unsere Auszahlungen erst einmal abgeschlossen. Onkel Maurice ist nach Miami abgereist. Jetzt sind wir diejenigen, die auf die Lieferung warten.» Nicht mehr ganz so beiläufig fragt er: «Medizinmann, du redest doch mit keinem über deinen Job hier, oder? Im Einzelnen, meine ich. Hat dich mal jemand darüber ausgefragt? Deine Mutter zum Bei‐ spiel? Einer von den Typen, mit denen sie ausgeht?» «Meine Mutter ist so mit sich selbst beschäftigt, dass mir Neugier von ihrer Seite ziemlich erspart bleibt. Für sie ist’s eine Erleichterung, dass ich feste Arbeit habe und mich an unseren Kosten beteilige. Aber wir gehen in unserer Woh‐ nung ein und aus wie Fremde.» Das stimmt nicht ganz, fällt ihm nun ein. Neulich abends, bei einem ungewöhnlich gut zubereiteten gemeinsamen Abendessen an dem alten runden Tisch, an dem er früher immer gelernt hat, hat sie 272
ihn gefragt, ob ihm an dem Möbelhaus je etwas «faul» vor‐ gekommen sei. Überhaupt nichts, lautete seine Antwort. Er ist dabei, das Lügen zu erlernen. Um Charlie gegenüber aufrichtig zu bleiben, erzählt er ihm: «Ich glaube, meine Mutter hat gerade wieder einmal eine Liebesenttäuschung hinter sich, denn neulich abends hat sie sich plötzlich auffäl‐ lig für mich interessiert, als sei ihr wieder eingefallen, dass es mich gibt. Aber solche Stimmungen vergehen wieder. Wir haben uns noch nie gut verstanden. Die Abwesenheit meines Vaters stand zwischen uns und dann mein Glaube, zu dem ich gefunden habe, bevor ich dreizehn war. Sie ist eine warmherzige Frau und kümmert sich bestimmt gut um ihre Krankenhauspatienten, aber ich glaube, zum Mutter‐ sein hat sie so wenig Talent wie eine Katze. Katzen lassen die Jungen eine Zeit lang nuckeln und behandeln sie dann wie Feinde. Ich bin noch nicht ganz so erwachsen, dass meine Mutter mich als Feind betrachtet, aber sie hält mich doch für so erwachsen, dass sie mir mit Gleichgültigkeit be‐ gegnen kann.» «Wie findet sie es denn, dass du keine Freundin hast?» «Ich glaube, sie ist höchstens erleichtert darüber. Wenn jemand eine Bindung zu mir hätte, würde ihr eigenes Leben dadurch komplizierter. Eine andere Frau, und wäre sie noch so jung, könnte anfangen, über sie zu urteilen und gewisse konventionelle Verhaltensmaßstäbe anlegen.» Charlie unterbricht ihn: «Gleich kommt eine Abzwei‐ gung nach links – nicht an dieser Ampel, glaub ich, aber an der nächsten –, da biegen wir auf Route 512 Richtung Summit ab, wo wir die zimtfarben lackierte Essecke ab‐ liefern. Dann bist du also noch unberührt?» Er versteht Ahmeds Schweigen als Bestätigung und sagt: «Gut.» Sein Profil weist wieder Lächelgrübchen auf. Ahmed ist so 273
daran gewöhnt, Charlie im Profil zu sehen, dass er zusam‐ menzuckt, als sein Beifahrer sich ihm im Halbdunkel der Fahrerkabine kurz zukehrt und ihm beide Gesichtshälften zeigt. Dann wendet Charlie den Blick wieder den wech‐ selnden Ampeln vor der Windschutzscheibe zu. «Du hast schon Recht, was die westliche Werbung betrifft», sagt er und nimmt einen alten Gesprächsfaden wieder auf. «Sex wird in den Vordergrund gerückt, weil er Konsum bedeu‐ tet. Erst der Alkohol und die Blumen, die fällig werden, wenn zwei sich kennen lernen, und danach das Kinder‐ kriegen und was deswegen so alles gekauft wird, Babynah‐ rung, Geländewagen und –» «Essecken», ergänzt Ahmed. Wenn Charlie einmal nicht scherzt, ist er so ernst, dass er einen dazu herausfordert, ihn zu necken. Sein eines, im Profil sichtbares Auge blinzelt, und der Mund verzieht sich, als hätte er auf eine saure Wahrheit gebissen. «Ein größeres Haus, wollte ich sagen. Diese jungen Paare kaufen und kau‐ fen und verschulden sich immer mehr, und genau das wol‐ len die jüdischen Wucherer ja. Ist schon sehr verführerisch, diese ‹Kauf‐jetzt‐zahl‐später›‐Falle.» Doch Charlie hat sehr wohl gehört, dass Ahmed ihn necken wollte. «Klar, wir sind Kaufleute. Aber Dads Konzept war: vernünftige Preise. Der Kunde soll nicht mehr kaufen, als er sich leisten kann, das ist schlecht für ihn und letztlich auch für uns. Bis vor ein paar Jahren haben wir nicht mal Kreditkarten akzeptiert. Jetzt tun wir’s. Man muss sich dem System anpassen», sagt er, «bis der Moment da ist.» «Der Moment?» «An dem man’s von innen sprengen kann.» Das klingt ungeduldig. Er nimmt anscheinend an, Ahmed wüsste mehr, als er tatsächlich weiß. 274
«Wann kommt denn so ein Moment?» Charlie überlegt. «Wenn er herbeigeführt worden ist. Das kann nie sein oder aber schneller, als wir glauben.» Im schwindelerregenden Raum ihres gemeinsamen Glaubens – dass sie ihn teilen, hat Charlie offenbart, als er von jüdischen Wucherern sprach – hat Ahmed das Gefühl, auf einem Gerüst aus Strohhalmen zu balancieren. Da ihm Charlie nun, so kommt es ihm vor, hohes Vertrauen ge‐ schenkt hat, vertraut der Junge dem älteren Mann seiner‐ seits etwas an. «Ich habe einen Gott, dem ich mich fünf‐ mal am Tag zuwende. Mein Herz braucht keinen anderen Gefährten. Mit ihrer Sexbesessenheit offenbaren die Un‐ gläubigen doch nur ihre innere Leere und ihre Angst.» Charlie reckt sich und sagt: «Hey, mach’s nicht schlecht, bevor du’s nicht probiert hast. Da sind wir – Monroe, Num‐ mer acht‐eins‐eins. Eine zimtfarbene Essecke. Ein Tisch, vier Stühle.» Das Haus, ein Kolonialstil‐Zitat aus rotem Ziegelstein und weiß gestrichenen Holzteilen, steht auf einer gut ge‐ wässerten kleinen Rasenfläche. Die junge Hausherrin, Si‐ noamerikanerin, kommt ihnen auf dem gepflasterten Weg freundlich entgegen. Während die beiden Männer Stühle und einen ovalen Tisch ins Haus tragen, schauen zwei Kinder – ein Mädchen im Kindergartenalter in einer grell pinkfarbenen mit Applikationen von Eulen verzierte Latz‐ hose und ein kleiner Junge, der eben laufen lernt, in einem verklecksten T‐Shirt und hängender Windelhose – zu und tollen umher, als würden ihnen eben weitere Geschwister angeliefert. Vor Glück über die neuen Anschaffungen möch‐ te die junge Mutter Charlie einen Zehn‐Dollar‐Schein als Trinkgeld in die Hand drücken, doch Charlie winkt ab und erteilt ihr eine Lektion in amerikanischer Gleichheit. «War 275
uns ein Vergnügen», sagt er zu ihr. «Viel Freude mit den Sachen.» Vierzehn weitere Lieferungen sind an diesem Tag fäl‐ lig, und als sie aus Camden zurückkommen, streifen den Reagan Boulevard bereits lange Schatten, und die übrigen Geschäfte haben geschlossen. Charlie und Ahmed nähern sich Excellency Wohnbedarf von Westen. Gleich gegenüber, jenseits von Thirteenth Street, liegt eine Reifenhandlung, die einmal eine Tankstelle war; die Service‐Insel ist erhalten geblieben, obwohl die Tanksäulen verschwunden sind; und daneben befindet sich ein Bestattungsinstitut, das einst, bevor dieser Teil der Stadt zur Gewerbegegend wurde, ein prächtiges Privathaus war, mit einer tiefen Veranda, weißen Markisen und einem dezenten Firmenschild, UNGER & SOHN, auf dem Rasen davor. Sie stellen den Lkw auf dem Hof ab, trotten müde auf die hallende Ladeplattform hinauf und durch die Hintertür in den Flur, wo Ahmed seine Karte in die Stechuhr schiebt. «Vergiss nicht, dass noch eine Über‐ raschung auf dich wartet», sagt Charlie zu ihm. Darauf ist Ahmed nicht gefasst; im Lauf des langen Tages hat er die Ankündigung vergessen. Über Spielchen ist er hinausgewachsen. «Sie wartet oben», sagt Charlie so leise, dass sein Vater, der noch in seinem Büro arbeitet, es nicht hören kann. «Lass dich zur Hintertür hinaus, wenn du fertig bist. Schalt die Alarmanlage ein, wenn du gehst.» Habib Chehab, kahl wie ein Maulwurf in seiner verstaub‐ ten Unterwelt von neuen und gebrauchten Möbeln, tritt aus der Tür seines Büros. Trotz des Sommers in Pompton Lakes, der hinter ihm liegt, sieht er bleich aus, und sein Gesicht ist krankhaft aufgedunsen, aber er fragt Ahmed munter: «Na, wie geht’s dem Jungen?» 276
«Ich kann nicht klagen, Mr. Chehab.» Sinnend betrachtet der alte Mann seinen jungen Fahrer; er verspürt das Bedürfnis, noch ein Wort mehr zu sagen, Ah‐ meds getreue Dienste während des Sommers zu würdigen. «Du bist der beste Junge von allen», sagt er. «Hunderte von Meilen, oft zwei‐, dreihundert am Tag, und keine Beule, nicht ein Kratzer. Nicht mal ein Strafzettel für zu schnelles Fahren. Exzellent.» «Danke, Sir. Es war mir ein Vergnügen» – eine Floskel, die er, wie ihm bewusst wird, während des Tages Charlie hat sagen hören. Mr. Chehab sieht ihn forschend an. «Bleibst du nun bei uns, wo wir bald Labor Day haben?» «Klar. Was denn sonst? Ich fahre wirklich sehr gern.» «Ich dachte nur, Jungen wie du – brav, gescheit – sind auf Weiterbildung aus.» «Das hat man mir auch nahe gelegt, Sir, aber es drängt mich noch nicht dazu.» Mehr Bildung könnte seinen Glau‐ ben schwächen, hat er stets befürchtet. Gewisse Zweifel, die er an der High School von sich ferngehalten hat, könn‐ ten am College unwiderstehlich werden. Der Gerade Weg führt ihn in eine andere, reinere Richtung; so recht erklären könnte er das nicht. Ahmed fragt sich, wie viel der alte Mann weiß – von dem geschmuggelten Geld, von den vier Män‐ nern in dem kleinen Haus an der Küste, vom Antiamerika‐ nismus seines Sohnes, von seines Bruders Verbindungen in Florida. Es wäre seltsam, wenn er von alldem keine Kennt‐ nis hatte; andererseits aber sind Familien, wie Ahmed von seiner zweiköpfigen Familie her weiß, Geheimnisnester, mit Eiern, die einander leicht berühren, die jedoch jedes ein Leben in sich bergen. Als die beiden Männer auf die Hintertür zugehen, 277
um Hof, wo ihre Autos parken – Habibs Buick, Charlies Saab –, wiederholt Charlie seine Anweisungen an Ahmed: die Alarmanlage in Gang setzen, die Tür mit dem geölten Doppelschloss abschließen. Mr. Chehab fragt: «Der Junge bleibt noch?» Charlie legt eine Hand auf den Rücken seines Vaters und drängt ihn voran. «Papa, ich hab Ahmed gesagt, er soll oben noch was erledigen. Er schließt schon richtig ab. So vertrau‐ enswürdig ist er doch, oder?» «Was fragst du? Das ist ein guter Junge. Als gehörte er zur Familie.» «Die Sache ist die», hört Ahmed noch, als Charlie und sein Vater auf der Laderampe stehen, «der Junge ist verab‐ redet, da möchte er sich vorher frisch machen und saubere Sachen anziehen.» Verabredet?, denkt Ahmed. Er hat bereits erraten, worin Charlies Überraschung für ihn besteht: Es wird ein Sitzkis‐ sen sein, wie er es neulich geliefert hat, mit Geld gefüllt, als Bonus zum Sommerende. Doch wie um aus Charlies Lüge seinem Vater gegenüber Wahrheit zu machen, schrubbt sich Ahmed in der kleinen Toilette neben dem Wasser‐ kühler wirklich den Schmutz des Tages von den Händen und spritzt sich Wasser auf Gesicht und Hals, bevor er zu der Treppe in der Mitte der Ladenfläche geht, die in die obere Etage hinaufführt. Mit leisen Schritten steigt er die Stufen hinauf. In der oberen Etage sind Betten und Kom‐ moden, Beistelltische und Schränke, Spiegel und Lampen ausgestellt. Diese Gegenstände drängen sich im schwachen Schein einer fernen Nachttischlampe, während über die hohen Fenster die Scheinwerfer des abendlichen Stoßver‐ kehrs flackern. Unbeleuchtete Lampenschirme schneiden mit ihren spitzen Winkeln in die Dunkelheit; spinnengleich 278
hängen Deckeninstallationen herab. Es gibt Betten mit ge‐ polsterten Kopfteilen, mit verschnörkelten Kopfteilen aus Holz und mit solchen, die aus parallelen Messingstangen bestehen. Blanke Matratzen, eine neben der anderen zu beiden Seiten des Gangs, sind wie zwei sich perspektivisch verjüngende Ebenen; Sprungfedern, die auf Metall rahmen montiert sind, halten sie stramm. Während Ahmed unter Herzklopfen zwischen den beiden fliehenden Ebenen hin‐ durchgeht, dringt an seine Nase verbotener Zigarettenrauch und an seine Ohren eine vertraute Stimme. «Ahmed! Sie haben mir gar nicht gesagt, dass es um dich geht.» «Joryleen? Bist du das? Mir haben sie überhaupt nichts gesagt.» Das schwarze Mädchen tritt hinter dem schwach erleuch‐ teten Lampenschirm hervor, unter dem der Rauch ihrer Zigarette, eilig in einem improvisierten Aschenbecher aus der Silberpapierhülle eines Knabberriegels erstickt, sich in trägen Spiralen wie eine Skulptur erhebt. Als Ahmeds Augen sich an das Schummerlicht gewöhnen, sieht er, dass Joryleen einen roten Vinyl‐Minirock und ein enges schwar‐ zes Oberteil trägt, mit tiefem ovalem Ausschnitt wie der eines Balletttrikots. Ihre Rundungen sind wie in eine neue Form gegossen, schmaler in der Taille; auch ihre Kinnpartie ist schmaler. Ihr Haar ist kürzer geschnitten und hat blonde Strähnen, wie es an Central High nie war. Als er hinunter‐ schaut, sieht er, dass sie weiße Stiefel mit Zickzackstickerei trägt, vorne lang und spitz, Stiefel von dieser neuen Art, bei der vor den Zehen unheimlich viel Platz ist. «Mir hat man nur gesagt, ich soll auf einen Jungen warten, der entjungfert werden muss.» «Der was vors Rohr kriegen muss, hat er sicher gesagt.» «Stimmt, jetzt fällt’s mir wieder ein. Den Ausdruck hörst 279
du ja nicht alle Tage; andere dafür öfter. Er ist dein Boss, hat er gesagt, und dass du hier arbeitest. Ursprünglich hat er mit Tylenol geredet, aber dann wollte er mich sehen und mir sagen, dass ich zu diesem bestimmten Jungen lieb sein soll. Er war groß für einen Araber und hatte so einen zuckenden, verschlagenen Mund. Ich hab mir gesagt: ‹Joryleen, trau dem Mann nicht›, aber er hat gutes Geld hingeblättert. Or‐ dentliche, saubere Scheine.» Ahmed ist verblüfft; er hätte Charlie nie als Araber oder als verschlagen bezeichnet. «Sie sind Libanesen. Charlie ist rein amerikanisch aufgewachsen. Wenn man’s genau nimmt, ist er nicht mein Boss, er ist der Sohn des Besitzers, und wir liefern mit dem Laster zusammen Möbel aus.» «Weißt du, Ahmed, nimm’s mir nicht übel, wenn ich das sage, aber auf der Schule hätte ich bei dir mal auf ein biss‐ chen was Gehobeneres getippt. Auf was, wo du deinen Kopf besser gebrauchen könntest.» «Das Gleiche könnte ich eigentlich auch von dir sagen, Joryleen. Als ich das letzte Mal genauer hingesehen habe, hattest du ein Chorgewand an. Wozu takelst du dich jetzt wie eine Nutte auf und redest vom Entjungfern?» Abwehrend kippt sie den Kopf nach hinten und schiebt den fettig glänzenden, korallrot geschminkten Mund vor. «Es ist ja nicht auf Dauer», erklärt sie. «Tylenol hat mich nur gebeten, ab und zu Leuten einen Gefallen zu tun, bis wir auf die Beine kommen, ein Haus für uns haben und so weiter.» Joryleen schaut sich um und wechselt das Thema. «Willst du etwa sagen, ein paar Arabern gehört das alles hier ganz allein? Wo kommt ihr Geld denn her?» «Du weißt nicht, wie Geschäfte funktionieren. Du leihst dir was von der Bank, schaffst einen Warenbestand, und die Zinsen setzt du dann als Kosten ab. Das nennt man Kapita‐ 280
lismus. Die Chehabs sind in den sechziger Jahren herüber‐ gekommen, als alles noch einfacher war.» «Muss es wohl gewesen sein», sagt sie und setzt sich prüfend auf eine nackte Matratze, deren aus kleinen prallen Sechsecken bestehende Oberfläche mit einem silbrigen Brokatstoff überzogen ist. Joryleens rotes Miniröckchen, kürzer als das eines Cheerleaders, erlaubt ihm einen Blick auf ihre von der Matratzenkante in die Breite gedrückten Schenkel. Er denkt daran, dass nur ihr Höschen zwischen ihrem nackten Po und dem luxuriösen Bezug liegt; bei dem Gedanken schnürt sich ihm die Kehle zusammen. Alles an ihr scheint zu schimmern – ihr grellrosa Lippenstift, ihr kurzes, zu kleinen Stacheln hochgespraytes Haar, die gold‐ farbenen Partikel, mit denen sie die fettige Partie um ihre Augen bestäubt hat. Um das Schweigen zu beenden, sagt sie: «Das waren noch einfache Zeiten, im Vergleich zu heute und dem jetzigen Arbeitsmarkt.» «Warum sucht Tylenol sich nicht einen Job für das Geld, das er haben will?» «Irgendein altmodischer Job ist für ihn zu wenig. Er hat vor, mal ganz groß dazustehen, und in der Zwischenzeit will er, dass ich ein bisschen Kohle auf den Tisch lege. Er ver‐ langt nicht, dass ich auf der Straße arbeite, nur dass ich ab und zu jemandem gefällig bin, gewöhnlich einem Weißen. Wenn wir erst richtig bei Kasse sind und alles läuft, dann wird er mich behandeln wie eine Königin, sagt er.» Seit der Schule hat sie sich eine Augenbraue durchstechen lassen und trägt dort nun einen kleinen Ring – zusätzlich zu der Perle im Nasenflügel und der Reihe von Silberringen, die aussehen, als lebe eine Raupe am oberen Rand ihres Ohrs. «So, Ahmed. Dass du nur dastehst und dir die Augen aus dem Kopf glotzt, das hört jetzt auf. Wie hättst du’s denn 281
gern? – Ich könnte dir einfach einen blasen, so wie wir sind, dann gibt’s weniger Schweinerei, aber ich glaube, deinem Mr. Charlie lag’s am Herzen, dass du richtig was zu bumsen kriegst, und dazu gehört ein Pariser und dass man sich hin‐ terher wäscht. Bezahlt hat er mich für das komplette Ange‐ bot, ganz wie’s dir passt. Dass du schüchtern sein könntest, hat er vorausgesehen.» Ahmed winselt. «Joryleen, ich ertrag’s nicht, wenn du so redest.» «Wie red ich denn, Ahmed? Bist du immer noch mit dem Kopf da oben im arabischen Niemalsland? Ich versuch nur, mich klar auszudrücken. Ziehen wir doch mal ein paar Sa‐ chen aus und entscheiden wir uns für eins von diesen Bet‐ ten. Mann, was für eine Auswahl!» «Joryleen, du behältst deine Sachen an. Ich achte dich so, wie du mal warst, und überhaupt will ich nicht die Unschuld verlieren, bevor ich nicht rechtmäßig nach dem Koran mit einer guten Muslimin verheiratet bin.» «Die gibt’s da draußen im Niemandsland, Baby, und ich bin hier und bereit, die Welt mit dir zu umrunden.» «Was heißt das, ‹die Welt mir dir umrunden›?» «Kann ich dir zeigen. Du musst nicht mal das tuntige weiße Hemd ausziehen, bloß deine schwarze Hose. Du trägst ja so sündhaft enge Hosen; von denen bin ich immer ganz nass geworden.» Und Joryleen, das Gesicht in Höhe seines Schlitzes, öff‐ net den Mund – nicht so weit wie damals beim Singen, aber doch so weit, dass Ahmed hineinsehen kann. Feucht schim‐ mern die Membranen im Innern, der Gaumen unter dem makellosen, perligen Bogen ihrer Zähne und dahinter die fette, blasse Zunge. Das Weiß ihrer Augen weitet sich aus, als ihr Blick eine Frage zu seinem Gesicht hinaufschickt. 282
«Sei nicht so widerwärtig», sagt er, obwohl das Fleisch hinter seinem Hosenschlitz reagiert hat. Nun schmollt Joryleen neckisch. «Willst du vielleicht, dass ich das Geld zurückgeben muss, das Mr. Charlie mir gegeben hat? Willst du, dass Tylenol mich blau und schwarz prügelt?» «Das tut er also?» «Er versucht’s, so zu machen, dass man’s mir nicht an‐ sieht. Die älteren Luden sagen ihm, er schadet sich sonst bloß selbst.» Sie schaut nun nicht mehr zu ihm auf, sondern stupst ihn sanft unterhalb des Gürtels, indem sie den Kopf dort hin und her bewegt wie ein Hund, der sich trocken schüttelt. «Komm schon, du hübsches Ding. Du magst mich, das seh ich doch.» Mit beiden Reihen langnageli‐ ger Fingerspitzen berührt sie die Wölbung hinter seinem Schlitz. Ahmed fährt zurück, erschreckt weniger durch Joryleens Streicheln als durch den Teufel der Einwilligung und Unter‐ werfung, der sich in ihm erhebt, einen Teil seines Körpers versteift und anderswo eine benommene Erschlaffung be‐ wirkt, als wäre ihm eine blutverdickende Substanz gespritzt worden; Joryleen hat ein süßes Urgefühl in ihm geweckt, die eines Mannes, der im Dienste des Samens, den er in sich trägt, sein Erbe antritt; die Frauen sind seine Felder. Sie liegen auf Betten, die mit Brokat gefüttert sind. Und die Früchte der Gärten hängen tief. Zu Joryleen sagt er: «Ich mag dich zu gern, um dich wie eine Hure zu behandeln.» Sie aber ist in der Laune zu betören; ihr störrischer Kun‐ de amüsiert sie und fordert sie heraus. «Lass ihn mich bloß in den Mund nehmen», sagt sie. «Nach dem ollen Koran ist das keine Sünde. Es ist nur natürliche Zärtlichkeit. Wir sind dafür geschaffen, Ahmed. Und wir bleiben nicht immer 283
so wie jetzt. Wir werden alt, wir werden krank. Sei für eine Stunde mit mir schlicht du selbst, dann tust du uns beiden einen Gefallen. Würdest du nicht gern mit meinen schönen großen Titten spielen? Ich hab doch gesehen, wie du mir in der Schule immer in die Bluse gelinst hast, wenn wir uns in die Nähe gekommen sind.» Er hält sich vor ihr zurück, bis sich seine Schenkel an die Matratze des nächsten nackten Betts pressen, ist jedoch von dem Aufruhr in seinem Blut zu benommen, um zu protestieren, als sie mit ein paar routinierten Griffen ruck, zuck das Oberteil aus dem Rock zupft, es über ihren fle‐ ckig blondierten kurzen Schopf zieht, das Kreuz hohl macht und ihren dünnen schwarzen BH aufhakt. Um die fleisch‐ farbenen Nippel vertieft sich das Braun ihrer Brüste zum Farbton von Auberginen. Nun, da sie mit ihren Nuancen zwischen Violett und Rosenholz an der Luft sind und nicht mehr halb verborgen, wirken sie weniger riesig, und Ahmed empfindet Joryleen mehr wie das freundliche Mädchen, das er einmal ein wenig kannte und dessen Lächeln unten bei den Spinden keck und zugleich zaghaft war. Mit trockener Kehle und schwerer Zunge sagt er: «Ich möchte nicht, dass du Tylenol erzählst, was wir getan haben und was nicht.» «Okay, versprochen. Er hört sowieso nicht gern, was ich so bei den Nummern mache.» «Ich möchte, dass du auch deine restlichen Sachen aus‐ ziehst, und dann legen wir uns einfach zusammen hin und reden.» Dass er immerhin so weit die Initiative ergriffen hat, scheint sie gefügig zu stimmen. Sie legt ein Bein über das andere, zieht erst einen spitzen weißen Stiefel, dann den zweiten aus und steht auf. Nun, da sie barfuß ist, reicht ihr 284
blond gesprenkelter, stachliger Kopf kaum bis zu Ahmeds Kehle. Sie stößt an seine Brust, als sie erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein balanciert, um aus ihrem ro‐ ten Vinylrock und dem hauchdünnen schwarzen Höschen zu steigen. Als das geschafft ist, senkt sie das Kinn und die Lider und steht wartend da, die Arme über den Brüsten ge‐ kreuzt, als mache das Nacktsein sie schamhafter. Er tritt zurück und sagt, voller Verwunderung über die wahre, entblößte, verletzliche Joryleen: «So sieht es also aus, das beliebteste Mädchen der Schule.» Dann erklärt er ihr: «Meine Kleider lassen wir an. Ich schau mal, ob ich nicht eine Decke und ein paar Kissen finde.» «Hier oben ist’s ganz schön heiß und stickig», sagt sie. «Ich weiß nicht, ob wir da eine Decke brauchen.» «Eine Decke zum Darunterlegen», stellt er klar, «um die Matratze zu schützen. Weißt du, was eine gute Matratze kos‐ tet?» Die meisten sind durch dicke Plastikfolie geschützt, aber darauf zu liegen wäre unangenehm, sie klebten an der Haut. «Hey, können wir nicht mal dalli, dalli machen?», be‐ schwert sie sich. «Ich steh hier völlig ausgezogen da – was ist, wenn jemand raufkommt?» «Erstaunlich, dass dir das Sorge macht», sagt er, «wo du so viele Nummern schiebst.» Er hat eine Verantwortung übernommen – ein Nest für sich und eine Gefährtin zu schaffen; ein aufregendes, aber auch beängstigendes Ge‐ fühl. Als er sich kurz vor der Treppe umblickt, sieht er sie gelassen im Schein der Lampe dasitzen, sich eine weitere Zigarette anzünden, und dann die wellige Struktur, die der Rauch im Lichtkegel erzeugt. Rasch lauft Ahmed hinunter, damit sich Joryleen nicht verflüchtigt. Eine Decke findet er zwischen den Möbelstücken im Hauptausstellungsraum 285
nicht, schnappt sich aber zwei Kissen von einem Sofa mit Chenillebezug und nimmt dazu einen kleinen Orienttep‐ pich, eins zwanzig mal eins fünfzig, mit. Diese hastigen Er‐ ledigungen beruhigen ihn ein wenig, aber die Beine zittern ihm noch immer. «Wird auch Zeit», ruft sie ihm entgegen. Er legt den Tep‐ pich und die Kissen auf die Matratze, und Joryleen streckt sich auf dem verschlungenen Muster des blau gerandeten Teppichs aus – die traditionelle Darstellung eines Oasen‐ gartens, hat Habib Chehab ihm erklärt, von einem Wasser‐ lauf umgeben. Joryleen hat hinter ihrem Kopf auf dem Che‐ nillekissen einen Arm angewinkelt und gibt eine rasierte Achselhöhle den Blicken frei. «Mann, ist das vielleicht schrullig», sagt sie, als er sich neben sie legt, ohne Schuhe, sonst aber angezogen. Sein Hemd wird verknittern, aber das muss er wohl in Kauf nehmen. «Darf ich den Arm um dich legen?», fragt er. «Meine Güte! Klar doch. Du hast Anrecht auf viel mehr.» «Ich will nur das», sagt er. «Mehr ertrag ich nicht.» «Okay, Ahmed – jetzt entspann dich mal.» «Ich möchte nichts tun, was du als abstoßend empfin‐ dest.» Darüber muss sie lächeln, dann lachen, und daher spürt er seitlich am Hals ihren warmen Atem. «Das wäre auch schwieriger, als du wissen möchtest.» «Warum machst du’s dann? Dich von Tylenol so rausschi‐ cken lassen, meine ich.» Sie seufzt, und wieder trifft ein Hauch von Leben sei‐ nen Hals. «Du weitit noch nicht viel über Liebe. Er ist der Mann, dem ich gehöre. Ohne mich hat er nicht viel. Er wäre eine traurige Figur, und vielleicht liebe ich ihn zu sehr, um 286
ihn das merken zu lassen. Es ist für einen schwarzen Mann, der in New Prospect arm aufgewachsen ist, keine Schande, eine Frau zu haben, die er verhökern kann – damit beweist er, dass er ein ganzer Mann ist.» «Schon, aber was kannst du dir damit beweisen?» «Dass ich mit jeder Scheiße klarkomme, nehm ich an. Es ist ja nur für eine Weile. Ich bin nicht auf Drogen, dann kommen die Mädchen nämlich nicht mehr los – sie werfen die Drogen ein, damit sie die Scheiße aushalten können, und dann wird die Sucht zur eigentlichen Scheiße. Ich rauch nur Gras, und ab und zu mal einen Zug Crack; an meine Venen kommt keiner ran. Wenn sich die Umstände ändern, kann ich jederzeit gehen.» «Joryleen! Wie könnten sie sich denn ändern?» «Wenn er sich auf irgendwas anderes einlässt, zum Bei‐ spiel. Oder wenn ich sage, ich mach’s nicht mehr.» «Ich glaub nicht, dass er dich so leicht gehen lässt. Du sagst ja selbst, du bist alles, was er hat.» Durch ihr Schweigen gesteht sie ein, dass dies die Wahr‐ heit ist, und es verleiht ihrem Körper in seinem Arm ein zusätzliches Gewicht. Sanft drückt sie ihren Bauch an ihn, und ihre Brüste gleichen mit warmem Wasser voll gesoge‐ nen Schwämmen, die sich auf Höhe seiner Brusttasche be‐ finden und sein Hemd noch mehr verknittern. Gerade noch in seiner Reichweite kratzen ihre Zehennägel – schlicht rot lackiert, hat Ahmed bemerkt, als sie die spitzen weißen Stiefel ausgezogen hat, während ihre Fingernägel der Län‐ ge nach zweifarbig, in Silber und Grün, bemalt sind – spie‐ lerisch fragend an seinen Fußgelenken. Diese Berührungen von ihrer Seite sind ihm ungemein willkommen; sie fluten seine Sinne mit den Gerüchen ihres Haars, ihrer Kopfhaut und ihres Schweißes und mit dem rauen Samt ihrer Stim‐ 287
me, so nah an seinem Ohr. Er hört aus ihren Atemzügen etwas Heiseres heraus, in dem Unsicherheit mitschwingt. «Ich mag nicht über mich reden», lässt sie Ahmed wissen. «Solche Gespräche machen mir Angst.» Sie muss den Kno‐ ten angestauter Erregung unterhalb seines Gürtels wahr‐ genommen haben, wenn auch weniger intensiv als er, doch sie hält sich an den Pakt, den er ihr auferlegt hat, und fasst nicht hin. Noch niemals hat Ahmed über irgendjcmanden Macht besessen – nicht mehr, seit seine Mutter sich fragen musste, wie sie ihn am Leben halten sollte, so ohne Ehe‐ mann. Er lässt nicht locker. «Was ist dann mit deinem Singen in der Kirche? Wie passt denn das dazu?» «Überhaupt nicht. Ich tu’s nicht mehr. Meine Mutter ver‐ steht nicht, warum ich abgesprungen bin. Sie sagt, Tylenol hat einen schlechten Einfluss auf mich. Sie weiß gar nicht, wie Recht sie hat. Aber jetzt hör mal: Abgemacht ist, dass du mich bumsen kannst, aber nicht mich verhören.» «Ich möchte bloß bei dir sein, so nah, wie ich nur kann.» «Au Backe. Das hör ich nicht zum ersten Mal. Die Männer haben ja ein so großes Herz. Na, dann lass mal was über dich hören: Wie steht’s denn mit dem ollen Allah? Wie gefällt dir das Heiligenleben, jetzt, wo die Schule zu Ende ist und wir in der Realität angekommen sind?» Seine Lippen bewegen sich einen Fingerbreit über ihrer Stirn. Er hat den Beschluss gefasst, offen zu ihr zu sein, was diese eine Sache in seinem Leben angeht, die er instinktiv vor allen abschirmt, selbst vor Charlie, selbst vor Scheich Rashid. «Ich halte mich noch immer an den Geraden Weg», sagt er zu Joryleen. «Der Islam ist noch immer mein Trost und meine Richtschnur. Aber –» «Aber was, Baby?» 288
«Wenn ich mich Allah zuwende und versuche, an ihn zu denken, dann wird mir klar, wie allein er ist in dem weiten Raum voller Gestirne, dessen Entstehen sein Wille war. Im Koran wird von ihm gesagt, dass er die Rechtschaffenen liebt und dass er allein ist. Früher habe ich immer an seine Liebe gedacht; jetzt bin ich von seinem Alleinsein in all der Leere betroffen. Die Menschen denken immer nur an sich. An Gott denkt niemand – ob er leidet oder nicht, ob er gern das ist, was er ist. Was sieht er auf der Welt, das sein Gefallen finden könnte? Aber so etwas auch nur zu denken, schon der Versuch, sich von Gott solche Bilder zu machen, als eine Art von Mensch – das ist Blasphemie, würde mir mein Meister, der Imam, erklären, dafür hat man das ewige Höllenfeuer verdient.» «Meine Güte, was du deinem Kopf so alles zumutest! Vielleicht hat er uns ja einander geschenkt, damit wir nicht so allein sind wie er. So ungefähr steht das sogar in der Bi‐ bel.» «Schon, aber was sind wir denn? Eigentlich doch nur schlecht riechende Tiere, mit einer Hand voll animali‐ scher Bedürfnisse und einem kürzeren Leben als Schild‐ kröten.» Dies – dass er Schildkröten erwähnt – bringt Joryleen zum Lachen; wenn sie lacht, prallt ihr ganzer nackter Körper an den seinen, sodass er an all die Eingeweide denken muss, an den Magen und so weiter, die darin verpackt sind: Alle diese Dinge hat sie in sich, und dennoch auch eine liebevolle See‐ le, deren Hauch er am Hals verspürt, dort, wo ihm Gott so nah ist wie eine Schlagader. Sie sagt: «Krieg die seltsamen Ideen, die du hast, mal in den Griff, sonst wirst du verrückt davon.» Seine Lippen bewegen sich kaum einen Fingerbreit 289
über ihrer Stirn. «Manchmal ist in mir so eine Sehnsucht, mich mit Gott zu vereinigen, um seine Einsamkeit zu lin‐ dern.» Kaum sind die Worte aus seinem Mund, erkennt er, dass sie blasphemisch sind: Gott ist auf niemand in der Welt angewiesen, steht in der neunundzwanzigsten Sure geschrie‐ ben. «Zu sterben, meinst du? Du machst mir schon wieder Angst, Ahmed. Wie geht’s denn so dem Steifen da, der mich ständig stupst? Kriegen wir den bloß durch Reden weg?» Flink und kundig berührt sie ihn. «Nix da, haben wir nicht geschafft. Er ist immer noch da und will das haben, was ihm fehlt. Ich halt’s nicht aus ... Mach du mal gar nichts. Allah soll ruhig mir die Schuld geben, ich kann’s verkraften, ich bin eben bloß eine Frau, und schmutzig sowieso.» Joryleen legt eine Hand auf jede seiner Pobacken in den schwarzen Jeans, und indem sie ihn rhythmisch in ihre andrängende Weichheit zieht, zwingt sie ihn höher und höher, in eine Ver‐ wandlung, die unter Krämpfen vonstatten geht, und abrupt stülpt sich sein verknotetes Wesen um, ähnlich vielleicht, wie es beim Tod geschieht, wenn die Seele ins Paradies auf‐ steigt. Die beiden jungen Körper klammern sich aneinander, schnaufende Kletterer, die einen Grat erklommen haben. Joryleen sagt: «So. Jetzt hast du zwar eine versaute Hose, aber wir brauchten keinen Pariser, und du bist immer noch Jungfrau, falls du mal der Braut mit dem Kopftuch begeg‐ nest.» «Mit dem hijab. Vielleicht wird es so eine Braut nie ge‐ ben.» «Warum sagst du das? Da unten funktioniert bei dir doch alles, und einen guten Charakter hast du auch.» «Nur so ein Gefühl», antwortet er. «Kann sein, dass du 290
das Brautähnlichste bist, was mir gegönnt ist.» Ein wenig vorwurfsvoll sagt er: «Verlangt hab ich’s aber nicht von dir, dass du mich zum Kommen bringst.» «Ich leiste gern was für das Geld, das ich verdiene», entgegnet sie. Es schmerzt Ahmed, dass sie anscheinend in entspanntes Geplänkel zurückfällt, von der engen, feuchten Naht abrückt, die sie beide zu einem Körper vereinigt hat. «Ich weiß ja nicht, woher du so ein schlechtes Vorgefühl hast, aber dieser Charlie, dein großer Ereund, hat irgendwas Krummes vor. Warum sonst sollte er die Nummer hier ein‐ fädeln, wenn du nicht drum gebeten hast?» «Er dachte, ich hätte es nötig. Und vielleicht war’s auch so. Danke, Joryleen. Auch wenn’s unrein war, wie du schon gesagt hast.» «Es ist fast so, als würden sie dich anfuttern.» «Wer denn, und wofür?» «Schätzchen, das weiß ich nicht. Aber du hast hoffent‐ lich meinen Rat gehört: Mach dich von diesem Lastwagen fort.» «Und wenn ich nun zu dir sagen würde: Mach dich von Tylenol fort?» «Das ist nicht so einfach. Er ist der Mann, dem ich ge‐ höre.» Ahmed bemüht sich, sie zu verstehen. «Wir suchen eben immer nach Bindungen, egal wie verhängnisvoll sie sind.» «Du hast’s begriffen.» Die Schweinerei in seiner Unterhose trocknet allmählich und wird klebrig; dennoch hält er Joryleen fest, als sie sich aus seinem Arm zu rollen versucht. «Ich muss gehen», sagt sie. Mit einem Anflug von Grausamkeit zieht er sie noch en‐ ger an sich. «Hast du nun dein Geld verdient?» 291
«Etwa nicht? Ich hab doch gespürt, wie du tüchtig abge‐ spritzt hast.» Er möchte, dass sie beide unrein sind. «Wir haben aber nicht gevögelt. Sollten wir vielleicht. Charlie erwartet es be‐ stimmt von mir.» «Jetzt dämmert’s dir, was? Diesmal ist’s dafür zu spät. Lassen wir dir vorläufig mal deine Reinheit.» Draußen vor der Möbelhandlung ist es dunkel gewor‐ den. Sie liegen zwei Betten von der einzigen brennenden Lampe entfernt, und in deren trübem Schein ist Joryleens Gesicht auf dem weißen Chcnillekissen ein schwarzes Oval, ein vollkommen ebenmäßiges Oval, in dem die win‐ zigen Regungen ihres Mundes und ihrer Lider silbrig fun‐ keln. Sie ist für Gott verloren, gibt jedoch ihr Leben für ein anderes hin – damit Tylenol, dieser erbärmliche, brutale Tropf, überleben kann. «Eins musst du noch für mich tun, Joryieen», bittet Ahmed. «Ich ertrag’s nicht, dich so gehen zu lassen.» «Was denn?» «Sing für mich.» «Junge, Junge. Du bist ja ein richtiger Mann: Immer wol‐ len sie noch was mehr.» «Nur ein kurzes Lied. In der Kirche fand ich’s wunder‐ bar, dass ich deine Stimme unter all den anderen heraus‐ hören konnte.» «Jemand hat dir das Süßholzraspeln beigebracht. Ich muss mich aufsetzen. Im Liegen kann man nicht singen. Das Liegen ist für andere Dinge da.» Das war eine unnötig grobe Bemerkung von ihr. Im Schein der einsamen Lampe, der auf dieses Matratzenmeer fällt, liegen unter Joryleens runden, schweren Brüsten halbmondförmige Schatten; sie ist erst achtzehn, und doch zupft die Schwerkraft bereits an 292
ihren Brüsten. Ahmed verspürt den Drang, die Hände aus‐ zustrecken und ihre vorstehenden fleischfarbenen Nippel zu berühren, sogar hineinzukneifen, da sie ja eine Hure und Schlimmeres gewohnt ist, und dieser grausame Impuls ver‐ wundert ihn; etwas in ihm scheint gegen die Zärtlichkeit anzukämpfen, die ihn von seiner innigsten Loyalität fort‐ locken würde. Und wer sich um Gottes willen abmüht, heißt es in der neunundzwanzigsten Sure über den Kämpfenden, tut das zu seinem eigenen Vorteil. Als Ahmed an den winzigen, sich spannenden Muskeln ihres von einem zarten Wulst umrahmten Mundes sieht, dass sie gleich singen wird, schließt er die Augen. «‹Welch einen Freund wir doch in Jesus haben›», schmachtet sie, bebend und ohne die hüpfenden Synkopen der Fassung, die er in der Kirche gehört hat, «‹all unsere Sünden und unsern Gram nimmt er auf sich ...›» Singend streckt sie die Hand aus, und eine helle Handfläche berührt seine Stirn, diese aufrechte, kantige Stirn, entschlossen, sich tiefer unter das Joch des Glaubens zu beugen, als die meisten Männer es vermögen; und Joryleens Finger mit den zweifarbigen Nägeln streunen umher und kneifen ihn ins Ohrläppchen, als sie mit «‐Welch eine Gnade, in Gebeten Gott alles darzubringen›» schließt. Er sieht zu, wie sie energisch wieder ihre Sachen anzieht: zuerst den Büstenhalter, dann, mit einem komischen Hüft‐ schlenker, das Gespinst von einem Höschen; darauf das elastische Hemdchen, kurz genug, um ein Stück Bauch frei zu lassen, und den roten Minirock. Sie setzt sich auf den Bettrand, um ihre Stiefel mit den langen Spitzen an‐ zuziehen – über dünne weiße Söckchen, die er sie nicht hat abstreifen sehen. Damit das Leder vor ihrem Schweiß und ihre Füße vor Geruch geschützt sind. 293
Wie viel Uhr ist es? Jeden Tag wird es nun früher dunkel. Nicht viel später als sieben; er hat nicht einmal eine Stunde mit ihr verbracht. Vielleicht ist seine Mutter zu Hause und wartet darauf, ihm etwas zu essen zu richten; seit kurzem hat sie mehr Zeit für ihn. Die Wirklichkeit ruft: Er muss aufstehen, jede Spur ihrer liegenden Gestalten von der plastikumhüllten Matratze streichen, den ‘Teppich und die Kissen wieder hinunter an ihre Plätze bringen; er muss Joryleen zwischen Tischen und Sesseln hindurchführen, an den Bürotischen, dem Wasserkühler und der Stechuhr vor‐ über, und sie beide durch die Hintertür hinauslassen in den Abend mit seinem Geflirr von Lichtern, die nun nicht mehr die Scheinwerfer von Leuten sind, welche von der Arbeit heimkehren, eher von solchen, die sich auf Jagd befinden, nach Essen oder Liebe. Als Ahmed über das Dutzend Quer‐ straßen hinweg nach Hause geht, fühlt er sich von Joryleens Singen und seiner Ejakulation so müde, dass die Vorstellung, er könnte zu Bett gehen und nie mehr aufwachen, keinen Schrecken für ihn besitzt. Scheich Rashid begrüßt ihn in der Sprache des Korans: «Fa‐ innama’a l‐’usri yusrā.» Ahmed, dessen klassisches Arabisch nach drei Monaten ohne Unterricht an der Moschee einge‐ rostet ist, entziffert im Geist das Zitat und klopft es nach verborgenen Bedeutungen ab, die es enthalten könnte. Wenn man es einmal schwer hat, stellt sich gleich auch Erleichterung ein. Er erkennt, dass es aus «Das Weiten» stammt, einer der frühen Suren der Mekka‐Zeit, die ihrer Kürze wegen weit hinten im Buch erscheinen, die ihres verdichteten, enig‐ matischen Charakters wegen jedoch seinem Meister teuer sind. Mit der Stimme Gottes spricht sie den Propheten per‐ sönlich an: Haben wir dir nicht deine Brust geweitet, dir deine 294
Last abgenommen, die dir schwer auf dem Rücken lag, und dir dein Ansehen erhöht? Seine Begegnung mit Joryleen war für den Freitag vor Labor Day arrangiert gewesen, und daher fragte ihn Charlie Chehab erst am folgenden Dienstag bei der Arbeit: «Und, wie ist’s gelaufen?» «Ganz gut», lautete Ahmeds flaue Antwort. «Hat sich her‐ ausgestellt, dass ich sie von Central High her schon flüchtig kannte. Leider hat jemand sie seither auf üble Abwege ge‐ bracht.» «Hat sie ihren Job erledigt?» «Sicher. Hat sie.» «Gut. Sehr gut. Ihr Lude hat mir versichert, sie könn‐ te das nett machen. Was für eine Erleichterung. Für mich, meine ich. Es kam mir einfach unnatürlich vor, dass du noch deinen Korken hattest. Keine Ahnung, warum mir das so nah gegangen ist, aber so war’s nun mal. Und, wie fühlst du dich nun? Wie neu?» «Aber ja. Ich sehe das Leben durch einen neuen Schlei‐ er – durch eine neue Brille, besser gesagt.» «Prima. Ganz prima. Solange einer noch keine Frau hatte, hat er noch nicht richtig gelebt. Ich hatte meine erste mit sechzehn. Das heißt, eigentlich waren’s zwei – eine Pro‐ fessionelle, mit Gummi, und ein Mädchen aus der Nachbar‐ schaft, ungesattelt. Aber das war auch zu Zeiten, in denen es noch wilder zuging, vor Aids. Deine Generation hat allen Grund, vorsichtig zu sein.» «Wir waren vorsichtig.» Ahmed war errötet, weil er Charlie verschwieg, dass er noch immer unberührt war, aber er hatte seinen Mentor auf keinen Fall enttäuschen wollen, indem er ihm die Wahrheit anvertraute. Vielleicht hatte es zwischen ihnen in der Enge der Fahrerkabine, während Excellency 295
auf surrenden Rädern durch New Jersey kreuzte, ohnehin schon zu viel Vertrautheit gegeben. Joryleens Rat, er solle sich von dem Laster wegmachen, ging Ahmed nach. Den ganzen Morgen über wirkte Charlie so, als warte er besorgt auf etwas, als mache ihn eine Vielzahl gleichzeitig zu erledigender Dinge nervös. In dem Büro hinter dem Ausstellungsraum, wo der Morgenkaffee getrunken und der Plan für den Tag entworfen wurde, schien sein Gesicht un‐ gewöhnlich leicht zu knittern, sein beweglicher Mund be‐ sonders rasch den Ausdruck zu wechseln. Hier warteten un‐ gewaschene olivenfarbene Overalls und gelbe Oljacken für Lieferungen an regnerischen Tagen; wie abgezogene Häute hingen sie an ihren Haken. «Über das lange Wochenende bin ich Scheich Rashid be‐ gegnet», bemerkte Charlie. «Ach ja?» Natürlich, ging es Ahmed durch den Kopf; die Chehabs sind wichtige Mitglieder der Moschee‐Gemeinde; so eine Begegnung hat nichts Besonderes. «Er möchte dich gern drüben im Islamischen Zentrum sprechen.» «Um mich zurechtzuweisen, befürchte ich. Jetzt, wo ich arbeite, vernachlässige ich den Koran, und freitags komme ich nicht mehr so regelmäßig in die Moschee. Immerhin wird dir aufgefallen sein, dass ich meine Gebete immer ver‐ richte, wenn ich mich nur für fünf Minuten an einem reinen Ort aufhalten kann.» Charlie runzelte die Stirn. «Du kannst nicht immer nur an dich und Gott denken, Medizinmann. Er hat seinen Pro‐ pheten gesandt, und der Prophet hat eine Gemeinschaft geschaffen. Ohne ummah, ohne die bewusste und tätige Zu‐ gehörigkeit zu einer Gruppe von Rechtschaffenen, ist der Glaube ein Samen, der keine Früchte bringt.» 296
«Sollst du mir das von Scheich Rashid ausrichten?» Was Charlie da von sich gab, klang mehr nach Scheich Rashid als nach ihm selbst. Charlie feixte – er bleckte so plötzlich und gewinnend die Zähne wie ein Kind, das bei einem Streich ertappt wor‐ den ist. «Scheich Rashid kann für sich selbst sprechen. Aber er ruft dich nicht zu sich, um dich zurechtzuweisen, ganz im Gegenteil. Er will dir eine Chance anbieten – aber hältst du wohl dein vorlautes Mundwerk, Charlie, was redest du! Er soll es dir selbst verraten. Wir hören heute früher mit den Lieferungen auf, und ich setze dich an der Moschee ab.» Und so ist Ahmed seinem Meister, dem Imam aus dem Jemen, ausgeliefert worden. Im Maniküresalon unter der Moschee sitzt, trotz reichlich bereitstehender Stühle, nur eine gelangweilte vietnamesische Nagelpflegerin, die eine Zeitschrift liest, und durch einen Spalt zwischen den Jatousielamellen des Fensters von BARGELD GEGEN SCHECKS ist ein hoher, mit einem Gitter geschützter Tre‐ sen zu erspähen, hinter dem ein untersetzter Weißer gähnt. Ahmed öffnet die Tür zwischen diesen beiden Unterneh‐ men, die schorfige grüne Tür mit der Nummer 2781V£, und steigt die schmale Treppe zu dem Foyer hinauf, in dem die Kunden des verblichenen Tanzstudios einst auf ihre Stunden warteten. Am Anschlagbrett vor dem Büro des Imam hängen noch die gleichen Computerausdrucke, die über Arabisch‐Unterricht, Eheberatung (Wie ist in der moder‐ nen Zeit eine gesegnete, korrekte und geziemende Ehe zu gestalten?) und über Gastvorträge dieses oder jenes Mullahs zur Ge‐ schichte des Nahen Ostens informieren. Scheich Rashid in seinem mit Silberfäden bestickten Kaftan kommt seinem Schüler entgegen und ergreift dessen Hand mit ungewöhn‐ licher Inbrunst und Feierlichkeit; der vergangene Sommer 297
scheint ihn nicht verändert zu haben, allenfalls weist sein Bart ein paar graue Haare mehr auf, passend zu seinen tau‐ bengrauen Augen. Seinem anfänglichen Gruß, über dessen Bedeutung Ah‐ med noch rätselt, schickt Scheich Rashid die Worte nach: «Wa la ‘l‐ākhiratu khayrun laka mina ‘1‐ūlā. wa la‐sawfa yu’tlka rabbuka fa‐tardā.» Dunkel erinnert sich Ahmed, dass dieser Vers auch aus einer der kurzen Suren der Mekka‐Zeit stammt, die sein Meister so liebt, vielleicht aus derjenigen, die «Der Morgen» genannt wird und die besagt, dass die Zukunft, das kommende Leben, reicheren Lohn bereithält als das vergangene. Dein Herr wird dir dereinst so reichlich ge‐ ben, dass du zufrieden sein wirst. Dann sagt Scheich Rashid auf Englisch: «Mein lieber Junge, ich habe die Stunden sehr vermisst, in denen wir gemeinsam die Schrift studiert und über große Dinge gesprochen haben. Auch ich habe dabei gelernt. Die Schlichtheit und Kraft deines Glaubens hat den meinigen vertieft und gefestigt. Es gibt zu wenige von deiner Art.» Er führt den jungen Mann in sein Büro und lässt sich in dem hohen Ohrensessel, seinem Lehrstuhl, nieder. Als sie beide ihre gewohnten Plätze an dem Schreibtisch einge‐ nommen haben, auf dem sich außer einem altgedienten Exemplar des Korans mit grünem Einband nichts befindet, wendet er sich an Ahmed. «Nun, du bist also in der Welt der Ungläubigen weiter herumgekommen, in der ‹toten Welt›, wie unsere Freunde, die Black Muslims, sie nennen. Hat dies etwas an deinen Überzeugungen verändert?» «Soweit mir bewusst ist, nein, Sir. Ich fühle Gott noch immer bei mir, so nah wie meine Halsschlagader und mir so zugetan, wie nur er es vermag.» «Bist du in den Städten, die du besucht hast, nicht Zeuge 298
von Armut und Elend geworden, die dich bewogen haben, sein Gnade infrage zu stellen? Hast du nicht eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Macht wahrgenommen, die in dir Zweifel an Gottes Gerechtigkeit hat aufkommen lassen? Hast du nicht entdeckt, dass die Welt, jedenfalls der ame‐ rikanische Teil der Welt, einen Gestank nach Vergeudung und Gier, nach Sinnlichkeit und Nichtigkeit verströmt, nach jener Verzweiflung und Lethargie, die mit Unkenntnis der erleuchteten Weisheit des Propheten einhergehen?» Die dürre, verschnörkelte Rhetorik dieses Imam – vor‐ getragen wie mit gespaltener Zunge, die, was sie darlegt, zugleich zurückzunehmen scheint – weckt in Ahmed ein wohlvertrautes Unbehagen, Er versucht, ehrlich zu antwor‐ ten, ein wenig auf Charlies Art: «Na ja, ich schätze mal, die Gegend hier ist nicht gerade die stärkste auf dem Planeten, und genug Loser hängen auch herum, aber eigentlich hat’s mir Spaß gebracht, mich da draußen rumzutreiben. Die Leu‐ te sind ziemlich nett, meistens jedenfalls. Natürlich haben wir ihnen gewöhnlich etwas geliefert, was sie haben wollten und von dem sie meinten, ihr Leben würde dadurch besser. Mit Charlie unterwegs zu sein, war richtig gut. Er weiß un‐ heimlich viel über die Geschichte von New Jersey.» Scheich Rashid beugt sich vor, stellt die Füße auf den Boden und presst die Fingerkuppen seiner edlen, zierli‐ chen Hände aneinander, möglicherweise, um gegen ihr Beben anzukämpfen. Ahmed fragt sich, warum sein Leh‐ rer nervös ist. Vielleicht ist er eifersüchtig wegen des Ein‐ flusses, den ein anderer Mann auf seinen Schüler hat. «Ja», sagt Scheich Rashid, «Charlie ist ‹richtig gut›, aber auch erfüllt von hohen Zielen. Er hat mich davon unterrichtet, dass du die Bereitschaft geäußert hast, für den Dschihad zu sterben.» 299
«Habe ich das?» «In einer Unterredung im Liberty State Park, in Sicht‐ weite der Spitze von Manhattan, wo die Doppeltürme der kapitalistischen Tyrannei glorreich zum Einsturz gebracht wurden.» «Das war eine Unterredung?» Wie sonderbar, denkt Ah‐ med, dass über ein Gespräch, das im Freien stattgefunden hat, hier Bericht erstattet worden ist, hier in der Stadt, im geschlossenen Raum dieser Moschee, durch deren Fenster man nur Backsteinmauern und dunkle Wolken sieht. Der Himmel ist heute nah und grau in fiedrigen Schichten, die Regen bedeuten mögen. Bei der Unterredung damals war es blendend hell gewesen; Rudel von Kindern in Ferienstim‐ mung waren umhergetollt, und ihr Geschrei hatte zwischen der glitzernden Upper Bay und der gleißend weißen Kuppel des Science Center hin‐ und hergehallt. Luftballons, Mö‐ wen, Sonne. «Ich bin bereit zu sterben», bestätigt Ahmed, nachdem er eine Weile geschwiegen hat, «wenn es Gottes Wille ist.» «Es besteht die Chance», hebt sein Meister vorsichtig an, «den Feinden des Allmächtigen einen schweren Schlag zu versetzen.» «Ein Anschlag?», fragt Ahmed. «Eine Chance», wiederholt Seheich Rashid betont. «Es bedürfte dazu eines schahid, dessen Liebe zu Gott bedin‐ gungslos ist und den es dringlich nach der Glorie des Pa‐ radieses dürstet. Bist du ein solcher Mann, Ahmed?» Fast träge stellt der Meister diese Frage, lehnt sich dabei zurück und schließt die Augen wie gegen ein zu grelles Licht. «Sei aufrichtig, bitte.» Ahmeds wackliges Gefühl, über einer Spanne bodenlosen Raums nur von einem Gerüst aus dünnen, schwachen Stre‐ 300
ben gehalten zu werden, ist wieder da. Nach einem Leben, in dem er kaum irgendwo hingehört hat, ist er am ungewis‐ sen Rand einer strahlenden zentralen Bedeutung angelangt. «Ich glaube, ja», erklärt der Junge seinem Lehrer. «Aber ich bin nicht zum Kampf ausgebildet.» «Über alle erforderlichen Fertigkeiten verfügst du, dafür ist gesorgt worden. Die Aufgabe würde darin bestehen, einen Lastwagen an ein bestimmtes Ziel zu fahren und eine bestimmte einfache, mechanische Verbindung herzu‐ stellen. Wie genau, das würde dir von den Spezialisten er‐ klärt, die sich um derlei Dinge kümmern.» Beiläufig, mit einem vagen, amüsierten Lächeln, merkt der Imam an: «Bei unserem Gotteskrieg stehen uns technische Experten zur Seite, die denen des Feindes gleichrangig und an Willens‐ kraft und Elan unendlich überlegen sind. Du erinnerst dich doch an die vierundzwanzigste Sure, al‐nūr, ‹Das Licht›?» Seine Lider senken sich, und die feinen violetten Adern darauf werden sichtbar, als der Imam in seinem Gedächt‐ nis nach der Stelle forscht; und er rezitiert: «Wa ‘l‐ladhīna kafarū a’māluhum ka‐sarābi biqī’atin yahsabuhu ‘z –zam’ ānu mā’an hattā idhājā’ ahu lam yajidhu shay ‘an wa wajada ‘llāha ‘indahu fa‐waffāhu hisābahu, wa ‘llāhu sarī’u ’l‐hisāb.» Als der Scheich die Augen wieder aufschlägt und aus Ahmeds Gesicht schuldbewusstes Unverständnis liest, kommt sein dünnes, schiefes Lächeln hervor, und er übersetzt: «‹Die Handlungen der Ungläubigen sind dagegen wie eine Luft‐ spiegelung in einer Ebene. Wenn einer unter Durst leidet, hält er es für Wasser. Wenn er aber schließlich hinkommt, findet er, dass es überhaupt nichts ist. Und er findet Gott vor. Und der rechnet ihm alles voll an.› Ein herrliches Bild, fand ich schon immer – der Reisende hält es für Wasser, findet an der Stelle jedoch nur Allah. Das 301
macht ihn sprachlos. Der Feind hat nur die Fata Morgana der Selbstsucht vieler kleiner Einzelwesen und Interessen, für die er kämpfen kann; unsere Seite dagegen ist in geläu‐ terter Selbstlosigkeit vereint. Wir unterwerfen uns Gott und werden eins mit ihm – und miteinander.» Wieder schließt der Imam wie in heiliger Trance die Au‐ gen, und das Pulsieren der Kapillargefäße lässt seine Lider zittern. Gleichwohl entfließen seinem Mund zusammen‐ hängende Worte. «Du würdest auf der Stelle ins Paradies eingehen», legt er Ahmed dar. «Deine Familie – deine Mutter – würde eine Entschädigung, i’āla, für ihren Verlust erhalten, obwohl sie eine Ungläubige ist. Die Schönheit des Opfers ihres Sohnes könnte sie sogar zur Konversion bewe‐ gen. Bei Allah ist alles möglich.» «Meine Mutter – sie hat immer selbst für sich gesorgt. Könnte ich für die Entschädigung auch eine andere Person als Empfängerin benennen, eine Freundin in meinem Alter? Das könnte ihr zu Freiheit verhelfen.» «Was ist schon Freiheit?», fragt Scheich Rashid; er schlägt die Augen auf und durchdringt den Schleier seiner Trance. «Solange wir uns in unserem Leib befinden, sind wir Sklaven dieses Leibes und seiner Bedürfnisse. Wie ich dich doch beneide, mein lieber Junge. Ich bin alt im Vergleich zu dir, und der größte Kampfesruhm steht den Jungen zu. Das eigene Leben zu opfern», fährt er mit halb gesenkten Lidern fort, sodass nur noch ein feuchtes graues Schimmern zu sehen ist, «bevor es etwas Zerfleddertes und Ausgelaugtes wird – welch eine unermessliche Freude das doch wäre.» Schweigend lässt Ahmed diesen Worten Zeit, sich zu sen‐ ken; dann fragt er: «Wann wird mein istischhād stattfinden?» Sein Selbstopfer: Es wird zu einem Teil von ihm, zu einem 302
lebendigen, hilflosen Ding wie sein Herz, sein Magen, wie seine Bauchspeicheldrüse, die öde weiter ihre Botenstoffe und Enzyme produziert. «Dein heldenhaftes Opfer», ergänzt sein Meister so‐ gleich. «Binnen einer Woche, würde ich sagen. Die Details zu benennen, obliegt mir zwar nicht, aber ein Zeitpunkt innerhalb der nächsten Woche läge in der Nähe eines Jah‐ restags und würde dem globalen Satan eine wirkungsvolle Lehre erteilen. Die Botschaft würde lauten: ‹Wir schlagen zu, wann es uns passt.›» «Zu dem Laster. Würde es sich um den handeln, den ich für Excellency fahre?» Ahmed ist zu Trauer fähig, wenn schon nicht um sich selbst, so doch um den Laster – um sein heiteres Kürbis‐Orange, seine schmucken Schriftzüge, die überlegene Sicht, die er vom Fahrersitz aus hat und aus der alle Hindernisse und Gefahren der Welt, ob sie nun von Fußgängern oder anderen Fahrzeugen kommen, unmittelbar jenseits der hohen Windschutzscheibe auftauchen, sodass sich der verbleibende Manövrierraum leichter abschätzen lässt als am Steuer eines Personenwagens mit seiner langen, buckligen Motorhaube. «Um einen ähnlichen Lastwagen, den für eine kurze Strecke zu fahren dir keinerlei Schwierigkeiten bereiten dürfte. Der Excellency‐Lkw selbst würde die Chehabs be‐ lasten, sollten identifizierbare Stücke davon übrig bleiben. Man hofft, dass dem nicht so sein wird. Beim ersten Bom‐ benanschlag auf das World Trade Center – du bist vielleicht zu jung, um dich daran zu erinnern – ließ sich die Spur des Mietlastwagens lächerlich leicht zurückverfolgen. Bei die‐ sem Mal werden die materiellen Indizien liquidiert – man‐ che Klafter tief versenkt, wie der großen Dichter Shake‐ speare sagt.» 303
«Liquidiert», wiederholt Ahmed; kein Wort, das er oft hört. Eine seltsame Schicht, wie von durchsichtiger, un‐ angenehm schmeckender Watte, hat sich um ihn gelegt und behindert den Dialog seiner Sinne mit der Außenwelt. Scheich Rashid dagegen, der die Übelkeit des Jungen spürt, ist unvermittelt seiner Trance entstiegen. «Du wirst es nicht erleben», sagt er eindringlich. «Du wirst in diesem Moment bereits in jannah sein, im Paradies, und dem ent‐ zückten Antlitz Gottes entgegentreten. Er wird dich als seinen Sohn willkommen heißen.» Jetzt beugt der Scheich sich mit ernster Miene vor und legt einen anderen Gang ein. «Ahmed, hör mir gut zu. Du musst dies nicht tun. Deine Er‐ klärung Charlie gegenüber bindet dich nicht, wenn dir das Herz sinkt. Es gibt viele andere, die sich nach der Glorie und der Gewissheit ewiger Glückseligkeit verzehren. Der Dschihad ist von Freiwilligen überlaufen, sogar hier, im Heimatland des Bösen und der Irreligiosität.» «Nein», wehrt Ahmed ab, voll Eifersucht auf diese angeb‐ liche Horde anderer, die ihm seine Glorie stehlen wollen. «Meine Liebe zu Allah ist bedingungslos. Ich kann das Ge‐ schenk, das Sie mir bereiten, nicht zurückweisen.» Da er ein Zucken Über das Gesicht seines Meisters hinweghuschen sieht, ausgelöst von einem Konflikt zwischen Erleichterung und Kummer, einen Riss der Bestürzung auf dessen sonst so ruhiger Oberfläche, einen Riss, in dem aufblitzt, dass der Scheich auch nur ein Mensch ist, lässt Ahmed sich er‐ weichen und gibt sich seinerseits als Mensch zu erkennen, indem er scherzt: «Ich möchte ja nicht, dass Sie meinen, die Stunden, die wir mit dem Studium des Ewigen Buches ver‐ bracht haben, seien vertane Zeit gewesen.» «Viele studieren das Buch; wenige sterben dafür. Nur wenige erhalten wie du die Chance, seine Wahrheit zu be‐ 304
weisen.» Nun ist es an Scheich Rashid, von der hohen Warte seiner Strenge hinabzusteigen: «Wenn du in deinem Her‐ zen die mindeste Unsicherheit entdeckst, dann sag es jetzt, mein Junge. Du hast keine Strafe zu befürchten, alles wird so sein, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Ich ver‐ lange von dir lediglich Verschwiegenheit – Stillschweigen, damit jemand, der mehr Mut und Gottvertrauen besitzt, die Mission ausführen kann.» Der Junge weiß, dass er manipuliert wird, lässt es jedoch zu, da die Manipulation ein heiliges Potenzial in ihm er‐ schließt. «Nein, ich übernehme die Mission, selbst wenn ich das Gefühl habe, davor zum Wurm zu schrumpfen.» «Nun gut», sagt der Lehrer abschließend, lehnt sich zu‐ rück, lüpft seine zierlichen schwarzen Schuhe und setzt sie sichtbar auf den silberdurchwirkten Fußschemel. «Wir wer‐ den nicht mehr darüber sprechen, du und ich. Und du wirst nicht mehr hier erscheinen. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass das Islamische Zentrum unter Überwachung stehen könnte. Du wirst Charlie Chehab von deinem heroischen Entschluss unterrichten, und er wird dafür sorgen, dass du bald detaillierte Anweisungen erhältst. Gib ihm den Namen dieser sharmoota, die du mehr würdigst als deine Mutter. Dass ich dies gutheiße, kann ich nicht behaupten: Frauen sind unsere Felder, doch unsere Mutter ist die Erde selbst, der wir entsprungen sind.» «Meister, ich würde den Namen lieber Ihnen anvertrau‐ en. Der Kontakt, den Charlie mit ihr hatte, könnte ihn dazu bewegen, meinen Willen nicht zu respektieren.» Scheich Rashid ist eine solche Komplikation zuwider; die reine Ergebenheit seines Schülers erhält dadurch einen Makel. «Wie du wünschst», sagt er steif. In Druckbuchstaben schreibt Ahmed auf ein Blatt No‐ 305
tizpapier JORYLEEN GRANT, so wie er den Namen vor kaum ein paar Monaten mit Kugelschreiber auf dem Schnitt eines dicken Schulbuchs hat geschrieben sehen. Damals bestand nahezu Gleichheit zwischen ihnen; jetzt ist er auf dem Weg nach jannah und sie nach jahannan, zum Grund der Hölle. Sie ist die einzige Braut, an der er sich auf Erden laben wird. Beim Schreiben fällt Ahmed auf, dass das Zittern von den Händen seines Lehrers auf seine eigenen übergegangen ist. Seine Seele fühlt sich wie eine aus einer anderen Jahreszeit übrig gebliebene Eliege, die im Winter in einem warmen Zimmer gefangen ist und unaufhörlich gegen die Scheibe eines Fensters brummt, auf welches prall die Sonne der Freiheit draußen scheint, in der sie rasch stürbe. Am nächsten Tag, einem Mittwoch, wacht er früh auf, wie von einem lauten Ruf, der rasch verhallt ist. Es ist noch nicht sechs Uhr. Im Dunkel der Küche begegnet er seiner Mutter, die am Saint Francis Hospital nun wieder in der Frühschicht arbeitet. Sie ist züchtig angezogen – ein beigefarbenes Stra‐ ßenkleid, eine blaue, übergehängte Wolljacke; die weißen Nikes, in denen sie auf harten Krankenhausböden viele Ki‐ lometer am Tag zurücklegt, polstern ihre Schritte ab. Dank‐ bar nimmt Ahmed wahr, dass ihre Stimmung der letzten Zeit – ihre Reizbarkeit und Unruhe, ausgelöst von einer jener obskuren Enttäuschungen, unter deren atmosphäri‐ schem Nachhall er seit seiner frühen Kindheit gelitten hat – sich aufzuhellen beginnt. Sie trägt kein Make‐up; die Haut unter den Augen ist bleich, und ihre Augen selbst sind von ihrem Tauchgang in die Gewässer des Schlafs gerötet. Sie begrüßt ihn überrascht: «Na, du Frühaufsteher!» «Mutter –» 306
«Was, Schatz? Bitte mach’s kurz, in vierzig Minuten be‐ ginnt mein Dienst.« «Ich wollte dir dafür danken, dass du mich die ganzen Jahre über ertragen hast.» «Na, das ist vielleicht eine seltsame Bemerkung! Eine Mutter erträgt ihr Kind doch nicht; das Kind ist ihr Lebens‐ zweck.» «Ohne mich wärst du freier gewesen, für deine Kunst oder für sonst etwas.» «Ach, ich komme als Künstlerin genauso weit, wie ich begabt bin. Wenn du nicht gewesen wärst und ich nicht für dich hätte sorgen müssen, dann wäre ich vielleicht in Selbstmitleid und schlechten Gewohnheiten versackt. Und du warst ja auch so ein braver Junge – richtige Probleme hast du mir nie gemacht, wenn ich’s mit dem vergleiche, was ich im Krankenhaus so ständig höre, und zwar nicht nur von den anderen Schwesternhelferinnen, sondern von den Ärz‐ ten, trotz der tollen Ausbildung und den schönen Häusern, die sie haben. Sie geben ihren Kindern alles, und trotzdem werden aus ihnen Satansbraten – destruktive Wesen, sich selbst und andern gegenüber. Ich weiß nicht, inwieweit ich das deinem Mohammedanismus zugute halten soll; du warst ja schon als Baby so vertrauensvoll und leicht zu haben. Was ich dir auch vorgeschlagen habe, immer fandst du, das sei eine gute Idee. Es hat mir sogar Sorge gemacht, du schienst mir so leicht lenkbar zu sein; ich hab befürchtet, du würdest dich von den falschen Leuten beeinflussen lassen, wenn du älter würdest. Aber sieh an, was aus dir geworden ist! Ein Mann, der sich in der Welt zu bewegen versteht, der gutes Geld verdient, genau wie du’s vorausgesagt hast, und der auch noch gut aussieht. Du hast die schöne schmale Figur deines Vaters, auch seine Augen und den attraktiven Mund, 307
aber nichts von seiner Feigheit, von seinem ständigen Su‐ chen nach der bequemen Abkürzung,» Ahmed sagt ihr nichts von dem abgekürzten Weg ins Pa‐ radies, den er bald einschlagen wird. Stattdessen erklärt er ihr: «Wir nennen es nicht Mohammedanismus, Mutter. Das klingt, als würden wir Mohammed anbeten. Er hat nie be‐ hauptet, Gott zu sein; er war nur Gottes Prophet. Das Ein‐ zige, was er je als Wunder hingestellt hat, war der Koran.» «Ja, mag sein, Schatz – im römischen Katholizismus wimmelt es auch von diesen pedantischen Begriffen für die Unterschiede zwischen Dingen, die keiner sehen kann. So was erfinden sich die Menschen aus lauter Hysterie, und dann wird’s als Wort Gottes weitergereicht. Christophorus‐ Medaillen, und nur ja die Hostie nicht mit den Zähnen be‐ rühren, und die Messe auf Latein, und freitags kein Fleisch, und sich ständig bekreuzigen – und dann kommt das Zweite Vatikanische Konzil und schmeißt den ganzen Krempel mir nichts, dir nichts raus – Sachen, an die die Leute seit zwei‐ tausend Jahren geglaubt haben! Die Nonnen haben auf das alles so lächerlich viel Wert gelegt und von uns Kindern das Gleiche erwartet, aber ich habe immer nur wunderschöne Welt um mich herum gesehen, für wie kurze Zeit auch im‐ mer, und ich wollte ihre Schönheit in Bilder fassen.» «Im Islam gilt das als blasphemische Anmaßung, denn Gott allein ist der Schöpfer.» «Nun ja, ich weiß. Deswegen gibt es in Moscheen keine Statuen oder Gemälde. Mir kommt das unnötig freudlos vor. Gott hat uns doch Augen gegeben, damit wir etwas sehen, oder?» Während sie redet, nimmt sie immer wieder einen Schluck Kaffee, spült ihre Cornflakesschale und stellt sie in den Abtropfständer, lässt ihr Toastbrot aus dem Toaster 308
springen und klatscht Marmelade darauf. Ahmed sagt: «Von Gott soll man sich kein Bild machen. Haben die Nonnen das nicht auch gesagt?» «Eigentlich nicht, soweit ich mich erinnere. Aber ich war ja auch nur drei Jahre auf der kirchlichen Schule, dann bin ich auf die öffentliche gewechselt, und da sollten die Lehrer Gott nicht erwähnen, damit es bloß kein jüdisches Kind hin‐ terher zu Hause seinen atheistischen Rechtsanwaltseltern erzählte.» Sie blickt auf ihre Uhr, deren Glas so dick ist wie das einer Taucheruhr und die große Ziffern hat, die sie beim Pulsnehmen erkennen kann. «Schatz, ich führe unheimlich gern ein ernstes Gespräch, und vielleicht könntest du mich ja bekehren, wenn sie nicht verlangen würden, dass man diese ganzen plustrigen, schweißtreibenden Klamotten trägt, aber jetzt bin ich wirklich spät dran und muss los. Ich hab nicht mal mehr die Zeit, dich bei der Arbeit abzuset‐ zen – tut mir leid, aber du wärst dann sowieso als Erster dort. Lass dir doch noch ein bisschen Zeit für dein Frühstück und für das Geschirr, und dann gehst du zum Geschäft, oder du rennst hin – sind ja nur zehn Blocks.» «Zwölf.» «Weißt du noch, wie du überallhin gerannt bist, in diesen kurzen Laufshorts? Ich war so stolz auf dich, du sahst so sexy aus.» «Mutter, ich liebe dich.» Gerührt, sogar getroffen, weil sie irgendein tiefes Bedürf‐ nis in ihm spürt, jedoch nur an den Rand davon flitzen kann und gleich wieder wegmuss, drückt Teresa ihrem Sohn ein Küsschen auf die Wange und sagt zu Ahmed: «Aber klar doch, Herzchen, und ich dich auch. Wie sagen die Franzo‐ sen gleich? Ça va sans dire. Versteht sich von selbst.» Blöderweise wird er rot; wie er sein glühendes Gesicht 309
hasst. Aber er muss noch etwas loswerden: «Weißt du, all die Jahre hindurch war ich so zwanghaft auf meinen Vater fixiert, und wer für mich gesorgt hat, warst du.» Unsere Mutter ist die Erde selbst, der wir entsprungen sind. Sie streicht rasch an sich hinunter, um zu überprüfen, ob auch alles an seinem Platz ist; wieder blickt sie auf die Uhr, und Ahmed fühlt, dass sie sich innerlich aufschwingt, dass sie davonfliegt. Ihre Entgegnung lässt ihn bezweifeln, dass sie wirklich gehört hat, was er gesagt hat. «Ich weiß, Liebes – in unseren Beziehungen machen wir alle Fehler. Könntest du dir heute Abend vielleicht selbst etwas zu essen besorgen? Die Zeichengruppe kommt jetzt mittwochabends wieder in Gang, wir haben heute ein Modell – weißt du, wir werfen jeder zehn Dollar in den Topf, aus dem wir sie bezahlen, dafür posiert sie ein paar Mal je fünf Minuten und anschlie‐ ßend länger. Man kann mit Pastellkreiden kommen, aber Ölfarben sind nicht erwünscht. Jedenfalls, neulich abends hat Leo Wilde angerufen, und ich hab versprochen, mit ihm hinzugehen. Weißt du noch, wer Leo ist? Ich bin früher mal gelegentlich mit ihm ausgegangen. Untersetzt, trägt einen Pferdeschwanz, komische kleine Omabrille –» «Ich erinnere mich, Mutter», sagt Ahmed kalt. «Einer von deinen Losern.» Er sieht ihr nach, wie sie zur Tür hinauseilt, hört ihre raschen, gelgepolsterten Schritte im Flur und das dumpfe Anspringen des Fahrstuhls, der ihrem Knopfdruck gehorcht. Am Küchenbecken spült er seine benutzte Schale und sein Orangensaftglas mit neu entdecktem Eifer; mit der Gründ‐ lichkeit eines Menschen, der etwas zum letzten Mal tut. Er lässt Schale und Glas im Abtropfständer zurück. Sie sind vollkommen rein, so rein wie ein Wüstenmorgen, an dem sich der Sichelmond den Himmel mit Venus teilt. 310
Auf dem Hof von Excellency, wo der frisch beladene Laster zwischen den beiden jüngeren Männern und dem Büro‐ fenster steht, durch das der alte, kahle Mr. Chehab sie mit‐ einander im Gespräch sehen und eine Verschwörung wittern könnte, sagt Ahmed zu Charlie: «Ich bin dabei.» «Hab’s gehört. Gut.» Charlie wirft Ahmed einen Blick zu, und es ist, als seien seine libanesischen Augen – dieser Teil von uns, der nicht so ganz aus Fleisch und Blut ist – für den Jungen neu; kristallgleich komplex und spröde mit ihren bernsteinfarbenen Strahlen und körnigen Partien, der Be‐ reich um die Pupille heller als der dunkelbraune Kreis um die Iris. Charlie hat eine Frau und Kinder und einen Vater, wird Ahmed klar; er ist in einer Weise an diese Welt gebun‐ den, in der Ahmed nicht an sie gebunden ist. Charlie ist stär‐ ker in die Welt verwickelt. «Bist du sicher, Medizinmann?» «Gott sei mein Zeuge», erklärt Ahmed ihm. «Ich brenne darauf, es zu tun.» Ohne dass er wüsste, warum, macht es ihn immer leicht verlegen, wenn zwischen ihm und Charlie von Gott die Rede ist. Der andere vollzieht eine seiner schnellen, kom‐ plizierten Mundbewegungen – er kneift die Lippen zu‐ sammen und stülpt sie dann vor, als wäre gerade bedauerli‐ cherweise etwas daran gehindert worden, seinem Mund zu entschlüpfen. «Dann musst du mit ein paar Fachleuten zusammenkom‐ men. Ich kümmere mich darum.» Er zaudert. «Es wird ein bisschen schwierig, vielleicht klappt es morgen noch nicht. Wie sieht’s mit deinen Nerven aus?» «Ich habe mich in Gottes Hand begeben und fühle mich sehr gelassen. Mein eigener Wille und alles Verlangen in mir ruhen.» «Gut so.» Charlie hebt die Faust und boxt Ahmed auf 311
die Schulter, eine Geste der Solidarität und freudiger gegen‐ seitiger Anerkennung, so wie Footballspieler ihre Helme aneinander hauen oder Basketballspieler High Fives tau‐ schen, obwohl sie sich schon wieder im Rückzug auf ihre Verteidigungspositionen befinden. «Alle Systeme klar», sagt Charlie; sein verschmitztes Lächeln und seine wachsamen Augen ergeben zusammen einen Ausdruck, in dem Ahmed den Mischcharakter – Mekka und Medina, die Verzückung und die geduldige Ausführung – eines jeden heiligen Unter‐ fangens auf Erden wiedererkennt. Nicht am nächsten Tag, sondern am übernächsten, einem Freitag, dirigiert Charlie vom Beifahrersitz aus den Laster aus dem Hof, auf den Reagan Boulevard nach rechts, dann an der Ampel vor der sechzehnten Straße nach links bis zu West Main Street, in jenen Teil von New Prospect, der sich vom Islamischen Zentrum aus über ein paar Straßen‐ züge nach Westen erstreckt und in dem sich Generationen früher, als die Seidenfärbereien und Ledergerbereien noch voll in Betrieb waren, Emigranten aus dem Mittleren Os‐ ten – Türken, Syrer und Kurden – niedergelassen hatten, nachdem sie, in den Zwischendecks der glanzvollen Oze‐ anriesen zusammengepfercht, über den Atlantik gelangt wa‐ ren. In arabischer und lateinischer Schrift werben Schilder, Rot auf Gelb, Schwarz auf Grün, für Al Madena Lebensmittel, Turkiyem Schönheitssalon, Al‐Basha, Baitul Wahid Ahmadiyya. Die älteren Männer, die man auf der Straße sieht, haben längst schon die Gallabiya und den Fez gegen die staubig‐ schwarzen, vom täglichen Tragen formlos gewordenen west‐ lichen Anzüge eingetauscht – die bevorzugte Kleidung der mediterranen Männer, der Sizilianer und Griechen, ihrer Vorgänger in diesem Viertel aus eng an der Straße stehenden Reihenhäusern. Die jüngeren Araboamerikaner, wachsame 312
Müßiggänger, haben die klobigen Laufschuhe, die hängen‐ den, übergroßen Jeans und Kapuzensweatshirts der urbanen Schwarzen übernommen. Ahmed in seinem adretten weißen Hemd und seinen engen, schwarzen Röhrenjeans würde hier nicht hinpassen. Für seine Religionsgenossen hier ist der Islam weniger ein Glaube, ein fein ziseliertes Tor zum Überirdischen, als vielmehr eine Gewohnheit, eine Facette ihres Status als Angehörige einer Unterschicht, als Fremde in einer Nation, die stur weiterhin darauf besteht, sich als hellhäutig, englischsprachig und christlich zu betrachten. Ahmed erlebt diese Gegend wie eine Unterwelt, die er vol‐ ler Scheu besucht, als Außenseiter unter Außenseitern. Charlie scheint sich hier unbefangen zu bewegen, denn er erwidert geschnatterte Zurufe mit ähnlichem Geschnat‐ ter, während er Ahmed auf einem überfüllten Parkplatz hin‐ ter einem Pep Boys und der Eisenwarenhandlung Al‐Aqsa True Value dirigiert. Flehentlich fächert er dem Mitarbeiter von True Value, der aufgetaucht ist, alle zehn Finger ent‐ gegen und argumentiert, niemand, der bei Verstand sei, könne ihm zehn Minuten Parkzeit abseits der Straße ver‐ wehren; zur Untermauerung seines Standpunkts wechselt ein Zehn‐Dollar‐Schein die Hände. Im Fortgehen murmelt er Ahmed zu: «Draußen auf der Straße fällt der verdammte Laster doch auf wie ein Zirkuswagen.» «Du möchtest also nicht beobachtet werden», folgert Ah‐ med. «Aber wer würde uns denn beobachten?» «Man kann nie wissen», lautet die unbefriedigende Ant‐ wort. Schnelleren Schritts, als sich Charlie sonst bewegt, gehen sie durch eine Hintergasse, die parallel zur Main ver‐ läuft und die aufs Geratewohl von Maschen‐ und Stachel‐ drahtzäunen gesäumt ist, von geteerten Höfen, die ab‐ weisend mit PRIVATGRUNDSTÜCK und NUR FÜR 313
KUNDEN beschildert sind, und von den Veranden und Eingangsstufen demütig in verbliebene Hinterhofparzellen des Zentrums gequetschter Wohnhäuser, deren ursprüng‐ lich hölzerne Wände mit Aluminiumschindeln verkleidet sind oder mit gestanzten Blechplatten, deren Muster Mauer‐ werk vortäuschen soll. Nicht bewohnte Kästen aus echtem, über die Jahre gedunkeltem Ziegelstein dienen als Lager und Hinterhofwerkstätten der Firmen, deren Hauptein‐ gänge an der Main Street liegen: Einige davon sind nun mit Brettern vernagelte Hülsen, an denen Rowdys jedes sicht‐ bare Fenster systematisch eingeschlagen haben, und aus anderen dringen der Lichtschein und die Geräusche kleiner Fertigungs‐ oder Reparaturbetriebe, die noch fortgeführt werden. An einem solchen Gebäude, dessen Ziegelmauern in einem unfreundlichen Mittelbraun gestrichen sind, hat man die Metallschiebefenster von innen mit einer Schicht der gleichen braunen Farbe undurchsichtig gemacht. Das Kipptor des breiten Garageneingangs ist heruntergelassen, und das Blechschild darüber, auf dem in ungelenken, von Hand gemalten Lettern COSTELLOS MECHANIK‐ WERKSTATT Sämtliche Reparatur‐ und Karosseriearbeiten steht, ist fast bis zur Unleserlichkeit verblichen und ver‐ rostet. Charlie klopft an eine kleine Seitentür aus solidem Metall mit einem funkelnden neuen Messingschloss. Nach geraumer Zeit, in der es still bleibt, fragt von innen eine Stimme «Ja? Wer?» «Chehab», sagt Charlie. «Und der Fahrer.» Er spricht so leise, dass Ahmed bezweifelt, dass man ihn gehört hat, aber die Tür geht auf, und ein finster dreinbli‐ ckender junger Mann tritt beiseite. Ahmed ist noch mit dem Eindruck beschäftigt, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hat, als Charlie ihn grob, mit dem starren Griff der 314
Angst, am Arm packt und hineinschiebt. Im Innern riecht es nach motorenölgetränktem Beton und nach einem un‐ erwarteten Stoff, den Ahmed von zwei Sommern her, die er mit fünfzehn, sechzehn als Helfer eines Rasenpflegeteams verbracht hat, wiedererkennt: Düngemittel. Der ätzende, trockene Geruch dörrt ihm Nase und Nebenhöhlen aus; es riecht im Raum auch nach einem Acetylenschweißbrenner und nach Männerkörpern, die lange nicht an der Luft waren und ein Bad nötig haben. Ahmed fragt sich, ob die Männer – es sind zwei, der schlanke jüngere und ein stämmigerer äl‐ terer, der Techniker, wie sich herausstellt – unter den vieren in dem kleinen Haus an der Küste gewesen sind. Er hat sie nur ein paar Minuten lang gesehen, in einem kaum erleuch‐ teten Zimmer und dann durch ein schmutziges Fenster, aber von ihnen ging die gleiche mürrische Angespanntheit aus, wie sie Läufer nach zu langem Training an sich haben. Sie wollen nicht zum Reden gedrängt werden. Aber sie zollen Charlie den Respekt, den sie einem Lieferanten und Orga‐ nisator schuldig sind, der dem Rang nach über ihnen steht. Ahmed beäugen sie irgendwie furchtsam, als wäre er, der so bald zum Märtyrer werden soll, bereits ein Geist. «La ilāhaa ūlā Allah», sagt er zum Gruß, um sie zu beru‐ higen. Nur der jüngere – der zwar noch jung, aber doch ein paar Jahre älter ist als Ahmed – erwidert, wie es sich gehört, «Muhammad rasūlu Allah», murmelt die Formel aber so vor sich hin, als wäre er mit einem Trick verleitet worden, eine Indiskretion zu begehen. Ahmed erkennt, dass von ihnen keine schlicht menschliche Reaktion, kein Anflug von Mit‐ gefühl oder Humor erwartet wird; sie sind Mechaniker, Sol‐ daten, Fußvolk. Um eine gute Meinung bei ihnen zu hin‐ terlassen, macht er den Rücken gerade und akzeptiert die ähnliche Rolle, die er einnimmt. 315
Spuren des Vorlebens, welches das Gebäude einst als Costellos Mechanikwerkstatt geführt hat, haben sich in der klösterlichen, mehrschichtigen Atmosphäre erhalten: über den Köpfen Balken, Ketten und Flaschenzüge zum An‐ heben von Motoren und Achsen; Werkbänke und Batterien kleiner Schubladen, deren Griffe von öligen Fingern ge‐ schwärzt sind; Bretter an der Wand, auf denen die Umrisse nun fehlender Werkzeuge zu sehen sind, Stücke von Ka‐ beln, Blechen und Gummischläuchen liegen noch dort, wo die letzte Hand sie nach der letzten Reparatur hingeschoben hat; in den Ecken, hinter Ölfässern, die als Abfallbehälter dienen, häufen sich leere Ölkanister und Ersatzteilpackun‐ gen, Dichtungsringe und Treibriemen. In der Mitte des Be‐ tonfußbodens, unter der einzigen hellen Lichtquelle, steht ein Lkw von ähnlicher Form und Größe wie Excellency, in dessen Kabine Verlängerungskabel hineinführen wie die Schläuche, die einen Patienten auf der Intensivstation am Leben erhalten. Nur ist dieser Lkw kein Ford Triton E‐350, sondern ein GMC 3500, und nicht orange, sondern gebro‐ chen weiß lackiert, wie er aus der Fabrik gekommen ist. Auf den Seitenflächen steht in sorgfältig, aber nicht professionell ausgeführten Lettern ROLLOS MIT SYSTEM. Vom ersten Blick an mag Ahmed den Laster nicht; das Fahrzeug hat etwas verstohlen Anonymes, etwas billig Un‐ scheinbares. Es sieht mitgenommen, ja verwahrlost aus. Auf der Standspur des New Jersey Turnpike hat er oft uralte Li‐ mousinen aus den sechziger und siebziger Jahren, wulstig, zweifarbig und voller Chromkinkerlitzchen, fahruntüchtig stehen sehen, und daneben ein glückloses, dunkelhäutiges Familiengrüppchen, das darauf wartete, dass die Polizei sie retten kam und ihren schäbigen Gelegenheitskauf ab‐ schleppte. Nach Armut dieser Sorte sieht der knochenweiße 316
Laster aus, nach so jammervollen Versuchen, mit Amerika Schritt zu halten, zur unbeschwerten Siebzig‐Stundenmei‐ len‐Mittelschicht aufzuschließen. Einen weiteren solchen jammervollen Versuch verkörperte der kastanienbraune Subaru seiner Mutter mit seinem schlecht gespachtelten Kotflügel und seinem roten, vom jahrelangen Stehen in der säurehaltigen Luft von New Jersey abgeschliffenen Email‐ le. Dagegen wirkt Excellency mit seinem Lack in leuchten‐ dem Orange und seinen goldgeränderten Lettern schmuck und vergnügt – er hat etwas vom Zirkuswagen, wie Charlie vorhin bemerkt hat. Der ältere, kleinere der beiden Mechaniker, der einen Tick freundlicher ist, winkt Ahmed an die offene Tür der Fahrerkabine. Seine Hände, mit ölverschmierten Finger‐ kuppen, deuten auf ein ungewöhnliches Element zwischen den Sitzen – einen Metallkasten von der Größe einer Zi‐ garrenkiste, in militärischer Tarnfarbe gestrichen, mit zwei Knöpfen obendrauf und isolierten Kabeln, die von dort in den Laderaum des Lasters führen. Da der Zwischenraum zwischen Fahrer‐ und Beifahrersitz tief und deshalb nur schwer zu erreichen ist, ruht das Gerät nicht auf dem Kabi‐ nenboden, sondern auf einem umgedrehten Milchflaschen‐ kasten und ist zur Sicherheit mit Isolierband am Kastenbo‐ den befestigt. Auf der einen Seite des Zünders – denn darum muss es sich handeln – befindet sich ein gelber Kontakt‐ hebcl und in der Mitte, in einer daumengroßen Kuhle von etwa einem Zentimeter Tiefe, ein blanker roter Knopf. Die farbliche Kodierung gemahnt an militärische Beschränkt‐ heit, an unwissende junge Männer, die nach den denkbar simpelsten Prinzipien ausgebildet werden; der versenkte Knopf soll vor einer versehentlichen Detonation bewahren. Der Techniker erklärt Ahmed: «Hebel da – Sicherheits‐ 317
hebel. Schieben rechts» – klick –, «so, Gerät scharf. Dann drücken Knopf und festhalten – buuum. Viertausend Kilo Ammoniumnitrat hinten. Zweimal, was McVeigh hatte. So viel nötig, um Stahlwandung von Tunnel brechen.» Zur Il‐ lustration beschreiben seine Hände mit den schwarzen Fin‐ gerkuppen einen Kreisbogen. «Tunnel», wiederholt Ahmed dümmlich, denn von ei‐ nem Tunnel hat ihm gegenüber bisher keiner gesprochen. «Welcher Tunnel denn?» «Lincoln», antwortet der Mann, leicht erstaunt zwar, aber mit weniger Emotion als beim Umlegen eines Hebels. «Lastwagen in Holland nicht erlaubt.» Ahmed verarbeitet das stumm. Der Mann wendet sich an Charlie. «Er wissen?» «Jetzt weiß er’s», sagt Charlie. Der Mann schenkt Ahmed ein zahnlückiges Lächeln; seine Freundlichkeit nimmt zu. Seine gleitenden Hände beschreiben einen weiteren Kreis. «Stoßverkehr, mor‐ gens», erläutert er. «Von Jersey‐Seite. Tunnel rechts nur für Lastwagen. Neuster Bau von drei, neunzehneinundfünf‐ zig. Neuster, aber nicht stärkster. Ältere Bauweise besser. Zwei Drittel durch, Schwachstelle, wo Tunnel Kurve macht. Auch wenn Außenwandung halten und Wasser nicht rein, Lüftungssystem futsch. Alle ersticken. Rauch, Druck. Für dich, kein Schmerz, auch nicht Panikmoment. Nur Glück über Erfolg und warmer Empfang von Gott.» Ahmed erinnert sich an einen Namen, der vor Wochen gefallen ist. «Sind Sie Mr. Karini?» «Nein, nein», sagt er. «Nein, nein, nein. Nicht mal Freund. Freund von Freund – alle kämpfen für Gott gegen Amerika.» Der jüngere Techniker, der nicht viel älter als Ahmed ist, 318
hört das Wort «Amerika» und sprudelt hitzig einen langen arabischen Satz hervor, den Ahmed nicht versteht. «Was hat er gesagt?», fragt er Charlie. Charlie zuckt die Achseln. «Das Übliche.» «Bist du sicher, dass das hier funktionieren wird?» «Massiven Schaden richtet es mal mindestens an. Es stellt was klar. Überall auf der Welt wird es in den Schlagzei‐ len stehen. Auf den Straßen von Damaskus und Karatschi werden sie tanzen – wegen dir, Medizinmann.» Der ältere, namenlose Mann setzt hinzu: «In Kairo auch.» Über quadratische, lückenhafte, nikotinverfärbte Zähne hinweg sendet er sein gewinnendes Lächeln aus, klopft sich mit der Faust an die Brust und sagt zu Ahmed: «Ägypter.» «Das war mein Vater auch!», ruft Ahmed aus; um die Ver‐ bindung weiter auszuloten, fällt ihm jedoch nur die Frage ein: «Wie finden Sie Mubarak?» Das Lächeln verblasst. «Werkzeug von Amerika.» Wie um bei einem Spiel mitzutun, fragt Charlie: «Die Saudi‐Prinzen?» «Werkzeuge.» «Und wie ist’s mit Muammar al‐Qadaffi?» «Jetzt: auch Werkzeug. Sehr traurig.» Ahmed stört es, dass sich Charlie in das Gespräch zwi‐ schen denjenigen einmischt, die doch immerhin die Haupt‐ darsteller sind, zwischen dem Techniker und dem Märtyrer; es ist, als könne man ihn, nachdem man sich seiner Bereit‐ schaft zum Märtyrertum versichert hat, beiseite schieben. Ein Werkzeug. Um sich zu behaupten, fragt er: «Osama bin Laden?» «Großer Held», antwortet der Mann mit den ölgeschwärz‐ ten Fingern. «Nicht zu fangen. Wie Arafat. Ein Fuchs.» Er lächelt, hat jedoch den Zweck dieses Treffens nicht verges‐ 319
sen. So deutlich, wie er nur kann, sagt er: «Zeig mir, was du machen werden.» Den Jungen überkommt ein eisiges Gefühl, als hätte die Wirklichkeit eine Schicht ihrer dicken Vermummung abge‐ worfen. Er überwindet seine Abneigung gegen den häss‐ lichen, unscheinbaren Laster, der so entbehrlich ist wie er selbst. Während sich seine Hand auf den Zünder zubewegt, zieht er ein fragendes Gesicht. Der stämmige Techniker lächelt und beruhigt ihn. «Ist okay. Nicht angeschlossen. Zeig mir.» Der kleine gelbe, im Querschnitt L‐förmige Hebel berührt, so kommt es Ahmed vor, seine Hand, nicht seine Hand den Hebel. «Ich lege den Hebel hier nach rechts um» – er spürt einen harten Widerstand, dann wird der He‐ bel, wie durch Magnetkraft, in die «Aus»‐Stellung gesaugt, um neunzig Grad nach rechts – «und drücke den Knopf hier drin runter.» Unwillkürlich schließt er die Augen, als er den Knopf einen Zentimeter einsinken spürt. «Und unten halten», wiederholt sein Lehrer, «bis –» «Buuum», ergänzt Ahmed. «Ja», bestätigt der Mann; die Silbe schwebt wie Dunst in der Luft. «Du bist sehr mutig», sagt, so gut wie akzentfrei, der jün‐ gere, größere und dünnere der beiden Unbekannten. «Er ist ein treuer Sohn des Islam», erklärt ihm Charlie. «Wir beneiden ihn alle, was?» Wieder verspürt Ahmed Ärger über Charlie, weil dieser sich wie ein Besitzer aufspielt, wo ihm nichts gehört. Nur dem Täter gehört diese Tat. Dass Charlie mit seinem Verhalten den Chef hervorkehrt, den auch noch andere Dinge beschäftigen, stellt die Unbedingt‐ hek von istischhād und die verzückte, ehrfürchtige Scheu des istischhādi in Zweifel. 320
Vielleicht spürt der Techniker diesen leichten Mangel an Übereinstimmung zwischen den Kriegern, denn er legt Ahmed eine väterliche Hand auf die Schulter, wodurch er das weiße Hemd des jungen mit öligen Fingerabdrücken beschmutzt, und verkündet den andern beiden: «Sein Weg ist gut. Wird Held für Allah.» Als sie wieder in dem heiter orangefarbenen Laster sit‐ zen, bemerkt Charlie vertraulich: «Interessant zu beobach‐ ten, wie sie denken. Werkzeuge, Held: keine Nuancen da‐ zwischen. Als hätten Mubarak und Arafat und die Saudis nicht alle ihre spezielle Situation zu bedenken und an ihrem eigenen raffinierten Spiel zu stricken.» Wieder schlägt Charlie einen Ton an, der auf Ahmed mit seinem neuerdings gestiegenen und vereinfachten Selbst‐ wertgefühl ein wenig falsch wirkt. Relativismus kommt ihm zynisch vor; höflich erhebt er Einspruch. «Vielleicht ist ja Gott selbst einfach und bedient sich zur Gestaltung der Welt einfacher Menschen.» «Die Werkzeuge sind», sagt Charlie und starrt unbelustigt geradeaus durch die Windschutzscheibe, die Ahmed jeden Morgen reinigt, die aber im Lauf des Tages dennoch wieder schmutzig wird. «Wir sind alle Werkzeuge. Gott segne die hirnlosen Werkzeuge – was, Medizinmann?» Tatsächlich nimmt von Ahmed in den Tälern zwischen den Wellen von Panik und darauf folgender Inbrunst eine ge‐ wisse Einfachheit Besitz, und ungeduldig sehnt er sich nur noch danach, es endlich hinter sich zu haben, was immer «er» dann sein wird. Er existiert in enger Nachbarschaft zum Unvorstellbaren. Die Welt mit ihren sonnenklaren Einzel‐ heiten, mit dem feinen Glitzern ihrer verzahnten Rädchen, gähnt rings um ihn, eine gleißende Schale voll geschäftiger 321
Leere, während in ihm eine konzentrierte, schwarze Gewiss‐ heit herrscht. Er kann die Verwandlung nicht vergessen, die ihn gleichsam nach dem Klicken des Kameraverschlusses erwartet, obwohl auf seine Sinne noch immer in der vertrau‐ ten Weise Bilder und Geräusche, Gerüche und Geschmacks‐ erfahrungen einprasseln. Der Glanz des Paradieses flutet rückwärts, sickert in Ahmeds Alltagsleben ein. Groß wird sich dort alles anfühlen, wird kosmische Dimensionen ha‐ ben; in seiner Kindheit, nur wenige Jahre nach dem Beginn dieses Lebens, hat Ahmed beim Einschlafen oft ein Gefühl von Größe erfahren, hat jede Zelle als eine Welt erlebt, und dies demonstrierte seinem kindlichen Verstand die Wahr‐ heit der Religion. Seine Arbeitszeit bei Excellency ist verkürzt worden, und es bleiben ihm Stunden der Muße, in denen er im Koran lesen oder die aus überseeischen Quellen leicht erhältlichen Broschüren studieren sollte, verfasst und gedruckt zur Vor‐ bereitung – durch Waschungen, durch das Reinigen des Geistes – eines schahid auf sein Ende, oder auf ihr Ende, denn auch Frauen wird nun in Palästina das Märtyrer Privi‐ leg gewährt, und ihre weiten schwarzen Burqas verbergen gut ihre sprengstoffstarrenden Westen. Doch Ahmeds Geist flattert zu sehr, um sich in Studien zu versenken. Sein gan‐ zes Wesen steht so unter einem Bann wie vielleicht dasjeni‐ ge des Propheten, als er nach Gabriels Diktat die göttlichen Suren entgegennahm. Jede Minute hat für Ahmed die inni‐ ge Ambiguität des Gebets angenommen – als Erlösung vom Ich, indem er sich zur Seite wendet, und als Hinwendung, nicht zu sich selbst, sondern zu einem Anderen, einem Sein, das ihm so nah ist wie seine Halsschlagader. Mehr als fünf‐ mal am Tag findet er Gelegenheit, zumeist auf dem kahlen Parkplatz der Firma, seine Matte nach Osten hin auszubrei‐ 322
ten und mit der Stirn die Erde zu berühren, wobei ihm jedes Mal, durch den Beton, der intime Trost der Unterwerfung zuteil wird. Die drückende schwarze Schlacke, die in ihm rumort, verzerrt seine Wahrnehmung der Welt und ziert jeden Zweig, jeden Telefondraht mit Juwelen, die er nie zuvor bemerkt hat. Am Samstagmorgen, bevor das Geschäft geöffnet hat, sitzt er auf einer Stufe der Laderampe und beobachtet auf dem Beton des Parkplatzes einen schwarzen Käfer, der zappelnd auf dem Rücken Hegt. Der Tag ist der elfte September; es herrscht noch immer Sommer. Schräg fällt die frühe Sonne auf die rauc, bleiche Fläche, mit einer Milde, in der bereits die Hitze des kommenden Tages so angelegt ist wie ein Sa‐ menkorn, das noch nicht gekeimt hat, die spätere Blüte in sich birgt. In ihren Sprüngen lässt die Betonfläche Unkraut sprießen, die hoch wachsenden wilden Pflanzen der dahin‐ schwindenden Jahreszeit mit ihrem milchigen Speichel und ihren pelzigen, vom üppigen Tau des Herbstes feuchten Blättern. Der Himmel darüber ist wolkenlos, bis auf ein paar faserige Zirrusfetzen und die verschwimmende Schleppe eines Jets. Sein reines Blau ist noch sanft, pudrig, denn es war eben erst in Nacht und Sterne getaucht. Die winzigen schwarzen Beine des Käfers wedeln in der Luft, tasten nach irgendeinem Halt, an dem er sich aufrichten kann, und wer‐ fen deutliche, durch den morgendlichen Einfallwinkel der Sonnenstrahlen verlängerte Schatten. Die Beine des kleinen Geschöpfs wackeln und strampeln mit einem Ungestüm, das wie Wut aussieht, und halten dann jäh inne, nachdenk‐ lich, wie es scheint, als suche der Käfer nach einem Ausweg aus seiner misslichen Lage. Wo ist dieser Käfer hergekommen?, fragt sich Ahmed. Wie ist er hier hingefallen, wo er seine Flügel anscheinend nicht gebrauchen kann? Der Kampf be‐ 323
ginnt von neuem. Wie präzise doch die Schatten seiner Bei‐ ne sind, wie getreu und mit allumfassender Liebe geworfen von Lichtquanten, die dreiundneunzig Millionen Meilen bis zu exakt diesem Punkt hier zurückgelegt haben! Ahmed erhebt sich von der derben Holzstufe, steht nun wie ein Gebieter über dem Insekt und fühlt sich riesengroß. Und doch scheut er davor zurück, dieses mysteriöse, abge‐ stürzte bisschen Leben zu berühren. Vielleicht ist sein Biss giftig, oder es wird sich, wie ein winziger Sendbote der Höl‐ le, an seinen Finger heften und nie mehr loslassen. Manch ein Junge – Tylenol zum Beispiel – würde dieses störende Wesen einfach zertreten, doch diese Möglichkeit besteht für Ahmed nicht: Eine breit getretene Leiche würde ent‐ stehen, ein wüster Matsch aus winzigen Körperteilen und ausgetretenen Lebenssäften, und er gedenkt keinesfalls, ein solches organisches Grauen anzurichten. Er sieht sich rasch nach einem Werkzeug um, nach etwas Steifem, wo‐ mit er das Insekt umdrehen könnte – mit so einem kleinen, dunklen Pappstreifen zum Beispiel, durch den die beiden Teile eines Mounds‐Riegels zu einer Einheit werden oder der eine Doppelpackung von Reese’s Peanut Butter Cup verstärkt –, sieht aber nichts Geeignetes. Excellency Wohn‐ bedarf ist bemüht, sein Privatgelände abfallfrei zu halten. Die afroamerikanischen «Muskelpakete» und Ahmed selbst sind schon mit grünen Müllsäcken zum Ordnungschaffen hinausgeschickt worden. Einen zufällig umherliegenden Spatel entdeckt er nicht, hat jedoch plötzlich eine Einge‐ bung und erinnert sich, dass sich in seinem Portemonnaie der Führerschein befindet, ein Plastikrechteck, in das ein mürrisches, unschmeichelhaftes Foto von ihm eingelassen ist, neben einigen numerischen Daten, die dem Staat New Jersey wichtig sind, sowie, als Fälschungen verhinderndes 324
Hologramm, eine Abbildung des Großsiegels von New Jer‐ sey. Hiermit gelingt es ihm, nach ein paar zu zaghaften, zim‐ perlichen Versuchen, das kleine, seiner Barmherzigkeit aus‐ gelieferte Geschöpf herumzuschnippen und auf die Beine zu bringen. Die Sonne entlockt dem zweigestaltigcn Panzer aus gefalteten Flügeln schillernde, violette und grüne Fun‐ ken. Ahmed begibt sich zu seinem Hochsitz auf der Treppe zurück, um sich an dem guten Ausgang seiner Rettung‐ sei‐ nes barmherzigen Eingriffs in die natürliche Ordnung – zu erfreuen. Flieg davon; flieg davon. Doch der Käfer, dessen schimmernder Körper nun richtig herum auf seinen sechs Beinen über dem rauen Beton steht, kriecht nur einen Bruchteil seiner eigenen Länge weiter, dann rührt er sich nicht mehr. Suchend schwanken seine Fühler, dann stehen auch sie still. Für fünf Minuten, die wie eine Ewigkeit anmuten, schaut Ahmed hin. Er schiebt den Führerschein mit seinen gewichtigen chiffrierten Informa‐ tionen wieder ins Portemonnaie. Außer Sichtweite sausen auf dem Reagan Boulevard Autos vorüber, aus denen Rap‐ Musik dröhnt; der Lärm schwillt an und verebbt. Ein Flug‐ zeug, das in Newark gestartet ist, gewinnt rüttelnd an Höhe und steigt in den erstarrenden Himmel auf. Der Käfer, ge‐ paart mit seinem kaum merklich schrumpfenden Schatten, bleibt still. Als er auf dem Rücken lag, hatte er im Todeskampf ge‐ legen; nun ist er tot, und die Großmut, die er hinterlässt, ist nicht von dieser Welt. Was Ahmed da so sonderbar wie unter dem Vergrößerungsglas erlebt hat, war eine übernatürliche Erfahrung, dessen ist er sich sicher. 325
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V Der Minister ist schlecht gelaunt, und seine getreue Un‐ terstaatssekretärin leidet. Seine Launen durchdringen Hermione wie die Bugwelle eines Schnellboots eine dahin‐ schwebende Qualle. Zunächst einmal hasst er es, wie sie weiß, an einem Sonntag ins Büro zu müssen; es unterbricht seine kostbaren Nachmittage der Muße mit Mrs. Haffen‐ reffer und der Familie, sei es, dass sie einem Spätsaison‐ Spiel der Orioles oben in Baltimore gewidmet sind oder einem Bummel durch den Rock Creek Park, für welchen all die vielen Kinder laufsportlich gekleidet sind, bis auf das fünfte, jüngste, das mit seinen drei Jahren noch im Jogger‐Buggy dahinsausen darf. Miss Fogel kann auf des Ministers Gattin und Familie unmöglich eifersüchtig sein; sie bekommt sie so gut wie nie zu Gesicht, und sie sind ein unsichtbarer Teil von ihm, wie die schicklich in seinem blauen Anzug und seinen Boxershorts verborgenen Par‐ tien. Im Geiste jedoch begleitet sie ihn manchmal und er‐ träumt sich ein hausväterliches Wesen, lockerer, als es der angespannte Schattenkämpfer in seinem beengten Eck‐ büro ist. Hermione spürt sogleich, dass sich der Minister – nun, da die sumpfige Sommerhitze endlich gebrochen ist 327
und die Erlen und Platanen um die Mall auf ihren breiten Blättern Anzeichen von würdevoller Ermattung aufwei‐ sen –, hinaus ins Freie sehnt. Die gespannte Wölbung auf dem Rücken seines sehr dunklen Anzugjacketts verrät es ihr. Früher trugen Männer zu amerikanischen Tätigkeiten blaue oder braune Anzüge – als sie an der Pleasant Street wohnten, pflegte sich Daddy eine geschlagene Woche lang in demselben braunen Nadelstreifenanzug mit Weste aus dem Haus und zur Tram zu begeben –, heute jedoch ist der einzige seriöse Farbton schwarz oder ein nahezu schwarzes Marineblau, Zeichen der Trauer um die verflossenen Zei‐ ten wohlfeiler Freiheit. In letzter Zeit haben ihn die banalen, gleichwohl von den Medien hochgespielten Sicherheitslücken an Flughäfen aufgebracht. Anscheinend kann jeder schmierige Reporter und schlagzeilengeile demokratische Abgeordnete, der will, triumphierend Messer, Totschläger und geladene Revolver schwenken, die erfolgreich die Handgepäckscanner passiert haben. Sie beide, Minister und Unterstaatssekretärin, haben Schulter an Schulter hinter dem Sicherheitspersonal gestan‐ den und sich langsam von der endlosen Prozession geister‐ hafter Kofferinnereien hypnotisieren lassen, die in unwirk‐ lichen Farben aufleuchteten – in Cyangrüns, Pfirsich‐ und Hauttönen, Sonnenuntergangslilas und dem verräterischen Mitternachtsblau von Metall. Auto‐ und Hausschlüsselbün‐ de mit ihren Ringen, Kettchen und Souveniranhängern, die sich wie Spielkarten auffächerten; stahlgerahmte Brillen, die leer und unverfroren aus Stoffetuis glotzten; Reißver‐ schlüsse wie die Skelette kleiner Schlangen; blasige Klum‐ pen von Münzen, in Hosentaschen vergessen; Sternbilder von Gold‐ und Silberschmuck; die duftigen Reihen der Ösen in Sneakers und Schuhen; die winzigen Metallknöpfe 328
und ‐zahnräder von Reiseweckern; Haartrockner, elek‐ trische Rasierapparate, Walkmans, Miniaturkameras: Alle tragen sie ihre tiefblauen Kieselalgenstrukturen zum fahlen, bleichen Wust der abgelenkten Kathodenstrahlen bei. Kein Wunder, dass gefährliche Waffen immer wieder Blicken ent‐ gehen, die vom achtstündigen Entziffern zweidimensiona‐ ler Bilder dicht gedrängter Reiseausstattungen getrübt sind, von der unaufhörlichen Suche nach dem Tumor des Bösen, den plötzlich auftauchenden Umrissen tödlicher Absichten in einem Strom von alltäglich‐harmlosen amerikanischen Leben, auf ihre Kernelemente komprimiert – das Rüst‐ zeug, das man für einen Aufenthalt von ein paar Tagen in einer anderen Stadt oder einem anderen Staat gemäß jenen materialistischen Vorstellungen von Komfort benötigt, die weltweit zu unserer abnormen Norm geworden sind. Eine Nagelschere oder Stricknadeln – während diese geortet und konfisziert werden, passieren zehn Zentimeter lange Messer, als von der Seite gesehene Schuhgelenke verkannt, die Kontrolle, und eine vorwiegend aus Plastik bestehende kleine Pistole schlüpft durch, mit Klebeband in einem Zinn‐ napf verstaut, der, wenn seine dunkle Scheibensilhouette Nachfragen auslöst, als Geschenk für ein Baby ausgegeben wird, das morgen in Des Moines getauft werden soll. Stets endet die Inspektion, notgedrungen, damit, dass der Minis‐ ter den unterbezahlten Wachhunden auf die uniformierten Schultern klopft und «Weiter so» zu ihnen sagt; sie verteidi‐ gen die Demokratie. Er kehrt seinen schwarzen Anzug von dem strahlend hel‐ len Ausblick auf die Ellipse und die Mall ab, auf die durch‐ trampelten Gefilde, wo sie grasen, die Schafe von Bürgern in ihren Jogginganzügen, polychromen Shorts und Lauf‐ schuhen, deren Form an die Raumschiffe in den Comics der 329
dreißiger Jahre gemahnt. «Ich frage mich», vertraut er Her‐ mione an, «ob wir die Alarmstufe für die mittlere Atlantik‐ region nicht wieder auf Orange hochsetzen sollten.» «Verzeihen Sie, Sir», sagt sie, «ich spreche gelegentlich mit meiner Schwester in New Jersey, und ich bin mir nicht so sicher, ob die Leute da eigentlich wissen, wie sie sich anders verhalten sollen, wenn die Alarmstufe erhöht wird.» Hierauf malmt der Minister mit seinen kräftigen, klein‐ lauten Kaumuskeln einen Moment lang, dann stellt er fest: «Nein, aber die Zuständigen wissen es. Sie setzen ihre eige‐ nen Stufen hoch; sie haben eine ganze Palette von Notfall‐ maßnahmen.» Doch schon während er diesen beruhigenden Satz ausspricht, ärgert er sich – wie Hermione daran erkennt, dass seine noblen Augen unter den ganz und gar virilen, jedoch schön geschwungenen brünetten Brauen schmal werden – wieder einmal über die klaffende Lücke zwischen seinem vereinzelten, isolierten Willen und den Scharen effizienter oder gleichgültiger, korrupter oder untadeliger Beamter, die, wie gefranste Nervenenden, den Kontakt zu der breiten, trägen, sorglosen Masse der Bevölkerung her‐ stellen – oder eben nicht. Hilflos bemerkt Hermione: «Aber ich glaube, die Leute wissen es doch zu schätzen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas unternommen wird, und zwar von einem ganzen Mi‐ nisterium, das sich mit Hingabe ihrer nationalen Sicherheit widmet.» «Mein Problem ist», bricht es aus dem nun seinerseits hilflosen Minister hervor, «dass ich dieses verdammte Land so sehr liebe. Darum kann ich mir nicht vorstellen, warum es jemand zu Fall bringen will. Was haben diese Leute denn stattdessen anzubieten? Immer noch mehr Taliban – noch mehr Unterdrückung von Frauen, noch mehr Sprengungen 330
von Buddhastatuen. Die Mullahs im Norden von Nigeria geben die Parole aus, die Leute sollen ihre Kinder nicht gegen Polio impfen lassen, und dann werden die Kinder gelähmt zur Krankenstation gebracht! Erst treiben sie ihr einheimisches Hokuspokus bis zum Exzess, und erst wenn die Kinder vollständig gelähmt sind, werden sie uns ge‐ bracht.» «Sie fürchten, etwas zu verlieren, was ihnen kostbar ist», sagt Hermione, bebend im Begriff, eine neue Ebene (die Nuancen sind subtil und werden strikt im Rahmen dessen gewährt, was sich in einer durch und durch republikanisch‐ christlichen Regierung ziemt) der Intimität zu erklimmen. «So kostbar, das sie bereit sind, ihre eigenen Kinder dafür zu opfern. Das kommt auch in diesem Land vor, in den ex‐ tremen Sekten, wo irgendein charismatischer Führer seinen Leuten jede Vernunft austreibt. Die Kinder sterben, und dann heulen die Eltern vor Gericht und werden freigespro‐ chen – weil sie selbst Kinder seien. Beängstigend, wie Er‐ wachsene die Macht über ihre Kinder missbrauchen kön‐ nen. Wenn ich mir das so ansehe, bin ich offen gestanden froh, dass ich nie welche bekommen habe.» Ist das ein Antrag? Eine Klage darüber, dass sie hier zwar gemeinsam am Rande eines herrlichen Sonntags in der Hauptstadt der größten Nation auf Erden stehen, sie jedoch eine alte Jungfer ist und er ein verheirateter Mann, durch die Gelübde seiner Religion daran gebunden, spirituell und juristisch eine Einheit mit der Mutter seiner Kinder zu bilden? Es sollten ihre Kinder sein. Da sie im Regierungs‐ betrieb zwölf, vierzehn Stunden täglich im selben Raum oder in angrenzenden Zimmern verbringen, bilden sie ge‐ rade so eine Einheit, als wenn sie verheiratet wären. Seine Frau kennt ihn ja kaum, im Vergleich zu Hermione. Dieser 331
Gedanke befriedigt sie so, dass sie rasch ein unwillkürliches Lächeln von ihrem Gesicht tilgen muss. «Verdammt!», stößt er hervor, denn seine Gedanken sind ihren eigenen Bahnen gefolgt und auf die leidige Angele‐ genheit geprallt, die ihn an diesem angeblich der Ruhe ge‐ weihten Tag in sein Büro zurückgeführt hat. «Ich hasse es, einen Verbindungsmann zu verlieren. Wir haben so wenige davon in der muslimischen Gemeinde – das ist eine unserer Schwächen, deswegen haben sie uns auch mit runtergelas‐ senen Hosen erwischt. Wir haben einfach nicht genug ara‐ bischsprechende Quellen, und die Hälfte von denen, die wir haben, denkt nicht so wie wir. Die Sprache hat etwas Eigenartiges an sich – irgendwie macht sie die Leute debil. Dieses Internet‐Geschnatter – Der Himmel wird sich spalten unter dem westlichen Wadi. Das Licht wird Einlass finden. Was zum Teufel soll dieser Quatsch bloß heißen! Entschuldi‐ gung, Hermione.» Mit verzeihendem Gemurmel honoriert sie die neue Ebene von Intimität. Er fährt fort: «Unser Problem ist, dass die Quelle uns Dinge vorenthalten hat – er wollte zu viele Karten selbst ausspielen. Er hat sich nicht an die vorgegebene Linie ge‐ halten. Großes Kesseltreiben, dann die Enthüllung: So et‐ was hat ihm vorgeschwebt, wie im Film – und wer sollte wohl der Star sein? Er. Wir wissen über die Geldschleuse in Florida Bescheid, aber der Mann mit der Schatulle ist ver‐ schwunden. Ihm und seinem Bruder gehört ein Discount‐ Möbelhaus im Norden von New Jersey, aber da geht keiner ans Telefon, und niemand kommt an die Tür. Wir wissen etwas über einen Lastwagen, aber nicht, wo der steckt und wer ihn fährt. Das Sprengstoff‐Team besteht aus vier Leu‐ ten, zwei davon haben wir, aber die reden nicht, oder der 332
Dolmetscher sagt uns nicht, was sie sagen. Alle decken sie einander, sogar die, die auf unserer Gehaltsliste stehen – nicht mal den eigenen Rekruten kann man mehr trauen. Das Ganze ist ein grauenhafter Schlamassel, und wie nicht anders zu erwarten, muss die Leiche auch noch an einem Sonntagmorgen auftauchen!» Don, wo sie beide herkommen, in Pennsylvania, kann man den Leuten vertrauen, so viel weiß Hermione. Ein Dollar ist dort noch ein Dollar, eine Mahlzeit eine Mahlzeit, eine Abmachung eine Abmachung. Rocky sieht so aus, wie ein Boxer aussehen sollte, und unehrliche Männer rauchen Zigarren, tragen karierte Anzüge und blinzeln viel. Sie und der Minister haben sich weit entfernt von diesem reinen Land der herzerwärmenden Ehrlichkeit, der Reihenhäu‐ ser, deren Hausnummern in das farbige Glas der immer gleichen Lünetten über den Türen eingelassen sind, dem Land der Bergarbeitersöhne, die als Quarterbacks zu Stars werden, der im eigenen Fett brutzelnden Schweins wurste und mit Ahornsirup übergossenen Fleischpasteten – Ge‐ richte, die keinen Hehl daraus machen, dass sie Choles‐ terinbomben sind. Hermione verzehrt sich danach, den Minister zu trösten, ihren mageren Körper als heilende Packung auf die Schwäre überwältigender Verantwortung zu legen, die ihn so schmerzt; sie möchte sein kerniges Ge‐ wicht, das ihm den zwingend vorgeschriebenen schwarzen Anzug ausbeult, auf ihr knochiges Gestell ziehen und ihn auf ihrem Becken wiegen. Stattdessen fragt sie: «Wo liegt denn das Möbelhaus?» «In einer Stadt namens New Prospect. Kein Mensch kommt da je hin.» «Meine Schwester wohnt dort.» «So? Sie sollte sich davonmachen. Es wimmelt dort nur 333
so von Arabern – Araboamerikanern, sagt man jetzt. Die alten Fabrikbetriebe haben sie ins Land geholt und sind dann eingegangen, einer nach dem anderen. So, wie’s jetzt aussieht, produziert Amerika bald gar nichts mehr. Außer Filmen, und die werden von Jahr zu Jahr beschissener. Was waren meine Frau und ich – Sie haben Grace doch kennen gelernt, oder? – früher filmbegeistert, ständig sind wir ins Kino gegangen, bevor die Kinder kamen und wir Babysitter brauchten. Judy Garland, Kirk Douglas – die haben noch gute, ehrliche Leistungen für ihr Geld geboten, in jeder Rolle, zu hundert Prozent. Was man jetzt so von diesen blutjungen Darstellern hört – die Frauen wollen ja nicht mehr als Filmschauspielerinnen bezeichnet werden, jeder ist jetzt Darsteller –, ist immer nur Trunkenheit am Steuer und die nächste uneheliche Schwangerschaft. Damit brin‐ gen sie diesen armen schwarzen Mädchen bei, dass es ganz was Tolles ist, ein Baby in die Welt zu setzen ohne einen Vater – außer Onkel Sam. Der kriegt dann zwar die Rech‐ nungen, aber keinen Dank: Sie haben schließlich ein Recht auf Stütze. Wenn dieses Land irgendeinen Fehler hat – und ich behaupte nicht einmal, dass es ihn hat, verglichen mit sämtlichen anderen, Frankreich und Norwegen eingeschlos‐ sen –, dann den: Wir haben zu viele Rechte und zu wenig Pflichten. Wenn die arabische Liga erst das Land über‐ nimmt, dann werden die Leute schon lernen, was Pflichten sind.» «Vollkommen richtig, Sir.» Das «Sir» soll ihn an sich selbst erinnern, an seine Pflichten in der augenblicklichen Ausnahmesituation. Er hat es vernommen. In übellauniger Versonnenheit wendet er sich wieder dem Anblick der Hauptstadt in ihrer Sonntagsruhe zu, der Aussicht auf das Tidebecken in der 334
Ferne und auf den glatten weißen Knubbel des Jefferson Memorial, ein Observatorium ohne die Öffnung für das Fernrohr. Heute wirft man Jefferson vor, dass er an seinen Sklaven festhielt und mit einer seiner Sklavinnen Kinder zeugte, nur vergessen die Leute die ökonomischen Zusam‐ menhänge zur damaligen Zeit und die Tatsache, dass Sally Hemmings sehr hellhäutig war. Eine herzlose Stadt, denkt der Minister, ein Geflecht aus leicht entgleitenden Machtbefug‐ nissen, ein Feld, aus dem versprengt weiße Prachtgebäude aufragen wie die Eisberge, inmitten deren die Titanic ge‐ sunken ist. Er dreht sich um und erklärt seiner Unterstaats‐ sekretärin: «Wenn diese Sache in New Jersey hochgeht, gibt’s für mich keine weichen Aufsichtsratssessel mehr. Keine Rednerhonorare. Keinen siebenstelligen Vorschuss auf meine Memoiren.» So etwas sollte ein Mann allenfalls seiner Frau eingestehen. Hermione ist schockiert. Er ist ihr näher gekommen, in ihrer Achtung jedoch gesunken. Während sie noch versucht, ihn als schönen, selbstlosen Diener des Gemeinwesens in Erinnerung zu behalten, bemerkt sie ein wenig spitz: «Herr Minister, niemand kann zwei Herren dienen. Der Mammon ist der eine; den anderen zu benennen, wäre anmaßend von mir.» Der Minister nimmt dies in sich auf, blinzelt mit seinen überraschend hellblauen Augen und schwört: «Gott sei Dank, dass ich Sie habe, Hermione. Natürlich. Vergessen wir den Mammon.» Er lässt sich an seinem dürftigen Schreib‐ tisch nieder, tippt ungestüm piepsende Dreiergruppen von Codeziffern in das elektronische Gerät und lehnt sich in sei‐ nem ergonomisch korrekten Schreibtischstuhl zurück, um in die Sprechanlage zu bellen. 335
Hermione ruft gewöhnlich nicht sonntags an. Sie tut es lieber an Wochentagen, wenn Jack wahrscheinlich nicht zu Hause ist. Sie hat Jack noch nie viel zu sagen gehabt, was Beth ein wenig kränkend fand; es war, als trage Hermione die lächerlichen antisemitischen Vorurteile ihrer luthera‐ nischen Eltern weiter. Zudem ist Beth zu dem Schluss ge‐ kommen, dass ihre «große» Schwester sich an einem Werk‐ tag in die Ausrede flüchten kann, ihr anderes Telefon blinke rot, wenn sie meint, Beth werde zu weitschweifig. Heute jedoch ruft Hermione an, als die Kirchenglocken läuten, und Beth freut sich, ihre Stimme zu hören. Sie möchte ihr eine gute Neuigkeit mitteilen. «Herm, ich hab da so eine Diät angefangen, und in nur sechs Tagen hab ich fünf Kilo abgenommen!» «Die ersten Kilos sind die leichtesten», sagt Hermione; immer muss sie herabsetzen, was Beth tut oder sagt. «In dieser Phase verlierst du nur Wasser, und das kommt sofort wieder zurück. Die wirkliche Prüfung kommt dann, wenn du den Unterschied siehst und beschließt, dir zur Feier mal eine richtige Schlemmerei zu gönnen. Übrigens, ist das die Atkins‐Diät? Die soll gefährlich sein. Eine Unzahl von Leuten wollte ihn gerade verklagen, deswegen kam auch der Eindruck auf, irgendetwas könnte faul sein, als er ganz plötzlich starb.» «Nein, nur die Karotten‐und‐Sellerie‐Diät», sagt Beth. «Wenn ich das Bedürfnis habe, irgendwas zu knabbern, dann hol ich mir eine von diesen Minimöhrchen, die’s jetzt überall gibt. Weißt du noch, wie die Karotten früher mit den Farmerlastern aus Delaware nach Philly kamen, in Bündeln, noch voller Erde und Sand? Oh, wie ich das Ge‐ fühl gehasst habe, auf Sandkörner zu beißen – es knirschte so laut im Kopf! Die Gefahr besteht bei den Minimöhrchen 336
nicht; sie müssen aus Kalifornien kommen und sind alle auf genau die gleiche Größe zurechtgesehält. Das einzige Problem ist, dass sie schleimig werden, wenn sie zu lange in der verschweißten Packung bleiben. Bei Sellerie hast du das Problem, dass du nach ein paar Stängeln so einen komischen Faserklumpen im Mund hast. Aber ich bin fest entschlossen, bei der Stange zu bleiben. Cookies zu knab‐ bern, ist weiß Gott einfacher, aber jeder Bissen bedeutet zusätzliche Kalorien. Hundertdreißig pro Stück, hab ich zu meinem Schreck auf der Packung gelesen! Sie drucken das so teuflisch klein!» Merkwürdig, dass ihr Hermione noch nicht das Wort abgeschnitten hat; Beth weiß, wie langweilig sie ist, wenn sie vom Verzicht auf Essen redet, aber an etwas anderes kann sie nicht denken, und laut davon zu sprechen, hilft ihr, durchzuhalten, nicht rückfällig zu werden, trotz ihrer Schwindelanfälle und Magenkrämpfe. Ihr Magen begreift nicht, was sie ihm antut, warum er bestraft wird; er weiß nicht, dass er seit Jahren ihr ärgster Feind gewesen ist. Da liegt er unter ihrem Herzen und brüllt danach, gefüllt zu werden. Carmela mag schon gar nicht mehr auf ihrem Schoß liegen, so sprunghaft und reizbar ist sie geworden. «Und was hält Jack von dem allen?», fragt Hermione. Sie spricht ernst und ausgeglichen, eine Spur zögernd und gesetzt; sie wägt ihre Worte ab. Dabei ist diese Aussicht auf eine neue, schlanke, vorzeigbare Schwester doch etwas, worüber sie beide kichern könnten, wie sie es immer taten, als sie sich im Haus an der Pleasant Street noch ein Zim‐ mer teilten und einfach das Leben genossen. Als Hermione dann ernster und strebsamer wurde, konnte sie irgendwann nicht mehr kichern; munter zu sein, fiel ihr schwer. Beth fragt sich, ob Herm deswegen nie einen Mann gefunden hat 337
– sie verstand sich nicht darauf, Männer ihre Sorgen verges‐ sen zu lassen. Es mangelte ihr, wie Miss Dimitrova immer sagte, an ballonné. Beth senkt die Stimme. Jack ist im Schlafzimmer und liest; vielleicht hat er sich bereits in den Schlaf gelesen. An Central High hat der Unterricht wieder begonnen, und er hat sich bereit erklärt, einen Staatsbürgerkundekurs zu übernehmen, denn er sagt, er braucht mehr Kontakt zu den Kids, die er beraten soll. Sie entgleiten ihm, behauptet er. Er sei zu alt, behauptet er, aber das ist nur die Depression, die aus ihm spricht. «Er sagt nicht viel dazu», berichtet Beth in Antwort auf Hermiones Frage. «Ich glaube, er fürchtet, dann klappt es nicht. Aber er muss sich darüber freuen. Schließlich tue ich’s für ihn.» Wieder schießt Herm sie ab. «Ist das denn jemals eine gute Idee, etwas zu tun, weil man glaubt, der Mann wolle es? Ich frage nur – ich war ja nie verheiratet.» Die arme Hermione, das muss sie unentwegt beschäfti‐ gen. «Nun, du bist ja» – Beth zügelt ihre Zunge; Hermione sei ja so gut wie verheiratet, hat sie sagen wollen, mit ihrem Boss, diesem stiernackigen Hinterfeldspieler‐ «mindestens so lebenserfahren wie sonst wer – wie irgendeine Frau. Ich tu’s auch für mich selbst. Schon mit fünf Kilo weniger fühle ich mich so viel besser. Die Mädchen in der Bibliothek se‐ hen schon einen Unterschied – sie unterstützen mich sehr, obwohl ich mir in ihrem Alter nie hätte vorstellen können, dass meine Figur jemals außer Fasson geraten würde. Ich hab gesagt, ich würde gern beim Bücher‐Einstellen helfen, statt nur auf meinem fetten Hintern hinter dem Tresen zu sitzen und für Kids zu googlen, die zu faul sind, es selbst zu lernen.» «Wie findet Jack es denn, dass er nun anders essen soll?» 338
«Na ja, ich hab versucht, darauf zu achten, dass sich für ihn nichts ändert, und ihm weiter Fleisch und Kartoffeln vorgesetzt. Aber er sagt, er isst genau so gern mit mir zu‐ sammen Salate. Je älter er wird, sagt er, desto mehr widert es ihn an, überhaupt etwas zu essen.» «Das ist der Jude in ihm», wirft Hermione ein. «Oh, das glaube ich kaum», sagt Beth hochmütig. Hermione wird darauf so still, dass Beth sich fragt, ob die Verbindung unterbrochen ist. Im Irak jagen Terroristen Öl‐ leitungen und Kraftwerke in die Luft, nichts ist mehr völlig sicher. «Wie ist denn das Wetter bei euch da unten?», fragt Beth. «Immer noch heiß, sobald man aus dem Haus geht. Im September kann’s in Washington noch schwül sein. Die Bäume verfärben sich nicht so bunt, wie wir’s früher im Ar‐ boretum zu sehen bekamen. Die beste Jahreszeit ist hier der Frühling, wenn die Kirschen blühen.» «Heute», hebt Beth gerade an, da versetzt ihr ausgehun‐ gerter Magen ihr einen solchen Stich, dass sie nach der Leh‐ ne des Küchenstuhls greift, um sich abzustützen, «habe ich den Herbst in der Luft gespürt. Der Himmel ist so unend‐ lich klar, wie» – wie am elften September, wollte sie sagen, lässt es aber, denn es könnte vielleicht taktlos sein, gegen‐ über einer Unterstaatssekretärin im Ministerium für Hei‐ matschutz jenen legendären blauen Himmel zu erwähnen, der zum Mythos geworden ist, zu einer Ironie des Himmels, zu einem Teil der amerikanischen Legende wie das grell‐ rote Leuchten der Raketen. Sie müssen die gleichen Gedanken gehabt haben, denn Hermione fragt: «Erinnerst du dich, dass du einmal diesen jungen Araboamerikaner erwähnt hast, an dem Jack ein solches Interesse hatte und der, statt Jacks Rat zu folgen 339
und aufs College zu gehen, den Lkw‐Führerschein mach‐ te, weil der Imam an seiner Moschee ihn dazu aufgefordert hatte?» «Dunkel, Jack hat länger nicht von ihm gesprochen.» «Ist Jack da?», fragt sie. «Könnte ich mit ihm sprechen?» «Mit Jack?» Noch nie hat Hermione mit Jack sprechen wollen. «Ja, mit deinem Mann. Bitte, Betty. Es könnte wichtig sein.» Betty – immer noch. «Wie gesagt, er schläft vielleicht ein bisschen. Wir waren vorhin spazieren, damit ich Bewegung bekomme. Die Bewegung ist genauso wichtig wie das Diät‐ halten. Sie formt den Körper um.» «Könntest du bitte nachschauen gehen?» «Ob er wach ist? Sonst könnte ich ihm ja vielleicht etwas ausrichten. Ich meine, wenn er ein Nickerchen hält.» «Eher nicht. Ich würde lieber selbst mit ihm reden. Du und ich können ja unseren Plausch während der Woche hal‐ ten, wenn du dir deine Serien ansiehst.» «Die habe ich auch aufgegeben – ich bringe sie zu sehr mit Naschen in Verbindung. Und ich habe sie allmählich völlig durcheinander gebracht, all die vielen Gestalten. Ich geh mal nachsehen, ob er wach ist.» «Betty: Auch wenn er schläft – könntest du ihn we‐ cken?» «Das täte ich sehr ungern. Er schläft nachts so schlecht.» «Ich muss ihn ein paar Dinge fragen, Liebes, und zwar jetzt sofort. Sie lassen sich nicht aufschieben. Tut mir leid. Nur dies eine Mal.» Immer und ewig die ältere Schwester, die mehr weiß als Beth und ihr sagt, was sie zu tun hat. Wie‐ der liest Hermione durch das Telefon ihre Gedanken und ermahnt Beth liebevoll, mit einer Stimme, die wie die ihrer 340
Mutter klingt: «So, du – was auch geschehen mag, gib du ja deine Diät nicht auf.» Am Sonntagabend befürchtet Ahmed, er werde nicht schla‐ fen können in der Nacht, die die letzte seines Lebens sein wird. Der Raum, der ihn umgibt, ist ihm nicht vertraut. Hier, hat ihm Scheich Rashid versichert, als er früher am Abend mit ihm in diesem Zimmer stand, kann ihn keiner finden. «Wer sollte mich denn suchen?», hatte Ahmed gefragt. Sein kleiner, schmächtiger Mentor – als sie beide so ein‐ verständig nah beieinander standen, hatte es Ahmed als sonderbar erlebt, wie viel größer er nun geworden war als sein Meister, der während der Koranstunden sein Format um dasjenige des hochlehnigen Sessels mit den Silberfäden vermehrt hatte – antwortete mit dem flinken, brüsken Ach‐ selzucken, das ihm eigen war. An diesem Abend trug er nicht wie sonst einen schimmernden, bestickten Kaftan, sondern einen grauen Anzug westlichen Stils, als habe er sich für eine Geschäftsreise zu den Ungläubigen gerüstet. Wie sonst sollte man sich erklären, dass er sich den Bart abgenommen hatte, seinen präzis gestutzten, graumelierten Bart? Wie Ahmed sah, hatte der Bart eine Reihe kleiner Narben auf der wächsern bleichen Haut des Scheichs verborgen, Spuren irgendeiner im Westen ausgemerzten Krankheit, die er sich als Kind im Jemen zugezogen haben mochte. Zusammen mit diesen Unebenheiten war ein wenig ansprechender Zug an seinem violetten Mund zum Vorschein gekommen, ein ständiges maskulines Schmollen, das unauffällig unter dem Gesichtshaar gelauert hatte, wenn er so schnell, so verfüh‐ rerisch sprach. Der Scheich trug weder seinen Turban noch seine geklöppelte weiße ‘amāma; sein zurückweichender Haaransatz war entblößt. 341
In Ahmeds Augen geschrumpft, fragte der Imam: «Deine Mutter wird dich doch nicht vermissen und die Polizei ein‐ schalten?» «Sie hat an diesem Wochenende Nachtdienst. Ich habe ihr einen Zettel hinterlassen, den sie gleich sieht, wenn sie in die Wohnung kommt – ich würde bei Freunden übernach‐ ten. Sie wird wohl annehmen, dass es sich um eine Freundin handelt. Damit geht sie mir immer auf die Nerven, sie fin‐ det, ich sollte eine haben.» «Du wirst die Nacht mit einem Freund verbringen, der sich als wahrer erweisen wird als irgendeine widerwärtige sharmuta: mit dem ewigen, unnachahmlichen Koran.» Ein Exemplar davon, in biegsames rosenfarbenes Leder gebunden, mit dem arabischen Text und der englischen Übersetzung auf gegenüberliegenden Seiten, lag auf dem Nachttisch in diesem schmalen, kaum möblierten Zim‐ mer bereit. Es war der einzige neue, teure Gegenstand im Raum – einem «sicheren» Raum, so nah am Zentrum von New Prospect gelegen, dass aus seinem einzigen Fenster eben noch der vielstufige Turm des Rathauses zu sehen war. Mit seinen vielfarbig glasierten, wie Schuppen angeordneten Schindeln überragte das Gebäude die weniger bedeutenden Häuser wie ein Fantasy‐Meeresdrachen, der im Moment des Emportauchens erstarrt ist. Der Abendhimmel dahinter war gerippt von schmalen Wolkenbänken, tiefrosa getönt von einer Sonne, die soeben außer Sichtweite unterging. Das Bild der Sonne, ihr grell orangefarbener Widerschein, wurde von den gläsernen Kiemen des viktorianischen Turms ein‐ gefangen – den Fenstern an einer Wendeltreppe in seinem Innern, die vor Jahrzehnten für Besucher gesperrt worden ist. Während Ahmed noch angestrengt aus seinem Fenster spähte – durch dünnes, altes Glas, schmutzig und gewellt 342
und mit den Luftbläschen von vorzeiten gefertigter Schei‐ ben gesprenkelt –, sah er, wie das schwindende Sonnenlicht die höchste Ecke der Glashaut eines der gradlinigen kom‐ munalen Erweiterungsbauten scheinbar zum Schmelzen brachte. In den Rathausturm ist eine Uhr eingelassen, und Ahmed befürchtete, deren Schläge würden ihn die ganze Nacht wach halten, ihn zu einem weniger effizienten shahīd machen. Doch deren mechanische Musik – eine kurze Ton‐ folge jede Viertelstunde, die letzte, aufwärts strebende Note lange nachklingend wie eine fragend gehobene Braue, und zu jeder vierten Viertelstunde eine längere Klangfolge, dem klagenden Die‐Stunde‐Schlagen voraus – erweist sich als einlullend und bestätigt Ahmed, nachdem ihn der Scheich endlich allein gelassen hat, dass er sich tatsächlich in einem sicheren Raum befindet. Die früheren Bewohner dieser kleinen Kammer haben kaum Anzeichen für ihren Aufenthalt hinterlassen. Ein paar Schürfspuren an den Fußleisten, zwei, drei Brandstellen von Zigaretten auf dem Fensterbrett und auf der Kommode, den Glanz, der von der wiederholten Benutzung von Türknopf und Schlüsselloch zeugt, einen bestimmten animalischen Geruch, der noch in der kratzigen blauen Bettdecke hängt. Das Zimmer ist äußerst sauber, noch weitaus ordentlicher als Ahmeds Zimmer in der Wohnung seiner Mutter, wo sich noch immer profane Habseligkeiten befinden – elektro‐ nisches Spielzeug mit leeren Batterien, alte Sport‐ und Mo‐ torzeitschriften, Kleidungsstücke, die in ihrer Strenge und ihrem engen Sitz seiner Teenagereitelkeit Ausdruck ver‐ leihen sollten. In seinen achtzehn Lebensjahren haben sich historische Dokumente angehäuft, die, stellt er sich vor, für die aktuellen Medien von großem Interesse sein werden: in Pappe gerahmte Fotos von Kindern, die auf den braunen 343
Steinstufen der Thomas Alva Edison Elementary School in die Maisonne blinzeln, Ahmed mit düsterem Blick und ohne ein Lächeln irgendwo inmitten der Reihen anderer Gesichter, die meisten davon schwarz, einige weiß, alle in einen Topf geworfen und eingezogen zu der Kinderarbeit, loyale und des Lesens und Schreibens mächtige Amerika‐ ner zu werden; Fotos vom Leichtathletik‐Team, auf denen Ahmed Mulloy älter ist und den Anflug eines Lächelns zeigt; bei Sportfesten errungene Siegesschleifen, deren bil‐ lige Farben rasch verblichen sind; ein Filzwimpel der Mets, bei einem Busausflug zum Shea Stadium in der neunten Klasse ergattert; eine wunderschön kalligraphierte Liste der Mitschüler in der Koranschule, ehe sie auf ihn zusam‐ menschrumpfte; sein C‐Führerschein; eine Porträtfotografie seines Vaters mit dem beflissenen Grinsen des Ausländers und einem schmalen Oberlippenbärtchen, das schon im Jahr 1986 altmodisch gewirkt haben muss, und in der Mit‐ te gescheiteltem Haar, das unterwürfig angeklatscht ist, während Ahmed sein nach Textur und Dichte gleiches Haar stolz mit ein wenig Mousse in die Höhe gebürstet trägt. Das Gesicht seines Vaters, das weite Verbreitung finden wird, war auf konventionellere Weise gutaussehend als dasjenige des Sohnes, wenn auch eine Nuance dunkler. Seine Mutter wird, wie die im Fernsehen erscheinenden Opfer von Über‐ schwemmungen und Tornados, oft interviewt werden und in ihrem Schock anfangs unter Tränen unzusammenhängende Dinge von sich geben, später jedoch ruhiger sprechen, ganz die zurückblickende Trauernde. Ihr Bild wird in der Presse erscheinen; für einen Moment wird sie berühmt sein. Viel‐ leicht wird der Absatz ihrer Gemälde vorübergehend in die Höhe schießen. Er ist froh darüber, dass der sichere Raum von jeglichem 344
Hinweis auf seine Person frei ist. Dieses Zimmer ist, so empfindet er es, seine Druckausgleichskammer für den un‐ gestümen Aufstieg, der ihm bevorsteht, getragen von einer Explosion, die so schnell und stark sein wird wie das musku‐ löse weiße Pferd Buraq. Scheich Rashid schien nicht recht gehen zu wollen. Auch er, rasiert und im westlichen Anzug, hatte einen Aufbruch vor sich. Zappelig bewegte er sich in dem kleinen Raum umher, zog klemmende Kommodenschubladen auf und überzeugte sich, dass im Bad Waschlappen und Handtücher für Ahmeds rituelle Waschungen bereitlagen. Pedantisch rückte er den Gebetsteppich auf dem Boden zurecht, des‐ sen eingewobener mihrab nach Osten, Richtung Mekka wies, und hob hervor, dass er den winzigen Kühlschrank mit einer Orange, einem Joghurt und Brot für das Frühstück des Jungen am Morgen ausgestattet habe – mit einem ganz besonderen Brot, khibz el‐’Abbas, dem Abbas‐Brot, das die Schiiten im Libanon zu Ehren des religiösen Aschura‐Fes‐ tes backen. «Es enthält Honig», erläuterte er, «Sesam und Anissamen. Es ist wichtig, dass du morgen früh stark bist.» «Vielleicht bin ich ja nicht hungrig.» «Zwinge dich zu essen. Ist dein Glaube noch immer stark?» «Nach meinem Gefühl ja, Meister.» «Durch diese glorreiche Tat wirst du mich überragen. Du wirst vor mir auf der goldenen Ruhmestafel stehen, die im Himmel geführt wird.» Seine edlen grauen Augen mit den langen Wimpern schienen wässerig und schwach zu werden, und er blickte zu Boden. «Hast du eine Uhr?» «Ja.» Eine Timex, die er von seinem ersten Lohn erstan‐ den hatte, klobig wie die seiner Mutter. Die Ziffern darauf 345
sind groß und die Zeiger fluoreszierend, damit man sie im Laster auch bei Dunkelheit lesen konnte, wenn man drau‐ ßen zwar alles, in der Kabine des Lasters aber kaum etwas sah. «Geht sie genau?» «Ich glaube, ja.» Es gibt einen schlichten Stuhl im Zimmer, dessen Beine mit Draht befestigt sind, denn die Streben sind aus dem Leim gegangen. Ahmed hatte es für unhöflich befunden, den einzigen Stuhl im Raum in Beschlag zu nehmen, und sich einen Vorgeschmack auf den erhöhten Status, den er erwerben wird, gegönnt, indem er sich aufs Bett legte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte, um zu zeigen, dass er nicht etwa zu schlafen beabsichtige, obwohl er sich in Wahrheit tatsächlich so müde fühlte, als gäbe es in dem kärglichen Zimmer irgendwo ein Leck, durch das einschlä‐ ferndes Gas einströmte. Unter den anhaltend besorgten Blicken des Scheichs war ihm unbehaglich zumute, und er wünschte nun, der Mann möge gehen. Er sehnte sich da‐ nach, seine einsamen Stunden in diesem sauberen, sicheren Raum auszukosten, allein mit Gott. Der Imam schaute mit einer Neugier auf ihn hinab, die Ahmed daran erinnerte, wie er selbst stehend auf den Wurm und den Käfer hinun‐ tergeblickt hatte. Scheich Rashid war von ihm fasziniert wie von etwas zugleich Abstoßendem und Heiligem. «Mein lieber Junge, ich habe doch keinen Zwang auf dich ausgeübt?» «Also ... Nein, Meister. Wie denn auch?» «Ich meine: Du hast dich aus freien Stücken erboten, erfüllt von deinem Glauben?» «Ja, und aus Hass auf diejenigen, die Gott verhöhnen und verwerfen.» 346
«Ausgezeichnet. Du fühlst dich nicht manipuliert von denen, die dir an Jahren voraus sind?» Eine erstaunliche Idee, obwohl auch Joryleen sie zum Ausdruck gebracht hatte. «Natürlich nicht. Ich fühle mich von ihnen weise geführt.» «Und dein Weg morgen ist dir klar?» «Ja. Ich soll Charlie um sieben Uhr dreißig bei Excellen‐ cy Wohnbedarf treffen, und wir fahren zusammen zu dem beladenen Lastwagen. Darin wird er mich auf der Fahrt zum Tunnel ein Stück begleiten. Danach bin ich auf mich ge‐ stellt.» Etwas Hässliches, ein verunstaltendes Zucken, zog über das glatt rasierte Gesicht des Scheichs. Ohne seinen Bart und den üppig bestickten Kaftan wirkte er bestürzend nor‐ mal – schmächtig, ein wenig zittrig im Gebaren, ein wenig welk und nicht mehr jung. Auf der groben blauen Decke ausgestreckt, war Ahmed sich seiner Überlegenheit an Jugend, Größe und Kraft be‐ wusst – und seines Lehrers Furcht vor ihm, einer Furcht, wie man sie vor einer Leiche verspürt. Stockend fragte Scheich Rashid: «Und wenn nun Charlie aufgrund eines unvorhergesehenen Missgeschicks nicht da wäre, könntest du den Plan dennoch ausführen? Könntest du den weißen Lastwagen allein finden?» «Ja, ich kenne die Gasse. Aber warum sollte Charlie nicht da sein?» «Ahmed, ich bin mir sicher, dass er da sein wird. Er ist ein tapferer Kämpfer für unsere Sache, für die Sache des wahren Gottes, und Gott verlässt niemals jene, die für ihn Krieg führen. Allāhu akbar!» Seine Worte mischten sich mit der fernen Klangfolge der Rathausuhr. Alles entfernte sich mittlerweile, schwand bebend dahin. Der Scheich fuhr fort: 347
«Wenn im Krieg der Soldat neben dir fällt, selbst wenn er dein bester Freund ist, selbst wenn er dich alles gelehrt hat, was du über das Soldatsein weißt, läufst du dann davon und versteckst dich oder marschierst du voran, in die Kugeln des Feindes?» «Man marschiert voran.» «Genau. Gut.» Liebevoll und doch wachsam starrte Scheich Rashid auf den liegenden Jungen hinab. «Ich muss dich jetzt allein lassen, mein Musterschüler Ahmed. Du hast fleißig gelernt.» «Danke, dass Sie das sagen.» «Nichts an unseren Studien, so hoffe ich, hat in dir Zwei‐ fel an der Vollkommenheit und ewigen Gültigkeit des Bu‐ ches der Bücher geweckt?» «Nein, in der Tat nichts, Sir.» Wohl hatte Ahmed manch‐ mal gespürt, dass seinen Lehrer solche Zweifel bei seinen Studien befielen, doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihn darüber zu befragen, es war zu spät; jeder von uns muss dem Tod mit dem an Glauben entgegentreten, was er in sich her‐ vorgebracht und für das große Ereignis gehortet hat. War sein eigener Glaube, fragte Ahmed sich manchmal, die eitle Marotte eines Heranwachsenden, eine Möglichkeit, sich ab‐ zuheben von all den aussichtslosen anderen, von Joryleen und Tylenol und den übrigen Verlorenen, bereits Toten an Central High? Der Scheich war in Hast und von Unruhe gepeinigt, und doch tat er sich schwer, das abschließende Wort zu finden und seinen Schüler zu verlassen. «Du hast deine gedruck‐ ten Anweisungen für die letzte Reinigung, bevor ...» «Ja», sagte Ahmed, als der ältere Mann nicht imstande war, den Satz zu beenden. «Das Wichtigste aber», sagte Scheich Rashid eindringlich, 348
«ist der heilige Koran. Sollte dein Geist in der langen Nacht, die vor dir liegt, schwach werden, schlage ihn auf und lasse den einzigen Gott durch seinen letzten und vollkommenen Propheten zu dir sprechen. Ungläubige staunen über die Kraft des Islam; sie strömt aus Mohammeds Stimme, einer männlichen Stimme, einer Stimme aus der Wüste und vom Marktplatz – der Stimme eines Mannes aus unserer Mitte, der das irdische Leben mit all seinen Möglichkeiten kannte und doch auf eine Stimme aus der Höhe horchte und sich ihrem Diktat unterwarf, obwohl in Mekka viele mit Spott und Schmähungen nicht sparten.» «Meister: Ich werde nicht schwach.» Ahmeds Ton grenz‐ te an Ungeduld. Als der andere endlich gegangen und die Türkette eingehakt war, zog sich der Junge bis auf die Un‐ terwäsche aus und nahm in dem kleinen Bad, in dem je‐ mand, der auf der Toilette saß, mit der Schulter ans Wasch‐ becken stieß, seine Waschungen vor. Auf der Innenseite des Beckens zeugte ein langer brauner Fleck von jahrelang tropfendem rostigem Wasser. Ahmed zieht den einzigen Stuhl zu dem einzigen Tisch im Zimmer, einem Nachttisch aus poliertem Ahorn, genarbt mit aschefarbenen Mulden von Zigaretten, die jemand am Rand der Tischplatte abgelegt und bis an deren abgeschräg‐ te Kante hat brennen lassen. Ehrfürchtig nimmt Ahmed die Geschenkausgabe des Koran in die Hand. Die biegsamen, mit Goldschnitt versehenen Seiten öffnen sich bei der fünf‐ zigsten Sure, «Qāf». Auf der linken Seite, wo die Überset‐ zung gedruckt steht, liest er ein deutliches Echo dessen, was Scheich Rashid gesagt hat: Sie wundern sich darüber, dass ein Warner aus ihren eigenen Reihen zu ihnen gekommen ist. Und sie sagen in ihrem Unglauben: «Das ist doch merkwürdig. Wenn wir gestorben und Erde geworden 349
sind, sollen wir zu neuem Leben auferweckt werden? Das ist eine Rückkehr, die weit abliegt.» Die Worte sprechen zu ihm, ergeben jedoch nicht ge‐ nügend Sinn. Er wendet sich dem arabischen Text auf der gegenüberliegenden Seite zu und begreift, dass die Ungläu‐ bigen – wie sonderbar doch, dass sie, die Teufel, im heiligen Koran eine Stimme besitzen – die Wiederauferstehung des Körpers anzweifeln, die der Prophet gepredigt hat. Auch Ahmed kann sich die Wiederherstellung seines Körpers, nachdem es ihm gelungen ist, ihn zurückzulassen, kaum vorstellen; stattdessen sieht er seinen Geist, dieses kleine Ding in ihm, das unaufhörlich «Ich ... ich ...» sagt, unver‐ züglich in das nächste Leben hinübergehen wie durch eine schwingende Glastür. Darin ergeht es ihm wie den Un‐ gläubigen: Bai kadhdhabū bi ‘lhaqqi lammā jā ‘ahumfa‐humfi amrin marij. Sie, liest er links in der Übersetzung, haben die Wahrheit, als sie zu ihnen kam, für Lüge erklärt und befinden sich nun in einem Durcheinander. Doch Gott, der erhaben in der ersten Person Plural spricht, wischt ihr inneres Durcheinander beiseite: Haben sie denn nicht gesehen, wie wir den Himmel über ihnen aufgebaut und mit leuchtenden Gestirnen geschmückt haben, und dass er keine Spalten hat? Der Himmel über New Prospect ist, wie Ahmed weiß, diesig von Auspuffgasen und sommerlicher Feuchtig‐ keit, ein sepiafarbenes, verschwommenes Etwas über dem Gezack der Dächer. Gott aber verspricht, dass darüber ein besserer, ein makelloser Himmel existiert, mit strahlenden Figurationen aus blauen Sternen. «Wir» fährt fort: Und die Erde haben wir ausgebreitet. Und wir haben auf ihr Berge an‐ gebracht und allerlei herrliche Arten von Pflanzen wachsen lassen, zur Unterweisung und Mahnung für jeden Diener Gottes. 350
Ja. Ahmed wird Gottes Diener sein. Morgen. An dem Tag, der beinahe schon angebrochen ist. Wenige Handbreit vor Ahmeds Augen schildert Gott seinen Regen, der Gärten wachsen lässt und Korn zum Ernten, und Palmen, hochragend, mit dicht besetzten Fruchtscheiden, den Menschen zum Unterhalt. Und wir haben damit abgestorbenes Land belebt. So vollzieht sich auch die Auferstehung. Abgestorbenes Land. Das ist dieses Land. So einfach und unbestreitbar wie die erste Schöpfung wird auch die zweite sein. Ist uns denn etwa die erste Schöpfung zu viel geworden? Aber nein! Und doch sind sie im Unklaren über eine neue Schöpfung? Wir haben doch den Menschen geschaffen. Und wir wissen, was seine Seele ihm zuflüstert, und sind ihm näher als die Halsschlag‐ ader. Dieser Vers hat für Ahmed stets eine besondere, persönli‐ che Bedeutung besessen; er schließt den Koran, dessen wei‐ cher Ledereinband im ungleichmäßigen Rot der gemaserten Blütenblätter einer Rose gefärbt ist, und er weiß sicher, dass Allah in diesem kleinen, fremden Raum anwesend ist, ihn liebt, das Geflüster seiner Seele, ihren unhörbaren Aufruhr vernimmt. Ahmed fühlt seine Halsschlagader pochen und hört den Verkehr von New Prospect, bald murmelnd, bald röhrend (Motorräder, zerfressene Auspuffrohre), ein paar Straßenzüge entfernt um den großen, zentralen Schuttsee kreisen, und hört ihn versiegen, nachdem es von der Rat‐ hausuhr her elf geläutet hat. Im Warten auf die Klänge zur nächsten Viertelstunde schläft er ein, obwohl er darauf ge‐ fasst war, die ganze Nacht wach zu bleiben, getragen vom reinen, bebenden Erschaudern vor seiner erhabenen, selbst‐ losen Seligkeit. 351
Montagmorgen. Plötzlich fällt der Schlaf von ihm ab. Wieder hat er das Gefühl, noch den Nachhall eines lauten Rufs zu vernehmen. Ein geballter Schmerz im Magen verwundert ihn, bis ihm Sekunden später einfällt, welcher Tag dies ist, welche Mission er hat. Noch ist er am Leben. Heute ist der Tag einer weiten Reise. Er befragt seine Uhr, die er sorgsam neben den Koran auf den Tisch gelegt hat. Es ist zwanzig vor sieben. Der Verkehr ist bereits hörbar, ein Verkehr, in dessen nichts ahnenden Strom er sich einreihen, den er unterbrechen wird. Der gesamte Osten wird, so Gott will, gelähmt sein. Er duscht hinter einem eingerissenen Plastikvorhang. Erst wartet er darauf, dass das Wasser warm wird, als das jedoch nicht ge‐ schieht, zwingt er sich unter das kalte Getröpfel. Er rasiert sich, obwohl er weiß, dass ein Disput darüber herrscht, wie Gott Männer von Angesicht zu Angesicht erblicken möchte. Den Chehabs war es lieber, dass er sich rasiert, denn bärtige Muslime, selbst Teenager, erschrecken die ungläubigen heidnischen Kunden. Mohammed Atta hatte sich rasiert, und die meisten der achtzehn weiteren erleuchteten Mär‐ tyrer ebenfalls. Der Jahrestag ihres Triumphs war am ver‐ gangenen Samstag, und der Feind wird nun in seinen Vertei‐ digungsmaßnahmen nachgelassen haben, wie die Leute des Elefanten vor dem Ansturm der Vögel. Ahmed hat seinen Sportsack mitgebracht, und daraus nimmt er saubere Unter‐ wäsche und Socken und sein letztes weißes Hemd, frisch aus der Wäscherei und um ein paar Pappversteifungen ge‐ faltet. Er richtet den stilisierten mihrab im abstrakten Muster des Gebetsteppichs dorthin aus, wo, weit jenseits der ablen‐ kenden Topographie von New Prospect, die heilige schwar‐ ze Kaaba von Mekka liegt. Als er mit der Stirn das Gewebe 352
berührt, nimmt er den gleichen schwachen, menschlichen Geruch wahr, der auch der blauen Decke anhaftet. Ahmed hat sich in eine Prozession von Männern eingereiht, die sich, zu welchem verborgenen Zweck auch immer, vor ihm in diesem Raum hier aufgehalten, unter kaltem, rostigem Wasser geduscht und zu den Klängen der Rathausuhr ihre Zigaretten geraucht haben. Er isst, wiewohl sein angespann‐ ter Magen jeden Appetit aufgezehrt hat, sechs Stückchen von der Orange, die Hälfte des Joghurts und einen beacht‐ lichen Teil des Abbas‐Brots, obwohl ihm dessen süßlicher Geschmack nach Honig und Anis nicht eben köstlich vor‐ kommt zu dieser Stunde, in der seine gewaltige Tat so bedrängend nahe rückt und in seiner Kehle aufquillt wie Schlachtgeschrei. Er legt den ungegessenen Teil des klebri‐ gen Festtagsbrots auf dem größten Stück der Hemdenpappe in den Kühlschrank, auch den Joghurtbecher und die halbe Orange, wie um diese Dinge für den nächsten Bewohner bereitzustellen, ohne Ameisen und Kakerlaken anzulocken. Sein Verstand funktioniert wie durch Nebelschwaden hin‐ durch, eine dem großen Ereignis vorausgehende Empfin‐ dung, die in der mekkanischen Sure mit dem Titel «Die Polternde» beschrieben wird: Am Tag, da die Menschen wie Motten sein werden, die verstreut am Boden liegen, und die Berge wie zerzauste Wollet Um sieben Uhr fünfzehn schließt er die Tür hinter sich. Den Koran sowie die Reinigungsanweisungen lässt er im Schutzraum für einen anderen shahid zurück, nimmt aber seinen Sportsack mit, in dem seine schmutzige Wäsche steckt, Unterhose, Socken und weißes Hemd. Er geht durch einen dunklen Flur und tritt auf eine leere Seitenstraße hinaus, die noch feucht ist von einem Regenschauer, der irgendwann in der Nacht niedergegangen sein muss. Ah‐ 353
med orientiert sich am Rathausturm und geht nordwärts, in Richtung Reagan Boulevard und Excellency Wohnbedarf. Seinen Sportsack lässt er in die erste Mülltonne fallen, die er an einer Straßenecke sieht. Der Himmel ist nicht kristallklar, sondern feucht und grau, ein pelziger, niedriger Himmel, aus dem flaumige Dunstadern abwärts ziehen. Die vergangene Nacht hat einen Schimmer auf den Asphaltstraßen hinterlassen, auf ihren Kanaldeckeln, ihren glänzenden Teerschnörkeln und Teerflecken. Feuchtigkeit schlägt sich auf dem noch grünen Laub der Büsche nieder, die hier und dort neben Haustreppen und Veranden wachsen, und auf den Haus‐ verkleidungen aus sich überlappenden Aluminiumplanken mit eingebrannter Farbe. In den meisten der dicht an dicht stehenden Häuser, an denen Ahmed vorübergeht, regt sich noch wenig, wenn auch aus den schwach erleuchteten Fens‐ tern nach hinten hinaus, wo die Küchen liegen, Geräusche von Tellern und Töpfen kommen und die Erkennungs‐ melodien von Today und Good Morning America darauf hin‐ deuten, dass gefrühstückt wird und ein Montag wie viele andere in Amerika beginnt. In einem Haus verbellt ein unsichtbarer Hund, als Ah‐ med auf dem Trottoir vorübergeht, seine Geisterschritte. Eine ingwerfarbene Katze mit einem blinden Auge, das ei‐ ner krakelierten weißen Murmel gleicht, schmiegt sich eng an eine Verandatür aus Drahtgeflecht und möchte einge‐ lassen werden; sie macht einen Buckel und lässt das eine gute, halb geschlossene Auge golden auffunkeln; etwas ist ihr unheimlich an dem hochgewachsenen, jungen Fremden, der da vorübergeht. Die diesige Luft prickelt auf Ahmeds Gesicht, aber es nieselt nicht so deutlich, dass sein Hemd durchweicht würde. Die gestärkte Baumwolle fühlt sich um 354
die Schultern rösch an; seine schwarzen Röhrenjeans um‐ hüllen die langen Beine, die durch den wattigen Raum un‐ terhalb seines Gürtels schweben. Seine Laufschuhe saugen die Distanz zwischen ihm und seinem Schicksal auf; wo der Gehweg glatt ist, hinterlässt das raffinierte Profil ihrer Soh‐ len feuchte Abdrücke. Die Polternde! Was soll das heißen? Wie kannst du wissen, was das heißen soll?, fällt ihm wieder ein, und dann die Antwort: Loderndes Feuer. Die Distanz bis zu Excel‐ lency beträgt noch gut einen halben Kilometer, sechs Blocks mit Miethäusern und kleinen Gewerbebetrieben – ein Dunkln’ Donuts hat geöffnet, an einem Lebensmittelladen an einer Ecke ist das Gitter hochgezogen, ein Pfandleihhaus und eine Versicherungsagentur haben jedoch noch geschlos‐ sen. Auf dem Reagan Boulevard tost der Verkehr bereits, die Schulbusse haben ihre Bummelfahrten aufgenommen, und in raschem Wechsel leuchten ihre aggressiven roten Blinker auf, während sie im Zickzack an den Bordstein fahren und wieder ausscheren, um die Grüppchen von wartenden Kin‐ dern mit ihren grellbunten Rucksäcken zu schlucken. Für Ahmed wird es keine Rückkehr zur Schule geben. Central High kommt ihm nun, bei all dem bedrohlichen Radau und gottlosen Gespött dort, wie ein Spielzeugschloss vor, wie ein Hort kindlicher Geborgenheit und aufgeschobener Ent‐ scheidungen. Er wartet, bis die Ampel ihren gehenden Mann zeigt, be‐ vor er den Boulevard überquert. Dessen ölfleckiger Beton ist ihm eher vertraut als Halt gebender Untergrund für die Reifen seines Lastwagens, nicht so sehr diese stumme, rät‐ selhaft gesprenkelte Ebene unter seinen Füßen. Er biegt nach links ab und nähert sich von Osten, an dem Beerdi‐ gungsinstitut mit seiner breiten Veranda und seinen weißen Markisen – UNGER & SON, ein merkwürdig salbungs‐ 355
voller, hungriger Name –, dann an der Reifenhandlung vorbei, die einmal eine Tankstelle war; die Tanksäulen sind gerodet, die Serviceinsel ist noch da. Am Bordstein der Thir‐ teenth Street bleibt Ahmed stehen und blickt zum Hof von Excellency hinüber. Der orangefarbene Laster steht nicht da. Charlies Saab steht nicht da. Zwei unbekannte Wagen, der eine grau, der andere schwarz, stehen da, achtlos und Platz vergeudend diagonal geparkt, inmitten von Spuren einer mysteriösen Geschäftigkeit: Styropor‐Kaffeebecher und muschelartige Behälter aus Imbissketten liegen umher, achtlos auf die gesprungene Betonfläche geworfen und von ankommenden und abfahrenden Fahrzeugen platt gewalzt wie Tiere auf Landstraßen. Über ihm brennt die Sonne durch den bedeckten Him‐ mel und wirft ein schummeriges, fahles Licht, wie das einer Taschenlampe, deren Batterie bald den Geist aufgeben wird. Bevor Ahmed gesehen werden kann – obwohl in den fremden, anmaßend eingedrungenen Autos anscheinend niemand sitzt –, wendet er sich nach rechts, die Thirteenth Street hinauf, die er erst überquert, als ihn die Büsche und das hohe Unkraut verdecken, die hinter dem rostenden Kipplaster gewuchert sind, auf einem Grundstück, das nicht zu Excellency gehört, sondern sich hinter einem längst eingegangenen Diner in Gestalt eines altmodischen Stra‐ ßenbahnwagens erstreckt. Dieses mit Brettern verrammelte Relikt steht an der Ecke zu einer schmalen Straße, Frank Hague Terrace, mit Doppelhäusern zu beiden Seiten, in der es an Wochentagen still ist, bis die Kinder aus der Schule kommen. Ahmed blickt auf seine Uhr: sieben Uhr siebenundzwan‐ zig. Er beschließt, Charlie bis Viertel vor acht Zeit zum Auf‐ tauchen zu geben, obwohl in ihrem Plan sieben Uhr dreißig 356
vorgesehen war. Dann jedoch dämmert ihm, mit jeder ver‐ streichenden Minute deutlicher, dass etwas schiefgelaufen ist; Charlie wird nicht auftauchen. Der Hof ist wie vergiftet. Die leere Fläche hinter dem Laden hat ihm früher immer das Gefühl gegeben, er werde von oben beobachtet; doch jetzt ist der Beobachter nicht Gott, und Ahmed verspürt nicht Gottes Atem. Er, Ahmed, ist es, der mit angehaltenem Atem beobachtet. Auf einmal tritt ein Mann im Anzug aus dem Hinter‐ eingang des Möbelhauses auf die Laderampe hinaus, von deren dicken Planken einige noch Fichtenharz absondern, und kommt die Stufen herunter, auf denen Ahmed oft mü‐ ßig herumgehockt ist. Dort haben er und Joryleen an jenem Abend gemeinsam das Gebäude verlassen und sind dann für immer voneinander geschieden. Der Mann geht dreist zu seinem Wagen und spricht mit jemandem über eine Art von Funkgerät oder Mobiltelefon am Vordersitz. Seine Stimme klingt wie die eines Polizisten; es ist ihm gleichgültig, ob ihn jemand hört; Ahmed kann dem, was er sagt, im Rau‐ schen des Verkehrs ohnehin nicht mehr Sinn entnehmen als dem Zwitschern eines Vogels. Für eine Sekunde wendet der Mann sein weißes Gesicht voll in Ahmeds Richtung – ein wohlgenährtes, aber kein glückliches Gesicht, das eines Agenten für ungläubige Regierungen, für Mächte, die spü‐ ren, dass ihnen die Macht entgleitet –, aber er sieht den Araberjungen nicht. Es gibt da nichts zu sehen, nur den im Unkraut rostenden Kipper. Ahmeds Herz schlägt so wie an jenem Abend mit Jo‐ ryleen. Jetzt tut ihm die Verschwendung leid – dass er sie nicht genommen hat, wo sie doch dafür bezahlt worden war. Aber es wäre schlecht von ihm gewesen, sie in ihrem gefallenen Zustand auszunutzen, obwohl sie ihren Zustand 357
für so schlecht nicht hielt, und auch nur für vorübergehend. Scheich Rashid hätte es missbilligt. Am Vorabend hatte der Scheich aufgewühlt gewirkt, irgendetwas, worüber er nicht sprechen wollte, belastete ihn, ein Zweifel irgendeiner Art. Ahmed hat die Zweifel seines Lehrers schon immer spüren können, denn es war für ihn wichtig, dass es keine gab. Nun befällt Ahmed Angst. Sein Gesicht fühlt sich geschwollen an. Ein Fluch hat sich über diesen friedvollen Ort gelegt, der sein liebster Fleck auf der Welt gewesen ist, eine was‐ serlose Oase. Er geht los. Erst zwei Querstraßen weit die stille Hague Terrace entlang – wo die Kinder in der Schule, die Eltern bei der Arbeit sind – und dann zurück zum Reagan Boule‐ vard, auf das arabische Viertel zu, wo der weiße Laster ver‐ borgen ist. Es hat irgendein Durcheinander gegeben; Char‐ lie muss ihn dort erwarten. Ahmed beeilt sich, gerät unter der diesigen Sonne ein wenig in Schweiß. Die Geschäfte am Reagan Boulevard handeln mit großen Gegenständen – mit Reifen, Teppichböden, Farben und Tapeten, größeren Küchengeräten. Dann sind da die Autohändler – gewaltige Gelände voll neuer Automobile, so dicht geparkt wie militä‐ rische Formationen, hektarweise Autos, die nun, wo sich die Sonne durchsetzt, mit glitzernden Windschutzscheiben und Chromteilen Licht reflektieren wie ein windgepeitschtes Weizenfeld und die von Funken sprühenden Girlanden aus schimmernden Dreiecken und langsam kreiselnden Band‐ spiralen umgeben sind. Aufmerksamkeitsmagnete einer neuen Generation, jüngste Schöpfungen der Technologie, sind diese eigentümlich lebensähnlich unterteilten Plastik‐ schläuche, die, wenn sie von unten mit Luft voll geblasen werden, ihre Arme schwenken und voller Pein vor‐ und zu‐ rückrucken, in unentwegt anlockender Aufgeregtheit die 358
Vorüberfahrenden anflehen, auf das Gelände abzubiegen und ein Auto zu kaufen oder, wenn die Dinger vor einem IHOP stehen, eine Großportion Pancakes. Ahmed, die ein‐ zige Person, die auf diesem Teilstück des Reagan Boulevard zu Fuß unterwegs ist, begegnet einem solchen Schlauchrie‐ sen, doppelt so groß wie er, einem hysterisch gestikulieren‐ den grünen Geist mit starrem glupschäugigem Lächeln. Als der einsame Fußgänger wachsam daran vorübergeht, spürt er auf dem Gesicht und an den Knöcheln die heiße Luft, die dieses beharrlich fordernde, gequälte, grinsende Monster lebendig erscheinen lässt. Gott macht lebendig, denkt Ahmed, und lässt sterben. An der nächsten Ampel überquert er den Boulevard. Mit langen Schritten folgt er der Sixteenth Street in Richtung auf die West Main zu, durch ein vorwiegend schwarzes Vier‐ tel, ähnlich demjenigen, durch das er damals Joryleen nach Hause begleitet hat, nachdem er sie in der Kirche hatte sin‐ gen hören. Wie weit sich doch ihr Mund geöffnet hatte, wie milchig‐rosig es darin schimmerte. Damals oben im Möbel‐ haus, zwischen all den dicht an dicht stehenden Betten – vielleicht hätte er sich doch von ihr blasen lassen sollen, wie sie es angeboten hatte. Weniger Schweinerei, hatte sie gesagt. Alle Mädchen, nicht nur Nutten, lernen das jetzt, in der Schule wurde ständig grob und obszön davon geredet, welche Mädchen dazu bereit waren und welche sagten, sie schluckten es gern runter. Darum haltet euch während der Menstruation von den Frauen fern, und kommt ihnen nicht nahe, bis sie rein sind! Wenn sie sich dann gereinigt haben, dann geht zu ihnen, so wie Gott es euch befohlen hat! Gott liebt die Bußfertigen. Und er liebt die, die sich reinigen. Als Ahmed dahingeht, mit raschen Schritten, Fuß vor Fuß, in Schwarz und Weiß, und doch mit dem lässigen, federn‐ 359
den Gang des gebürtigen Amerikaners, sieht er das Schä‐ bige auf den Straßen, den Fast‐Food‐Müll und das kaputte Plastikspielzeug, die ungestrichenen Treppenstufen und Veranden, noch dunkel von der Feuchtigkeit des Morgens, die geborstenen, nicht reparierten Fenster. Die Bordsteine sind von amerikanischen Autos des letzten Jahrhunderts ge‐ säumt, größer, als sie je hätten sein müssen, und nun ver‐ fallend; mit gesprungenen Rücklichtern, ohne Radkappen und mit platten Reifen stehen sie in der Gosse. Frauen‐ stimmen erheben in Hinterzimmern gnadenlos Klage gegen Kinder, die unerwünscht geboren wurden und sich nun, ver‐ nachlässigt, um die einzigen freundlichen Stimmen in ihrer Hörweite scharen, die aus dem Fernsehgerät. Die zanj aus der Karibik oder von den Kapverdischen Inseln pflanzen Blumen, streichen ihre Veranden und schöpfen Hoffnung und Energie daraus, dass sie sich in Amerika befinden; die‐ jenigen aber, die Generation auf Generation hier geboren sind, nehmen Schmutz und Faulheit hin, aus Protest – ein Protest von Sklaven, der nun als Lust am Niedergang fort‐ besteht und das Gebot aller Religionen, sich rein zu halten, missachtet. Ahmed ist rein. Seine kalte Dusche am Morgen besteht als leuchtende zweite Haut unter seinen Kleidern fort, ein Vorgeschmack der großen Reinigung, der er ent‐ gegeneilt. Zehn vor acht, sagt ihm seine Uhr. Er geht rasch, ohne zu rennen. Er darf keine Aufmerk‐ samkeit erregen, er muss ungesehen durch die Stadt gleiten. Später würden die CNN–Berichte folgen, den Nahen Osten mit Jubel erfüllen und die Tyrannen in ihren prächtigen Bü‐ ros in Washington zum Zittern bringen. Vorerst hängt das Zittern, die Mission noch von ihm ab, ist sein Geheimnis, seine Aufgabe. Er erinnert sich an seine Zeit als Läufer, wie er sich hingekauert und die nackten Arme locker ge‐ 360
schüttelt hat, in Erwartung des Schusses aus der Starterpis‐ tole und des Moments, in dem sich das Knäuel von Jungen vorwärts entflechten würde, unter dem Geprassel sich wü‐ tend abstoßender Füße auf der veralteten Aschenbahn von Central High; und bis sein Körper die Herrschaft übernahm und sein Gehirn sich in Adrenalin auflöste, war er nervöser gewesen als jetzt, denn was er jetzt tut, liegt in Gottes Hand, geschieht nach seinem allumfassenden Willen. Ahmeds bestes offizielles Ergebnis über eine Meile war 4:48,6 gewe‐ sen, gelaufen auf einer federnden Kunststoffbahn, grün mit eingebetteten roten Linien, in einer High School drüben in Belleville. Er war als Dritter durchs Ziel gegangen, und vom Feuer seines Endspurts auf den letzten hundert Metern hat‐ ten sich seine Lungen danach wie versengt angefühlt; zwei Jungen hatte er noch überholt, zwei weitere aber waren für seine Beine außer Reichweite geblieben, Fata Morganen, die sich immer weiter entfernten. Nach fünf Querstraßen mündet die Sixteenth Street in die West Main. Ältere Muslime stehen in ihren dunklen An‐ zügen und der gelegentlichen schmutzigen galahija umher wie weiche Statuen. Ahmed erkennt die Schaufenster von Pep Boys und Al‐Aqsa True Value, sodann die Gasse da‐ hinter, durch die er und Charlie zur ehemaligen Mechanik‐ werkstatt Costello gegangen sind. Er vergewissert sich, dass niemand ihn beobachtet, als er sich der schmalen Seiten‐ tür aus kotzbraun gestrichenem Metall nähert. Kein Charlie steht davor. Von innen ist kein Laut zu hören. Die Sonne ist brennend heiß hervorgekommen, und Ahmed fühlt den Schweiß auf Schultern und Rücken; sein weißes Hemd ist nicht mehr taufrisch. Auf der West Main, nur einen halben Block entfernt, ist der Montag in Schwung gekommen. In der Hintergasse sind ein paar Fußgänger und Fahrzeuge 361
unterwegs. Ahmed versucht, den neuen Messingknopf an der Tür zu drehen, aber der bewegt sich nicht. Gereizt zerrt er weiter daran. Wie können nur kleine, hirnlose Metallteile den Willen von as‐Samad, dem Vollkommenen, vereiteln? Gegen Panik ankämpfend, versucht es Ahmed an der großen Tür, dem Klapptor. Es gibt daran unten einen Griff, der, wenn man ihn umlegt, zwei Bolzen dazu bringt, die beiden seitlichen Schnappschlösser freizugeben. Der Griff dreht sich; die Tür erschreckt Ahmed damit, dass sie mit einer gegengewichteten Leichtigkeit aufgleitet, die sich für einen Moment anfühlt, als flöge sie, flöge im Bogen auf, be‐ vor sie in ihren Schienen oben, im Dunkeln nahe der De‐ cke, ratternd einrastet. Ahmed hat Licht in die Höhle gelassen. Charlie befindet sich nicht in dem schmutzigen Raum, und auch die beiden Arbeiter, der Techniker und sein jüngerer Helfer, sind nicht da. Die Werkbänke und Hakenbretter sehen noch genauso aus, wie Ahmed sie in Erinnerung hat. Der Abfall und die Halden aussortierter Teile in den Ecken scheinen weniger geworden zu sein. In der Garage ist aufgeräumt worden, man hat abschließend eine gewisse Ordnung hergestellt. Es herrscht darin eine Stille wie in einer zum letzten Mal ge‐ plünderten Gruft. Der Verkehr auf der Gasse wirft gefährli‐ che Lichtreflexe in die Höhle; vorbeigehende Leute spähen unbeteiligt herein. Niemand ist anwesend, aber der Lastwa‐ gen ist da, der kastenförmige GMC 3500, unprofessionell von Hand beschriftet: ROLLOS MIT SYSTEM. Ahmed öffnet behutsam die Fahrertür und sieht, dass sich der tarnfarbene Kasten noch zwischen den beiden Sitzen befindet, mit Klebeband auf der Milchkiste befestigt. Am Armaturenbrett baumelt der Zündschlüssel; jeder Unbefug‐ te müsste sich geradezu aufgefordert fühlen, ihn zu drehen. 362
Noch immer führen zwei dicke, isolierte Kabel vom Zünder in den Laderaum des Lasters. Die Zugangstür, nicht höher als ein gebückter Mann, lässt sich nur fünfzehn Zentimeter weit öffnen, bevor die durch sie hindurchgeführten Kabel spannen. Durch den Spalt von fünfzehn Zentimetern riecht Ahmed das Gemisch aus Ammoniumnitrat‐Dünger und Rennwagentreibstoff, Nitromethan; er sieht die gespens‐ tisch fahlen Plastiktonnen, von denen jede ihm bis zum Gürtel reichen würde, und jede ist mit einhundertsechzig Kilogramm des explosiven Gemischs gefüllt. Das glatte wei‐ ße Plastik der Behälter schimmert wie eine Art von Haut. Gespleißte gelbe Drähte kommen in Schlaufen aus den Sprengkapseln, die, verstärkt mit Aluminiumpulver und Pentrit, in den Boden jeder Tonne eingelassen sind. Die fünfundzwanzig Behälter sind, wie Ahmed im Dunkeln aus‐ machen kann, in fünf Fünferreihen im Quadrat aufgestellt, säuberlich mit doppelter Wäscheleine zusammengezurrt und durch straffe Gurte an den Querleisten und Seitenstan‐ gen des Laderaums gegen Verrutschen gesichert. Das Ganze bildet ein modernes Kunstwerk, gefällig und undurchdring‐ lich. Ahmed denkt an den gedrungenen Techniker zurück, an die eleganten, fließenden Bewegungen seiner Hände mit den Ölverschmierten Fingerkuppen, und stellt sich vor, wie er über lückenhaften Zähnen mit dem unschuldigen Stolz des Arbeiters lächelt. Sie alle, die an diesem Projekt mit‐ wirken, sind aufeinander abgestimmte Teile einer wunder‐ vollen Maschine. Die anderen sind verschwunden, doch Ahmed ist da, um an der vorgesehenen Stelle das letzte Ele‐ ment einzufügen. Sanft schiebt er die kleine Holztür wieder zu, überlässt das Arrangement von gefüllten Plastiktonnen wieder dem wohlriechendem Dunkel. Sie sind ihm anvertraut. Wie er 363
sind sie Soldaten. Er ist von Mitkämpfern ungeben, selbst wenn sie verstummt sind und keine Instruktionen hinterlas‐ sen haben. Die Hecktür des Lastwagens ist mit einem Vor‐ hängeschloss verschlossen. Der große Riegel ist mit seinem Schlitz über die dicke vorspringende Ose geklappt worden, dann hat man ein schweres Kombinationsschloss einge‐ hakt und einschnappen lassen. Der Code für das Schloss ist Ahmed nicht mitgeteilt worden. Er versteht die Botschaft: Er muss seinen Brüdern vertrauen, gerade so, wie sie mit ihrer unerklärlichen Abwesenheit darauf vertrauen, dass er den Plan fortführen wird. Er ist zum einzigen überlebenden Werkzeug des Vollkommenen geworden, des Barmherzigen, der sich aller Dinge annimmt. Ahmed ist mit einem Zwilling des Lasters ausgestattet worden, den er gewöhnlich fährt, weil man ihm den Weg erleichtern und glätten wollte. Er probiert den Fahrersitz aus. Das alte schwarze Kunstleder fühlt sich warm an, als hätte eben noch jemand darauf ge‐ sessen. Eine Explosion, das weiß er noch aus dem Physikunter‐ richt an Central High, ist einfach die rasche Verwandlung eines festen oder flüssigen Stoffs in ein Gas, wobei er sich in weniger als einer Sekunde auf das mehr als Hundert‐ fache seines vormaligen Volumens ausdehnen kann. Mehr ist nicht dabei. Wie vom Rand eines solchen leidenschafts‐ losen chemischen Vorgangs aus sieht er sich dabei zu, wie er als eine kleine, klar umrissene Gestalt in den ungewohnten Laster steigt, den Motor anlässt, behutsam Gas gibt und auf die Gasse hinaus zurückstößt. Eine Kleinigkeit stört ihn. Als Ahmed aussteigt, um das ratternde Garagentor hinter ihnen – ihm selbst, dem Las‐ ter und der unsichtbaren Gruppe seiner Kameraden – zu schließen, spürt er, dass der Saft der Frühstücksorange 364
und eine gewisse unterdrückte Nervosität auf seine Blase Druck ausüben. Für die bevorstehende Reise sollte er sich besser erleichtern. Mit laufendem Motor stellt er den Laster im Leergang am Rand der Gasse ab, lässt das Garagentor noch einmal hoch und findet in einer Ecke zwischen der Werkbank und dem Hakenbrett hinter einer verschmierten, nicht gekennzeichneten Tür die Toilette der Werkstatt. Es gibt dort eine Schnur, mit der die nackte Glühbirne an‐ geschaltet wird, und ein helles Porzellanbecken mit einem ovalen Schlund voll zweifelhaften Wassers, das es hinunter‐ zuspülen gilt, sobald er den kleinen Bach aus seinem Innern hinzugefügt hat. Er spritzt sich fettlösende Flüssigseife aus dem Spender, der auf dem Waschbecken bereitsteht, auf die Hände und wäscht sie gründlich. Er geht wieder hinaus, zieht das Garagentor an seiner verknoteten Leine zu und wird sich mit einem plötzlichen inneren Taumeln bewusst, wie töricht und gefährlich es gewesen ist, den Laster mit laufendem Motor allein zu lassen, und sei es auch nur für eine Minute oder zwei. Er denkt nicht mehr normal in dieser dünnen Höhenluft der letzten Dinge. Er muss einen klaren Kopf behalten, indem er sich als Werkzeug Gottes begreift, kühl, hart, abgegrenzt und unbeteiligt, wie ein Werkzeug zu sein hat. Er blickt auf seine Timex: acht Uhr neun. Weitere vier Minuten verloren. Er lässt den Laster anfahren und ver‐ sucht, Schlaglöcher sowie jedes ruckartige Bremsen und Beschleunigen zu vermeiden. Nach dem Zeitplan, den er und Charlie aufgestellt haben, ist er im Rückstand, jedoch unter zwanzig Minuten. Nun, da der Laster in Bewegung ist und zum täglichen Verkehrsfluss der Welt gehört, ist Ahmed ruhiger. Er biegt aus der Gasse nach rechts ab und dann auf der West Main nach links, erneut an Pep Boys vorbei, mit 365
dem verstörenden Cartoon‐Logo der drei Männer, Manny, Moe und Jack, die zu einem einzigen dreiköpfigen Zwer‐ genkörper verschmolzen sind. Um Ahmed herum flimmert und zuckt die nun voll er‐ wachte Stadt. Er stellt sich seinen Laster als ein markiertes Rechteck vor, bei einer Verfolgungsjagd von einem Hub‐ schrauber aus gefilmt, das sich durch die Straßen fädelt und an Ampeln hält. Dieser Lastwagen fährt sich anders als Ex‐ cellency, der ein lässiges Schwingen an sich hatte, als säße der Fahrer auf dem Hals eines Elefanten. Auf Rollos mit System kann Ahmed sich als Fahrer nicht organisch einfühlen. Das Lenkrad passt nicht in seine Hände. Jede Unebenheit der Straßenoberfläche lässt den gesamten Rahmen erzittern. Die Vorderräder ziehen permanent nach links, als hätte sich der Rahmen bei irgendeinem Unfall verzogen. Das Gewicht der Ladung – doppelt so viel, wie McVeigh einsetzen konn‐ te, schwerer und kompakter als irgendeine Möbelladung – drückt von hinten, wenn er an einer roten Ampel bremst, und hält ihn zurück, wenn er bei Grün anfährt. Um die Stadtmitte zu vermeiden – die High School, das Rathaus, die Kirche, den Schuttsee, die stämmigen Glas‐ hochhäuser, die von der Regierung zur Beschwichtigung finanziert werden –, biegt Ahmed in Richtung Washington Street ein, die so heißt, weil sie, wie ihm Charlie einmal erklärt hat, in der anderen Richtung an einem Herrenhaus vorbeiführt, das der große General als eines seiner Haupt‐ quartiere in New Jersey benutzt hat. Der Dschihad und die Revolution führten einen Krieg der gleichen Art, hatte Charlie ihm erklärt – den verzweifelten, grimmigen Krieg des Underdog, während der imperiale Overdog behauptet, die Gegenseite verstoße unfair gegen die Regeln, die er selbst aufgestellt hat, zu dessen Gunsten. 366
Ahmed drückt das Radio im Armaturenbrett an; es ist auf einen abscheulichen Rap‐Sender eingestellt, der unver‐ ständliche Obszönitäten ausspuckt. Er findet WCBS‐AM, und eine atemlose Stimme unterrichtet ihn davon, dass sich der Verkehr auf der Spirale hinunter zum Lincoln‐Tunnel mächtig staut – mal wieder, hahaha. Es folgen ein rasches Geschnatter aus einem Hubschrauber und laute Popmusik. Ahmed stellt das Radio wieder ab. In dieser teuflischen Ge‐ sellschaft gibt es nichts zu hören, was einem Mann in seiner letzten Stunde angemessen wäre. Stille ist da besser. Die Stille ist Gottes Musik. Ahmed muss ganz rein sein, wenn er vor Gott hintritt. Ein eisiges Ziehen hoch in Ahmeds Unter‐ leib erreicht seinen Darm, als er an die Begegnung mit dem anderen Selbst denkt, das er immer als ihm so nah emp‐ funden hat wie seine Halsschlagader, wie einen Bruder, ei‐ nen Vater, jedoch als einen so vollkommen strahlenden, dass er ihm nie unmittelbar entgegenzutreten vermochte. Nun führt er, der Vaterlose, Bruderlose, Gottes unerbittlichen Willen aus; Ahmed beeilt sich, hutama zu verbreiten, das vernichtende Feuer. Genauer bedeutet hutama, hat Scheich Rashid einmal erläutert, das, was in Stücke bricht. Von New Prospect aus gibt es nur eine Auffahrt zur Route 80. Ahmed steuert den Laster auf der Washington Avenue südostwärts, bis sie auf die Tilden Avenue stößt, die direkt in die Route 80 mit ihrer um diese Tageszeit tosenden Kas‐ kade Richtung New York City mündet. Drei Blocks nördlich der Auffahrt, an einer breiten Ecke, an der sich eine Getty‐ und eine Mobiltankstelle mit angeschlossenem Shop‐a‐Sec gegenüberliegen, bemerkt Ahmed eine irgendwie bekannte Gestalt, die winkend am Bordstein klebt – nicht winkend wie ein Mann, der unsinnigerweise auf ein Taxi hofft (die in 367
New Prospect nicht frei umherfahren, sondern telefonisch herbeibeordert werden müssen) –, sondern deren Winken ganz deutlich ihm gilt. Der Mann deutet sogar durch die Windschutzscheibe auf Ahmed; er hebt die Hände, wie um etwas aufzuhalten. Es ist Mr. Levy, in einem braunen An‐ zugjackett, das nicht zu seiner grauen Hose passt. Er ist an diesem Montag für die Schule angezogen, steht jedoch gut einen Kilometer südlich von Central High im Freien. Ahmed ist durch den unerwarteten Anblick wie gelähmt. Bei all dem, was ihm in rasender Geschwindigkeit durch den Sinn geht, kämpft er um einen klaren Kopf. Vielleicht hat Mr. Levy ja eine Nachricht von Charlie, obwohl sie ein‐ ander nicht kennen, soviel er weiß; dem Beratungslehrer hat es nie gefallen, dass Ahmed den Lkw‐Führerschein ge‐ macht hat und Lastwagen fährt. Oder eine dringende Nach‐ richt von seiner Mutter, die in diesem Sommer eine Zeit lang etwas zu oft von Mr. Levy gesprochen hat, in diesem Ton, der darauf hindeutet, dass sie wieder einmal dabei war, sich in eine peinliche Situation zu stürzen. Ahmed wird nicht anhalten, so wenig, wie er wegen einem der zappeln‐ den, zudringlichen Monster aus Plastikschläuchen und war‐ mer Luft anhalten würde, die Konsumenten in ihren Bann ziehen und zum Abbiegen von einer Schnellstraße bewegen sollen. Doch die Ampel an der Ecke springt um, der Verkehr stockt, und der Lastwagen muss halten. Flinker, als Ahmed es Mr. Levy zugetraut hätte, wedelt der Mann durch die Reihen haltender Fahrzeuge, erreicht den Laster und pocht herrisch an das Bei fahre rfenster. Verwirrt, darauf konditio‐ niert, sich einem Lehrer gegenüber nicht respektlos zu be‐ nehmen, greift Ahmed hinüber und drückt auf den Knopf, der die Türsperre aufhebt. Immer noch besser, ihn hier 368
drinnen neben sich zu haben, denkt der Junge überstürzt, als draußen, wo er Alarm auslösen kann. Mr. Levy reißt die ßelfahrertür auf, und gerade in dem Moment, in dem die Fahrzeuge wieder anfahren müssen, hievt er sich herauf und lässt sich auf den brüchigen schwarzen Sitz plumpsen. Er knallt die Tür zu. Er japst. «Danke», sagt er. «Hab langsam schon befürchtet, ich hätte Sie verpasst.» «Woher wussten Sie denn, dass ich hier vorbeikommen würde?» «Anders kommt man nicht auf die Route 80.» «Aber das hier ist doch nicht mein Laster.» «Ich wusste, dass es ein anderer sein würde.» «Wieso denn?» «Das ist eine lange Geschichte. Ich kenne sie nur in Fitzeln und Schnipseln. Rollos mit System – das ist witzig. Lassen wir Licht herein. Wer sagt eigentlich, diese Leute hätten keinen Humor?» Er ist noch immer außer Atem. Als Ahmed einen Bück auf sein Profil hinüberwirft, dorthin, wo immer Charlie saß, fällt ihm auf, wie alt der Beratungsleh‐ rer ist, wenn man ihn außerhalb des jugendlichen Gewim‐ mels an der High School erlebt. Müdigkeit hat sich unter seinen Augen angesammelt. Seine Lippen wirken schlaff, die Lidhaut unter der Augenbraue hängt herunter. Ahmed fragt sich, was für ein Gefühl es sein mag, Tag für Tag ei‐ nem natürlichen Tod entgegenzugleiten. Er selbst wird es nie erleben. Wenn man so lange gelebt hat wie Mr. Levy, spürt man es vielleicht nicht mehr. Noch immer kurzatmig, setzt Mr. Levy sich auf, befriedigt, dass er sein Ziel erreicht hat, in Ahmeds Lastwagen zu gelangen. «Was ist das hier?», fragt er mit einem Blick auf die tarnfarbene Metallbox, die zwischen den beiden Sitzen mit Klebeband auf dem Plas‐ tikkasten befestigt ist. 369
«Nicht anfassen!» Dies entfährt Ahmed mit einer solchen Schärfe, dass er aus Höflichkeit ein «Sir» hinzufügt. «Keine Angst», sagt Mr. Levy. «Aber Sie fassen es auch nicht an.» Stumm inspiziert er die Box, ohne sie zu berüh‐ ren. «Im Ausland hergestellt, möglicherweise in Tschechien oder China. Unser alter Standardzünder LD 20 ist’s mit Si‐ cherheit nicht. Ich war mal bei der Armee, sollten Sie wissen, auch wenn sie mich nie nach Vietnam geschickt haben. Das hat mich gewurmt. Einerseits wollte ich nicht hin, anderer‐ seits wollte ich mich bewähren. Sie können das ja verstehen. Dass man sich bewähren will.» «Nein, das verstehe ich nicht», sagt Ahmed. Die plötz‐ liche Einmischung hat ihn durcheinander gebracht; seine Gedanken kommen ihm wie Hummeln vor, die blindlings von innen gegen seinen Schädel prallen. Dennoch fährt er weiterhin geschmeidig, lässt den GMC 3500 über den weiten Auffahrtbogen auf die Route 80 schlüpfen, wo die Fahrzeuge um diese Pendlerstunde Stoßstange an Stoß‐ stange dahinrollen. Allmählich gewöhnt er sich an die nach‐ tragende Art, mit der dieser Laster reagiert. «Wenn ich’s recht verstanden habe, haben sie die Ein‐ mannbunker der Kongs mit Sprengstoff gespickt, sie ver‐ siegelt und mit Insassen hochgehen lassen. Murmeltierjagd nannten sie das. Keine hübsche Methode. Andererseits war die ganze Geschichte nicht besonders hübsch. Die Frauen mal ausgenommen. Aber nicht mal denen konnte man trau‐ en, hab ich gehört. Die waren nämlich auch Kongs.» Ahmed schwirrt der Kopf; er versucht nun, seinen Stand‐ punkt klarzumachen: «Sir, wenn Sie den geringsten Versuch machen, die Kabel zu unterbrechen oder mich beim Fahren zu behindern, dann lasse ich vier Tonnen Sprengstoff explo‐ dieren. Der gelbe ist ein Sicherungshebel, und den stelle ich 370
jetzt ab.» Er legt ihn nach rechts um – schnapp –, und beide Männer warten ab, was nun geschehen wird. Ahmed denkt: Wenn etwas geschieht, wissen wir nichts mehr davon. Nichts ge‐ schieht, doch der Sicherungshebel steht nun auf «Aus». Er braucht jetzt nur noch den Daumen in die kleine Mulde zu stecken, an deren Boden der rote Detonationsknopf liegt, und die Sekundenbruchteile zu warten, bis die Zündung des Sprengpulvers durch die verstärkende Mischung aus Pentrit und Rennwagentreibstoff in die Tonnen von Nitrat hinauf‐ zischt. Mit der Daumenkuppe betastet er den glatten roten Knopf, ohne den Blick von der verstopften Schnellstraße zu nehmen. Wenn der schlappe Jude da das Geringste un‐ ternimmt, um ihn abzulenken, wird er ihn beiseite wischen wie ein Stück Papier, wie ein Büschel zerzauster Wolle. «Ich denke gar nicht daran», erklärt ihm Mr. Levy in dem unecht lockeren Ton, mit dem er versagende Schüler berät, trotzige Schüler, Schüler, die sich aufgegeben haben. «Ich wollte Ihnen nur ein paar Dinge erzählen, die Sie interes‐ sieren könnten.» «Was für Dinge? Sagen Sie’s mir, und ich lasse Sie raus, wenn wir näher an mein Ziel kommen.» «Nun, die Hauptsache ist wohl, dass Charlie tot ist.» «Tot?» «Geköpft, genau gesagt. Gruselig, was? Er ist gefoltert worden, bevor sie es getan haben. Die Leiche wurde ges‐ tern Morgen gefunden, in den Meadows abgeworfen, an dem Kanal südlich des Giants‐Stadions. Sie wollten, dass sie gefunden würde. Es war ein Zettel daran geheftet, auf Ara‐ bisch. Offenbar war Charlie ein CIA‐Spitzel, und das hat die andere Seite schließlich kapiert.» Es hatte einmal einen Vater gegeben, der verschwunden war, bevor Ahmeds Gedächtnis sich ein Bild von ihm ein‐ 371
prägen konnte; und dann war Charlie freundlich zu ihm gewesen und hatte ihm gezeigt, wo es entlanggeht, und nun hat dieser müde Jude in einer Aufmachung, als würde er sich im Dunkeln anziehen, deren Platz eingenommen, die leere Stelle neben ihm. «Was genau stand auf dem Zettel?» «Ach, ich weiß nicht. Immer das altbekannte Gleiche – eben so etwas wie: Wer seinen Eid bricht, tut’s zum eigenen Nachteil. Gott wird ihm seine Strafe nicht vorenthalten.» «Das klingt nach dem Koran, nach der achtundvierzigs‐ ten Sure.» «Es klingt auch nach der Thora. Mag also sein. Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß. Ich war nicht von Anfang an dabei.» «Darf ich fragen, woher Sie wissen, was Sie wissen?» «Von der Schwester meiner Frau. Sie arbeitet in Washing‐ ton, beim Heimatschutz. Gestern hat sie mich angerufen; meine Frau hatte ihr einmal davon erzählt, dass mich Ihr Fall interessiert, und sie haben sich gefragt, ob da nicht ein Zusammenhang besteht. Sie konnten Sie nicht finden, kei‐ ner. Da habe ich mir gedacht, ich versucht mal auf diese Weise.» «Warum sollte ich irgendetwas von dem glauben, was Sie da sagen?» «Dann lassen Sie’s doch bleiben. Glauben Sie es nur, wenn es mit dem zusammenpasst, was Sie wissen. Ich ver‐ mute mal, es passt. Wenn ich lüge, wo ist dann Charlie jetzt? Seine Frau sagt, er ist verschwunden. Sie schwört, er hätte nur etwas mit Möbelhandel zu tun.» «Was ist mit den anderen Chehabs, und mit den Män‐ nern, denen sie Geld haben zukommen lassen?» Ahmed hat einen mitternachtsblauen Mercedes dicht hinter sich, gefahren von einem ungeduldigen Mann, der 372
zu jung ist, um schon einen Mercedes verdient zu haben, es sei denn mit Aktenmanipulationen auf Kosten der weniger Begünstigten. Solche Männer wohnen teuer in den so ge‐ nannten Schlafstädten von New Jersey, solche Männer sind von den Türmen gesprungen, als Gott sie zu Fall gebracht hat. Ahmed fühlt sich diesem Mercedesfahrer überlegen und ist nicht beeindruckt von dem Gehupe und den Aus‐ scherversuchen, mit denen der Mann dramatisch seinem Begehren Ausdruck verleiht, der weiße Laster solle weniger gemächlich auf der Mittelspur dahinfahren. «In den Untergrund gegangen und in alle Winde ver‐ streut, nehme ich an», antwortet Mr. Levy auf Ahmeds Frage. «Zwei Männer, die aus Newark nach Paris fliegen wollten, haben sie festgenommen, und Charlies Vater liegt im Krankenhaus, angeblich mit einem Schlaganfall.» «In Wirklichkeit leidet er an Diabetes.» «Mag sein. Er sagt, er liebt dieses Land, und sein Sohn habe es auch geliebt, und jetzt sei sein Sohn für dieses Land gestorben. Nach der einen Theorie ist er derjenige, der die CIA auf seinen Sohn aufmerksam gemacht hat. Den Onkel in Florida hatten die FBI‐Leute schon länger im Visier. Diese Dienste sind zwar alle überfordert, und sie kommu‐ nizieren nicht untereinander, aber alles entgeht ihnen nun auch wieder nicht. Der Onkel wird wohl auspacken, oder sonst jemand tut’s«. Es ist schwer zu glauben, dass der eine Bruder keine Ahnung davon hatte, was der andere so trieb. Diese Araber setzen sich alle gegenseitig mit dem Islam un‐ ter Druck: Wie kannst du zum Willen Allahs nein sagen?» «Ich weiß es nicht. Der Segen, einen Bruder zu haben, ist mir versagt geblieben», sagt Ahmed gestelzt. «Kein großer Segen, nach allem, was ich an der Schule mitbekomme. Bei den Schakalen, habe ich mal irgendwo 373
gelesen, bekämpfen sich die Welpen bis auf den Tod, kaum dass sie geboren sind.« Weniger gestelzt teilt Ahmed Mr. Levy mit: «Charlie hat sich sehr eloquent für den Dschihad stark gemacht.» Er lä‐ chelt, als er daran zurückdenkt. «Das war anscheinend eine seiner Masken. Ich bin dem Mann nie begegnet. Nach allem, was ich höre, war das ein ganz unberechenbarer Bursche. Sein Fehler, hat meine Schwägerin gesagt – die plappert allerdings nur nach, was ihr Boss sagt, sie betet den Schwachkopf an –, sein verhäng‐ nisvoller Fehler war, die Falle zu lange nicht zuschnappen zu lassen. Er hätte zu viele Filme gesehen.» «Er hat sehr viel ferngesehen. Er wollte eines Tages Wer‐ bespots drehen.» «Was ich vor allem sagen will, Ahmed: Sie müssen das hier nicht tun. Es ist aus. Charlie wollte nie, dass Sie’s wirk‐ lich durchziehen. Er hat Sie benutzt, um die anderen auf‐ fliegen zu lassen.» Ahmed betrachtet das schlüpfrige, sich entrollende Ge‐ webe der Dinge, die er da gehört hat, und kommt zu dem Schluss: «Es wäre ein glorreicher Sieg für den Islam.» «Für den Islam? Wie das?» «Es würde viele Ungläubige töten und in Schwierigkei‐ ten bringen.» «Das muss ja wohl ein Witz sein», sagt Mr. Levy, während Ahmed gewandt den Wechsel von Route 80 Ost zur Route 95 Süd handhabt und dem Mercedes nicht gestattet, ihn rechts zu überholen, als der größte Teil der Fahrzeuge nach Osten, in Richtung George‐Washington‐Brücke, weiterfährt. Links von ihnen fältelt sich in der Brise der Overpeck, der dem Havensack zufließt. Der Laster befindet sich auf dem New Jersey Turnpike, über Sumpfgelände, von dem jede kleinste 374
Fläche, die trockenzulegen ist, profitabel genutzt wird. Der Turnpike teilt sich in zwei Zweige; der linke Zweig führt zur Ausfahrt Lincoln‐Tunnel. Die Verschwörer haben dafür gesorgt, dass eine elektronische Mautzahlungsvignette in der Mitte der Windschutzscheibe befestigt ist; damit wird er glatt an der Mautstelle vorüberrollen, ohne dass der ju‐ gendliche Fahrer länger als einen Moment den Augen eines Mautkassierers oder Wächters ausgesetzt ist. «Denken Sie an Ihre Mutter.» Mt. Levy hat den leichten Plauderton abgelegt; seine Stimme hat nun etwas Schnarren‐ des. «Sie wird nicht nur Sie verlieren, sondern als die Mutter eines Monsters bekannt werden. Eines Wahnsinnigen.» Allmählich macht es Ahmed Vergnügen, sich von den Argumenten dieses Eindringlings nicht rühren zu lassen. «Ich war für meine Mutter noch nie wichtig», stellt er fest. «Obwohl sie, das gebe ich zu, brav ihre Pflicht getan hat, nachdem ich unglückseligerweise einmal geboren war. Und von wegen Mutter eines Monsters: Im Nahen Osten werden die Mütter von Märtyrern hoch geachtet und erhalten eine stattliche Pension.» «Ich bin mir sicher, sie legt mehr Wert auf ihren Sohn als auf eine Pension.» «Wieso sind Sie sich eigentlich sicher, Sir, wenn ich fragen darf? Wie gut kennen Sie meine Mutter?» Möwen – erst einige wenige in seinem Blickfeld vor der Windschutzscheibe, dann kommen Dutzende in Sicht, und aus den Dutzenden werden Hunderte – kreisen über einer Abfallhalde. Jenseits ihrer gierigen geflügelten Versamm‐ lung, jenseits des tfägen Hudson, steht die steinfarbene, wie ein gigantischer Schlüssel gekerbte Silhouette der großen Stadt, die das Herz Satans ist. Von Osten her be‐ leuchtet, ragen ihre Türme nach Westen zu im Schatten 375
auf, und zwischen ihnen gleißt ein Dunstschleier. Mr. Le‐ vys Schweigen kündigt einen weiteren Angriff auf Ahmeds Überzeugungen an, für den Moment aber sind Fahrer und Mitfahrer in wortloser Einhelligkeit vom flüchtigen Anblick eines der Weltwunder gebannt, der ihnen mit dem Vor‐ rücken des Verkehrs abrupt entzogen wird und an dessen Stelle zu beiden Seiten der Route 95 relativ leere Flächen treten – Sumpfgras, durchsprenkelt von den blauen Adern der Entwässerungskanäle, die auf ihren Streifzügen durch den Schlamm den Himmel widerspiegeln. Am oberen Rand der Windschutzscheibe entflieht Newark International Air‐ port ein silbriges, kreuzförmiges Glimmen und bahnt in den milch ig‐leeren Himmel eine zweistrahlige Spur, als sollten ihm andere darauf folgen, gemäß dem Geflecht von Zeit‐ Slots, das die Fluglotsen überwachen. Für einen Moment fühlt Ahmed sich glücklich, wie ein Flugzeug, das sich der Schwerkraft entzieht. Mr. Levy macht den Moment zunichte, indem er sagt: «Tja, worüber können wir sonst noch reden? Ach, das Giants‐Stadion. Haben Sie das Jets‐Spiel gestern gesehen? Als dieser junge Carter den Anstoß verpatzt hat, hab ich bei mir gedacht: Na, da haben wir’s mal wieder, genau wie in der letzten Saison. Aber nein, sie haben sich zusammengerissen, einunddreißig zu vierundzwanzig, obwohl man sich nicht entspannt zurücklehnen konnte, bevor nicht dieser neue Verteidiger Coleman die Schlussoffensive der Bengals in letzter Minute gestoppt hat.» Das ist vermutlich eine jü‐ dische Komikernummer, und Ahmed ignoriert sie. In einem ehrlicheren Ton sagt Levy: «Ich kann nicht glauben, dass Sie ernstlich vorhaben, Hunderte von unschuldigen Men‐ schen umzubringen.» «Wer sagt denn, Ungläubigkeit ist unschuldig? Ungläu‐ 376
bige sagen das. Gott sagt im Koran: Euch ist vorgeschrieben, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Verbrennt sie, zermalmt sie, weil sie Gott vergessen haben. Sie sind sich selbst genüge, denken sie. Sie lieben dieses gegenwärtige Leben mehr als das nächste.» «Also werden sie dafür jetzt umgebracht. Das kommt mir ganz schön hart vor.» «Natürlich kommt Ihnen das so vor. Sie sind ein Jude, der vom Glauben abgefallen ist, glaube ich. Sie glauben an nichts. In der dritten Sure des Korans heißt es, alles Gold der Welt genügt nicht als Lösegeld für diejenigen, die ein‐ mal gläubig waren und ungläubig geworden sind. Gott wird ihre Reue niemals akzeptieren.» Mr. Levy seufzt. Feuchtigkeit, hört Ahmed, rasselt in sei‐ nen Atemzügen, ein Niederschlag von Angst. «Ja, klar, auch in der Thora steht haufenweise abstoßendes, lächerliches Zeug. Seuchen, Massaker – Jahwe liefert sie dir ins Haus. Stämme, die nicht das Glück hatten, auserwählt zu sein – in Acht und Bann mit ihnen, erbarmungslos. Auf die Idee mit der Hölle waren sie noch nicht so recht gekommen, die kam erst mit den Christen. Schlaue Priester versuchen, die Leute durch Angst unter ihre Fuchtel zu bekommen. Die Hölle her‐ aufbeschwören – die älteste Bangemache‐Taktik der Welt. Zusammen mit der Folter. Im Grunde ist die Hölle Folter. Und all das kaufen Sie denen wirklich ab? Gott als der höchs‐ te Foltermeister? Gott als der König des Völkermords?» «Wie auf dem Zettel bei Charlie stand – Gott wird uns unseren Lohn nicht vorenthalten. Sie haben die Thora er‐ wähnt, Ihre eigene Überlieferung. Der Prophet hatte vie‐ le gute Worte für Abraham übrig. Eines interessiert mich: Waren Sie jemals gläubig? Wie sind Sie vom Glauben abge‐ fallen?» 377
«Ich bin schon als Abgefallener geboren. Mein Vater hass‐ te die jüdische Religion und sein Vater vor ihm auch. Sie gaben der Religion die Schuld am Elend der Welt – weil sie die Menschen mit ihren Problemen versöhne. Dann wand‐ ten sie sich einer anderen Religion zu, dem Kommunismus. Aber das wollen Sie wohl nicht hören.» «Es stört mich nicht. Es ist gut für uns, nach Überein‐ stimmung zu streben. Bevor es Israel gab, waren Muslime und Juden Brüder – Gestalten am Rand der christlichen Welt, die komischen Anderen in ihren putzigen Kleidern, unterhaltsame Witzfiguren für die Christen mit ihrem sor‐ genfreien Wohlstand und ihrer schneeweißen Haut. Trotz des Öls haben sie uns verachtet, haben die saudischen Fürs‐ ten um das Erbe ihres Volks betrogen.» Mr. Levy stößt einen weiteren Seufzer aus. «Das ist mir vielleicht ein tolles ‹Wir›, das Sie sich da zurechtgelegt ha‐ ben, Ahmed.» Der bereits zähflüssige Verkehr wird noch langsamer und dichter. Auf Schildern steht NORTH BERGEN, SE‐ CAUCUS, WEEHAWKEN, ROUTE 495, LINCOLN‐ TUNNEL. Obwohl er es noch nie zuvor getan hat, weder mit noch ohne Charlie, folgt Ahmed den Schildern mühe‐ los, selbst als die Route 495 einen kompletten Kreisbogen vollzieht und den Verkehr in zähem Stop‐and‐Go über das Weehawken‐Kliff auf die Höhe des Flusses hinunterführt. Er stellt sich eine Stimme vor, die neben ihm sagt: Immer schön lässig, Medizinmann. Ist ja keine Raumfahrttechnik mit im Spiel. Als die Strecke abfällt, werden Horden weiterer Fahrzeu‐ ge aus Zubringerstraßen von Süden und Westen her einge‐ schleust. Über die Autodächer hinweg erblickt Ahmed das ihnen alle gemeinsame Endziel, eine langgezogene Fläche 378
aus gelbbraunem Mauerwerk und weißen Kacheln, in der sich drei Rundbögen für je zwei Fahrspuren auftun. Ein Schild sagt: Lkws rechte Spur. Andere Lastwagen – braune UPS‐Transporter, gelbe Ryders, alle möglichen Handwer‐ ker‐Pick‐ups, Anhängergespanne, die unter Gepuffe und Gequietsche ihre gigantischen Frachten an frischen Produk‐ ten aus dem Gartenstaat den Küchen von Manhattan ent‐ gegenschleppen – drücken sich nach rechts, können jedoch immer nur knapp einen Meter voranzockeln und müssen dann wieder bremsen. «Das ist jetzt der Moment zum Abspringen, Mr. Levy. Sobald wir im Tunnel sind, kann ich nicht mehr anhalten.» Der Beratungslehrer legt die Hände auf seine Schenkel in der unpassenden grauen Hose, damit Ahmed sieht, dass er nicht beabsichtigt, die Tür anzufassen. «Ich glaube nicht, dass ich aussteige. Wir stecken hier zusammen drin, mein Sohn.» Seine Pose ist tapfer, seine Stimme aber heiser und dünn. «Ich bin nicht Ihr Sohn. Wenn Sie versuchen, irgend‐ jemanden auf mich aufmerksam zu machen, lasse ich den Laster gleich hier hochgehen, im Stau. Das ist zwar nicht ideal, reißt aber noch genügend Leute in den Tod.» «Ich wette, dass du ihn nicht hochgehen lässt. Dafür bist du ein zu guter Junge. Deine Mutter hat mir mal erzählt, dass du auf kein Insekt treten konntest. Dass du immer ver‐ sucht hast, es auf ein Blatt Papier zu kriegen und aus dem Fenster zu befördern.» «Sie scheinen ja viele Gespräche geführt zu haben, meine Mutter und Sie.» «Beratungsgespräche. Wir wollen beide das Beste für dich.» «Ich trete nicht gern auf Insekten, aber ich fasse sie auch 379
nicht gern an. Ich hatte Angst, sie würden mich beißen oder ihren Kot auf meiner Hand hinterlassen.» Mr. Levy lacht, was Ahmed als kränkend empfindet. «In‐ sekten produzieren sehr wohl Kot», sagt er stur. «Das haben wir in Biologie gelernt. Sie haben einen Verdauungstrakt, einen Anus und alles, genau wie wir.» In seinem Gehirn herrscht Aufruhr, es stößt an seine Grenzen. Weil keine Zeit für Auseinandersetzungen zu bleiben scheint, nimmt er Mr. Levys Anwesenheit neben ihm wie etwas Immaterielles, Halbwirkliches hin – wie das Gefühl, das er immer hatte, Gott sei ihm näher als ein Bruder und er selbst ein halb entfaltetes Doppelwesen, wie ein gebundenes Buch, das zwei Arten von Seiten in sich vereint, die ungeraden und die geraden, die gelesenen und die ungelesenen. Überraschenderweise gibt es hier, an den drei Mündern (Manny, Moe und Jack) des Lincoln‐Tunnels, Bäume und grüne Pflanzen; über dem gestauten Verkehr mit seinem wirren Gebrodel aufleuchtender und erlöschender Brems‐ und Blinklichter trägt ein Erddamm ein dreieckiges gemäh‐ tes Grasstück. Ahmed denkt: Das ist das letzte Stück Erde, das ich je sehen werde, dieses kleine Rasenstück, auf dem nie jemand steht oder Picknick macht oder das je zuvor jemand mit Augen bemerkt hat, die im Begriff sind, blind zu wer‐ den. Ein paar Männer und Frauen in blaugrauen Uniformen stehen an den Rändern des verklumpten, vorankriechenden Verkehrs. Diese Polizisten wirken eher wie wohlwollende Betrachter als wie Wächter, plaudern in Zweiergruppen mit‐ einander und wärmen sich im wiedergeborenen, wenn auch noch dunstigen Sonnenschein. Wie sie es sehen, tritt so ein Stau an jedem Werktag um diese Uhrzeit ein, ist so natur‐ gegeben wie Sonnenaufgänge, Ebbe und Flut oder die üb‐ 380
rigen sinnlos wiederkehrenden Phänomene auf dem Plane‐ ten. Unter den Polizisten ist eine kernige Frau mit blondem, zusammengebundenem Haar, das im Nacken und an den Ohren unter ihrer Mütze hervorkommen darf; ihre Brüste drücken gegen die Taschen ihres Uniformhemds mit dem Polizeiabzeichen und den Schulterriemen; zwei Männer in Uniform hat es zu ihr hingezogen, einen weißen und einen schwarzen, die lüstern lächelnd die Zähne blecken und um die Hüften schwere Waffen tragen. Ahmed blickt auf seine Timex: acht Uhr fünfundfünfzig. Seit fünfundvierzig Minu‐ ten sitzt er im Lastwagen. Bis neun Uhr fünfzehn wird es vorüber sein. Indem er sich geschickt der Spiegel bedient, um noch das geringste Zögern eines Fahrzeugs neben ihm auszunut‐ zen, hat er den Laster nach rechts hinübermanövriert. Der Stau, der eine Weile undurchdringlich aussah, hat sich zu Kolonnen geordnet, die auf die beiden Tunnel in Richtung Manhattan zustreben. Auf einmal sieht Ahmed, dass ihn nur noch ein halbes Dutzend Lieferwagen und Autos von dem rechten Tunneleingang trennt. Da ist ein U‐Haul‐Mietlaster von schätzungsweise zwanzig Kubikmetern Ladevolumen, ein Imbisswagen mit Aluminiumhaut, ringsum hochgeklappt und verriegelt bis zu dem Moment, da er seine Theke vor‐ kippen und seine Küche anwerfen wird, um an irgendeinem Bordstein wenig anspruchsvolle Scharen von Laufkunden abzufüttern, sowie eine Reihe normaler Personenwagen, darunter ein bronzefarbener Volvo Station Wagon mit einer Familie von sanj darin. Mit einem höflichen Schwenken der Hand lädt Ahmed den Fahrer ein, vor ihm in die Schlange zu schlüpfen, die sich gebildet hat. «An der Mautstation wirst du nicht vorbeikommen», sagt ihm Mr. Levy warnend voraus. Es klingt gepresst, als hätte 381
ein sadistischer Quälgeist von hinten seinen Brustkorb in der Mangel. «Du siehst zu jung aus, als dass du in den ande‐ ren Staat fahren dürftest.» Doch niemand sitzt in der Bude, die für einen Mautein‐ nehmer eingerichtet ist. Kein Mensch. Eine grüne Leucht‐ schrift erscheint: E‐Z‐Pass bezahlt, und Ahmed und der wei‐ ße Laster dürfen in den Tunnel. Das Licht darin ist sofort sonderbar: Kacheln, die nicht ganz weiß, sondern kränklich cremefarben sind, bilden enge Mauern um den doppelten Strom von Lastwagen und Autos. Der so eingedämmte Lärm erzeugt ein Echo, eine Unterströmung, die ihn ein wenig dämpft, als käme er aus einiger Entfernung über eine Wasserfläche. Ahmed selbst fühlt sich bereits unter Wasser. Er stellt sich das schwarze Gewicht des Hudson vor, das auf ihm, auf der gekachel‐ ten Tunneldecke lastet. Das künstliche Licht im Tunnel ist mehr als ausreichend, nur klärt es nicht; die Fahrzeuge bewegen sich, im Tempo des langsamsten, durch so etwas wie ein gebleichtes Dunkel. Es gibt da Lastwagen, manche von ihnen so massig, dass die Dächer ihrer Auflieger an der Decke entlangzukratzen scheinen, jedoch auch Autos, die in dem metallischen Gebalge vor dem Tunneleingang zwi‐ schen die Lastwagen geraten sind. Durch seine Windschutzscheibe schaut Ahmed durch die Heckscheibe in den bronzefarbenen Station Wagon, ei‐ nen V 90, hinunter. Zwei Kinder, die hinten sitzen, blicken zu ihm auf, in der Hoffnung, etwas Unterhaltsames zu ent‐ decken. Sie sind nicht nachlässig angezogen, sie haben nur ebensolche sorgsam‐sorglose, ironisch‐protzige Sachen an, wie sie auch weiße Kinder zu einem Familienausflug tragen würden. Dieser schwarzen Familie ist es gut gegangen, bis Ahmed sie vor sich in die Schlange hineingewinkt hat. 382
Nach einem anfänglichen Spurt, einer sanften Aus‐ breitung in dem Raum, der sich durch die Entwirrung des Pfropfs vor dem Tunnel endlich aufgetan hat, gerät das Flie‐ ßen des Verkehrs durch irgendein unsichtbares Hindernis, durch irgendeine prekäre Stelle weiter vorn, ins Stocken. Manche Fahrer bremsen, Bremslichter strahlen auf. Dass man glatt vorankommen könnte, erweist sich als Illusion. Ahmed merkt, dass er für die Verlangsamung, für das Stop‐ and‐Go, gar nicht undankbar ist. Das abschüssige Stück, auf dem die Fahrbahn unerwartet uneben und holperig war für eine Fläche, die nie der Witterung ausgesetzt ist, drohte ihn und seinen Passagier allzu rasch zum tiefsten Punkt des Tunnels zu befördern, hinter welchem, nach zwei Dritteln der Tunnellänge, sich die theoretische Schwachstelle be‐ findet, wo, wie man ihn unterrichtet hat, der Tunnel eine Kurve machen und am schwächsten sein wird. Dort wird Ahmeds Leben enden. Ein Schimmer wie von einer wa‐ bernden Hitzespiegelung hat von seinem geistigen Auge Besitz genommen: Jenes Dreieck gepflegten, aber unbe‐ nutzten Rasens hoch über dem Tunnelschlund geht ihm nicht aus dem Sinn. Es hat Mitleid in ihm geweckt, dieses so gar nicht besuchte Rasenstück. Um seine trockene Kehle zu befreien, gebraucht er seine Stimme. «Ich sehe nicht jung aus», erklärt er Mr. Levy. «Wir Männer von nahöstlicher Abstammung, wir reifen schneller als Angelsachsen. Charlie hat immer gesagt, ich sähe aus wie einundzwanzig und könnte das größte Gespann fahren, ohne dass mich jemand anhält.» «Dieser Charlie hat alles Mögliche gesagt», erwidert Mr. Levy. Seine Stimme klingt verkrampft: eine hohl klingende Lehrerstimme. «Wäre es Ihnen lieber, wenn ich nicht rede, wo die Zeit 383
nahe rückt? Möglicherweise möchten Sie beten, auch wenn Sie ein Abgefallener sind.» Eines der Kinder hinten im Volvo, ein Mädchen, dessen buschiges Haar zu zwei komischen Kugeln hochgebunden ist, die den Ohren der einst so berühmten Cartoon‐Maus gleichen, versucht durch Lächeln bei Ahmed Beachtung zu finden; er ignoriert sie. «Nein», sagt Levy, als tue es ihm weh, auch nur diese eine Silbe hervorzubringen. «Rede ruhig weiter. Frag mich etwas.» «Scheich Rashid. Wusste Ihre Informantin, was mit ihm geschehen ist, als alles herauskam?» «Vorläufig ist er verschwunden. Aber bis in den Jemen zurück wird er’s nicht schaffen, das kann ich dir verspre‐ chen. Diese Burschen bleiben nicht für immer und ewig ungeschoren.» «Er hat mich gestern Abend besucht. Er hatte etwas Trau‐ riges an sich. Aber eigentlich hatte er das schon immer. Ich glaube, seine Gelehrsamkeit ist stärker als sein Glaube.» «Und er hat dir nicht gesagt, dass das Spiel aus ist? Char‐ lie ist gestern am frühen Morgen gefunden worden.» «Nein, er hat mir versichert, Charlie würde wie ge‐ plant mit mir zusammentreffen. Er hat mir alles Gute ge‐ wünscht.» «Er hat die Verantwortung ganz dir überlassen.» Ahmed hört den Hohn heraus und erklärt: «Es hängt ja auch allein von mir ab.» Er prahlt. «Heute Morgen standen zwei fremde Wagen auf dem Hof von Excellency. Ich habe gesehen, wie ein Mann mit lauter Befehlsstimme in ein Mobiltelefon gesprochen hat. Ich habe ihn gesehen, er mich aber nicht.» Von dem kleinen Mädchen angestachelt, drückt nun 384
auch ihr kleiner Bruder sein Gesicht an die gewölbte Heck‐ scheibe, und beide machen sie Glupschaugen und verzerren ihre Münder, um Ahmed zum Lächeln zu bringen, um An‐ erkennung zu finden. Mr. Levy lehnt sich in seinem Sitz zurück; entweder täuscht er Unbesorgtheit vor, oder er verkriecht sich hinter Bildern, die ihm seine Phantasie vor Augen führt. «Wieder mal so ein Pfusch im Auftrag von Onkel Sam. Womöglich hat der Matschkopf Kaffee kommen lassen oder einem Kumpel in der Zentrale dreckige Witze erzählt, wer weiß? Jetzt hör mal zu. Ich muss dir etwas sagen. Ich habe deine Mutter gebumst.» Die Kachelwände, fällt Ahmed auf, schimmern in einem dunklen Rosa, ein Widerschein der vielen Rücklichter, die aufleuchten, wenn die Leute wieder einmal auf die Bremse treten. Die Fahrzeuge zockeln ein paar Schritte voran, dann bremsen sie erneut. «Wir haben den ganzen Sommer über miteinander ge‐ schlafen», fährt Levy fort, als Ahmed nichts sagt. «Sie war phantastisch. Ich wusste nicht, dass ich mich je wieder in jemanden verlieben – dass ich die Säfte noch einmal zum Fließen bringen könnte.» «Ich glaube», sagt Ahmed nach einigem Überlegen, «meine Mutter ist schnell bereit, mit jemandem zu schlafen. Eine Schwesternhelferin steht auf vertrautem Fuß mit dem Körper, und sie betrachtet sich als eine befreite, moderne Frau.» «Also verbieg dich bloß nicht deswegen, willst du mir sagen: Es war keine große Sache. War es aber für mich. Sie hat mir die Welt bedeutet. Sie zu verlieren, ist für mich, als hätte ich eine große Operation hinter mir. Ich leide. Ich trin‐ ke zu viel. Du kannst das nicht verstehen.» 385
«Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sir, aber das verstehe ich durchaus», sagt Ahmed ziemlich hochmütig. «Nicht dass ich über die Vorstellung entzückt wäre, dass meine Mutter Un‐ zucht mit einem Juden treibt.» Levy lacht – ein raues Gebell. «Hey, mal langsam, wir sind hier alle Amerikaner. So ist’s doch vorgesehen, haben sie dir das an Central High etwa nicht beigebracht? Irisch‐ Amerikaner, Afroamerikaner, jüdische Amerikaner; es gibt sogar Araboamerikaner.» «Nennen Sie mal einen.» Levy ist verblüfft. «Omar Sharif», sagt er. Wenn er weni‐ ger unter Stress stünde, würden ihm bestimmt noch weitere einfallen. «Kein Amerikaner. Nächster Versuch.» «Hm – wie hieß der noch? Lew Acindor.» «Karem Abdul‐Jabbar», korrigiert ihn Ahmed. «Danke. Der war lange vor deiner Zeit.» «Aber er ist ein Held. Er hat gegen mächtige Vorurteile gekämpft.» «Ich glaube zwar, das war Jackie Robinson, aber egal.» «Nähern wir uns dem tiefsten Punkt des Tunnels?» «Woher soll ich das wissen? Irgendwann nähern wir uns allem. Der Tunnel hilft einem nicht groß bei der Orientie‐ rung, wenn man erst mal drinsteckt. Früher hatten sie auf den Seitengängen Polizisten stationiert, aber die sieht man jetzt nicht mehr. Es war wohl eine Disziplinarstrafe für sie, hierher abkommandiert zu werden, aber seit keiner mehr auf Disziplin Wert legt, haben sie’s bei den Bullen wohl auch aufgegeben.» Seit einigen Minuten schon geht es nicht mehr vorwärts. Hinter und vor ihnen fangen Autos zu hupen an; der Krach gleitet an den Kachelwänden entlang wie Atemluft in einem 386
riesigen Blasinstrument. Als verschaffe ihnen dieser Halt endlos Zeit zur Muße, wendet Ahmed sich Jack Levy zu und fragt: «Haben Sie während Ihres Studiums je den ägyp‐ tischen Dichter und politischen Philosophen Sayyid Qutub gelesen? Er kam vor fünfzig Jahren in die Vereinigten Staa‐ ten und war erstaunt über die Rassendiskriminierung und die unverhüllte Zügellosigkeit zwischen den Geschlechtern. Er schloss daraus, das keinem Volk Gott und die Frömmig‐ keit so fern sind wie dem amerikanischen. Aber der Begriff jāhiliyya, wie man den Zustand von Unwissenheit nennt, der vor Mohammed existiert hat, umfasst auch weltlich ge‐ sinnte Muslime, wodurch sie zu legitimen Attentatszielen werden.» «Klingt vernünftig. Ich werde ihn mal auf meine Wahl‐ lektüre‐Liste setzen, falls ich das hier überlebe. Ich habe in diesem Semester einen Staatsbürgerkunde‐Kurs über‐ nommen. Ich bin es satt, den ganzen Tag in diesem alten Geräteraum zu hocken und zu versuchen, mürrische Sozio‐ pathen davon zu überzeugen, dass sie weiter zur Schule ge‐ hen sollten. Sollen sie doch abspringen, lautet meine neue Devise.» «Sir, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie es nicht über‐ leben werden. In wenigen Minuten werde ich das Angesicht Gottes erblicken. Mein Herz fließt über vor Erwartung.» Auf ihrer Spur rückt der Verkehr zaghaft vor. Die Kinder in dem Fahrzeug vor ihnen sind ihre Versuche leid gewor‐ den, Ahmeds Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der klei‐ ne Junge, der eine rote Schildmütze und die Nachahmung eines gestreiften Hemds der Yankees trägt, hat sich zusam‐ mengerollt und ist eingedöst bei dem unaufhörlichen Stop‐ and‐Go, dem Quietschen und Schnaufen von Lastwagen‐ bremsen in dieser gekachelten Hölle voll raffinierten Erdöls, 387
das in Kohlenmonoxyd umgewandelt wird. Das Mädchen mit den buschigen Zöpfchen lehnt sich, einen Daumen im Mund, an ihren Bruder und starrt mit glasigen Augen zu Ah‐ med hinauf, nicht mehr um Anerkennung buhlend. Ahmed war drei, als sein Vater ihm den Rücken zukehrte und floh. Mit drei, hat er oft gedacht, kann ein Kind sprechen, laufen, mit drei ist es eine Person, kann betteln und trauern und bittere Tränen weinen. An all das erinnert er sich nicht. «Nur los. Geh doch hin zu dem Bastard», raunzt ihn Jack Levy an, der nun nicht mehr hingelümmelt, sondern auf‐ recht dasitzt. Die Erregung hat die kränkliche Gesichtsfar‐ be von seinen Wangen verscheucht. «Schau doch in Gottes verdammtes Angesicht, ich hab nichts dagegen. Was soll ich schon dagegen haben? Eine Frau, nach der ich verrückt war, hat mich abgehängt, mein Job zieht mich nur runter, Morgen für Morgen wache ich um vier auf und schlafe nicht mehr ein. Meine Frau – ach, Himmel, es ist einfach zu traurig. Da sieht sie, wie unglücklich ich bin, und gibt sich die Schuld daran, weil sie so grotesk fett geworden ist, und nun hat sie mit dieser Radikalkur angefangen, an der sie sterben kann. Sie leidet Höllenqualen, wenn sie nicht isst. Ich möchte zu ihr sagen: ‹Beth, vergiss es, was du auch machst, es wird mit uns nicht mehr so wie früher, als wir jung waren.› Nicht dass wir jemals was Besonderes gewesen wären. Wir haben manchmal gelacht, haben einander zum Lachen gebracht und die einfachen Dinge genossen, einmal in der Woche auswärts essen, einen Film anschauen, wenn wir die Ener‐ gie dazu hatten, ab und zu mit einem Picknickkorb zu den Tischen oben an den Wasserfällen hinaufgehen. Das einzige Kind, das wir hatten, Mark heißt er, lebt in Albuquerque und möchte nicht an uns erinnert werden – wer kann’s ihm schon verübeln? Wir haben es mit unseren Eltern genauso 388
gehalten – nur weg von ihnen, sie kapieren einfach nichts, sie sind peinlich. Dein Philosoph da, wie hieß er noch?» «Sayyid Qutub. Korrekter: Qutb. Mein früherer Lehrer Scheich Rashid hat ihn außerordentlich geschätzt.» «Es klingt so, als hätte er zu Amerika was Wichtiges zu sa‐ gen. Rasse, Sex – das sind die Gespenster, die uns die Luft nehmen. Wenn dein Dampf erst nachlässt, gibt dir Amerika nicht mehr viel. Nicht mal sterben lässt es dich, weil die Krankenhäuser aus Medicare so viel Geld rausquetschen, wie sie können. Die Pharmafirmen haben die Ärzte zu Ga‐ noven gemacht. Warum sollte ich noch weiter rumhängen, bis ich durch irgendeine Krankheit zur Milchkuh für eine Gaunerbande werde? Soll doch Beth das bisschen, was ich hinterlassen kann, genießen – so sehe ich’s. Ich falle der Welt nur noch zur Last, ich nehme bloß noch Platz weg. Na los, drück schon auf deinen verdammten Knopf. Wie der Typ in einem der Flugzeuge vom elften September zu irgendwem über Handy sagte: Es wird schnell gehen.» Über den eigenen Körper hinweg streckt Jack die rechte Hand nach dem Zünder aus, und zum zweiten Mal greift Ahmed mit seiner Hand nach ihr. «Bitte, Mr. Levy», sagt er. «Es ist meine Tat. Die Bedeu‐ tung verwandelt sich vom Sieg in eine Niederlage, wenn Sie es tun.» «Mein Gott, du solltest Anwalt werden. Okay, hör auf, mir die Hand zu zerdrücken. Ich hab’s nicht ernst gemeint.» Das Mädchen hinten in dem Station Wagon hat das kurze Gerangel gesehen und mit ihrem Interesse ihren Bruder aufgeweckt. Ihre vier glänzenden schwarzen Augen gucken starr herauf. Am Rand von Ahmeds Gesichtsfeld reibt sich Mr. Levy mit der anderen Hand die Faust. Vielleicht um Ahmed durch Schmeichelei zu besänftigen, sagt er: «Du 389
bist in diesem Sommer stark geworden. Nach unserem Gespräch hast du mir so schlaff die Hand gegeben, dass es schon beleidigend war.» «Ja, vor Tylenol hab ich keine Angst mehr.» «Vor Tylenol?» «Jemand, der auch in diesem Jahr von Central High ab‐ gegangen ist. Ein stumpfsinniger Schläger, der von einem Mädchen Besitz ergriffen hat, das ich mochte. Und das mich mochte, so seltsam ich ihr auch vorgekommen sein muss. Nicht nur Sie haben Schwierigkeiten auf dem romantischen Gebiet. Nach einigen islamischen Theoretikern ist es ei‐ ner der schwerwiegenden Irrtümer des heidnischen Wes‐ tens, dass eine animalische Funktion zum Götzen erhoben wird.» «Erzähl mir was von den Jungfrauen. Von den siebenund‐ zwanzig Jungfrauen, die sich im Jenseits deiner annehmen werden.» «Der heilige Koran nennt für die hūryāt keine bestimmte Zahl. Er sagt nur, dass sie viele sind, dass sie großäugig sind und sittsam den Blick senken und dass weder Mensch noch Dschinn sie je berührt hat.» «Dschinn, auch das noch! Au weia.» «Sie spotten, ohne die Sprache zu kennen.» Ahmed spürt, dass die verhasste Röte in seinem Gesicht aufglimmt, als er den Spötter belehrt: «Scheich Rashid hat die Dschinn und Huris als Symbole der Liebe Gottes zu uns erklärt, die über‐ all ist, sich ewig erneuert und die gewöhnliche Sterbliche nicht unmittelbar begreifen können.» «Okay, wenn du’s so siehst. Ich will darüber keine Dis‐ kussion anfangen. Mit einer Explosion kann man nicht dis‐ kutieren .» «Was Sie eine Explosion nennen, ist für mich ein Nadel‐ 390
stich, eine kleine Öffnung, die Gottes Macht in die Welt einströmen lässt.» Obwohl es bei dem stockenden Verkehrsfluss so aus‐ gesehen hat, als werde der Moment niemals kommen, zeigt Ahmed eine leichte Abflachung und dann ein sanftes An‐ steigen des Tunnelbodens, dass der tiefste Punkt erreicht ist, und die Biegung der gekachelten Wand ein Stück vor ihm, die nur sporadisch zwischen den hohen Laderäumen der dicht aufeinander folgenden Lastwagen sichtbar wird, markiert den Schwachpunkt, wo das fanatisch ordentliche, gut festgezurrte Quadrat von Plastikfässern zur Detonation gebracht werden sollte. Ahmeds rechte Hand löst sich vom Lenkrad und schwebt über der tarnfarbenen Metallbox mit der kleinen Mulde, in die sein Daumen passen wird. Wenn er darauf drückt, wird er sich mit Gott vereinen. Gott wird nicht mehr so entsetzlich allein sein. Er wird dich als seinen Sohn begrüßen. «Tu’s», drängt ihn Jack Levy. «Ich werde einfach aus‐ spannen. Mein Gott, was war ich müde in der letzten Zeit.» «Sie werden keinen Schmerz verspüren.» «Nein, aber andere dafür umso mehr», entgegnet der ältere Mann und lässt sich ganz tief herabsinken. Aber er kann nicht aufhören zu reden. «So hab ich mir’s nicht vor‐ gestellt.» «Was vorgestellt?» Bei Ahmeds reinem, ausgehöhltem Zustand stellt sich das Echo ganz von selbst ein. «Das Sterben. Ich dachte immer, ich sterbe einmal im Bett. Vielleicht bin ich ja darum nicht gern dort. Im Bett.» Er will sterben, denkt Ahmed. Er verhöhnt mich, damit ich ihm die Tat abnehme. In der sechsundfünfzigsten Sure spricht der Prophet von dem Moment, da die Seele dem Sterben‐ den bis zur Kehle hochgekommen ist. Dieser Moment ist da. 391
Die Reise, miraj. Buraq steht bereit, seine schimmernden weißen Flügel rascheln, entfalten sich. Und doch fragt Gott in derselben Sure, «Die hereinbrechende Katastrophe»: Wir haben euch geschaffen. Warum gebt ihr es denn nicht zu? Was meint ihr denn, wie es sich mit dem verhält, was ihr bei der Begattung als Samen ausstoßt? Erschafft ihr es› oder sind wir die Schöpfer? Gott möchte nicht zerstören; er war es, der die Welt geschaffen hat. Das Muster der Wandkacheln und der von Auspuffgasen geschwärzten Kacheln der Tunneldecke – unzählige sich wiederholende, mit zunehmender Ferne verjüngende Qua‐ drate, wie ein riesiger, in eine dritte Dimension ausgerollter Bogen Rechenpapier – bricht vor Ahmeds geistigem Auge nach außen in dem gigantischen göttlichen Schöpfungs‐ geschehen auf, eine konzentrische Welle nach der anderen, jede die andere weiter und weiter vom Ausgangspunkt des Nichts fortdrängend, während sich nach Gottes Willen der große Übergang vom Nichtsein zum Sein vollzieht. Dies war der Wille des Wohltätigen, des Barmherzigen, ar‐Rahmān und ar‐Rahīm, des Lebendigen, des Geduldigen, des Groß‐ mütigen, des Vollkommenen, des Lichtes, des Führers. Er will nicht, dass wir seine Schöpfung durch einen bereitwil‐ ligen Tod schänden. Sein Wille bewirkt Leben. Ahmed holt die rechte Hand ans Lenkrad zurück. Die beiden Kinder im Fahrzeug vor ihm, von ihren Eltern lie‐ bevoll angezogen und gestriegelt, allabendlich gebadet und besänftigt, schauen feierlich zu ihm auf, denn sie haben das Erratische in seinem Blick, das Unnatürliche an seiner Mie‐ ne durch seine schillernde Windschutzscheibe hindurch ge‐ spürt. Beruhigend lüpft er die Finger der rechten Hand vom Lenkrad und lässt sie wackeln wie die Beine eines auf dem Rücken liegenden Käfers. Endlich zur Kenntnis genommen, 392
lächeln die Kinder, und Ahmed kann nicht anders, als zurück‐ zulächeln. Er wirft einen Blick auf seine Uhr: neun Uhr acht‐ zehn. Der Punkt, an dem der Schaden am größten wäre, ist vorbeigeschlüpft; die Biegung des Tunnels wird langsam in ein sich weitendes Rechteck von Tageslicht hineingezogen. «Wie?», fragt Levy, als habe er Ahmeds Antwort auf seine letzte Bemerkung nicht ganz verstanden. Er kommt aus sei‐ ner versackten Haltung hervor und setzt sich auf. Die schwarzen Kinder, auf ähnliche Weise Rettung ah‐ nend, schneiden hinter der Heckscheibe des Volvo Gesich‐ ter, ziehen mit den Fingern ihre Augenwinkel herunter und wackeln mit herausgestreckten Zungen. Ahmed versucht, erneut zu lächeln, und wiederholt sein freundliches Fin‐ gergewackel, jedoch nur matt; er ist ausgepumpt. Das helle Maul des Tunnels weitet sich, um ihn und den Laster mit‐ samt seinen Geistern zu schlucken; alle zusammen tauchen sie in das stumpfe, sich jedoch klärende Licht eines weiteren Montags in Manhattan. Was immer den Verkehr im Tunnel so stockend, so zum Wahnsinnigwerden zäh gemacht hat, es hat sich endlich aufgelöst, sich verflüchtigt, und hier liegt nun eine offene, gepflasterte Fläche zwischen Apartment‐ häusern von maßvoller Höhe, Reklametafeln, Reihenhäu‐ sern aus Ziegelstein und, einige Blocks entfernt, zerbrech‐ lich anmutenden gläsernen Wolkenkratzern. Es könnte irgendein namenloser Fleck im Norden von New Jersey sein; nur die todsicher zu erkennende Silhouette dort vorn, die des Empire State Building, von neuem zum höchsten Gebäude von New York City geworden, tut etwas anderes kund. Der bronzefarbene Station Wagon saust nach rechts, südwärts. Die Kinder sind abgelenkt von all dem, was es in der Metropole zu sehen gibt, ihre Köpfchen schwenken hin und her, und sie winken Ahmed zum Abschied nicht 393
noch einmal zu. Er fühlt sich schlecht behandelt, nach dem Opfer, das er für sie erbracht hat. Neben ihm sagt Mr. Levy: «Mann!», und mimt dümm‐ lich einen High‐School‐Schüler. «Ich bin patschnass. Du hattest mich doch tatsächlich überzeugt.» Er merkt, dass er nicht den richtigen Ton getroffen hat, und fügt leiser hinzu: «Gut gemacht, mein Freund. Willkommen im Big Apple.» Ahmed ist langsamer gefahren und hat dann gehalten, nicht ganz in der Mitte der großen, weiten Fläche. Autos und Lastwagen, die hinter dem haltenden weißen Laster in die Freiheit drängen, scheren aus und hupen; Seitenfens‐ ter senken sich und spucken beleidigende Gebärden aus. Ahmed erkennt den beschleunigenden mitternachtsblauen Mercedes wieder und lächelt bei dem Gedanken, dass die‐ ser Flitzer trotz all seiner Überholversuche die ganze Zeit hinter ihm geblieben ist, samt seinem dünkelhaften, nichts‐ würdigen Investment‐Dieb von Fahrer. Jack Levy begreift, dass nun er der Verantwortliche ist. «So», sagt er. «Jetzt stellt sich die Frage: Was machen wir nun? Schaffen wir den Laster hier doch zurück nach Jersey. Sie freuen sich bestimmt, ihn wiederzusehen. Und dich auch, muss ich leider sagen. Aber – und ich werde der Aller‐ erste sein, der darauf hinweist – du hast kein Verbrechen begangen, außer eine Fuhre gefährliches Zeug mit einem Führerschein Klasse C CDL aus dem Bundesstaat hinaus‐ zukutschieren. Wahrscheinlich nehmen sie dir den Lappen ab, aber das ist okay. Im Möbel‐Ausliefern lag deine Zu‐ kunft ohnehin nicht.» Ahmed fährt den Laster ein Stück vor, damit er den Ver‐ kehr weniger behindert, und wartet auf eine Anweisung. «Geradeaus, dann links, wo du kannst», wird ihm gesagt. 394
«Ich will mit dir und diesem Ding hier in keinen Tunnel mehr, besten Dank. Wir nehmen die George‐Washington‐ Brücke. Was meinst du, könnten wir vielleicht die Siche‐ rung wieder aktivieren?» Ahmed greift hinunter, furchtsam nun, um den sorgsam eingestellten Mechanismus nur ja nicht falsch zu behan‐ deln. Der kleine gelbe Hebel macht schnapp; die gewichtige Sprengladung bleibt still. Mr. Levy, erleichtert, dass er noch am Leben ist, redet weiter. «Bieg an der Ampel da vorn nach links ab, das müsste die Tenth Avenue sein, nehm ich an. Ich versuch mich gerade zu erinnern, ob Lastwagen auf dem West Side Highway zugelassen sind. Könnte sein, dass wir auf den Riverside Drive müssen, oder wir schlagen uns einfach bis zum Broadway durch und bleiben immer weiter darauf, bis zur Brücke.» Ahmed lässt sich dirigieren; er biegt nach links ab. Der Weg vor ihm ist gerade. «Du fährst wie ein Pro», sagt Mr. Levy. «Fühlst du dich okay?» Ahmed nickt. «Du stehst un‐ ter Schock, das weiß ich. Ich auch. Aber es gibt wirklich kei‐ nen Platz, wo man diese Kiste parken könnte. Wenn du erst auf der Brücke bist, sind wir schon fast zu Hause. Sie führt auf die Route 80. Wir fahren sofort zum Polizeipräsidium, hinter dem Rathaus. Wir lassen uns nicht einschüchtern von den Mistkerlen. Dadurch, dass du diesen Laster in einem Stück zurückbringst, stehen sie gut da, und wenn sie ein bisschen Grips haben, wissen sie das auch. Es hätte zu einer Katastrophe kommen können. Wenn irgendwer versucht, dich unter Druck zu setzen, erinnere sie daran, dass du von einem CIA‐Mitarbeiter dazu angestiftet worden bist, im Rahmen einer Agent‐Provocateur‐Aktion von höchst zwei‐ felhafter Legalität. Du bist ein Opfer, Ahmed – ein Sünden‐ bock. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ministerium 395
für Heimatschutz diese Geschichte in allen Details in den Medien sehen oder erleben möchte, dass sie in irgendeinem Geriehtssaal wiedergekaut wird.» Für einen Block oder zwei bleibt Mr. Levy still und wartet ab, ob Ahmed etwas sagt; dann sagt er: «Ich weiß, es klingt vielleicht voreilig, aber das war kein Scherz, als ich gesagt hab, du würdest einen guten Anwalt abgeben. Du bleibst unter Druck cool. Du kannst gut reden. In den nächsten Jahren werden viele Araboamerikaner Anwälte brauchen. Oh‐ooh – ich glaub, wir sind auf der Eighth Avenue, und ich wollte uns eigentlich auf Tenth bringen. Fahr aber ru‐ hig weiter – so kommen wir über Columbus Circle auf den Broadway. Ich glaube, sie nennen das Ding immer noch Columbus Circle, dabei ist der arme Itaker doch gar nicht mehr politisch korrekt. Das da links ist das Port Authority Bus Terminal – wahrscheinlich warst du da schon ein‐, zwei‐ mal. Dann kommen wir gleich über die Forty‐second Street. Die hab ich noch aus Zeiten in Erinnerung, wo sie wirklich räudig aussah, aber der Disney‐Konzern hat da gründlich aufgeräumt, soviel ich weiß.» Inmitten der gelben Taxis, der Ampeln und der Fußgän‐ gertrauben an jeder Ecke möchte Ahmed sich auf diese neue Welt um ihn herum konzentrieren, aber Mr. Levy hat einen Gedanken nach dem anderen. Er sagt: «Was mich noch inter‐ essiert, ist, rauszufinden, ob das verdammte Zeug da hinten wirklich zündbereit verdrahtet war – oder ob’s unserer Seite gelungen ist, auch das zu türken. Das war meine einzige und letzte Karte, aber ich war sehr glücklich darüber, dass sie nicht auf den Tisch musste. Gott sei Dank dafür, dass du gekniffen hast.» Das klingt in seinen eigenen Ohren un‐ erträglich. «Oder, sagen wir mal, dich hast erweichen lassen. Dass du das Licht gesehen hast.» 396
Überall um sie her, die Eighth Avenue hinauf zum Broad‐ way, wimmelt es in der großen Stadt von Menschen, man‐ che chic, die meisten schäbig angezogen, einige wenige schön, die meisten jedoch nicht, alle von den turmhohen Bauten um sie her auf Insektengröße reduziert, und den‐ noch hasten sie dahin, in der milchigen Morgensonne auf irgendeinen Plan, ein Projekt, eine Machenschaft versessen, oder auf eine Hoffnung, die sie für sich selbst liegen und die ihnen Grund gibt, einen weiteren Tag zu leben, jeder Ein‐ zelne von ihnen lebendig auf die Nadel des Bewusstseins gespießt, auf Selbstförderung und Selbsterhaltung fixiert. Auf das, und nur auf das. Diese Teufel, denkt Ahmed, haben mir meinen Gott weggenommen. Zentaur 2006‐12‐23
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