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Perry Rhodan Testfall Lafayette
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Perry Rhodan Testfall Lafayette
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Perry Rhodan Testfall Lafayette
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Genehmigte Exklusivausgabe für Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1998 Copyright by Verlagsunion Erich Pabel - Arthur Moewig KG, Rastatt Redaktion: Sabine Bretzinger / Klaus N. Frick Einbandgestaltung: Agentur Zeuner, Ettlingen Gesamtherstellung: Graphischer Großbetrieb Pößneck Printed in Germany 1999 ISBN 3-8289-6684-5 Vorwort
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Liebe Leserinnen, liebe Leser, um es gleich vorwegzunehmen: Zwei Handlungsebenen bestimmen dieses Buch, und beide sind für den großen THOREGON-Zyklus von großer Bedeutung - auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag. Auf der einen Ebene agiert Perry Rhodan selbst, auf der anderen Ebene werden die Geschehnisse in der heimatlichen Milchstraße beleuchtet, die von einer unglaublichen Invasion bedroht wird. Doch erst einmal der Reihe nach ... Schauen wir uns zuerst die Situation in der Milchstraße an, wie sie sich im Jahr 1288 Neuer Galaktischer Zeitrechnung darstellt, also im Jahr 4875 nach Christi Geburt. Längst haben die Menschen die Raumfahrt kennengelernt, längst ist die Erde das Zentrum eines Sternenreiches, der Liga Freier Terraner. Auf Tausenden von Planeten in der ganzen Galaxis leben Menschen. Leider ist die Situation in der Milchstraße nicht optimal: Zwischen den großen Machtblöcken gibt es Spannungen. Die Liga Freier Terraner mit ihren tausend Planeten ist ein Machtblock, ihr gegenüber steht die größte Militärmacht der Milchstraße, das immer stärker aufblühende Kristallimperium der Arkoniden. Als dritte Macht innerhalb der Galaxis muß das Forum Raglund angesehen werden, ein lockerer Zusammenschluß anderer raumfahrender Völker. Um sich aus diesen Konflikten heraushalten zu können und nach Wegen für einen Frieden zu suchen, haben sich Perry Rhodan und seine engsten Gefährten längst aus dem politischen Geschehen zurückgezogen. Das Projekt Camelot verfügt mittlerweile mit dem faszinierenden Raumschiff GILGAMESCH über den größten Kampfraumer, den die Galaxis aufzubieten hat. Ausgerechnet auf dem Planeten Trokan, dem ›zweiten Mars‹, der anstelle des ursprünglichen Roten Planeten um die Sonne kreist, beginnt eine Entwicklung, die zum THOREGON-Komplex hinleitet. Als nämlich Perry Rhodan sowie seine Begleiter Reginald Bull und Alaska Saedelaere den sogenannten Pilzdom auf Trokan betreten, verschwinden sie spurlos - an ihrer Stelle erscheint ein unheimlich wirkendes Wesen, das sich Kummerog nennt. Und fast zur selben Zeit erscheinen mysteriöse Raumschiffe in der Milchstraße, die man wegen ihrer Form als ›Igelschiffe‹ bezeichnet. Keiner weiß bislang, was ihre Besatzungen möchten. Soweit der Ausgangspunkt auch für dieses Buch, das vier Romane von vier Autoren enthält und auf den -6-
eben beschriebenen zwei Handlungsschauplätzen spielt. Peter Terrid hat in ›Hüter der Glückseligkeit‹ die schöne Aufgabe, Perry Rhodan und Reginald Bull an ihrem neuen Aktionsort zu beschreiben. Die beiden Terraner, die sich seit dem ersten Mondflug kennen, hat es auf den Planeten Galorn verschlagen, wo sie sich der Angriffe eines fremden Wesens zu erwehren haben. Das einzige Ziel der beiden Menschen ist es, sich durch die Stadt Gaalo zu kämpfen, um dort weitere Hinweise zu erhalten. Natürlich können sie noch nicht wissen, wie eng die Geschehnisse in der Galaxis Plantagoo mit jenen in der Heimat verbunden sind. Dort wiederum beginnt die unheimliche Invasion der ›Igelschiffe‹ erst recht. In ›Krieger der Gazkar‹ setzt Susan Schwartz das packende Geschehen auf der Sumpfwelt Lafayette fort. Nur zwei Menschen haben dort einen Überfall der Fremden überlebt und schlagen sich jetzt durch die Sümpfe ... Ihnen zur Hilfe eilt unter anderem Icho Tolot, der riesenhafte Haluter. In ›Testfall Lafayette‹ setzt H. G. Francis eine der beliebtesten PERRY RHODAN-Figuren eindrucksvoll in Szene. Den Höhepunkt der Lafayette-Romane schrieb Arndt Ellmer: ›Eine Ladung Vivoc‹ ist das, auf was die Invasoren offensichtlich warten - und so lautet auch der Titel seines Romans, der dieses Buch abschließt. Schon jetzt läßt sich feststellen, daß unsere Helden in ganz verschiedenen Bereichen des Kosmos aktiv sind. Auf den ersten Blick haben alle Ereignisse nichts miteinander zu tun; in Wirklichkeit jedoch schwebt über alledem das geheimnisvolle THOREGON und die mysteriöse Brücke in die Unendlichkeit. Seien Sie gespannt, wie es weitergeht!
Klaus N. Frick PERRY RHODAN-Redaktion Peter Terrid
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Hüter der Glückseligkeit
1. Hoch über unseren Köpfen zieht die Antigravplattform ihre Bahn. Reglos steht sie auf der fliegenden Scheibe: eine grüngekleidete humanoide Gestalt mit blauer Haut. Man hat uns gesagt, wer diese Person ist: der Andro-Hüter. Sein Eigenname ist Szuker, vorausgesetzt, wir haben unsere Gesprächspartner richtig verstanden. Bisher können wir das Goo-Standard, die allgemeine Verkehrssprache der Galaxis Plantagoo, nur mühsam radebrechen. Perry ist auf diesem Gebiet zweifellos besser als ich, aber noch immer sind wir gezwungen, uns mit Händen und Füßen und Grimassenschneiden verständlich zu machen. Aber wir haben keine andere Wahl - weil wir keine technischen Hilfsmittel haben. Uns stehen zwei Kombigeräte zur Verfügung, eines für jeden von uns, die uns die Tageszeit und das Datum verraten, natürlich bezogen auf Terra und damit unter den gegenwärtigen Verhältnissen völlig nutzlos. Außerdem können wir von den Kombiarmbändern erfahren, daß es ziemlich kalt ist in der seltsamen Stadt Gaalo, aber auch das wissen wir bereits seit Tagen. Das Wissen tröstet wenig, wenn man schlottert und mit den Zähnen klappert, daß die Temperatur bei minus vier und nicht bei minus sieben Grad liegt. Ich blicke weiter nach oben, hinauf zum Andro-Hüter. Er ist der Herr über Gaalo, so hat man uns gesagt. Er ist dafür zuständig, die städtischen Roboter zu kontrollieren - große Schüsseln, in Rosa gehalten. Viel zu tun haben die Schüsselroboter nicht. Sie verteilen die Nahrung und die allseits beliebten Miniaturöfen; allein durch ihre Anwesenheit schlichten sie Streitigkeiten, und wo das nicht gelingt, kümmern sie sich um -8-
den Abtransport der Leichen. Der Andro-Hüter und seine Schüsselroboter sind die Herren und Gebieter der Stadt Gaalo, und ganz offenkundig haben die Bewohner der Stadt in diesem Augenblick an dem Regime nichts auszusetzen. Auch mir geht es so. Noch stehe ich unter dem Bann des gerade Erlebten ... Glücks-Reduktion nennen die Einheimischen diesen Vorgang, auf den ersten Blick ein scheußlicher Begriff. Unwillkürlich hatte ich mir dabei vorgestellt, daß jeder Betroffene dadurch zum Pechvogel der Extraklasse würde und ihm die unwahrscheinlichsten Unglücksfälle zustießen. »Wie geht es dir?« Ich horche in mich hinein und lächle. »Satt und zufrieden«, antworte ich. »Rundherum satt und zufrieden. Perfekt geradezu.« Perry Rhodan nickt langsam. In seine grauen Augen ist ein nachdenklicher Ausdruck getreten. »Mir geht es genauso«, sagt er leise. »Beinahe.« »Wieso beinahe?« Ein feines Lächeln taucht auf seinem Gesicht auf. »Das Gefühl verflüchtigt sich langsam. Die Realität holt uns wieder ein, und bald wird sie uns im Griff haben.« Die Realität, das ist Gaalo, eine Versammlung von insgesamt fünf Bezirken, von denen vier getrost als Slums bezeichnet werden können. Und in der Mitte ist jener Bezirk, in den der Andro- Hüter jetzt in majestätischer Langsamkeit zurückkehrt Herz-FÜNF, der Sperrbezirk, in den niemand hinein darf. Ob dort überhaupt jemand außer dem Andro-Hüter lebt? Wir wissen es nicht. Im Augenblick interessiert uns dies alles nicht sonderlich. Wir haben eine Glücks-Reduktion erlebt, so ziemlich das Vollkommenste, das einem lebenden Geschöpf geboten werden -9-
kann. Ja, der Name paßt durchaus, man muß ihn nur anders interpretieren. Glücks-Reduktion, das heißt: Du wirst in deinem Denken und Fühlen reduziert auf das Empfinden eines ungetrübten, perfekten Glücks. Noch genauer: Es werden nicht nur alle deine Sehnsüchte gestillt, vielmehr hast du keine Sehnsüchte mehr. Da ist keine Lücke mehr, die aufgefüllt werden müßte, keine unerledigte Rechnung aus der Vergangenheit, die noch präsentiert werden sollte. Nichts mehr interessiert dich wirklich, nach nichts verlangt es dich mehr, außer dem einem: Dieser Augenblick der Glücks-Reduktion ist so köstlich, daß er ewig währen sollte - und wenn du diesen Punkt erst einmal erreicht hast, dann sieht es auch so aus und fühlt sich so an, als würde das Glück ewig währen. »Verweile doch, du bist so schön!« höre ich Perry mit geschlossenen Augen murmeln. Klingt nach einem Zitat, übrigens einem, das ich kennen sollte und könnte. Sei's drum. Langsam dringt der unangenehme Alltag von Gaalo wieder in meine Wahrnehmung ein. Da ist diese Kälte, eine böse, nässende und buchstäblich ätzende Kälte. Nicht jener klirrende, staubtrockene Frost, der einen Winterurlaub zum Erlebnis werden lassen kann; die Kälte von Gaalo ist schmierig und hartnäckig, kriecht in die Kleidung, klebt an der Haut fest und schmatzt einem die Kraft aus jedem Muskel. Sie ist widerwärtig, nicht zuletzt deswegen, weil sie unaufhörlich zu sein scheint. Ich habe den Blick nach oben gerichtet. Herz-FÜNF ist von einer Mauer umgeben, wie eine Festung. Herz-FÜNF liegt knapp vierzig Meter über dem Rest der Hochebene und den anderen Stadtteilen. Wahrscheinlich hat man eine Art Tafelberg gefunden und derart ausgebaut; oder speziell für Herz-FÜNF wurde das Erdreich vierzig Meter hoch aufgeschüttet und dann mit einer Mauer aus Beton umgeben. Am Zustand des Betons kann man erkennen, daß die Stadt schon -10-
viele Jahre auf dem Buckel hat. Er ist von grünen Moosen und Flechten überzogen, die als eine glitschige, kletterfeindliche Oberflächenversiegelung den Beton überziehen. Vor uns ragt der sogenannte Bunker in die Höhe, eine halbrunde Vorwölbung der Stadtmauer, vierzig Meter hoch und sechzig Meter breit. Jetzt, in diesem Augenblick öffnet sich ein Stück der massiven Betonwand, eine Schleuse tut sich auf, und die Antigravplattform mit dem Hüter der Glückseligkeit verschwindet darin. Damit ist das Ritual beendet. Ich sehe und höre, wie Perry einen langen Seufzer ausstößt. Gleichzeitig beginnt sich die Menge in unserer Nähe zu zerstreuen. Ich blicke in die Gesichter der Tasch-Ter-Man, der Mocksgerger, der Kroogh und der Zentrifaal, aber meine Kenntnis der Plantagoo-Völker, deren Sprache, Mimik und Gestik ist viel zu gering, um erkennen zu können, was in ihnen vorgeht. Ohne Translator komme ich mir in dieser Situation wie verstümmelt vor. Gerade wenn Angehörige zweier verschiedener Völker oder Kulturen aufeinandertreffen, ist Kommunikation von allergrößter Bedeutung, und ohne die Hilfe eines modernen Translators ist diese Kommunikation ein elend schwieriges Geschäft, das sich in die Länge ziehen kann. »Wir müssen dort hinein«, läßt Perry sich vernehmen. Ich sehe, wie er auf den Bunker deutet. »Da hinein? Durch meterdicken Beton? Und wie willst du das machen, ganz ohne Werkzeuge?« Wir haben keine Waffen bei uns - vielleicht ganz gut so. Ich jedenfalls wäre sehr mißtrauisch geworden, wäre in meinem Vorgarten ein Alien gelandet, das mit Waffen behangen war. Aber leider hatten wir nicht einmal ein Vibratormesser dabei, praktisch gar nichts, was uns nützte. Es gab auf Galorn durchaus moderne Technik. Ein Beweis dafür war die Antigravplattform, die der Hüter des Glücks be-11-
nutzt hatte. Ein anderer Beweis waren die Raumschiffe gewesen, die auf der Hochebene gelandet waren. Wir hatten sie vom Pilzdom aus sehen können, seltsame, daumenförmige Raumer unbekannter Herkunft. Auch die Schüsselroboter machten einen durchaus modernen Eindruck. Dann aber gab es eine klaffende Lücke bis zum Niveau der Stadt- oder vielleicht besser Slumbewohner, denn das Leben, das die Geschöpfe von Gaalo führen mußten, war wirklich erbärmlich. Im Grunde waren alle diese Plantagoo-Intelligenzen Fürsorgeempfänger, auf die Fütterung und Einkleidung durch die Schüsselroboter angewiesen. Es gab keine Industrie in Gaalo, keine Landwirtschaft in der Umgebung der Stadt, nur die heruntergewirtschafteten Häuser, die nicht gereinigten Straßen, die kümmerlichen Unterstände. Schon nach dem ersten Kontakt hatte ich mich gefragt, was diese Lebewesen wohl auf Gaalo hielt, da sie doch offenbar mit einem Raumfahrzeug angekommen waren und mit einem anderen Raumfahrzeug wegfliegen konnten. Aus welchem Grund ertrugen die Gaalo-Bewohner dieses elende, materiell kümmerliche Leben und die Entwürdigung, die es mit sich brachte? Nun, inzwischen weiß ich, warum. Auf dem Höhepunkt jeder Glücks-Reduktion habe ich mich selbst gefragt, ob dies nicht die beste aller Lösungen auch für mich war, und in diesem Augenblick hatte die Antwort eindeutig ›Ja!‹ gelautet. Sich Wünsche erfüllen zu können, war gewiß eine feine Sache, aber in der buchstäblichen Bedeutung dieser Redensart wirklich und wahrhaftig wunschlos glücklich zu sein, war eine ganz andere Erfahrung. Aber jetzt... »Wir werden es schon schaffen. Wir haben doch immer einen Weg gefunden, Probleme zu lösen, nicht wahr, Dicker?« Dieses Mal lächelt er nicht, diesmal zeigt er ein Grinsen. Aber es sieht -12-
anders aus, als ich es von ihm kenne, nicht so breit, und es liegt auf einem Gesicht, das schmal und hart geworden ist. Ich ahne, daß ich nicht viel besser aussehe. Wir haben tagelang von kümmerlichsten Vorräten gelebt, unten, auf der Basaltebene. im Dschungelstreifen und während des Aufstieges durch die Felswand. Danach ist es nicht viel besser geworden. Wir haben uns von den Schüsselrobotern füttern lassen, mehr ist nicht zu erreichen gewesen. Das Essen ist nicht besonders, weder besonders schlecht noch besonders gut. Es ist knapp bemessen, eine Fingerbreite oberhalb einer Hungerration. Dazu die Kälte, der ätzende Regen, der klamme Wind ... Die letzten Tage haben uns geschlaucht und ausgepumpt, trotz Aktivator. Wahrscheinlich habe ich Dutzende von Kilo verloren und sehe jetzt aus wie mein eigenes Gespenst, aber hoffentlich nicht so ausgemergelt wie Perry. Er ist von Natur aus ein hagerer Kerl, aber jetzt macht er einen fast ausgemergelten Eindruck. Die Augen liegen tief in den Höhlen, die Haut wirkt gerötet, teilweise fleckig und schrundig. Ich nicke langsam. Perrys Optimismus ist einfach nicht totzukriegen, und immer reißt er mich damit mit. Schon seit Jahrtausenden, praktisch, seit wir uns kennengelernt haben. »Klar, schaffen wir, Perry«, höre ich mich sagen.
2. Foremon hatte Mühe, die Ereignisse zu verdauen. Dinge waren geschehen, die seinem Denken und Empfinden kraß zuwiderliefen. Für ihn, den Wächter der Ebene, war körperliche Unbeweglichkeit etwas Gräßliches gewesen, verbunden mit einem -13-
Gefühl von Ohnmacht. Aber dieses Mal... Foremons sensibler, zerbrechlicher Körper war von Empfindungen durchrast worden, die er nie zuvor wahrgenommen hatte. Für lange Augenblicke hatte er sich frei gefühlt, frei von allem. Die Verantwortung für die Ebene und den Pilzdom hatte ihn nicht mehr belastet. Die Abscheu vor den Fremden, die er jagte, hatte ihn verlassen; er grollte ihnen nicht mehr wegen des Todes des vierten Boten von Thoregon, auch nicht wegen des Mordes an Steinkind. Völlig reglos hatte Foremon das alles über sich ergehen lassen. Es war angenehm gewesen, obwohl er nichts hatte tun können, nicht einmal Energie aufnehmen. Das Wetter war einfach zu schlecht dafür. Auf der anderen Seite würde er auch so viel Energie nicht benötigen. Seine Heimat war die Basaltebene, nur dort war er in der Lage, seine besondere Gabe einzusetzen und zu morphen. Hier oben kam dergleichen wohl kaum in Frage. Erstarrt und dennoch glücklich - eine seltsame Kombination. Sie hatte nichts gemein mit den Ruhephasen, die Foremon aus seiner Vergangenheit bekannt waren. In denen hatte er Kräfte und Energien akkumuliert, in Vorbereitung auf etwas, das den Einsatz seiner Kräfte notwendig machen würde. Foremon hatte einen Standort bezogen, von dem aus er die Stadt überblicken konnte. Dorthin kehrte er auch nach Abschluß des Vorgangs der Glücks-Reduktion in die Wirklichkeit zurück und gewann erneut die Kontrolle über seinen Körper. Die Stadt gefiel ihm nicht. Er hatte Jahrhunderte in Ruhe, Einsamkeit und stiller Pflichterfüllung vollbracht, wie es seiner Art entsprach. Er hatte gelegentlich Besucher vom Pilzdom geholt oder zum Pilzdom gebracht, am häufigsten Ce Rhioton, manchmal andere. Foremon war an den Anblick fremder Metabolismen und -14-
Physiognomien durchaus gewöhnt, in dieser Hinsicht kannte er keine Vorurteile. Aber er hatte niemals, auch nicht entfernt, den Wunsch verspürt - es war überhaupt nicht seine Art, Wünsche zu haben mit diesen Geschöpfen zusammenzuleben. Er mochte Galorn so, wie der Planet war und sich um Galornenstern bewegte. Foremon wußte, daß Galorn nicht seine Heimat war, aber auch das weckte in ihm nicht den Wunsch nach weiterer Information, geschweige denn ein Gefühl von Sehnsucht nach seinesgleichen. Schon gar nicht nach einem Bevölkerungsgewimmel, wie es in Gaalo festzustellen war. Irgendwo unter diesen Tausenden von Stadtbewohnern waren vermutlich die beiden Verbrecher zu finden. Nein, nicht waren zu finden, es mußte heißen hatte er zu finden. Unter gar keinen Umständen durfte der Tod des Boten von Thoregon ungesühnt bleiben, unter gar keinen Umständen durfte der Meuchler Perry, der hagere der beiden Humanoiden, mit dem hochwichtigen, unersetzlichen Passantum davonkommen. Offenbar war sich dieser Perry der Macht, die ein Passantum verkörperte, gar nicht bewußt, er machte jedenfalls keinen Gebrauch davon. Gut so, Foremon konnte es nur recht sein. Der Augenblick des wunschlosen Glücks war vergangen, und Foremon empfand ein wenig Bedauern darüber. Dann aber setzte sein normales Denken schnell und präzise wieder ein. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich dieser Prozedur zu unterziehen, so angenehm sie auch sein mochte. Es galt, Perry und Bully zu finden, den hageren und den rothaarigen Humanoiden. Foremon hatte die Spuren der beiden auf der Basaltebene verfolgt und studiert, und er wußte, daß die Fremden Nahrung und Wasser brauchten. Sie konnten nicht wie er Energie aus der Sonnenstrahlung und Material aus der Umgebung beziehen. Sie waren auf anderes Futter angewiesen, wie fast alle Foremon bekannten Völker Plantagoos. Und solches Futter gab es nur in -15-
Gaalo, nirgendwo sonst. Es sei denn, Perry und Bully hatten sich abgesetzt zu einer der anderen Städte, die Galom aufzuweisen hatte. Aber diese Siedlungen waren verlassen und funktionierten nicht mehr; dort gab es weder Nahrung noch Wasser, noch Schutz vor Witterung. Die beiden Fremden wären dort in jedem Fall zum Tode verurteilt - Foremon brauchte sie dann nur noch zu suchen und der Perry- Leiche das Passantum abzunehmen. Aber es war nicht anzunehmen, daß die Fremden Foremon die Arbeit so leicht machen würden. Eines hatte der Wächter der Ebene schon lernen müssen, schmerzhaft und um einen hohen Preis: Die Humanoiden waren intelligent, reaktionsschnell, gerissen und gänzlich ohne Skrupel. Diese Eigenschaften mußten sie haben, anderenfalls hätte Foremon sie längst zur Strecke gebracht. Aber sie waren ihm entkommen, sie hatten die Ebene verlassen, und vorher hatten sie den Boten getötet und Steinkind zertrümmert... Nein, diese Feinde durfte man nicht unterschätzen, niemals, sonst war man selbst verloren. Die Glücks-Reduktion hatte Foremons Denken und Empfinden gesäubert, er wußte jetzt sehr genau, was er zu tun hatte. Als erstes galt es, eine einfache Frage zu beantworten: Konnten es Perry und Bully schaffen, nach Herz-FÜNF zu gelangen? Nach langem Grübeln kam Foremon zu dem Ergebnis: Nein. Hätten sie es geschafft, wäre es im Inneren von Herz-FÜNF nicht so ruhig und friedlich zugegangen. Die Schlußfolgerung daraus: Die beiden Untäter hielten sich irgendwo in Gaalo versteckt. Und mit welcher Absicht? Vermutlich hatten sie es auf ein Raumschiff abgesehen, das sie mitsamt ihrer kostbaren, unersetzlichen Beute von Galorn fortbringen konnte. Dann konnten sie versuchen, auf einer anderen Welt von Plantagoo einen -16-
Pilzdom und damit den Zugang zur Brücke in die Unendlichkeit zu entdecken - was unter gar keinen Umständen geschehen durfte. Also: Foremon hatte keine andere Wahl, ob er wollte oder nicht, er mußte sich unter das Volk von Gaalo mischen. Das Risiko für Foremon war extrem hoch. Fast alle Bewohner Gaalos waren körperlich so kompakt und kräftig gebaut, daß sie Foremon allein mit einem unabsichtlichen Rempler auf der Stelle hätten töten können. Immerhin hatte er seit einiger Zeit Gehilfen, zwei Tasch-Ter-Man, die sich ihm freiwillig und ehrerbietig angeschlossen hatten - der ›zerbrechlichen Gottheit‹, wie sie ihn genannt hatten. Wenn er die kräftigen Tasch-Ter-Man als Leibwächter einsetzte, hatte er eine akzeptable Chance ... Der Wächter der Basaltebene war ein intelligentes Geschöpf, das vieles durchdacht und erwogen hatte in den ersten Minuten nach der Glücks-Reduktion. Während seine Begleiter noch halb benommen waren von der erlebten Glückseligkeit, war Foremon schon wieder zur Tagesordnung übergegangen und hatte das Für und Wider und seine Möglichkeiten abgeschätzt. Was ihm dabei nicht bewußt geworden war, war dieses: daß er die Jagd auf Perry und Bully in jedem Fall fortgesetzt hätte, weil es für ihn eine unakzeptable Chance gar nicht gab, sondern nur den Auftrag, den er zu erfüllen hatte. Aber darüber dachte Foremon nicht einmal nach. »Geht voran!« bestimmte er energisch. »Ich suche zwei Geschöpfe, die sich hier in Gaalo versteckt halten. Diese Geschöpfe muß ich unter allen Umständen finden.« »Wir werden dir helfen und gehorchen, Gottheit«, beteuerte einer der Tasch-Ter-Man. Foremon beschrieb das Äußere der beiden Verbrecher, und die Tasch-Ter-Man schauten ihn an, als hätten sie ihn sehr genau verstanden. Einen Augenblick lang erwog Foremon, die Suche nach Perry -17-
und Bully allein den beiden Tasch-Ter-Man zu überlassen. Aber er war ihrer frisch gelobten Gefolgschaftstreue nicht sicher genug - wenn sie Dummheiten machten oder ihr Versprechen nicht einhielten, gingen ihm die Verbrecher durch. Das durfte keinesfalls geschehen. Vorsichtig bewegte sich das Trio durch die Gassen der Stadt. Foremon war im Gebiet von West-VIER herausgekommen, weil er sich gesagt hatte, daß dies der naheliegende Zufluchtsort für die Fremden sein mußte. Die Straßen von West-VIER wirkten vergleichsweise leer. Viele der Bewohner hatten es nach der Glücks-Reduktion, auf die sie sehr lange hatten warten müssen, vorgezogen, sich in ihre Unterschlupfe zu verkriechen und dort die Reduktion ein wenig nachwirken zu lassen, so lange zu genießen und auszukosten, wie es nur möglich war. Foremon schritt schweigend hinter den Tasch-Ter-Man her. Diese Spezies hatte für ihn den großen Vorteil, daß sie über weitaus mehr Wahrnehmungsmöglichkeiten verfügten als andere Geschöpfe aus Plantagoo. Und sie konnten auch mit mehr als einem Geschöpf kommunizieren. Für Foremon, der manchmal über Jahrzehnte hinweg keinen Laut von sich gegeben hatte, war es am Anfang nur schwer zu ertragen, wenn seine beiden Begleiter mit fünf oder mehr Stimmen gleichzeitig sprachen, weil sie mit so vielen Passanten zu reden versuchten. Foremon war soviel Geschwätz einfach nicht gewöhnt, aber er akzeptierte es nach kurzer Zeit als Bestandteil seiner Aufgabe. »Jemand hat die Fremden gesehen!« wurde Foremon nach einiger Zeit informiert. »Man hat auch mit ihnen gesprochen. Sie heißen Perry Rhodan und Reginald Bull, reden sich aber mit ›Perry‹ und ›Bully‹ an.« »Wann und wo hat man sie gesehen?« fragte der Wächter der Basaltebene. -18-
Die Luft war sehr schlecht, und das lag zweifellos an den vielen Lebewesen, die sich in der Stadt aufhielten. Ihre Körperausdünstungen waren überall wahrzunehmen, und Foremon hatte eine besonders gute Witterung dafür. Schon der Eigengeruch der beiden Fremden hatte ihn unangenehm berührt, aber jetzt fühlte sich Foremon, als habe man ihn in einen Keller voll verwesender Leichen gestoßen. Von allen Seiten drangen Gerüche auf ihn ein, saure, schweißige, faulige, modrige. »Vor Tagen, in dieser Straße«, bekam Foremon von den Tasch-Ter-Man geantwortet. »Sie haben einem Zentrifaal geholfen, einem gewissen A-Ostamul, der ihnen jetzt hilft.« Foremon reagierte zunächst nicht auf die Mitteilung. Sehr geschickt gemacht, die Fremden hatten sich also Kumpane gesucht - und auch gefunden. Wenige Plantagoo-Bewohner kannten den Begriff Passantum oder wußten in Thoregon-Belangen Bescheid. Kein Wunder, daß die beiden trotz ihrer Verbrechen Kontakt zu den Einheimischen gefunden hatten. »Kann A-Ostamul ihnen wirksam helfen?« wollte Foremon wissen. »Mit Waffen und dergleichen? Fahrzeugen?« Die mimische und gestische Reaktion der beiden Tasch-TerMan machte Foremon klar, daß er einen Fehler gemacht hatte. Waffen und andere moderne Technik gab es in Gaalo nicht. Im übrigen wäre es auch gleichgültig gewesen, da ein gezielt geschleuderter Mauerstein schon ausgereicht hätte, Foremon zu töten. Und daß die Fremden durchaus bereit waren, ihn zu töten, das hatte Foremon schon in der Ebene erleben müssen. Schade, daß er selbst sein Potenzial auf der Hochebene nicht einsetzen konnte. Dieser Untergrund war nichts für ihn. Er war künstlich, und wenn er mit den Fingerspitzen trommelte, bekam er nur mißliche Klänge zu hören. Kein Vergleich mit dem, was er in der Ebene vermochte - vom Morphen auf seinem geliebten Basalt ganz zu schweigen. -19-
»A-Ostamul ist ein mächtiger Clanführer«, bekam Foremon zu hören. »Und er hat sehr gute Kontakte zum Raumhafen und zu den Kommandanten. Er ist einer der wenigen Reichen und Mächtigen, die Galorn jederzeit verlassen könnten, wenn sie wollten.« Aha, das war es also. So sah der Plan der Schurken aus. Sie wollten Galorn mit einem Raumschiff verlassen und sich absetzen. Geschickt, wie sie waren, hatten sie sich ausgerechnet mit jenem Zentrifaal angefreundet, der ihnen eine Passage auf einem Seelenverkäufer verschaffen konnte. »Wann kommt das nächste Schiff?« wollte Foremon wissen. Wieder gab es eine heftige Debatte unter den Stadtbewohnern, bei denen die Tasch-Ter-Man Sieger blieben, wie zu erwarten gewesen war. Wer vermochte sich schon in einer Unterhaltung durchzusetzen, bei der ein Partner gleichzeitig mit vier und mehr Stimmen sprechen konnte? »In einigen Tagen«, erfuhr Foremon. »Es ist die CHIIZ!« Jetzt wußte der Wächter endlich genug. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, seinen Auftrag zu vollenden. Unten auf der Basaltebene hatte er es mit den Verbrechern aufnehmen können. Aber hier in Gaalo? Foremon warf einen sorgenvollen Blick hinauf zum Himmel. Wolkenschleier bedeckten den Himmel. Es sah nach neuen Niederschlägen aus. Und nach sehr wenig Sonne. Foremon spürte sehr genau, wie viel Energie er aufnehmen und akkumulieren konnte. Hier oben war er der Sonne näher, ihre Strahlen schienen kräftiger und konzentrierter als in der Ebene. Pro Stunde konnte Foremon entschieden mehr Energie aufnehmen und speichern, wenn er seine Ohren nach Galornenstern ausrichtete. Vorausgesetzt, er bekam die Sonne überhaupt zu sehen. Die Wolken, der feuchte Dunst, der Regen - all das verringerte -20-
die Leistung von Galornenstern oder schnitt sie völlig ab, und Foremon wurde auf schmale Kost gesetzt, zumal er nicht, wie unten auf der Ebene, problemlos die benötigten Mineralien aus dem Boden entnehmen konnte. Der Boden, auf dem er sich jetzt bewegen mußte, war ausgelaugt, denaturiert, nahezu ungenießbar. Er merkte bereits jetzt, daß er langsamer und schwerfälliger wurde, sowohl im Handeln als auch im Denken. Aber Foremon dachte nicht ans Aufgeben.
3. »Vergeßt es!« sagte A-Ostamul energisch, begleitet von heftigen Gebärden. »Es hat keinen Sinn. Viele haben es schon versucht, aber alle sind gescheitert. Herz-FÜNF ist für unsereinen nicht zu erreichen.« Perrys Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen; die Antwort des Zentrifaal paßte ihm überhaupt nicht ins Konzept. Draußen regnete es wieder. Ich haßte diesen Regen, der mit unserem Metabolismus ganz und gar nicht harmonierte. Der Regen war sauer, er prickelte auf der Haut, aber das nicht etwa angenehm. Die Bewohner Gaalos waren diesen Umweltbedingungen - zum Teil jedenfalls - recht gut angepaßt, wir nicht. Ich war sicher: Ohne unsere Zellaktivatoren, die natürlich auch für die Regeneration unserer Haut zuständig waren, hätten wir diese ätzende Berieselung nicht sehr lange durchgehalten. Und natürlich war es kalt und ungemütlich, wohin man blickte. A-Ostamul, der sich selbst als Clanchef bezeichnete, hatte uns in seine Unterkunft eingeladen; er verdankte Perry und mir sein Leben, und so fühlte er sich zu einer Handlungsweise verpflichtet, die sonst unter den Gaalo-Insassen nicht sehr verbreitet war. -21-
Wie das Clanleben der Zentrifaal organisiert war, hatten wir noch nicht feststellen können, die Zeit dafür hatte gefehlt. Außerdem schien dieses Clan-Leben sehr komplex strukturiert zu sein und betraf uns nicht. Wozu also der unnötige Aufwand? A-Ostamuls Privatquartier hatte den unschätzbaren Vorteil, ein wirklich dichtes Dach sein eigen zu nennen, und die Innenräume waren sogar - mit geringem Erfolg - gegen Zugluft abgedichtet worden. Im Inneren waren gleich zwei der weitverbreiteten Mini-Öfen aufgestellt worden. Wir brauchten also nicht wirklich zu frieren und wurden auch nicht naß. Aber es blieb extrem ungemütlich. Irgendwie kamen Körper und Geist unter diesen Umständen nie dazu, sich wirklich zu regenerieren. Perry machte fahrige Gesten. A-Ostamul blickte ihn von der Seite her an. »Du hast nicht vor, in Gaalo zu bleiben?« Selbst mit meinen geringen Kenntnissen der EinheimischenSprache, des Goo-Standard, war gut zu hören, daß A-Ostamul die Frage mit einem lauernden Unterton gestellt hatte. Der Grund dafür lag ja auf der Hand ... Gaalo war überbevölkert, sogar sehr stark. Es reichte für die Bewohner der Stadt auf der Hochebene gerade so, um am Leben zu bleiben, unter ziemlich ärmlichen Bedingungen. Perry und ich waren Neuankömmlinge, die nur zähneknirschend geduldet worden waren - zusätzliche Esser, lästige Konkurrenten beim Wettbewerb um erträglichen Wohnraum und dergleichen mehr. Kein Wunder, daß A-Ostamul die Idee gar nicht so schlecht fand, uns beide auf elegante Weise loszuwerden. »Wir wollen wieder weg von hier, richtig«, gab Perry zu. In ein paar Wochen würde er das Goo-Standard wahrscheinlich zu neunzig Prozent verstehen und selbst zu siebzig Prozent sprechen. Auf diesem Gebiet war Perry schon immer ausgezeichnet gewesen. -22-
Natürlich sagte er dem Zentrifaal nicht die volle Wahrheit. Anders als die Mocksgerger, die Kroogh, die Tasch-Ter-Man und die Zentrifaal waren wir nicht von einem Raumschiff nach Galorn gebracht worden; uns hatte der Pilzdom hier freigesetzt, und am liebsten wären wir auf diesem Weg wieder verschwunden. Aber das ging leider nicht ... Wir konnten den Pilzdom nicht betreten. Er war - bei Bedarf - von einer dicken Basaltschicht überzogen, die wir nicht knacken konnten. Der hinderliche Basaltüberzug wurde immer wieder erneuert. Zuständig dafür war ein exotisch aussehendes Geschöpf, das die Basaltebene und den Pilzdom zu bewachen schien. Dieses Geschöpf, dessen Namen wir nicht kannten, besaß die phänomenale, aber erschreckende Fähigkeit, den Basalt zu verformen und gestalten zu können. Nein, nicht künstlerisch jedenfalls hatten wir den Basaltformer nicht als Michelangelo von Galorn erlebt eher mörderisch. Mit regelrechten Flutwellen von Basalt hatte das Wesen uns zu zermalmen, zu ersticken und zu begraben versucht. Wir sahen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Chance, dieses zweite Hindernis für unsere Rückkehr aus dem Weg zu schaffen, nicht einmal mit brutaler Gewalt. Nur die Flucht hinauf nach Gaalo hatte uns vor dem Basaltformer in Sicherheit gebracht. Es blieb also nur noch eine Strategie: in Gaalo versuchen, Hilfe zu finden - Waffen, Werkzeuge, Freunde und Verbündete. Aber gerade damit sah es sehr schlecht aus. Die Bewohner der Stadt waren nicht gerade gut im Kooperieren, und ihre technische Ausrüstung war lausig. »Nach Herz-FÜNF zu kommen, das könnt ihr vergessen. Es ist verboten.« Die Stimme von A-Ostamul wurde drängend, ja, der Unterton hatte sogar etwas Drohendes, jedenfalls erschien es mir so. »Ihr werdet doch nicht ein Shifting für Gaalo riskieren...?« -23-
Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis wir uns im GooStandard wirklich auskannten. Was eine Glücks-Reduktion war, wußten wir inzwischen; davor brauchten wir keine Angst mehr zu haben. Anders sah es mit dem ominösen Shifting aus. Was sich hinter diesem Begriff in der Wirklichkeit verbarg, war völlig ungeklärt. Die Umstände allerdings legten den Schluß nahe, daß es sich bei diesem Shifting um eine sehr unangenehme, allseits gefürchtete Prozedur handelte. Perry rieb sich mit dem Zeigefinger der linken Hand unter der Nase. »Man müßte einfach eine Leiter bauen«, murmelte er. »Oder eine primitive Rakete, mit Wurfanker und einem stabilen Seil daran ... Vierzig Meter sind doch keine unüberwindbare Höhe!« »Es ist verboten«, wiederholte der Zentrifaal drängend. Er war ein wenig kleiner als wir, schätzungsweise 1,70 Meter. Die Grundgestalt war humanoid - Rumpf, Kopf, Arme, Beine, Augen, Ohren und Mund. Die Zentrifaal hatten eine sehr blasse Haut, die an einen blasigen, weißen Kaugummi erinnerte und die Festigkeit von Leder hatte. Die meisten Bewohner Gaalos machten einen Bogen um sie. Zentrifaal-Körper wurden von zwei Wirbelsäulen aufrecht gehalten, besaßen also einen dreigeteilten, sehr breiten Rücken. Stark unterschiedlich von unseren Proportionen waren auch die Hände. Rechts waren an den sieben Fingern lange, extrem scharfe Krallen zu sehen, im Notfall eine Waffe mit mörderischer Wirkung, vor der jeder Respekt hatte. Links hingegen hatte sich die Gliedmaße ausgebildet zu einer vollständig verschließbaren Hohlschaufel, in der die Zentrifaal die unterschiedlichsten Gegenstände und Materialien transportieren konnten. Die Stirn war doppelt so hoch wie die eines Menschen, daher wirkte das Gesicht ziemlich klein. Geprägt wurde dieses Gesicht -24-
durch einen schwarzen Streifen, der quer darüber verlief, allem Anschein nach die Analogie zu unseren Augen. Statt Nasenlöcher gab es vertikale Schlitze - und der Mund war gleichsam unter dem Kinn versteckt, so daß man ihn kaum einmal zu sehen bekam. Trotz der Verschiedenheiten hatten wir das Mienenspiel der Zentrifaal nach relativ kurzer Zeit bereits recht gut deuten können. »Ich weiß«, antwortete Perry. »Aber ...« A-Ostamul machte eine herrische Gebärde. »Tut es nicht!« stieß er hervor, diesmal ziemlich grob. »Viele haben das schon versucht, auch mit Leitern, aber sie sind jedesmal abgefangen worden. Und danach ...« Er blickte Perry drohend an. »Ihr riskiert euer Leben«, warnte A-Ostamul. »Ich erinnere mich an einen Versuch mit einer Leiter. Es waren zwei von unserem Volk. Einer ist aus großer Höhe abgestürzt, und der andere ist ebenfalls tot.« Er machte eine heftige Geste der Verneinung. »Ich werde das niemals zulassen.« »Keinesfalls werden wir euch in Gefahr bringen«, versprach Perry, dann wandte er sich an mich. »Hast du eine Idee?« Ich hatte schon geraume Zeit über das Problem nachgedacht. Hochwertige Technik, wie wir sie brauchen würden, um den abgeriegelten Pilzdom wieder zu öffnen, war - wenn überhaupt nur in Herz-FÜNF zu finden. Also mußten wir dort hinein, egal wie. »Wir schnappen uns einen der Schüsselroboter und zwingen ihn, uns in den Bunker zu bringen«, sagte ich und grinste. »Du kennst meine Methode - immer den Stier bei den Hörnern packen.« »Und wie willst du den Robot dazu bringen, das zu tun?« »Entweder schwingen wir uns auf ihn und hoffen, daß er uns stur zum Bunker bringt, oder wir stellen uns tot und lassen uns ab-25-
transportieren. Die Roboter holen doch die Leichen von den Straßen und schaffen sie weg. Wohin?« A-Ostamul sah uns entgeistert an, dann machte er wieder heftige Abwehrzeichen. »Die Roboter lassen sich nicht zwingen«, gab er uns zu verstehen. »Man kann sie nicht als Transportmittel benutzen, sie werfen einen ab. Und ... habe ich das richtig verstanden, ihr wollt euch totstellen?« Ich nickte. A-Ostamul hatte inzwischen gelernt, was diese menschliche Geste bedeutete. »Wohin werden die Leichen gebracht?« fragte ich. »Das wissen wir nicht«, antwortete der Clanführer der Zentrifaal verwirrt. »Aber sicher nicht nach Herz-FÜNF. Und auch nicht zurück ... Das steht fest.« »Man müßte sich einen der Roboter schnappen und gründlich untersuchen«, überlegte ich laut. »Dann könnte man weitersehen...« Einer von A-Ostamuls Untergebenen, Clanbrüdern oder was auch immer, redete heftig auf ihn ein, so schnell und aufgeregt, daß ich nur einen Bruchteil der Worte verstehen konnte. »Ihr habt einen solchen Roboter erbeutet?« Perry hatte wieder einmal schneller geschaltet. Kurz vor dem Einsetzen der Glücks-Reduktion hatte A-Ostamul schon einmal davon gesprochen, aber die Zeit danach war so eindrucksvoll gewesen, daß ich die Angelegenheit einfach vergessen hatte. A-Ostamul machte eine Geste der Bejahung. »Aber er ist kaputt. Er arbeitet nicht mehr. Bewegt sich nicht, gibt kein Geräusch ... defekt!« Perry und ich wechselten einen raschen Blick. War das die Chance, auf die wir gewartet hatten? »Kannst du uns diesen Roboter zeigen?« fragte Perry ohne zu zögern; ich allein konnte seiner Stimme anhören, wie scharf er darauf war, diesen Robot in seine Finger zu bekommen. -26-
A-Ostamul zögerte, und ich ahnte, was in dem Zentrifaal vorging. Wer in Gaalo lebte, für längere Zeit, der hatte einen inneren Kompromiß geschlossen. Er nahm all die Widrigkeiten, die dieses Leben kennzeichneten, in Kauf, weil er an der GlücksReduktion teilnehmen wollte. Offenbar gab es diese GlücksReduktion nur dann, wenn die Bewohner von Gaalo sich so verhielten, wie der Andro-Hüter es wollte. Folgerichtig wagte es niemand, an diesem Konsens zu rütteln. Offenbar war es einfach nicht möglich, beides zur gleichen Zeit zu haben: Glücks-Reduktion und materiellen Wohlstand. Der Andro-Hüter saß eindeutig am längeren Hebel, und niemand wollte es wagen, ihn zu erzürnen und damit die nächste GlücksReduktion zu gefährden. »In ein paar Tagen wird ein Schiff auf Galorn landen, die CHIIZ«, sagte A-Ostamul plötzlich. »Ich habe gute Beziehungen zum Kommandanten dieses Schiffes. Ich könnte euch beiden eine Passage auf der CHIIZ verschaffen.« »Die CHIIZ wird neue Bewohner nach Gaalo bringen«, warf einer seiner Kumpane ein. »Dann wird es hier noch enger und ungemütlicher ...« Perry und ich sahen uns an. Es war offenkundig: Man versuchte, uns von unserem Vorhaben abzubringen. Passagen von Galorn weg waren offenbar knapp, und wenn A-Ostamul sich anheischig machte, uns eine solche Passage zur Verfügung zu stellen, dann verriet das deutlich, wie viel Angst er davor hatte, daß wir womöglich den Andro-Hüter verärgerten und es längere Zeit keine Glücks-Reduktion mehr gab - oder sogar das allseits gefürchtete Shifting. Perry lächelte, ziemlich verlogen, wie es mir vorkam. »Wir werden darüber nachdenken«, versprach er freundlich. »Und jetzt würde ich gerne diesen Roboter sehen.«
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4. Er mußte schon geraume Zeit hier liegen. Die rosafarbene Hülle war mit feuchten, dunkelgrünen Flecken übersät, wahrscheinlich Moose und Mikroorganismen, die sich auf dem Stahl festgesetzt hatten. Offenbar war der Robot schon seit Jahren oder Jahrzehnten funktionsuntüchtig. »Wie ist es dazu gekommen?« fragte Perry. Einer von A-Ostamuls Clansleuten hatte uns zu diesem abgelegenen Ort geführt, ein Stück außerhalb von Süd-DREI. F-Dulcher hieß dieser Zentrifaal; er schien kein Geistesriese oder Sprachgenie zu sein. Verständnislos starrte er Perry und mich an. »Kaputt!« sagte Rhodan geduldig und deutete auf den Rumpf des Robots. »Warum?« Seltsame Schlieren huschten über das schwarze Augenband des Zentrifaal. Bis jetzt hatten wir nur solche Zentrifaal getroffen und kennengelernt, die schwarze Kleidung trugen. Nahm man dazu das schwarze Augenband und die kaugummihelle Haut, bekamen die Zentrifaal den Anstrich eines Volkes von Leichenbestattern. »Warum kaputt?« F-Dulcher schien begriffen zu haben. »Aahh«, machte er plötzlich und vollführte hektische Gesten. »Sssssttt! Bummm!« »Hört sich an, als sei dieser Roboter einmal von einem Blitz getroffen worden.« Das war eine durchaus brauchbare Erklärung dafür, weshalb die Maschine nicht mehr aktiv war; technische Unfälle dieser Art passierten auch auf den Welten der Milchstraße, selten zwar, aber sie kamen vor. Es mußten zwar eine ganze Reihe von Umständen zusammentreffen, damit ein Blitz einen Robot traf und desaktivierte, aber unmöglich war es nicht. »Ah ja«, murmelte Perry, während er den Robot eingehender -28-
untersuchte. »Hier kann ich es sehen. Der Blitz hat eine Spur auf die Hülle gebrannt.« Ich sah, wie der Zentrifaal Perry anstarrte. Wahrscheinlich ging es hier zu wie auf vielen Welten unserer Milchstraße. Der Zentrifaal mußte Raumfahrt und hohe Technologie kennen, anderenfalls wäre er nicht hier. Aber vermutlich gehörte er zu denen, deren technische Kenntnisse sich darauf beschränkten, zu wissen, wo die Knöpfe zum Ein- und Ausschalten waren oder wie man eine Fernbedienung handhabte. Mit-Lebewesen, die wirklich zu wissen schienen, wie es im Inneren dieser Maschinen aussah, wie sie funktionierten und repariert werden konnten, flößten ihm Respekt, wenn nicht sogar abergläubische Furcht ein. Unser Zentrifaal zog sich jedenfalls scheu zurück, als Perry nach einer Möglichkeit suchte, die Hülle des Robots zu öffnen und an dessen Innenleben heranzukommen. Ein paar Dellen und Kratzer bewiesen, daß auch die Bewohner von Gaalo schon versucht hatten, diesem Roboter zu Leibe zu rücken. Offenkundig waren sie dabei nicht sehr weit gekommen. »Aha!« stieß Perry zufrieden lächelnd hervor. »Gewußt, wo, wie und warum ...« Der Roboter entsprach dem Schüsseltyp, wie er in Gaalo üblich war, verteilt auf mehrere Größen und Typen. Dieser hier war rund, fast halbkugelförmig. Durchmesser zwei Meter, Höhe etwas geringer. Die Hülle bestand aus Stahl, bedeckt mit dem organischen Material, das sich in den Jahren dort angesammelt und festgesetzt hatte. Oben auf der Halbkugel saß eine zehn Zentimeter dicke Scheibe, die eine Handbreit größer war als die darunter befindliche Kugel. In dem so entstandenen Raum waren vermutlich der Antrieb und andere technische Systeme untergebracht. »Hm!« machte Perry. Ich haßte diesen Laut, vor allem, wenn -29-
er von einem Mediziner ausgestoßen wurde. In der Regel folgte ein unheildräuendes Schweigen und danach entweder eine besorgniserregende Diagnose oder wenigstens die unvermeidlichen Verhaltensvorschriften: »Du solltest...« »Na, was ergibt die Diagnose?« fragte ich. »Können wir den Patienten wiederbeleben?« Perry wiegte den Kopf. »Erstaunlich«, murmelte er. Ich trat zu ihm und blickte in die Öffnung, die er freigelegt hatte. Auch ich stieß einen Laut der Überraschung aus. »Syntron-Technologie«, konstatierte ich erschüttert. »Hochwertige Syntron-Technologie ...« Damit hatten wir nicht unbedingt rechnen müssen. Schließlich gab es Roboter dieser und ähnlicher Bauart und Funktion auch auf der Basis positronischer Gehirne, die allerdings in der heimatlichen Milchstraße als veraltet galten. Bei uns waren Syntrons die Grundlage unserer technischen Geräte; alles andere galt als rückständig, zu teuer, zu primitiv und vor allem zu langsam. »Wir wissen natürlich nicht, ob Galorn eine für Plantagoo typische Welt ist«, dachte Perry halblaut nach. »Aber die Stadt und auch der Planet wirken auf mich nicht gerade wie eine Technologie Ausstellung. Eher wie ein Hinterwäldlernest.« Ich begriff schnell, worauf er hinauswollte. Syntron-Technologie war nach seiner Ansicht in Plantagoo verbreitet, vielleicht nicht überall, aber sie war keine Ausnahmeerscheinung, keine exklusive Hochtechnologie, die nur wenigen Nutzern vorbehalten blieb. Sollte es jemals zu einem Kontakt zwischen Galaktikern und Plantagoo-Bewohnern kommen, hatten es die Galaktiker mit durchaus ebenbürtigen Partnern zu tun. Unwillkürlich blickte ich zum Himmel hinauf. Es waren nur wenige Sterne zu sehen, Sonnen, von denen wir nicht wußten, wo an unserem heimischen Sternenhimmel sie zu suchen waren. Wir hatten auch keinen Anhaltspunkt, wie weit -30-
wir von unserer Galaxis entfernt sein mochten. Wie viele Millionen von Lichtjahren? Oder noch mehr? Geklärt war zudem nicht, ob es neben der räumlichen Versetzung durch die Brücke nicht auch eine zeitliche Verschiebung gab. Die Brücke und der Pilzdom hatten etwas mit Manipulationen von Raum und Zeit zu tun; die Ereignisse auf Trokan hatten das jedenfalls für eingeweihte Beobachter - augenfällig gemacht. Daher war nicht auszuschließen, daß wir neben einer Reise über Millionen von Lichtjahren auch eine Reise durch die Zeit gemacht hatten, vielleicht Jahrmillionen zurück in die Vergangenheit, vielleicht Millionen in eine Epoche, die aus unserem Blickwinkel in der fernen Zukunft erst stattfinden würde. Immerhin: Syntrons bei uns, Syntrons in Plantagoo - das schmeckte nach Gleichzeitigkeit. Und wenn diese Technologie auf einer Welt wie Galorn Verwendung fand, dann konnte sie so ungewöhnlich für die Verhältnisse von Plantagoo nicht sein. »Kannst du erkennen, was defekt ist?« »Allerlei, so sieht es aus.« Perry stieß einen halblauten Seufzer aus. »Und wir haben keinerlei Werkzeuge.« Er grinste mich an. »Aber das beste von allen Werkzeugen haben wir«, sagte er zuversichtlich und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Unseren Verstand, und den werden wir jetzt einsetzen.« »Wenn ich nicht vorher vor Hunger umfalle«, murmelte ich grimmig. Ich haßte es, mit leerem Magen zu leben und arbeiten. »Du fällst schon nicht um«, wehrte Perry meinen Einspruch ab. »Und wenn wir erst einmal in den Bunker eingeflogen sind, alter Freund, da wird es Futter in Hülle und Fülle geben ...« Perry ist eine ehrliche Haut, das merkt man immer wieder. Zwar kann er lügen, wenn er es unbedingt muß, und dann tut er es auch; aber er muß dann stets höllisch aufpassen, daß er nicht gewissermaßen durch die Hintertür doch die Wahrheit durchschlüpfen läßt. -31-
Durchaus möglich, daß der Bunker vor Vorräten aus den Nähten platzte, aber das änderte nichts daran, daß diese Kost tatsächlich mehr als Futter denn als Essen zu bezeichnen war ... Ich grinste ihn an und deutete auf den Robot. »Unser Napf ist jedenfalls groß genug«, sagte ich und machte mich an die Arbeit. Zum ersten Mal seit einigen Tagen verspürte ich tatsächlich ein bißchen Zuversicht, daß wir aus dieser unangenehmen Lage wieder herauskommen konnten.
Zufrieden betrachtete Foremon sein Werk. Die Falle war einfach, geradezu primitiv, aber sie würde funktionieren, genau wie der Wächter es geplant hatte. Inzwischen wußte er genau: Perry Rhodan und Reginald Bull hielten sich nach wie vor in Gaalo auf. Sie wechselten des öfteren den Standort, und allein das trug dazu bei, daß man sie leicht finden konnte. Foremon benutzte seine beiden treuen Tasch-Ter-Man als Spitzel und Boten, und sie verrichteten ihre Arbeit willig und mit Geschick. Aus dieser Quelle wußte Foremon auch, daß Perry und Bully sehr an Herz-FÜNF interessiert waren. Was Foremon über die beiden zu hören bekam, lief darauf hinaus, daß sie Möglichkeiten auskundschafteten, das Herz der Stadt zu erreichen. Foremon hatte daraus seine Schlüsse gezogen. Mochte es ihm auch schwerfallen, Energie zu sammeln und Mineralien aufzunehmen, so funktionierte sein Verstand doch nach wie vor äußerst präzise und zuverlässig. Nie wieder durfte er die beiden Verbrecher unterschätzen. Sie waren äußerst zielstrebig, sehr gerissen und umsichtig, und sie waren auch zu rücksichtsloser Brutalität fähig. Foremon hatte inzwischen logisch gefolgert, daß es vielleicht nachvollziehbare Gründe geben konnte - hauptsächlich solche feindlicher Art -, sich an einem Boten von Thoregon zu vergreifen. -32-
Aber es hatte nicht den geringsten Grund gegeben, Steinkind zu zertrümmern, ein lebloses Ding; nur pure Mordlust, abscheuliche Freude an Grausamkeit und dem Quälen anderer Lebewesen konnten die Antriebsfedern für Perrys und Bullys Verhalten sein. Kein Zweifel, schon aus Gründen der allgemeinen Sicherheit verdienten sie, sobald Foremon ihnen das Passantum abgenommen hatte, den sofortigen Tod. Aber vorher mußte er die beiden Bestien stellen, und er wußte auch schon, wo. Er hatte keinen Zweifel: Früher oder später würden die beiden jenen Zugang entdecken, den Foremon selbst benutzt hatte. Sie waren hartnäckig und gerissen genug, das zu schaffen - und Foremon hatte nichts dagegen. Sollten sie nur kommen. Es würde ihr Tod sein. Foremon hatte eine einfache Falle gebaut, basierend auf dem Hebelprinzip und auf der Tatsache, daß es in den Stufen, die zu Herz-FÜNF hinaufführten, wenigstens Spuren von Basalt gab, die er beeinflussen konnte. Eines Tages - Foremon hatte umfassende Geduld - würden sie sicher kommen und die Treppe entdecken. Und dann war es um sie geschehen ... Ziemlich verwundert registrierte Foremon dabei die Tatsache, daß ihm der Gedanke daran, die beiden zu töten, gar nicht so gut gefiel, wie er ursprünglich angenommen hatte. Einer der beiden Tasch-Ter-Man näherte sich unterwürfig dem Wächter des Pilzdoms. »Was gibt es?« wollte Foremon wissen. »Die beiden Verbrecher haben offenbar einen Plan ausgearbeitet«, verriet der Tasch-Ter-Man respektvoll. »Sie machen sich an einem defekten Schüsselroboter zu schaffen, schon seit vielen Stunden.« Foremon antwortete nicht; er zog es vor, gründlich nachzudenken. Er hatte die Schüsselroboter bei der Arbeit gesehen. Sie verteilten Nahrung und Kleidung und die Miniatur-Öfen, von -33-
denen sich auch Foremon einen besorgt hatte. Außerdem sorgten sie für Ordnung in den Unterstädten und schafften die Leichen weg. Hätte Foremon die biologische Ausstattung dafür gehabt, hätte er jetzt gelacht. Er konnte ein Gefühl von Bewunderung für die Halunken nicht unterdrücken, auch nicht ein schwaches Schaudern. Das Schaudern bezog sich zum einen auf die ungewöhnliche Härte und Grausamkeit, mit der Bully und Perry gehandelt hatten - immerhin hatten sie den vierten Boten von Thoregon getötet -, er empfand auch Furcht bei dem Gedanken, daß er vielleicht nicht imstande sein konnte, dem Treiben dieser Schurken ein Ende zu setzen. Die Aussicht, bei diesem Kampf selbst sterben zu müssen, konnte Foremon nicht erschrecken, wohl aber beutelte ihn die Furcht, den Kampf letztlich zu verlieren und versagt zu haben. Nur einmal - jetzt in diesen Tagen und Wochen - war er als Wächter der Ebene und Hüter des Pilzdoms wirklich gefordert gewesen, und er hatte die Verbrecher nicht hemmen und hindern können. Noch immer waren sie aktiv, unerhört schlau und brutal, gefährlich in einem Ausmaß, das Foremon sich früher nicht hatte vorstellen können. »Und was haben sie erreicht?« »Der Robot bewegt sich und gibt Geräusche von sich.« Der Tasch-Ter-Man machte die Klänge nach, wahrscheinlich sehr exakt, aber das half Foremon nicht weiter. Sein Beobachter hatte sogar einen Wortwechsel zwischen den beiden aufgezeichnet und reproduzierte die gehörten Klänge jetzt, aber auch das blieb letztlich ohne Ergebnis. Die Sprache dieser Kreaturen war für Foremon nach wie vor unverständlich, aber er war jetzt absolut sicher, daß seine Beobachter die Richtigen gefunden hatten. »Ihr werdet mich tragen«, bestimmte Foremon und ließ sich anheben. -34-
Allein durch die Stadt zu gehen, wäre für ihn ein selbstmörderisches Unterfangen gewesen. Aber auf dem Rücken eines kräftig gebauten Tasch-Ter-Man würde es viel leichter sein, ein Ziel zu erreichen. Foremon wußte, daß er, um dieses Ziel erreichen zu können, ein Stück freies Feld zwischen einzelnen Stadtbezirken würde durchqueren müssen. Vielleicht fand er dabei Gelegenheit, seinen Energievorrat aufzufrischen und Mineralien seinem Metabolismus zuzuführen. Er hatte es dringend nötig ... Denn der Wächter der Basaltebene ahnte, daß die letzte, tödliche Auseinandersetzung zwischen ihm und den Botenmördern nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Am Ausgang dieses Kampfes aber hatte er inzwischen verhaltene Zweifel entwickelt...
5. »Weißt du, was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht?« fragte ich halblaut. Der Roboter - wir hatten ihn, der Farbe wegen, Porky getauft schwebte eine Handbreit über dem Boden. Wir waren zuversichtlich, ihn wieder zum Laufen zu kriegen, und zwar so, wie wir es wollten. Die zentrale syntronische Steuerung hatten wir deaktiviert und aus dem System herausgenommen, dann waren wir darangegangen, die durchgeschmorte Leitung wieder zu flicken und die einzelnen Segmente des Roboters so mit Energie zu versorgen. Es hatte geklappt. Der Antigrav arbeitete wieder, auch die innere Steuerung, die dafür sorgte, daß der Robot korrekt flog. Er wußte nur nicht, wohin er sich wenden sollte. »Noch nicht«, antwortete Perry. -35-
»Stell dir vor, wir würden noch in jener Zeit leben, in der wir uns auf den ersten Mondflug vorbereitet haben.« Perry lächelte, während er weiterarbeitete. »Okay«, sagte er, »Ich bin dort.« »Und nun stell dir weiter vor, wir beide gehen irgendwo spazieren und uns laufen zwei Fremde über den Weg - Rumaler, Epsaler, Oxtorner, Ferronen oder was auch immer. Humanoid, aber auf den ersten flüchtigen Blick als Nicht-Erdbewohner zu identifizieren.« »Mach' ich. Und?« »Wie würdest du reagieren? Wie hättest du damals wahrscheinlich reagiert, um präzise zu sein?« »Mit Neugierde«, antwortete Rhodan, »Ohne Angst und ohne Aufdringlichkeit. Und auf gar keinen Fall aggressiv.« »Und warum sind wir auf Gaalo nicht ebenso behandelt worden? Gut, hier leben einige stark unterschiedliche Völker, den Städtern ist also der Umgang mit Fremden durchaus vertraut. Aber selbst für die raumfahrterprobten Gaalo-Bewohner sind wir doch einwandfrei Exoten.« Perry blickte auf. »Ich ahne, worauf du hinauswillst...« »Und dazu schwätzen wir noch in einer für die Gaalo-Bewohner völlig unbekannten Sprache und können kein Wort von der ihren. Und trotzdem lassen sie uns schlichtweg links liegen, als wäre das gar nichts Besonderes.« Perry nickte langsam. »Okay«, gab er zu. »Und was ist deine Schlußfolgerung daraus? Deine Tatsachenbeschreibung ist durchaus richtig, aber was ist für dich die Konsequenz aus alledem?« Ich wiegte den Kopf. »Ich folgere daraus«, sagte ich langsam, »daß es in dieser Galaxis ein weitverbreitetes Wissen bei den raumfahrenden Völkern gibt, daß eine Rasse wie die unsere existiert. Ungefähr so, als würden wir bei uns einen Waldspaziergang machen und dabei ein paar Elfen entdecken oder am -36-
Meer auf Nixen stoßen ...« »Du meinst, es gibt Plantagoo-Humanoiden, die uns zum Verwechseln ähnlich sind, entweder real oder wenigstens noch als eine Legende, die respektiert wird?« »So ungefähr«, sagte ich nickend. »Und dann kann Plantagoo so gigantisch weit von der Milchstraße doch nicht entfernt sein. Irgendeine Verbindung muß es zwischen uns und diesen uns so ähnlichen Humanoiden geben. Außerdem habe ich den Eindruck, als hätten unsere Doppelgänger in dieser Galaxis etwas zu sagen, ziemlich viel sogar. Warum lachst du?« »Deine Beweisführung ist wirklich beeindruckend«, sagte Perry. »Bestechend ... Aber leider wahrscheinlich falsch.« »Und wieso?« wollte ich wissen. »Deine ganze These und Beweisführung basiert auf der Grundannahme, daß sich die Bewohner von Plantagoo exakt so verhalten, wie wir es unter den von dir vorausgesetzten Umständen getan hätten. Aber das ist reine Hypothese, mehr nicht. Wir wissen nichts oder nur wenig über das Verhalten der Wesen von Plantagoo. Zugegeben: Würden die Tasch-Ter-Man auf Terra auftauchen, würde man sie wahrscheinlich auch heute noch angaffen und heimlich beobachten. Aber das ist unser Verhalten, vielleicht typisch für uns, aber durchaus nicht vorgeschrieben in der Natur für alle Lebewesen.« Perry Rhodan sah mich an und schüttelte den Kopf. »Und damit wäre deine Spekulation weitgehend erledigt«, sagte er freundlich. »Aber es wäre nicht schlecht gewesen, zugegeben. So, ich glaube, wir sind soweit ...« Er stieß einen langen Seufzer aus. Ich wußte, was er getan hatte. Er hatte das Steuergehirn des Schüsselrobots zum Teil desaktiviert und abgekoppelt. Die Maschine funktionierte jetzt noch, sie war flugfähig, aber beim nächsten Flug würde sie ihre Kursanweisungen nur von uns bekommen. -37-
Perry blickte mich an. Er sah ausgemergelt aus. Dieser Ausflug nach Galorn kostete uns langsam, aber sicher alle Kraftreserven, körperlich wie geistig und seelisch. »Ich habe keine Lust mehr, länger zu warten«, sagte Perry und rieb sich die Schläfen. Wenn er so müde war, wie er aussah, kam es einem Wunder gleich, daß er überhaupt auf den Beinen war Auch ich fühlte mich zerschlagen, wie durch den Wolf gedreht. »Wie spät mag es sein?« fragte ich und spähte nach draußen. »Sehr früher Morgen, wenn ich mich nicht irre. Die Stadt wird langsam zum Leben erwachen.« Perry nickte bedächtig. »Und die ersten Schüsselroboter werden ausschwirren, um ihre Jobs zu tun. Bist du bereit?« Ich holte tief Luft. Meine Muskeln und Knochen schmerzten, meine Augenränder brannten, vielleicht von Müdigkeit, vielleicht auch von dem Morgendunst, der uns umgab. »Lassen wir es angehen«, sagte ich, schwang mich dann auf und in den Roboter. Die Deckplatte hatte Perry entfernt, so hatten wir genügend Platz für uns. Allerdings reichte der Raum nicht aus, daß wir uns darin hätten regelrecht verstecken können - oberhalb der Gürtellinie waren wir klar zu erkennen. »Es kann riskant werden«, murmelte Perry. »Und wir beide sind unbewaffnet.« Er holte tief Luft. »Dann drück uns die Daumen, Dicker!« stieß er hervor und startete den Roboter. Pah, Dicker - wahrscheinlich hatte ich inzwischen so viel abgenommen, daß ich wie ein Bruder jenes Typen aussah, der uns den Aufenthalt auf der Basaltebene zur Hölle gemacht hatte. Der Robot sackte einige Zentimeter in die Tiefe, als er von unserem Gewicht belastet wurde, dann pendelte er sich wieder ein. Perry ließ ein zufriedenes Brummen hören. Es war ziemlich mühsam und fummelig, den Robot von Hand zu steuern, aber Perry brachte das recht geschickt zuwege. Der Robot schwebte vorwärts, mit flotter Fahrt. Perry ließ ihn so hoch steigen, daß er -38-
von den anderen Bewohnern Gaalos nicht mehr erreicht werden konnte. »Wo willst du hin, zum Bunker?« Perry nickte. Es war ein riskanter Plan, und wir beide wußten das. Wenn wir entdeckt und erkannt wurden ... Der Robot nahm Fahrt auf und verließ das Gebiet von SüdDREI, wo wir ihn entdeckt und repariert hatten. Perry ließ ihn höher steigen, so daß wir einen recht guten Überblick über das Stadtgebiet hatten - aber mit Einschränkungen. Wir hatten den Robot zwar unter Kontrolle, aber höher als knapp achtunddreißig Meter brachten wir ihn nicht. Auch damit ließ sich also das Hindernis zwischen Unterstädten und Oberstadt nicht überwinden. Wer immer diese Stadt angelegt hatte, er war sehr gründlich und prinzipienfest vorgegangen. Schon von weitem konnte ich den Bunker erkennen. Dumpf und massig ragte er aus der Betonwand, die Herz-FÜNF umgab. Zu sehen waren auch die Schleusen, durch die sonst die Schüsselroboter den Bunker verließen und zu ihrer Arbeit ausschwärmten. Ich leckte mir die Lippen; bald war der Augenblick erreicht, auf den es entscheidend ankam. Erste Frage: Wurden wir als Passagiere des defekten Robots entdeckt? Die Antwort lautete ja. Es waren Einwohner der Stadt, die unseren Trick erkannt hatten. Sie schrien und gestikulierten wild. Ich sah, wie sie auf den Straßen zusammenliefen. Aber sonst reagierte niemand - bisher. Perry holte scharf Luft. Mut hatte er, das wußte ich. Aber das bedeutete nicht, daß uns beiden die Angst fremd gewesen wäre. Wir wußten sehr wohl, wie sich Furcht und Grauen anfühlten: kalte, schleimige Klumpen, die im Magen zu gären und zu brodeln schienen. Wir näherten uns dem Bunker. Alle anderen Roboter hatten Kurse eingeschlagen, die sie von dem Bunker wegführten. Wir waren die einzigen, die genau auf ihn zusteuerten. Unwillkürlich -39-
hielt ich den Atem an. Bis jetzt hatten wir in und am Bunker keine Geschütze oder dergleichen feststellen können; auch die Schüsselroboter waren, soweit wir sie hatten sehen können, stets unbewaffnet gewesen. Aber wir hatten nur einen Teilausschnitt der Wirklichkeit von Galorn zu sehen bekommen. Möglich, daß uns jetzt eine sehr unerfreuliche Überraschung bevorstand. »Oha!« Das war Perry, ein halblauter Ausruf der Verblüffung. »Was hast du gesehen?« Perry deutete nach rechts. Mein Blick glitt über die Menge ... Und dann sah ich ihn, und unwillkürlich murmelte ich eine Verwünschung. Er war es, der Hüter der Ebene, der Basaltformer, jene so exotisch aussehende Kreatur, die uns in der Ebene um ein Haar verschüttet und lebendig begraben hätte. »Möchte wissen, was der hier will?« fragte ich mich und fixierte den Fremden mit dem auffälligen Exoskelett. Der Wächter des Pilzdoms mußte eine gehörige Portion Mut haben, wenn er sich in die Öffentlichkeit wagte, wo ihn offenbar ein unsanfter Faustschlag schon in Splitter zerlegen konnte. Ich sah, daß er sich gegen die Gefahren in gewisser Weise gewappnet hatte. Zwei Tasch-Ter-Man waren bei ihm; der eine trug ihn sogar, das andere Geschöpf sicherte den Basaltformer nach allen Seiten hin ab. Die kräftigen Tasch-Ter-Man, die wie hohe Baumstümpfe aussahen und entsprechend stabil waren, hatten alle Vorzüge, die für diesen Job gebraucht wurden. Der Unheimliche regte sich kaum. Er hatte die auffällig großen Segelohren ausgefahren. Fing er damit etwa Sonnenenergie ein? Ich spähte in die Höhe und stieß einen Fluch hervor. »Warum so wütend?« »Das wird ein ausnehmend schöner Tag. Sonnig, genau das, was unser knochiger Freund offenbar braucht, um sein Aktivitätspotential ausschöpfen zu können.« Perry fixierte eine der Bunkerschleusen. »In ein paar Augen-40-
blicken ist es vorbei«, sagte er. »Dann liegt der Pilzdomwächter hinter uns. Offenbar kommt auch er nicht so ohne weiteres in die Stadt hinein.« Ich schluckte. Es sah in beiden Richtungen nicht sehr gut aus. Vor uns war die Schleuse in der Bunkerwand zu erkennen. Es glänzte metallisch in dem großen, halbdunklen Raum, der sich hinter der Öffnung erstreckte. Ich sah etwas Helles, Langgestrecktes, das auf uns gerichtet zu sein schien. In wenigen Augenblicken ... Es fiel mir sehr schwer, die Augen geöffnet zu halten und in das Halbdunkel hineinzublicken. Ich wünschte, Ronald Tekener wäre an meiner Stelle gewesen. Dem Smiler schien es in solchen Lagen oftmals gar nicht riskant genug zur Sache zu gehen. Nur an der Schnelligkeit seiner Atemzüge konnte ich bei Perry erkennen, daß auch er angespannt war. »Keine Waffen«, sagte er halblaut und lächelte schwach. »Irgendwelche Rohrleitungen ...« Ich schluckte, während unser Roboter auf das Luk zuschwebte. Ein letzter Blick nach rechts. Der Fremde von der Basaltebene blickte uns hinterher. Wie bei ihm offenbar üblich, war keinerlei Gemütsregung zu erkennen. Vielleicht kannte er so etwas wie Gefühle gar nicht. Ich verzichtete darauf, ihm eine Nase zu drehen oder ihn sonst wie zu ärgern. Unsere Lage war nach wie vor äußerst kritisch und unstabil; erst wenn sich auf diesem Gebiet einiges geändert hatte, hatten wir vielleicht einen Anlaß zu triumphieren. Ich atmete geräuschvoll aus. Unser Roboter schwebte in eine große Halle, senkte sich langsam tiefer und verharrte schließlich eine Handbreit über dem Boden. Rasch sahen wir zu, daß wir unser unfreiwilliges Transportmittel verließen. Ein halbes Dutzend anderer Schüsselroboter trieb sich in der Halle herum, ohne aber von uns Notiz zu nehmen. Das eben -41-
unterschied lebende Wesen von Robotern: Menschen schöpften mitunter von selbst Verdacht, unabhängig von ihrem beruflichen Auftrag. Ein Robot, der nicht entsprechend programmiert war, war auf diesem Gebiet blind, taub und stumm. »Weg von hier!« stieß Perry hervor und gab die Richtung an. Im Hintergrund der Einflughalle war eine Tür zu erkennen. Ich stellte befriedigt fest, daß der Boden leicht anstieg, in Richtung auf Herz-FÜNF. Ich hielt mich an Perrys Seite, und während er den Weg erkundete, sah ich mich nach Nützlichem um. Waffen vielleicht, und sei es ein einfacher Prügel aus massivem Metall... Wir konnten alles brauchen. Perry erreichte die Tür. Er lauschte, kniff die Augen zusammen. Ich sah, wie er schnell den Kopf schüttelte. Nichts! Geräuschlos schwang die Tür auf, dahinter flammte automatisch eine Beleuchtung auf. Ich sah, wie Perry grinste. Sehr gut. Wenn es dort hell wurde, sobald wir den Raum betraten, hieß das, daß sich dort niemand herumtrieb, der künstliches Licht brauchte - anderenfalls wäre der Raum schon vor unserem Eintreten hell gewesen. Ich huschte an Perrys Seite. »Nahrungsmittel«, flüsterte Perry lächelnd. »Den Etiketten nach zu schließen ...« Logisch, aber diese Logik konnte häufig nach hinten losgehen, Was findet man in einem Behälter, auf dem Erbsen abgebildet sind? Richtig, Erbsen. Und bei einem mit Maiskörnern darauf? Natürlich Mais. Und was ist wohl in einer Verpackung, auf der ein pummeliges, grinsendes Baby zu sehen ist? Oder in der Dose mit dem hechelnden Wauwau darauf? Logik hin und her, ich spürte, wie mir der Magen knurrte. Ich wollte endlich wieder einmal eine wirklich vernünftige Mahlzeit zu mir nehmen. Das Gaalo-Futter reichte gerade, um den Hungertod fernzuhalten. Wenn diese Art der Beköstigung typisch war für Plantagoo, war ich dagegen, diplomatische -42-
Kontakte zu dieser Galaxis herzustellen ... Perry blickte sich mit gewohnter Sorgfalt um. Er behielt auch den Boden im Auge. Dort war nur Staub zu sehen - vor uns. Hinter uns hingegen zeichneten sich in diesem Staub saubere Schuhabdrücke ab. »Hier ist seit Menschengedenken niemand mehr durchgegangen«, konstatierte Perry und stieß einen halblauten Seufzer der Erleichterung aus. »Einstweilen sind wir in Sicherheit!« Nicht nur das ... Dieser Raum war temperiert, richtiggehend warm, ganz anders als draußen im Freien. Es gab keine Säuredünste hier, auch das ein wahres Labsal nach den letzten Tagen, in denen wir kaum einmal aus dem Schaudern und Frösteln herausgekommen waren. Ich dehnte und streckte die Glieder. Jetzt eine warme Mahlzeit, und dann ein weiches, üppig gepolstertes Bett... Perry grinste. »Deine Gedanken zeichnen sich auf deinem Gesicht so deutlich ab, daß wahrscheinlich sogar ein Blinder sie dort ertasten könnte. Reiß dich zusammen, Dicker! Noch haben wir keine Zeit für eine Rast. Erst müssen wir die Örtlichkeiten erforschen.« Ich antwortete mit einem halblauten Knurren. Wir brauchten eine Viertelstunde, dann hatten wir diesen Raum erforscht - es gab dort Nahrungsmittel und Grundstoffe, aus denen Kleidung hergestellt wurde, vermutlich ebenfalls von den Robotern. »Wahrscheinlich bekommt der Bunker von den Raumschiffen die Rohstoffe geliefert, die dann von den Schüsselrobotern weiterverarbeitet und an die Bevölkerung von Gaalo verteilt werden«, vermutete Perry. »Dann wundert mich nichts mehr«, grummelte ich, stellte mir nur vor, wie sich die Schüsselroboter an die Herstellung von Nahrung machten. Wahrscheinlich befolgten sie stur und wortgetreu die Hinweise auf den Verpackungen - entsprechend war -43-
die Qualität dieser Nahrung. Eine weitere Tür tauchte auf. Auch sie ließ sich problemlos öffnen, auch hier ging sofort nach unserem Öffnen das Licht an. Eine Reparaturanlage für Schüsselroboter ... Ein halbes Dutzend Maschinen schien darauf zu warten, versorgt zu werden. Mehr oder weniger in Einzelteile zerlegt, standen und lagen sie herum. Versorgt wurden sie von ihren robotischen Kollegen. »Siehst du, was ich sehe ...?« Ich nickte. Die ersten Anzeichen hatten wir schon draußen gefunden, hier war es unübersehbar. Gaalo, wahrscheinlich ganz Galorn, war ein Rückzugsgebiet. Es waren seit Ewigkeiten keine Investitionen mehr getätigt worden. Wenn etwas defekt wurde, wurde es notdürftig gewartet, bis es endgültig auseinanderfiel. Wahrscheinlich wurde aus fünf defekten Schüsselrobotern einer zusammengebastelt, der sich halbwegs verwenden ließ. Die Maschinen waren durchweg nicht angerostet, dafür war das Material zu hochwertig; die Verschleiß- und Abnutzungserscheinungen waren dennoch nicht zu übersehen. »Wozu wird überhaupt dieser Aufwand hier getrieben?« fragte sich Perry halblaut. Ich hob die Schultern und sah mich weiter um. Wenn es einen Ort gab, wo wir ein bißchen technische Ausrüstung stibitzen konnten, dann wohl hier. Schließlich fand ich auch, was ich gesucht hatte. Eine Stange aus Metall, daumendick, vermutlich aus gehärtetem Stahl. Ich bückte mich und klaubte das Ding auf. Man brauchte die Stange nur sauber zu wischen, dann hatte man... ... trotzdem gegen den Andro-Hüter keine Chance mehr.
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6. Er war plötzlich aufgetaucht, völlig lautlos. Natürlich hatte die Beleuchtung bereits gebrannt, wir waren daher durch die Automatik nicht aufgescheucht worden. Er war schätzungsweise 185 Zentimeter groß und absolut ebenmäßig humanoid gebaut, wirklich wie ein Mensch - nun, beinahe. Er hatte schwarze Augen und war, soweit wir das sehen konnten, völlig unbehaart. Eine Nase war nicht zu sehen, aber er besaß einen Mund. Wenn man die Störung durch die fehlende Nase vergaß, hatte sein Gesicht ein schnell ablesbares Charakteristikum: Der Andro-Hüter wirkte auf seltsame Art tief traurig. Fehlte nur noch, daß ihm die Tränen kamen, als er diese häßliche, sehr gefährlich wirkende Waffe hob, auf uns richtete und Anstalten machte, den Abzug durchzuziehen ... Zum Glück hatte er es zunächst einmal auf Perry abgesehen. Und der reagierte mit jener ungeheuren Fixigkeit, die ihn schon vor langer Zeit zur Legende gemacht hatte. Perry warf sich zur Seite und stieß einen der schwebenden Robots an, der auf seine Reparatur wartete. Der Robot war antriebslos und wurde nur von einem Antigravfeld gehalten. Perrys Stoß ließ ihn mit hoher Fahrt hinüberschweben zu dem AndroHüter, der auf eine so schnelle Reaktion wohl nicht gefaßt gewesen war. Während der Androide sich noch von der Überraschung erholte, war ich bereits in Deckung gegangen. Ich griff nach allem, was in Reichweite war, und warf es in Richtung des AndroHüters, der sich nun mit offenem Widerstand konfrontiert sah, sehr zu seiner Verblüffung. »Wir trennen uns und treffen uns später wieder.« Perrys Stimme klang halblaut, aber scharf durch den Raum. Ich blieb in Deckung, warf wieder mit Maschinenteilen und -45-
Metallbrocken. Dabei hatte ich das Glück, einen der Leuchtkörper zu treffen. Wenig später erwischte Perry die zweite Lampe, und der gesamte Raum fiel in Dunkelheit zurück. Den Robotern schien das nichts auszumachen, sie setzten ihre Tätigkeit einfach fort; aber der Andro-Hüter war dem nicht gewachsen. Er trat die Flucht an und verließ hastig den Raum. Ich wandte mich nach links. Ein langer Flur tat sich für mich auf, der schlagartig hell wurde. Eine Tür, dahinter eine Treppe. Ich hastete in größter Eile hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, noch immer die Stange in der Hand, um mich verteidigen zu können. Der Hunger und die Sehnsucht nach einem weichen, warmen Bett waren erst einmal vergangen. Noch eine Tür, dann nach rechts. Eine weitere Pforte, die ich mit dem Ellenbogen aufstieß ... Dann hatte ich es geschafft. »Herz-FÜNF!« stieß ich hervor. »Sieh an!« Zu sehen war vor allem eines, und das war eine große Enttäuschung. Herz-FÜNF, das absolute Zentrum von Gaalo, der Teil des Ortes, der so massiv und wirkungsvoll abgeschottet worden war, der unberührbare Bereich - er war verlassen. Kein Lebewesen konnte ich erblicken. Kein Mocksgerger, kein Kroogh, weder ein einzelner noch ein Groß-Kroogh. Kein Tasch-Ter-Man, kein Zentrifaal. Glücklicherweise war auch der Andro-Hüter nicht zu sehen. »Das gibt es nicht«, murmelte ich ziemlich fassungslos. »Eine Geisterstadt!« »Hast du damit gerechnet?« fragte ich Perry, der in diesem Augenblick aus einer der anderen Türen hervortrat und sichtlich betroffen zögerte. »Eine Geisterstadt?« Perry schüttelte den Kopf. »Komm«, forderte er mich auf. »Laß uns zunächst einmal mehr Distanz zwischen uns und den Andro-Hüter bringen. Vielleicht kehrt er sehr bald mit großer robotischer Verstärkung zurück. Ich glaube es zwar nicht, aber ich will kein Risiko eingehen.« -46-
Herz-FÜNF bot einen beeindruckenden Anblick, zugleich strahlend und erschütternd. Dieser Bereich von Gaalo wurde beaufsichtigt und gewartet, das war zu sehen. Die Straßen waren sauber - zehn Meter breit und aus einem pechschwarzen Material bestehend - und verliefen sehr exakt und regelmäßig. Die Häuser hatten Dächer, Türen und Fenster. Ihre Fassaden waren sauber, reinweiß, und sie wirkten auf uns wie frisch gekalkt. Und sämtliche Türen standen offen ... »Das sieht aus wie eine Art Friedhof«, murmelte Perry beeindruckt. »Oder wie eine Falle«, fügte ich an. Mir war nicht wohl bei dem Anblick. Zuerst hatte ich nicht genau gewußt, was mich störte, aber Perry hatte es mit seiner Bemerkung auf den Punkt gebracht. Herz-FÜNF sah tatsächlich wie ein Friedhof aus, sauber bis zur Keimfreiheit, ordentlich bis hin zur Sterilität. Ich hatte den Eindruck, daß ich mit meiner Anwesenheit diesen Ort gleichsam entweihte. Ein Gedanke, der mir im Inneren des Pilzdomes und auf der Basaltebene in dieser Deutlichkeit nie bewußt geworden war. »Wozu landen dann immer wieder die Stummelraumschiffe hier?« fragte Perry leise. »Bist du sicher, daß sie hier herunterkommen?« fragte ich. »Die Hochebene ist ja groß.« Perry wiegte den Kopf. »Einmal zynisch gesprochen«, versetzte er. »Gibt es außer Herz-FÜNF und dem Pilzdom irgend etwas auf Galorn, was eine Landung mit einem Raumschiff lohnen würde?« Ich schüttelte den Kopf. Perry hatte absolut recht. Herz-FÜNF war ein sehr beeindruckender Ort, in der Tat. Ich hatte den Eindruck, daß dieser Teil der Stadt mit technischem Aufwand geschützt und behütet wurde. Die völlig intakten Fassaden konnten nur eines bedeuten: Herz-FÜNF wurde vor dem ätzenden Regen geschützt, der typisch war für Galorn. -47-
Herz-FÜNF wurde in seiner Gesamtheit auch temperiert. Mein Kombiinstrument zeigte vierzehn Grad über Null an, immer noch ein bißchen fröstelig für meinen Geschmack, aber erheblich mehr als der natürliche Umweltwert, der nahe dem Gefrierpunkt lag. Herz-FÜNF war ein ruhiger Ort. Kein Lärm, kein Gezänk, keine Hektik. Ganz friedlich und ruhig, wie auf einem Friedhof. »Machen wir Tempo«, schlug Perry vor. »Ich bin sicher, daß der Andro-Hüter alles alarmieren und in die Jagd schicken wird, was er aufzubieten hat. Überwachungseinrichtungen, Jagdroboter - wer weiß, was ihm zum Schutz von Herz-FÜNF alles zur Verfügung steht. Und er selbst wird auch nicht untätig bleiben, fürchte ich.« Ich nickte. Unser erstes Ziel hatten wir erreicht, das Herz von Gaalo. Und wir hatten eine Überraschung erlebt. Jetzt galt es, eine Strategie auszutüfteln, wie es weitergehen sollte. Denn eines war auf den ersten Blick klar geworden: Hier würden wir niemanden finden, mit dem wir reden konnten. Und das war mehr als ärgerlich. Was hatten wir getan, daß man so mit uns umgesprungen war? Nichts! Wir hatten die Brücke in die Unendlichkeit benutzt, das war alles - und nach Perrys Aussage war diese Brücke sogar ganz speziell für ihn bestimmt. Zuerst hatten wir ein Arsenal gefunden, gelegen zwischen zwei weit entfernten Galaxien und schon vor geraumer Zeit restlos zerstört. Danach waren wir auf diesem Planeten gelandet, und beinahe augenblicklich hatte der Wächter der Basaltebene erbarmungslos Jagd auf uns gemacht. Und nun standen wir auf dem Boden von Herz-FÜNF, und es wurde schon wieder eine Hatz auf uns veranstaltet. Draußen und unten wartete der Wächter der Ebene, um sein Werk an uns zu vollenden, und irgendwo in Herz-FÜNF lief dieser Andro-Hüter mit gezückter Waffe herum und lauerte auf -48-
uns. Dazu gab es schlechtes Wetter, noch schlechteres Essen, wenig Schlaf und vor allem mit jeder Stunde ein paar Fragen mehr und einige Antworten weniger. Perry deutete auf eines der Häuser, knapp fünfzig Meter entfernt. Auch dort stand das Portal offen. »Versuchen wir es«, sagte er. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß hier niemand lebt. Das ändert alle Pläne und Absichten. Wir müssen ein völlig neues Konzept entwickeln ...« Ich lächelte freudlos. Prima, und das alles weit, weit entfernt von der Heimat, so weit entfernt, daß wir nicht einmal wußten, in welcher Richtung wir unsere heimatliche Milchstraße hätten suchen sollen. »Geh voran«, schlug ich vor. »Ich folge dir.« Das Haus, das Perry ausgewählt hatte, war zweigeschossig, es sah sauber und gemütlich aus. Und harmlos ...
7. Foremon starrte hinter den Fremden her. Sie hatten seine Erwartungen nicht enttäuscht. Obwohl sie ihm - wieder einmal entkommen waren, konnte er zufrieden mit sich sein. Intellektuell und planerisch bekam er die Fremden besser in den Griff. Als die Tasch-Ter-Man ihm von dem defekten Schüsselroboter erzählt hatten, hatte Foremon sofort geahnt, daß Perry Rhodan und Reginald Bull mit dem defekten Ding ganz spezielle Pläne verfolgten. Sie hatten es tatsächlich geschafft, den Roboter wieder einsatzfähig zu machen und ihrem Willen zu unterwerfen. Dieser Perry war eindeutig die Führungsperson. -49-
Foremon hatte seine Helfer befragt, die Tasch-Ter-Man. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie die Fremden das gemacht haben sollten. Die Schüsselroboter gehörten zur Galornentechnik, viel zu hoch für die einfachen Bewohner von Gaalo. Nein, hatte man Foremon versichert, kein einziger auf Galorn wäre in der Lage gewesen, einen defekten Schüsselroboter zu reparieren - geschweige denn, ihn umzuprogrammieren. Schlußfolgerung daraus: Die beiden Fremden gehörten einer Kultur- und Zivilisationsstufe an, die mit jener der Galornen gleichwertig war. Falsch, es gab nur bestenfalls einen zivilisatorischen Gleichstand. Kulturell standen die Galornen himmelweit über diesen Fremdlingen, die ohne erkennbares Motiv einen Boten von Thoregon und Steinkind getötet hatten. Foremon war zur Selbstanalyse in einem Maß fähig, das selbst Ce Rhioton erstaunt hätte. Und so war ihm bei der Überprüfung seiner Gedanken und Empfindungen keineswegs entgangen, daß er entschieden mehr Gedanken auf Steinkind verwandte, als nach kalter Sachlogik erklärbar gewesen wäre. Ja, mitunter, in seltsamen, ihn innerlich verstörenden Augenblicken, hatte Foremon sogar das aberwitzige Empfinden, als sei die Zerstörung Steinkinds sogar das größte der Verbrechen, das die Fremden auf sich geladen hatten. Oder anders ausgedrückt: Die wir hatten ihn ›Tötung‹ Steinkinds motivierte ihn mitunter stärker als der Mord an dem Boten von Thoregon. Eine Erklärung für dieses Phänomen hatte Foremon allerdings noch nicht finden können.« Immerhin war er bei der Überlegung angekommen, die Fremden, sofern er sie zu fassen bekam, nicht sofort zu töten, sondern vorher einen Versuch zu unternehmen, mit ihnen zu kommunizieren. Welche Antworten er sich von ihnen erhoffte, war ihm nicht bewußt; er spürte nur, daß ihre Anwesenheit und ihr Verhalten sein festgefügtes Weltbild restlos erschüttert und durcheinandergebracht hatten. Foremon spürte, -50-
daß er Abweichungen und Irritationen in seinem Denken und Empfinden nicht mochte; der bloße Gedanke daran ließ ihn innerlich erbeben. Sein Weltbild war steinern; Veränderungen darin waren Sachen von Äonen, nicht von Wochen oder gar Stunden... Und doch hatten die Fremden ihn zu ebensolchen schaurigen Veränderungen gezwungen. Eine weitere Schlußfolgerung: Wenn Perry und Bully solche Leistungen zuwege brachten, waren sie als Gegner noch sehr viel höher und gefährlicher einzuschätzen als zuvor. Foremon war sich nicht ganz sicher, was er eigentlich auf Galorn bewachte und beschirmte. Daß es sich nur um einen vergleichsweise winzigen Ausschnitt einer gewaltigen, größeren, tiefgründigeren Wirklichkeit handelte, das war ihm gedanklich zugänglich. Und daß seine Lebensaufgabe, eigentlich der Zweck seiner gesamten persönlichen Existenz, der Schutz und die Wahrung dieser übergeordneten Wirklichkeit war. Diese Wirklichkeit, dieser steinerne Kosmos, wurde durch die Fremden bedroht, stärker, als Foremon das hätte ahnen oder sich vorstellen können. Vielleicht nicht einmal Ce Rhioton ... Um so vordringlicher war daher die Aufgabe, die Fremdlinge an ihrem schändlichen, ruchlosen Tun zu hindern. Wenigstens wußte er jetzt, woran er war. »Bringt mich zurück an jenen Ort, an dem wir uns zuerst begegnet sind«, bestimmte Foremon. Gehorsam wendeten die Tasch-Ter-Man ihre Schritte Richtung West-VIER. Foremon war gespannt, was die Fremden in der Stadt anstellen würden. Sie in Brand setzen? Verwüsten, plündern, ausrauben? Schade, daß er sie würde auslöschen müssen. Sie waren wirklich sehr interessant, eine für ihn neue und gänzlich unvorstellbare Lebensform. Allein die Tat, die sie begangen hatten! Wer kam und wie kam er auf die unbegreifliche Idee, einen Boten von Thoregon zu töten und ihm das Passantum abzu-51-
nehmen? Eine Tat wie diese war in einem geistigen Kontinuum angesiedelt, das Foremon einfach nicht zugänglich war - wahrscheinlich auch sonst niemandem in Plantagoo. Alles, was er hatte tun können, war, die Tat als solche zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren. Sie zu begreifen, dazu war er nicht imstande und würde es wohl auch niemals sein. Auf der anderen Seite - Foremon vergaß niemals etwas, das er getan hatte-, war er selbst in einen ideellen Kosmos vorgestoßen, von dem er früher nichts geahnt hatte. Er hatte Steinkind geschaffen. Er hatte das Weltall um etwas bereichert, das es vor ihm niemals gegeben hatte. Es würde zu seinen Lebzeiten und nach ihm auch nie wieder existieren, weil Bully Steinkind zertrümmert hatte. Daß er Steinkind hatte erschaffen können - Foremon hatte viel Zeit zum Nachdenken, während ihn die Tasch-Ter-Man durch Gaalo schleppten-, hieß das, daß er auch imstande war, die Grenzen seiner eigenen Existenz zu transzendieren? Das Undenkbare zunächst zu denken, und dann womöglich auch zu tun? Er wußte es nicht... Foremon, der Wächter der Ebene, verrichtete nicht nur seine Arbeit, erfüllte seine Pflicht, tat, wozu er in die Welt gekommen war. Er rang im gleichen Maß auch um sich selbst, um seine Existenz, weniger körperlich als vielmehr geistig. Ihm wurde schwindlig zumute, wenn er in diesen Regionen dachte, in Bereichen, in denen seine Gedanken seltsam zu flimmern und zu gleißen schienen, in denen er vor allem das verlor, wofür er sein Denken bislang so geschätzt hatte; es hatte ihm Sicherheit gegeben, das Fundament seiner Existenz. Als er den Zugang zu Herz-FÜNF erreichte und sich von den Tasch-Ter-Man trennte, hatte Foremon einen geistigen Zustand erreicht, den er niemals vergessen würde. Er frohlockte, schauderte, hoffte und haßte, und alles im gleichen Augenblick. Er frohlockte, weil er ahnte und hoffte, daß all diese Ereig-52-
nisse ihm auf geistigem Gebiet einen ähnlichen Gewinn bringen würden wie das Morphen, das er für sich entdeckt, kultiviert und ausgebaut hatte. Selbst Ce Rhioton, der Foremon besser kannte als irgendein Geschöpf sonst, hatte gestaunt, als Foremon seine neu entwickelten Fähigkeiten vorgeführt hatte. Foremon schauderte, weil er keinen sicheren geistigen Halt mehr hatte. Die Sicherheit festgefügter Prämissen und Denkschablonen hatte sich unwiderruflich verabschiedet. Foremon hatte in seinem Denken eine Reise angetreten, von der er nicht ahnte, wohin sie ihn führen konnte. Vielleicht bis in jene Regionen, in denen die Fremden beheimatet waren. Geistige Zustände, in denen ein Mord an einem Boten von Thoregon vorstellbar wurde, ja sogar verwirklicht werden konnte. Vor dieser Art des Denkens schauderte Foremon bis ins Innerste seines Wesens. Dieses Schaudern hatte ein Zwillingsgeschwister, und das hieß Angst. Grauen, Furcht, Entsetzen ... der Namen gab es viele. Die Gefühle selbst waren aufwühlend und erschütternd, und Foremon wußte nicht mit ihnen umzugehen. Und dafür haßte er die Fremden ... Während er langsam, energetisch schwach aufgeladen und mineralisch unterversorgt, die Stufen hinaufstieg, erlebte Foremon etwas, das ihn abermals aus dem seelischen Gleichgewicht warf. Er stellte sich vor, wie er die Fremden tötete, sie durch den Basalt langsam zermalmen ließ. Der Gedanke gefiel ihm; er kostete ihn minutenlang aus. Und in diesem Augenblick wußte er, daß er damit den seelischen und gedanklichen Kosmos betreten hatte, in dem der Mord an einem Boten von Thoregon vorstellbar wurde ...
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Das Wasser war gelb ... Ich hörte das Knarren der hölzernen Rahen und Masten, der Beplankung, das Knirschen des Tauwerks. Ein schwacher Wind strich durch die Takelage, reichte aber nicht aus, die Segel wirklich zu blähen. Der Schnitt dieser Segel war eigentümlich, ebenso die Farbe. Die Formen entsprachen klassischen Formen der Geometrie: Trapez, Dreieck, Fünfeck, Sechseck und so fort. Und der Stoff, aus dem diese Segel gefertigt worden waren, leuchtete in einem kräftigen Blau - Lapislazuli, schätzte ich, in der Zeit vor meinem Mondflug einer der teuersten Naturfarbstoffe überhaupt. »Wo, zum Teufel, sind wir?« Ich sah, wie Perry mit den Achseln zuckte. Er stand neben mir auf dem Deck des Schiffes und blickte in die Ferne. Zu sehen war nur der gelbe Ozean, buchstäblich ein gelbes Meer. Das Schiff schwankte in einer schwachen Dünung. Rosafarbene Wolken drifteten über den Himmel, der einen sanften Grünstich hatte. »Ist das echt?« murmelte Perry und schnupperte. »Oder nur ein reines Phantasie- und Illusionsprodukt?« Wir hatten nur einen einzigen Schritt gemacht, der uns über die Schwelle getragen hatte - von der pechschwarzen Straße in Herz-FÜNF auf das Deck dieses sanft dahintreibenden Schiffs auf dem gelben Ozean. »Vielleicht eine Reminiszenz an die Vergangenheit von Galorn?« mutmaßte ich. »Möglich, daß es hier auf Galorn früher tatsächlich einmal einen solchen Ozean gegeben hat.« Perry lächelte milde. »Dann müßte auch heute der Himmel noch grün gefärbt sein und die Wolken rosa. Nein, dies ist eine pure Kunstwelt, entweder rein aus der Phantasie geschöpft oder aber einer Realität an anderem Ort oder zu anderer Zeit abgekupfert.« Die wichtigste Frage hatten wir gleich in den ersten Sekunden geprüft: Es wurde auf uns kein hypnotischer Zwang ausgeübt. Es -54-
stand uns frei, den Schritt zu wenden und umzukehren. Zurück in die handfeste Realität von Herz-FÜNF, wo ein grimmiger Andro-Hüter mit einer bemerkenswert scheußlichen Waffe auf uns wartete. Wir schritten vorsichtig über das Oberdeck dieses Schiffes. Ich war kein Experte auf diesem Gebiet, konnte also nicht sagen, ob es sich um einen Kutter, einen Schoner, eine Schebecke oder was auch immer handelte. Das Schiff hatte zwei sehr hohe Masten - und allem Anschein nach keine Besatzung. Niemand war zu sehen. Die Türen, ebenso wie das ganze Schiff aus dunkelbraunem Holz gefertigt, standen offen. Perry und ich wechselten einen raschen Blick. »Versuchen wir es?« fragte ich. »Nach dem Rundgang«, schlug Perry vor. Wir folgten dem Verlauf der Reling und blickten hinaus in die Weite des Gelben Meeres. Es gab kein Land zu sehen, weder im Süden noch im Norden, Westen oder Osten. Das Schiff trieb ganz allein auf dem Meer. Ich sah, wie Perry sich am Bug über die Reling beugte und einen seitlichen Blick auf das Bugspriet erhaschen wollte. »Marie Celeste?« fragte ich. Perry grinste nur und beugte sich zurück. »Kein Eigenname zu sehen«, informierte er mich. Etwas plätscherte an Backbord - oder war es Steuerbord? Ich kann das so schwer auseinanderhalten. Links jedenfalls, in Fahrtrichtung gesehen. Wir beugten uns über die Reling. Tief unter uns zischte etwas durch das Wasser, ein langes, schwarzes Phantom. Es schickte einen perligen Wasserstrahl in die Höhe, bis knapp unter die Reling, dann tauchte das Wesen in die Tiefe ab und war verschwunden. »Eine perfekte Illusion«, stellte ich fest. Es war klar, daß es sich um eine künstlich herbeigeführte Sinnestäuschung handeln mußte, denn wenn ich zurückblickte, -55-
konnte ich das Portal sehen, durch das wir auf das Schiff gelangt waren. In der einen Richtung, von der Straße aus nach innen, war nichts zu sehen gewesen von dem, was hinter der Schwelle existierte. Vom Deck aus aber konnte man durch das Portal - es schien in einen hohen Heckaufbau zu führen - auf die schwarze Straße blicken und die Konturen der weißen Häuser von HerzFÜNF wahrnehmen. Hätte es in dem Portal einen Transmitter gegeben, wäre dieser Durchblick nicht möglich gewesen, jedenfalls nicht mit der bekannten Technologie, die uns Menschen des 13ten Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung geläufig war. Und daß man in einem gewöhnlichen Galornenhaus keinen Großsegler samt Gelbem Ozean unterbringen konnte, lag ebenfalls auf der Hand. Also handelte es sich bei unserer Umgebung um Illusion, perfekt gemacht, wie ich zugeben mußte. Es blieb die Frage, ob es sich um eine perfekte holographische Simulation handelte oder um eine eher psychotechnische Projektion in unsere Gehirne. Eine Holographie hätte man durchschreiten können, sie wirkte nur auf das Auge und das Gehör; taktile Sinnestäuschungen dieser Perfektion gab es nicht. Man konnte während einer Holo-Konferenz seine Freundin zwar sehen und hören, aber riechen und begrapschen konnte man sie nicht. Glücklicherweise: Man stelle sich vor, was herausgekommen wäre, hätten Tausende von Zuschauern gleichzeitig ihrer Verehrung für irgendeinen Trividstar Luft gemacht. »Was geht dir durch den Kopf?« Perry war stehen geblieben und dachte nach. »Ich frage mich, wozu dieser Aufwand gut ist«, sagte er leise. »Ist er für uns, die Besucher, bestimmt? Kaum, denn man will uns ja mit allen Mitteln fernhalten. Eine Art von Museum für galornische Geschichte und Kultur? Da gilt dasselbe. Nein, ich -56-
glaube, daß diese Häuser genau so, wie wir sie vorfinden, für die früheren oder künftigen Bewohner der Stadt bestimmt sind. Dies ist die Umgebung, das Ambiente, in dem sich die Galornen wohl fühlten, als sie diese Stadt noch bewohnten.« Die Galornen, das hatten wir recht bald erfahren, waren die früheren Bewohner dieses Planeten und auch der Stadt gewesen. Jetzt gab es sie nicht mehr, oder nur sehr vereinzelt. Jedenfalls wohnten sie heutzutage nicht mehr in Gaalo. »Du meinst...?« »Wir richten unsere Häuser nach unseren Wünschen und Bedürfnissen ein, entsprechend unserem Geschmack und unseren finanziellen Möglichkeiten. Es gibt Leute, deren Wände vollgestopft sind mit Lesespulen oder mit großformatigen Gemälden. Manche haben kein grünes Blatt in ihren Wohnungen, bei anderen glaubt man, einen Privatdschungel zu betreten. Wahrscheinlich ist es hier genauso. Irgendein Galorne hat hier seine Wünsche und Sehnsüchte ausgelebt - und die hatten mit einer fossilen Form von Seefahrt zu tun.« Perry lächelte. »Vielleicht hat es auf Galorn nie Seefahrt gegeben. Dann hat dieser Galorne wie einer gehandelt, der sich ein Tipi im Garten aufstellt, sich einen tollen Kopfschmuck mit Adlerfedern aufsetzt, den Tomahawk schwingt und auf diese Weise Indianerromantik heraufbeschwören will...« »Mir macht dieser Spleen die Galomen durchaus sympathisch«, sagte ich halblaut. »Laß uns ein anderes Haus aufsuchen. Obwohl ...« Ich deutete auf den Niedergang. Auf einem richtigen Schiff hätte man dort unten die Kajüten und Kabinen finden müssen, die Unterkünfte für den Kapitän, die Offiziere und die Mannschaften. »Später«, sagte Perry und setzte sich in Bewegung. Wir brauchten nur ein paar Schritte zu machen, dann standen wir wieder auf der schwarzen Straße. Perry blickte auf den Boden, wo sich unsere Fußspuren schwach abzeichneten. -57-
»Ziehen wir die Schuhe aus«, schlug Perry vor. »Es kann nicht schaden, dem Andro-Hüter die Arbeit so schwer wie nur möglich zu machen.« »Worauf willst du eigentlich hinaus?« wollte ich wissen, während ich meine Schuhe abstreifte. »Ich hoffe, in dieser Stadt irgendein lebendes Wesen zu finden, mit dem man vernünftig reden kann«, antwortete Perry mit einem leisen Seufzer. »Ich weiß nicht, warum, aber der Wächter der Ebene hat sich sofort gegen uns gestellt. Von den Bewohnern der Unterstädte ist nichts zu erfahren, sie haben ihre eigenen, beschränkten Interessen. Der Andro-Hüter versucht beim ersten Kontakt, auf uns zu schießen - mir reicht es so langsam. Irgend jemand hat dieses System wohl eingerichtet und aufgebaut, es erfüllt für ihn einen gewissen Zweck. Und mit diesem Jemand oder seinem Nachfolger will ich reden!« »Du glaubst wirklich, daß hier noch jemand lebt, daß diese Stadt noch richtiggehende Einwohner hat?« Perry zuckte schwach mit den Achseln. »Ich hoffe jedenfalls darauf«, antwortete er müde.
8. Der Lärm war ohrenbetäubend, und vor unseren Augen schien sich alles zu drehen. Das tat es auch. Wir hatten ein anderes Haus betreten, und herausgekommen waren wir in etwas, das wie eine riesige vorsintflutliche Maschinenhalle aussah. Überall waren Apparaturen lautstark am Werk. Im Hintergrund zischte und fauchte es, Wellen und Transmissionsriemen waren zu sehen, dichtwolkige Dampfschwaden wehten durch die Luft. -58-
»So ungefähr muß es in den Fabriken hundert Jahre vor unserer Geburt ausgesehen haben«, schrie Perry mich an; anders als mit Brüllen konnten wir uns in diesem Getöse nicht verständigen. »Und das soll einem dieser Galornen als Umgebung gefallen?« äußerte ich mich skeptisch. Perry winkte mir zu. Wir schlüpften durch eine Tür und erreichten mit diesem einen Schritt eine gänzlich andere Landschaft. Ich stieß die Luft aus und massierte mir die gemarterten Ohren. »Vielleicht ist der erste Raum die Visitenkarte des Galornen, der hier lebt oder gelebt hat«, vermutete Perry. »Möglich, daß seine Sippe bis in diese Primitivzeit zurückreicht. Vielleicht ist auch der reine Gefühlsausdruck dieser Inszenierung entscheidend. Bei dem Schiff die Weite und Ruhe des Meeres, hier ein Ausdruck von unbändiger Kraft. Dort ein Sich-Treiben-Lassen, hier ein unentwegtes Vorwärtsstürmen.« »Und diese Umgebung zur Ruhe und Erholung«, führte ich den Gedanken zum Abschluß. Wir standen auf einer breitgelagerten Ebene und konnten vor uns einen dichten Wald sehen. Die Ebene war mit einem Teppich farbiger und vielgestaltiger Blüten bedeckt, die sich im sanften Wind wiegten und angenehme Düfte verbreiteten - Düfte, die bei mir sofort Hungergefühle wachriefen. Die Bäume waren schlank und ragten hoch in den azurnen Himmel auf; silbrige Blätter hingen an den Zweigen und bedeckten den Horizont mit einem faszinierenden Rieseln. Die Äste dieser Bäume schimmerten in einem vollen Kupferton; alles in allem wirklich ein Idyll. »Kannst du irgendwelche Tiere entdecken?« Ich schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht. Sollen wir näher herangehen?« Ich deutete auf den Weg, der genau unter unseren Füßen begann und zum Wäldchen hinüberführte. Feinkörniger, raben-59-
schwarzer Kies bedeckte den Weg, der unter unseren Füßen leise knirschte und so scharfkantig war, daß ich flugs wieder meine Schuhe anzog. Der Pfad beschrieb sanfte Kurven und wirkte sehr einladend. Er führte in das Innere des Wäldchens. Was mochte es dort zu entdecken geben? Perry nickte und setzte sich in Marsch. Ich folgte ihm in zwei Schritten Abstand. Ganz geheuer war mir nicht; bei so einladenden Szenerien war ich fast immer mißtrauisch. Das Schöne und das Schreckliche pflegten bei unseren Abenteuern fast immer dicht nebeneinander zu liegen. Es mußte doch einen Grund geben, weshalb in dieser Stadt niemand mehr lebte? Die Galornen - waren sie freiwillig abgezogen, überdrüssig der Traumwelt, die sie selbst in Szene gesetzt hatten? Oder waren sie vertrieben worden aus diesem eigentümlichen Paradies? »Diese Anlage muß einen Sinn haben«, bemerkte Perry nachdenklich. »Oder wenigstens gehabt haben.« Von unseren Freunden in den Unterstädten wußten wir, daß es noch einige anderer solcher Stadtanlagen auf Galorn gab, aber diese Siedlungen waren unbewohnt, nichts weiter als Ansammlungen von Schutt und Ruinen. Auch das mußte seine Ursache haben. Warum verließ ein Volk seinen Planeten? In diesem Fall war es durchaus erklärlich - wenn man unsere eigenen Maßstäbe heranzog. Für Perry und mich war Galorn eine extrem ungemütliche Welt, kalt, feucht, und die Nässe hatte obendrein eine ätzende Wirkung. Menschen ohne Zellaktivator konnten hier nicht lange überleben, ihnen wurde nach und nach die Haut vom Leibe geätzt. Die wenigen Pflanzen und Früchte, die wir beim Aufstieg auf die Hochebene hatten entdecken können, waren zwar leidlich genießbar. Was sie aber langfristig mit menschlichen Schleimhäuten und Magenwänden veranstalten würden, wollte ich mir -60-
lieber nicht ausmalen. Natürlich - den Galornen hatte das wohl nichts ausgemacht. Sie gehörten in diese Umwelt, waren ihren Bedingungen angepaßt gewesen. So jedenfalls lautete unsere Vermutung, aber mehr als Spekulation war das nicht. Plantagoo und Galornenstern hatten ihre Geheimnisse, und es würde ziemlich viel Zeit brauchen, diese Rätsel zu lösen. Ich blieb am Waldrand neben Perry stehen. Er streckte die Hand nach den Bäumen aus. Über das vordere Gewächs erstreckte sich ein feines, mit bloßem Auge kaum wahrnehmbares Gespinst. Als Perry es mit den Fingern berührte, wurde auch er von diesem Gespinst überzogen. Er lachte leise, behielt die Hand aber ausgestreckt. »Es kitzelt«, sagte er. »Es muß sich um eine Form von Energie handeln. Erinnerst du dich, an die Auren-Fotografien, die Kirlian-Felder?« Das lag weit in der Vergangenheit, aber ich erinnerte mich. »So ungefähr fühlt es sich an«, konstatierte Perry und schritt langsam weiter. Das seltsame Leuchten, blaßgelb und leise knisternd, hüllte ihn weiter ein, während er in den Wald eindrang. Ich folgte ihm und spürte, wie es auf meiner Haut leise prickelte - ziemlich ähnlich dem Gefühl, das der saure Regen auf unserer Haut hinterließ, nur entschieden angenehmer. Hatte Galorn vor Jahrzehntausenden so ausgesehen? Wenn, dann wahrscheinlich vor einer wesentlich längeren Zeitspanne Änderungen in der Ökologie eines ganzen Planeten vollzogen sich, wenn nicht Lebewesen massiv eingriffen und die Sache vorantrieben, in Zeiträumen von Hunderttausenden, oft auch Millionen von Jahren. »Sehr hübsch«, murmelte Perry und lächelte. Der Pfad führte in einer weit geschwungenen Windung tief in das Wäldchen hinein. Er mündete auf einer Lichtung. -61-
Fahlblaues Gras bedeckte dort den Boden. Der Pfad endete hier. Gesäumt war die Lichtung von einer großen Zahl von Silberbäumen, die so dicht standen, daß man sich wahrscheinlich nur mit rüder Gewalt hindurchzwängen konnte. Wesentlich interessanter aber waren die beiden Kästen, die mitten auf der Lichtung standen. Ich schluckte unwillkürlich. Die Dinger sahen verdammt nach Särgen aus ... Sie bestanden aus einem glassitähnlichen Material, das von goldfarbenen Adern durchzogen war. Immerhin waren diese Schreine so transparent, daß man in sie hineinspähen konnte. Sie waren leer... Bis zu diesem Augenblick.
Perry stieß einen Warnlaut aus, aber er kam zu spät. Um uns herum schwoll das Knistern plötzlich an, steigerte sich zu einem lauten Knattern, und das Prickeln auf meiner Haut wurde unangenehm, ja regelrecht schmerzhaft, als würde ich von einer Serie von elektrischen Schlägen eingedeckt. Wir fuhren herum und mußten sehen, daß sich das energetische Netz des Wäldchens verstärkt hatte. Ich stand dem Ausgang am nächsten, machte einen Schritt von der Lichtung herunter auf den Pfad zurück und wurde von einer regelrechten Salve von Entladungen zurückgeworfen. »Eine Falle«, konstatierte Perry trocken. Eine heimtückische und perfekt funktionierende Falle. Das Netz zog sich um uns zusammen. Wir hatten keine andere Wahl; wir mußten hindurch, koste es, was es wollte. Aber der Vorsatz war so leicht nicht in die Tat umzusetzen. Ich preßte die Lippen zusammen, holte tief Luft und stemmte mich dagegen. Es tat höllisch weh, und der Schmerz verstärkte sich, je weiter -62-
ich vorankam. Jeder Zentimeter dieses Rückzuges mußte mit stärkeren Schmerzen erkauft werden, und ich ahnte, daß wir auf diesem Weg niemals zurückfinden würden auf die heimelige Blumenwiese. Dutzende von Metern hätten wir dagegen ankämpfen müssen. Spätestens nach einem Drittel der Strecke hätte der Schmerz uns in eine tiefe Bewußtlosigkeit geschickt, vielleicht sogar getötet. Ich hörte Perry aufstöhnen, auch ich keuchte und ächzte. Es war kaum mehr auszuhalten. Die energetische Flut, die gegen uns anbrandete, stieg höher und höher. Die elektrischen Entladungen taten nicht nur weh. Sie wurden allmählich so stark, daß sie unsere Muskeln zu krampfhaften Zuckungen veranlaßten; vor meinen Augen tanzten grelle Feuerbälle, die mir völlig die Sicht nahmen. Das Feuerwerk blieb sogar bestehen, als ich die Augen schloß. Gleichzeitig dröhnte und donnerte es unaufhörlich in meinen Ohren, als stünde ich im Zentrum eines rasenden Gewittersturmes, auch das ein Nebenwerk der Entladungen. Es hatte keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen. Ich hatte meine Wahrnehmung und meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. Wahrscheinlich wurden meine Bewegungen jetzt nicht vom Verstand, sondern vom Instinkt beeinflußt. Ich schwankte, torkelte hin und her, stolperte und rappelte mich wieder hoch. Meine einzige Orientierung war der Schmerz: Ob willentlich oder gesteuert, ich wandte mich dorthin, wo die Qual geringer auszufallen schien. Wieder stolperte ich, schlug hart und schmerzhaft gegen einen massiven Körper. So also funktionierte das ... Ich hatte einen der beiden Schreine erreicht. Meine Hände fuhren über die Oberfläche des Sarkophags. An den Händen ließ der Schmerz nach, ziemlich deutlich sogar. Und ich spürte, daß sich der Deckel bewegen ließ. -63-
Es war eine Falle, ich wußte und spürte es, aber ich konnte nicht anders reagieren. Das Trommelfeuer schmerzhafter Schläge, das meinen Körper durchraste und meine Gedanken wie verrückt brodeln ließ, ließ mir keine andere Wahl. Ich schob rasch den Deckel beiseite und schwang mich in den nun zugänglichen Hohlraum hinein. Als hätte Atlan mir seinen Extrasinn geliehen, schoß klar und präzise ein Gedanke durch meinen Kopf: Wenn diese Falle dich und Perry hätte töten sollen, wäre das schon längst geschehen! Das unvermeidliche »Narr« blieb aus. Ich war ja nur ein einfacher Terraner und kein hochadliger Arkon-Kristallprinz. Ganz von selbst schob sich der gläserne Deckel über mich. Ich konnte es hören und ein paar Sekundenbruchteile später auch sehen. In Sicherheit - vorläufig. Der Schmerz verschwand völlig, meine Muskeln funktionierten wieder, wie ich es wollte; auch meine Wahrnehmung richtete sich normal ein. »Perry?« Ich bekam keine Antwort. Eine Verständigung von Schrein zu Schrein war offenbar nicht möglich. Ich schluckte, holte tief Luft und griff nach dem Deckel. Das Ergebnis fiel so aus, wie ich es erwartet hatte: Er ließ sich nicht bewegen, nicht um Haaresbreite. Ich machte meiner Wut und Enttäuschung Luft, indem ich eine Serie von Flüchen vom Stapel ließ, die ich von Ronald Tekener und Gucky gehört hatte. Vor allem der Mausbiber kannte, vermutlich dank seiner Telepathie, Flüche und Verwünschungen in unglaublicher Zahl, darunter etliche in Sprachen, die mir fremd waren. Aber der wütende Klang reichte aus. Dann wurde es ruhig ... Nur ein sanftes Knistern war zu hören, das meinen Schrein einhüllte und mir signalisierte, daß ich besser ruhig liegen blieb -64-
und das Kommende in Geduld abwartete. Ich haßte es abgrundtief, nichts unternehmen zu können. Gegen ausgedehntes Faulenzen hatte ich nichts einzuwenden, aber Zwangsruhe machte mich rebellisch. Aber es half nichts, ich mußte es aushalten. Wie lange wohl? Wenn diese Falle von einem Automaten betrieben wurde, ließ sich das Ende vorhersagen: Tod durch Durst in drei bis sechs Tagen. Wer auf Galorn ahnte oder wußte, daß wir in die Falle getappt waren? Niemand. Und wenn uns jemand suchte und fand, konnte das nur der Andro-Hüter sein, der schon versucht hatte, auf uns zu feuern, oder der Wächter der Ebene, der ebenfalls nur den einen Gedanken zu kennen schien, uns umzubringen. Die Luft war frisch und angenehm temperiert. Ersticken würden wir wohl nicht. Ich wandte den Kopf, spähte nach rechts und links. Ich konnte Perry auf meiner rechten Seite entdecken, in der gleichen Zwangslage wie ich. Eine nette Bescherung. Ich sah, wie Perry mir Zeichen gab. Ruhe bewahren, abwarten! »Du hast gut reden«, murmelte ich vor mich hin und signalisierte Zustimmung. Dann gab ich durch Zeichen zu verstehen, daß ich versuchen wollte, mich freizukämpfen. Perry schüttelte den Kopf. Offenbar hatte er ähnliche Versuche angestellt wie ich und die gleichen Ergebnisse registriert. Also abwarten, und das mir ... Die Zeit verging langsam. Der Sarg war so geräumig - Modell Luxusklasse, hart, aber voluminös, vielleicht gedacht für Paare oder ganze Familien daß ich keine Probleme hatte, auf die Uhr zu blicken. Wie immer in solchen Lagen schien die Zeit langsamer als eine Schnecke zu kriechen, sie versickerte geradezu. Minuten. Eine Stunde, drei Stunden ... Ich zermarterte mir den Kopf. Wäre auf der Erde oder einem -65-
ähnlichen Planeten so etwas möglich gewesen? Eine tödliche, vollautomatisierte Falle im Besitz eines Privatmannes, aktiviert und dann sich selbst überlassen? Legal war das nie und nimmer. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß jemand so eine Falle aufbaute und dann nicht Vorsorge traf, das Zuschnappen und die Folgeereignisse zu beobachten. Eine solche Verhaltensweise wäre sonst unmenschlich gewesen, und in diesem Augenblick wurde mir mit schmerzhafter Deutlichkeit bewußt, daß dieser Begriff auf die Galornen präzise zutraf.
9. Blaue Haut, mit einem metallischen Schimmer. Schlanke Beine in einer schwarzen Montur. Das war neben meinem Sarg zu erkennen. Und weiter oben konnte ich eine Hand erkennen, die eine monströs und gefährlich aussehende Waffe hielt. Der Andro-Hüter ... Der Humanoide stand zwischen den beiden gläsernen Sarkophagen und starrte auf uns. Was hatte er nur vor? Uns kaltblütig erschießen und zu Futter für die Unterstädte zu verarbeiten? Wir mußten auf alles gefaßt sein. Ich konnte sehen, wie er die Finger bewegte; es sah aus, als sei er gerade dabei, seine Waffe zu entsichern. »Nun mach schon!« knurrte ich. Selbst ein relativ Unsterblicher wartet nicht gerne lange, wenn er dem Tod nicht mehr ausweichen kann. Gab es etwas, das ich noch gern erledigt hätte? Abschied genommen von guten alten Freunden? Offenstehende Rechnungen mit Gegnern und Feinden beglichen? Ich sah, wie sich der Andro-Hüter umwandte. Er blickte auf -66-
Perrys Glaskasten, und unwillkürlich bäumte ich mich auf. Nein, das wollte ich wirklich nicht erleben, zusehen müssen, wie er ... Der Andro-Hüter erstarrte in der Bewegung, zögerte. Ich kniff die Augen zusammen und starrte zu Perry hinüber. Deutlich war sein Arm zu sehen, und daran ... ... das seltsame Armband, das er auf der Brücke in die Unendlichkeit gefunden hatte. Der Andro-Hüter bewegte sich. Er trat einen Schritt zur Seite und er steckte die Waffe weg. Ich stieß einen langen Seufzer aus. Offenbar hatte der Blauhäutige Hemmungen, auf einen Armbandträger zu schießen. Und falls er Begriffe wie Freundschaft und Partnerschaft kannte, konnte das auch für mich die Rettung bedeuten. Ich starrte hinüber, während er sich an Perrys Sarg zu schaffen machte. Der Andro-Hüter betätigte einen verborgenen Mechanismus, und der Schrein öffnete sich. Ein paar Augenblicke später glitt auch mein Deckel zur Seite. Was er sagte, verstand ich nicht - nur bruchstückweise. »Freunde«, bekam ich mit. »Ce Rhioton.« Langsam richtete sich Perry auf, die Hände geöffnet, um seine friedlichen Absichten zu betonen. Der Blick des Andro-Hüters war auf das Armband gerichtet. Er deutete darauf und sprach einige weitere Worte. »Passantum«, kam bei mir an. Auch ich kam auf die Füße. Perry sprach in seinem bruchstückhaften Goo-Standard auf den Andro-Hüter ein, in ruhigem, gemessenem Tonfall. Sein Gegenüber reagierte mit Gesten und einer Mimik, die nach Verständnislosigkeit aussah. Dann begann er in seiner Kleidung herumzusuchen und förderte nach kurzem Grabbeln und Grabschen zwei metallene Plättchen zutage, quadratisch, mit einer Kantenlänge von etwa vier Zentimetern und einer Dicke von wenigen Millimetern. Er pappte eines der Plättchen an Perrys Hals, das zweite bekam ich -67-
angeklebt. »Willkommen in der Stadt der Galornen«, klang eine klare und verständliche Stimme auf. Der Humanoide hatte uns mit Translatoren ausgerüstet, allein dafür hätte ich ihn fast küssen mögen. Die Zeit des Gestammels und der albernen Gesten hatte ein Ende gefunden. »Ich bin Szuker, der Andro-Hüter von Gaalo«, ließ sich der Blauhäutige vernehmen; seine Stimme klang respektvoll. »Verzeiht, ich wußte nicht, daß ihr Freunde von Ce Rhioton seid. Aber das Passantum an deinem Arm ...« Pause. »Perry Rhodan«, stellte der sich knapp vor und deutete auf mich. »Reginald Bull!« »... an deinem Arm, Perry Rhodan, hat mich ins Bild gesetzt.« »Puh!« stieß ich hervor. »Ein Glück, daß du damit nicht auf uns geschossen hast.« Ich deutete auf die Waffe an seinem Gürtel. »Oh, das ist nur eine Betäubungswaffe, völlig harmlos«, klärte er mich auf, mit einem Unterton der Verwunderung. Offenbar war er befremdet, daß wir ihm tödliche Absichten unterstellt hatten. »Wäret ihr nicht die, die ihr seid, hätte ich euch allerdings zurückbefördert in die Unterstädte. Aber ich sehe, daß ihr nicht zu diesem Gesindel gehört ...« Die Ausdrücke, die er benutzte, ließen einen Schluß zu: Offenbar waren die Bewohner der Unterstädte in Herz-FÜNF nicht sonderlich angesehen. »Bitte folgt mir!« Wir entstiegen den heimtückischen Fallen und musterten unsere Umgebung. Das Wäldchen sah wieder ruhig aus, friedlich und idyllisch. »Was hat dies hier zu bedeuten?« fragte Perry höflich. »Vor allem diese Falle?« »Eine Marotte des früheren Bewohners«, informierte uns Szuker. »Ein Ausdruck seines Charakters und seines Gemüts.« -68-
»Du kennst den Bewohner?« Szuker machte eine Geste der Verneinung. »Die Stadt ist verlassen«, sagte er. »Die Galornen leben nicht mehr in Gaalo.« »Seit wann?« Perrys Frage kam schnell und klang dennoch freundlich und beiläufig. »Das ist mir unbekannt. Es ist vor meiner Zeit geschehen. Ich habe den Auftrag, diesen Teil von Gaalo funktionstüchtig zu halten, für einen ganz bestimmten Zweck, über den ich nicht sprechen darf. Ihr werdet das verstehen und respektieren.« »Selbstverständlich«, antwortete Perry. War der Andro-Hüter imstande, Perrys Lächeln als ironisch zu erkennen? Offenbar nicht. Szuker führte uns zurück in die Stadt, die ruhig und friedlich vor uns lag. »Und was ist mit denen in den Unterstädten?« fragte Perry. »Ihnen ist der Zugang verwehrt«, sagte Szuker sofort. »Es sind ja keine Galornen.« »Trotzdem leben sie hier«, erinnerte ihn Perry. »Aber sie sind nicht gern gesehen«, kommentierte Szuker. Er sprach langsam und bedächtig, machte lange Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Ich hatte den Verdacht, daß er nicht gerade als Genie bezeichnet werden konnte. »Selbstverständlich werden sie nicht schlecht behandelt, das widerspräche der Ethik der Galornen. Sie könnten die Ruhe und Weihe dieses Ortes stören, aber es darf keine Gewalt gegen sie angewandt werden.« Das hatten wir anders gehört - ich dachte an das ominöse Shifting. Aber vielleicht kannte Szuker diese Prozedur gar nicht, weil sie nicht in sein Repertoire gehörte. »Ich bin angewiesen, für Ruhe und Frieden zu sorgen und die da unten mit dem Nötigsten zu versorgen. Das tue ich, um des Friedens willen. Und sie bleiben dennoch, obwohl sie unerwünscht sind.« -69-
»Und du hast uns ursprünglich für solche Gäste gehalten?« »Ich war nicht richtig informiert«, gestand Szuker einigermaßen kläglich. »Es kommen nur sehr selten Auswärtige nach Gaalo.« »Beispielsweise Ce Rhioton«, ergänzte Perry. »Wer ist das?« Szuker starrte ihn entgeistert an. »Du weißt nicht, wer der Zweite Bote von Thoregon ist? Trägst du nicht das gleiche Passantum wie er? Ce Rhioton ist der würdigste und erhabenste der Galornen.« »Können wir mit ihm sprechen?« Szuker machte einige irritierte Gesten. »Niemand weiß, wo Ce Rhioton erscheint oder wann. Es ist nicht vorherzusagen. Mitunter besucht er Gaalo, aber meist nur als Durchgangsstation zur Brücke in die Unendlichkeit.« Perry blinzelte. Den Begriff Brücke in die Unendlichkeit kannten wir schon seit Jahrzehnten, seit dem Erreichen der Großen Leere. Voltago hatte diesen Begriff hin und wieder benutzt. Wir waren sicher, daß die Pilzdome mit dieser Brücke verbunden waren - sie sah für uns ja auch aus wie eine Brücke. Und jetzt benutzte Szuker exakt die gleichen Begriffe. War das ein Zufall? In meinem Kopf begannen fast automatisch die Spekulationen zu brodeln. Das Arresum, Voltago, Plantagoo - gab es zwischen alldem eine geheime, uns unbekannte Verbindung, kosmische Zusammenhänge, die uns bislang verborgen geblieben waren? Perry setzte die Befragung fort, geduldig, aber ohne tiefschürfende Ergebnisse. Der Andro-Hüter hieß so, weil er ein Androide war und Gaalo behütete, sehr viel mehr konnte er nicht verraten. Der Androide hatte im Grunde kaum eine Ahnung von dem, wovon er redete. Immerhin wußten wir jetzt, daß es ein Passantum gab, das offenbar nicht nur zur Kontrolle und Steuerung der Brücke in die Unendlichkeit diente, sondern wahrscheinlich seinen Träger als -70-
»Boten von Thoregon« auswies. Was immer das auch sein mochte - es war sinnlos, Szuker eindringlich danach zu fragen. »Wird Ce Rhioton Gaalo noch einmal besuchen?« wollte Perry wissen. »Das ist durchaus möglich«, lautete die Antwort. »Und wann?« »Bis dahin können leicht zwanzig Umläufe und mehr vergehen.« Ich stieß ein Schnauben aus. Solange konnten und wollten wir nicht warten. Es war Zeit, daß etwas geschah. »Leider können wir so lange nicht warten«, sagte Perry scharf. »Unser Auftrag läßt das nicht zu.« Oh ja, er war kein schlechter Bluff er, und das Wort »Auftrag« wirkte auch sofort. Szuker zuckte zusammen. »Außerdem haben wir mit Widerständen zu kämpfen«, fuhr Perry fort. »Widerstand?« ließ sich Szuker vernehmen, sichtlich verstört. »Gegen einen Passantum-Träger?« Szuker konnte es offensichtlich kaum fassen. In knappen Worten berichtete Perry, welchen Ärger wir mit dem seltsamen Geschöpf von der Basaltebene gehabt hatten. Szuker hatte große Mühe, das alles zu begreifen. »Es gibt einen solchen Wächter, das stimmt«, sagte er schließlich. »Er heißt Foremon, und er versieht seit Ewigkeiten seinen Dienst. Bislang habe ich noch nie von Schwierigkeiten mit ihm gehört. Daß er sich gar gegen einen Passantum-Träger stellen soll - ich kann das nicht begreifen. Er muß verrückt geworden sein in der langen Zeit.« Zum selben Ergebnis waren auch wir schon gekommen, nur half uns diese Einsicht nicht weiter. Foremon hieß das Geschöpf also, nun ja. Was war damit gewonnen? »Wenn ihr Hilfe braucht gegen Foremon, dann müßt ihr euch an Ce Rhioton wenden. Nur er kann in einer solchen Lage raten und helfen. Und vorher keine Gewalt ausüben! Die Galornen -71-
mögen Gewalt nicht, sie sind von Natur aus überaus friedliebend.« »Und was ist mit dir, Szuker?« »Was vermag ich schon. Ich bin nur ein unbedeutender Diener einer höheren Sache. Meine Macht und meine Mittel sind außerordentlich begrenzt...« Kein einziges Wort über die Glücks-Reduktion oder das geheimnisvolle Shifting. Ich ahnte, daß es keinen Sinn machte, den Androiden weiter in dieser Richtung zu befragen. »Mich hat man über wirklich wichtige Dinge noch niemals informiert«, schwatzte Szuker weiter drauflos. »Wie können wir erfahren, wo man Ce Rhioton erreichen kann?« bohrte Perry dennoch nach. »Immerhin ist höchstwahrscheinlich der Pilzdom und damit der Zutritt zur Brücke in die Unendlichkeit durch Foremons Machenschaften gesperrt. Auf diesem Weg wird kein Bote von Thoregon jemals wieder Gaalo erreichen können. Fallt das nicht in deine Zuständigkeit, Szuker?« Der Android wand sich förmlich vor Verlegenheit. »Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich euch helfen kann. Wenn Foremon so mächtig ist...« »Aber einen Weg muß es doch geben, mit Ce Rhioton in Verbindung zu treten. Er wird sicherlich zürnen, wenn er erfährt, was sich auf Galorn zugetragen hat!« »Vielleicht«, sinnierte der Andro-Hüter. »Wollt ihr auf mich warten? Ich kehre gleich zurück.« Wir hatten inzwischen das Stadtgebiet von Gaalo erreicht, die weißen Häuser, leer und verlassen, dazwischen die schwarzen Straßen. Ein Glück, daß Foremon draußen bleiben mußte. Und daß es hier - ich blickte mich vorsichtshalber um - keinen Basalt gab, mit dem er hätte herumspielen können. Szuker eilte davon und ließ uns zurück. »Was hältst du davon?« fragte Perry leise. -72-
»Keine besonders brauchbaren Ergebnisse«, entgegnete ich trocken. »Und ziemlich widersprüchlich. Er hat angeblich keine Macht, ist aber allgemein bekannt als der Hüter der Glückseligkeit. Und dann dieses geheimnisvolle Shifting, mit dem er die anderen unter Druck hält ...« »Es ist nicht gesagt, daß Szuker diese Vorgänge steuert oder kontrolliert«, merkte Perry an. »Wer sonst?« fragte ich zurück. »Es ist doch sonst niemand in dieser Stadt zu finden, nur diese merkwürdigen Häuser. Vielleicht haben die Stummelschiffe etwas damit zu tun. Erinnere dich, was A-Ostamul uns einmal gesagt hat: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Ankunft eines solchen Schiffes und der Glücks-Reduktion.« Perry spazierte langsam weiter, auf das Zentrum von HerzFÜNF zu. Ob Szuker das wohl recht war? Aber der Androide konnte uns nach Lage der Dinge wohl nicht mehr gefährlich werden. Er war ein harmloser Bursche. Wir hüteten uns davor, noch eines der Häuser zu betreten. Wahrscheinlich lauerten dort einige weitere unangenehme Überraschungen auf uns. Und es war ziemlich klar, daß wir dort nichts finden würden, was uns weiterbringen konnte. Ich murmelte eine Verwünschung. »Was ist das?« Perry war stehen geblieben. Ich schob mich an seine Seite. Die Straße mündete in einen großen Platz, der offenbar das exakte Zentrum von Herz-FÜNF bildete. Hier war der Bodenbelag weiß. Hunderte von dicht an dicht gesetzten Platten bildeten eine Fläche von rund achthundert Meter Durchmesser. Aus diesem weißen Feld ragten einige hundert säulenähnliche Gebilde hervor. Sie waren, grob geschätzt, zwischen zwölf und zwanzig Meter hoch und bestanden aus einem silbrigen Material, das ziemlich eindeutig kein Metall war. Es wirkte künstlich, ebenso der Bodenbelag. Wir gingen einige Schritte auf die vorderste Säule zu. -73-
Schriftzeichen waren zu sehen, fremde, für uns unverständliche Symbole, bei deren Studium uns auch der Translator nicht helfen konnte. »Hm«, machte Perry. »Das sieht nach einem Platz für ein Ritual aus, nicht wahr?« »Und das da?« Ich deutete auf die Mitte des Säulenfeldes. Dort war eine Öffnung im Boden zu erkennen, eine Art Schacht, mit einem Durchmesser von rund 70 Metern. Sinn und Zweck dieser Anlage blieben uns verborgen, aber ich witterte, daß dieser Ort irgend etwas mit dem besonderen Geheimnis zu tun hatte, das Gaalo, Herz-FÜNF und die Galornen verband. Ich machte gerade Anstalten, diesen Schacht zu untersuchen, als Szuker wieder auftauchte und einen erschreckten Ruf ausstieß. »Das Feld der Schriften darf nicht betreten werden!« klagte er und hastete auf uns zu. »Niemals, es wäre ein Sakrileg.« »Nun, was hast du uns mitgebracht?« fragte Perry und fixierte den Andro-Hüter. Dieser brachte eine daumengroße gläserne Kugel zum Vorschein, die er feierlich an Perry weitergab. »Ein Speicherkristall«, erklärte er. »Die Kugel enthält die Koordinaten eines Ortes, an dem ein Funkspruch von Ce Rhioton angekommen ist. Außerdem werdet ihr einige Hinweise in dem Kristall finden, die euch die Orientierung in Plantagoo erleichtern werden.« Seltsam; wenn er es nicht wollte, gab Szuker bemerkenswerte Informationen preis, wie in diesem Augenblick. Informationen, die wir zur Orientierung in Plantagoo verwenden konnten. Offenbar nahm Szuker an, und das mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit, daß wir nicht aus dieser Galaxis stammten. Auf einer Welt des Galaktikums hätte ein Besucher von einer anderen Galaxis sofort für eine Sensation gesorgt, hier schien derlei selbstverständlich zu sein. »Und wie sieht es mit einer Transportmöglichkeit aus?« -74-
wollte Perry wissen. »Wir können schließlich nicht ewig auf Galorn bleiben.« Szuker zeigte wieder Gesten der Verlegenheit. »Ich fürchte, ich kann euch nicht helfen«, gestand er und fügte hinzu: »Und verlaßt bitte das Feld der Schriften. Es darf nicht betreten werden, selbst von euch nicht. Diese Dinge gehen euch nichts an, gar nichts. Habt ihr das begriffen?« Das klang ja fast wie eine halb versteckte Drohung. War Szuker vielleicht doch nicht so macht- und mittellos, wie er zu sein vorgab? Ich hätte zu gern gewußt, was es mit dem orangenen Leuchten und Glühen auf sich hatte, das aus der Tiefe des Schachts emporstieg. Perry deutete auf die Säulen. »Und worum handelt es sich dabei? Denkmäler, Aufzeichnungen?« »Ich weiß es nicht«, behauptete Szuker. »Es gehört nicht zu meinen Obliegenheiten, dergleichen zu wissen.« Er hatte uns nichts getan. Vielleicht war der Speicherkristall, den Perry inzwischen eingesteckt hatte, wirklich eine Hilfe, mit der wir etwas anfangen konnten in der nahen Zukunft. Ich tauschte einen Blick mit Perry. Wir wollten das Tabu beachten, dazu war es schließlich da. »Also gut«, sagte Perry Rhodan und lächelte. Mein alter Freund richtete sich auf ... Oh nein - er reckte sich nicht in die Höhe; er wurde angehoben, unwiderstehlich, und im nächsten Augenblick geschah dasselbe mit mir. Foremon ...
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10. Der Wächter des Pilzdoms konnte seiner Wahrnehmung kaum trauen. Daß die Schurken es schaffen würden, Herz-FÜNF zu betreten, daran hatte er nicht gezweifelt. Dafür waren sie gerissen und rücksichtslos genug. Wer einen Boten von Thoregon tötete, um sich dessen Passantum zu bemächtigen, der schreckte auch nicht davor zurück, Herz-FÜNF zu betreten. Aber daß die beiden Täter friedlich neben dem Andro-Hüter standen, mit ihm sprachen und sich von ihm etwas geben ließen, war eine Ungeheuerlichkeit. Foremon wußte, daß er keine Wahl mehr hatte, gleichgültig, in welcher Verfassung er sich befand. Er mußte handeln, sofort. Aber wie? Foremon nahm Kontakt mit dem Untergrund auf, tastete vorsichtig auf das Material. Der schwarze Belag der Straßen war für ihn nicht tauglich allerdings enthielt er reichlich Mineralien, die Foremon, so schnell es ging, absorbierte. Und der Zufall, diesmal zu seinen Gunsten, wollte es, daß seit einiger Zeit die Sonne grell auf Gaalo herabstrahlte. Voll einsatzfähig war Foremon nicht, das würde er erst wieder nach einer Erholungspause von Monaten sein, aber für seine Zwecke würde es genügen. Selbst wenn er sich dabei so verausgabte, daß seine Existenz zerstört wurde, war er bereit, auch dieses Opfer zu bringen, selbstverständlich. Seine Ehre und sein Pflichtgefühl ließen ihm gar keine andere Wahl. Und dann spürte er es. Unter dem Pflaster ... Man hatte einen künstlichen Berg aufgeschüttet, um Gaalo darauf zu bauen, und dieser Berg enthielt Basalt. Keine massive tektonische Schicht, sondern ursprünglich lockeres, dann vom Eigengewicht und der Stadt fest zusammengepreßtes Material. -76-
Für Foremon war das noch günstiger als kompaktes Gestein. Besser konnte er es kaum treffen. Der Wächter des Pilzdoms nahm Kontakt zu dem Basalt auf, kostete ihn und überprüfte die Möglichkeiten. Eines verstand sich von selbst: Er durfte keinesfalls die Stadt zerstören oder gar das Feld der Schriften beschädigen. Dieses Opfer, ja moralische Verbrechen, war die Sache nicht wert. Aber es gab für ihn eine Fülle anderer Möglichkeiten, und Foremon setzte sie ein. Er fand eine Stelle, kaum größer als eine Handspanne, an der er unmittelbaren Kontakt zum Basalt aufnehmen konnte. In seinen Fingern kribbelte und prickelte es, als er zu trommeln begann. Die Augen hatte er auf die Schurken gerichtet, die mit dreister Zuversicht auf dem weißplattierten Feld standen und sich dort wohl sicher und unangreifbar fühlten. Sie hatten sich getäuscht. Foremon war entschlossen, ihnen dieses Mal keine Chance zu lassen. Er wußte sehr genau, was er zu tun hatte. Das Morphen... Die ersten feinen Wellen liefen durch den Basalt, sammelten sich und wuchsen hoch. Foremon ließ den Basalt durch die sehr feinen, aber existenten Fugen zwischen den einzelnen Platten emporquellen. Sehr zustatten kam ihm dabei, daß er den Basalt dafür nicht erst bearbeiten mußte. Es ging ungeheuer leicht... Das pulverisierte Material schoß hoch, teils flüssig, teils als feiner Staub, der sich rasch ausbreitete und genau auf den dicken Rotschopf zuwehte. Ein paar Augenblicke nur, dann mußte er eingehüllt sein; noch eine Sekunde, und der Basalt würde sich wieder verfestigen und den Mörder unentrinnbar einschließen. Mit ein bißchen Glück - Foremon bebte vor Vorfreude konnte man den Humanoiden auf diese Weise sogar gefangen setzen, lebend ... Aber der Mörder reagierte schnell, sehr schnell. Perry Rhodan stieß Bully einfach zur Seite, der Basaltnebel verfehlte ihn, breitete sich auf den weißen Platten aus und wurde dort sofort fest. -77-
Nun gut, ein weiterer Anlauf. Foremon spürte seine Kraft und seine Zuversicht wachsen. Er würde sich bis an die Grenzen verausgaben müssen, aber das war es wert. Der Wächter ließ gewaltige Erschütterungen durch den Boden laufen, stieß die Platten in die Höhe und ließ sie wieder fallen, sorgfältig darauf achtend, daß er dabei nichts beschädigte. Daß der Andro-Hüter einen entsetzten Schrei ausstieß, nahm Foremon nur am Rande seines Bewußtseins wahr. Die Mörder taumelten und schwankten. Einige der silbernen Säulen neigten sich stark, als wollten sie die Frevler unter sich begraben; diese wichen rasch zurück. Das also war das Mittel, mit dem man sie jagen konnte. An einen sofortigen Erfolg glaubte Foremon nicht, die Erfahrung hatte ihn das gelehrt. Aber langfristig hatten die Mörder gegen ihn keine Chance, und diese Erkenntnis verdoppelte seine Kraft. Heftige Wellen, kreuz und quer verlaufend, jagten durch den Boden, die Säulen schwankten wild, und die Mörder mußten immer wieder Reißaus nehmen. Foremon trieb sie vor sich her. Auf keinen Fall durften sie die Sicherheit der schwarzen Straßen erreichen. Sie bedeckten den Basalt so massiv und dick, daß Foremon dort nicht viel auszurichten vermochte. Und es gelang ihm. Er trieb seine Gegner in die Nähe des zentralen Schachts. Wenn sie dort hineinstürzten, hatte er sie. Sie schienen das zu ahnen und setzten sich ab. Foremon ließ sie nicht in Ruhe. Er arbeitete mit allen Mitteln, ließ den Boden toben und schickte immer wieder Staubkaskaden los, um die Schurken darin einzuschließen. Sie mußten springen, sich über den Boden rollen und alle Körperkräfte bemühen, um diesem Schicksal zu entgehen. Noch gelang ihnen das. Aber sie schrien; es waren unverständliche Worte, die nach Foremons Empfinden Angst und Grauen ausdrückten. Der Andro-Hüter, um den sich Foremon nur am Rande kümmerte, schaffte es, sich in Sicherheit zu bringen. -78-
Die Bewegungen der Mörder wurden schwächer, ihre Kräfte waren wohl bald aufgezehrt. Einige Minuten noch, dann hatte er sie...
Es war die Hölle auf Erden - auf Galorn, um präzise zu sein. Gegen die Panik, die einen bei einem Erdbeben befiel, war einfach kein Kraut gewachsen. Wenn es brannte, konnte man weglaufen, man konnte sich im Wasser durch Schwimmen retten, gegen Feinde mit Waffen. Aber wenn man buchstäblich den Boden unter den Füßen verlor, schossen Urängste in einem hoch. Ich warf mich zur Seite, als erneut eine Staubwolke auf mich zuschoß und Anstalten machte, mich einzuhüllen. Ich wußte: Wenn es Foremon gelang, mich auch nur in eine Basaltschicht von einigen Millimetern einzupacken, hatte ich verloren. In einer solchen Hülle konnte man kaum die nötigen Körperkräfte entfachen, um sich freizustrampeln; die Hebelverhältnisse meines Körpers waren einfach zu ungünstig. Ich spürte, wie sich der Basalt an meinem linken Fuß festsetzte; der Fuß wurde augenblicklich taub. Ich schlug mit der Hacke auf den Boden, und der Basalt zerbröselte. Aber inzwischen hatte ein Ausläufer der Staubfahne meinen Brustkorb erreicht, wenngleich nicht vollkommen eingehüllt. Perry machte aus einiger Entfernung einen wahren Panthersatz, warf sich auf mich und zertrümmerte den felsigen Panzer auf meiner Brust. Eng umschlungen rollten wir weiter, trennten uns schnell und versuchten, wieder auf die Füße zu kommen. Foremon ließ den Boden unter uns regelrecht tanzen. Es ging auf und ab und zur Seite, wie auf dem Deck eines Schiffes, das während eines Sturmes in Kreuzseen geraten war. Fast unmöglich war es, in diesem chaotischen Durcheinander Halt zu finden. »Bald hat er uns!« schrie ich Perry zu, der gerade eine Rolle -79-
nach vorn machte, um sich gegen eine herabstürzende Silbersäule zu schützen. »Noch nicht, Dicker, noch nicht ...« Keine tröstliche Auskunft. Was half es uns, wenn es noch einige Minuten dauerte? Szuker hatte sich verkrümelt. Er dachte wohl nicht daran, uns zu Hilfe zu kommen - obwohl er uns doch für Freunde von Ce Rhioton hielt. Konnte er wirklich zulassen, daß ein PassantumTräger auf diese Weise ums Leben kam? Ausgerechnet auf dem Feld der Schriften? Er konnte ... Ich merkte, wie meine Bewegungen erstarrten. Foremon hatte mich erwischt. Der Staub hüllte mich ein, zog sich um meinen Körper zusammen. Das war wohl das Ende. Es wurde dunkel. Todesschatten - schoß es mir durch den Kopf. Doch es war ein realer Schatten, der sich auf uns herabsenkte. Und zur gleichen Zeit hörte auch das Toben des Bodens auf. Was war passiert? Ich strampelte mich frei, kam auf die Füße. Zuerst hielt ich nach Foremon Ausschau. Der Wächter stand am Rande des Feldes der Schriften, reglos wie sein geliebter Basalt. Und ich begriff auch, wieso er seinen Angriff hatte einstellen müssen. Über unseren Köpfen war ein Raumschiff aufgetaucht, eines jener seltsamen Stummelschiffe, die wir schon gesehen hatten. Foremon stand genau in diesem Schatten, bekam keine Sonnenstrahlen mehr ab und war dadurch offenbar lahmgelegt. Oder war es Ehrfurcht vor dem Schiff? Ich sah zu, daß ich Land gewann und mich in Sicherheit brachte. Offenbar war ich nicht der einzige, der sich in Not befand. Ich kann nicht mehr warten, klang es in meinen Geist drängend auf, ich kann nicht mehr warten. Und ich spürte sehr deutlich, daß ich aus dem Blickwinkel dieses unsichtbaren Sprechers an diesem Ort extrem unerwünscht war. -80-
Ich kroch zum Rand des Feldes, in Perrys Nähe. Wir waren ausgepumpt, erschöpft und am Ende unserer Kräfte. Foremon, so zerbrechlich er auch sein mochte, war wirklich ein furchtbarer Gegner. Auf der anderen Seite des Feldes konnte ich schemenhaft den Andro-Hüter ausmachen. Auch er schien erstarrt zu sein, bewegte sich nicht mehr. Ein mentales Feld ungeheurer Stärke hatte uns erfaßt, hüllte uns ein und zwang uns absolute Ruhe und Reglosigkeit auf. Vielleicht lag es am Zellaktivator oder an unserer Mentalstabilisierung, daß Perry und ich das Bewußtsein behielten. Das Stummelschiff sah aus dieser kurzen Distanz riesengroß aus und legte seinen Schatten auf ganz Herz-FÜNF. Der tobende Basalt hatte sich beruhigt. Wie wichtig diese Anlage sein mußte, so ging es mir durch den Kopf, ergab sich aus der Tatsache, daß Foremon sich offenbar bemüht hatte, dort keinerlei Schäden anzurichten. Das Feld der Schriften sah, abgesehen von einer Staubschicht aus pulvrigem Basalt, völlig intakt und unzerstört aus. Im Rumpf des Schiffes öffnete sich eine Luke. Ein gleißend heller Lichtschein brach daraus hervor, wanderte über den Platz und verharrte schließlich auf einer der Säulen, die hell aufglänzte. Dann tauchte der Galorne auf ... Ich wußte sofort, daß es ein Galorne sein mußte. Ein Humanoider mit blauer Haut, ungefähr zwei Meter groß, völlig unbekleidet, in einer Haltung, die mich an eine Buddhastatue erinnerte. Er schwebte, von einem Traktorstrahl unsichtbar gehalten und gesteuert, langsam auf die Säule zu, verharrte darüber. Sogar die Gedanken dieses Galornen waren wahrzunehmen, schwach und nicht sehr präzise, aber die Tendenz war unverkennbar. Er war gekommen, um hier sein Leben zu beenden. -81-
Herz-FÜNF war so etwas wie ein Galornen-Friedhof. Hierher kehrten die Galornen zurück, wenn sie ihr Lebensende nahen fühlten. Die silbernen Säulen mit den Inschriften waren also Grabsteine. Und der sterbende Galorne wollte sich mit seinem Grabstein - oder dem seiner Sippe, seines Stammes - im Tode vereinigen und seine Persönlichkeit hineinströmen lassen. Wenn es stimmte, was ich in diesem Augenblick empfand, wenn es nicht eine Sinnestäuschung oder Halluzination war, mußten die Galornen eines der friedfertigsten Völker im Universum sein. Im letzten Augenblick ihrer Existenz hatten sie keinen anderen Ehrgeiz mehr, als alles Positive ihrer Persönlichkeit förmlich zu verströmen und auf das Universum zu übertragen. Glücks-Reduktion. Das war der Zusammenhang - in diesem Augenblick absolut klar und unmißverständlich. Ein zweites Mal binnen weniger Tage durchlebten wir dieses Phänomen, ließen uns von ihm erfassen und durchdringen. Es war fast noch eindringlicher als beim ersten Mal. Wieder wurden wir aller Sorgen und Nöte enthoben, reduzierte sich unser gesamtes Empfinden, Fühlen und Denken auf einen Zustand umfassenden, wünsch- und ziellosen Glücks. Beneidenswert, wem ein solches Ende beschieden war ... Wir rührten keinen Muskel, warum auch - wir waren glücklich. Es gab einfach nichts mehr, was wir gewollt hätten. Erst als es vorbei war und ich auf die Uhr sehen konnte, erfuhr ich, daß der Vorgang eine halbe Stunde angehalten hatte. Kurz vor dem Ende erreichte der Galorne sein Ziel. Er verpuffte regelrecht, in einer grellen Lichterscheinung, die ein letztes Mal einen Strom positiver Empfindungen durch unsere Gemüter jagte. Einen Augenblick später, wir standen noch in seliger Betäubung, stieg das Stummelschiff sehr langsam in die Höhe. Das Glück war wieder einmal vorbei, der Ernst des Lebens -82-
stellte sich erneut ein. Und für uns hieß das: die Beine in die Hand nehmen. Foremon und der Andro-Hüter - nein, dieses Risiko wollten wir nicht eingehen.
»Schneller!« rief Lyskun laut. »Viel schneller!« Dyn-Qar keuchte und schnaufte; er war am Ende seiner Kräfte. Was der Groß-Kroogh ihm zumutete, überstieg seine Fähigkeiten bei weitem. Ein Tasch-Ter-Man war zu vielem fähig, aber schnelles Laufen gehörte gewiß nicht dazu. »Warum?« brachte er schnaufend hervor. »Weil sie uns sonst entkommen«, bellte Lyskun gereizt. »Wir müssen sie abfangen, ehe es zu spät ist!« Dyn-Qar wußte, wovon der Groß-Kroogh sprach. Es ging um die beiden neuen Bewohner Gaalos, die er seit ihrer Ankunft unablässig belauert und verfolgt hatte. Gewiß, es waren Fremde, aber was besagte das schon? Dyn-Qar sah keinen besonderen Sinn darin, sich mit den beiden zu befassen. Wohl aber war Lyskun dieser Ansicht. Er hatte auch versucht, dem Tasch-Ter-Man die Zusammenhänge zu erklären. »Du hast es selbst sehen können - sie haben einen defekten Schüsselroboter gefunden und instand gesetzt. Wer auf Galorn kann das schon? Niemand. Also müssen diese beiden zu einem technisch sehr gebildeten Volk gehören, oder? Und sie haben diesen Robot sogar dazu benutzt, in den Bunker einzudringen.« Auch das hatte Dyn-Qar mit eigenen Sinnen wahrnehmen können, und er hatte nicht schlecht gestaunt dabei. Zum einen über das Können der beiden, zum anderen über ihre ungeheuerliche Dreistigkeit - oder Dummheit, je nach Standpunkt. Das Übertreten des von allen Galorn-Bewohnern beachteten Tabus konnte im günstigsten Fall bedeuten, daß der AndroHüter sie exekutierte, schlimmstenfalls, daß die ganze Lebens-83-
gemeinschaft in Gaalo einem Shifting unterzogen werden würde. Stundenlang hatte der Tasch-Ter-Man vor diesem Schicksal gezittert und wartend darauf gehofft, die Leichen der Frevler zu sehen zu bekommen - und dem Shifting vielleicht doch zu entkommen. Aber es hatte sich alles ganz anders entwickelt. Nach etlichen Stunden waren die Fremden aufgetaucht, unverletzt und wohlbehalten. Szuker hatte ihnen keine Faser gekrümmt, und zu einem Shifting war es auch nicht gekommen. »Sie müssen mächtig sein und einflußreich, vielleicht sogar höher stehen als der Andro-Hüter«, hatte Lyskun dazu bemerkt. »Für uns kann es nur von Vorteil sein, in der Nähe dieser Wesen zu bleiben.« Dyn-Qar hatte schon damals den sehr eindeutigen Eindruck gehabt, daß die hervorstechende Eigenschaft dieses GroßKrooghs der Größenwahn war. Was stellte Lyskun sich vor, was er mit den beiden anfangen würde? Sich mit ihnen anfreunden? Sie zu erpressen? »Mach schon!« bellte Lyskun. »Schneller!« Dyn-Qar konnte voraus schon die Fläche des Raumhafens sehen. Die Fremden hatten sie bereits erreicht, begleitet von A- Ostamul, der ihnen wohl eine Passage auf der CHIIZ besorgt hatte. »Nur mit den beiden haben wir eine Chance, endlich diesen Planeten verlassen zu können!« schrie Lyskun erregt. »Endlich!« Wozu das? Es lebte sich nicht schlecht auf Galorn, fand DynQar. Gewiß, es gab Unbequemlichkeiten, aber das wurde durch die Glücks-Reduktion vollkommen aufgewogen. Zwei Reduktionen binnen weniger Tage - Dyn-Qar zitterte in wonniger Erinnerung daran. Und dieses Leben wollte Lyskun zurücklassen? Vielleicht lag es daran, daß ein Groß-Kroogh seelisch anders funktionierte als ein normaler Kroogh. Vielleicht genügte es ihm tatsächlich nicht mehr, auf Galorn zu leben; möglich, daß er sich nun zu Höherem berufen fühlte. -84-
Der Tasch-Ter-Man fand das absurd, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Er hatte einen Gebieter gefunden. Diesem Gebieter hatte er zu gehorchen, was immer von ihm auch verlangt werden mochte. »Es wird nicht reichen«, stieß Dyn-Qar hervor. Lyskun stieß ein dumpfes Ächzen aus. Und dann wandte er sich gegen sich selbst. Getrieben von dem zwanghaften Verlangen, Galorn zu verlassen, verlor er die Kontrolle über sich selbst. Das Konglomerat löste sich auf: Die schnellsten Einzelkroogh stürmten voran, die anderen blieben zurück. Dyn-Qar registrierte es sofort. Er war jetzt wieder frei und Herr seiner Entschlüsse. Sofort blieb der Tasch-Ter-Man stehen und atmete tief durch. Vor sich sah er die Kroogh über die Ebene hetzen. Zu langsam, um das Schiff noch zu erreichen - und mit dem Auseinanderbrechen des Konglomerats hatte sich auch die seltsame Persönlichkeit des Groß-Krooghs aufgelöst. Die einzelnen Kroogh wurden langsamer, zerstreuten sich und suchten Deckung in Bodenlöchern, als plötzlich der Regenguß begann. Lyskun war verschwunden, und er würde wohl niemals wieder erstehen. Dyn-Qar zögerte noch einen Augenblick, dann wandte er sich um. Mochten die Fremden machen, was sie wollten, sein Zuhause war Gaalo, die Metropole des Glücks. Und dorthin wollte der Tasch-Ter-Man nun zurückkehren ... Foremon empfand fast so etwas wie Mitleid mit dem Andro-Hüter, der in dieser kritischen Situation so kraß versagt hatte. »Mörder?« echote Szuker fassungslos. »Sie haben einen Boten von Thoregon getötet«, gab Foremon grimmig bekannt. »Es sind die schlimmsten Schurken, die jemals Plantagoo erreicht haben. Und du hast ihnen geholfen.« »Aber sie hatten ein Passantum dabei«, jammerte Szuker. »Die Beute ihres Mordes«, konstatierte Foremon. -85-
Er empfand Ärger, daß ihm die beiden abermals entwischt waren. Das auftauchende Galornenschiff hatte seine Energiezufuhr abrupt abgeschnitten, gerade in dem Augenblick, in dem er die letzten Reserven hatte mobilisieren wollen. Die Glücks-Reduktion hatte die Schurken wohl nicht so stark betroffen wie ihn und Szuker. Als Foremon sich wieder hatte rühren können, waren Rhodan und Bull verschwunden gewesen, untergetaucht im Gewimmel von Gaalo. Foremon wußte, daß er jetzt kaum noch eine Chance hatte, die beiden dort zu stellen. Sie würden sich verborgen halten. Schlimmer noch ... Foremon hatte es gerade, vor wenigen Minuten, von seinen Spähern und Boten erfahren, den Tasch-Ter-Man. Rhodan hatte sich sofort mit dem Zentrifaal-Clanführer AOstamul zusammengetan. Vor einigen Stunden war auf dem stadtnahen offenen Raumhafen von Gaalo ein Schiff aufgetaucht, keine galornische Konstruktion, ein sogenannter Seelenverkäufer. Offenbar war es den beiden gelungen, sich eine Passage von Galorn weg auf der CHIIZ zu verschaffen. »Ich muß die beiden verfolgen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten können«, sagte der Wächter der Basaltebene. »Stell dir vor, was sie im Besitz des Passantums alles anrichten können.« »Ich verstehe, ich verstehe«, jammerte Szuker laut. »Aber was soll ich machen?« »Mir helfen!« herrschte Foremon ihn an. Nach Äonen, die er in völliger Einsamkeit verlebt hatte, war es eine neue Erfahrung, so vielen anderen Lebewesen zu begegnen und mit ihnen zu kommunizieren. Es fiel ihm anscheinend von Mal zu Mal leichter. Und jetzt gab er sogar Befehle. »Ich brauche ein Transportmittel, ein Raumschiff«, fuhr der Wächter der Basaltebene fort. »Ich habe aber keines«, klagte Szuker. -86-
Foremon glaubte ihm nicht. Er wußte selbst nicht, woher er die Sicherheit bezog, aber er war fest davon überzeugt, daß Szuker eine Möglichkeit hatte, Galorn zu verlassen. So wie es Ce Rhioton oftmals gemacht haben mußte, wenn er über den Pilzdom nach Galorn gekommen war. Bei einem Boten von Thoregon konnte Foremon sich nicht vorstellen, daß er längere Zeit auf Galorn verbrachte oder gar wartete, bis jemand ihm ein Raumschiff schickte. Nein, irgendwo in Gaalo mußte es ein raumtaugliches Fahrzeug geben, auf das Ce Rhioton im Bedarfsfall hatte zurückgreifen können. »Die Zeit drängt«, schnauzte Foremon den unglücklichen Andro-Hüter an. »Ich habe Tage gebraucht, um wieder handlungsfähig zu werden, wegen des schlechten Wetters. Die Mörder haben diese Zeit genutzt.« Foremon deutete auf den Horizont. Dort stieg gerade ein spindelförmiges Raumschiff auf, die CHIIZ. »Dies konnte ich nicht verhindern«, grollte Foremon. »Aber ich werde alles andere verhindern, was diese Verbrecher noch an Schaden anrichten können. Also - mach mir das Raumschiff zugänglich, oder ...« »Oder?« Szuker starrte ihn an. »Du hast gesehen, was ich vermag«, drohte Foremon. »Ich werde Herz-FÜNF sonst vollständig zerstören ...« »Das kannst du nicht tun, es wäre eine Katastrophe für den ganzen Raumsektor«, kreischte Szuker auf. »Wieso?« Szuker deutete mit bebenden Gliedern auf den Schacht in der Mitte des Feldes der Schriften. »Wegen des Drachen«, sagte er leise und blickte scheu um sich. »Er haust in diesem Schacht?« Szuker nickte. »Nun, dann werde ich ihn freisetzen«, drohte Foremon. »Du hast die Wahl, Szuker.« -87-
»Ich darf das nicht«, schluchzte der Andro-Hüter. »Es geht sehr weit über meine Befugnisse hinaus.« Foremon hätte ihm gern einen Schlag versetzt, um ihn unter Druck zu setzen und weiter zu ängstigen. Aber er wußte, daß er sich damit nur selbst verletzt hätte, wahrscheinlich sogar schwer. »Nein, bitte, zwing mich nicht.« Foremon hatte Mitleid mit dem verängstigten Androiden, aber nicht genug Mitleid, um ihn aus seiner Zwangslage zu entlassen. »Tu, was ich dir sage«, befahl er unerschütterlich. »Die Verantwortung werde ich tragen.« Währenddessen schoß die CHIIZ hinauf in den Himmel, stieß in den Weltraum von Plantagoo vor. An Bord die beiden schlimmsten Übeltäter, die er sich vorstellen konnte. Nicht vorstellen konnte er sich, was geschehen würde, wenn sie nicht sehr bald zur Strecke gebracht wurden. Szuker sträubte sich noch immer. »Wie du willst«, sagte Foremon und versuchte den Boden zu berühren. Es wirkte, als handle er in der Absicht, nun alle seine Kräfte im Basalt unter dem Feld toben zu lassen. Szuker konnte sich ausrechnen, daß danach von Herz-FÜNF kaum ein Stein auf dem anderen stehen würde. Foremon sah ihm nach, als der Android davonschlich - auf den Schacht zu, in dem er nach langem Zögern verschwand. Die CHIIZ war nicht mehr wahrzunehmen, als Foremon einen Körper auftauchen sah, der aus dem Schacht aufstieg. Ein großer Körper in der Gestalt eines Eies, ungefähr so hoch wie die Mauern von Herz-FÜNF und einer größten Breite, die etwas die Hälfte dieser Strecke ausmachte.
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Susan Schwartz
Krieger der Gazkar
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1. Aufgaben Die Aufgabe des Kriegers kommt den Gazkar zu. Die Gazkar bekämpfen Feinde und halten die Stellungen, welche die Neezer vorbereitet haben. Die Neezer sind die Erkunder. Sie sind stets auf der Suche nach neuen Welten. Welten, die einer ersten Überprüfung standhalten, besetzen sie dann und nehmen Vermessungen vor. Wenn die Ergebnisse positiv und geeignete Resonanzgeber gefunden sind, ist es die Aufgabe der Gazkar, die Welten zu beschützen und gnadenlos gegen jeden Feind vorzugehen. Wenn die Neezer die Untersuchungen abgeschlossen und die Gazkar die Welt gesichert haben, führen die Alazar die Arbeit fort. Sie nehmen die Feinabstimmung des Resonanzbodens vor und sorgen dafür, daß alles seine Richtigkeit hat. Und wenn dann alles getan ist, ist es Zeit für die Eloundar zu erscheinen. Die Eloundar werden oft auch als Heilige bezeichnet, die Vivoc, den Stoff, mit sich führen. Selbst die Alazar erwähnen die Eloundar nur sehr selten, sie sind so völlig anders, so fremd, weit über alle anderen erhaben. Zu allen Zeiten ist die Anwesenheit der Gazkar notwendig, damit die heilige Sache nicht gefährdet wird. Jeder Gazka ist sich seiner Bedeutung bewußt. Jeder Gazka hat seinen Platz in der festgefügten Gemeinschaft seines Volkes und des Bundes mit den anderen; wäre er nicht da, gäbe es eine unersetzliche Lücke. Der Weg eines Gazka beginnt mit einer siebzehnzackigen -91-
Krone. Er ist verpflichtet, seine Fähigkeiten stets aufs neue unter Beweis zu stellen. Wenn die Zeit gekommen ist und er sich bewährt hat, wird er einen höheren Rang bekleiden dürfen, als Vorbild für die jüngeren Gazkar. Gemba verließ Amkrir zum ersten Mal. Er hatte das Alter erreicht und war an Bord der ZYKK-A gerufen worden. Dadurch, daß es seine erste Reise war und er noch alle siebzehn Spitzen besaß, stand er natürlich noch im niedrigsten Rang und mußte jedem anderen weichen. Aber er wußte, daß auch seine niedrige Stellung wichtig war in diesem Gefüge. Machtstreben kannte ein Gazka nicht; seine Beförderung resultierte stets aus den im Lauf der Zeit erworbenen Verdiensten, die die Gazkar ehrten und den Neezern, den Alazar und letztlich auch den Eloundar zugute kamen. Gemba war die Kurzform, mit der er zumeist angesprochen wurde. Es war kein Name, kein Gazka besaß einen Eigennamen; es gab nur Kurzformen, mit denen sie sich untereinander anriefen. In der Langform bedeutete es eine Kodebezeichnung: Gem-Ba-Am-Kor-Vech-Tol. Daraus ging hervor, wann und wo ein Gazka geboren worden war, welcher Brut er angehörte oder welchen Resonanzstatus er hatte. Gemba war auf Amkrir, dem Planeten der resonanzgebenden Vecharer geboren worden, in der Galaxis Tolkandir. Nun war die Einheit von Amkrir zu einem bestimmten System in einer neuen Galaxis gerufen worden, und Gemba wurde zum ersten Mal an Bord eines der ZYKK-Kriegsschiffe gerufen, auf die ZYKK-A. Der Kommandant der ZYKK-A besaß nur noch zwölf Spitzen und bildete durch diesen hohen Rang ein unangefochtenes Vorbild für die anderen Gazkar an Bord. Kurz nach dem Abflug gab er Auskunft, in welcher Mission die ZYKK-Einheit unterwegs war. Schon vor einiger Zeit hatten die Neezer eine bisher unbekannte, große, sehr vielversprechende - weil relativ dicht be-92-
siedelte - Galaxis entdeckt und im Vorfeld in rascher Folge mehrere von Intelligenzen bewohnte Systeme untersucht. Sie hatten die vielen verschiedenen Lebewesen der jeweiligen Systeme beobachtet und getestet, um ihre Eignung als Resonanzgeber festzustellen. Die Völker waren sehr fremd, aber einige waren für die gewünschten Zwecke geeignet, und die Neezer fuhren mit der Arbeit des Sondierens und Scannens fort. Nun war es Zeit für die Gazkar der ZYKK-Einheit, ein angegebenes Sonnensystem anzufliegen, um dort die von den Neezer erwählte Welt zu sichern. Der Kommandant nannte keine Namen, das spielte für die Gazkar keine Rolle, ebenso wenig, wo die neue Galaxis lag und wie sie hieß. Er berichtete auch nichts über die Resonanzgeber. Vermutlich wußte er selbst nicht viel mehr als die Koordinaten des Systems. Die Aufgabe der Gazkar war stets dieselbe, Hintergründe waren vollkommen uninteressant. Keiner stellte daher eine Frage, Gemba ebenso wenig. Die kurze Aufregung, nachdem er an Bord des Schiffes gerufen worden war, war bereits vergangen, und er hatte sich schon fest in die Gemeinschaft eingefügt. Die Zeit während des Fluges brachte Gemba damit zu, die ihm zugewiesenen Arbeiten zu verrichten und den Lehren der Gazkar, die ständig über Bordfunk liefen, zu lauschen. Es gab für ihn nichts Schöneres, als zu wissen, wohin man gehörte, zu tun, was getan werden mußte. Er fühlte sich vollkommen erfüllt. Wie jeder andere Gazka.
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2. Havarie Die ZYKK-Einheit erreichte die fremde Galaxis, und der Kommandant meldete sich zum ersten Mal wieder. Er berichtete, daß das ihnen zugewiesene Sonnensystem schon sehr nahe sei. Mit Widerstand sei kaum zu rechnen, obwohl viele Völker dieser Galaxis die Raumfahrt beherrschten. Anscheinend aber handelte jedes Volk nur für sich, und Berichten der Neezer zufolge würden sie untereinander sogar streiten. Das war für die Gazkar kaum vorstellbar. Uneins sein, das gab es nicht in ihrem Staat. Niemals gab es auch nur eine geringe, freundschaftliche Annäherung an die Neezer oder Alazar, von den Eloundar erst gar nicht zu reden; das war so undenkbar wie ein ohne andere lebender Gazka. Gazkar arbeiteten miteinander und füreinander, jeder hatte seine Aufgabe zur Ehre des Volkes: Das war der Sinn, das Glück und die Erfüllung ihres Lebens. Aber die Unruhe war nur kurz, kein Gazka dachte weiter darüber nach. Die fremden Völker bedeuteten ihnen nichts; entweder sie waren gute Resonanzgeber, oder sie waren Feinde, wenn sie sich gegen die Besetzung der Welten wehrten. Wenn sie sich nicht wehrten, aus welchen Gründen auch immer - umso besser. Die ZYKK-Einheit sollte in dem Sonnensystem Stellung beziehen und darauf achten, daß nicht plötzlich fremde Raumschiffe auftauchten, während die Neezer den Resonanzboden für die Alazar vorbereiteten. Eine leichte Aufgabe, wie der Kommandant wiederholt deutlich machte: Seit Entdeckung der Galaxis waren sie nur auf -94-
geringen Widerstand gestoßen, und dieses System bildete keine Ausnahme. Sie mußten dankbar sein für das große Glück, das ihnen eine große Zukunft und Ehre bescheren sollte. Gemba fühlte große Gelassenheit, ebenso wie alle anderen. Er besaß zwar nicht die Erfahrung wie sie, da es sein erster Flug war, aber das machte kaum einen Unterschied. Er war ein Gazka, ein Krieger, so vollwertig und ausgebildet wie jeder andere an Bord. Und dann geschah das Unerwartete.
Plötzlich stockte das Schiff mit einem gewaltigen Ruck, als wäre es gegen einen undurchdringlichen Wall gestoßen. Die Gazkar stürzten haltlos, Einrichtungen und Waffen wurden aus den Halterungen gerissen. Die Alarmsysteme reagierten augenblicklich, während das Schiff, weiterhin zitternd und bebend, wieder auf Kurs gebracht wurde. »Was war das?« rief Gemba, der ja noch keine Raumerfahrung hatte. »Ein Angriff«, lautete die Antwort des Gazka in seiner Nähe, der nur noch vierzehn Spitzen an der Krone besaß. Er war der Anführer von der Truppe, zu der auch Gemba gehörte. Das war für Gemba das Signal, sich zu rüsten und auf den Kampf vorzubereiten. Er stellte keine Frage. Einen Gazka interessierte nicht, woher der Angriff kam, wer der Angreifer war, und wie es ihm möglich war, einen Treffer zu landen. Wenn es notwendig war, würde er die Informationen erhalten. Ein Angriff bedeutete, daß der Feind nahe war und bereit, mit allen Mitteln zu kämpfen. Nur das war wichtig: Es war Zeit zu kämpfen. Es war nicht ganz einfach, sich in dem Durcheinander zurechtzufinden. Das Schiff schlingerte weiterhin erheblich, und Gemba hatte den Eindruck, als sei das etwas Ungewöhnliches. -95-
Zumindest reagierten die ranghöheren Gazkar verunsichert. »Wann werden wir kämpfen?« fragte er laut. »Wenn es Zeit ist«, kam die prompte Antwort. »Achte darauf, daß deine Ausrüstung komplett ist, es kann schnell gehen«, sagte ein weiterer, ranghöherer Krieger. »Der Kommandant wird uns leiten.« Gemba gehorchte und stellte sich in der Nähe des Ausgangsluks an seinem Platz auf, bereit zum Ausschwärmen, sobald das Schiff gelandet wäre. Nach kurzer Zeit standen alle Krieger der ZYKK-A in Reih und Glied, schweigend und wartend. Sie standen so dicht beieinander, daß sie zu einer einzigen, stahlblauen Masse zu verschmelzen schienen, bestückt mit ihren Waffen, geeignet für den Nah- und Fernkampf. Schließlich meldete sich der Kommandant: Der Alarm könne nicht aufgehoben werden, da der Treffer des Feindes schwerer als ursprünglich angenommen gewesen sei. Die ZYKK-A trudelte nahezu haltlos auf den bewohnten Planeten zu, der von den Gazkar beschützt werden sollte. Das Schiff hatte den Angriff nicht selbst beantworten können, schwebte im Moment jedoch nicht in unmittelbarer Gefahr. Die übrigen Schiffe der ZYKK-Einheit hatten sich sofort auf den Feind gestürzt, und eine Raumschlacht war entbrannt. Der Kommandant berichtete nicht, welcher Art der Feind war, ob er mit vielen Schiffen kämpfte oder ob er die zusätzliche Unterstützung einer Wachstation im Orbit hatte. Er informierte die Krieger lediglich darüber, daß der Feind nicht die geringste Chance habe. Um Hilfe zu rufen war ihm nicht möglich, da die Strahlung der Neezer nicht nur die künftigen Resonanzgeber in höchstem Maße beeinflußte, sondern auch ihre Technik unbrauchbar machte. Die Wahrscheinlichkeit, daß nach diesem Kampf mit weiteren Angriffen zu rechnen war, lag bei nahezu Null. Dennoch mußte mit allem gerechnet werden; immerhin war es -96-
möglich, daß dieses System regelmäßig kontrolliert wurde und andere mißtrauisch wurden, wenn keine Antwort auf Funkrufe erfolgte. Die Gazkar mußten in jedem Fall für die Sicherheit der Neezer sorgen und durften in ihrer Wachsamkeit nicht nachlässig sein, auch wenn sie scheinbar leichtes Spiel mit den Lebewesen dieser Galaxis hatten. Gemba war aufgeregt. Zum ersten Mal würde er Feindkontakt bekommen, gleich bei seinem ersten Flug! Fast störte es ihn, daß es scheinbar so leicht ging, doch das Verhalten der ranghöheren Krieger machte ihm deutlich, daß jede Nachlässigkeit tödlich sein konnte. Niemals durfte ein Gazka sich im sicheren Gefühl wiegen, absolut überlegen zu sein, selbst wenn er es war. Selbst die erfahrenen Krieger zeigten keine triumphale Freude oder Siegesgewißheit, nachdem der Kommandant geendet hatte. Der Krieg endete nie, auch wenn der Feind besiegt schien. Immer gab es irgendwo Feinde, die dem Erkundungsnetz der Neezer entgangen waren und sich weigerten, fortan zur Brut zu gehören. Diese waren Bund, von den Kriegern wie Aussätzige verachtet, aber nicht gnadenlos verdammt, denn auch sie konnten als Netzwerkmaterial und Verbund nützlich sein. Die schwer getroffene ZYKK-A war von der Einheit während der Schlacht getrennt worden und trudelte weiterhin auf den Planeten zu, auf dem Gemba zusammen mit den übrigen Kriegern hätte Dienst tun müssen. Der Kommandant versuchte, das Beste aus der Situation zu ziehen und möglichst in der Nähe des Neezer-Netzes zu landen. Das stellte sich jedoch als unlösbare Aufgabe heraus, denn das Eintauchen in den Orbit erfolgte viel zu schnell. Die ohnehin nur noch schwach flackernden Schutzschirme brachen zusammen, die Außenhülle des Schiffes begann zu brennen, und durch die sich rasch ausbreitende Hitze im Innern nahmen noch die übrigen Systeme irreparablen Schaden. Die Krieger wurden trotz der Enge heftig durcheinander-97-
geschüttelt, als der Kommandant nach und nach die Kontrolle über das havarierte Schiff verlor. Er konnte es nicht mehr auf Kurs halten; ihm blieb nur noch die Notlandung, ganz gleich wo. Die ZYKK-A schoß über das Neezer-Netz hinweg, tiefer in ein dichtes, sich von Horizont zu Horizont ziehendes sumpfiges Dschungelgebiet hinein, das nach dem bisherigen Informationsstand noch nicht erkundet worden war. Gemba spürte die heftige Erregung seiner Gefährten, die auch auf ihn übergriff, obwohl er sie nicht verstehen konnte. Er war viel zu unerfahren, um den dramatischen Ernst dieser Situation zu verstehen; er begriff nur, daß die Gazkar sich in diesem Moment nicht wie erfahrene Krieger verhielten, sondern im Gegenteil von einer panischen Existenzangst beherrscht wurden. Er konzentrierte sich daher intensiv auf die ranghöheren Krieger, deren Stimmen vor Erregung summten. Allmählich dämmerte ihm, weshalb sie so aufgeregt waren. Obwohl der Kommandant sich nicht mehr gemeldet hatte, hatten die Krieger erkannt, daß ihnen eine Bruchlandung im Nirgendwo bevorstand, bei denen sie bestenfalls mit dem Leben, in jedem Fall aber ohne Ehre davonkamen. Das war das Schlimmste, was einem Gazka passieren konnte. Als Gemba sah, wie die Krieger plötzlich die geordneten Reihen auflösten, in den Hangar neben dem Ausstiegsluk hineinliefen und schon während des Laufs anfingen, die Rettungskapseln zu entfalten, handelte er augenblicklich. Er folgte den anderen, öffnete seine Überlebensausrüstung, holte die handlich zusammengelegte Rettungskapsel heraus und entfaltete sie mit geübten Griffen, als hätte er jahrelang nichts anderes gemacht. Noch bevor sie ganz geöffnet waren, zwängte er sich in die runde Kapsel, in der er gerade noch Platz hatte, wenn er die Ausrüstung und Arme und Beine eng an den Körper preßte und das Brustgelenk so weit wie möglich zur Leibesmitte knickte. -98-
Mit dem kurzen oberen Armpaar verschloß er die Kapsel, die automatisch nach Verschluß die Lebenserhaltungssysteme hochfuhr. Die Neigung des Bodens sorgte dafür, daß die Kapsel zielsicher in eine der zahlreichen speziellen Mulden im Hangar hineinrollte. Obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, wann er das gelernt hatte, handelte Gemba automatisch und richtig. Er wußte daher auch, daß er in die Kapsel hinein und sie verschließen mußte, bevor sie in der Mulde war. Sobald die Kapsel nämlich in eine dieser Mulden hineingerollt war, wurde sie auch schon explosionsartig durch eine Öffnung aus dem Schiff katapultiert.
Die Welt drehte sich rasend schnell um Gemba, während er aus dem abstürzenden Schiff in den Luftraum der fremden Welt schoß. In Bruchteilen von Augenblicken erkannte er das brennende und rauchende Schiff, das dicht über die Baumwipfel hinwegschoß, immer weiter nach unten sank und schließlich mit einem ohrenbetäubenden Donnern, Krachen und Bersten irgendwo weit entfernt aufschlug. Gemba hatte keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren und Angst oder Sorge zu empfinden. Sein eigener Flug war zu schnell und der Aufprall so heftig wie nichts, was er je zuvor erlebt hatte. Nach dem Aufprall auf dem Erdboden, bei dem glücklicherweise nichts zu Bruch ging, war Gemba noch nicht gerettet. Die Kugel rollte einen Abhang hinab; dabei räumte sie alles beiseite, was im Weg lag. Der Kurs wurde durch den Aufprall an zahlreichen Felsbrocken bestimmt, und Gemba war völlig hilflos in der Kapsel gefangen. Wenn es ihm nur gelänge, sie zu öffnen! Dann würde sie automatisch weit aufreißen, ihn hinausschleudern und sich dann -99-
zusammenfalten. Bei dem Sturz konnte er sich zwar verletzen, aber wenigstens war die demütigende Wahnsinnsfahrt zu Ende. Immer wieder wurde er durch einen Aufprall oder einen unerwarteten Seitendruck durchgeschüttelt, bevor er die Sensortasten im Verschlußgestänge erreichen konnte. Gemba empfand hilflose Wut. Er konnte sich nicht erinnern, wie er sich in einer solchen Situation genau verhalten sollte, er war auf sich selbst angewiesen. Es gab nur diesen Weg: die Sensoren berühren, sich befreien. Da kam der heftigste Aufprall, und er schrie erneut auf, um dann zu verstummen - plötzlich war er fast schwerelos und lag völlig ruhig. Die Kapsel war wieder von einem Felsen abgeprallt, über einen Abhang hinweggeschossen und flog durch die Luft, einen Abgrund hinunter. Gemba sah verschwommenes, dampfendes Braungrün rasend schnell auf sich zukommen und begriff, daß er kopfüber in einem Sumpfloch landen würde. In fieberhafter Eile betätigte er die Sensoren, die Kapsel öffnete sich und gab ihn frei. Gemba purzelte aus der Öffnung und fiel mit ausgestreckten Armen und Beinen; dabei entglitt ihm alles, was er aus den Gürteln hatte nehmen müssen, um es in der engen Kapsel vor sich zu halten. Es gelang ihm gerade noch, sich im Fallen durch heftige Armund Beinbewegungen zu drehen und mit dem gepanzerten Rücken im Sumpf zu landen. Nicht weit von ihm stürzte die Kapsel, schon fast vollständig zusammengefaltet, in den Schlamm; weitere Teile seiner Ausrüstung regneten um ihn herum ab. Er hatte keine Zeit, sich weitere Gedanken zu machen; der Sog der tückischen Schlammwirbel ergriff ihn und begann ihn langsam in bodenlose Tiefen zu ziehen. Heftig mit den Armen und Beinen rudernd, fand Gemba gerade so viel Halt in dem stinkenden, braungrünen, schleimigen -100-
Morast, daß er sich aus der hilflosen Rückenlage umdrehen konnte. Zappelnd hielt er sich weiter an der Oberfläche. Er ruderte und kämpfte so verzweifelt, daß es ihm tatsächlich gelang, auf einen mächtigen umgestürzten Baumstamm zuzusteuern. Der Schlamm war zäh und kühl und wollte ihn nicht so einfach wieder hergeben, aber die Sogkraft war bei einem so großen, kräftigen und wehrhaften Wesen wie Gemba letztlich nicht stark genug. Der junge Krieger hätte beinahe vor Erleichterung aufgeschrien, als es ihm gelang, sich mit den schwächeren oberen Armen an einem Ast festzuklammern und so an den Baumstamm heranzuziehen, daß auch das kraftvolle, längere Armpaar zupacken konnte. Gleich darauf hatte er sich auf den modrig-feuchten, unangenehm stinkenden Baumstamm hinaufgezogen und lag einige Augenblicke atemlos, keuchend und völlig erschöpft ausgestreckt da. Die Wärme der Luft tat ihm wohl. Zwischendurch fand auch ein Sonnenstrahl den Weg durch das dichte, windbewegte Blätterdach der riesigen Sumpfbäume und trocknete seine kältestarren Glieder.
Gemba gestattete sich nur einen kurzen Moment der Erholung. Er mußte an seine Aufgabe denken und zusehen, so schnell wie möglich zu den anderen Gazkar aufzuschließen. Noch ein wenig wacklig und unsicher stand er auf, säuberte und putzte seinen Körper, bis er wieder im gewohnten Stahlblau schimmerte. Die Körperpflege war ungeheuer wichtig, um die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und Kampfbereitschaft zu garantieren. Unterdessen ließ Gemba seine Blicke über das Sumpfland schweifen, um nach seinen Gefährten Ausschau zu halten. Noch war er nicht beunruhigt; die anderen mußten wie er längst -101-
gelandet sein und hatten bestimmt mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen. Sicherlich waren einige von ihnen bereits auf der Suche nach den übrigen Angehörigen der ZYKK-A und würden ihnen den Weg zum Kommandanten weisen, der die Truppe zum nächsten Neezer-Standort führen mußte. Gemba war der Unerfahrenste der Einheit, deshalb tat er sich etwas schwerer als die anderen und würde länger brauchen, bis er zu ihnen fand. Eine Welt wie diese hatte er noch nie gesehen, und er war nie darauf vorbereitet worden; zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Seine Augen mußten sich erst an die ungewöhnlichen Lichtverhältnisse anpassen, bevor er sich auf ihre gewohnte Schärfe würde verlassen können. Gemba war immer noch voller Vertrauen. Er wußte, daß Gazkar niemals versagten. Auch seine anfängliche Beunruhigung auf der ZYKK-A, als die Älteren die Besorgnis über den Verlust der Ehre geäußert hatten, war längst vergangen. Er hatte den Absturz überlebt und war im vollen Besitz aller Kräfte. Er konnte seine Aufgabe auch weiterhin verwirklichen: die Neezer zu beschützen und den Resonanzboden für die Alazar vorzubereiten. Jedoch ... womit? Er war so sehr mit sich beschäftigt gewesen, daß er nicht auf die Ausrüstung geachtet hatte. Er hatte es sogar ganz und gar vergessen! Anfänger, verfluchte Gemba sich selbst. Unerfahrener, blutiger Anfänger! Ob es jedem Gazka auf seiner ersten Reise so erging? Die Ranghöheren berichteten kaum über ihre Vergangenheit. Andererseits waren die Ranghöheren dazu da, die Anfänger zu unterweisen und anzuleiten. Der Angriff und die darauffolgende Havarie waren so schnell geschehen, daß keine Zeit mehr verblieben war, Gemba Verhaltensregeln zu geben. -102-
Dennoch hätte es ihm niemals passieren dürfen, die Ausrüstung zu verlieren. Den Großteil hatte er nach dem Sturz aus der Kapsel verloren, den Rest anschließend im Sumpf. Nur noch zwei leere Gürtel hingen an seinem Körper, zu nichts mehr nütze. In aufwallender Wut schnallte Gemba sie ab und schleuderte sie weit fort in den Sumpf. Nun war ihm nichts mehr geblieben; durch sein Versagen hatte er auch seine Ehre eingebüßt. Er war völlig hilflos auf einer fremden Welt, dem Feind ausgeliefert. Er konnte den Gazkar nichts mehr nutzen, denn er hatte nicht im Sinn der Gemeinschaft gehandelt. Nur noch im Tod konnte er dem Völkerbund dienen. Anders als bei den Neezern, die als ungenießbar galten und sich daher nach Verlust der Ehre atomisierten, konservierten sich die Gazkar nach dem Selbstmord, damit ihre Körper wiederverwendet werden konnten. Dadurch wurde die Ehre der Gazkar vollends wiederhergestellt. Darauf war auch Gemba stolz. Bei solchen Gedanken fühlte er sich sogar ein wenig über die ungenießbaren Neezer erhaben. Aber dieser stolze Moment war nur sehr kurz. Es folgte schon die schreckliche Ernüchterung. Da er seine ganze Ausrüstung verloren hatte, hatte er auch das Fekett eingebüßt. Er konnte noch nicht einmal Selbstmord begehen.
Gemba drehte nicht sofort durch, sein Verstand war noch zu klar und deutlich mit den Lehren der Gazkar angefüllt. Jeder Gazka wiederholte ständig die wichtigsten Leitsätze, wenn sie nicht gerade - wie an Bord der ZYKK-A - über Lautsprecher vermittelt wurden. Laut oder leise, die Gazkar waren eine feste, unverbrüchliche Gemeinschaft, in der jeder das gleiche dachte und für das Wohl der Gemeinschaft sorgen wollte. -103-
Aber je länger Gemba ohne die anderen war, umso schmerzlicher wurde ihm ihr Verlust bewußt. Es war, als sei ihm der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Im Gefüge der Gazkar und des Völkerbundes hatte er genau seinen Platz gekannt und war in jedem Augenblick darauf bedacht gewesen, seine Aufgabe zu erfüllen. Nur so konnte der Staat funktionieren, nur so war das Überleben aller garantiert. Jedoch war eine solche Situation wie diese nirgends dokumentiert. Gemba wußte nicht, was er nun tun sollte. Ohne das Fekett konnte er den rituellen Selbstmord nicht vollziehen und sich konservieren, ohne die Ausrüstung konnte er seine Aufgabe auf dieser Welt nicht erfüllen. Was sollte er tun, wenn er dem Feind begegnete? Was ... Nein, das war nicht die vordringliche Frage. Die wichtigste Frage lautete: Was sollte er jetzt tun? Weiter nach den anderen suchen. Sie waren alle aus dem Schiff entkommen, irgendwo mußten sie sein. Wahrscheinlich erging es ihnen wie Gemba. Wenn sie aber erst einmal wieder zusammen waren, würde die normale Ordnung wiederhergestellt sein. Und der Ranghöchste würde entscheiden, was zu tun war. Das war immerhin ein erstes Ziel. Gemba befaßte sich nicht mit weiteren Gedanken. Er hatte es nicht gelernt, abstrakt zu denken und sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die auf ihn künftig zukommen könnten. Gemba wußte nur, wo sein Platz, was seine Aufgabe war. Darüber hinaus gab es nichts. Jedoch war ihm klar, daß er ohne Hilfe nicht weiterkam, er brauchte die anderen. Sie zu suchen war die vordringlichste Aufgabe, die er sich nun selbst stellen und erfüllen mußte. Er stieß einen schrillen Trillerlaut aus, der sehr weit trug, und wartete auf Antwort. Normalerweise begann stets ein Ranghöherer mit den Rufen, und junge Krieger wie Gemba durften nur antworten. Aber dies war keine normale Situation. Deshalb -104-
mußte Gemba die Hürde überspringen und als erster rufen, nachdem die ganze Zeit über seit seiner Landung nur Stille um ihn gewesen war. Obwohl das beängstigend war, verlor Gemba sein Vertrauen immer noch nicht. In Ausnahmesituationen konnte so etwas schon einmal vorkommen, sagte er sich, und nun mußte er eben handeln, auch wenn er im niedrigsten Rang des reinen Befehlsempfängers stand. Er fürchtete sich nicht vor möglichen Konsequenzen, da er seine Ehre ohnehin schon verloren hatte. In Wirklichkeit wollte er nur zu den anderen finden, um mit dem Fekett eines Gefährten Selbstmord zu begehen und die Ehre wiederherzustellen. Es war schwer für ihn, geduldig zu sein, aber Gemba harrte aus. In regelmäßigen Abständen wiederholte er seinen Ruf und lauschte angestrengt. Und dann hörte er tatsächlich Antwort. Ganz schwach, was ihn umso mehr erschreckte, da diese Schwäche nicht von der Entfernung herrührte, sondern von Kraftlosigkeit. Schnell rannte er los, wobei er anfänglich auf dem nachgiebigen, tückischen Gelände mehrmals stolperte und stürzte, bis er den richtigen Tritt gefunden hatte. Der Weg führte weiter in sumpfiges Gelände hinein. Die festen, von großen Sumpfgrasbüscheln bewachsenen Moospolster lagen immer weiter auseinander. Gemba wurde von der Erwartung beflügelt, und er stürzte kein zweites Mal in ein Sumpfloch. Unterwegs gab er ununterbrochen durch eine bestimmte Trillerreihe bekannt, daß er auf dem Wege sei. Die Antwort war schon nahe und bedeutete eine Warnung. Zu spät... zu spät. Nein, das durfte nicht sein! Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er endlich einen Gefährten fand - der tief mitten im Sumpf steckte. Der andere war bereits so weit hinabgezogen worden, daß nur noch der Kopf, das obere Drittel des Rumpfes -105-
und das obere Armpaar herausschauten. Gemba erkannte bitter, daß jede Hilfe zu spät kam. Dennoch unternahm er mehrere Rettungsversuche, denen der sterbende Gazka nur schwach entgegenkam. Keiner von beiden sprach. Es gab nichts mehr zu sagen. Es war überaus ehrlos, so zu sterben, aber ebenso ehrlos, so zu überleben. Für keinen von beiden gab es Rettung. Nachdem der Krieger endgültig im schwarzen Morast versunken war, war Gemba ganz allein.
Allein! Kein Gazka war jemals allein gewesen. Gemba hatte bereits daran gedacht, als er auf den Baumstamm hinaufgeklettert war und keinen Gefährten in seiner Nähe vorgefunden hatte, aber den Gedanken schnell von sich geschoben. Nun konnte er den Gedanken nicht mehr so einfach verdrängen. Im Gegenteil. Er wünschte sich, er wäre tot! Es war ihm unmöglich, Selbstmord zu begehen. So hegte er den verzweifelten Wunsch, einfach tot umzufallen, einfach nichts mehr zu wissen, nie wieder. Seine Schande hatte sich kaum dadurch verringert, daß er nun ganz allein war. Sicherlich bestand Hoffnung, daß es anderswo weitere Überlebende gab, jedoch - weshalb hatten sie ihn noch nicht gefunden? Sie mußten längst mit den Neezern Netzkontakt aufgenommen haben. Vielleicht gingen sie auch davon aus, daß er tot war, daß es so tief im Sumpf keine Überlebenden gab oder daß jeder Verlorene im Sumpf mit dem Fekett bereits Selbstmord begangen hatte, wie es sich gehörte. Gemba konnte nicht weiter darüber nachdenken, dafür war er nicht geschaffen. Er wußte nur, daß er keinerlei Ausrüstung mehr besaß und völlig hilflos war. Dabei hatte er auf dieser Welt, die so guten Resonanzboden darstellte, eine wichtige Aufgabe zu -106-
erfüllen. Daran klammerte er sich fortwährend: guter Resonanzboden. Natürlich konnte er nichts für die Havarie der ZYKK-A, aber für alles weitere, seit seinem Absprung mit der Rettungskapsel. Das Schlimme war, daß es keine Erinnerung an ähnliche Situationen gab. Gazkar dachten niemals über die Vergangenheit nach, sie waren stets auf die Gegenwart fixiert, geborgen im Gefüge des Völkerbundes. Umso schrecklicher war es jetzt für Gemba, grauenhafter als jede Disharmonie, die er sich vorstellen konnte. Eine Disharmonie bedeutete Unruhe, wenn nicht gar Panik in einem Verbund. Gemba kannte dieses Gefühl aus der kollektiven Palette der Erfahrungen, und damit konnte er vergleichen, wie er sich jetzt fühlte - um sehr viel schlechter. Er war von völliger Stille umgeben. Die Geräusche des fremden Planeten bedeuteten ihm nichts. Im Verbund war er ständig von dem unermüdlichen Summen der Gazkar umgeben, die emotionale Nähe bestand auch in seinem Verstand. Jeder Gazka war unaufhörlich von den Lehren, dem Pflichtbewußtsein und dem Wunsch, dem Verbund zu dienen, umgeben. Jeder Gazka dachte und fühlte sehr ähnlich wie jeder andere. Das wußte nicht nur jeder Gazka, er spürte es und war erfüllt davon. Nun war in Gemba nur noch unendliche Leere.
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3. Collore-System: Lafayette 1. Januar 1289 NGZ »Ein gutes, neues Jahr, Jop!« »Dir auch, Pepe.« »Wünsche einen guten Start für 1289.« »Prost!« »Prost.« »Wünsche ein gesundes Wohl.« Joseph Broussard jr. setzte den Becher ab und seufzte. »Bunny, dein verdrehtes geschwollenes Gerede nervt manchmal ganz schön.« »Ich find's lustig.« Der Roboter richtete seine drei Stielaugen auf den Jungen und gab ein rasselndes Geräusch von sich, als wollte er sich mißbilligend äußern. Dabei hatte er angeblich eine Positronik ohne Biokonstante. Bunny hieß er deswegen, weil seine Prallfelder häufig aussetzten und aus seinem Gleiten lächerliche Häschensprünge machten. Auch ansonsten war Bunny nicht gerade das, was man unter einem modernen Roboter verstand, sondern eher ein Fossil mit einigen lockeren Schrauben. Damit paßte er genau zu den beiden Menschen, die er seit Wochen durch die grüne Hölle Lafayettes begleitete. Joseph Broussard jr., der BASIS-Veteran, ehemaliger Anführer der Beausoleils, lebte schon seit einigen Jahren wieder auf Lafayette. Nach dem Ende der Coma-Expedition hatte er zusammen mit seinen Freunden Michael Doucet und Dewey Balfa auf der zum riesigen Vergnügungscenter umfunktionierten BASIS als Animateur gearbeitet. Bei einer Schlägerei war es zu einem Unfall gekommen, bei dem der alte Cajun eine so schwere -108-
Kopfverletzung davongetragen hatte, daß sein geistiges und emotionales Niveau kaum mehr über dem eines Zehnjährigen lag. Er war mit den beiden Freunden nach Lafayette zurückgekehrt und hatte auf der Forschungsstation Camp Mirage gearbeitet. Pepe besaß weder einen vollen Vornamen noch einen Nachnamen. Er war gerade Mitte Zwanzig, sein Gemüt und Verstand jedoch wie bei Joseph zurückgeblieben. Eines Tages war er einfach im Camp aufgetaucht und geblieben. Im Lauf der Zeit hatte sich zwischen den beiden Behinderten ein inniges Vater-Sohn-Verhältnis gebildet, was die anderen auf der Station nicht ohne Rührung beobachtet hatten. Die anderen auf der Station. Weder Joseph noch Pepe hatten je wieder davon gesprochen, seit sie aufgebrochen waren. Aber beide träumten jede Nacht davon und erwachten oft schweißgebadet, die Bilder des Massakers vor Augen, den Mund in lautlosen Schreien weit aufgerissen. Camp Mirage existierte nicht mehr. Es war dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Mitarbeiter der Station hatten vor diesem ersten Angriff zwar rechtzeitig fliehen können, waren jedoch später auf der Flucht zusammen mit einer terranischen Prüfungskommission und deren Schutztruppe niedergemetzelt worden. Das Grauen ließ sich in so wenige Sätze zusammenfassen, doch die einzelnen Tragödien benötigten viel mehr. Da waren Anja Shriver, die Xeno-Biologin und Leiterin der Station, und Michael Doucet, mit dem sie zarte Bande verbanden; Dewey Balfa, zusammen mit Michael und Joseph der letzte der von Lafayette stammenden BASIS-Veteranen, die in die Heimat zurückgekehrt waren, und dessen Leibesumfang durch die Zuneigung zum Essen zu stattlichem Volumen angewachsen war, daß er selbst Fran Duret Konkurrenz machte; Fran Duret, die -109-
alte, mütterliche, stimmgewaltige Lafayetterin, unter deren eisgrauen Blicken jeder selbstbewußte Mann zu einem kleinen Jungen schrumpfte; die beiden trinkfesten Funkerinnen Amelia und Ira Roussot... und so weiter. So viele Namen, so viele durch die Jahre so vertrauten und größtenteils lieb gewordenen Gesichter. So viele Cajun-Feste voller Fröhlichkeit, Gesang und Tanz. »So viel Schmerz«, flüsterte Joseph leise in sich hinein. Er wischte verstohlen über die Augenwinkel. Nein, da gab es keinen Grund, das neue Jahr zu feiern. Alles war dahin, auf immer. Nachdem er als gesund entlassen worden war, hatte Joseph Broussard sich an die Hoffnung geklammert, auf Lafayette ein neues Leben beginnen zu können; ein Leben im verdienten Ruhestand, voller Frieden und Harmonie. Jahrelang hatte sich dieser Wunschtraum erfüllt, und Joseph war sicher gewesen, niemals mehr aus dieser Idylle gerissen werden zu können. Wäre er nur niemals so sicher gewesen, dem Leben nur das Beste abringen zu wollen und das Schlechte zu leugnen. Aber warum? Warum hatten sie alle auf solche Weise sterben müssen, gerade im Moment der größten Vertrautheit und Zuversicht, die Arbeit in diesem Team noch auf Jahre hinaus fortführen zu können? Joseph hatte sich vor allem für Anja und Michael gefreut, denn die beiden hatten Jahre der Annäherung gebraucht, um endlich eine vorsichtige, scheue Beziehung aufzubauen. Nun war ihnen nicht einmal mehr vergönnt gewesen, im Tod vereint zu sein; nacheinander waren sie zerstrahlt und verdampft worden. Einen Trost gab es für Joseph: Sie litten keine Schmerzen mehr, für sie gab es keine grauenvollen Alpträume zu jedem Zeitpunkt, wenn die Augen geschlossen waren und die Müdigkeit das Bewußtsein überwältigte. -110-
»He, Jop, weshalb stößt du nicht mehr mit mir an?« drang Pepes klare Stimme in seine Gedanken. »Entschuldige«, sagte Joseph und lächelte. Sogar seine Augen funkelten, als er den Becher hob und dem Jungen erneut zuprostete. Er wußte, wie traurig Pepe manchmal war, daß auch er nachts unter den Träumen litt; aber seine angeborene Heiterkeit und sein kindlicher Verstand konnten sich nicht in den Abgründen der Melancholie verlieren. Und im Grunde ging es Joseph ebenso. Auch er war Optimist, und es gab jede Menge Gründe, optimistisch zu sein. Joseph war stets in der Lage gewesen, sich sofort auf eine veränderte Situation einzustellen und nicht der Vergangenheit hinterherzujammern. Auch jetzt lag es dem alten Haudegen fern, einfach aufzugeben. Trotzdem war er zwischendurch, vor allem in sentimentalen Momenten wie diesen, hin- und hergerissen; er konnte seine Trauer nicht vollends beherrschen. Die Angreifer waren unbekannt, Angehörige einer absolut fremden Lebensform. Nur ihre merkwürdigen Schiffe, fliegende Eier und flunderartige Gleiter, waren in Erscheinung getreten. Und nur einmal, als Joseph ein fliegendes Ei abgeschossen hatte, war aus der aufgeplatzten Hülle eine ekelhafte, stinkende grüne Masse herausgequollen, bevor die Überreste des Bootes explodiert waren. Das war aber auch der einzige Hinweis gewesen, daß die Boote bemannt waren. Das anschließende Massaker hatten nur Joseph und Pepe wie durch ein Wunder überlebt. Auch Bunny war ungeschoren davongekommen, weil er sich selbst rechtzeitig in einem Sumpfloch versenkt hatte. Das war immerhin Grund genug zum Optimismus, fand der BASIS-Veteran. Sie beide hatten ohne Verletzungen überlebt, sie waren frei und konnten etwas gegen die Invasion der Fremden unternehmen. Nun waren sie unterwegs nach Swamp City, um eine -111-
Warnung nach Terra zu funken. Irgendeine Satellitenstation im Orbit funktionierte wohl noch, und Joseph vertraute Bunny, daß der Roboter zusammen mit der Funkstation etwas zustande bringen konnte, um Terra zu erreichen. Falls die Fremden den Funk weiterhin mit ihren Signalen stören sollten, gab es bestimmt irgendwo eine Space-Jet oder Fähre, mit der sie sich in den Weltraum absetzen und über die nächste Relaisstation einen Hilferuf ausschicken konnten. Es gab eine Menge Möglichkeiten. Mit dem Störsignal hatte überhaupt alles angefangen. Plötzlich hatte ein grauenhaftes, schrilles Stakkato in der Luft gelegen, das die Terraner und Lafayetter gleichermaßen fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Sie waren vor Schmerzen nicht mehr in der Lage gewesen, mehr als einen vernünftigen Gedanken zu fassen und sich auf die einfachsten Dinge zu konzentrieren. Joseph war der einzige Immune gewesen, möglicherweise aufgrund des implantierten Chips in seinem Kopf. Pepe hatte zunächst ebenfalls unter den Auswirkungen des grauenhaften Signals gelitten, jedoch nicht so stark wie die anderen, und er hatte sich allmählich daran gewöhnt. Inzwischen schien er gar nichts mehr zu spüren, und Joseph wertete das als positives Zeichen. Als BASIS-Veteran dachte er über Lafayette hinaus, an das, was die Fremden mit anderen Planeten anstellen mochten, wenn er als einziger Immuner und einigermaßen Herr seiner Sinne es nicht rechtzeitig schaffte, die Galaktiker zu warnen. Daran dachte er gar nicht vorrangig. Er klammerte sich vor allem deswegen so zäh an jedes Fünkchen Hoffnung, weil er es nicht ertragen konnte, Lafayette leiden zu sehen. Und sterben ...
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»Trink noch einen, Pepe!« forderte der Cajun diesmal den Jungen auf und stieß leicht gegen seinen Becher. »Nicht zuviel, Jop, sonst werde ich noch betrunken!« lachte Pepe. Sein Adamsapfel hüpfte wie eine Murmel an seinem Hals auf und ab; seine langen, schlaksigen Arme und Beine zappelten vor Vergnügen. In den Bechern befand sich ein würziger Kräutertee aus frisch gezupften Blättern, garantiert sehr gesund und - für beide äußerst bedauerlich - absolut alkoholfrei. Glücklicherweise waren Josephs Rucksack und ein Teil von Pepes Ausrüstung unbeschadet geblieben, so hatten sie wenigstens das Notwendigste zum Überleben dabei - und die Geige. Ohne den Trost der Musik wären sie beide bestimmt nicht so schnell vorangekommen. Joseph fand es auch jetzt an der Zeit, ein Liedchen zum besten zu geben, ein improvisiertes Medley. Es klang in jedem Fall harmonisch, mitreißend und fröhlich. Pepe sang aus Leibeskräften mit. »Ist das nicht etwas gefährlich gewesen?« meinte Pepe hinterher harmlos. Voll dämlich, dachte Joseph Broussard. Pepe hatte das seltene Talent, immer hinterher festzustellen, daß eine gewisse Handlung nicht unbedingt positive Folgen nach sich zog, und damit jede sorglose Stimmung zu versauen. Obwohl Joseph sich fest vorgenommen hatte, Tag und Nacht aufmerksam zu sein und den Fremden keinerlei Hinweis darauf zu geben, daß sie noch lebten, vergaß er alles um sich herum, sobald er die Geige in der Hand hatte. »Neujahr ist Neujahr«, fügte er brummig hinzu. Abgesehen davon hatten sie seit ihrer Flucht keine Stachler mehr gesehen, nicht einmal mehr in weiter Ferne. Und das seit 3500 Kilometern. Den Begriff Stachler hatte Joseph geprägt, aufgrund der -113-
merkwürdigen stachligen Auswüchse auf dem großen Raumschiff der Fremden, das in 400 Kilometern Entfernung von Camp Mirage gelandet war und die furchtbare Strahlung ausgeschickt hatte. Dort hatte die letzte Vernichtungsaktion durch die Stachler stattgefunden, und von dort aus waren die beiden Überlebenden und der Roboter nach Swamp City aufgebrochen. Joseph Broussard hatte anfangs munter behauptet, daß von Swamp City aus sicherlich schon ein Suchtrupp zu ihnen unterwegs sei - vor allem angesichts der gewaltigen Entfernung, die sie zurückzulegen hatten. Diese Zuversicht hatte sich jedoch nach und nach gelegt, als sie den undurchdringlichsten Teil des Dschungels und die schmale, moosig-sumpfige Landbrücke, welche die beiden Kontinente Bajou und Nordika miteinander verband, hinter sich gelassen hatten. Derzeit befanden sie sich in einem etwas offeneren Gelände, das größtenteils von fast einem Meter tiefen Wasser überflutet war. Momentan waren die Stachler wohl nicht auf der Suche nach ihnen. Gleichwohl lag in der Luft stets ein eigenartiges Säuseln und Wispern. Pepe konnte es immer noch wahrnehmen, auch wenn es ihn nicht mehr beeinflußte. Joseph gegenüber, der nach wie vor überhaupt nichts davon spüren konnte, erzählte er, daß die Wahrnehmung nun ganz anders sei. Er bekomme keine rasenden Kopfschmerzen davon, verspüre nicht einmal mehr einen schwachen Druck. Die furchtbare Störstrahlung sei auf ein seltsames Summen herabgesunken, das ständig in der Luft um ihn herum sei - aber nicht weiter von Bedeutung. Er hatte nicht mehr das Gefühl, von innen nach außen gestülpt zu werden. Das bedeutete, daß die Fremden immer noch auf Lafayette waren, jedoch im Moment keine Beeinflussung versuchten. Was aber taten sie dann? Auch die eigenen Leute zeigten sich nach wie vor nicht, und hier stellte sich allmählich dieselbe Frage: -114-
Was taten sie? Keinesfalls hatten sie gegen die Stachler gekämpft, sonst wäre auch das Summen verstummt. Vielleicht litten sie unter den Nachwirkungen und brauchten Zeit, um sich zu erholen. Anfangs, gleich zu Beginn der Flucht, hatte der BASIS-Veteran darauf vertraut, daß nur Camp Mirage und das Umland im Umkreis von mehreren hundert Kilometern vom Landeplatz des Stachelschiffes aus betroffen gewesen waren. Swamp City, so weit entfernt, war davon unbehelligt geblieben. Doch als die Tage und dann Wochen vergingen und sich nichts zeigte, kein vertrauter Gleiter, kein Suchtrupp, war ihm bewußt geworden, daß auch Lafayettes Hauptstadt dem Einfluß erlegen sein mußte. Joseph mußte gezwungenermaßen einsehen, daß sie tatsächlich auf sich selbst angewiesen waren - und gegen die Zeit anrennen mußten. Es fiel ihm nicht leicht, sich damit abzufinden, denn er war sich klar darüber, daß er mit dieser Aufgabe überfordert war. Seit seinem Unfall hatte er keine Verantwortung mehr übernehmen müssen, er wäre dazu gar nicht in der Lage gewesen. Dank Anja Shrivers Unterstützung hatte er in den letzten Jahren gelernt, sich einigermaßen in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Trotzdem verlor er sich häufig in Tagträumen oder verwechselte Realität mit Illusion, und niemand hatte sich daran gestört. Andererseits: Pepe hatte einst von ganz allein zum Camp Mirage gefunden, obwohl er geistig noch etwas schwächer war als Joseph. Dann sollte der alte Haudegen eigentlich dazu in der Lage sein, sich mit dem Jungen nach Swamp City durchzuschlagen. Es half ihm, wenn er sich an die - wenngleich auch teilweise verschütteten und verwirrten - Erinnerungen an die Große Leere, die Abruse und das Arresum klammerte. Mit seinen Beausoleils, von denen so viele auf tragische Weise umgekommen waren, hatte er wahre Heldentaten vollbracht. -115-
Obwohl er nur noch ein geistiges Wrack war, hatte er nicht alles vergessen, und er war nicht völlig verblödet. Einfältig und kindlich, ein bißchen unbeholfen, ja. Doch auch mit solchen Voraussetzungen blieb Joseph in seinem Herzen der Held, der er einst gewesen war. Seit seiner Rückkehr nach Lafayette hatte er sich nur noch erinnern dürfen, davon erzählen und träumen. Nun konnte er beweisen, daß er immer noch etwas leisten konnte. Glücklicherweise hatten sie noch die fast schrottreifen Antigravgürtel bei sich, die meist halbwegs funktionierten und die Wegezeit extrem verkürzten. Beide besaßen sie zudem eine gute körperliche Verfassung und fanden sich mühelos in den Sümpfen zurecht. Sie verloren weder die Orientierung noch fielen sie in tückische Löcher; auch für die Ernährung wußten sie zu sorgen. Fische gab es in jedem Tümpel; sie fingen die Tiere mit Angelhaken oder kleinen, selbst angefertigten Speeren; dazu gab es Pilze, Kräuter und genießbare Pflanzen und Früchte. Auf Lafayette wuchsen einem die Früchte zwar nicht gerade in den Mund, aber Joseph und Pepe waren dort geboren. Sie waren nicht nur daran gewöhnt, es machte ihnen auch Freude, so daß es ihnen nicht weiter auffiel, daß sie außer den Antigravs keine technische Unterstützung mehr hatten - vermutlich hätten sie diese gar nicht benutzt. Bunny war zudem da, der stets seinen seltsamen Kommentar abzugeben wußte. Ansonsten erschöpfte sich seine Unterstützung in gelegentlichen Hinweisen über Wind und Wetter, das Vorankommen und die zurückgelegten Kilometer. Pepe und Joseph verzichteten auf weitere Hilfestellungen; einerseits, weil sie sich selbst zurechtfinden wollten, andererseits, um Bunny nicht zu überfordern. Er war schließlich schon ein sehr alter Roboter, und sie waren an ihn gewöhnt - sie wollten diesen treuen Weggefährten nicht verlieren. Sonst gab es nichts und niemanden mehr. -116-
Außer der Hoffnung, daß in Swamp City doch Hilfe zu finden war. Joseph betete manchmal darum, daß die Stachler dort nicht alles dem Erdboden gleichgemacht hatten. Er sprach mit Pepe nicht darüber, aber seit drei Tagen dachte er darüber nach, was sie tun sollten, wenn es auch dort niemanden mehr gab. Wenn er an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, brach er regelmäßig ab. Je nach Tageszeit schaltete er dann die Antigravs ab und ging zu Fuß, oder er fischte, oder er machte Musik. Wenn es Nacht war und Pepe schlief, konnte er nichts von alledem tun. Deswegen ließ er nach dem Abendessen von vornherein alle Überlegungen sein. »Pack ein!« sagte er laut. »Wir müssen weiter.«
4. Erste Begegnung »Du, Jop, ist es noch weit nach Swamp City?« fragte Pepe am Nachmittag, nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten und der Fisch am Spieß über dem Feuer brutzelte. Selbst mit Antigravs wäre es verrückt gewesen, sich nachts durch den Dschungel zu bewegen. Da sie ohnehin nur noch zwei Stunden Tageslicht hatten, ließ Joseph wegen der unerträglichen Hitze vorzeitig das Nachtlager aufschlagen. Die Hitze erreichte an diesem Tag ihren Höhepunkt, selbst nach Sonnenuntergang würde es vermutlich nicht abkühlen. Es war vollkommen windstill; die beiden Menschen konnten in der schwer dampfenden Luft kaum atmen. Die Kleidung war ständig klatschnaß vom Schweiß und den häufigen heftigen -117-
Minuten-Regenschauern. Joseph wollte sich lieber nicht ausmalen, welchen Eindruck er jetzt wohl bei einer hübschen Frau in Swamp City hinterlassen mochte, wenn er derart abgerissen und stinkend aus dem Dschungel angestolpert kam und sie um eine Verabredung bat. Falls er nicht schon ohne Gegenwind drei Kilometer vor Betreten der Stadt wegen Geruchsbelästigung verhaftet wurde. Viele Tag- und selbst Nachtgeräusche gab es hier nicht; das mochte daran liegen, daß sie sich bereits in der Randzone der grünen Hölle befanden. Hier war die Deckung nicht mehr so dicht, auch der bisher undurchdringliche, hohe grüne Blätterhimmel gab immer öfter den Weg zum wahren Himmel frei. Hier waren eher Vögel, Schlangen und Insekten statt affenähnlichen Baumbewohnern und Gleitnagern unterwegs, und zumeist nur untertags. Die vierbeinigen nächtlichen Jäger, bepelzt oder Reptil, verfolgten die Beute lautlos, um sie nicht zu verscheuchen und ihr zu viel Vorsprung zu ermöglichen. Die zweite Möglichkeit zog Joseph nicht in Betracht. Der Dschungel wies keinerlei Verwüstungen durch Strahlenschüsse der fliegenden Eier oder Flundern auf. Die Stachler waren sicher nicht hier gewesen. Hier nahm das Leben seinen gewohnten friedlichen Fortgang, die Tiere wußten nichts von der drohenden Gefahr Joseph beneidete sie manchmal darum. Obwohl der Ausblick in der Randzone schon sehr viel weiter reichte als im dichten Dschungel, lauerten hier nicht weniger Gefahren, die einen völlig überraschten. Die Sumpflöcher nahmen ab, dafür gab es nahezu kein Land mehr, abgesehen von schmalen Dammstreifen, auf denen kaum Platz zum Gehen, geschweige denn für ein Lager war. Das Wasser war glasklar, aber an vielen Stellen von Teichpflanzen überwuchert, unter denen sich große Raubfische und sehr gefährliche große Reptilien verbargen. Die Wasserschlangen waren ebensowenig zu unterschätzen wie die -118-
Wasserskorpione, alle hochgiftig und ungeheuer schnell. Auch bei den Pflanzen hieß es jetzt, übervorsichtig zu sein und am besten keiner zu nahe zu kommen. Diese baumreiche, im gelegentlich auftreffenden Sonnenlicht funkelnde und flirrende Wasserlandschaft war von einer faszinierenden, morbiden Schönheit, die für die beiden Menschen alles bedeutete. Sie war Lafayette, ihre Heimat.
Joseph hatte unterwegs leise gehofft, auf nomadisierende Jäger zu treffen, die die absolute Freiheit und Unabhängigkeit ebenso sehr liebten wie das Leben in der Natur ohne technische Hilfsmittel und die Nähe anderer Menschen außer der eigenen Familie. Es war natürlich sehr unwahrscheinlich, aber es hätte wenigstens einen kleinen Anlaß zur Freude gegeben, zur Hoffnung, den Stachlern nicht hilflos ausgeliefert zu sein - und nicht allein zu sein. Die Sehnsucht erfüllte sich nicht. Seit gut drei Wochen waren die beiden nun unterwegs; je näher sie Swamp City kamen, desto unruhiger wurde Joseph, desto drängender sein Wunsch. Er verstand Pepes Frage, die er in den letzten Tagen immer häufiger stellte. Pepe hatte kein Gefühl für Entfernungen, er konnte sich nur etwas unter ›nah‹ oder ›weit‹ vorstellen. Kilometerangaben stand er hilflos gegenüber. Deshalb verließ er sich lieber auf seinen väterlichen Freund, der in diesen Dingen ziemlich gut Bescheid wußte und ihm stets Auskunft geben konnte, wie viele Tage sie nun unterwegs waren und welche Entfernung sie in dieser Zeit zurückgelegt hatten. Die Frage, wie weit es noch sei, gehörte schon zur Standard-
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Prozedur, sobald das Essen garte und sie ein paar Minuten stiller Erholung hatten. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, antwortete Joseph Broussard wahrheitsgetreu. »Vielleicht noch fünfzig Kilometer oder so. Ich kann es dir nicht genau sagen, denn Bunny ist irgendwann durcheinandergekommen.« Er erzählte dem Jungen nicht, daß der Roboter schon lange vergeblich versuchte, Swamp City anzufunken. Joseph gegenüber hatte Bunny versichert, daß mit seinem Funksystem alles in Ordnung sei. Dennoch erhielten sie keine Antwort. Die Hauptstadt von Lafayette mit ihren rund 70.000 Einwohnern schwieg. Joseph hielt zäh an der Überzeugung fest, daß dies an der Störstrahlung der Stachler lag - oder bei dem alten Roboter war noch einiges mehr als nur ein paar Schrauben locker. Bunny, der daraufhin mehrere Möglichkeiten mit mathematischer Wahrscheinlichkeitsberechnung herunterrattern wollte, brachte er unwirsch zum Schweigen. Und er verpflichtete ihn, nichts darüber zu Pepe zu sagen. Pepe nickte und grübelte einige Zeit still vor sich hin. Dabei bildeten sich auf seiner Stirn kritische Falten. Er fuhr sich mit der Zunge mehrmals hektisch über die Lippen. »Woran denkst du?« fragte Joseph schließlich behutsam. Er kannte die Stimmung an Pepe und versuchte, ihn herauszureißen. Beim ersten Mal war Pepe drei Tage in Schweigen verfallen, er war in sich gekehrt gewesen, sein Blick verschleiert. Joseph hatte ihn wie ein Kleinkind, das die ersten Schritte versucht, an die Hand nehmen und ihn sogar füttern müssen. Es war nicht einfach gewesen, den Jungen wieder zurückzuholen wo auch immer sein Geist sich befunden haben mochte. Danach hatte er zum ersten Mal eine kurze Andeutung über seine Vergangenheit gemacht, aber so wirr und unzusammenhängend, daß Joseph sich keinen Reim darauf machen konnte. -120-
Pepes Augen klärten sich langsam, der starre Blick wich, und seine angestrengte Miene entspannte sich. »Wie bitte?« gab er anstelle einer Antwort zurück. »Ich wollte nur wissen, woran du gerade denkst«, erläuterte Joseph mit möglichst harmlosem Tonfall. Natürlich war es im Grunde nicht wichtig, woran Pepe dachte, aber er hätte so gern einmal etwas aus der Vergangenheit des Jungen erfahren. »Ach, ich weiß nicht genau...«, antwortete Pepe. Er fuhr sich verwirrt durch die verfilzte schwarze Wolle auf seinem Kopf, die man nur unter Vorbehalt als Haare bezeichnen konnte. »Was habe ich denn gemacht?« »Nichts. Ich habe nur gesehen, daß du nachgedacht hast.« »Lange?« »Nein. Ich war besorgt. Du hast so ernst dreingeschaut, und da wollte ich wissen, ob du etwas befürchtest, woran ich bisher nicht gedacht habe.« Joseph mochte einfältig sein, aber sein Feingefühl anderen Menschen gegenüber, ihren Gefühlen und ihrer Verletzlichkeit, war ungebrochen. Pepe lächelte plötzlich breit und zeigte dabei seine schneeweißen, allerdings etwas schief stehenden großen Zähne. »Aber Jop, nun machst du dich über mich lustig.« Joseph schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach er aufrichtig. »Du weißt, daß ich mich nie über dich lustig mache.« »Aber du weißt doch genau, daß du viel besser denken kannst als ich.« In Pepes dunklen Augen lag bedingungsloses Vertrauen, als er seinen väterlichen Freund ansah. »Pepe, du solltest mehr Selbstvertrauen haben und dich nicht immer dümmer machen, als du bist«, sagte Joseph streng. Der Junge hob die mageren Schultern. »Das haben die anderen immer gesagt«, sagte er. Der grauhaarige Cajun horchte auf. »Welche anderen? Doch -121-
nicht im Camp?« »Nein«, sagte Pepe schnell und beinahe entrüstet, »von denen doch keiner! Da waren alle immer sehr nett, nicht nur du oder Anja, und deshalb bin ich geblieben, und weil Fran immer so gute Sachen gekocht hat. Sowas hab' ich bei den anderen nie bekommen.« Joseph legte eine Hand auf Pepes Arm. »Pepe«, sagte er sanft, »Pepe, dann sag es mir doch. Oder schämst du dich?« »Schämen?« Erneut blitzte Zorn in Pepes Augen auf, und sein Gesicht verdunkelte sich. »Nein. Aber das ist es nicht, verstehst du?« »Nicht so ganz«, gestand Joseph zögernd. »Du hast einmal zu mir gesagt, daß ich dir mehr ein Vater wäre als dein richtiger« »Na klar! Und darüber bin ich sehr froh!« Pepe schüttelte Josephs Arm ab und sprang heftig auf. Dabei stolperte er über das Feuer, warf den heißen Fischspieß um und fiel heftig mit den langen dünnen Armen rudernd der Länge nach hin. Gegen seinen Willen mußte Joseph lachen. Pepes unfreiwillige Komik reizte stets aufs neue seine ungebrochene natürliche Heiterkeit. Er stand auf, um Pepe zu helfen. Da geschah es.
Plötzlich lag ein Donnern und Brausen in der Luft, das immer lauter wurde, je näher es kam. Die beiden Menschen verharrten in ihrer Stellung, wie sie gerade waren, und starrten mit offenem Mund auf das, was sich vor ihren Augen abspielte. Der Lärm war inzwischen ohrenbetäubend. Der ganze Himmel schien in Flammen aufgegangen zu sein, und ein gigantischer Feuerball mit einem feurigen Schweif schoß wie ein Komet über ihre Köpfe hinweg; er schien schneller zu werden. Die Baumwipfel begannen zu vertrocknen und zu schmelzen, -122-
dann gingen sie in explosionsartigen Feuerwolken hoch. Wenige heftig pochende Herzschläge später zeigten ein lärmendes Bersten und Krachen sowie eine riesige Feuerlohe mit einer hochquellenden schwarzen Wolke an, daß der Komet mehrere Kilometer entfernt im Sumpfland eingeschlagen war. Pepe behauptete später, daß der Boden gebebt hatte. Joseph war viel zu aufgeregt gewesen, um sich daran noch erinnern zu können. Um die beiden Lafayetter herum war die Hölle ausgebrochen. Der Brand setzte sich von der Absturzstelle fort. Plötzlich wimmelte es von Tieren, die vor dem Feuertod zu flüchten versuchten. Joseph und Pepe blieb nichts anderes übrig, als den panischen Tieren auszuweichen, so gut es ging; vom Feuer waren sie nicht unmittelbar bedroht. »Bunny, was war das?« schrie der Cajun über das Angstgeschrei und das Rauschen des entfernten Feuerwinds hinweg. Der Roboter gab ein krächzendes Geräusch von sich, bevor er klar verständlich hervorbrachte, daß es sich um ein Raumschiff gehandelt hatte. Höchstwahrscheinlich um einen großen Kreuzer der Stachler, denn die Ortung ließ sich mit nichts vergleichen, was Bunny in seiner Datenbank fand. »Aber da ist noch etwas von Bedeutung«, fügte der kleine Roboter hinzu. »Vor dem Aufschlag wurde eine Vielzahl von kleinen Einheiten abgesprengt.« »Rettungskapseln«, flüsterte Joseph. »Los, da müssen wir hin!« »Bist du verrückt?« rief Pepe. »Es brennt doch überall!« »Nicht ganz«, mischte Bunny sich unaufgefordert ein. »An einigen Stellen ist das Feuer bereits wieder erloschen. Da kommen wir mit den Antigravs gut durch und sind rechtzeitig dort.« »Ja, aber ...«, begann Pepe von neuem. »Versteh doch, Junge«, unterbrach Joseph aufgeregt, »diese -123-
Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen! Vielleicht bekommen wir endlich einen der Stachler zu Gesicht!« »Und dann?« »Ich weiß nicht. Schwing keine Reden, dazu haben wir später noch genug Zeit. Los, komm schon!«
Bis sie die Absturzstelle erreicht hatten, war der größte Brand nach einem kurzen abendlichen Regenschauer schon erloschen, an einigen Stellen schwelte es noch mühsam. Das havarierte Schiff hatte eine rauchende und verkohlte Schneise des Todes in die Sümpfe geschlagen. Joseph konnte in der Ferne die rauchenden und glühenden Bruchstücke des Kreuzers noch gut erkennen. Das Schiff hatte es förmlich in tausend Teile zerrissen. Selbst eine unbekannte Lebensform konnte diesen Absturz nicht überlebt haben. Bunny ortete ununterbrochen und spurtete ein paarmal mit Luftsprüngen los, um dann ebenso unerwartet wieder zu verharren. Pepe, der die ersten beiden Male losgerannt war, wartete schließlich geduldig ab, bis der Roboter Auskunft gab, daß auch diese geortete Rettungskapsel so schnell im Sumpf versunken war, daß die sich darin befindlichen Stachler keine Chance hatten, sich zu retten. Josephs Gesicht war dunkel vor Wut. Da waren sie den Fremden endlich so nahe, ihr Geheimnis zu lüften, und nun versanken sie praktisch vor ihren Augen in den schlammigen Abgründen der Sümpfe! Bunny kam bald kaum mehr mit dem Zählen nach und der Bestätigung, daß auch diese Wesen der Feuerhölle des Absturzes entgangen waren, nur um im Sumpf einen grausamen Erstickungstod zu sterben. »Können wir nichts tun?« fragte Pepe. Joseph starrte ihn beinahe wütend an. Der Junge hatte so geklungen, als ob er -124-
Mitleid mit diesen Fremden hatte, die alle seine Freunde auf dem Gewissen hatten. »Nein, gar nichts«, antwortete er schroff und nickte Bunny auffordernd zu. »Sag du's ihm.« »Bestätige«, schnarrte der Roboter nur. »Aber das ist doch schrecklich ...«, sagte Pepe leise und fast schüchtern. Er fürchtete sich vor dem zornigen Funkeln in den Augen seines Freundes, weil er ihn in solchen Momenten nicht verstehen konnte. Joseph stutzte und runzelte dann die Stirn. »Du hast recht«, murmelte er. »Tut mir leid, aber irgendwie finde ich... geschieht es denen ganz recht, nach allem, was sie uns angetan haben. Und diese da sind anscheinend zur Verstärkung gedacht gewesen. Wer weiß, was auf uns zugekommen wäre, wenn sie überlebt hätten.« »Korrektur«, mischte Bunny sich ein. »Orte eine Kapsel, die auf Land aufgeschlagen ist, allerdings schwer beschädigt. Orte Leben.« Joseph vergaß auf der Stelle Zorn und Haßgefühle und lief los, dem hoppelnden Roboter hinterher. Tatsächlich war auf einer kleinen Landinsel eine eiförmige Kapsel aus unbekanntem Material gelandet, allerdings schwer beschädigt, mit mehreren Bruchstellen und teilweise verkohlt. Zwei Meter davon entfernt kroch mühsam und offensichtlich schwer verletzt ein Stachler von den Trümmern weg. Joseph und Pepe blieben in sicherer Entfernung, getrennt durch das Wasser, stehen und starrten das fremde Wesen an. Es sah aus wie ein etwa ein Meter fünfzig großer Käfer mit sechs Extremitäten, davon zwei Armpaaren, von denen das obere kürzer und schwächer war als das untere. Die Arme waren mit drei fingerähnlichen hornigen Greifwerkzeugen ausgestattet. Das lange und sehr kräftige Beinpaar wies deutlich darauf hin, daß das Käferwesen normalerweise aufrecht ging und die Armpaare rein als Greifwerkzeuge gedacht waren. Den Kopf mit -125-
den seitlich ausladenden, großen rötlichen Facettenaugen und den vorgewölbten, beängstigend kräftigen und wie Krallen gebogenen Mundwerkzeugen zierte so etwas wie eine Krone mit zwölf knöchernen Zacken. Der Chitinpanzer schillerte stahlblau, die Rückenpartie zierte ein auffallendes, aber natürlich aussehendes Muster. In aufrechtem und gesundem Zustand mochte dieser Käferartige mit einer Waffe in der Hand sicherlich martialisch wirken, aber jetzt schleppte er sich mühsam auf dem Bauch über den Boden dahin. Seine Arme und Beine zitterten vor Anstrengung, und von seinem Rückenpanzer quoll grüner Schaum aus vielen tiefen Rissen. Joseph und Pepe standen einige Zeit still, auch Bunny rührte sich nicht. Keiner von ihnen wußte so recht, was er tun sollte. Pepe hielt es schließlich nicht mehr aus. Er stieß Joseph leicht in die Seite und wisperte laut: »Was sollen wir denn jetzt machen?« Bevor Joseph antworten konnte, ruckte der Körper des Käferartigen hoch, und er drehte den Kopf zu den Gefährten. Anscheinend hatte er ihre Anwesenheit bis jetzt nicht bemerkt und war erst durch Pepes Stimme aufmerksam geworden. Joseph erschauerte unter dem rotfunkelnden, wilden Blick aus den fremdartigen, pupillenlosen Facettenaugen. Mit ungeheurer Willenskraft richtete der Fremde sich auf, stellte sich schwankend auf die Beine und hob die Arme drohend, wie es Joseph vorkam. Mit einer schrillen, nichtmenschlichen Stimme stieß er einen Schwall unverständlicher Worte hervor und streckte das obere Armpaar zugleich abwehrend wie drohend gegen die Lafayetter aus, während das untere Armpaar an den Gürteln, die unterschiedlich um den Brustbereich des Körpers geschlungen waren, herumsuchte. Joseph hob die Arme und zeigte dem Käferartigen die leeren Handflächen. »Wir sind friedlich«, sagte er langsam und deutlich. Natürlich konnte der Fremde seine Sprache nicht verstehen, -126-
aber vielleicht begriff er die Geste. Pepe machte es Joseph nach, während Bunnys drei Stielaugen sich so lang herausstreckten, daß man schon befürchten konnte, sie würden jeden Moment abreißen. Joseph Broussard wagte einen Schritt nach vorn, hielt weiterhin beschwichtigend die Hände hoch und wiederholte: »Wir sind friedlich. Wir wollen dir helfen.« Was rede ich da? dachte er erstaunt. Ich diesem Ungeheuer helfen? Dessen Angehörige meine Freunde und Gefährten wie Vieh zusammengetrieben und auf grausamste Weise umgebracht haben? Verrecken soll er doch, wie seine Artgenossen auch, und das ist noch viel zu gut. Trotzdem - dieses hilflose, schwache Geschöpf erregte sein Mitleid, wie es sich sterbend zu einer letzten würdevollen Haltung aufraffte und seinem »Feind« noch Schmähungen entgegenschleuderte. Daß das keine Freundschaftsbezeigungen waren, daran zweifelte Joseph keine Sekunde. Obwohl er voller Haß gegen die »Stachler« war, so waren sie bisher eine anonyme Masse mit tödlichen Waffen gewesen. Joseph konnte nicht einfach dem Sterben eines anderen zusehen, sein Mitleid überwog den Haß. »Soll ich hingehen?« schlug Pepe vor. Joseph packte ihn sofort am Arm, um ihn zu hindern. Der Junge zappelte vor Nervosität und bekam fast einen Schluckauf. Brenzlige Situationen konnte er kaum ruhig durchstehen, deshalb hielt Joseph ihn vorsichtshalber fest. »Auf keinen Fall! Er könnte das als Angriff werten, und wir wissen nicht, ob er Waffen besitzt!« Wieder wandte er sich dem Käferartigen mit beschwichtigender Geste zu. »Bitte«, sagte er mit dem freundlichsten und sanftesten Tonfall, den er fertigbrachte. Wie aber sollte der Fremde diesen Klang verstehen können? Joseph hoffte, durch die ruhige Sprache, die gleichmäßige -127-
Tonlage, seine entspannte Körperhaltung. Dabei war er innerlich keineswegs so ruhig, seine Gefühle waren durcheinander und gleichzeitig von Angst, Haß und Mitleid erfüllt. In diesem Moment hatte der Käferartige an seinen Gürteln anscheinend gefunden, was er gesucht hatte. Er stieß erneut einen schrillen Wortschwall hervor, der sehr unangenehm in den menschlichen Ohren nachklang, und richtete mit einem der beiden unteren Arme plötzlich einen etwa dreißig Zentimeter langen Stab auf die Freunde. Joseph stieß einen kurzen Fluch aus, riß Pepe mit sich und sprang eilig hinter einen mageren Busch, der kaum Deckung bot. Ein lauter Platscher zeigte an, daß Bunny wieder einmal auf Tauchstation gegangen war. Und ich habe nicht einmal eine Waffe! dachte der BASISVeteran verzweifelt. Der kleine Handstrahler, der sich anfangs noch in seinem Gepäck befunden hatte, war bei einer Kletteraktion über ein Moorloch verlorengegangen. Er kann uns abknallen wie auf dem Schießstand. Vielleicht will er uns mit in den Tod nehmen, als verspätete Rache oder Pflichterfüllung. Was konnte Joseph tun? Nichts. Gleich darauf hielt der Käferartige sich den Stab an den Kopf, rief etwas in seiner Sprache und brach zuckend zusammen. Er fiel auf den Rücken, zappelte noch ein paar Sekunden mit den Extremitäten und lag dann still.
Warum, fragte sich Joseph Broussard später, warum hat er das getan? Auch wenn keine Verständigung möglich warf muß er doch gemerkt haben, daß von uns keine Gefahr drohte. Und er war offensichtlich ohnehin zum Tode verurteilt oder zumindest so schwer verletzt, daß er ohne die Hilfe seiner Artgenossen nicht durchgekommen wäre. Warum also dieser sinnlose Selbstmord? -128-
»Denkst du, er hatte zuviel Angst vor uns?« erkundigte sich Pepe. Joseph hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht. Es muß einen anderen Grund haben, warum er das getan hat.« Bunny hatte den Körper untersucht und eindeutig den Tod festgestellt. Gleichzeitig entdeckte er auch etwas sehr Eigenartiges. Der Leichnam veränderte sich innerlich; seltsame chemische Prozesse liefen ab, die den Körper anscheinend konservierten und den Verwesungsprozeß verhinderten. Möglicherweise hing dieser Vorgang mit der Stabwaffe zusammen, die der Fremde für den Selbstmord verwendet hatte. Unmittelbar nachdem der Käferartige die Waffe gebraucht und sterbend aus den Greifwerkzeugen fallen gelassen hatte, war sie explodiert. Pepe sammelte die verstreuten Einzelteile auf, aber Bunny sah sich nicht in der Lage, daraus etwas Brauchbares zusammenzubasteln und die Funktion herauszufinden. Die übrigen Geräte, die sie an den Gürteln des »Stachlers« fanden, entzogen sich ebenso jeglicher Kenntnis. Die meisten waren wohl Waffen, aber keiner der drei brachte eine zum Funktionieren. Sie ließen sie liegen, ebenso den konservierten Leichnam des Käferartigen. Sie konnten zu einem besser geeigneten, späteren Zeitpunkt zurückkommen; jetzt war es sinnlos, sich mit zusätzlichem Gewicht zu belasten. Wozu hatte der Fremde Selbstmord begangen, und wozu wollte er die Verwesung seines Körpers verhindern? War er von so großer Bedeutung gewesen, daß er unbedingt für die Nachwelt erhalten bleiben mußte? Vielleicht war er der Kommandant des havarierten Raumschiffs gewesen. Er hatte deshalb das Schiff nicht mehr rechtzeitig unbeschadet verlassen können und war schwer verletzt hier gelandet. »Was sollen wir jetzt tun?« fuhr Pepe fort. -129-
»Schlage vor, nach weiteren Überlebenden zu suchen«, schnarrte Bunny. »Ernste Sache.« Ja, dachte Joseph Broussard jr., BASIS-Veteran und ehemaliger Anführer der Beausoleils. Ja, das ist eine verdammt ernste Sache, denn ich verstehe in der Tat gar nichts.
5. Zweite Begegnung Wenn nur endlich jemand gekommen wäre, der genau gewußt hätte, was nun zu tun sei und alle erforderlichen technischen Hilfsmittel mitbrachte. Joseph war recht schockiert über diese erste Begegnung mit den unheimlichen Fremden, die mit ihren fliegenden Eiern und Flundern Camp Mirage zerstört hatten. Er zweifelte keinen Moment daran, daß die Käferartigen die Aggressoren waren, die Lafayette überfallen hatten. Die jetzt Havarierten waren offenbar zur Verstärkung angefordert worden. Aber er wußte immer noch nicht, weshalb. Und leider waren diese Wesen für ihn tatsächlich so fremd, daß er sich auch mit noch so viel Phantasie nicht vorstellen konnte, welche Beweggründe sie hatten - und weshalb dieser eine Überlebende Selbstmord begangen hatte und seinen Leichnam für die Nachwelt konservierte. Die ganze Situation war schaurig und makaber, doch sie hatten keine andere Wahl. Bunnys Antwort auf Pepes Frage mußte unweigerlich lauten, nach weiteren Überlebenden zu suchen und den Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Es mußte einfach einen für Menschen verständlichen Grund -130-
für diesen Massenmord geben! Was ihn natürlich deswegen keineswegs moralisch rechtfertigen oder entschuldigen würde. Aber Joseph glaubte, leichter damit fertig werden zu können, wenn er wenigstens einen Sinn darin entdecken und verstehen könnte. Sie suchten noch eine Weile das Sumpfland ab; eine halbe Stunde Tageslicht blieb ihnen. Vor der Dunkelheit mußten sie auf alle Fälle zu ihrem Lager zurückgekehrt sein, das sie in der Hast noch nicht abgebaut hatten. Als Bunny nach einer Viertelstunde keine Ortung hatte, aktivierten sie die Antigravs und flogen zum Lager. Zum Fischen war es jetzt zu spät, der ursprünglich als Abendessen vorgesehene Fisch, der durch Pepes Ungeschicklichkeit in die glühende Kohle gefallen war, inzwischen ungenießbar. Sie mußten sich an diesem Abend mit ein paar Wildbeeren und Baumpilzen begnügen, dazu einem heißen Becher Kräutertee. Außerhalb des hellen Feuerscheins herrschte längst tiefste Dunkelheit; nur ab und zu konnte man die unstete gelb blinkende Spur der Leuchtkäfer auf ihrem Weg durch die Büsche verfolgen. Das war auch das einzige Anzeichen von Leben. Nach Ausbruch des Feuers waren fast alle Tiere dieser Gegend geflohen. Sie würden sich wahrscheinlich erst in ein paar Tagen zurückwagen. Joseph und Pepe verbrachten die stillste Nacht seit ihrer Wanderschaft. Beide fühlten sich an die furchtbare Stille nach dem Tod ihrer Gefährten erinnert. Unwillkürlich rückten sie näher zusammen, nur um Leben zu spüren, und schauten stumm in das Flackern des Feuers. Zu sagen gab es an diesem Abend nichts.
Joseph weckte Pepe früh am nächsten Morgen, als die Sonne gerade aufging. Der ganze Wald dampfte unter der sich rasch -131-
entwickelnden Tageshitze und schüttelte die letzten Regentropfen der vergangenen Nacht ab. Über dem Wasser lag weißer Dunst und verschleierte die klare Sicht, so daß die schmalen Landbrücken und Inselchen kaum mehr sichtbar waren. Das diffuse Licht zeichnete ein weiches Bild von den im Wasser stehenden mächtigen Baumstämmen mit ihren silbriggrünen feinen Linien, die sich über die fast glatte schwarze Rinde wie Adern zogen. Tautropfen auf Blättern blitzten im Sonnenlicht wie Diamanten auf, bevor sie funkelnd herabfielen und sich im Wasser verloren. Orchideenartige, blattlose Blüten, die sich mit kräftigen Luftwurzeln an den moosüberwucherten Lianen festklammerten, öffneten sich dem neuen Tag; manche mit süßem Duft, andere mit leuchtenden Farben - eine manchmal tödlich klebrige Falle für Insekten. Ein rotblauer Quarr verkündete laut mit seinen typischen Lauten, die ihm den Namen eingebracht hatten, daß er zurückgekehrt sei an seinen Platz, an den nach Erlöschen des Feuers erneut der Alltag eingekehrt war. Die Quarren waren immer die ersten, die sich irgendwo breitmachten, und solange sie ihre Anwesenheit lautstark kundtaten, gab es keine Gefahr. Also zogen auch die übrigen Tiere rasch nach und kehrten in ihr Revier zurück. Manche Jährlinge oder jugendliche Junggesellen sahen die Gelegenheit gekommen, sich ein neues Revier zu erobern, bevor der eigentliche Eigentümer eingetroffen war, und verteidigten dieses nicht selten erfolgreich. Pepe kam knurrend zu sich und beklagte sich über seinen Hunger. Seit dem Aufbruch hatte er tatsächlich abgenommen, nachdem er nicht mehr von Fran Duret mit köstlichen Pasteten, Quiches, Pilzsoufflés, Jambalaya und cremigen Beerentörtchen versorgt wurde. Er war noch magerer, seine 1,92 Meter lange Figur noch schlaksiger geworden; die Schulter- und Schlüsselbeinknochen standen schon hervor, und seine Augen wirkten in -132-
dem eingefallenen langen Gesicht noch größer, fragender und dunkler. Allerdings war er als geborenes Dschungelkind sehnig und zäh, und die unfreiwillige Diät schwächte ihn keineswegs. Aber er aß für sein Leben gern und viel, brauchte auch mehr als beispielsweise Joseph. Selbst Joseph fühlte, daß seine Hose inzwischen sehr locker um seine Hüften saß, wenngleich ihm das nichts ausmachte. Er war anpassungsfähig und absolut genügsam. Wenn es nichts gab, brauchte er nichts. In Zeiten des Überflusses konnte er dafür essen, was andere vom Zuschauen schon nicht verkraften konnten. Pepes Betteln half nichts; Joseph drängte zum Aufbruch ohne Frühstück, nicht einmal Beeren wollte er sammeln. Die Chancen, jetzt noch Überlebende zu finden, standen ohnehin verschwindend gering. Die meisten waren vermutlich, wenn sie sich denn aus den Kapseln hatten befreien können, in der Nacht in ein Sumpfloch gefallen, im Schlamm erstickt oder von Serengos getötet worden. Auch in dieser schon weitgehend offenen Wasserregion beherrschten Sümpfe die Landschaft, versteckten sich sogar manchmal in harmlos scheinenden Wasserrinnen. Ein falscher Tritt, und man wurde unaufhaltsam eingesaugt, wenn es keinen rettenden Halt gab. Joseph glaubte nicht, daß die Käferartigen, auch wenn sie ausgebildete Soldaten sein mochten, sich sofort in einer solchen Dschungelwelt zurechtfanden. Noch dazu dürften sie durch den Absturz verwirrt und verunsichert sein. Der Cajun hoffte nur, daß ihre Artgenossen keine Suchkommandos losschickten. Die zwei Menschen und der Roboter suchten drei Stunden lang das Gelände im Umkreis des Absturzes ab, aber als die Antigravs durch die Dauerbelastung das Stottern anfingen und mehrmals aussetzten, beschloß Joseph, den ursprünglichen Kurs auf Swamp City wieder einzuschlagen. So sehr ihm das -133-
Geheimnis der Käferartigen unter den Fingernägeln brannte, es war ihm klar, daß sie im Wettlauf mit der Zeit rannten. Diese Verstärkung war vermutlich nicht die einzige, die angefordert worden war; und damit sanken die Chancen, rechtzeitig um Hilfe rufen zu können. Sie mußten jetzt so schnell wie möglich zur Stadt - den Invasoren würden sie früher oder später ohnehin wieder begegnen. Er gestattete Pepe eine kurze Rast, in der der Junge in fliegender Hast einen Fisch fing, über dem Feuer briet, batatenähnliche Knollenwurzeln ausgrub und in der Glut ausbacken ließ; dazu sammelte er Beeren. Sein Hunger war so groß, daß ihm keine andere Wahl blieb. Aber auch Joseph war dankbar für den Eifer des Jungen; er selbst fühlte sich ausgelaugt. Zum ersten Mal verspürte er, daß die Kraft seiner Muskeln nachließ, daß sein Körper alt wurde. Deshalb unternahm er gar nicht erst den Versuch, Pepe zu helfen. Er beobachtete den Jungen, wie er umherwirbelte, und nickte kurzzeitig ein. Die Mahlzeit und das Nickerchen stärkten ihn wieder und ließen ihn das Alter und den Kummer vergessen. Pepe war ebenfalls wieder fröhlich mit seinem gefüllten Bauch. Danach kamen sie so schnell voran, wie es die Wege zuließen.
Kurz nach Mittag, als sie eine zweite Pause einlegen mußten, um unter dem Schatten eines Baumes der sengenden Hitze und den riesigen blutgierigen Mückenschwärmen zu entkommen, meldete Bunny sich plötzlich wieder. Nach seinem unfreiwilligen Bad war der Roboter einige Zeit schweigsam gewesen, abgesehen von einem erbärmlichen metallischen Husten, der jedesmal dann auftrat, wenn sein Prallfeld ausfiel und er einen grotesken Karnickelsprung vollführte. - Joseph bezweifelte, daß der Roboter noch lange durchhalten würde. -134-
Vermutlich fiel er demnächst einfach und undramatisch auseinander. »Habe Ortung.« Joseph, der mit offenen Augen ein wenig vor sich hin gedöst hatte, war sofort hellwach. »Wo?« »Nicht weit, etwa einen Kilometer vor uns. Ziemlich ungleichmäßige Bewegung, wirkt wie desorientiert. Ohne Zweifel einer der Schiffbrüchigen.« »Dann nichts wie dorthin!« Joseph sprang auf und spurtete los. Pepe blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er maulte gehörig, wie verrückt es sei, sich in dieser dampfenden, schwer auf die Lungen drückenden Hitze so schnell zu bewegen. Aber auf die Antigravs wollte der Cajun sich jetzt nicht verlassen müssen. Bunny dirigierte die beiden Freunde. Es stellte sich heraus, daß der Überlebende entweder geistig völlig wirr war oder sich im Sumpf überhaupt nicht orientieren konnte. Sie folgten ihm auf einem Zick-Zack-Kurs, der so unberechenbar war, daß sie ihm nicht einmal den Weg abschneiden konnten. Allerdings holten sie ihn durch seine Desorientierung entsprechend rasch ein. Joseph mußte Pepe bremsen, bevor er direkt auf das Wesen zurannte und sich praktisch zum Abschuß darbot. »Wir wissen nicht, ob und wie er bewaffnet ist«, zischelte der alte Haudegen dem Jungen ins Ohr. »Der hier scheint nicht verletzt zu sein, deshalb ist äußerste Vorsicht geraten!« »Warum sind wir ihm dann überhaupt gefolgt?« wisperte Pepe zurück. »Geduld, Junge! Das wirst du wohl nie lernen.« Einige Zeit folgten sie dem Käferartigen heimlich. Anscheinend war er nicht bewaffnet, denn er trug keine Gürtel wie der andere. Aber das besagte noch lange nicht, ob er nicht trotzdem noch gefährlich wehrhaft war. »Sieh mal, seine Krone hat siebzehn Spitzen!« flüsterte Pepe -135-
und deutete aufgeregt auf den Kopf des Fremden. »Wenn der andere schon von so hohem Rang war, von welchem Rang mag der hier dann erst sein, wenn er so viele Zacken besitzt!« »Vielleicht war der andere der Kommandant, und der hier ist ein hoher Politiker oder Diplomat oder so«, vermutete Joseph, dann korrigierte er sich gleich selbst: »Nein. Kein Diplomat. Das kann jemand nicht sein, der schießt und nicht einmal hinterher Fragen stellt. Aber vielleicht ist er so etwas wie ein Adliger. Das würde erklären, weshalb er keine Waffen trägt.« »Sein Muster auf dem Rücken sieht auch ganz anders aus, beinahe wie das siebenkreuzfache Netz einer Spinnenramoa.« In Josephs Herzen regte sich plötzlich Hoffnung. Wenn dieser Überlebende tatsächlich kein einfacher Soldat war, bestand vielleicht Aussicht, mit ihm in friedlichen Kontakt zu treten. Vielleicht konnte man sogar eine Verständigung erwirken.
6. Kontakt Gembas letzte Hoffnung hatte sich zerschlagen. Er war lange im Sumpf umhergeirrt, um das Duftnetz der Neezer zu finden, aber vergeblich. Ohne dieses Duftnetz, das die Neezer versprühten, um die Gazkar auf den besetzten Planeten zu leiten, war er völlig orientierungslos. Es gab nicht die geringste Chance, sich zurechtzufinden oder den Standplatz der Neezer in der richtigen Richtung zu suchen. Er konnte nicht einmal feststellen, ob er im Kreis lief. Für ihn sah alles stets gleich aus, und wenn er an derselben Stelle zum -136-
achten Mal vorbeigekommen und sie schon ziemlich ausgetreten wäre, hätte er es kaum bemerkt. Unendliche Leere hatte sich in dem Krieger ausgebreitet. Er war vollkommen vom Leben abgeschnitten, und eigentlich lebte er auch nicht mehr. Er war nur noch ein Schatten, ein verlorengegangener Krieger, der unehrenhaft gestorben war und nie konserviert und wiederverwertet werden konnte. Gemba kannte solche Schreckensgeschichten aus den Lehren des Bundes. Seine Verzweiflung saß so tief, daß sie nicht einmal mehr schmerzte. Wie betäubt stolperte er dahin, ziel- und hoffnungslos, nur getrieben von dem unauslöschlichen Instinkt, das Duftnetz zu finden. Wirklich bewußt war ihm das in seinem Schattendasein nicht mehr. Er wanderte nach seinem Wissen irgendwo in einer Zwischenwelt herum, ohne zur realen Welt zurückfinden zu können und wieder ein Teil von ihr zu sein. Die Schauergeschichten der Gazkar-Lehren hatten niemals dargestellt, wie lange das Schattenleben eines Ehrlosen dauerte. Wenn er ohne Ehre gestorben und verwest war, sicherlich die Ewigkeit hindurch. Aber Gemba verweste nicht, also lebte er noch auf eine unwirkliche Weise. Dauerte dieser Zustand dann auch die Ewigkeit? Gemba machte das nicht unruhig, denn er konnte sich unter der Ewigkeit nicht viel vorstellen. Er wußte, daß der Bestand des Bundes ewig war, ebenso die Pflichten der Gazkar und der Neezer, der Alazar und der Eloundar. Dieses Gefüge konnte niemals erschüttert und niemals verändert werden. Aber ein Schatten zu sein war schrecklich. Er wollte seine Pflicht erfüllen und konnte es nicht, er war von seinen Artgenossen und den Lehren getrennt, was ihn zusehends der Kraft beraubte. -137-
Diese furchtbare Stille, diese unendliche Leere. Welchen Frevel hatte Gemba begangen, daß er auf seiner ersten Fahrt, noch bevor er sich die Ehre verdient hatte, eine Spitze seiner Krone wegbrennen zu lassen und einen höheren Rang zu bekleiden, zum Schatten werden mußte? Gemba wußte, daß die Gazkar immer nur dann zu Schatten werden konnten, wenn sie im Kampf gegen den Feind versagten und die Ehre verloren. Innerhalb des Bundes kam so etwas nie vor, niemals gab es etwas anderes als Harmonie und das Wissen um die eigene Bedeutung und Pflicht. Gerade deshalb war es so wichtig, in der Ferne in Ehre zu sterben, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Allein. Gemba haßte dieses Wort, obwohl er es erst seit so kurzer Zeit begriffen hatte. Es war schlimmer als der Feind, das Böse selbst.
Gemba bemerkte den Feind ziemlich rasch. Zwei Lebewesen und ein Roboter. Sie konnten nicht sehr intelligent sein, so ungeschickt, wie sie sich ihm näherten und versuchten, verborgen zu bleiben. Aber es war nicht seine Aufgabe, die Ergebnisse der Neezer in Frage zu stellen. Wenn sie diese seltsamen Geschöpfe für gutes Resonanzmaterial hielten, dann mußten sie vom Status als Feind aus entsprechend umgewandelt und verändert werden; zu Resonanzmaterial. Bisher hatten sie nicht angegriffen; möglicherweise waren sie bereits jetzt gutes Material. Um den Feind brauchte ein Gazka sich nur zu kümmern, wenn er angriff. Wer nicht angriff, war automatisch für die Neezer wertvoller Bund. Gemba war unbewaffnet. Wie sollte er diesen Bund den Neezem zuführen? Er konnte sie nicht einmal in die Nähe des Standplatzes locken, da er sich nicht im Duftnetz befand. Er haßte die Wesen, weil sie ihm folgten und er nichts tun -138-
konnte. Er haßte sie, weil sie sein Schattendasein nur verschlimmerten, ihn so weit in die Ehrlosigkeit hinabtrieben, daß er durch keine Tat jemals wieder zu Ehre gelangen konnte, nicht einmal durch den Selbstmord mittels Fekett. Doch er war ein Krieger. Und die Aufgabe des Kriegers war es, sich dem Kampf zu stellen und den Feind zu vernichten, wenn er uneinsichtig war, oder zu bekehren, wenn er ungeschickt war wie dieser, der ihn verfolgte. Gemba mochte den Schatten angehören, aber er war ein Gazka. Und ein Krieger hörte niemals auf zu sein.
Gemba begriff, daß er seine Verfolger nie würde abschütteln können. Sie waren hier in diesen Sümpfen zu Hause, und er war ohne Orientierung. Er begriff auch, daß sie, so jämmerlich sie wirken mochten, gutes Resonanzmaterial darstellten, sonst hätten die Neezer die Gazkar nicht angefordert. Ferner begriff er, daß er ohne Waffen nicht viel ausrichten konnte, denn sie waren immerhin zu zweit. Er durfte kein Risiko eingehen, sie versehentlich im Kampf zu töten. Er konnte ihnen nicht entkommen und sie auch nicht zu den Neezern führen, aber vielleicht hatten sie Angst vor ihm. Früher oder später würden andere Gazkar kommen, sie finden und den Neezern zuführen, um sie für die Alazar vorzubereiten. Ja, das war die beste Möglichkeit. Gemba blieb stehen und drehte sich um. Scheinbar umgab ihn nur Wildnis, doch seine ungemein scharfen Augen erkannten sehr wohl die Farbunterschiede der Lebewesen, des Roboters und der Pflanzen. Er sah praktisch durch die Pflanzen hindurch, denn sie waren viel heller in ihrem Farbenspiel, die Feinde jedoch durch die Resonanzaura viel dunkler. Um sie herum wimmelte es gleichfalls von Lebewesen, doch waren diese für Gemba völlig uninteressant, nahezu farblos, -139-
noch heller als die Pflanzen. Er erkannte sofort jeden Feind und konzentrierte sich ausschließlich auf ihn. Er starrte direkt dem einen der beiden in die weit vorn sitzenden kleinen und blassen Augen und wunderte sich einen Moment, wie der andere überhaupt sehen konnte. Wahrscheinlich nur verschwommene Formen und nicht einmal Farben, keinesfalls sehr weit. Der Sinn dieser gerade nach vorn gerichteten und sehr kleinen Augen leuchtete Gemba nicht ein; damit konnte sich ihm jeder mühelos im Rücken oder auch von der Seite anschleichen. Wie hatten diese Wesen es geschafft, Intelligenz zu entwickeln? Überhaupt sahen sie sehr seltsam aus. Da Gemba noch nie auf einer Fahrt gewesen war, hatte er sich unter dem Feind gar nichts vorstellen können - und ganz sicher nicht solche merkwürdigen Geschöpfe. Sie wirkten so weich und schwabblig, daß es an ein absolutes Wunder grenzte, daß sie sich aufrecht halten konnten und nicht auf dem Boden zu einer Pfütze auseinanderflossen - ohne Panzer! Sie waren zudem ohne Panzer völlig ungeschützt und hilflos, so leicht verletzbar, daß es Gemba lächerlich vorkam, sie als echte Gegner zu betrachten. Und dann - ihre Farben. Sie besaßen überhaupt keine, außer dieser fahlbleichen, krankhaft wirkenden Tönung unter der dunkleren Resonanzaura. Sie gingen aufrecht, hatten jedoch nur zwei Arme mit merkwürdigen krummen Greif Werkzeugen, und ihre dürren Körper waren um einiges länger als er. Mit Sicherheit waren sie die häßlichsten und abscheulichsten Geschöpfe, die es im ganzen Universum gab. Zu dieser festen Überzeugung kam Gemba, und deshalb haßte er sie nicht weniger. Aber er vergaß darüber nicht, daß sie wertvoller Bund waren. Das Aussehen war kaum entscheidend, sondern der Resonanzfaktor. Das tröstete Gemba über die unendliche Stille und Leere in seinem Geist hinweg. Er war zu einem Schatten geworden, -140-
aber er hatte weder die Lehren noch die Pflicht vergessen. Auch nicht, daß er ein Krieger war. Diese häßlichen Wesen waren wertvoller Bund; ihnen durfte kein Leid geschehen, solange sie ihm gegenüber nicht gefährlich wurden und seine Aufgabe gefährdeten. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, öffnete die scharfen, gebogenen Mundwerkzeuge an den Seiten und auch oben und unten, breitete die Arme aus und stürmte mit einem scharfen Zischen auf das Versteck der Lebewesen zu.
7. Unüberwindliche Mauern »Was macht er denn jetzt?« rief Pepe verblüfft und stolperte einige Schritte zurück. »Offensichtlich hat er uns bemerkt und will uns angreifen«, antwortete Joseph lakonisch. Allerdings wich auch der Cajun vor dem heranstürmenden Käferwesen zurück. Schließlich wußte er nicht, über welche Fähigkeiten es verfügte. Der Fremde brach wie ein Panzer durch das Gebüsch, blieb dann stehen und bewegte heftig die Arme. Dazu sprudelte er jede Menge unbekannte Worte mit im Gegensatz zu dem anderen Käferartigen rauher, krächzender Stimme hervor. Die beiden Menschen blieben verblüfft stehen; auch Bunny rührte sich nicht. Joseph hoffte, daß der Roboter Gelegenheit bekam, genügend Worte von der fremden Sprache zu speichern und sie später mittels Translator übersetzen zu können. Der Wortschwall nahm und nahm kein Ende. Bevor die -141-
beiden Lafayetter aus ihrer Überraschung zurückfinden konnten, stürmte der Käferartige wieder nach vorn, direkt auf Pepe zu, und versuchte ihn mit hektisch zusammenklickenden Greifwerkzeugen zu packen. »Nun mal langsam!« rief Pepe, wich den vier Armen aus und versetzte dem Fremden einen Tritt unterhalb des Brustbereichs. Der Fremde taumelte zurück, seine Stimme schwoll zu einem wahren Stakkato an und ähnelte nun schon fast dem selbstmörderischen Käferwesen. Nachdem der Fremde sich wieder gefangen hatte, stürmte er erneut nach vorn. Joseph dachte nicht lange nach, er trat blitzschnell dazwischen und schlug dem Fremden mitten im Lauf die Beine weg. Der machte durch den Schwung, in dem er sich noch befand, einen lächerlichen Luftsprung und landete krachend auf dem Rücken. In diesem Moment kam auch endlich in Bunny Leben: Er hoppelte heran, packte die beiden linken Arme und hielt sie so fest, daß der Fremde sich nicht drehen und wieder auf die Füße kommen konnte. Joseph war es fast nach Lachen zumute. »Also, Pepe«, stieß er mühsam verhalten hervor, »der ist ja noch viel schwächer als wir!« Pepe kam vorsichtig näher; der Käferartige wand sich verzweifelt in Bunnys unbarmherzigem Griff, seine kräftigen Beine schlugen sirrend durch die Luft. Immer wieder versuchte er, die Beine im Erdboden festzustemmen, aber jedesmal drehte Bunny ihn wieder so, daß er hilflos in der Luft zappelte. »Du hast recht«, sagte der Junge langsam. »Er ist nichts weiter als ein überdimensionaler lächerlicher Käfer.« Er schüttelte sich angewidert. »Ich verabscheue Käfer. Als ich klein war, da haben sie immer ...« Er unterbrach sich und schwieg, aber sein Gesicht drückte deutlichen Ekel aus. »Er ist ein intelligentes Wesen, das von sehr weit her kommt, sicher aus einer anderen Galaxis«, sagte Joseph sanft. »Und er -142-
hat Angst vor uns. Mindestens ebenso viel Angst wie wir vor ihm.« »Wie kommst du darauf?« »Würde er sich uns überlegen fühlen, würde er uns kaum so offen und mit solchem Geschrei angreifen. Deshalb will er uns auch nicht töten.« »Das glaube ich nicht!« »Doch, Pepe. Gerade, wenn er sich uns unterlegen weiß, müßte er uns eine Falle stellen, um uns zu überwältigen. Aber er hat nichts von alledem getan, obwohl er uns schon eine Weile bemerkt haben muß. Die Art und Weise, wie er mich ansah, machte das deutlich. Er ist verwirrt und verängstigt, und das ist die beste Gelegenheit, uns mit ihm zu verständigen.« Joseph trat dicht an den Käferartigen heran, stets darauf bedacht, außer Reichweite der freien Arme und Beine zu bleiben. »Wir wollen dir nichts tun«, sagte er ruhig. Der Fremde ließ sich davon nicht beeindrucken. Er kreischte weiter mit seiner unangenehm nachklingenden, nichtmenschlichen Stimme; abwechselnd rauh und krächzend und dann wieder schrill. »Verstehst du, was er sagt?« wollte Joseph von Bunny wissen. »Noch nicht genügend Äquivalente«, antwortete der Roboter. »Eine Unterhaltung würde helfen.« »Unterhaltung«, murmelte Joseph. »Wie soll ich mich ihm verständlich machen, wenn er nicht einmal die einfachsten Gesten verstehen will? Unser erster Eindruck mit den fliegenden Eiern und allem, daß sie sich nicht zeigten und so ganz emotionslos alles abknallten, trifft immer noch zu. Sie wollen keinen Kontakt mit uns, sondern uns entweder töten oder für etwas ganz anderes ... mißbrauchen.« »Aber wofür?« warf Pepe ein. »Ich habe keine Vorstellung«, gab Joseph zu. »Und deswegen sollten wir es sehr schnell herausfinden.« -143-
Er wandte sich wieder dem Käferartigen zu, dessen Wortschwall immer noch nicht abriß, ebenso seine verzweifelten Bemühungen, sich aus Bunnys Griff zu befreien. »Wir wollen dir nichts tun«, wiederholte der grauhaarige Cajun im selben ruhigen Tonfall. Er hielt die offenen Handflächen vor den Kopf des Wesens. Vorsichtig bewegte er die Hände auf und ab und wiederholte noch mehrmals den Satz. Leider ohne Erfolg. Schließlich versuchte Joseph es mit einem einzigen Wort, das möglicherweise endlich den Weg zur Verständigung und Übersetzung ebnete, wenn er es nur eindrucksvoll genug herausbrachte. »Frieden.« Er atmete hörbar ein, als der Fremde abrupt verstummte und ihn anstarrte. Hat er mich verstanden? Sein Herz begann heftig zu klopfen. Der Kopf des Fremden fuhr hoch, und Joseph stieß einen Schrei aus, als die gefährlichen Mundwerkzeuge haarscharf an seiner Nase vorbeizischten und laut aufeinanderklickten. Bunny lockerte daraufhin den Griff, um Joseph zu beschützen. Das Wesen entwand sich blitzschnell der Umklammerung, schwang sich auf die Hinterbeine hoch und rannte schnell davon.
Gemba hatte versucht, die Feinde zu erschrecken, was ihm mißlungen war. Noch schlimmer: Sie demütigten ihn noch zusätzlich, indem sie ihn in eine unwürdige Lage brachten und festhielten. Er hatte sie angeschrien, ihn sofort loszulassen. Es war ihm gleichgültig, ob sie ihn verstanden oder nicht; er war so außer sich vor Zorn, daß er überhaupt nicht mehr aufhören konnte. Einer der Feinde hatte gleichfalls versucht, mit ihm zu sprechen. Seine Stimme war ein lächerliches leises Quäken, und Gemba fragte sich, wie diese schwabbligen Wesen eine Sprache -144-
entwickeln konnten. Allerdings, eine Sprache hatten sie; Gemba konnte unterschiedliche Betonungen und Pausen heraushören, was auf einzelne Worte hindeutete. Diese Wesen waren in der Überzahl, deshalb befand sich der junge und vor allem unerfahrene Krieger in einer so unglücklichen Lage. Aber er durfte es nicht zulassen, daß sie ihn gefangen hielten. Kein Gazka war jemals lebend dem Feind in die Hände gefallen. Aber er besaß das Fekett nicht mehr. Gemba befand sich in der schlimmsten Lage, in der sich ein Krieger befinden konnte. Da war es noch besser, unwürdig zu sterben, als gefangen zu sein. Er wartete ab, bis die Aufregung des Bunds sich legte. Der eine hörte nicht auf, ihn anzusprechen, und Gemba schrie ihn an, gefälligst still zu sein. Dabei kam der andere immer näher, wurde unaufmerksam. Schließlich versiegte sein Redeschwall, und er machte eine Pause, vermutlich, um Eindruck zu schinden. Dann stieß er einen kollernden Grunzlaut hervor. Gemba verstummte. Er war sicher, daß der Feind etwas Bedeutungsvolles tat und etwas ebenso Bedeutungsvolles erwartete. Das sollte er haben. Sein Gesicht war jetzt nahe genug. Der Krieger fuhr mit dem Kopf hoch und schnappte nach seinem Gesicht. Erwartungsgemäß lockerte der Roboter den Griff, um das Lebewesen zu schützen. Gemba war im Nu frei und ergriff augenblicklich die Flucht. Orientierungslos, wie er war, suchte er nicht nach dem Weg. Das war nicht notwendig, er wußte genau, daß es hier viele tödliche Fallen gab. Er war nach dem Absprung von dem abstürzenden Schiff in einem Sumpf gelandet und nur deswegen davongekommen, weil die Kapsel sich rechtzeitig geöffnet hatte. Alle anderen außer ihm waren mit größter Wahrscheinlichkeit umgekommen. Eine andere Wahl hatte er nicht mehr, als den Tod im Sumpf zu suchen. Er rannte einfach drauflos, so schnell er konnte, damit die anderen ihn nicht einholten, über eine Landbrücke hinweg. -145-
Und dort stürzte er sich geradewegs in ein Sumpfloch. Joseph zögerte keinen Moment, sondern sprang augenblicklich hinterher. Er packte einen Arm des Käfers und hielt ihn fest, die andere Hand streckte er Bunny entgegen. Sie hatten nach einer kurzen Schrecksekunde die Verfolgung aufgenommen, den Käferartigen jedoch nicht rechtzeitig einholen können, bevor er in das Sumpfloch stürzte. Bevor er endgültig versank, hatte Joseph ihn mit Bunnys Hilfe wieder herausgezogen. Der Käferartige lag einen Moment halb ohnmächtig auf der Erde, und Joseph und Pepe versuchten ihn ein wenig hilflos zu säubern. Doch schon nach kurzer Zeit hatte der Fremde sich erholt. Er sprang auf die Beine und wollte erneut fliehen. Diesmal war Bunny jedoch schneller. Er packte die beiden langen Arme und verdrehte sie auf den Rücken. Der Fremde schrie unartikuliert auf, so schrill, daß es den beiden Menschen in den Ohren summte. Dann ergoß er wieder einen Wortschwall über sie. Schließlich riß Joseph der ohnehin dünne Geduldsfaden. Mit aller Kraft, die er zustande brachte, brüllte er den Fremden an: »Halt's Maul, du blöde Nervensäge!« Tatsächlich verstummte der Fremde. Dann sackte er in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Inzwischen war es schon später Nachmittag. Es wurde Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen. Pepe suchte nach einem geeigneten Platz. Joseph und Bunny schleppten den willenlosen Fremden, der apathisch alles mit sich geschehen ließ, hinterher.
»Was machen wir jetzt mit ihm?« erkundigte sich Pepe später, nach dem Abendessen. Das Wesen hatte nichts zu sich nehmen wollen und verhielt sich weiterhin völlig apathisch. Pepe machte keinen Hehl aus -146-
seiner Abneigung; er hielt sich so weit wie möglich von dem Käferartigen entfernt. »Können wir ihn nicht einfach hierlassen? Du bekommst ja doch nichts aus ihm heraus.« »O doch, das werde ich«, brummte Joseph mit einem seltsamen Tonfall. Es klang, als würde er die Zähne fest zusammenbeißen. Sein Blick war starr und düster auf den Käferartigen gerichtet. »Was hast du?« wisperte Pepe. »Sehr dankbar war er nicht gerade, daß ich ihm das Leben gerettet habe.« Andererseits hätte der Käferartige ihn bei seinem Angriff auch nicht verfehlen müssen. Joseph war instinktiv zurückgezuckt, aber sicher nicht schnell genug, daß die vorgewölbten und sehr gelenkigen Mundwerkzeuge ihn dadurch nicht erwischten. Zumindest ein Stück Haut wäre hängen geblieben ... Warum also hatte der Fremde nicht zu jedem Mittel gegriffen, um seine Flucht zu beschleunigen? Andererseits schien er geistig ziemlich verwirrt zu sein, da er schon nach kurzer Flucht wie ein Tölpel in ein Sumpfloch fiel und dann beinahe umgekommen wäre. Das war die einzige Erklärung: Er hatte sich nach der Landung wohl irgendwie am Kopf verletzt, was äußerlich nicht sichtbar war, zumindest für die Menschen. Dieser Ansicht schien auch Pepe zu sein, denn er sagte: »Na ja, er... ist wohl jetzt ziemlich verwirrt. Er wollte fliehen, schließlich war er unser Gefangener. Da wäre es schon ein bißchen viel verlangt, Dankbarkeit von ihm zu erwarten.« Joseph richtete seinen Blick auf Pepe, und der Junge schrumpfte unwillkürlich ein klein wenig zusammen. Die Augen des alten Cajun glühten vor Zorn. »Ich dachte, du magst ihn nicht.« »Mir graust vor ihm«, verdeutlichte Pepe. »Aber ich habe noch keinen Käfer zertreten, wenn du das meinst, nur weil ich -147-
mich vor ihm ekle. Wir haben ein Abkommen, die Käfer und ich: Sie kommen mir nicht zu nahe, und ich lasse sie in Ruhe. Du selbst hast mir heute nachmittag eins auf die Ohren gegeben, weil ich ihn beschimpft habe. Was soll das also jetzt?« Joseph zerbrach ein trockenes Stöckchen, das als Feuerholz gedacht war, in kleine und schließlich noch ein winzigkleine Teilchen. »Ich kann's nicht vergessen«, zischte er leise und haßerfüllt. »Ich kann's einfach nicht vergessen, was seine Artgenossen uns angetan haben. Ich hab' mir wirklich Mühe gegeben, aber... es ist einfach zu stark.« »Weshalb - weshalb hast du dann anfangs so sanft mit ihm geredet und ihn auch noch aus dem Sumpf gezogen?« fragte Pepe verständnislos. »Weil er uns sagen kann, warum sie uns das antun!« fauchte Joseph und verlor den letzten Rest seiner Beherrschung. Was genau der Auslöser gewesen war, konnte er nicht sagen, weder jetzt noch später. Der Cajun hatte sich zuvor wie in alten Zeiten verhalten, gütig und nachsichtig gegen jeden, vorurteilslos und gelassen. Doch dann hakte etwas in ihm aus. In aufwallendem Zorn wurde ihm bewußt, daß diese Zeiten vorbei waren, ein für allemal. Es brachte nichts ein, das hatte sich gerade erwiesen. Der Käferartige haßte ihn ebenso wie Joseph ihn - und beide hatten Angst voreinander. Für sie würde es niemals so etwas wie Verständigung geben. Sie waren Feinde. Und je mehr ihm bewußt wurde, daß Lafayette verloren war, wenn diese Fremden weiter wie die Heuschrecken über die Welt herfielen, desto heftiger und unkontrollierter wurde sein Zorn, der jede Vernunft überstieg und erstickte. »Und weil er uns verraten wird, wo die anderen sind, damit wir sie finden ... und zertreten können! Ich habe nämlich nicht deine Hemmungen!« -148-
Joseph sprang auf und verschwand in der Dunkelheit außerhalb des Feuerkreises. Pepe erwog einen kurzen Moment, dem ehemaligen Beausoleil nachzulaufen, entschied sich dann aber dagegen. Er kannte solche Momente, in denen man besser allein war. Er sah zu dem Käferartigen, der den Kopf leicht schief hielt und aufmerksam zuzuhören schien. Als er Pepes Blick bemerkte, sagte der Feind etwas, ohne den hysterischen Schrillton, sondern rauh und krächzend, das so ähnlich wie »bstbrgnzschndmlchnddshlbndrschß« klang. »Halt's Maul!« sagte Pepe nur, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Er war wohl ein wenig eingenickt, denn er schrak fürchterlich zusammen, als Joseph plötzlich wie ein Dämon aus der Dunkelheit hervorgeschossen kam und wie eine Furie über den Gefangenen herfiel. »Red endlich, du Mistkäfer!« schrie er. »Sag uns, woher ihr kommt und warum ihr unsere Leute wie Vieh abschlachtet! Was empfindet ihr dabei, wenn ihr mal so durch die Gegend fliegt und ein Wettschießen veranstaltet? Erkennt ihr nur euch selbst als die einzig wahre Intelligenz im Universum an und macht euch über alle anderen lächerlich? Haltet ihr euch für Götter, die über alles erhaben sind und willkürlich über Leben und Tod entscheiden dürfen? Los, red schon, bevor ich dich in das verdämmte Dreckloch zurück schmeiße und dich selbst noch hinunter trete, damit du endlich mal weißt, was Todesangst bedeutet!« Pepe war aufgesprungen, um ihn zurückzuhalten, aber Joseph schleuderte ihn achtlos von sich. Er übergoß den Gefangenen nun mit einem Schwall so wüster Beschimpfungen, daß seine Stimme fast überkippte. Es klang dem vorherigen Wortschwall des Käferartigen beängstigend ähnlich und kaum mehr menschlich. Der Gefangene ließ sich das jedenfalls nicht lange gefallen. Er -149-
richtete sich auf und gab mit schriller Stimme wahrscheinlich ebenso wüste Beschimpfungen zurück. Die beiden verstummten dann fast gleichzeitig. Joseph kehrte schweißbedeckt und schweratmend auf seinen Platz zurück. Auf diese Gelegenheit hatten die Mücken nur gewartet: Sie fielen in dunklen Schwärmen über ihn her. Stumm und verbissen schlug der grauhaarige Cajun um sich, bis Pepe ihm ein Tuch an den Kopf warf und ihm eine schützende Salbe reichte, die leider schon fast aufgebraucht war. »Fühlst du dich jetzt besser?« fragte er. Pepes Tonfall war nicht anzumerken, ob er das lakonisch oder aufrichtig meinte. Joseph nickte, er schnappte immer noch nach Luft. Die Schwüle hielt wie die vorhergehenden Tage ohne Abkühlung auch in der Nacht an, allerdings hatte es seit heute Mittag nicht mehr geregnet. »Tut - tut mir leid«, keuchte er. »Das habe ich gebraucht. Ich mußte das loswerden, Pepe; es quält mich schon die ganze Zeit.« »Denkst du, mich nicht?« sagte Pepe leise und traurig. »Doch«, nickte Joseph, »deshalb habe ich für dich gleich mitgeschrien. Ich kann das besser als du, Sohn. Und laß dir bloß nicht einfallen, mir so etwas jemals nachzumachen. Ich habe ein ganz anderes Temperament als du, und du bist noch viel zu jung für solche Eskapaden.« »Besten Dank«, sagte Pepe, dann lächelte er. »Ist schon in Ordnung, Jop.« Der Käferartige verfiel wieder in Lethargie. Bunny verhielt sich die ganze Zeit über völlig ruhig, nur seine drei Stielaugen bewegten sich immer wieder abwechselnd in alle Richtungen. Und dann sagte der Roboter ein einziges Wort: »Interessant.« Aber Joseph und Pepe waren viel zu sehr erschöpft und mit den Mücken beschäftigt, um auf den kleinen silbernen Schrotthaufen zu achten. -150-
8. Träume Gemba verbrachte eine jämmerliche Nacht. Er wünschte sich in leidenschaftlicher Verzweiflung, tot umzufallen, daß alles vergessen wäre. Bestimmt war kein Gazka jemals in einer demütigenderen und unwürdigeren Lage gewesen. Er war isoliert von den Gazkar. Er konnte das Neezer-Netz nicht finden. Er besaß kein Fekett mehr, um ehrvollen Selbstmord zu begehen. Er konnte die beiden Lebewesen nicht gefangennehmen und dem Bund zuführen, weil sie ihm überlegen waren und ihn als Gefangenen hielten. Er durfte sie nicht einmal töten, obwohl er dazu schon zweimal die Gelegenheit gehabt hatte, denn sie waren zu wertvolles Resonanzmaterial und nicht wirklich gefährlich. Sie waren unbewaffnet und ziemlich ungeschickt. Das demütigte ihn zusätzlich. Der eine hatte ihm jetzt auch noch das Leben gerettet. Gemba hatte einen unwürdigen Tod dem Elend der Gefangenschaft vorgezogen und sich in den Sumpf gestürzt. Aber nicht einmal das Sterben gelang ihm. Er war ein solcher Versager, daß er sich vor sich selbst ekelte. Er war eine Schande für die Gazkar. Jetzt blieb ihm überhaupt kein Ausweg mehr. Außer einem ...
Joseph hatte das Gefühl, überhaupt nicht zu schlafen. Wieder und wieder durchlebte er in furchtbarer Realität dieselben Szenen des Massakers, vermischt mit der ersten Begegnung mit den tödlichen Angreifern. Er glaubte tatsächlich, den Donner zu -151-
hören, das Schreien der Sterbenden, das hohe Sirren der fliegenden Eier. Dazwischen setzte er sich immer wieder mit dem Käferartigen auseinander; und dann kämpften sie sogar miteinander. Plötzlich hatten sie beide Waffen und beschossen sich; sie trafen sich gegenseitig, fielen jedoch nicht, sondern kämpften immer weiter. Joseph spürte plötzlich Riesenkräfte in sich wachsen, und er stürzte sich mit Gebrüll auf den Käferartigen und ... ... wachte auf. Schweißgebadet, heftig atmend, hockte er aufrecht in der Finsternis. Das Feuer war heruntergebrannt. Um ihn herum waren die üblichen vertrauten Nachtgeräusche: das leise Glucksen von Wasser, das Rascheln von Blättern, an denen schuppige Panzer entlangstreiften, weiche, schnurrende Laute eines bepelzten Raubtiers, das die Jagd begann. Das gelegentliche Piepen eines verschlafenen Vogels, das huschende Flattern fliegender Nachtgeschöpfe. Es war nach wie vor erstickend schwül, kein Lüftchen regte sich. Joseph liebte diese Nächte draußen im Sumpf, mochten sie auch noch so drückend sein und die Mücken noch so grausam. Aber jetzt boten sie ihm keinen Trost mehr, sondern nur eine zusätzliche Last. Er hatte Unerträgliche Kopfschmerzen, und das Trauma seines schweren Unfalls überwältigte ihn wieder einmal. Aber wenn er jetzt die Augen schloß, würden die schrecklichen Bilder ihn erneut überfallen, und er konnte sie doch nicht kontrollieren. Dabei war er so müde, so verzweifelt müde. Die Augen fielen ihm von selbst zu, und in der nächsten Sekunde war er schon eingeschlafen. Die Bilder stürmten mit rasender Geschwindigkeit auf ihn ein, wieder viel zu real, um ein Traum zu sein. Eine andere Wirklichkeit mit anderem Zeitverständnis, das schien für Joseph tatsächlich existent zu sein. Er konnte nicht zwischen Traum und -152-
Wirklichkeit unterscheiden, das wäre erst dann der Fall, wenn er versuchen wollte, vom Erlebten zu erzählen. Erst dann würde er feststellen, wie verworren, durcheinander und zusammenhanglos dieses scheinbar ›reale‹ Geschehnis tatsächlich war. Es war ein Wahnsinnslauf, doch er war unglaublich stark, und dann ... ... dann wachte er auf. Joseph war sicher, geschrien zu haben. Aber Pepe neben ihm lag ganz still. Weder von dem Fremden noch von Bunny konnte er etwas sehen oder hören. Der Cajun keuchte; er glaubte, sein heftiger Atem würde ihm den Brustkorb sprengen. Hoffentlich wurde das kein Herzanfall. Anja, die seine Unterlagen natürlich kannte, hatte ihn schon einmal gewarnt, daß sein Herz laut medizinischem Gutachten nicht mehr das beste sei. Zuviel Aufregung, zuviel Abenteuer, vielleicht auch zuviel Frauen. Zu viele Narben. Zu viele Schmerzen. Er versuchte, ruhiger zu atmen. Keine Angst mehr. Du bist kein unerfahrener Jüngling mehr. Du bist ein alter Mann, verbraucht und müde und nicht mehr ganz beieinander. Wovor also solltest du dich fürchten? Vor dem Tod? Nicht im geringsten. Der Tod hat keinen Schrecken für dich, höchstens das Leben. Das Leben mit seinen entsetzlichen Bildern, die dich nicht loslassen wollen. Die du nicht loslassen kannst. Plötzlich und ohne Vorwarnung begann es zu regnen, senkrecht rauschend vom Himmel herab in großen, schweren Tropfen. Was seit Mittag entfallen war, wurde jetzt mit verzehnfachter Intensität nachgeholt. Joseph zog die dünne Schutzplane über seinen Kopf, verbarg seinen Körper - soweit es ging - vor dem Regen. In dem gleichmäßigen Rauschen war er rasch wieder eingeschlafen. Den Rest der Nacht verschlief er vollkommen ruhig und traumlos. -153-
Pepe träumte von Farben. Grellen, überschäumenden, sprudelnden Farben, die gegeneinander kämpften und miteinander verschmolzen. Die Spiralen bildeten, die sich endlos ineinander verschlingend in ein schwarzes Loch stürzten. Dann gab es Farbexplosionen aus dem schwarzen Loch heraus, Orgien in allen Farben des Regenbogens und noch darüber hinaus. Sprühfontänen, Wasserfälle, Sternenfeuer, jagende Kometen. Dann die gewaltige Explosion eines Lichtballs, die sein Universum ausfüllte, ihm die Augäpfel ausbrannte und ihn dann schließlich statt der weißglühenden Helligkeit mit eiskalter Finsternis umgab. Als es zu regnen anfing, kam Pepe nur halbwegs zu sich, maunzte unwillig wie eine Katze, igelte sich zusammen und zog die dünne Schutzplane über sich. Gleich darauf schlief er wieder fest und friedlich.
9. Ein Vermittler Joseph kam schlagartig zu sich, schleuderte die Decke beiseite und riß die Augen auf. Er wußte nicht weshalb, aber auf einmal, mitten im Schlaf oder einem bereits vergessenen Traum, war er durch ein bösartiges Gefühl gestört worden. Sein untrüglicher Sinn für eine drohende Gefahr war plötzlich da. In Sekundenschnelle war er hellwach und fuhr hoch. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne ging gerade auf und heizte umgehend die Luft auf. Vögel zwitscherten, der Wald -154-
dampfte, man konnte kaum zehn Schritte weit sehen. Bunny hockte mit eingefahrenen Stielaugen friedlich da und rührte sich nicht. »Der Gefangene!« schrie der Cajun. »Wo ist der Gefangene?« Er kam stolpernd auf die Beine, stürzte sich auf den Roboter und versetzte ihm einen heftigen Tritt. »Du dämlicher Schrotthaufen, du verbeulter Blechkasten, bist du selbst zum Wachehalten zu dämlich?« rief er außer sich. Joseph fiel selbst halb um, weil seine Glieder vom Schlaf noch ungelenk und steif waren, und zog es dann vor, sich noch einmal zu setzen. Das schnelle Aufspringen hatte einen heftigen Schwindel hervorgerufen, die nächtliche Aufregung war noch nicht überwunden. Bunnys künstliche Eingeweide schepperten beängstigend, als Joseph ihn trat. Der Roboter hoppelte einen Meter zurück, als fürchtete er sich vor dem wütenden Mann. Er fuhr seine drei beweglichen Augen weit aus und glotzte Joseph von drei Seiten an. Pepe kam nur allmählich aus seinem halb ohnmächtigen Tiefschlaf zu sich. Mit großen verwunderten Augen rappelte er sich hoch und blickte abwechselnd zu Bunny und zu Joseph. »Aber was ...«, begann er zaghaft, ohne wirkliche Absicht, die Frage zu vollenden. Joseph holte es endlich nach, sich zu strecken und die Kälte aus den Knochen zu schütteln. Dann stand er langsam auf und rieb sich den Nacken. »Wie lange, Bunny?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Kann erst ganz kurz sein«, schnarrte der Roboter. »War beschäftigt mit Analysen und einen Moment unaufmerksam. Höchstens ein paar Minuten.« Der grauhaarige Cajun schüttelte den Kopf. »Wir sind schon eine Truppe«, murmelte er. »Haben wir eine Chance, ihn wiederzufinden?« mischte Pepe -155-
sich weiterhin vorsichtig ein. »Kein Problem«, krächzte Bunny. »Habe Ortung. Nicht weit weg. Bewegt sich nur langsam.« »Na, dann los.« Und wieder, nun schon zum dritten Mal, liefen sie hinter dem Fremden her. Joseph dachte gar nicht an die Antigravs, zum einen wegen der Aufregung, zum anderen wegen Bunnys Hinweis, daß der Käferartige nicht weit weg sei und wahrscheinlich zu Fuß besser eingeholt werden konnte. Vermutlich funktionierten die Antigravs ohnehin nicht mehr; seit dem letzten Mal hatte Joseph sie nicht mehr aktivieren können. Der Cajun hatte seine Altersbeschwerden und die Schrecken der Nacht völlig vergessen. Er hatte keine Schwierigkeiten, den Fremden schnell einzuholen. Immerhin war er diesmal nicht wieder in ein Sumpfloch gefallen. Joseph war kurz davor, ihn von selbst hineinzuschubsen. Er sprang den Fremden an und warf ihn durch die Wucht um. Beide stürzten, und der Käferartige landete wieder auf dem Rücken. Wenigstens war Bunny diesmal schnell genug; er hatte ein paar Lianen ausgerissen und fesselte den Fremden, bevor er ihn unsanft auf die Beine stellte. Wortlos gab Joseph das Zeichen »zurück zum Lager«, und sie traten den Rückweg an. Pepe lief voraus, sein Magen knurrte erbärmlich. Der Junge machte sich eilig daran, ein Frühstück zu bereiten, bevor Joseph die kleine Truppe wieder weitertrieb. Der Fremde hatte inzwischen genug Zeit gehabt, Luft zu schöpfen und den üblichen Wortschwall abzulassen. Die beiden Lafayetter achteten nicht darauf. Entweder waren sie schon so sehr daran gewöhnt, oder sie waren zu sehr in eigenen Gedanken versunken. Da Bunny gleichfalls nicht reagierte und ihm keiner zuhörte, gab der Käferartige schließlich auf und schwieg. Gemba war irgendwann kopflos geworden wieso, konnte er sich selbst später nicht mehr erklären. Vielleicht -156-
lag es an der furchtbaren Stille und Leere in seinem Innern, der Isolation vom Leben. Sein Geist war angeschlagen; er war eine genetische Mißgeburt, ein Versager. Er hatte nicht mehr ruhig sitzen bleiben können und war erneut geflohen, obwohl es schon fast hell war. Es war keine geplante Flucht, nicht einmal geplanter Selbstmord. Er wußte in diesem Moment nichts, ohne Überlegung bewegte er sich, seine Beine liefen einfach ohne bewußten Befehl. Er lief durch den dichten Nebel, ohne auf den Weg zu achten und fiel erstaunlicherweise nicht in den Sumpf. In seinem Verstand herrschte selbst Nebel, halb betäubt bekam er mit, daß er plötzlich umgerannt und dann gefesselt wurde. Der Gazka leistete keinen Widerstand, er kam gar nicht auf die Idee, sich zu wehren. Immer noch wie betäubt, ließ er sich fortschleppen. Es war ihm, als bewegte er sich auf der Oberfläche von träge dahinfließendem, leicht gewelltem Wasser; jeden Moment kurz davor, die Oberflächenspannung zu durchbrechen und in reißenden Strudeln zu versinken. Erst als er gezwungen wurde, sich hinzukauern, lichtete sich allmählich der Nebel in seinem Verstand. Die Betäubung schwand, und er begriff, daß sich nichts in seiner Lage verändert hatte.
»Du mußt etwas essen, Jop«, drängte Pepe. »Noch sind wir nicht in Swamp City. Wirklich, ich finde, du benimmst dich ein bißchen seltsam in letzter Zeit.« »Wie kannst du das denn beurteilen!« fauchte Joseph Broussard. Als er das unglückliche Gesicht des Jungen sah, machte er eine schuldbewußte Miene. »Ach, Pepe, ich ... Es tut mir leid. Ich kenne mich bald selbst nicht mehr. Es ist nur ...« »Was denn?« »Nicht so wichtig. Vergib einem törichten alten Mann. Du -157-
mußt dich daran gewöhnen, daß wir nicht mehr das unbeschwerte Leben von einst führen können. Nie wieder.« »Ja, aber ... wenn wir in Swamp City sind, dann ... dann finden wir doch Hilfe, oder?« Joseph Broussard jr. schwieg. Pepes dunkle, fragende Augen bekamen einen feuchten Schimmer. »Nie wieder?« flüsterte er. Sein väterlicher Freund nickte. »Du meinst - dort sind sie auch schon gewesen?« Pepe deutete auf den Käferartigen. Joseph seufzte tief. Für einen Moment sah er so traurig aus, daß Pepe fast seinen eigenen Kummer vergaß. In diesem Moment sah er älter aus, als er war, was nicht allein von dem ungepflegten Äußeren und dem wild wuchernden Bart herrührte. Er wirkte sehr müde und sehr resigniert. »Pepe, du hast miterlebt, daß ein Schiff von ihnen hier eine Bruchlandung hingelegt hat. Das Schiff, das wir damals im Sumpf gefunden haben, war nicht das erste, und dieses wird nicht das letzte gewesen sein. Du hast gesehen, wozu diese Wesen imstande sind. Der Käfer hier wirkt nur so hilflos, weil er allein anscheinend nicht zurechtkommt und keine Waffen hat. Wahrscheinlich hat er sich eine Kopfverletzung zugezogen, die seinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen hat. Wie bei mir, verstehst du?« Er tippte sich an die Stirn. »Aber Jop, als wir aufgebrochen sind, da hast du gesagt... Deshalb haben wir uns doch überhaupt nach Swamp City auf den Weg gemacht...« »Ja, Junge, in dieser Hinsicht habe ich dich nicht belogen. Ich habe selbst große Hoffnung gehegt, daß wir dort Hilfe finden werden oder zumindest eine Möglichkeit, Hilfe herbeizuholen. Aber je näher wir an die Stadt herangekommen sind, und je länger das Schweigen dauerte ...« »Welches Schweigen?« Joseph seufzte erneut, »Pepe, ich habe lange mit mir ge-158-
kämpft, ob ich es dir sagen soll oder nicht. Ich meine, es macht von den Tatsachen her keinen Unterschied, aber dich vielleicht sehr unglücklich. Das wollte ich so lange wie möglich hinauszögern. Denkst du, du kannst die Wahrheit verkraften?« Pepe zögerte, sein großer Adamsapfel schluckte mühsam einen imaginären, großen trockenen Brocken den dünnen Hals hinunter. Dann nickte er langsam. »Ich hab' ja noch dich«, sagte er leise. »Na schön. Ich habe Bunny beauftragt, regelmäßig die Hauptstadt anzufunken, aber wir haben bisher keine Antwort erhalten. Bunny konnte auch nichts orten. Es ist, als wäre die ganze Stadt gar nicht mehr da.« »Du denkst, daß alle tot sind?« »Ich fürchte, nein.« »Du fürchtest?« »Mir gehen die Bilder nicht aus dem Sinn, als meine Freunde wie Vieh zusammengetrieben und zu dem großen Schiff gejagt wurden. Sie waren nicht mehr Herr ihrer Sinne, für eine Zeitlang, bis sie irgendwie doch begriffen, was mit ihnen passierte, und kämpften. Verstehst du, Pepe, sie wurden nicht sofort umgebracht wie die anderen. Sie sollten verladen werden, zu welchem Zweck auch immer.« Pepes Augen wurden noch größer, sein Gesicht schmal. »Dann denkst du, daß es besser für sie ist, tot zu sein?« fragte er. Joseph nickte leicht. »Nach allem, was wir bisher erlebt haben, wäre es fast wünschenswert. Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, Pepe. Irgendwo werden sich welche versteckt halten, wie wir, und Pläne schmieden. Menschen geben nicht so leicht auf, weißt du. Wir stammen schließlich von Terra ab, und die Terraner haben sogar den Krieg gegen sich selbst überstanden.« Er lächelte fast. »Was nicht zuletzt an einem einzigen Mann lag, der uns auch jetzt retten kann - wenn es sonst niemanden mehr gibt.« Er machte eine Pause, als dächte er nach, und schloß danach: -159-
»Lafayette ist etwas Besonderes. Es bedeutet uns, die wir hier geboren sind, sehr viel. Nicht nur dir und mir, sondern allen. Es ist eine mörderische Welt, und du kannst sie nur ertragen, wenn du hier geboren bist. Aber wenn du das bist, gibt es für dich keinen schöneren Platz.« Pepes Lippen zitterten, und er wischte sich so verstohlen wie möglich über die Augen. Joseph wußte, daß er Angst hatte wie ein bei einem Streich ertapptes Kind. Er begriff nicht ganz, was Joseph meinte, aber genug, um die Tragik zu erfassen. »Was werden wir dann tun?« fragte er zaghaft. Wenn sie die Stadt erreicht hatten und niemanden mehr fanden, auch keine versteckten Überlebenden, hieß das. Der Cajun deutete auf den Fremden. »Das wird er uns sagen.« »Er?« echote Pepe verblüfft. »Aber wie?« »Irgendwie prügle ich es schon aus ihm raus«, brummte der BASIS-Veteran.
Schließlich hatte Joseph doch noch gefrühstückt, denn Pepe hatte recht - er mußte unbedingt bei Kräften bleiben. Bis nach Swamp City war es noch ein gutes Stück, und ohne Antigravs wurde es ein mühsamer Weg. Um so mehr mit einem Gefangenen. Allerdings würde das Gelände bald besser werden, sobald sie die Randzone hinter sich gelassen hatten. Dort gab es allerdings auch weniger Deckung. Joseph konnte nicht sicher sein, daß nicht die Artgenossen des Käferartigen nach Überlebenden des havarierten Schiffs suchten. Er fand das Benehmen des Fremden nach wie vor eigenartig. Er schien über alle Maßen wütend zu reagieren, wenn man ihm etwas Gutes tat, als... ja, als suchte er gar den Tod. Aber nein, das war zu weit hergeholt. Jedes vernünftige Lebewesen war mit einem gesunden instinktiven Überlebens-160-
willen ausgestattet, das diente schon zur Erhaltung der Art. Selbstverständlich würde der Käferartige keine Gelegenheit auslassen, um ihnen den Schädel einzuschlagen und zu fliehen, aber ... Er unterbrach den Gedanken erneut. Der Fremde hatte ihnen eben nicht den Schädel eingeschlagen, obwohl er dazu schon einige Male Gelegenheit gehabt hatte. Zuletzt vergangene Nacht, als Bunny so jämmerlich versagt hatte und sie beide in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf gelegen waren. Warum wohl nicht? Sie waren Feinde. Keiner, weder Joseph noch sein Gefangener, hatte bisher einen Hehl daraus gemacht. Und trotzdem griff er sie nicht direkt an. Auf der anderen Seite aber lehnte er jede Unterstützung zur Verständigung entschieden ab; er beachtete Josephs pantomimische Bemühungen nicht und reagierte nicht auf einzelne, mit Gesten oder mit greifbaren Objekten veranschaulichte Worte. »Wenn wir nur mit ihm reden könnten!« rief er laut aus und erschrak selbst über seinen unerwarteten Ausbruch. »Könnte möglicherweise klappen«, lautete Bunnys unvermeidlich lakonische Antwort, nachdem er sich nun endlich dazu bequemte, etwas dazu beizutragen. Joseph Broussard jr. starrte den kleinen Roboter so verdutzt an, daß ihm der Mund offenblieb. »Was - was soll das heißen: könnte klappen?« »War die Ursache für mangelnde Vorsicht vergangene Nacht«, schnarrte Bunny. »Analyse der fremden Sprache gestaltete sich sehr kompliziert. Gibt fast keine Vergleichsmöglichkeiten. Sollte nun am Objekt versucht werden, um Richtigkeit der Übersetzung zu bestätigen.« »Dann mach doch endlich!« schrie Joseph. Der Cajun fuchtelte so kurios mit den Händen, daß Pepe zum ersten Mal sein heiteres, unbedarftes Lachen erklingen ließ. -161-
Bunny verdrehte seine drei Stielaugen zu dem Käferartigen und ratterte los, in einem für Joseph und Pepe völlig unverständlichen und seltsam betonten Buchstabensalat, der beiden gehörige Bewunderung abverlangte und ihnen deutlich machte, daß sie diese Sprache niemals würden lernen geschweige denn aussprechen können. Das schaffte nur ein Roboter oder jemand mit besonders veranlagten Stimmbändern, drei Zungen und einem sehr flexiblen Kehlkopf. Der Gefangene schien sich zunächst zu weigern, Bunny zuzuhören, so wie zuvor ihn niemand beachtet hatte. Dann jedoch drehte er doch langsam den kleinen Kopf mit den großen, beunruhigenden rötlichen Facettenaugen zu dem metallischen Fossil - und krächzte etwas zurück. Daraufhin schien sich ein heftiger Dialog zwischen beiden zu entwickeln. Joseph und Pepe waren nahe daran, sich die Ohren zuzuhalten, so unangenehm nichtmenschlich, gleichzeitig schrill und rauh, klang es für sie. Dann herrschte abrupt Stille. Die beiden Menschen sahen den Roboter fast flehend an; die Nerven zum Zerreißen gespannt. »Also?« quetschte Joseph schließlich zwischen den Zähnen hervor. Seine Reizschwelle lag nach wie vor enorm niedrig, und Bunny trug nicht dazu bei, sie zu erhöhen. Der Roboter ließ sich Zeit, wie bei allem, analysierte bedächtig und richtete dann endlich jeweils ein Auge auf den Gefangenen, Pepe und Joseph. »Die Kurzform seiner Kodebezeichnung lautet Gemba, und er ist ein Gazka und Krieger«, sagte er.
In die atemlose Stille hinein verklang allmählich die metallische Stimme des Roboters. »Es ist nicht einfach zu begreifen, was in Gemba vorgeht und was er mir klarzumachen versuchte«, sagte Bunny. Eine etwas -162-
seltsame Bemerkung für ein künstliches Geschöpf ohne Biokomponente. »Ich konnte immerhin in Erfahrung bringen, daß Gemba den Status eines rangniederen Soldaten bekleidet und auf seinem ersten Flug war. Offensichtlich sind bei den Gazkar die Ränge an der Zahl der Kopf spitzen zu erkennen. Je weniger Spitzen, desto höher der Rang.« »Da sind wir also einem Irrtum auferlegen«, brummte Joseph, der sich an die erste Begegnung mit den Käferartigen erinnerte. »Korrekt. Gemba vermutet, daß der Gazka, den wir sterbend vorgefunden haben, tatsächlich der Kommandant des Schiffes gewesen ist, wie wir auch angenommen haben. Und er vermutet weiter, daß er der einzige Überlebende ist, denn er fühlt unendliche Leere in sich.« »Wie tragisch«, sagte der Cajun sarkastisch. »Ich bin gerührt. Und?« »Er bezeichnet dich und Pepe als Bund, und so, wie er das ausgedrückt hat, meint er das abfällig.« »Abfällig?« brauste Joseph auf. »Ja, in dem Sinne, daß diejenigen Lebewesen, welche die Gazkar aufsuchen, entweder Feind oder Bund sind, in keinem Fall aber gleichzustellen mit dem Kollektiv der Gazkar und der anderen .« In Josephs Gehirn klingelte eine Glocke. »Der anderen?« wiederholte er langsam. »Ein Völkerbund. Gemba ist nicht der Vertreter nur eines einzigen Fremdvolkes, sondern es gibt mehrere. Dieser Völkerbund agiert wie ein Kollektiv, in dem jeder seine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat - und auch nach nichts anderem trachtet, als sich dieser würdig zu erweisen. Diese Völker stehen nach Gembas Ansicht in der Entwicklung weit über der aller anderen Lebewesen beispielsweise in dieser Galaxis. Menschen sind für sie also entsprechend ihrer Wehrhaftigkeit entweder Feinde, die ausgelöscht werden müssen, oder Bund. Sind sie, wie -163-
ihr beide, sozusagen wehrlos und leicht zu überwältigen, erhalten sie den Status Bund im Sinne von brauchbarem Resonanzmaterial. Gemba ist der Ansicht, daß ihr hervorragendes Resonanzmaterial seid und vielleicht sogar noch geeigneter als die Vecharer, die einst für ihn die Patenschaft übernommen haben.« Pepe standen die Fragezeichen auf die Stirn geschrieben, und er gaffte den Krieger unverhohlen an. »Also, ich verstehe nicht ein einziges Wort«, sagte er. »In der Tat scheint es so, als könne Gemba sich nicht verständlicher ausdrücken«, setzte Bunny ihm auseinander. Seitdem Joseph und Pepe mit ihm im Camp Mirage zusammengearbeitet hatten, hatten sie noch nie so viele Worte hintereinander von dem Roboter gehört, und dann auch noch ohne verschraubte und schrullige Schnörkel. Er schnarrte und klapperte nicht einmal mehr. Für einen Moment erinnerte nichts mehr an den Schrotthaufen, der längst ausrangiert gehörte. »Einen Teil mag er verschweigen, vieles aber weiß er einfach nicht. Das ist in diesem Kollektiv nicht notwendig, jeder weiß gerade genug, um seine Aufgabe zu erfüllen. Mehr wäre verschwendet. Gemba kann Aussagen machen, aber diese nicht erklären. Wir verstehen sie oder nicht - und in diesem Fall letzteres. All diese Ausdrücke wie Resonanzmaterial, Bund oder ähnliches kann ich nach der Analyse zwar einigermaßen sinngemäß übersetzen, aber nicht erläutern. Gemba wiederum kennt offenbar keine Begriffe wie Individuum, eigenständige Entwicklung und so weiter. Nur der Begriff allein ist ihm geläufig, aufgrund der Erzählung anderer und der bitteren Erfahrung am eigenen Leib. Das hat ihn wahrscheinlich einiges an Verstand gekostet.« »Ich wiederhole, ich bin gerührt«, knurrte Joseph. »Hast du herausbekommen können, weshalb er und seine Kumpane in die Milchstraße gekommen sind?« -164-
»Vorausgesetzt, daß sie auch aus einer anderen Galaxis kommen.« »Das nehme ich doch stark an. Natürlich haben wir noch nicht jeden Kiesel, der um eine Sonne herumfliegt, erforscht, aber ein so aggressives Volk wäre uns bestimmt schon früher untergekommen. Die beherrschen die Raumfahrt schon länger, sonst wäre Gemba viel ehrfürchtiger und zurückhaltender, weil es etwas ganz Neues und Erhabenes für ihn wäre. Aber er ist wohl lediglich in das Alter gekommen, um als Soldat an einem Feldzug teilzunehmen und schöpft ansonsten aus dem Erfahrungspotenzial der anderen.« Joseph war von sich selbst überrascht. So viele lange Sätze nacheinander! »In der Tat, Gemba deutete an, daß dieser Völkerbund schon sehr lange die Raumfahrt beherrscht und auf der Suche nach gutem Resonanzmaterial ist. Genaue historische Hintergründe kennt er nicht. Er weiß auch nicht, wie seine Heimatgalaxis heißt oder wo sie sich befindet. Das ist für ihn unwichtig, er interessiert sich nicht dafür.« »Ist es für ihn dann wenigstens wichtig, weshalb er hier ist?« »Keineswegs. Er ist ein Krieger, sonst nichts. Seine Aufgabe ist stets dieselbe: Feinde bekämpfen, Bund einfangen. Wo er seine Aufgabe erfüllt, spielt keine Rolle. Ich habe versucht, ihm zu erläutern, welche Rolle die Menschen hier spielen, aber er unterbrach mich sofort. Er will es nicht wissen.« »Damit er keine Beziehung herstellen kann und vielleicht den Sinn des Kämpfens verliert?« »Nein. Er steht im niedrigsten Rang. Gemba macht sich keine Gedanken über andere, nicht einmal über sich selbst - abgesehen davon, daß er es als schreckliche Schande empfindet, gefangen genommen worden zu sein. Keinem Gazka schien das je widerfahren zu sein.« »Dann sag ihm, daß wir ihn nicht als Gefangenen behandeln -165-
wollen. Wenn er freiwillig bei uns bleibt, müssen wir ihn nicht fesseln.« Bunny sprach mit dem Gazka, der sehr heftig reagierte. Joseph kannte die Antwort schon, bevor der Roboter sie übersetzte. »Er ist außer sich über deine Unverschämtheit und verlangt im Gegenteil, daß ihr mit ihm zu kommen habt. Da ihr den Gazkar letztlich doch nicht entkommen werdet, solltet ihr besser freiwillig mitkommen. So seid ihr noch als Resonanzmaterial nützlich. Bei fortdauernder Gegenwehr werdet ihr sonst getötet. Das wäre aber Materialverschwendung.« Joseph stand auf, er mußte sich jetzt bewegen, sonst platzte er. »Verschwendung ist es, mit diesem Mistkäfer zu diskutieren!« sagte er wütend. »Er ist so vernagelt, daß es nicht die geringste Chance zur Verständigung gibt - da nützt es auch nichts, daß du übersetzen kannst!« »Nein, Gemba kann gar nicht anders reagieren. Er entstammt einem Kollektiv, vergleichbar einem Ameisenstaat, in dem der einzelne absolut nichts zählt. Es gibt keine Individuen; das Pflichtbewußtsein und das Verlangen, dem Wohle aller zu dienen, ist schon genetisch festgelegt. Ebenso das Verhalten Fremden gegenüber, die starre Festlegung in die Bereiche ›Feind‹ und ›Bund‹. Links und rechts daneben oder gar in der Mitte gibt es nichts. Die Schranken stehen fest und unerschütterlich.« Kurz krächzte Bunny, dann sprach er weiter. »Gembas Verstand, selbst wenn er durch die Schande der Gefangenschaft nicht angegriffen wäre, ist nur zu begrenztem Denken fähig, keinesfalls aber zu abstrakter Vorstellungskraft oder gar Phantasie. Er hat nicht einmal ein Zeitbewußtsein in unserem Sinne. Wohl weiß er, daß er mal ein Heranwachsender gewesen ist, aber er erinnert sich nicht daran. Genauso wenig kann er sich selbst später einmal alt und gebrechlich vorstellen. -166-
Ich habe ihm Fragen dieser Art gestellt, aber er reagiert nur ungläubig und hält mich vermutlich für irre in dem Sinne, daß meine Systeme zusehends versagen. Vieles kann ich ihm auch nicht übersetzen, weil es keine analogen Begriffe in seiner Sprache gibt - ebenso umgekehrt.« »Also wissen wir, daß wir nichts wissen. Nur seinen Namen.« »Gemba ist kein richtiger Name. Gazkar haben keine Namen, weil sie keine Individuen sind. Sie unterscheiden sich einander durch die Ränge und die natürlichen Muster auf ihren Rückenpanzern, sie reden sich mit den Kurzformen ihrer Kodebezeichnungen an. Die Kodebezeichnungen benennen ihre genaue Herkunft. Möglicherweise tragen Hunderte anderer Gazkar dieselbe Kurzform Gemba.«
Joseph hatte angeordnet, das Lager abzubrechen und sich in flottem Tempo auf den Weg nach Swamp City zu machen. Er war zornig und enttäuscht, daß der Gefangene ihm auch nicht weiterhelfen konnte. Fast ärgerte er sich darüber, daß Bunny nur als Vermittler von holprigen Dialogen auftreten konnte. Dadurch war die hoffnungsvolle Illusion, daß der Käferartige viel zur Lösung des Rätsels beitragen konnte, zerstört. Es war vollkommen unwichtig, daß sie ihn mit Gemba anreden konnten und sein Volk sich Gazkar nannte. Daß er Soldat war, hatten sie schon die ganze Zeit gewußt. Natürlich konnte Joseph einige Fragen wiederholen und weitere stellen, die er bisher zurückgehalten hatte. Aber er durfte nicht zu ungeduldig sein: Bunny befand sich nicht in Höchstform und durfte nicht überbelastet werden. Auch dem Gefangenen mußte Erholung zugestanden werden; es nutzte nichts, ihn andauernd mit einem Stakkato an Fragen zu behämmern. Es würde ihn nur noch mehr verwirren und ihn -167-
vielleicht ganz verrückt machen. Nicht, daß der Cajun plötzlich Verständnis oder gar Mitleid für dieses Fremdwesen entwickeln würde. Dazu stand das Bild seiner ermordeten Freunde noch viel zu klar vor seinen Augen. Gemba machte ja allzu deutlich, was er von ihm und Pepe hielt nicht mehr als von einem Nutztier. Und dieses Nutztier wurde nicht einmal gehätschelt und gepflegt, damit es möglichst hohen Profit einbrachte. Joseph bezweifelte, daß Gemba die Begriffe Achtung und Würde verstehen konnte. Jedoch fühlte er sich seinen Häschern gegenüber auf jeden Fall grenzenlos überlegen und schaute auf sie herab, wie auf alle anderen, die nicht dem Völkerbund angehörten. Schließlich wurde Joseph auf sich selbst wütend, weil er nur noch grübelte und sich dabei beständig im Kreis drehte. Dabei würde er nur das Ziel aus den Augen verlieren; nämlich, einen Widerstand zu organisieren und diese Fremden von Lafayette zu verjagen, aus der Milchstraße hinauszuwerfen. Gemba hatte es nicht deutlich gesagt, aber dennoch umschrieben, daß Lafayette keinen alleinigen Testfall darstellte. Die Invasion fand gleichzeitig an sehr vielen Orten statt. Gemba wußte natürlich nicht, wo. Er hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, auf welchem Planeten er sich aufhielt. Koordinaten, Stemenkarten, Kursberechnungen, das waren ebenfalls Begriffe, die ihm als einfachem Soldaten nichts bedeuteten. Dieses Wissen wurde den Gazkar offensichtlich erst nach und nach, mit aufsteigendem Rang und größerer Verantwortung, zugänglich gemacht. Um so bedauerlicher, daß der Kommandant umgekommen war - sein Wissen und seine Informationen wären wertvoll gewesen. Aber er hatte sich rechtzeitig umgebracht, bevor ihm dieses Wissen vom Feind entrissen werden konnte. Das war das einzige Verhalten, das Joseph klar verständlich war. Nach einer Weile kam Pepe an seine Seite. »Wirst du mir heute abend alles erklären?« -168-
»Natürlich, Pepe. Aber da gibt es wohl nicht viel zu erklären. Gemba weiß kaum mehr als wir. Jetzt müssen wir erst mal zusehen, daß wir so schnell wie möglich nach Swamp City kommen.« »Wie lange werden wir noch brauchen?« »Zu Fuß? Noch gut fünf oder sechs Tage, schätze ich. Die Wegverhältnisse werden sich zwar bald bessern, aber Gemba ist uns ziemlich hinderlich. Wir müssen zudem weiterhin auf unsere Deckung achten.«
Den ganzen Tag über hatte Gemba Fluchtversuche unternommen. Der Krieger schien sich nicht damit abfinden zu wollen, ein Gefangener zu sein. Bunny, der immer wieder versuchte mit ihm zu reden, erhielt nur haßerfüllte Abfuhren. Gemba wurde es nicht müde, einen Wortschwall über seine Häscher zu ergießen, der von seiner Aussagekraft jedoch nicht weiter von Bedeutung war. Pepe, den das alles ziemlich beschäftigte, wirkte auf einmal zusehends nachdenklicher, und Joseph bemerkte, wie er den Gazka immer wieder verstohlen musterte. »Ist dir etwas Besonderes aufgefallen?« Pepe hob halb die Schultern. »Na ja, ich dachte nur ... Ich wollte gern wissen, ob Gemba ein Er oder eine Sie ist.« Joseph stutzte und runzelte dann die Stirn. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht, weil es bedeutungslos erschien. Aber Pepe hatte recht, vielleicht fanden sie dadurch eine Schwachstelle, um mehr Informationen aus Gemba herauszuholen. Irgend etwas mußte er doch noch wissen! »Frag ihn, Bunny!« forderte er den Roboter auf. Bunny sprach den Krieger an, und es entwickelte sich eine längere Diskussion. Schließlich wandte sich Bunny den beiden Lafayettern wieder zu. -169-
»Er versteht meine Frage nicht«, sagte er. »Wie bitte?« »Ich habe es mit allen möglichen Umschreibungen versucht. Aber es gibt in seiner Sprache anscheinend keinen Begriff dafür. Wie es aussieht, besitzen Gazkar kein Geschlecht. Ich konnte es ihm nicht verständlich machen. Als ich wissen wollte, wie er entstanden ist, wollte er darauf keine Antwort geben. Er machte deutlich, daß das für einen Krieger nicht von Bedeutung sei. Ich gehe davon aus, daß meine bisherige Übersetzung falsch gewesen ist und er eigentlich es bedeutet.« »Belassen wir es bei er«, versetzte Joseph. »Und er hat wirklich gar keine Vorstellung, daß es verschiedene Geschlechter zur Fortpflanzung gibt?« »Nein. Und er will es auch gar nicht wissen. Es macht wohl keinen Sinn, weiter eine Verständigung mit ihm zu suchen.« Der Cajun schüttelte den Kopf. Immer noch mehr Fragen. Nichts als ein paar Aussagen, die völlig in der Luft hingen. Schweigend wanderte er weiter.
10. Schock »Ich habe jetzt lange genug gewartet«, sagte Joseph am Abend, »und möchte meine Fragen beantwortet haben.« »Sag mal, braucht er eigentlich nichts zu essen?« mischte Pepe sich ein und deutete auf Gemba. »Egal, was ich ihm anbiete, er will nichts essen.« Es war unvorstellbar für ihn, den ewig Hungrigen, daß jemand in den Essensstreik treten konnte. -170-
»Er wollte keine Auskunft geben, weder darauf, ob er die Nahrung verweigert, noch ob er sie nicht verträgt, noch ob er von Reserven zehrt.« »Er gibt überhaupt herzlich wenig Auskünfte«, knurrte Joseph. Wenngleich man das dem Gefangenen auch nicht verdenken konnte. Aber das war dem Cajun gleichgültig. Seine Geduld war weitgehend erschöpft. Er stand kurz davor, Gemba anzuspringen und Antworten aus ihm herauszuschlagen. »Gemba hat gesagt, daß es noch andere gibt«, fuhr er dann fort. »Allerdings, und nicht nur ein Volk. Soll ich ihn fragen?« »Frag ihn!« Erneut entwickelte sich ein längerer Disput zwischen dem Roboter und dem Gazka, während die beiden Menschen schweigend aßen. Als Gemba schwieg, wandte Bunny sich an Joseph. »Die Gazkar sind nicht die ersten, die einen Planeten besetzen«, begann er. »Das sind die Neezer« Joseph erstarrte mitten in der Bewegung. Das Stückchen gegrillten Fisch, das er sich in den Mund schieben wollte, entfiel seiner Hand. »Großer Gott«, flüsterte er. »Dann ... dann sind es gar nicht die Gazkar gewesen?« »Nein«, lautete Bunnys Antwort, der genau zu wissen schien, was Joseph meinte. »Die Krieger dienen dazu, den Besatzungszustand aufrechtzuerhalten und den Neezern den Rücken freizuhalten. Die Neezer sind diejenigen, die die Planeten auswählen, landen und erforschen.« »Erforschen?« Josephs Stimme schnappte beinahe über. Erforschung nannte man es, ein suggestives Strahlungsfeld über einen ganzen Planeten zu legen, das alle Intelligenzwesen fast in den Wahnsinn trieb? Erforschung nannte man es, wenn man die hilflosen -171-
und schmerzgepeinigten Geschöpfe, die nichts anderes taten, als sich ihrer Haut zu erwehren, nacheinander mit gezielten Strahlschüssen abknallte und geradezu verdampfte, daß nichts mehr von ihnen übrigblieb? Erforschung nannte man es, wenn eine ganze Zivilisation ausgelöscht wurde und die wenigen verbliebenen Überlebenden wie Vieh zusammengetrieben wurden? Nicht einmal die Krieger waren es gewesen, so daß man als Erklärung wenigstens hätte anbringen können, daß die Gazkar ein aggressives Volk waren und nach ihren eigenen Moralbegriffen alles zu unterjochen trachteten. Nein, es waren die Erkunder gewesen. Die Erkunder! Ich bring' ihn um, dachte er; in seinem Kopf schlugen glühende Hämmer auf brennende hohläugige Schädel ein. Ich bring' ihn um, ich bring' ihn um. Joseph zuckte zusammen, als er eine Berührung an seinem Arm spürte, und sah Pepes Hand. »Jop«, wisperte er. Joseph preßte die Fingerspitzen gegen seine Schläfen und rieb sie mit kreisenden Bewegungen. »Ist schon gut«, stieß er schließlich schweratmend hervor. Er ließ die zitternden Hände sinken und richtete seine zornglühenden Augen auf Bunny. »Wo sind sie?« fragte er leise. »Frag ihn oder sie oder es, wie auch immer - frag diesen Mistkäfer, wo sie sind!« »Er weiß es nicht«, antwortete Bunny nach einer Weile. »Das scheint einer der Gründe zu sein, weshalb er so durcheinander ist. Er findet weder seine eigenen Leute, deren übrige Schiffe inzwischen gelandet sein müßten, noch die Neezer.« Joseph nickte und wandte sich ab. Einige Zeit schaute er still auf das Land, das rasch in der Dämmerung versank. »Laß uns schlafen«, sagte er dann zu Pepe, legte sich hin und zog die Schutzplane über sich. Der Junge legte sich neben ihn, als wollte er ihn durch seine Anwesenheit trösten, und war schnell eingeschlafen. Bald darauf schnarchte auch Joseph leise. -172-
Im Morgengrauen schreckte der alte Haudegen erneut hoch und war auf den Beinen, noch bevor er die Augen ganz aufgebracht hatte. Bunny und der Gazka kämpften am Rand des Lagers miteinander; der Roboter hielt den Fremden erbarmungslos fest, während der Käferartige versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. Wenigstens diesmal hatte Bunny aufgepaßt. »Hört auf!« brüllte der Cajun. Einige Blauschwärmer wurden durch den Schrei aufgeschreckt und flatterten lärmend hoch. Unruhe entstand in den Bäumen ringsum, selbst in den Wassergräben gab es mehrere platschende Geräusche. Pepe fuhr auf und blinzelte erschrocken um sich. Auch die beiden Kämpfenden verharrten. Dann sackte Gemba plötzlich zusammen und fiel auf den Rücken, alle sechs Extremitäten steif von sich gestreckt. Bunny wandte sich ihm sofort zu und untersuchte ihn. »Er ist tot«, berichtete er.
»Tot?« wiederholte Joseph ungläubig. »Aber wie ...« »Du hast ihn zu Tode erschreckt«, vermutete Pepe, stand auf und näherte sich vorsichtig dem toten Krieger. »Quatsch«, fauchte der Cajun. »Ein Krieger, der sich zu Tode erschreckt, nur weil ich ein bißchen die Stimme erhebe! Lächerlich!« »Stimmt«, nickte Pepe. »In letzter Zeit schreist du nämlich dauernd rum. Wäre schon ein bißchen merkwürdig, daß er jetzt erst umfiel.« Auch Joseph untersuchte nun seinerseits den starren Käferartigen, indem er ihn mehrmals unsanft anpuffte oder versuchte, eine Reaktion in den Augen zu erkennen. Über den rötlichen Facetten bildete sich ein leicht milchiger Schleier, ähnlich dem -173-
Schlupflid einer Schlange. Gemba hatte sich in kurzen Abständen immer sorgfältig und sehr schnell mit allen vier Armen gleichzeitig geputzt, besonders die Augen. Joseph hatte schon vermutet, daß dabei aus Drüsen eine Flüssigkeit austrat, denn danach hatte er jedesmal stark geglänzt. »Er - er scheint ja nun wirklich tot zu sein«, stotterte er, jetzt ernsthaft erschrocken und schuldbewußt. »Aber das kann nicht an mir gelegen haben ...« »Das kann eine Menge Gründe haben«, meldete sich Bunny zu Wort. »Möglicherweise, weil er keine Nahrung zu sich genommen hat. Vielleicht die Klimaumstellung, oder er ist ohne unser Wissen von einem Insekt gestochen worden, das eine Krankheit mit tödlichem Verlauf in ihm auslöste. Ich bin von meiner Programmierung her nicht in der Lage, eine genaue medizinische Untersuchung durchzuführen und die tatsächliche Todesursache festzustellen. Aber die Körpertemperatur des Gazka ist um mehr als zehn Grad gesunken, sämtliche Körperfunktionen stehen still, und ich kann keine Gehirnströme mehr anmessen. Außerdem scheint eine Art Konservierungsvorgang einzusetzen, ausgelöst durch die Starre der Unterkühlung. Es ist zwar anders als bei dem Kommandanten, doch das muß nichts bedeuten. Der Kommandant hat Selbstmord mit einer Waffe begangen.« »Vielleicht wollte er auch sterben, nachdem sein neuester Fluchtversuch mißlungen ist«, sinnierte Joseph. »Aber das würde einfach nicht zu seinen bisherigen Äußerungen passen.« »Der Kommandant hat sich umgebracht.« »Ja, weil er ohnehin zum Tode verurteilt war. Das ist etwas anderes, Pepe.« »Jop?« »Ja?« »Irgendwie tut's mir leid, daß er nun tot ist.« »Leid?« fuhr Joseph auf. »Na ja, äh ... immerhin haben wir ein paar Antworten erhalten, -174-
und vielleicht hätte er uns doch zu den anderen führen können...« Joseph schnaubte durch die Nase. »Ich wollte auch nicht, daß er stirbt«, sagte er widerwillig. »Ich hab's mir gewünscht, natürlich, aber nicht wirklich gewollt. Verstehst du?« »Glaub' schon. Und was machen wir jetzt?« »Wir nehmen ihn mit nach Swamp City. Schließlich ist er der erste der Fremden, den wir in die Hände bekommen haben. In der Stadt finden wir die Möglichkeiten, ihn genauer zu untersuchen. Kannst du ihn tragen, Bunny?« »Kein Problem.« Der Roboter lud sich den Käferartigen auf den Rücken, und sie gingen schweigend weiter.
Am späten Nachmittag ließen sie die Wälder der Wasserlandschaft hinter sich zurück. Vor ihnen breitete sich eine weite, leicht gewellte und baumreiche Ebene aus, mit vielen Freiflächen voller Schilf- und Büschelgras dazwischen. Der Boden sah fest aus, aber das täuschte. Unter der dicken Humusschicht lag Wasser und hinterließ bei jedem Schritt den Eindruck, über einen nachgiebigen, weichen Teppich zu laufen. Auch hier konnte der nächste Schritt der letzte sein; überall lauerten gut verborgen tückische Sumpflöcher, in denen man in Sekundenschnelle haltlos versank. In einiger Entfernung zog in der einsetzenden Dämmerung eine Herde Gruinos vorbei, etwa einen Meter hohe und zwei Meter lange Paarhufer, eine Mischung zwischen Schwein und Nagetier mit mächtigen Hauern an den Seiten und kräftigen Mahlzähnen, jedoch friedliche Pflanzenfresser. Pepe glotzte sich halb die Augen aus; diese Tiere hatte er noch nie gesehen, da sie in seiner fast 4000 Kilometer entfernten Dschungelheimat nicht vorkamen. Joseph hingegen schaute unablässig zum Himmel, aber alles schien ruhig und friedlich. Es gab ohnehin keine Wahl: Sie -175-
mußten diese Ebene durchqueren, um Swamp City zu erreichen. »Wir schlagen hier das Lager auf«, ordnete er an. »Morgen müssen wir ausgeruht und schnell sein. Wir wollen doch nicht kurz vor unserem Ziel scheitern.« Pepe machte sich auf die Suche nach Eßbarem und kam mit einer Armvoll Früchten, Nüssen, Pilzen und Wurzeln zurück; zum Fischen hatte er keine Zeit mehr. Aber das Essen reichte auch so aus: Joseph griff ohnehin kaum zu, und Pepe aß für ihn mit. Danach saßen sie einige Zeit still in der Finsternis und schauten ins herunterbrennende Feuer. Nicht weit von ihnen lag die Grenze zum Freiland, in dem Pepe die nächsten Nächte verbringen würde. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er freien Himmel über sich haben, und Sterne. Schließlich begann Pepe ein Gespräch: »Weißt du schon, was wir tun werden, wenn wir in der Stadt sind?« »Wir werden nach Freunden suchen, die den Neezern entkommen sind.« »Du glaubst nicht mehr daran, daß wir dort Rettung finden?« »Nein. Gemba hat zugegeben, daß weitere Gazkar-Schiffe gelandet sind. Und so viele Orte gibt es auf Lafayette nicht, die für sie interessant sind.« Joseph stieß Pepe leicht an. »Das war Ironie, Junge. Swamp City ist die einzige größere Siedlung auf unserer Welt.« »Das weiß ich doch. Aber mit deinem komischen Humor konnte ich noch nie was anfangen.« Jetzt lachte Joseph. »Aber ich mit deinem, Pepe. ›Komischer Humor‹. Das ist gut, das ist wirklich gut!« »Ach, Jop, du bist unverbesserlich. Du hast meine Frage immer noch nicht richtig beantwortet: Was werden wir dann tun?« »Es gibt viele Möglichkeiten, Pepe. Wir werden es wissen, wenn wir dort sind. Wir schaffen das schon irgendwie. Wir sind so weit gekommen, daß wir jetzt nicht vor weiteren Problemen Angst haben dürfen.« -176-
Pepe nickte. »Angst hab ich wirklich keine, Job. Aber ich bin ziemlich durcheinander. Es tut mir leid, wenn ich dadurch manchmal ein bißchen dumm reagiere.« »Red keinen Blödsinn, Pepe! Du machst das alles sehr gut.« »Hm.« Einige Zeit schaute der Junge wieder stumm ins Feuer und fuhr dann fort: »Du hast gesagt, wenn es sonst niemanden mehr gibt, kann uns nur noch einer helfen. Der Mann, der uns retten könnte - meintest du damit Perry Rhodan?« »Ja.« »Dewey hat mir von ihm erzählt. Er ist doch viele Jahrtausende alt, nicht wahr?« »Er und einige andere. Ich bin mit ihnen zur Großen Leere und zurück geflogen. Sie haben Chips, die sie unsterblich machen.« »Das kann ich mir gar nicht vorstellen, so alt zu werden. Wird man da nicht verrückt?« »Kann schon sein, Junge. Aber das wird bestimmt noch viele weitere tausend Jahre dauern.« »Und du hoffst, wenn uns sonst keiner mehr helfen kann, dann Perry Rhodan?« »Wenn er es erfährt, sicher. Ich kenne ihn schließlich persönlich, Pepe. Du könntest ihn dir als Vorbild nehmen, wenn du noch länger ein Held sein willst.« Er klopfte auf Pepes Schulter. »Ich meine, nach dem allem hier. Denn ein Held bist du jetzt schon.« »Das wär' schon prima, Jop. Aber dann mußt du mir mehr von ihm erzählen.« »Von ihm und den anderen, Pepe. Das werde ich. Ich verspreche es dir. Sobald wir wieder ein bißchen Zeit für uns haben.« »Aber für den Anfang ...« »Okay, okay! Laß mir nur einen Augenblick Zeit, damit ich in meinem reichen Erinnerungsschatz die richtige Geschichte auswähle.« -177-
11. Erweckung Die nächsten Tage vergingen ohne besondere Ereignisse. Sie kamen schnell voran; Joseph kannte sich auch auf diesem Gelände gut aus. Pepe fand sich sehr schnell zurecht. Mit dem sicheren Gespür eines geborenen und in der Wildnis aufgewachsenen Lafayetters hatte er bald herausgefunden, welcher Tritt ungefährlich war. Nur in der ersten Nacht schlief er sehr schlecht. Er fühlte sich ungeschützt unter dem freien Himmel und schreckte mehrmals hoch. Joseph ordnete an, daß sie beide abwechselnd Wache hielten, da er Bunny nicht recht traute; außerdem würde es den Jungen beruhigen. Bunny hoppelte wie stets hinter ihnen her, die Last des Gazka auf dem Rücken. Zwischendurch hatte der Roboter wieder einige Aussetzer, und in seinem Innern klapperte es bedenklich. Aber er hielt sich tapfer, und so erblickten sie schließlich eines Vormittags am Horizont die Silhouette einer Stadt. »Jetzt haben wir es bald geschafft, nicht wahr, Jop?« fragte Pepe begeistert. »Ja, Pepe. Noch ungefähr zehn bis fünfzehn Kilometer, dann sind wir dort.« In diesem Moment sprang der angeblich tote Gemba von Bunnys Rücken und rannte flink davon.
Für Gemba gab es keinen anderen Ausweg mehr, nachdem sein letzter Fluchtversuch fehlgeschlagen war. Er hatte vorgehabt, zu fliehen und dann nacheinander den wertvollen Bund aus dem -178-
Hinterhalt zu überwältigen. Nur so konnte er sein Versagen wenigstens zu einem geringen Teil wieder gutmachen. Doch auch dieser letzte Versuch mißlang. Gemba blieb nur noch eines - er stellte sich tot. In besonderen Notfällen konnten Gazkar sich selbst in eine Art scheintoten Schlaf versetzen, von einem Moment zum anderen. In diesem Zustand waren an ihnen keinerlei Körper oder Gehirnfunktionen meßbar, und ihre Körpertemperatur sank auf Leichenstarre. Es war eine fast instinktive Reaktion auf die Verzweiflung, die Gemba fühlte. Er wußte von Natur aus, daß er dazu in der Lage war, sich totzustellen, aber nicht, wie lange, oder wie er sich jemals wieder daraus befreien konnte. Das spielte keine Rolle für ihn. Wenn er nie wieder erwachte um so besser. Dann konnte endlich die Schande ausgelöscht werden. Gemba spürte, wie in ihm plötzlich alles erstarrte, es wurde ihm ganz leicht, und dann wußte er gar nichts mehr. Ebenso übergangslos, wie er in die Starre gefallen war, erwachte er. Seine Körperfunktionen setzten so rasch ein, die Erhöhung der Temperatur folgte so schnell, daß er sogar den mangelhaften Roboter überlisten konnte. Instinktiv handelte er, riß sich von seinem Häscher los und rannte davon. Euphorie überflutete ihn, daß es ihm beinahe vorkam, als schwebte er leicht dahin. Tatsächlich lief er so schnell, daß weder der Bund noch der Roboter ihn sofort einholen konnten. Seine Beine fanden automatisch den sicheren Tritt. Der Krieger hielt direkt auf einen Wald zu, der nicht mehr weit von der Stadt entfernt war. War er dort erst einmal angelangt, hatte er genügend Deckung. Gembas sämtliche Sinne waren in höchster Aufregung und spornten ihn zur Höchstleistung an. Es schien, als hätte es den Unfall nie gegeben, als wäre er nie gedemütigt worden. Die -179-
Totenstarre war völlig von ihm abgefallen; er mußte sie nicht erst abschütteln und sich davon erholen. Die Euphorie verlieh ihm Flügel. Gemba rannte im höchsten Tempo über die Ebene dahin, in der Gewißheit, endlich das Ziel erreicht zu haben. Jegliche Desorientierung, Verzweiflung und Verwirrung war von ihm abgefallen, er wußte genau, wohin er laufen mußte. Nun konnte er das Kollektiv davon informieren, daß zwei aus dem Bund entkommen waren. Die Gazkar würden die beiden ohne Schwierigkeiten überwältigen können und dem Bund eingliedern. So hatte er seine Aufgabe letztlich doch noch erfüllen können, und das Kollektiv würde ihn nicht verstoßen. Er hatte das Duft-Netzwerk der Neezer gefunden!
»Schneller!« schrie Joseph. Diesen Ansporn brauchten weder Pepe noch Bunny. In Höchstgeschwindigkeit jagten sie dem fliehenden Gazka hinterher, der direkten Kurs auf die Stadt nahm. Joseph war klar, daß sie den Gazka vermutlich verloren, wenn er erst einmal den kurz vor der Stadt liegenden Wald erreicht hatte. Innerlich schäumte er, so sehr an der Nase herumgeführt worden zu sein. Gemba hatte es sich sehr einfach gemacht: Er hatte sich einfach totgestellt, um auf jeden Fall zur Stadt gebracht zu werden. Irgendwie schien er begriffen zu haben, daß er dort seine Gefährten finden würde. Vielleicht hatte er die zwei Menschen lange genug beobachtet, um zu ahnen, daß sie ihn nicht einfach liegen lassen, sondern aus Neugier mitnehmen würden. Vielleicht hätte Joseph selbst auch so gehandelt. Der Cajun wußte zwar, daß im Moment der Vorteil auf Seiten des Gazka war, weil er den Vorsprung der Überraschung hatte. -180-
Aber sein Körper war schwer, das Vorankommen auf diesem weichen, nachschwingenden Gelände nicht leicht, und er kannte die Tücken nicht. Der Cajun vertraute darauf, daß Gemba einmal einen Fehltritt tun und wertvolle Sekunden verlieren würde. Die drei hatten sich getrennt und versuchten nun, dem Krieger den Weg abzuschneiden, allen voran Bunny, der trotz seines Handicaps mit den defekten Prallfeldern am schnellsten war. Dann kam Pepe, der mit seinen langen Beinen und dem Vorteil der Jugend flink und ausdauernd rannte. Aber auch Joseph hielt sich sehr gut, er war zwar kein junger Mann mehr und manchmal von Schwächeanfällen geplagt, aber seine Kondition erwies sich in solchen Momenten als hervorragend. Da stürzte Gemba das erste Mal. Er war sofort wieder auf den Beinen, schlug einen Haken und versuchte, einen anderen Weg in den Wald zu finden, da Bunny ihn bereits überholt hatte und von vorn angriff. Nach dem zweiten Haken stürzte der Gazka erneut, und nun kam Pepe von der rechten Seite mit langen Sätzen rasch näher. Joseph hielt weiter mit direktem Kurs auf ihn zu, so daß ihm nur noch ein Weg in den Wald offenblieb. Wie ein Hase wurde der Krieger gehetzt; er hatte wohl die Hoffnung, doch noch zu entkommen, nicht aufgegeben, denn er drehte sich kein einziges Mal um. Er rannte, stürzte, schlug einen Haken und rannte weiter. Je näher sie dem Wald kamen, desto unsicherer wurde der Boden. Wasserrinnen und Sumpflöcher nahmen zu. Hinter dem Wald lag die Stadt, vielleicht noch sechs Kilometer entfernt, ein Katzensprung gemessen an dem, was sie zurückgelegt hatten. Sie durften Gemba nun nicht entkommen lassen! In diesem Moment hatte Bunny den Krieger erreicht, und gleich darauf auch Pepe. Sie stürzten übereinander und rollten über den Boden. Der Käferartige kreischte und tobte wie ein Irr-181-
sinniger, er schleuderte den Jungen wie ein welkes Blatt von sich. Bunny jedoch war ein Roboter und von erheblichem Gewicht, er ließ sich nicht so einfach abschütteln. Und Pepe kam schnell wieder auf die Beine und stürzte sich erneut auf den Krieger. Joseph kam endlich an, lief jedoch weiter zu einem großen und sehr alten, von Moosen, Orchideen, Efeu und Lianen überwucherten Baum. Dort schnitt er hastig mit seinem Fischmesser einige Lianen ab. Während Bunny und Pepe versuchten, den tobenden Krieger festzuhalten, fesselte er ihm rasch und geschickt zuerst das lange Armpaar, dann die Beine, zuletzt das kurze Armpaar. Gefesselt und überwältigt hörte Gemba mit seinem Toben nicht auf. Das haßerfüllte Stakkato seiner schrillen Stimme klang in Pepes Ohren fast wie das mörderische Scan-Signal der Neezer in Camp Mirage. Alle Bemühungen, ihn zu beruhigen, schlugen fehl. Gemba tobte und schrie, bis er so schwach war, daß er nicht mehr konnte. Dann fiel er in eine Apathie, fast der Totenstarre ähnlich. Joseph und Pepe ließen sich keuchend und schwitzend auf den Erdboden fallen. Beide waren ein paar Minuten lang unfähig, etwas zu sagen oder auch nur den Finger zu heben. Erst nachdem sie einigermaßen Luft geschnappt hatten, konnten sie sich den Schweiß von der Stirn wischen, und in ihre trüben Augen trat wieder Leben. Bunny ließ den Krieger die ganze Zeit nicht aus den Augen, aber Gemba blieb weiterhin apathisch. Joseph glaubte zwar nicht, daß er sich aufgegeben hatte, sondern daß er im verborgenen lauerte, um wieder zuzuschlagen. Gemba wirkte jetzt anders als zuvor, nicht mehr so verwirrt. In seinen riesigen Facettenaugen lag ein beunruhigendes, wenn nicht gar beängstigendes Glimmen. »Also?« forderte der Cajun den Roboter schließlich auf. »Es ist nicht einfach, aus diesem Schwall etwas Verständliches -182-
analysieren und übersetzen zu können. Die Sprache ist immer noch sehr fremd und viele Elemente unbekannt. Gemba ist außer sich vor Haß und Zorn, andererseits aber nun ganz sicher, daß ihr ihm nun nicht mehr entkommen könnt. Seine Gefangenschaft ist nur eine Frage der Zeit und nützt euch nichts.« »Was war denn die Ursache für seine plötzliche Wiedergeburt?« »Die Neezer versprühen eine Art Duftnetz für die Gazkar, in dem sie sich orientieren können. Das war der Grund, weshalb Gemba so durcheinander gewesen ist: Er befand sich außerhalb des Duftnetzes und wußte nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Ohne dieses Netz ist ein Gazka vollkommen hilflos, da er nicht unsere Vorstellungskraft oder unser Orientierungsvermögen besitzt. Sonnenstände, Kompaß, Koordinaten - nach all dem kann er sich nicht richten. Er findet sich nur mittels seines Geruchssinns innerhalb des Neezer-Netzes zurecht. Fehlt das Netz, ist er praktisch blind und taub, ohne Bezugspunkt. Sein Geruchssinn ist zwar fein, aber nur auf das vertraute Netz und die Artgenossen ausgerichtet. Für alles andere ist er nicht empfänglich.« Josephs Mund stand vor Staunen offen. Bunny sprach soviel auf einmal! »Offensichtlich ist im weiteren Umkreis von Swamp City ein großflächiges, dichtes Duftnetz gesprüht worden. Das hat Gemba aus seiner Totenstarre zurückgeholt, und zwar so schlagartig, daß ich das Einsetzen der Körperfunktionen zwar noch registrieren, aber nicht mehr darauf reagieren konnte. Wie es scheint, beherrschen die Gazkar das Totstellen in aussichtslosen Situationen perfekt und überlisten damit sogar die Technik - bis sie in den Schutz ihres Kollektivs zurückgekehrt sind.« Bunnys Worte verhallten. Pepe zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Joseph blieb lange Zeit in kauernder Haltung sitzen, den Blick nach innen gekehrt. Niemand dachte -183-
daran, Feuer anzumachen, auf die Jagd zu gehen oder das Lager aufzuschlagen. Gemba, der Krieger, verhielt sich ruhig, nur das unheilvolle Glimmen in seinen roten Facettenaugen verriet seine Anspannung. Er beobachtete seine Häscher ununterbrochen, lauernd auf eine Gelegenheit, sie erneut und zum letzten Mai zu überlisten. Er war ins Netz zurückgekehrt, und der Bund konnte ihm nichts mehr anhaben. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Gefährten kamen. Es bereitete ihm keine Mühe mehr, sich zurechtzufinden, zu wissen, was er zu tun hatte. Er war heimgekehrt. Bunny unternahm einen erneuten vergeblichen Versuch, Swamp City anzufunken. Sie konnten die Stadt von hier aus nicht sehen, wußten aber auch so, daß dort nach Anbruch der Dämmerung keine Lichter angehen würden. Es war nicht schwer, sich auszumalen, daß die Verbreitung des Duftnetzes durch die Neezer bedeutete, daß sich Josephs schlimmste Befürchtungen erfüllt hatten: Swamp City war von den Fremden erobert und besetzt worden. Keiner, auch der Roboter nicht, konnte sich vorstellen, wie es dort zugehen mochte. Gab es noch Überlebende? Gefangene, Entflohene vielleicht. Nach wie vor wußten sie nicht, weshalb die Fremden gekommen waren und die Idylle ihres Planeten, ihr beschauliches und friedliches Leben zerstört hatten. Sie schliefen nicht in dieser Nacht. Als der Morgen des 9. Januar 1289 NGZ anbrach, machten sich die beiden Lafayetter mit dem Roboter und dem Gefangenen schweigend auf den Weg, um die letzten paar hundert Schritte ihres langen Marsches, den sie vor vier Wochen begonnen hatten.
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H. G. Francis
Testfall Lafayette
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1. Obwohl der Winter noch gar nicht richtig begonnen hatte, sanken die Temperaturen unter minus 50 Grad Celsius. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit und in diesen Breiten des uralten Planeten. Ein eisiger Wind fegte von den östlichen Ebenen her, er war feucht und verstärkte das Gefühl der Kälte. Der verantwortliche Lenker steuerte das Wetter nicht, sondern ließ der Natur ihren freien Lauf, wie es sich hin und wieder als vorteilhaft erwiesen hatte. Icho Tolot fror nicht. Seine Blicke richteten sich auf einen Erzbock, der sich mühsam durch den Schnee kämpfte und seine Hörner triumphierend gegen die Felsen rammte, als er es nach vielen Mühen geschafft hatte, auf eine eisüberzogene Fläche zu kommen. Die Fläche stieg nahezu senkrecht auf, doch er hielt sich darauf, als seien seine Hufe fest mit dem Eis verbunden. Icho Tolot rührte sich nicht. Er schien zu einem Eisblock erstarrt zu sein. Nur das Funkeln in seinen drei rötlichen Augen verriet, daß Leben in ihm war. Von den drei Augen des Haluters, die einen Durchmesser von jeweils etwa 20 Zentimetern hatten, befanden sich zwei an den beiden Kopfseiten, während das dritte deutlich höher auf der Vorderseite seines Schädels saß. Den drei Augen entging nichts, was sich in dem langgestreckten Tal bewegte. Sie nahmen sogar das nervöse Hüpfen einiger Eisflöhe wahr, die sich in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern von ihm befanden. Die Insekten waren annähernd zwei Zentimeter lang, und die männlichen Tiere sprangen bei ihrer Liebeswerbung bis zu zwei Meter hoch. Das rötliche Licht der Sonne Haluta spiegelte sich auf ihren dicken Eispanzern. Icho Tolot hatte sich schon vor über zwei Jahrzehnten auf seine Heimatwelt zurückgezogen und Halut, den einzigen -187-
Planeten der schwachroten Sonne Haluta, seitdem nicht mehr verlassen. Wer die Intelligenzwesen dieses Planeten nicht kannte, hätte annehmen können, daß eine so lange Zeitspanne für ihn von Langeweile geprägt worden war. Doch das war ganz und gar nicht der Fall. Zu keiner Zeit war er untätig gewesen. Ihm kam es vor, als sei nicht eine einzige Minute nutzlos verstrichen. Zahlreiche Abenteuer in den Tiefen des Universums hatten das Leben des Haluters geprägt, der zu den besten Freunden der Terraner zählte. Eine Ruhephase von beinahe zwanzig Jahren wäre nach einem solchen Leben durchaus gerechtfertigt gewesen. Doch Icho Tolot hatte jeden einzelnen Tag ausgeschöpft, um den höchstmöglichen Nutzen daraus zu erzielen. Er hatte wissenschaftliche Forschungen betrieben - und nebenbei die HALUTA II gebaut. Voller Stolz konnte er auf das neue Raumschiff blicken, das er bis ins kleinste Detail hinein selbst konstruiert hatte, ohne allerdings jedes Teil selbst hergestellt zu haben. Es wäre töricht gewesen, beispielsweise innere Verstrebungen für den Raumer unter unwirtschaftlichen Bedingungen zu produzieren, solange er sie in allerbester Qualität von anderer Stelle beziehen konnte. Kein einziges Teil war jedoch installiert worden, bevor es nicht Extremprüfungen durchstanden und sich dabei bewährt hatte. Diese Tests hatte er vorgenommen oder zumindest peinlich genau überwacht. Icho Tolot erinnerte sich daran, daß es harte Auseinandersetzungen mit anderen Halutern gegeben hatte, wenn seine Qualitätsanforderungen nicht befriedigt oder seine Ideen nicht umgesetzt worden waren. Boko Akan, weit über den Planeten hinaus hoch angesehen, hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen, als er ihm seine syntronische Architektur vor die Füße geworfen hatte. »Was interessiert es mich, daß Sie ein Jahrzehnt Forschungen betrieben haben, um diesen Mikro-Syntron zu entwickeln«, hatte -188-
er ihn unter Mißachtung aller Höflichkeitsfloskeln angebrüllt. »Wenn Sie unfähig sind, ihre Arbeiten zu einem befriedigenden Resultat zu bringen, werde ich das Problem eben allein lösen!« Wochen hatte Icho Tolot gebraucht, bis er Boko Akan überhaupt wieder erreicht hatte. Der Eremit war ein Sonderling, der mehr noch als andere Haluter Wert darauf legte, allein und ungestört zu leben und zu forschen. Schließlich aber war es Tolot gelungen, zu ihm vorzudringen und ihn in seinem wissenschaftlichen Labor zu besuchen. Dort war es zum Eklat gekommen. Die Erinnerung an die Begegnung blieb Icho Tolot noch lange im Gedächtnis haften. Sie war so wie der heiße Kern einer brennenden Kerze, die das Auge selbst dann noch wahrnahm, wenn die Lider geschlossen waren. Oder Kama Olop! Verloren die Haluter die Fähigkeit, wissenschaftlich zu forschen und dabei neue Techniken zu entwickeln? Oder noch schlimmer: Konnten sie den technischen Standard des Jahres 1289 NGZ nicht einmal mehr halten? Gab es eine rückläufige Entwicklung? Verfiel die halutische Kultur? Natürlich nicht! Du hast deine Ansprüche nur so hochgeschraubt, daß niemand auf diesem Planeten in der Lage ist, ihnen gerecht zu werden - abgesehen von dir selbst! Entsprach das den Tatsachen? Oder war er zu selbstgerecht? War er eitel geworden und bildete sich ein, andere könnten nicht das leisten, was er selbst zu leisten vermochte? Icho Tolot war unruhig. Warum? Der Wind wurde böig. Faustgroße Eisstücke flogen durch die Luft und trafen ihn an den Schultern und den Hüften. Er schien es nicht zu bemerken, denn auch jetzt rührte er sich nicht. Er war nackt. Nichts schützte ihn vor der eisigen Kälte als sein eiserner Wille und seine Disziplin. Kama Olop! Er hatte einen logischen Fehler beim Aufbau der Triebwerke für die HALUTA II gemacht. Es war ein durchaus -189-
verzeihlicher Fehler, der in den Grenzbereich der kosmotheoretischen Überlegungen zielte und der noch nicht einmal von den Syntroniken erkannt worden war. Wohl aber von ihm! Wohl aber von Icho Tolot! Erst hatte er getobt, danach mit seinen vier Fäusten die kostbaren Apparaturen im Labor von Kama Olop zertrümmert, und dann hatte er gelacht, daß die Fenster aus den Rahmen flogen! Wieso hatte er nicht ruhig mit Kama Olop diskutieren können? In einem kontrollierten Gespräch wäre es sicherlich gelungen, den Fehler zu identifizieren und zu eliminieren. Doch dazu war es nicht gekommen. Ich habe die Nerven verloren. Ich war unhöflich, und ich habe nicht die Kraft gefunden, mich zu entschuldigen. Ich muß es nachholen. Er war konsequent gewesen und hatte die Konstruktion des Triebwerkteils Kama Olop aus den Händen genommen. Voller Stolz konnte Tolot auf das Ergebnis seiner Arbeit blicken. Die HALUTA II hatte jetzt den Antrieb, der den modernsten Entwicklungen entsprach und vor allem fehlerfrei war. Er wußte, daß er sich auf seine Arbeit verlassen konnte. Kein anderer Haluter hätte sie mit einer derartigen Präzision ausführen können, sie mit einer solchen Besessenheit zur Vollendung gebracht. Obwohl er sich in den letzten beiden Jahrzehnten mit ganzer Kraft, Hingabe und Akribie in sein Lieblingsprojekt gestürzt hatte, waren die Arbeiten nicht vollends abgeschlossen. Noch hatte er die HALUTA II nicht der nötigen, harten Prüfung unterzogen. Er war einige Male mit ihr gestartet, um sie zu erproben, doch hatte er das Haluta-System nicht mit ihr verlassen. Allzu viel gab es noch zu tun, bis er sein Meisterstück seinen Freunden präsentieren konnte. Ihm wurde bewußt, daß er seinen letzten persönlichen Kontakt vor drei Jahren gehabt hatte, als Gucky ihn auf Halut -190-
besucht hatte. Der Haluter war über das Camelot-Projekt lückenlos informiert, und er hätte jederzeit Zutritt dazu gehabt, wenn er nur gewollt hätte. Aber bisher hatte er seinen Fuß nicht auf diesen - für andere geheimnisumwitterten - Planeten gesetzt. Vor einem Monat hatte ihn Atlan per Hyperfunk über das Verschwinden von Perry Rhodan, Reginald Bull und Alaska Saedelaere informiert. Es war der erste Kontakt nach drei Jahren gewesen. Icho Tolot hatte zugesagt, daß er sich einschalten würde, doch noch hatte er sich nicht dazu durchringen können, Halut zu verlassen. Es war die innere Unrast, die ihn veranlaßte, auf seinem Heimatplaneten zu bleiben und an weiteren Details an seinem Raumschiff zu arbeiten. Tolot ahnte, was die innere Unruhe zu bedeuten hatte, doch er wollte es nicht wahrhaben. Er sträubte sich mit allen Fasern seines Körpers dagegen und suchte nach einer anderen Antwort als jener, die er sich bereits gegeben hatte. Schnee und Eis rieselten aus der Höhe der Berge auf ihn herab, und die Sonne versank hinter dem Horizont. Die Temperaturen fielen weiter. Es machte ihm nichts aus. Icho Tolot war 3,50 Meter groß und hatte eine Schulterbreite von 2,50 Metern. Auf der Erde hätte er knapp zwei Tonnen gewogen, auf Halut mit seiner Schwerkraft von 3,6 Gravos brachte er ein erheblich höheres Gewicht auf die Waage. Er hatte zwei kurze Säulenbeine und zwei Armpaare mit sechsgliedrigen Händen und einen Kopf, der sich wie eine Halbkugel von seinen Schultern erhob, dabei völlig haarlos war und von einer lederartigen, schwarzen Haut überzogen wurde. Er barg sowohl das Ordinärhirn als auch das Planhirn. Diese beiden waren es, die jeden Haluter zu ungewöhnlichen Leistungen befähigten. Das Planhirn steuerte die motorischen Bewegungen und bildete das Zentrum für alle sinnlichen Wahrnehmungen. Das Planhirn war völlig unabhängig von dem Ordinärhirn, war eine -191-
Art organische Rechenmaschine, die sogar den Positroniken den Vorläufern der heutigen Syntroniken - überlegen war. Mit seiner Hilfe konnte Icho Tolot mathematische Probleme in Sekundenbruchteilen lösen, Informationen jeglicher Art blitzschnell aufnehmen und verarbeiten sowie komplizierteste Planungen, wie sie etwa bei dem Bau der HALUTA II aufgetreten waren, bewältigen. Die drei Augen waren infrarotempfindlich und wurden durch starke Lider geschützt, die ähnlich einem Kameraverschluß arbeiteten. Die beiden runden, kaum erkennbaren Ohren saßen hinter den seitlichen Augen und konnten bei Bedarf ausgestülpt werden. Die Nasenöffnungen waren extrem flach und konnten verschlossen werden. Wie alle Haluter verfügte auch Icho Tolot über zwei Herzen mit willkürlich steuerbaren Kreislaufventilen. Eine der beiden Blutpumpen blieb stets in Reserve und wurde nur dann mit einem Willensbefehl in Gang gesetzt, wenn der Haluter unter extrem hoher körperlicher Belastung stand oder wenn das andere Herz aus verschiedenen Gründen ausfiel. Das monströse Aussehen des Kolosses täuschte jeden, der die Haluter nicht kannte. Diese Wesen einer ungeheuer alten Rasse waren außerordentlich intelligent und normalerweise sehr friedliebend. Hervorgegangen war das Volk der Haluter aufgrund von GenManipulationen aus dem Volk der Bestien. Urahnen waren also wilde, aggressive Geschöpfe, die vor rund 55.000 Jahren weite Teile der Milchstraße beherrscht und terrorisiert hatten. Die Haluter hatten sich nach erbitterten Kriegen von allen durch die Bestien besetzten Planeten der Milchstraße zurückgezogen, um friedlich auf Halut zu leben, an ihrer eigenen Entwicklung zu arbeiten und Forschungen auf vielen wissenschaftlichen Gebieten zu betreiben. Sie waren Individualisten. Jeder Haluter lebte für sich allein -192-
und achtete streng darauf, daß er von niemandem belästigt wurde, verlor allerdings so gut wie nie den Kontakt zu anderen Vertretern seines Volkes. So kam es durchaus zu einem regelmäßigen Gedankenaustausch untereinander. Stundenlange Diskussionen über syntronische Medien waren ungewöhnlich, so daß die meisten Gespräche kurz und äußerst konzentriert waren. Dennoch wurden sogar lange verbale Auseinandersetzungen als normal angesehen. Körperliche Nähe oder gar Kontakte aber waren verpönt. Aus diesem Grund gab es keine Städte oder kleinere zusammenhängende Siedlungen auf Halut, sondern ausschließlich Einzelhäuser, die weit voneinander entfernt waren. »Wie bei den Raubtieren!« hatte Gucky einmal gespottet. Jeder hat sein eigenes Revier, in das andere gefälligst nicht einzudringen haben. Da es nur äußerst selten zu persönlichen Begegnungen kam und meist nur syntronisch kommuniziert wurde, hätten die einzelnen Haluter auch auf Lichtjahre voneinander entfernten Planeten leben können. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Doch jeder von ihnen liebte den Planeten Halut und legte Wert darauf, gerade dort zu existieren. Nicht einmal wenn es um den Nachwuchs ging, gab es Kontakte. Haluter waren eingeschlechtlich. Ein neues halutisches Wesen wurde nur geboren, wenn ein Haluter starb, so daß es den Platz des Verblichenen einnehmen konnte. Dieses Entstehen eines neuen Lebens wurde durch Willenskontrolle erreicht. »Wie langweilig!« hatte Gucky getönt, als er zum erstenmal davon erfahren hatte. Dabei hatte er selbst schon seit Jahrtausenden keinen körperlichen Kontakt mehr mit einem weiblichen Wesen seines Volkes gehabt. Icho Tolot schüttelte sich plötzlich, und dann begann er zu brüllen, daß sich an den Hängen der Berge Lawinen lösten. Seine vier Hände ballten sich zu Fäusten. -193-
Er bückte sich, packte einen mit Eis bedeckten Felsen und schleuderte ihn mit aller Kraft von sich. Krachend flog das Geschoß gegen eine Felswand und zersplitterte in zahllose Trümmer. Er mußte die Wahrheit herausfinden! Es ging nicht an, daß er die Kontrolle über sich verlor und sich Feinde über Feinde machte. Er hätte mit Kama Olop und allen anderen einen wissenschaftlichen Disput führen und sich auf geistiger Ebene mit ihnen auseinandersetzen müssen. Icho Tolot ließ sich auf die Laufarme fallen, warf sich zur Seite, als müsse er einem gefährlichen Geschoß ausweichen und stürmte den Felshang hinauf. Dabei nahm er die Handlungsarme zur Unterstützung der Laufarme hinzu. Sie waren die längeren und stärkeren Arme. Schotter, Gestein und Eisbrocken flogen unter seinen Händen und Füßen weg, während er unter erheblicher Kraftentfaltung und mit beachtlichem Geschick in die Höhe raste, als sei er noch jung und voll ungestümer Energie. Er forderte seinem Körper höchste Leistungen ab, schnellte sich wie eine Katze mit gewaltigen Sprüngen über Risse und Schründe hinweg und hangelte sich schließlich gar an einer senkrecht aufsteigenden Wand empor, bis er den von Schnee und Eis bedeckten Gipfel erreichte. Sein Atem ging nicht schneller als vorher, als er oben war. Der Haluter bedauerte, daß der Berg nicht mächtiger war, damit er zu größeren körperlichen Anstrengungen gezwungen wurde, wenn er die größte Höhe erstürmen wollte. Doch Halut war eine alte Welt, deren Oberfläche vor langen Jahren vollständig vernichtet und die danach im PlanetenForming-Verfahren wiederhergestellt worden war. Von Bergen, deren Gipfel über die Wolken hinausstießen, konnte man nur träumen. Die gab es schon seit Jahrmillionen nicht mehr, und die waren auch bei der Neuerstehung nicht geschaffen worden. -194-
Icho Tolot richtete sich auf und blickte zur HALUTA II hinüber, für deren Form er keinen passenden Namen fand, und die aus dieser Höhe klein und unscheinbar wirkte. Sie war 290 Meter lang, 90 Meter breit und 85 Meter hoch, und sie enthielt ausschließlich halutische Technik. Er hätte Einzelteile, Defensiv oder Offensivsysteme oder den Syntronverbund von Camelot beziehen können, doch er hatte sich geweigert, das entsprechende Angebot anzunehmen. Die HALUTA II sollte in jeder Hinsicht ihrem Namen gerecht werden. Sie sollte ein rein halutisches Raumschiff sein, und sie war es. Icho Tolot war stolz darauf. Als Besonderheit hatte er in den Bordsyntron einen Sicherheits- und Erkennungskode eingebaut, der in seiner Abwesenheit nur jenen Personen den Zutritt an Bord und das Manövrieren mit der HALUTA II erlaubte, mit denen er einverstanden war. Der Kode lautete Taravatos. Es war der Name des eigenwilligen Computers der HALUTA I, den er aus nostalgischen Gründen gewählt hatte. Diesen Kode kannten außer ihm selbst nur die anderen Zellaktivatorträger. Er hatte ihn Gucky bei seinem letzten Besuch bekannt gegeben. Doch diesen Gedanken verfolgte er nur flüchtig. Seine innere Unruhe wuchs. Wieso? Was geschah mit ihm? Icho Tolot brüllte mit voller Lautstärke, und seine mächtige Stimme rief ein vielfältiges Echo in den Bergen hervor. Es erleichterte ihn jedoch nicht, baute die Spannungen nicht ab. Frustrierend. Er ergriff einen Felsbrocken, schleuderte ihn in die Tiefe und beobachtete, wie er in ein Schneebrett schlug und eine Lawine auslöste. Ein wildes, ungestümes Donnern quoll vom Tal herauf zu ihm hoch, als die Schneemassen in immer schnellere Bewegung gerieten. Er brüllte erneut und versuchte, den Lärm zu übertönen, doch ihm war, als versage seine Stimme. -195-
Die Arme fielen schlaff an seinen Seiten herunter, und er schloß die Augen, horchte in sich hinein. Was war mit ihm los? Ich kann das nicht alleine beantworten! Ich muß mit jemandem darüber reden! Es war ein Problem, das andere nicht lösen konnten, sondern nur er selbst. Außerdem sträubte er sich dagegen, sich anderen zu offenbaren. Er schaffte es nicht, seine intimsten Gedanken zu öffnen und Einblick in sein Innerstes zu gewähren, seine Gefühle preiszugeben. Mit einem Schrei stürzte er sich in die Tiefe und jagte in atemberaubendem Tempo die Berghänge hinunter. Erst vor den geschlossenen Schleusen seines Raumschiffs machte er halt. »Worauf wartest du?« brüllte er. Der Bordsyntron öffnete die Schleuse für ihn, und er schritt hindurch. Die Schaltungen für einen der Expreßlifte, die das Raumschiff in seiner ganzen Länge durchzogen, entsprachen noch nicht seinen Vorstellungen. »Sie sind primitiv. Nicht meiner würdig!« In blinder Zerstörungswut warf sich Tolot auf die Schaltungen, verlor keine Zeit damit, kompliziert gesicherte Wandverschalungen zu öffnen, um sie erreichen zu können, sondern riß die Wand mit seinen vier Händen auf, daß die Fetzen flogen. Im Nu glich der Gang, auf dem er sich befand, einer Müllhalde. Icho Tolot hielt inne und blickte sich um. Er war durchaus nicht mit sich und seiner Reaktion zufrieden. Es besänftigte ihn auch nicht, daß bereits ein Reinigungsrobot dabei war, die Abfälle zu beseitigen. Im Gegenteil. Es steigerte seine Wut. Mit einem Fußtritt beförderte er den Roboter gegen die nächste Wand, wo die kleine Maschine sich in ihre Bestandteile auflöste und eine tiefe Delle in der Verschalung hinterließ - und automatisch den nächsten Reinigungsrobot herbeirief. »Das hätte ich auch anders machen können«, kritisierte Icho Tolot sich mit grollender Stimme, als ihm dämmerte, welchen -196-
Schaden er angerichtet hatte. Zudem konnte er stundenlang so weitermachen, ohne alle Roboter dieser Art vernichten zu können - es sei denn, daß er die syntrongesteuerte Herstellung dieser Maschinen in der HALUTA II ausschaltete. Er schüttelte sich wie unter einem Fieberschauer. Dann faßte er einen Entschluß und ging in die Hauptleitzentrale. Über den Bordsyntron ließ er eine Telekom-Verbindung zu Taro Phontes herstellen. Er mußte lange warten. Erst nach 25 Stunden ließ ihn der uralte Philosoph wissen, daß er bereit war, mit ihm zu reden. Inzwischen war Icho Tolot längst in sein Haus zurückgekehrt, ein muschelförmiges Anwesen mit einem siebzig Meter hohen Turm. Von diesem höchsten Punkt des Gebäudes aus hatte er einen weiten Blick über das angrenzende Tal und die Berge. Das Haus war sein Refugium, in das er sich zurückgezogen hatte und in dem er seit zwanzig Jahren lebte, forschte und arbeitete. Es war seine Welt der Zufriedenheit und der Geborgenheit. Er versuchte, dem Philosophen zu erläutern, um was es ging, doch Taro Phontes unterbrach ihn schon nach wenigen Worten. »Jedes unnütze Wort kostet Zeit«, stellte er fest. »Zeit aber ist das Kostbarste von allem.« »Richtig«, stimmte Icho Tolot zu. »Demnach ist Zeit Verschwendung die denkbar größte Verschwendung.« »Also lassen Sie uns zum Kern Ihres Anliegens kommen«, schlug der Philosoph vor. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung - in meinem Haus.« »Das ist ein großzügiges Angebot«, anerkannte Icho Tolot, der innerlich fast schon zitterte, weil er gefürchtet hatte, abgelehnt zu werden. Der Philosoph hatte seine Eigenarten. Mehr noch als andere bevorzugte er es, als Eremit zu leben. Mit allen Konsequenzen. Taro Phontes nannte die Uhrzeit, zu der das Gespräch am -197-
nächsten Tag stattfinden sollte, und schaltete ohne weiteren Kommentar ab. Icho Tolot blickte zur Uhr. Bis zu dem genannten Termin blieb ihm genügend Zeit - wenn er einen Gleiter oder die Antigrav-Aggregate seines Kampfanzuges benutzte, um zu fliegen. Doch das hatte er nicht vor. Er wollte die Strecke bis zu seinem Gesprächspartner nicht auf bequeme Weise zurücklegen. Bis zum Haus von Taro Phontes waren es etwas mehr als 1000 Kilometer. Eine ideale Strecke für einen halutischen Fußgänger! Mit Hilfe seines Planhirns rief er sich die Strecke ins Gedächtnis. Sie bot zahlreiche Schwierigkeiten, die nur unter einem gewissen Zeitaufwand zu überwinden waren. Wenn er um Mitternacht aufbrach, konnte er pünktlich bei dem Philosophen sein! Je knapper die kalkulierte Zeit für den Weg, desto größer die Herausforderung. Tolot zog sich in seinen Schlafraum zurück, um ein wenig zu ruhen. Doch kaum hatte er sich hingelegt, als er auch schon wieder aufsprang. Es war ein geradezu irrwitziger Gedanke, unter den gegebenen Umständen ruhen zu wollen! Er verbrachte die verbleibende Zeit bis Mitternacht mit fieberhafter Arbeit an Bord der HALUTA II.
2. Auf die Sekunde genau zur verabredeten Zeit stand Icho Tolot vor der Tür des Hauses von Taro Phontes, einem wuchtigen Rundbau, auf dessen plattem Dach sich ein riesiger Vogel aus weißem Stein und mit weit ausgebreiteten Flügeln erhob. Die Plastik sollte die Schwingen des Geistes symbolisieren, die bekanntlich bis in unendliche Fernen tragen können. -198-
Taro Phontes war ein alter Haluter, dessen lederartige Haut gräuliche Verfärbungen zeigte und dessen Augen nicht mehr so strahlend rot leuchteten wie etwa bei Icho Tolot. Kommentarlos nahm der Philosoph zur Kenntnis, daß sein Besucher pünktlich war. Er wollte gar nicht wissen, daß Icho Tolot mehr als 1000 Kilometer im Dauerlauf zurückgelegt und dabei Berge und Täler überwunden hatte. Er warf ihm nur einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. Icho Tolot war kein bißchen müde, und er atmete nach dieser Anstrengung noch nicht einmal schneller als gewöhnlich. Die Anstrengungen des Gewaltmarsches hatten sich in überschaubaren Grenzen gehalten. Der Philosoph führte ihn in ein geräumiges Arbeitszimmer, an dessen Wänden sich die Speichereinheiten stapelten. Icho Tolot staunte nur. In diesem Raum war das Wissen der galaktischen Völker aus vielen Jahrtausenden verwahrt. Es war geradezu ungeheuerlich, welche Fülle von Informationen Taro Phontes über die galaktischen Völker und ihre Geschichte angesammelt hatte. War er auch über den aktuellen Stand informiert? Icho Tolot hatte sich diese Frage kaum gestellt, als er auch schon die Antwort darauf erhielt. Sein Gastgeber war es nicht! Icho Tolot schilderte dem Philosophen die politische Landschaft der Milchstraße, die ohne Überzeichnung als chaotisch angesehen werden konnte. Die Haluter hielten sich aus dem aktuellen Geschehen heraus. Icho Tolot hätte kaum mehr gewußt als Taro Phontes, wenn er durch seine Freunde nicht auf dem laufenden gehalten worden wäre. Halut hatte zwar einen Vertreter im Humanidrom, der sich jedoch nicht in die Debatten und politischen Entscheidungen einschaltete. Er war pro forma dort, und weil Halut mit gutem Beispiel vorangehen wollte. Der Vertreter sollte zeigen, daß die -199-
Freunde der Galaktiker durchaus bereit waren, etwas zu tun, so sich irgendwo eine Einigung abzeichnete. Davon jedoch konnte bislang keine Rede sein. Nach einem kurzen, äußerst konzentrierten Gespräch kam die Rede auf die Fremden, die mit ihren Igelschiffen in die Milchstraße eingefallen waren und mehrere bewohnte Planeten besetzt hatten. Es waren ausschließlich bewohnte Welten, für die sich die Invasoren interessierten. Bis zu diesem Zeitpunkt war Icho Tolot verhältnismäßig ruhig geblieben. Doch nun ging das Temperament mit ihm durch. Es hielt ihn nicht mehr in dem Sessel, in dem er gesessen hatte. Er sprang auf und brüllte: »Man müßte den Fremden einen Denkzettel verpassen und sie aus der Milchstraße hinausprügeln!« Taro Phontes blickte ihn schweigend an, bis er stehen blieb. »Was sagen Sie dazu?« fragte Icho Tolot. »Muß ich darauf wirklich antworten?« »Nein!« Er wußte auch so, zu welcher Erkenntnis der Philosoph gekommen war, und er schämte sich dafür. In meinem Alter! schoß es ihm durch den Kopf. Ich bin kein junger Springinsfeld mehr! Wenn er früher solche Phasen durchgemacht hatte, war er dadurch nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Doch nun war es anders. Er betrachtete sich als alten, beinahe weisen Haluter, dem vor allem die geistige Leistung wichtig war, während das Körperliche längst einen weit niedrigeren Rang einnahm als jemals zuvor. Die Zeit der ungestümen, wilden Abenteuer war vorbei. Mußte vorbei sein. Vergangenheit. Was zählte, war allein das Intellektuelle. »Nun?« fragte Taro Phontes. »Drangwäsche!« Icho Tolot hatte einen breiten Mund mit schmalen Lippen und -200-
ein raubtierartiges Gebiß. Als dieses Wort nun aus ihm hervorbrach, klang es wie eine Explosion, und die Stimme war so laut, daß die Speichereinheiten im Raum klirrend gegeneinanderschlugen und auch noch eine Weile nachvibrierten. »Drangwäsche!« bestätigte der Philosoph nüchtern. Icho Tolot ballte seine vier Hände zu Fäusten. Er sträubte sich mit jeder Faser seines Herzens gegen die Erkenntnis, daß die Natur ihr Recht forderte. Alle Haluter wurden von Zeit zu Zeit von einem unbezähmbaren Drang gepackt, Abenteuer zu erleben und sich auszutoben. Trotz aller Friedfertigkeit. Unaufhaltsam. Es war das wilde Erbe ihrer Vorfahren, der Bestien. In 98 Prozent aller Fälle zogen die Betroffenen allein hinaus in die Weiten des Universums, um die aufgestauten Energien irgendwo abzubauen. In den übrigen Fällen duldeten sie einen oder mehr Begleiter neben sich. Solche Gruppen waren auf allen Planeten, die je eine Drangwäsche erlebt hatten, sehr gefürchtet. Icho Tolot konnte sich gegen die Natur nicht wehren. Er wußte, daß er Halut verlassen mußte, um besonders schwierige Situationen zu suchen, in denen er sich entfalten konnte. Ergaben sie sich nicht, würde er zur Not auch auf unbewohnten Planeten herumrasen. Das aber war unter seinem Niveau! »Nein!« weigerte er sich. »Ich verstehe Sie«, sagte der Philosoph. »In diesem Alter eine Drangwäsche zu erleben, ist nicht leicht. Man fühlt sich gedemütigt, weil man glaubt, alle körperlichen Beschwerden längst überwunden zu haben. Doch es ist unausweichlich.« »Ich könnte mich in einen Tiefschlaf versetzen lassen.« »Aus dem Sie als tobende Bestie erwachen würden. Sie wissen es ebenso gut wie ich.« Icho Tolot ließ sich ächzend in einen der Sessel sinken. Er schlug zwei seiner vier Hände vor das Gesicht. »Ich hatte mir die Zukunft anders vorgestellt.« -201-
»Auch ein Haluter ist den Naturgesetzen unterworfen. Er muß sich ihrer Macht beugen.« »Überschüssige Kraft führt zur Gewalt«, stellte sein Gast fest. »Die Liebe verleiht die Macht.« »Vielleicht liebt die Natur die Haluter? Wer weiß schon, was die Natur steuert? Die Stärke der Haluter beruht auf der Furcht vor den Halutern.« »Furcht vor friedfertigen Wesen?« »Die mit Drangwäsche ihre Überlegenheit demonstrieren, um anschließend friedlich leben zu können.« Icho Tolot blickte den Philosophen überrascht an. »Drangwäsche als soziale Aufgabe?« fragte er. »Vielleicht.« »Wir kennen kein soziales Zusammenleben.« »Eben!« »Das verstehe ich nicht. Sie müssen es mir erklären.« »Es ist ein Axiom. Die Form unseres Zusammenlebens als Individualisten, als Eremiten, wenn Sie so wollen, ist nur möglich, wenn wir diese Lebensform durch zeitweilige Demonstrationen verteidigen.« »Drangwäsche als Warnung, diese Besonderheit zu bedrohen?« »Richtig. Einfacher ausgedrückt: Auch im Zusammenleben der galaktischen Völker gibt es rudimentäre Grundzüge wie bei jeder sozialen Gemeinschaft - ob bei den Tieren oder den Intelligenzwesen. Hin und wieder ist es notwendig, die anderen Mitglieder der Gemeinschaft auf die eigene Stärke hinzuweisen, damit man in Ruhe und ungestört leben kann. Wenn Sie so wollen, gibt einer dem anderen mal eins auf die Finger, damit er ihn in Ruhe läßt.« »So habe ich die Drangwäsche nie gesehen.« »Es ist meine Überzeugung.« »Drangwäsche als soziale Aufgabe. Ein reizvoller Gedanke. -202-
Ich könnte mich damit anfreunden.« »Versuchen Sie es. Danach wird es Ihnen leichter fallen, sich der Natur zu beugen.« Icho Tolot erhob sich erneut. Doch dieses Mal sprang er nicht auf, sondern bewegte sich ruhig und kontrolliert. »Bei den ersten Anzeigen für das Aufkommen dieses Zwanges habe ich daran gedacht, einfach eine Reise in eine fremde, galaktische Region vorzunehmen und mich dem Zufall zu überlassen«, gestand er zögernd ein. »Kein guter Gedanke«, kritisierte Taro Phontes. »Ich gebe es zu.« »Die Umstände zwingen Sie zum Umdisponieren. Verbinden Sie die Drangwäsche mit einem sinnvollen Einsatz, dann werden Sie Ihrer Aufgabe für Halut gerecht.« »Drei meiner Freunde sind verschwunden. Ich muß sie suchen. Und da sind die Invasoren, die eine Lektion verdient haben.« »Die soziale Aufgabe!« Es galt, den Invasoren schon sehr frühzeitig zu demonstrieren, daß es ein Volk in der Milchstraße gab, mit dem nicht zu spaßen war, und das man am besten in Ruhe ließ. Taro Phontes hat recht! erkannte Icho Tolot. Nie war es so deutlich, daß man die Drangwäsche als soziale Aufgabe verstehen muß. Nur wenn ich den Invasoren kräftig eins auf die Finger gebe, können wir unsere besondere Lebensform erhalten. Das Telekom des Philosophen sprach an und machte deutlich, daß eine Nachricht für Icho Tolot eingetroffen war. Sie war von der HALUTA II aufgefangen und an das Haus von Taro Phontes weitergeleitet worden. Der Philosoph schaltete das Gerät ein. »Wir hören!« Es war ein Funkspruch von Atlan, der mit dem Mausbiber Gucky ins Halut-System gekommen war. Der Arkonide flog mit der RICO. Es war, als hätten die Freunde exakt diesen Zeitpunkt -203-
abgewartet, um sich zu äußern, an dem Icho Tolot mit sich selbst ins reine gekommen war. »Ich danke Ihnen«, verabschiedete er sich von Taro Phontes. »Sie haben mir ungemein geholfen. Verzeihen Sie mir, aber ich muß aufbrechen. Es treibt mich hinaus. Ich werde mit der HALUTA II starten und zur RICO fliegen.« »Die soziale Gemeinschaft der Eremiten von Halut wird es Ihnen nicht vergessen«, spöttelte der Philosoph.
Die Begrüßung mit Atlan und Gucky fiel nach der langen Trennung besonders herzlich aus. Icho Tolot war nahezu rührend bemüht, den Freunden zu zeigen, wie sehr er sie vermißt hatte. Er verheimlichte auch nicht vor ihnen, daß er dem Zwang einer sich immer mehr aufbauenden Drangwäsche unterlag, was den Mausbiber zu einigen scherzhaften Bemerkungen veranlaßte. Doch schon bald wandte man sich den drängenden Problemen zu, die den Haluter ebenso beschäftigten wie Atlan und den Ilt, »Ende Dezember wurde im Halo der Milchstraße eine Flotte von 10.000 Igelschiffen entdeckt«, faßte der Arkonide die Ereignisse der letzten Wochen zusammen. »Mittlerweile ist die Flotte auf etwa 100.000 Einheiten angewachsen.« Icho Tolot blickte ihn erschrocken an. Diese Nachricht war neu für ihn, und sie schockierte ihn geradezu. Die Invasoren zeigten in zunehmendem Maße ihre Macht. Sollte die Entwicklung in dieser Art weitergehen? War damit zu rechnen, daß möglicherweise in vier Wochen über eine Million oder mehr Igelraumer aufzogen? »Die fremden Raumschiffe haben geschlossen ihren Standort gewechselt und beim Kugelsternhaufen 47 Tucani Position bezogen«, ergänzte Gucky. Icho Tolot wußte, was gemeint war. Der Kugelsternhaufen 47 -204-
Tucani hatte die Katalognummer NGC 104, einen Durchmesser von 210 Lichtjahren, eine Million Sonnenmassen und war 16.000 Lichtjahre von Sol in Richtung Südpol der Galaxis entfernt. Man rechnete ihn zum Einflußbereich der LFT. Im Tucani-Sektor gab es mehrere terranische Kolonien, die nun ernsthaft gefährdet waren. »Woher kommen die Igelschiffe?« fragte der Haluter. »Das weiß bisher niemand.« Atlan bedauerte, keine bessere Auskunft geben zu können. »Und wir wissen auch nicht, was ihre Besatzungen im Schilde führen.« »Habt ihr die Fremden schon einmal zu Gesicht bekommen?« Icho Tolots Interesse wuchs mit jeder Information, die er erhielt. Zugleich verstärkte sich bei ihm das Gefühl, daß er die sich in ihm aufbauenden Energien im Rahmen einer Drangwäsche in geradezu idealer Weise im Kampf gegen die Invasoren abbauen konnte. »Allerdings«, antwortete der Arkonide und schilderte die ersten Eindrücke. »Nach den Untersuchungsergebnissen von Camelot bezeichnen wir sie vorerst als Viperiden. Sie haben bisher insgesamt 23 Planeten besetzt. Nur bewohnte Welten wohlgemerkt. Davon allein 18 der Liga Freier Terraner.« »Wenn ich es richtig sehe, könnte diese Zahl bald sprunghaft steigen«, versetzte Icho Tolot. »Das befürchten wir ebenfalls«, seufzte der Mausbiber mit ungewohntem Ernst. »Die LFT hat inzwischen auf Cistolo Khans Initiative das Kriegsrecht verfügt. Alle Raumstreitkräfte wurden mobilisiert und befinden sich in Alarmbereitschaft.« Atlan beschrieb in knappen Worten, was die einzelnen Staaten bisher unternommen hatten. Er fügte hinzu: »Die erste von den Viperiden besetzte Welt war die terranische Kolonie Lafayette im Collore-System. Der LFT ist es bislang nicht gelungen, sich dem Planeten zu nähern, geschweige denn ihn zurückzuerobern oder irgend etwas für die -205-
Bewohner von Lafayette zu tun. Der Planet ist von starken Einheiten der Igelschiffe eingeigelt und in ein Tangle-Feld gehüllt.« »Was ist das - ein Tangle-Feld?« »Tangle-Scan ist eine Art Durchleuchtungsstrahlung, bei der man das Gefühl hat, daß sich das Innerste nach außen kehrt, und daß man von unbekannter Seite her regelrecht durchleuchtet wird«, erläuterte der Arkonide. »Übelkeit und geistiger Druck sind die Folge der Einwirkung auf Intelligenzwesen. Die Waffe, von der die Strahlung ausgeht, wird von uns als Tangler bezeichnet. Sie macht Intelligenzwesen hilflos und wird offensichtlich von den Viperiden dazu eingesetzt, sie zu unterjochen.« »Das würde bedeuten, daß auf Lafayette schlimme Zustände für die dort lebenden Menschen herrschen«, erkannte Icho Tolot. »Und daß die Dinge dort bereits weit gediehen sind. Anhand der Entwicklung müßten wir eigentlich herausfinden können, welche Pläne die Fremden haben. Was auch immer die Viperiden vorhaben, auf diesem Planeten müßte es zu erkennen sein.« Icho Tolot hielt sich an Bord der RICO auf, dem zweiten Fragment der GILGAMESCH. Beide Raumschiffe hatten mittlerweile Fahrt aufgenommen und auf mehr als fünfzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Sie flogen den gleichen von Atlan festgelegten Kurs, der ins Collore-System führte. Dort wollte der Arkonide die herrschenden Zustände untersuchen. Wie das zu geschehen hatte, darüber waren sich die drei Freunde bis jetzt noch nicht einig. Sie hatten kaum darüber gesprochen. »Wir müssen abwarten, welche Situation wir an Ort und Stelle vorfinden«, sagte Atlan. »Wir werden die Lage genau analysieren und dann entsprechend handeln.« -206-
»Oder auch nicht - falls wir nicht die Möglichkeit dazu haben«, ergänzte Gucky, der ungewohnt skeptisch zu sein schien, Icho Tolot kannte den Freund als überwiegend optimistisch. Doch angesichts der Viperiden-Invasion schien er keinen Grund für Zuversicht zu sehen. »Eine Frage beschäftigt mich noch«, brummte der Haluter, nachdem er alle wichtigen Informationen in sich aufgenommen hatte. »Die LFT ist eine beachtliche Macht, und das Waffenarsenal kann sich wirklich sehen lassen. Wieso schießt man die Igelschiffe nicht einfach ab?« »Wir haben es versucht, aber keinen Erfolg gehabt«, eröffnete ihm der Arkonide. »Jedenfalls keinen durchschlagenden Erfolg. Die Igelschiffe fliegen einen selbst für unsere Syntroniken unberechenbaren Kurs, bei dem sie unerwartet Geschwindigkeit und Richtung ändern, so daß sie von der Zielerfassung galaktischer Raumschiffe nur selten aufs Korn genommen werden können.« »Was die Trefferquote erheblich senkt«, fügte der Mausbiber noch hinzu. »Ich möchte diesen Antrieb als Stotter antrieb bezeichnen«, schlug der Arkonide vor. »Das macht vielleicht besonders anschaulich, was wir meinen.« »Allerdings«, stimmte Icho Tolot zu. »Nun kann ich mir was darunter vorstellen. Ich nehme an, daß die Wissenschaftler nach einer Lösung suchen?« »Sie sind intensiv dabei«, entgegnete Atlan. Icho Tolot lächelte breit. Mit funkelnden Augen blickte er auf die beiden Freunde hinab. »Eine wundervolle Gelegenheit für mich«, stellte er fest. »Ich werde die ganze Angelegenheit in die Hand nehmen.« Er verlor keine weiteren Worte, sondern verließ die RICO, um auf die HALUTA II überzuwechseln. Atlan folgte ihm bis zur Schleuse. -207-
»Wir haben noch nicht alles besprochen«, bemerkte er. »Alles, was wichtig ist!« Lautlos schloß sich das Schleusenschott hinter dem Haluter. Als er die Hauptleitzentrale der HALUTA II erreichte und den Befehl geben wollte, auf Überlichtgeschwindigkeit zu gehen, materialisierte der Ilt in einem der riesigen Sessel, die nach halutischen Maßstäben gebaut worden waren. Er trug die normale Bordkombination. »Was willst du hier?« fragte Icho Tolot. Gucky grinste ihn breit an, wobei er ihm seinen Nagezahn in seiner ganzen Größe zeigte. Trotz seines hohen Alters war der Zahn makellos. »Meinst du, Atlan und ich hätten dich nicht durchschaut?« Der Ilt wackelte mit dem Kopf, um zu unterstreichen, daß etwas anderes anzunehmen geradezu absurd war. »Durchschaut?« »Wir wissen, in welchem Zustand du bist. Drangwäsche!« »Ach ja?« »Wir haben beschlossen, daß ich dir in dieser Situation zur Seite stehen werde. Als Aufpasser sozusagen«, antwortete der Mausbiber belustigt. Noch nie hatte der den Haluter so verblüfft erlebt. Icho Tolot schien geradezu fassungslos zu sein. »Als Aufpasser?« »Genau. Wenn du in der Drangwäsche bist, brauchst du einen, der auf dich aufpaßt! Und das bin ich.« Der Haluter schüttelte sich, als sei ihm plötzlich eiskaltes Wasser auf den Rücken geraten. Und dann lachte er so laut, daß die Instrumente der Hauptleitzentrale klirrten und bebten. Erschrocken preßte der Ilt die Handflächen gegen die Ohren, weil er fürchtete, daß ihm die Trommelfelle platzten.
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3. Joseph Broussard jr. lehnte müde und erschöpft an den Luftwurzeln eines riesigen Baumes, dessen Äste bis in den Himmel zu reichen schienen. Für einige Sekunden schloß er die Augen und lauschte den vielfältigen Stimmen der Natur. Zahlreiche Vögel erfüllten das Geäst über ihm mit lärmender Fröhlichkeit, die so gar nicht zu der Stimmung passen wollte, die ihn und Pepe erfaßt hatte. Von ihrem Gefangenen, dem Gazka-Krieger Gemba, gar nicht zu reden. Seit Wochen irrten die zwei Menschen durch die Sümpfe des Planeten Lafayette. Nun endlich war Swamp City so nahe, daß sie meinten, die Stadt mit den Händen greifen zu können. Doch bot Swamp City wirklich die erhoffte Sicherheit? Was war mit den Kolonisten geschehen? Unterlagen sie ebenfalls der schrecklichen Strahlung, die alle Menschen auf diesem Planeten so verändert hatte? Ausgenommen ihn und seinen Freund Pepe. Er war sich mittlerweile darüber klar geworden, daß er bei einer Auseinandersetzung schwere Hirnverletzungen erlitten hatte. Die Erinnerung daran war äußerst vage, und so recht konnte er es sich auch gar nicht vorstellen, doch er sah keine andere Möglichkeit. Irgend etwas mußte in seinem Kopf geschehen sein, das ihn unempfindlich machte gegen die Erscheinungen, unter denen die anderen so sehr zu leiden hatten. Tatsächlich hatte man Joseph nach den Verletzungen einen Chip ins Hirn gepflanzt und dabei nicht vollständig rehabilitieren können. Seit der Auseinandersetzung und der folgenden Operation war Joseph Broussard jr. gehandikapt. Er besaß nun das Gemüt und die Intelligenz eines Jungen von höchstens zehn Jahren. Seine Virtuosität auf der Geige hatte er allerdings nicht eingebüßt. Aus den Tiefen der Sümpfe hallten die Stimmen einiger Großamphibien herüber. Der Cajun richtete seine Blicke auf eine -209-
nahe Wasserfläche. Er entdeckte einen Miis, ein Wesen, das halb Krokodil halb Flußpferd zu sein schien, das er jedoch noch nie vollständig gesehen hatte, da es das Wasser nicht verließ. Er wußte nur, daß es ein beutegieriges Ungeheuer war, das völlig überraschend und mit unglaublicher Schnelligkeit zuschlagen konnte. Eigentlich ist es ein Wunder, daß uns nie so ein Miis erwischt hat! dachte er. Das heißt, einmal ist Bunny so einem Biest nur knapp entkommen! Wie es ihm wohl geschmeckt hätte, wenn es ihn zwischen die Zähne bekommen hätte? Er mußte lachen bei dem Gedanken, daß die Bestie sich an einem Roboter gütlich tun könnte. Wo war Bunny überhaupt? Er blickte sich suchend um. Sein Freund Pepe lag nur wenige Schritte von ihm entfernt zwischen den Luftwurzeln eines anderen Baumes und schlief. Dicht daneben ruhte der mit Lianen gefesselte Gazka-Krieger Gemba auf dem Boden. Das insektoide Wesen ging normalerweise aufrecht und erreichte dann eine Höhe von etwa 1,50 Metern. Zur Zeit ruhte er allerdings und hatte sich im welken Laub zusammengekauert. Joseph Broussard jr. bemerkte, daß sich eines seiner Beine gleichmäßig bewegte, und er begriff. Gemba versuchte, die Lianen durchzusägen, mit denen er gefesselt war. Er war ungewöhnlich unruhig. Die Nähe der Stadt Swamp City und anderer Gazkar-Krieger hatten offensichtlich einen großen Einfluß auf ihn. »Laß das!« fuhr Joseph ihn an. »Oder soll ich dir einen Tritt geben und dich zum Miis befördern?« Die seitlich am Kopf ausladenden Facettenaugen schimmerten rötlich und geheimnisvoll. Man konnte sie noch so genau ansehen, niemals verrieten sie, welche Gedanken den Gazka-Krieger erfüllten. Der Gazka erinnerte Joseph Broussard jr. an einen Skarabäus, von dem er einmal eine Abbildung gesehen hatte. Das Wesen -210-
hatte zwei Armpaare, von denen das obere kürzer und schwächer war als das untere. Der Chitinpanzer des Körpers schillerte in sattem Blau. Der Rücken war auf ansprechende Weise gemustert. Joseph fand, daß dieses Muster hübsch war. Mittlerweile wußte er, daß Gazkar keine Eigennamen hatten, sondern Registerbezeichnungen trugen, aus denen hervorging, auf welcher Welt sie geboren worden waren, welcher Brut sie angehörten, welchen Resonanzstatus sie hatten und was der Dinge mehr waren. Der Kodename des Kriegers lautete Gem-Ba-Am-Kor-Vech-Tol, und sagte unter anderem aus, daß er von dem Planeten Amkir stammte, dessen Bewohner und »Resonanzgeber« Vecharer hießen. Wo war Bunny? Beunruhigt stand Joseph Broussard jr. auf. Wenngleich der Roboter einen Fehler hatte, war er doch äußerst wichtig für die kleine Gruppe. Joseph konnte sich nicht vorstellen, was er ohne ihn anfangen sollte. Joseph konnte die Maschine nicht sehen, und deshalb umrundete er ihr Lager einmal, um nach ihr zu suchen. Doch er fand Bunny nicht, und so bewegte er sich vorsichtig auf Swamp City zu. Als er an den Luftwurzeln einiger Bäume vorbeigegangen war, die armdick waren und ihm die Sicht versperrt hatten, entdeckte er den Roboter. Bunny hatte sich Swamp City gefährlich weit genähert. Die Stadt war auf einem entwässerten Sumpfgebiet errichtet worden und lag an der Westküste des Kontinents. Von seinem Standort aus konnte Joseph Broussard jr. den kleinen und bescheidenen Raumhafen sehen, auf dem kein einziges Raumschiff der LFT parkte. Dafür wimmelte es von flunderartigen Beibooten der Igelschiffe. Die Stadt bestand aus schmucklosen, containerartigen, bis zu fünfstöckigen Fertighäusern und aus einfachen Holzhäusern, die ein unübersichtliches Durcheinander bildeten. Eine Planung bei der Errichtung der Stadt war nirgendwo zu erkennen. Die Ge-211-
bäude waren gerade dort hingestellt worden, wo Platz war. An Schönheit und Ordnung hatte damals niemand gedacht. Die Grünflächen zwischen den Häusern boten nun ebenfalls keinen erbaulichen Anblick. Überall lagen Abfälle herum, zwischen denen kleine Tiere aus den Sümpfen nach freßbaren Resten suchten. Joseph entdeckte vereinzelte Geschäfte, die jedoch von niemandem frequentiert wurden und nur durch werbeträchtige Aufschriften zu erkennen waren. Daneben gab es einige wenige Prachtbauten; Niederlassungen großer Firmen. Sie waren wegen des großzügigen Platzangebotes mehr in die Breite denn in die Höhe gebaut worden. Doch darüber machte sich Joseph keine Gedanken. Er wunderte sich nur darüber, daß so große Gebäude nicht aufgrund ihres Gewichts im auch jetzt noch relativ weichen Untergrund versanken. Bunny befand sich unmittelbar neben einem Holzhaus am Rande von Swamp City, keine fünf Meter entfernt von einer Gruppe von Kriegern. In den Armen hielt er mehrere Pakete mit verschiedenen Nahrungsmitteln, die er wohl aus irgendeinem Depot entwendet hatte. Joseph stockte der Atem. Am liebsten hätte er dem Roboter zugerufen, daß er an dieser Stelle nicht bleiben durfte, weil die Gefahr der Entdeckung zu groß war. Er gestikulierte warnend und hoffte dabei, daß der Roboter ihn bemerkte, doch Bunny war zu hoch bepackt. Er konnte ihn gar nicht wahrnehmen, weil die Pakete ihm die Sicht versperrten. Joseph drückte seine Hand gegen seinen vor Hunger knurrenden Magen. Er erinnerte sich daran, daß Pepe und er in den letzten Stunden allzu oft von ihrem Hunger gesprochen hatten. Natürlich hatte Bunny es gehört und entsprechend darauf reagiert. Joseph blickte sich suchend um, entdeckte eine hölzerne Knospe, die von einem Baum herabgefallen war, ergriff sie und schleuderte sie nach dem Roboter, verfehlte ihn jedoch. Das -212-
Geschoß fiel hinter der Hütte auf den Boden, wo es weder Bunny noch den Gazkar auffiel. Doch nun hatte die Maschine einen Entschluß gefaßt. Sie glitt um die Ecke der Hütte herum und versuchte, sich vor den Gazkar in Sicherheit zu bringen. Doch nicht nur vor dem Haus waren diese insektoiden Wesen, sondern auch dahinter. »Nein!« stöhnte Joseph. »Bleib, wo du bist!« Am liebsten wäre er zu dem Roboter gelaufen, hätte ihn an der Hand genommen und wäre mit ihm in den Wald zurückgekehrt. Doch auch damit hätte er ihn nicht in Sicherheit bringen können. Die vielleicht einzige Möglichkeit für Bunny wäre gewesen, auf das Dach des Gebäudes zu klettern, sich dort flach hinzulegen und abzuwarten, bis kein Gazka mehr in der Nähe war. Doch auf diesen Gedanken kam der Roboter nicht. Das Ende von Bunny folgte zwangsläufig. Die Gazkar entdeckten ihn. Einer von ihnen hob seine Waffe und schoß. Der Roboter löste sich in seine Bestandteile auf, stürzte zu Boden, rollte noch ein kleines Stück darüber hinweg und fiel vollends auseinander. Er war nur noch wertloser Schrott. Erschüttert, als habe er einen Freund aus Fleisch und Blut verloren, wandte Joseph Broussard jr. sich ab. Es tat ihm weh, den lieb gewonnenen Roboter so zerstört zu sehen. Er brauchte einige Minuten, um sich zu erholen. Dann ging er zu Pepe hin, der noch immer schlief, weckte ihn und berichtete ihm, was geschehen war. Pepe stiegen die Tränen in die Augen. »Ich werde ihn sehr vermissen«, stammelte der Junge. »Wenn wir doch wenigstens die Lebensmittel hätten, die er uns besorgen wollte!« Joseph wies auf den gefesselten Gazka, der sich noch unruhiger bewegte als zuvor. »Was ist mit ihm los?« fragte er. »Seit wir in der Nähe von Swamp City sind, spielt er verrückt und versucht, seine Fesseln abzustreifen.« -213-
»Ob es der Geruch ist, der ihn durchdrehen läßt?« fragte Pepe. »Die Neezer haben Duftwolken versprüht. Ist dir das nicht aufgefallen?« Joseph schüttelte verwundert den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Er stampfte kräftig mit dem Fuß auf, um dem Gefangenen deutlich zu machen, daß er ihn ständig im Auge behielt. Er würde es nicht zulassen, daß er sich befreite. Die Drohung wirkte. Der Gazka verhielt sich für eine Weile still, wälzte sich dann aber hin und her, wobei er versuchte, auf die Beine zu kommen. Als er sich schon halb aufgerichtet hatte, gab ihm Joseph einen Stoß vor die Brust, der ihn wieder auf den Boden beförderte. Pepe griff nach seiner Hand. »Was machen wir denn jetzt?« Ängstlich blickte er ihn an. »Ich meine - ohne Bunny?« »Wir ziehen uns zurück in die Wälder«, entgegnete Joseph. »Wir haben keine andere Wahl. In Swamp City schnappen sie uns sofort.« Pepe hatte keine Einwendungen. Er zerrte den Gefangenen hoch und gab ihm einen kräftigen Stoß, um ihm zu bedeuten, daß er vorwärts gehen sollte. Der Gazka gehorchte widerwillig. Gemba bewegte sich schwerfällig und zögernd. Immer wieder blieb er stehen und wendete sich mit dem ganzen Körper hin und her. Er verhielt sich wie jemand, der mal zur einen, mal zur anderen Seite spähte und dabei sein Körpergewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, um sich in eine bessere Position zu bringen. Joseph Broussard jr. ahnte, um was es ging. Um die Duftstoffe der Neezer und ihre Wahrnehmung! Da er fürchtete, daß der Gefangene die Gazkar durch Lautäußerungen auf sich aufmerksam machen könnte, trieb er ihn rücksichtslos zur Eile an. Er hatte keine andere Wahl. Pepe eilte voraus. Als er sumpfigen Boden erreichte, suchte er den Damm mit dem relativ festen Boden, über den sie sich -214-
Swamp City genähert hatten. Er fand ihn schnell, und sie flüchteten darüber hinweg. Als sie ihn zu etwas mehr als der Hälfte überquert hatten, ertönten laute Schreie hinter ihnen. Sie fuhren herum und sahen Dutzende von Gazkar. Die insektoiden Wesen hatten sie entdeckt und folgten ihnen. Sie bewegten sich schnell und geschickt, und sie holten in beängstigender Weise auf. Joseph Broussard jr. mußte an die Ereignisse der vergangenen Wochen denken. Jetzt mußten sie erkennen, daß sie die ungeheuren Strapazen, die mit ihrem Marsch verbunden gewesen waren, vergeblich auf sich genommen hatten. Der erwartete Lohn für ihre Mühen blieb aus. »Mist!« stöhnte Pepe. »Wir hätten uns das alles sparen können. Wir hätten bleiben können, woher wir gekommen sind.« Wie recht der Junge hatte! Immer wieder blickte Joseph sich um, und bei jedem Mal erkannte er deutlicher, daß sie nicht entkommen konnten. Unter diesen Umständen wäre es sinnvoller gewesen, einfach stehen zu bleiben und abzuwarten, bis die Gazkar bei ihnen waren, um sie gefangen zu nehmen. Doch er konnte nicht. Irgend etwas trieb ihn voran, als ob Hoffnung bestünde. Er bemerkte einige der langgestreckten Reptilien, die in den Sümpfen dieser Gegend lebten. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich einfach in den Sumpf zu werfen und sich von den Bestien töten zu lassen. Das war wohl allemal besser, als in die Klauen der Gazkar zu geraten. Doch Joseph sprang nicht in den Rachen der Raubtiere. Er rannte weiter. Dabei brachen seine Füße immer wieder durch den aufgeweichten Boden, und einige Male sank er ein. »Es hat keinen Sinn mehr!« schrie Pepe verzweifelt, flüchtete aber weiter. -215-
Sekunden später blieb der Junge wie angewurzelt stehen. Mit geweiteten Augen blickte er auf die mit grünen Algen überzogene Wasserfläche hinaus. Der flache Kopf eines Steinfressers hob sich aus dem Sumpf! Joseph Broussard jr. glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Er hatte von diesen Wesen gehört, doch er hatte sie noch nie gesehen. Er wußte, daß der Planet Lafayette unter dem Einfluß einer geheimnisvollen Strahlung stand, die von den Invasoren ausgesendet wurde. Er selbst spürte nichts davon, doch ihm war nicht entgangen, daß die Siedler in erheblichem Maße darunter litten. Auch Pepe klagte über Übelkeit und Schwindelgefühl. Im Gegensatz zu den Siedlern war er jedoch zeitweilig in der Lage, sich in sinnvoller Weise zu äußern. Die Kolonisten hatten behauptet, daß es rätselhafte Wesen auf Lafayette gäbe. Diese lebten tief unter der Planetenoberfläche in verborgenen Höhlen und ernährten sich hauptsächlich von den im Gestein enthaltenen Mineralien. Angeblich kam es nur etwa alle hundert Jahre vor, daß sich mal eines dieser Steinfresser genannten Tiere an die Oberfläche verirrte, wo es dann zumeist großes Unheil anrichtete. Man hatte ihm aufgezeichnet, wie der Kopf eines Steinfressers aussah. Flach, kantig mit vielen höckerartigen Auswüchsen, etwa drei Meter lang, zwei Meter breit, anderthalb Meter hoch. Joseph Broussard zweifelte nicht daran, daß er den Kopf eines Steinfressers sah. Oder spiegelte seine Phantasie ihm etwas vor? »Komm doch endlich!« schrie Pepe und winkte ihm verzweifelt vom Ende des Damms her. Joseph spürte, wie seine Beine zitterten. Er war überzeugt davon, daß der Steinfresser sich auf ihn stürzen würde, um ihn zu fressen. Einer der Gazkar schoß auf das bizarre Wesen. Joseph sah, -216-
daß der Energiestrahl vom Kopf des Steinfressers wie von einem Spiegel abgelenkt wurde. Er schlug sich die Hände mit den flachen Innenseiten an den Kopf und rannte auf seinen Freund zu. Ich werde verrückt! Es kann nicht wahr sein! Ich sehe etwas, was überhaupt nicht existiert! Plötzlich begann das unheimliche Wesen zu brüllen. Dann wälzte es sich aus dem Sumpf und griff die Gazkar an. Die Käfer feuerten ihre Waffen auf den Steinfresser ab, aber Joseph sah nicht, ob sie trafen oder ihn verfehlten. Die Ohren dröhnten ihm von dem Lärm der Schreie. Energiestrahlen schlugen offensichtlich in die Bäume und rissen die Baumstämme auf. Das sich unter der Hitze explosionsartig ausdehnende Holz krachte so laut, als ob Bomben neben dem ehemaligen Beausoleil detonierten. Lianen stürzten aus der Höhe herab. Myriaden von Vögeln und Insekten stoben lärmend auf und flüchteten in die tiefhängenden Wolken hinein. Chaos... Joseph blickte über die Schulter zurück, und er bemerkte, daß die Gazkar so gut wie nichts gegen den Steinfresser ausrichteten. Entweder feuerten sie ihre Waffen überhastet ab, so daß sie nicht trafen, oder das Wesen aus den geheimnisvollen Tiefen des Planeten war mit ihrer Ausrüstung nicht zu überwinden! Der Morast spritzte unter seinen Füßen auf, von den Bäumen regnete es vermoderte Pflanzenreste. Sie fielen ihm ins Gesicht, und er wischte sie achtlos hinweg. Irgendwann packte Pepe ihn am Arm und zerrte ihn tiefer in den Wald hinein, wo sie im Gewirr der Luftwurzeln Unterschlupf fanden. Nur nebenbei bemerkte Joseph, daß ihr Gefangener noch bei ihnen war.
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Als die HALUTA II das Collore-System erreichte, dessen vierter Planet Lafayette war, nahm Icho Tolot aus großer Entfernung Ortungen vor. Gucky kam zu ihm in die Hauptleitzentrale, um zu verfolgen, welche Ergebnisse die Bemühungen erbrachten. Auf einem der Monitoren konnte er ablesen, daß sich bereits über fünfzig der 600 Meter langen Igel-Kriegsschiffe versammelt hatten, von denen man wußte, daß sie über keinen Tangler verfügten. Der Mausbiber betonte es noch einmal. »Wir müssen aber voraussetzen, daß der Planet nach wie vor in ein Tangle-Feld gehüllt ist, das jedwedes Lebewesen beeinflußt und in den Wahnsinn zu treiben vermag«, fügte er hinzu. »Auch die Tiere?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber wir müssen wohl davon ausgehen.« Icho Tolot blickte eine Weile schweigend auf die Monitoren. Dann wandte er sich wieder dem Ilt zu. »Wie kommen wir auf den Planeten?« »Überhaupt nicht. Vergiß das Tangle-Feld nicht. Wir drehen durch, wenn wir in seinen Einfluß geraten.« »Ist das sicher?« »Ziemlich. Jedenfalls für mich. Deshalb müssen wir uns dem Planeten sehr behutsam nähern, und so daß wir uns notfalls sofort zurückziehen können.« »Das habe ich nicht vor.« »Dann gehst du ein unwägbares Risiko ein«, gab Gucky zu bedenken. »Und damit ist niemandem geholfen.« »Wir können es mit einem kleinen, unauffälligen Beiboot versuchen.« »Aussichtslos. Man würde uns sofort orten - und abschießen!« »Oder mit der HALUTA II landen.« »Das wäre Selbstmord, und du weißt es.« »Allerdings.« Der seltene Fall war eingetreten, daß der Haluter ratlos war. -218-
Es schien keine Möglichkeit zu geben, auf den Planeten zu kommen, ohne dabei ein unverantwortliches Risiko einzugehen. Entweder setzten sie sich der Gefahr aus, von den Igelschiffen angegriffen und vernichtet zu werden, oder sie wagten eine unkalkulierbare Begegnung mit dem Tangle-Feld, die sie ihre geistige Gesundheit kosten konnte. Auch eine Teleportation nach Lafayette kam nicht in Frage. Der Ilt mußte davon ausgehen, durch die Strahlung sofort außer Gefecht gesetzt zu werden. Während sie noch überlegten, tauchten überraschend zwei 600-Meter-Igelschiffe hinter einem der inneren Planeten auf, die einen Kugelraumer von 100 Metern im Schlepptau hatten und sich in Richtung Lafayette bewegten. Bei dem erbeuteten Raumschiff handelte es sich offenbar um einen abgeschossenen LFT-Erkunder. Seit Gucky an Bord der HALUTA II war, hatte er Icho Tolot beobachtet. Dem Ilt war bewußt geworden, daß der Freund in zunehmendem Maße unter den Einfluß der Drangwäsche geriet. Ihm war ebenso klar, daß der Haluter versuchte, sich dem zu entziehen, doch es gelang ihm immer weniger. Im Gegenteil sogar. Je mehr er sich bemühte, sich selbst zu beherrschen, desto mehr stieg der Druck, der auf ihm lastete. Ein kleiner Anlaß genügte, um das Faß zum Überlaufen zu bringen. Der Anlaß war gegeben! Angesichts der Aktion der IgelRaumer verlor Icho Tolot die Beherrschung. »Wir nehmen Kurs auf die beiden Igelschiffe«, befahl er kurzerhand. Die Bordsyntronik reagierte, und die HALUTA II flog mit hoher Beschleunigung auf die Zielobjekte zu. »Das ist ein Fehler!« rief Gucky, der bestrebt war, das Unheil aufzuhalten. »Das kann nicht gutgehen!« »Feuer!« donnerte der Befehl des Haluters durch die Zentrale. Aus den Bordwaffen des Kugelraumers schossen Energie-219-
strahlen durch den Raum und zu den Igelschiffen hinüber, ohne diese allerdings gefährden zu können. »Nicht weiter«, protestierte der Ilt. »Die Igelraumer befinden sich innerhalb des Tangle-Feldes!« Doch der Haluter war nicht zu bremsen. Mit Feuereifer stürzte er sich in den Kampf, den er nur zu gern ausgeweitet hätte. Er erwartete sofort eine Gegenreaktion der Invasoren. Doch der Konter blieb aus. Die HALUTA II drang in das Tangle-Feld ein, und Gucky spürte die Wirkung der rätselhaften Strahlung. Damit war es zu spät. Nun konnte niemand mehr den Haluter aufhalten. Gepeinigt preßte der Ilt die Hände an den Kopf, und plötzlich war er nicht mehr in der Lage, sich aufrecht zu halten. Sein Gleichgewichtssinn funktionierte nicht mehr. Der Ilt kippte hilflos aus dem Sessel und ruderte haltsuchend mit den Armen. Er stürzte vornüber auf den Boden, schlug mit der Stirn auf und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, waren die Auswirkungen der Strahlung auf ihn noch schlimmer geworden; und er verlor den Bezug zur Realität. In dieser Situation war der Ilt nicht einmal mehr in der Lage zu erkennen, daß es wichtig war, dem Haluter in die Arme zu fallen. Verzweifelt kämpfte der Mausbiber gegen das Tangle-Feld an. Panische Angst erfüllte ihn, da sich ihm der Gedanke aufdrängte, daß die HALUTA II abstürzte und niemand ihr Ende verhindern konnte. Er sah vor sich, wie sie in die Atmosphäre des Planeten rasten, um irgendwann auf der Oberfläche von Lafayette aufzuschlagen und in einem Glutball zu vergehen. »Nein!« Ihm war, als sei er in einem zähen Brei gefangen, in dem es nirgendwo festen Halt für seine Hände gab. Überschlug er sich ständig? Drehte er sich um seine Längs und Querachse? Gab es eine Gravitation, deren Werte sich -220-
pausenlos veränderten, so daß er mal unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohte, während er im nächsten Moment schon schwerelos zu werden schien? Irgend jemand schrie. Er selbst? Das Gelächter des Haluters klang ihm in den Ohren. Wie recht Icho Tolot doch gehabt hatte! Nun erschien es ihm ebenfalls wie ein irrwitziger Gedanke, daß er dem Freund hatte helfen wollen. Er war dazu nicht in der Lage, da er noch nicht einmal sich selber zu helfen vermochte. Was hatte ihn nur dazu veranlaßt, den Haluter zu begleiten? Wenn Icho Tolot der Drangwäsche nachgeben wollte, dann sollte er das doch tun! Gucky sah den Haluter, die Instrumente in der Zentrale, die vielen bunten Monitoren, die ihm unverständliche Bilder lieferten; er vernahm das dröhnende, wilde Lachen seines riesigen Freundes und das Dröhnen der Energiekanonen, doch er war nicht in der Lage, die verschiedenen Eindrücke auseinanderzuhalten und richtig einzuordnen.
Die RICO, das zweite Modul der GILGAMESCH, traf bald nach der HALUTA II im Collore-System ein. Atlan konnte zwar noch das waghalsige Manöver der HALUTA II beobachten, hatte jedoch nicht mehr die Möglichkeit, sich aktiv ins Geschehen einzuschalten. Auf den Monitoren der RICO konnte er verfolgen, wie die beiden Igelraumer in Glutbällen vergingen. Sie waren Opfer des Energiefeuers der HALUTA II geworden. Danach nahm das Raumschiff Icho Tolots sich des übrig gebliebenen Kugelraumers an und schleppte ihn aus der Gefahrenzone, wobei es sich rasch von Lafayette entfernte. Der Arkonide ahnte, was dieses Manöver zu bedeuten hatte. Er folgte der HALUTA II und dem Kugelraumer bis zu den -221-
äußeren Planeten des Sonnensystems. Hier funkte er den Erkennungskode »Taravatos« und erzielte augenblicklich die damit angestrebte Wirkung. Icho Tolots Raumschiff verzögerte stark und ließ ein Kommando unter Führung des Arkoniden an Bord kommen. Während Atlan sich zur HALUTA II begab, lief die Rettungsaktion für die Besatzung des terranischen Kugelraumers bereits an. Er wollte die Männer und Frauen an Bord der RICO haben, um sie hier versorgen zu können, denn er ging davon aus, daß sie selbst nicht in der Lage waren, ihr Raumschiff zu fliegen. Icho Tolot und Gucky befanden sich allerdings nicht mehr an Bord der HALUTA II. Atlan befürchtete schon, daß sie unter der Tangle-Strahlung allzusehr gelitten und sich im Wahn irgendwo an Bord verkrochen hatten, um Schutz vor den Strahlen zu finden. Er ließ sicherheitshalber die HALUTA II bis in die letzten Winkel hinein durchsuchen. Vergeblich. Icho Tolot und Gucky waren spurlos verschwunden. Der Arkonide hielt sich während der gesamten Such- und Rettungsaktion in der Hauptleitzentrale auf und setzte sich mit dem Bordsyntron auseinander. Von ihm erhoffte er die nötige Unterstützung. Doch er wurde enttäuscht, denn der Syntron bestätigte ihm lediglich, was er schon bald wußte: daß die beiden Gesuchten von Bord gegangen waren. Als der Bordsyntron Bilder der letzten Sekunden einspielte, die Icho Tolot und der Mausbiber in der Zentrale verbracht hatten, wußte Atlan, daß der Ilt mit dem Haluter teleportiert war. Es mußte eine Verzweiflungstat gewesen sein, da der Mausbiber unter dem Tangle-Scan sichtbar gelitten und offenbar nur noch instinktiv gehandelt hatte. Damit war die gesamte Planung des Arkoniden hinfällig geworden. -222-
Atlan war sich darüber klar, daß Gucky innerhalb des Tangle-Feldes so gut wie handlungsunfähig war. Die Bilder des Syntrons waren allzu deutlich gewesen. Unter diesen Umständen war nicht damit zu rechnen, daß der Ilt erneut mit Icho Tolot teleportierte und in die HALUTA II zurückkehrte. Dazu war der Ilt sicher nicht mehr in der Lage. Atlan beschloß, ein Rettungskommando mit dem Auftrag nach Lafayette zu schicken, die beiden Freunde zu retten und zurückzuholen. Viel Erfolg! spottete sein Logiksektor. Wieso gehst du Narr davon aus, daß es Gucky gelungen ist, dorthin zu telefonieren? Er kann auch ganz woanders sein - oder im Leerraum gestrandet...
4. Atemlos vor Anstrengung blieb Pepe stehen. Er blickte Joseph an und schüttelte hilflos den Kopf, um dem älteren Freund zu bedeuten, daß er nicht mehr weitergehen konnte. Der Junge war am Ende seiner Kräfte, und er war so erschöpft, daß er kaum noch die Beine heben konnte. Joseph Broussard jr. ließ sich rücklings auf den Boden fallen, und er versuchte nicht einmal, den Sturz abzumildern. Er brauchte es nicht. Der Untergrund, auf dem sie standen, war weich. Er fing ihn auf und dämpfte den Aufprall. Es war, als wäre er auf ein Kissen gefallen. Nur der Gefangene schien über ausreichende Kräfte zu verfügen. Er stand zwischen Pepe und Joseph; sein Chitinpanzer hob und senkte sich nur unmerklich schneller als sonst. »Steh nicht so rum!« keuchte Joseph. »Das ärgert mich.« Der Gazka schien ihn verstanden zu haben, denn nun kippte er -223-
in der gleichen Weise nach hinten weg, wie es der Beausoleil getan hatte. Er fiel auf den leicht gerundeten Rücken, schaukelte darauf ein wenig hin und her und blieb dann wie erstarrt liegen. »He, was ist denn mit unserem Mistkäfer los?« fragte Pepe. Er litt unter der Tangle-Strahlung, doch das war ihm nicht wirklich bewußt. Es war schwer für ihn, sich auf den Beinen zu halten und dabei das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und er hatte Kopfschmerzen. Doch an diese Dinge hatten sich beide mittlerweile gewöhnt. Wie stark ihre intellektuelle Leistung herabgesetzt wurde, verinnerlichte keiner von beiden. Sie empfanden sich als durchaus normal. Nur Joseph fiel auf, daß Pepe sich bewegte, als habe er einen über den Durst getrunken. Joseph Broussard jr. hob den Kopf und blickte zu dem Gefangenen hinüber. Der Gazka regte sich nicht. Er streckte seine vier Beine in die Höhe, als sei alles Leben aus ihm gewichen. »Moment mal«, ächzte Joseph, während er sich mühsam aufrichtete. »Er ist doch wohl nicht tot?« Er ging zu dem Gazka hin und griff nach den Lianen, mit denen die Arme und Beine gefesselt waren. Er rüttelte so kräftig daran, daß der ganze Körper des insektoiden Wesens erschüttert wurde. Der Gazka reagierte nicht. Noch nicht einmal die feinen Härchen, die an den vielen Gelenken saßen, erzitterten. Nun kam Pepe hinzu. Er beugte sich über den Gefangenen und blickte ihm aus nächster Nähe in die Facettenaugen, auf deren Oberfläche sämtliche Farben des Regenbogens schillerten. Gleichzeitig klopfte er mit den Knöcheln gegen den Chitinpanzer, als ob er damit die Aufmerksamkeit des Gazka erregen könnte. »Ich glaube, er ist tot«, sagte er. »Oder er stellt sich tot! Wieder mal!« Pepe stemmte sich gegen die Seite des Wesens. Es war nicht schwer und ließ sich recht leicht bewegen. So konnte er es ohne -224-
große Mühe herumwälzen, bis die Fußkrallen den Boden berührten. Danach pochte er mit den Knöcheln seiner Finger gegen den Rückenpanzer des Kriegers. »He, auf die Beine mit dir!« befahl er. Vergeblich. »Und was nun?« fragte Pepe. »Mensch, wir haben diesen Mistkäfer die ganze Zeit mitgeschleppt, und jetzt stirbt er uns einfach weg. Das ist nicht richtig. Das haben wir nicht verdient.« »Zur Strafe fesseln wir ihn erst recht und noch mehr«, schlug Joseph vor. »Ob er es merkt, wo er doch tot ist?« Pepe blickte ihn unsicher an. »Vielleicht ist es besser, wenn wir ihn in den Sumpf werfen. Sollen ihn doch die Wasserechsen fressen!« Joseph überlegte eine ganze Weile. Vielleicht war der Gewaltmarsch für den Gazka zu anstrengend gewesen? Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie erschöpft er selbst noch vor wenigen Minuten gewesen war und wie wild sein Herz geklopft hatte. Ihr Gefangener hatte den Eindruck gemacht, als habe ihn die Flucht nicht sonderlich angestrengt, doch hatten die äußerlichen Anzeichen offensichtlich über den inneren Zustand getäuscht. War das Herz des Gazka stehen geblieben? Hatte er überhaupt so etwas wie ein Herz? Joseph spürte, daß es falsch gewesen wäre, sich des Gefangenen zu entledigen, indem man ihn in den Sumpf warf und darin versinken ließ. »Wir fesseln ihn noch mehr«, sagte er. »Einen Toten?« Pepe kratzte sich den Kopf und verzog das Gesicht. Er begriff nicht, weshalb sein Freund diesen Vorschlag gemacht hatte. »Vielleicht ist er ja gar nicht tot«, gab Joseph zu bedenken. »So genau kenne ich mich mit diesen Käfern nicht aus.« Er beugte sich über den Gazka und legte ihm das Ohr an den Rücken, vernahm jedoch keine Geräusche aus dem Inneren des -225-
insektoiden Körpers. Danach löste er einige dünne Lianen von den Bäumen und schlang sie um Arme, Beine und Rumpf ihres Gefangenen, um die Fesseln schließlich gar mit einigen Luftwurzeln zu verbinden. »Was soll das denn?« fragte Pepe verwirrt. Nach reiflicher Überlegung war er zu dem Schluß gekommen, daß ihr Gefangener tatsächlich das Leben ausgehaucht hatte. Demnach war es nicht mehr nötig, ihn in dieser Weise zu sichern. »Ich will, daß er hierbleibt und sich nicht wegwälzen kann«, erläuterte Joseph. Er überprüfte die Knoten auf ihre Festigkeit und gab sich erst zufrieden, als er einige von ihnen nochmals verstärkt hatte. »Du bist schlau!« »Ja, das bin ich, aber du bist es auch!« Joseph war es peinlich, von seinem Freund gelobt zu werden. Erkannte Pepe denn nicht, wie unsicher er selbst war? Pepe blickte mit leeren Augen auf die Sümpfe hinaus. Dabei fragte er sich, ob er wirklich klug war. Er kam zu keinem Ergebnis. Nur eines war ihm klar: Joseph war ihm in vielen Dingen überlegen. Er war ganz froh darüber, weil der Freund ihm die Entscheidungen abnahm, die ihn allesamt überfordert hätten. »Und was ist jetzt?« fragte der Junge schließlich. Wieder schob er Joseph die Verantwortung hin und überließ es ihm, die nächsten Schritte zu planen. »Ich geh' nach Swamp City, und du bleibst hier«, antwortete Joseph Broussard jr. »Ich will wissen, wie es dort aussieht. Wir haben ja kaum etwas gesehen.« »Für mich war es genug!« »Aber wir können nicht ewig in den Sümpfen bleiben«, gab Joseph zu bedenken. »Bestimmt gibt es Leute in Swamp City, die uns helfen können. Die Fremden sind nicht überall.« -226-
Pepe war nicht so leicht zu überzeugen. Er war durchaus damit einverstanden, daß Joseph die Führung übernahm. Er wollte aber nicht allein bleiben. Und seit der Gazka sich nicht mehr regte, hatten sich seine Gefühle dem Fremden gegenüber verändert. Während er ihm vorher eigentlich recht gleichgültig gewesen war, begann er nun, ihn zu fürchten. Er wunderte sich selbst darüber, und er redete sich immer wieder ein, daß er keine Angst zu haben brauchte. Doch es half nichts. Das insektoide Wesen war ihm unheimlich. Irgendwann hatte Pepe einmal gehört, daß solche Geschöpfe im Verlauf ihres Lebens eine Metamorphose durchmachen. Er hatte Angst, daß so etwas mit dem Käfer geschah, während er mit ihm allein war. Was war, wenn plötzlich ein gefährlicher und gefräßiger Wurm aus dem regungslosen Körper kroch und ihn angriff? Keine Sekunde lang würde er schlafen. Nicht einen Moment würde er das insektoide Wesen aus den Augen lassen! Er klagte, und er jammerte, und schließlich flehte er Joseph an, bei ihm zu bleiben. Doch der Freund war von seinem gefaßten Plan nicht abzubringen. Er wollte nach Swamp City, um dort zu spionieren und Nahrungsmittel zu besorgen. Schließlich sah Pepe ein, daß sie gar keine andere Wahl hatten. Einer von ihnen mußte diese Aufgabe übernehmen. »Also gut«, seufzte er. »Ich wäre gern mitgegangen, aber einer muß den Gefangenen bewachen. Selbst wenn der Käfer nicht mehr lebt.« Er dachte noch immer über seine Worte nach, als Joseph längst nicht mehr bei ihm war. Immer wieder blickte er den Gazka an. Dabei fragte sich Pepe, ob er sich richtig entschieden hatte und ob es berechtigt war, sich vor dem Gazka zu fürchten.
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Das Geäst der Bäume krachte und splitterte, als Icho Tolot aus einer Höhe von etwa zehn Metern in die Tiefe stürzte. Er schlug um sich und griff nach den Ästen, doch das Holz brach. Er war zu schwer, um sich irgendwo halten zu können. Im Fallen bemerkte er eine humanoide Gestalt, die sich im Gewirr der Äste und Zweige versteckt hatte. Es war ein schlanker Mann mit einem grauen Kinnbart. Ohne es zu wollen, brach der Haluter das Nest auf, in dem sich der andere verborgen hielt. Er hörte angstvolle Schreie und griff unwillkürlich nach seinem Gürtel, um den Gravo-Pak seines Kampfanzuges einzuschalten, den er kurz vor dem Angriff auf die Igelschiffe angelegt hatte. Doch dann zögerte er, denn der Bärtige war zu weit von ihm entfernt, so daß er nicht von dem Antigravfeld erfaßt werden konnte. Icho Tolot konnte den Zusammenbruch des Baumes verhindern, wenn er wollte, doch das änderte an der Situation überhaupt nichts mehr Der Mann würde so oder so auf den sumpfigweichen Boden fallen, und dort würde er sich kaum verletzen. Gemeinsam mit der humanoiden Gestalt stürzte der Haluter in die Tiefe. Er erinnerte sich an die letzten Sekunden an Bord seines Raumschiffes. Ihm war klar, von welchen Gedanken Gucky veranlaßt worden war, nach Lafayette zu teleportieren. Vermuten konnte er nur, daß der Ilt irgendwie die Gedanken dieses graubärtigen Mannes erfaßt und sich an ihnen orientiert hatte. Wahrscheinlich war es dem Mann gelungen, sich aus den Siedlungen der Kolonisten abzusetzen und in die Wildnis zu flüchten. Hier hatte er sich in einem Baum verkrochen, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Doch wie alle Bewohner von Lafayette stand er wohl unter dem Einfluß des Tangle-Scans. Er hatte seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle. -228-
Vielleicht war es die Verzweiflung gewesen, die irgendwie zu dem Ilt durchgeschlagen war, möglicherweise aber auch die von panischer Angst erfüllten Gedanken, die Gucky eine gewisse Orientierung gegeben hatten, so daß er ausgerechnet hierher teleportiert war. Als Icho Tolot auf den Boden prallte, versank er bis zu den Hüften im Morast. Er breitete die Arme aus, um nicht ganz im Sumpf zu verschwinden, doch dann war die rasante Fahrt nach unten zu Ende. Seine Füße hatten festen Untergrund erreicht. Über ihm stoben Hunderte von Vögeln auf und suchten lärmend das Weite, erschreckt durch das Brechen der Äste und die Schreie des graubärtigen Mannes, der gegen einen dicken Ast prallte und zur Seite geschleudert wurde. Icho Tolot streckte seine Hände nach ihm aus, erreichte ihn jedoch nicht. Der Lafayetter stürzte kopfüber in einen breiten Wassergraben, in dem es plötzlich lebendig wurde. Eine lang gestreckte Panzerechse warf sich brüllend auf den Mann, und verschlang ihn, bevor der Haluter es verhindern konnte. Während Icho Tolot sich aus dem Sumpf freikämpfte, um der mit ihrem Opfer abtauchenden Echse zu folgen, vernahm er die schrillen Schreie des Mausbibers. Er hielt inne. Gucky hing hoch oben in der Baumkrone und baumelte an einer Liane, die sich bedrohlich streckte und dabei immer dünner wurde. »Komm schon!« rief Icho Tolot dem Ilt zu. »Laß die Liane endlich los!« Der Ilt schrie erstickt auf und gehorchte. Er fiel in die Tiefe, und der Haluter fing ihn geschickt auf, stellte ihn sanft auf die Beine. »Was ist los mit dir, Kleiner?« fragte er, als ihm auffiel, daß der Freund sich seltsam verhielt. Gucky bewegte sich unkontrolliert, hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, gestikulierte hilflos, drückte sich mal -229-
die Hände an die Ohren, legte sie mal über die Augen und fuchtelte damit in der Luft herum, als versuche er, unsichtbare Dinge zu ergreifen. Der Ilt antwortete nicht. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, verdrehte er die Augen, verlor das Bewußtsein und sank auf den Boden, wo er heftig atmend liegen blieb, als müsse er sich über Gebühr anstrengen. Icho Tolot bemühte sich um ihn, konnte jedoch nichts an seinem jetzigen Zustand ändern. Gucky war ein Opfer des Tangle-Scans geworden, und es gab nichts, was ihn davor schützen konnte. Die Wirkung der Strahlung auf ihn war besonders intensiv. Der Haluter vermutete, daß dieser Effekt auf die Psi-Begabung des Ilts zurückzuführen war. Sie machte den Freund besonders empfänglich. Er dagegen spürte kaum etwas; nur im Ordinärhirn. Er konnte die Wirkung des Tangle-Scans mit Hilfe seines Planhirns ablenken. Dabei spürte er, daß etwas vorhanden war, was für andere von erheblicher Bedeutung war. Für ihn war es nur wie ein sanftes Kribbeln irgendwo im Hintergrund, und er sorgte dafür, daß es nicht stärker werden und einen größeren Einfluß gewinnen konnte. Der unfreiwillige Einsatz auf Lafayette stand unter einem denkbar ungünstigen Stern. Schon in den ersten Sekunden nach ihrem Eintreffen war durch seine Schuld ein Mensch gestorben. Der Mann wäre ganz sicher nicht aus dem Baum gefallen, wenn Tolot die tragenden Aste nicht abgebrochen hätte. Icho Tolot blickte in hilflosem Zorn auf die Wasserfläche, die nun wieder so ruhig vor ihm lag, als sei nichts geschehen. Er machte sich heftige Vorwürfe, wußte zugleich jedoch, daß er nichts hätte tun können, um den Bärtigen zu retten. Es war alles viel zu schnell gegangen. Selbst mit der technischen Ausrüstung, die ihm zur Verfügung stand, hatte er keine Chance -230-
gehabt, den Tod des Mannes zu verhindern. Der Haluter versuchte, in die Reste des Baumes zu steigen, weil er hoffte, im Geäst Hinweise darauf zu finden, wer der Mann gewesen war. Doch die Aste brachen, und als er schließlich den ganzen Baum umriß, fand er nicht den geringsten Hinweis. Der Mann hatte keine Ausweise bei sich gehabt. Er hatte nichts mit sich geführt, was helfen konnte, seine Identität festzustellen. Als der Haluter resignierte und die Suche einstellte, wachte Gucky auf. Er schlug sogleich um sich, schrie gequält und redete wirr durcheinander. »Was mache ich mit dir?« fragte der Haluter. »Warum habe ich nicht wenigstens einen SERUN für dich, in den ich dich stecken und sicher aufbewahren kann?« Er war nicht bereit, den Mausbiber allein in der Wildnis zurückzulassen und hier unwägbaren Gefahren auszusetzen. Gucky brauchte einen Unterschlupf, in dem er die nächsten Stunden ungefährdet verbringen konnte. Plötzlich hob sich der flache Kopf der Panzerechse aus dem Wasser; große, gelbe Augen blickten den Haluter gierig an. Icho Tolot hatte augenblicklich wieder vor Augen, wie die Bestie den Graubärtigen verschlungen hatte. Er brüllte zornig auf, und nun endlich brachen sich die lange in ihm aufgestauten Energien freie Bahn. Er ließ sich auf seine Laufarme herabfallen und raste auf das Tier zu. Der sumpfige Boden flog unter seinen Händen zur Seite, und es störte ihn nicht im mindesten, daß er mit jedem Schritt tiefer einsank. Wie ein Pflug kämpfte er sich durch den Morast, und noch nicht einmal zwei oder drei Sekunden vergingen, bis er im Wasser war. Die Panzerechse sah ihn kommen, und sie nahm die Herausforderung an. Sie riß den mit zahllosen Reißzähnen bewehrten Rachen auf und warf sich dem Angreifer entgegen, überzeugt -231-
davon, auf eine leichte Beute zu stoßen. Icho Tolot brüllte so laut, daß die Bäume in seiner Umgebung erzitterten und Moos und verfaulte Schmarotzerpflanzen von den Asten regneten.
Als er das Krachen und Bersten von Holz hörte und gleich darauf ein geradezu urweltliches Brüllen ertönte, packte Pepe die nackte Angst. In heilloser Flucht rannte er davon, doch er lief nicht weit, denn plötzlich vernahm er die Stimme von Joseph. »Du bleibst hier!« brüllte der Freund, den er längst in weiter Ferne wähnte und der überraschend zurückgekehrt war. »Wo kommst du denn her?« stammelte Pepe. »Da ist jemand, an dem ich nicht vorbeikomme«, antwortete Joseph Broussard jr. »Jedenfalls nicht jetzt. Schnell! Hilf mir! Wir müssen verschwinden.« »Das wollte ich doch gerade!« »Richtig, aber du hast etwas vergessen.« Joseph deutete auf den Gazka. Er war wichtig für sie, und da sie nicht sicher waren, daß der Krieger wirklich tot war, liefen sie in aller Eile zu ihm hin, lösten die Lianen, mit denen er an die Luftwurzeln der Bäume gefesselt war, packten ihn von beiden Seiten und trugen ihn davon. Abermals krachte es in ihrer Nähe, und dann erzitterte die Luft unter einem Gebrüll, wie sie es zuvor noch nie vernommen hatten. Der Lärm jagte ihnen eiskalte Schauder der Furcht über den Rücken, und sie flüchteten in die Wildnis, als seien tausend Teufel hinter ihnen her. Die beiden Männer waren überzeugt davon, daß sie es mit einer Bestie der Sümpfe zu tun hatten und diese ihnen ans Leben wollte. Sie stolperten über schmale Pfade, die von Tieren getrampelt worden waren, wühlten sich mit rudernden Armen durch Vor-232-
hänge von Lianen und Moosgewächsen, die von den Bäumen bis auf den Boden herabhingen, und durchschwammen einige Wasserarme, wenn sie keine andere Wahl mehr hatten und sich nirgendwo ein trockener Weg anbot. »Das genügt!« rief Pepe keuchend, als sie etwa einen Kilometer zurückgelegt hatten. »Das Biest ist uns nicht gefolgt.« Sie atmeten hektisch, und es dauerte lange, bis sie sich von der anstrengenden Flucht erholt hatten. Joseph Broussard jr. ließ sich auf den Boden sinken und sah sich um. Sie hatten eine Anhöhe erreicht, die sich etwa fünfzig Meter weit über den Sumpf erhob und mit dürrem Gebüsch bedeckt war. Von hier aus konnten sie recht weit über die Sumpflandschaft blicken, die ihnen wie eine geschlossene Wasserfläche vorkam, die immer wieder durch Vegetationsinseln durchbrochen wurde. Es schien, als befänden sie sich inmitten einer Seenlandschaft. Tatsächlich war das Wasser an den meisten Stellen kaum einen Zentimeter tief. In der Ferne waren einige hohe Gebäude von Swamp City zu erkennen. Aus den tiefhängenden Wolken kam ein Schwarm von großen, weißen Vögeln. Mit ausgebreiteten Schwingen segelten die Tiere heran und ließen sich auf das Wasser herabgleiten. Ein friedliches Bild, das nichts von dem Schrecken ahnen ließ, der hinter Pepe und Joseph lag. »Hier kannst du bleiben«, sagte Joseph Broussard jr. »Auf dem Hügel bist du sicher. Ich gehe nach Swamp City.« »Bitte nicht!« Joseph blickte seinen Begleiter lange an. Pepe hatte Hohlwangen, und seine brennenden Augen lagen tief in den Höhlen. Er war am Ende seiner Kraft. »Hast du Hunger?« »Und wie!« »Haben wir was zu essen?« -233-
»Ich wollte, wir hätten etwas.« »Na also!« Joseph deutete zu den Gebäuden hinüber. »Nur in Swamp City gibt es etwas, was unsere Mägen wirklich gebrauchen können. Wir müssen etwas Gehaltvolles essen, oder wir gehen zugrunde.« Pepe kaute nachdenklich auf den blassen Lippen. »Ich bringe dir etwas mit«, versprach Joseph. »Bald hört dein Magen auf zu knurren.« Pepe sah ein, daß sie keine andere Wahl hatten. Er nickte, und um zu unterstreichen, daß er sich seiner Verantwortung bewußt war, legte er eine Hand auf die Fesseln des Gazka. Er würde dafür sorgen, daß der Gefangene nicht weglaufen konnte, falls er aus seiner totenähnlichen Starre aufwachen sollte. »Beeile dich!« bat er. Jetzt begnügte sich Joseph Broussard jr. mit einem Nicken. Er stand auf, versetzte dem Gefangenen einen leichten Fußtritt und ging in Richtung Swamp City davon. Kurz bevor er zwischen den Bäumen und den tief herabhängenden Luftwurzeln verschwand, blieb er noch einmal stehen und blickte zurück. Er winkte, und Pepe antwortete mit der gleichen Geste. Joseph wußte, daß sein Freund und Begleiter Angst hatte, im Grunde genommen aber froh darüber war, daß die Rollen in dieser Weise verteilt waren. Pepe hätte sich nicht zugetraut, allein durch die Wildnis nach Swamp City zu gehen, da er sich den vielfältigen Gefahren nicht gewachsen fühlte. Doch auch oben auf dem Hügel fühlte er sich nicht wohl. Joseph Broussard jr. schlug einen Bogen ein, um nicht wieder an die Stelle zu kommen, von der sie geflohen waren. Dort lauerte womöglich ein unbekanntes Wesen auf ihn, dem er lieber aus dem Wege ging. Das Brüllen klang ihm immer noch in den Ohren nach. Er war sicher, daß er es mit einem gewaltigen Geschöpf zu tun hatte, -234-
dem er auf keinen Fall gewachsen war. Schon bald kam er zu einem Damm, auf dem sie zuvor schon einmal gewesen waren. Von dem aus hatten sie den Steinfresser beobachtet. Zögernd blieb er stehen. Der Damm war nur schmal, und zu beiden Seiten erstreckten sich spiegelnde Wasserflächen. Er konnte nicht erkennen, ob der Steinfresser darunter lauerte oder ob sonst ein gefährliches Tier auf Beute wartete. Doch er hatte keine andere Wahl: Nur über diesen Pfad konnte er trockenen Fußes nach Swamp City kommen. Alle anderen Wege führten durch das Wasser und durch unergründlichen Sumpf. Langsam ging er weiter, blieb jedoch schon nach wenigen Schritten wieder stehen, denn er bemerkte einen Oawk-Baum, der in der Mitte geteilt worden war. Diese Bäume waren äußerst selten auf Lafayette. Sie brauchten Jahrhunderte, um bis zu einer Höhe von etwa zehn Metern zu wachsen. Dafür war ihr Holz hart und dicht wie Stein, so daß es nur mit High-Tech-Mitteln zu bearbeiten war. Der Steinfresser hatte solche Mittel nicht zur Verfügung gehabt. Mit seinen Zähnen hatte er den Stamm durchgebissen, und wie die Spuren zeigten, hatte er dabei nur einmal zugeschlagen. Die Zähne hatten tiefe Rillen im Holz hinterlassen. Wie Laserstrahlen hatten sie sich durch das harte Material gefressen. Joseph fühlte, wie ihm abwechselnd kalt und heiß über den Rücken lief. Was man sich über den Steinfresser zuraunte, entsprach anscheinend der Wahrheit. Kein anderes Tier war in der Lage, das Holz des Oawk-Baumes auch nur anzuritzen, geschweige denn durchzubeißen. Ein solcher Gegner war nicht zu bezwingen. Selbst gegen die Strahlenwaffen der Gazkar hatte er sich als zu stark erwiesen. Joseph kaute nervös auf seinen Lippen. Er wußte nicht, was er tun sollte. Weitergehen und sich der Gefahr aussetzen, vom Steinfresser verschlungen zu werden? -235-
Unwillkürlich blickte er zurück. Dabei fuhr ihm der Schreck in die Glieder, denn keine zwanzig Meter von ihm entfernt, krochen zwei Panzerechsen aus dem Wasser. Sie legten sich auf den Pfad, um sich von der Sonne bescheinen zu lassen, die nun durch die Wolken brach. Haltsuchend griff Joseph nach einer der vielen Luftwurzeln, doch als sie sich überraschend bewegte, zuckte seine Hand zurück. Er erkannte, daß er eine Braun-Schlange berührt hatte, eines der giftigsten Reptilien von Lafayette. Mit einem Aufschrei sprang er zur Seite. Er wußte nicht viel über die Reptilien dieser Welt, doch hatte er erlebt, daß gerade diese Schlangenart besonders angriffslustig war. Eine Frau war vor seinen Augen gebissen worden und Sekunden später an dem Gift gestorben. Innerlich zitternd wischte er sich die Hand am Hosenboden ab, obwohl er wußte, daß kein Gift an seiner Haut haftete. Ängstlich beobachtete er die Schlange, wie sie sich langsam ins Dickicht zurückzog. Er hatte noch einmal Glück gehabt. Glück? Einer giftigen Schlange war er entkommen. Hinter ihm lauerten zwei gefährliche Echsen. Vor ihm die Ungewißheit. Wie auch immer er sich entschied, überall drohte ihm das Ende. Selbst wenn er stehen blieb, war er nicht außer Gefahr. Joseph mußte weitergehen. Zögernd und langsam setzte er Fuß vor Fuß. Je weiter er kam, desto schneller ging er, und schließlich rannte er wie von tausend Furien gehetzt über den Damm. Das Wasser spritzte unter seinen Füßen hoch, und einige Male brach er durch den Boden, um bis zu den Knien einzusacken, doch er schaffte es. Er erreichte das andere Ende. Unter einem Baum blieb Joseph schließlich stehen. Er konnte es kaum fassen. Nichts hatte ihn angegriffen. Er spürte, daß ihm die Knie zitterten, doch das störte ihn nicht. Er hatte den Gefahren der Natur getrotzt und gewonnen! -236-
Nach einigen Minuten hatte er sich ausreichend erholt, um weitergehen zu können. Der Boden war fest unter seinen Füßen, und er kam gut voran. Schon bald sah er die ersten Gebäude von Swamp City vor sich.
Die Reißzähne der Echse waren zentimeterlang und messerscharf, doch sie konnten Icho Tolot nicht erschrecken. In seinem Zustand der Drangwäsche waren sein Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen eingeschränkt. Normalerweise war der Haluter ein hochintelligentes, geradezu geniales Wesen, das dazu sanft und einfühlsam sein konnte. Nicht jedoch in der Drangwäsche! Jetzt galt nur noch die gewaltsame Auseinandersetzung, der körperliche Kampf, bei dem es möglichst viele Kräfte freizusetzen galt - das ohne Einsatz seines Kampfanzuges und seiner Waffen! Er hätte es sich einfach machen können, indem er seinen Metabolismus umwandelte; darauf verzichtete er vorläufig. Tolot stürzte sich auf die Echse, holte aus und traf sie mit einem wuchtigen Schlag unter dem Unterkiefer. Ein zweiter Schlag zielte auf die Brust des sich aufbäumenden Tieres und schleuderte es zurück. Wasser und Morast spritzten hoch auf, als der mit Dornen überwucherte Schwanz der Echse nach vorn schnellte und den Haluter in Bedrängnis brachte. Icho Tolot parierte den Schlag in letzter Sekunde, konnte jedoch nicht verhindern, daß er das Gleichgewicht verlor und seitlich in den Sumpf stürzte. Bis dahin hatte er relativ festen Grund unter den Füßen gespürt, nun aber schien er ins Bodenlose zu sinken. Die Echse erkannte ihre Chance. Sie warf sich auf den Haluter und preßte ihn mit ihrem Gewicht in die Tiefe. -237-
Zugleich kam ihr ein anderes Wesen zu Hilfe, das weit unter der Oberfläche gelauert hatte. Es griff nun mit zahllosen tentakelartigen Armen nach den Beinen des Haluters, um ihn weiter in den Abgrund zu zerren. An dem rasch steigenden Druck spürte Icho Tolot, daß er sich schnell von der Oberfläche entfernte. Mit Hilfe eines Bordsyntrons hatte er sich über Lafayette und seine Tierwelt informiert. Von diesen Tieren war nie die Rede gewesen. Der Tangle-Scan beeinflußte offenbar nicht nur intelligente Wesen, sondern auch die Fauna, und er spülte Geschöpfe aus der Tiefe des Planeten nach oben, von denen bisher niemand etwas gewußt hatte. Wild und unkontrolliert schlug Tolot um sich, konnte aber dabei weder die Echse noch die Fangarme des zweiten Wesens zurückdrängen. Im Gegenteil. Je mehr er sich wehrte, desto mehr schien er in die Fänge seiner beiden Gegner zu geraten. Während er tiefer sank, spürte er, daß sich der Morast um ihn herum änderte. Er wurde schleimig, und ein unangenehm süßlicher Geruch ging von ihm aus, der an Moder, Verwesung und Vergänglichkeit erinnerte. Der Sauerstoff wurde knapp. Bald erkannte der Haluter, daß er nicht mehr zur Oberfläche kommen konnte, um dort nach Luft zu schnappen. Er hatte keine andere Wahl. Er mußte den Sauerstoff auf andere Weise gewinnen. Doch das war kein Problem für ein Wesen wie ihn! Er öffnete den Mund und saugte den ihn umgebenden Schlamm mit aller Kraft ein. Er spürte, wie ihm die Masse durch den Rachen und die Speiseröhre bis in den Konvertermagen drang und ihn bis an die Grenze seines Fassungsvermögens füllte. Blitzschnell erfuhr die für jedes andere Wesen ungeeignete Materie eine Umwandlung in seinem Magensystem, so daß er alle daraus benötigten Energien gewinnen und sich zuführen konnte. Die Sauerstoffnot versiegte augenblicklich. -238-
Icho Tolot packte einen der Tentakel mit vier Händen und zog ruckartig daran. Das elastische Gebilde ließ sich dehnen, zerriß jedoch, als er die Arme weit genug abspreizte. Schon griff er nach dem nächsten Schlingarm und zerfetzte ihn in gleicher Weise. Kurz darauf war er frei. Der Riese ruderte nun kräftig mit Armen und Beinen, bis er Auftrieb erhielt und sich nach oben kämpfen konnte. Noch dreimal füllte er den Magen mit dem Schlamm, bis sein Kopf endlich die Wasseroberfläche durchbrach. Mit einem Triumphschrei blickte er sich um. Die Echse schoß abermals auf ihn zu, verzog sich jedoch, nachdem er ihr einen kräftigen Hieb auf die Nase versetzt hatte. Icho Tolot wälzte sich durch den Schlamm bis zum Ufer hin, wo er sich im flachen Wasser aufrichtete und den Schmutz von sich abspülte. Der Haluter lachte dröhnend. »Allmählich wird mir dieser Planet sympathisch«, verkündete er mit lauter Stimme. »Was sagst du dazu, Gucky?« Der Ilt antwortete nicht. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden und bewegte sich nicht.
5. Von den containerartigen Häusern und ihrer Umgebung wehte ein eigenartiger Geruch herüber. Er irritierte Joseph Broussard jr. Verunsichert blieb der Beausoleil stehen. Er hatte den Rand von Swamp City erreicht, aber nirgendwo war einer der fremden Invasoren zu sehen. Auch auf dem Raumhafen der Stadt herrschte Ruhe. Keines der flunderförmigen Beiboote der Igelschiffe befand sich in der Luft. Joseph Broussard jr. wußte nicht, was er denken sollte. Seine Informationen waren unvollständig, und da sein ohnehin -239-
schwacher Verstand unter dem Tangle-Scan gelitten hatte, konnte er die Dinge nicht so auseinanderhalten, wie es nötig gewesen wäre. Vorsichtig pirschte er sich heran, um erschrocken stehen zu bleiben, als plötzlich ein Bunf auf ihn zuschoß: ein kleines Tier, das auf Lafayette die Freundschaft der Menschen gesucht hatte und als eine Art Hund gehalten wurde. Es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Münsterländer. »Leise!« rief Joseph erschrocken. »Sei bitte still!« Der Bunf schnüffelte an seinen Hosenbeinen, fand sie nicht interessant genug. Deshalb rannte er kläffend und lärmend weiter, wobei er über seine eigenen Beine stolperte, zu Boden stürzte, sogleich wieder hochkam und unter allerlei seltsamen Verrenkungen hinter einem der Gebäude verschwand. Joseph atmete erleichtert auf. Niemand sonst schien auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Um das Schicksal nicht herauszufordern, eilte er zu den nächsten Gebäuden und versteckte sich in einem schattigen Winkel, um abzuwarten, ob sich etwas regte. Als kein Gazka erschien, setzte er seinen Weg in die Stadt fort. Er zweifelte daran, daß Swamp City tatsächlich etwa 70.000 Einwohner hatte. »Kein Mensch wohnt hier!« sagte er und verließ mutig die Deckung eines Hauses, Wohin er sich auch wandte, überall waren die Fenster und Türen geschlossen. Der Wind trieb Schmutz und Abfälle durch die Lücken zwischen den Gebäuden; einige Haustiere streunten herum. Von menschlichen Bewohnern gab es nicht das geringste Zeichen. Joseph betrat eines der Häuser und fand das Innere so vor, als sei der Hausherr gerade erst vor Minuten gegangen. Der Wohnraum war unaufgeräumt. Das Bett sah zerwühlt aus. Auf dem Tisch standen drei halbvolle Gläser und zwei Teller mit Nahrungsresten. Schmutz, Durcheinander, Abfälle. -240-
Der ehemalige Beausoleil blickte in die Vorratstruhe, fand dort einige Konserven und stellte sie auf den Tisch. Mit einem Fingerdruck aktivierte er einen Chip, der den Inhalt der Packung erwärmte. Er wartete etwa eine Minute, dann riß er die einhüllende Folie auf und verzehrte eine wohlschmeckende und reichliche Mahlzeit - die erste seit Wochen! Es mundete ihm so gut, daß er noch eine weitere Packung aktivierte und deren Inhalt ebenfalls zu sich nahm. Danach fühlte er sich besser. Um Pepe zu versorgen, packte Joseph einige Konserven in eine Tragetüte und nahm sie mit. Doch er verließ Swamp City noch nicht, sondern machte sich auf die Suche nach seinen Bewohnern. Irgendwo mußten sie ja sein, falls sie nicht vor den Invasoren in die Sümpfe geflüchtet waren. Schon nach wenigen Schritten erreichte er eine Straße, an der es eine Reihe von Geschäften gab. Hier konnte man Lebensnotwendiges kaufen. Roboter standen bereit, um die erstandenen Waren zu den Häusern zu tragen. Niemand nahm ihre Dienste in Anspruch. Niemand? Joseph Broussard jr. winkte einen der Roboter zu sich heran. »Hör mal zu, Kleiner«, sagte er und hielt ihm die Tüte hin. »Du kannst das für mich tragen. Ist es dir erlaubt, Swamp City zu verlassen?« »Ich darf nur bis zum Stadtrand gehen.« »Auch gut.« Joseph war froh, daß er die Last nicht länger tragen mußte. Selbst so ein paar Nahrungsmittel konnten schwer werden, wenn man wochenlang nichts Vernünftiges zu sich genommen und sich zudem unter größten Schwierigkeiten durch die Sümpfe gekämpft hatte. Wer wußte schon, wie anstrengend so ein Marsch war? Die Bewohner von Swamp City kannten so etwas nicht. Sie legten alle möglichen Strecken bequem in ihren Antigravmaschinen zurück. -241-
Joseph schlenderte an den Geschäften entlang, widerstand aber der Versuchung, sie zu betreten, um sich zu bedienen. Er war kein Plünderer; wenn sein Verstand auch gelitten hatte, sein Charakter hatte sich nicht verändert. Vom Ende der Straße war es nicht weit bis zu einigen Prachtbauten, die ihm bei seinem ersten Besuch bereits aufgefallen waren. Ob die Menschen der Stadt sich dorthin zurückgezogen hatten? Er ließ seine Blicke über die spiegelnden Fassaden gleiten, entdeckte hinter den zahlreichen Fenstern jedoch nichts, was auf die Anwesenheit eines menschlichen Wesens hingewiesen hätte. Wo waren die Gazkar und die Neezer? Wo waren die Invasoren? Verbargen sie sich irgendwo und beobachteten ihn? Mit einem Gefühl des Unbehagens blieb Joseph stehen. Seine Blicke fielen auf den Roboter, der seine Vorräte trug. »He, kannst du mir nicht verraten, wo sie alle sind?« fragte er. »Oder kannst du nicht reden?« Die Maschine antwortete nicht. Sie gehörte offenbar in die Kategorie der ausgemusterten und einfachen Automaten, von denen keine hohe Leistung erwartet wurde. Plötzlich bemerkte Joseph eine Bewegung zwischen den Gebäuden. Er reagierte augenblicklich, warf sich auf den Boden und kroch in die Deckung eines umgestürzten Baumes. Durch einen Spalt im Holz blickte er zu einem vierstöckigen Holzhaus hinüber. Er hatte sich nicht geirrt. Dort drüben erschien ein Gazka mit einem rothaarigen, bärtigen Mann, dessen Hände auf den Rücken gefesselt waren. Das käferartige Wesen trieb seinen Gefangenen vor sich her und stieß ihm in kurzen Abständen seine Klaue in den Rücken, um ihn zu größerer Eile anzuspornen. Der Rothaarige gehorchte jedoch nur unwillig. Sein Gesicht war bleich und von Schmerzen gezeichnet, und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. -242-
Er torkelte, als sei er betrunken. Doch das war er nicht. Joseph war sich klar darüber, daß er unter dem Tangle-Scan litt, den er selbst aufgrund des ihm eingepflanzten Chips nicht spürte. Als die beiden hinter einem der Häuser verschwunden waren, verließ Joseph seine Deckung und schlich hinter ihnen her. Der Roboter mit der Nahrung folgte ihm.
Die animalischen Gedanken kamen allmählich näher, und sie wurden immer intensiver. Sie waren von einer solchen Gier erfüllt und von solcher Feindseligkeit, daß Gucky sich verzweifelt gegen sie wehrte. Er wollte sie nicht in dieser Deutlichkeit empfangen! Doch er konnte sich nicht gegen sie abschirmen. Während er die Herrschaft über seinen Körper vollkommen verloren hatte und wie paralysiert war, arbeiteten seine parapsychischen Sinne mit leichten Einschränkungen weiter. Bedauerlicherweise gelang es ihm nicht, seine Para-Kräfte so zu steuern, wie er es wollte. Er hatte versucht zu teleportieren, weil er fürchtete, sich an einer Stelle zu befinden, an welcher der Tangle-Scan - aus welchen Gründen auch immer - besonders intensiv wirkte. Es war ihm nicht gelungen. Danach hatte er sich bemüht, seine Position mit Hilfe der Telekinese zu verändern; auch dabei war er gescheitert. Dafür empfing er die Gedanken und Empfindungen eines Wesens, das langsam aus der Tiefe heraufkam und das unersättlich zu sein schien. Es war ein Raubtier, das von einem schier unstillbaren Appetit geplagt wurde, das sonst stets in Höhlen weit unter der Oberfläche des Planeten lebte und das es so gut wie nie nach oben zog. Selbst dieses Geschöpf wurde von dem Tangle-Scan erfaßt und verändert. Die rätselhafte Strahlung hatte es zu einem gierigen Monster werden lassen. -243-
Gucky spürte, wie sich dieses Wesen anschlich. Es hatte Witterung aufgenommen. Er mußte Icho Tolot warnen. Der Ilt versuchte, sich zu konzentrieren, und mit telekinetischen Mitteln eine Botschaft für den Freund auf den Boden zu schreiben. Doch es gelang ihm noch nicht einmal, einen Stock aufzunehmen geschweige denn, damit Buchstaben in den Sand zu ritzen. Icho Tolot kam schnaufend heran und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Geradezu zärtlich legte ihm der Koloß zwei seiner vier Hände auf die Brust. »Was ist mit dir?« fragte der Haluter bekümmert. »Du hast die Augen auf, aber du bewegst dich nicht. Ich fühle dein Herz schlagen, also lebst du. Warum stehst du nicht auf?« Ich kann nicht! wollte der Mausbiber ihm zuschreien, aber er konnte seine Lippen nicht bewegen und seine Gedanken nicht übermitteln. Du mußt aufpassen! wollte er ihm zurufen. Etwas Großes, Gefährliches kommt auf dich zu. Es taucht aus der Tiefe herauf und wird dich angreifen! Er konnte seine Gedanken nicht aussprechen, und der Haluter erfaßte nicht, daß er ihn warnen wollte. Icho Tolot hob den Freund auf und trug ihn zu einem Baum, wo er aus Luftwurzeln ein Nest zusammenflocht. Er legte den Mausbiber hinein und zog nun einige weitere Luftwurzeln in das Flechtwerk, bis sich ein Gitter gebildet hatte, das den Ilt schützte. »Ich bleibe in der Nähe«, versprach der Haluter. »Auf dem Weg zu dir habe ich den Abdruck eines menschlichen Fußes gesehen. Vor nicht allzu langer Zeit ist jemand in der Nähe gewesen. Ich muß ihn suchen und mit ihm reden.« Nein! Du darfst mich nicht allein lassen! Ich kann mich nicht wehren, wenn die Bestie angreift. Ich kann nicht mehr flüchten! »Du siehst besorgt aus, mein Kleiner«, sagte Icho Tolot. »Aber du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich bleibe ja in der Nähe.« -244-
Gucky nahm alle Kräfte zusammen. Er wollte, er mußte den Freund warnen! Vergeblich. Icho Tolot wandte sich ab und stampfte davon. Unter seinem Gewicht schwankte der Boden; diese Bewegung pflanzte sich bis in die Bäume hinein fort. Selbst der Mausbiber in seinem Nest spürte sie. Der Haluter entfernte sich etwa fünfzig Meter von dem Ilt. Dann blieb er stehen und blickte auf den Boden, wo sich deutlich die Spur eines Menschen abzeichnete, der Stiefel getragen hatte. Er mußte diesen Menschen finden. Von ihm konnte er Informationen über das Geschehen auf Lafayette erhalten. Nach dem überstandenen Kampf war der Zwang zur Drangwäsche etwas abgemildert, doch Icho Tolot war sich klar darüber, daß dieser Zustand nicht lange anhalten würde. Nach wie vor hatten sich viel zu viel Energien in seinem Körper aufgebaut, weitaus mehr, als er benötigte. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre nicht zu verhindern gewesen, daß sie durch äußerliche Aktivitäten bis auf ein Normalmaß reduziert wurden. Er mußte den Menschen aufgespürt haben, bevor der nächste Schub der Drangwäsche kam! Er folgte der Spur und entdeckte bald darauf eine menschliche Gestalt, die auf der Kuppe eines etwa fünfzig Meter hohen Hügels saß. Überzeugt davon, daß der andere sich über sein Erscheinen freuen würde, wollte er sich bemerkbar machen. Als er hinter einem Baum hervortrat und die Arme hob, um zu winken, kamen plötzlich zwei Lafayette-Kolonisten auf einem primitiven Floß aus dem Dickicht. Sie waren in großer Eile. Mit langen Stangen stießen sie sich vom morastigen Grund ab. Obwohl sie beinahe zweihundert Meter von ihm entfernt waren, erkannte Icho Tolot, daß die beiden Männer bereits lange von jeglicher Zivilisation abgeschnitten gewesen waren. Sie -245-
sahen erschöpft und halb verhungert aus, und ihre Kleidung hing in Fetzen an ihnen. Bevor er Kontakt mit ihnen aufnehmen konnte, glitt eines der flunderförmigen Beiboote der Igelraumer über die Gipfel der Bäume hinweg. Es stürzte sich in die Tiefe, und ein Energiestrahl schoß ohne Vorwarnung aus seinem Bug. Er traf das Floß, zerstörte es und tötete die beiden Männer. Icho Tolot reagierte im Bruchteil einer Sekunde. Der vollkommen überflüssige Tod der beiden Siedler brachte sein Blut in Wallung und ließ ihn blind vor Zorn und Empörung werden. Der Zwang zur Drangwäsche brach sich freie Bahn! Der Haluter ließ sich auf die Laufarme fallen und raste durch das Gewirr der Luftwurzeln, die unter nahezu allen Bäumen eine Art Schirm bildeten. Das Beiboot flog in etwa fünf Metern Höhe auf ihn zu; noch aber hatte die Besatzung ihn nicht entdeckt. Als Tolot etwa zehn Meter von der Maschine entfernt war, nahm er einen kurzen Anlauf und schnellte sich vom Boden ab. Wie eine Feder schoß er in die Höhe, und es gelang ihm, eine Leitschiene am Beiboot zu packen. Unter der unerwartet auftretenden Last neigte sich die Maschine für einen kurzen Moment zur Seite. Icho Tolot nutzte ihn, um sich mit einem Schwung bis an die Mannschleuse heranzuarbeiten. Mit einem wuchtigen Schlag seiner Faust zertrümmerte er das Schott und riß die Reste heraus. Dabei war der Haluter so schnell, daß die Besatzung erst jetzt merkte, was geschah. Die Schleuse war zu eng für den dunkelhäutigen Koloß. Deshalb setzte er seine vier Hände und seine Füße kurzerhand an den Rahmen und wuchtete ihn heraus. Achtlos schleuderte er ihn zur Seite, um ihn in den Sumpf fallen zu lassen. Endlich reagierte die Besatzung. Der Pilot lenkte das Beiboot in steil ansteigender Kurve in den Himmel hinauf. Doch damit konnte er den ungebetenen Gast natürlich nicht loswerden. -246-
Icho Tolot war entschlossen, in die Maschine einzudringen, und er schuf sich seinen Weg. In schneller Folge wirbelten die Trümmerstücke davon, und eine immer größere Lücke tat sich an der Seite des Beibootes auf. Ein käferartiges Wesen eilte mit angeschlagener Waffe herbei, doch er kam nicht zum Schuß. Nun hielt der Haluter lebenswichtige Kabelverbindungen von der Zentrale zum Triebwerk in den Händen. »Mörder!« brüllte er zornig und trennte die Lebensader der Maschine durch. Im gleichen Moment setzte das Triebwerk aus, und das Beiboot stürzte in die Tiefe. Der Krieger konnte sich nicht mehr halten und verschwand irgendwo in den Tiefen der Gänge. Icho Tolot blickte nach unten. Er sah, daß sie mittlerweile eine Höhe von etwa anderthalb Kilometern erreicht hatten. Doch nun ging es in hohem Tempo nach unten. Da er überzeugt war, daß die Invasoren sich nicht mehr retten konnten, schnellte er sich vom Beiboot weg. Rasend schnell kam der mit lichtem Wald überzogene Sumpf auf ihn zu. Eine kurze Berechnung ergab, daß er zwischen einigen Bäumen aufkommen würde, wo das Wasser nur einige Zentimeter über dem Morast stand. Der Gleiter, der nun von mehreren kleinen Explosionen erschüttert wurde, würde auf festem Boden aufschlagen und zerschellen. Gelassen nutzte der Haluter seine besonderen Fähigkeiten. Mit einem Gedankenbefehl wandelte er die Zellstruktur seines Körpers um. Dabei wurde der gesamte molekulare Aufbau so umgeformt, daß aus einem Wesen aus Fleisch und Blut ein Gebilde von ungeheurer Härte und Dichte wurde. In dieser Form stürzte er in den Sumpf. Während er in der Tiefe verschwand, spritzten Wasser und Morast wie nach einer Explosion hoch auf, und ein donnerndes Krachen ließ den einsamen Pepe auf dem Hügel aufspringen. -247-
Icho Tolot durchschlug die Oberfläche und bohrte sich in wenigen Sekunden etwa 120 Meter weit in den weichen Untergrund, ohne sich zu verletzen oder in irgendeiner Weise beeinträchtigt zu werden. Etwa hundert Meter von seiner Einschlagstelle entfernt prallte das Wrack des Beibootes auf. Keiner der Invasoren, die noch an Bord waren, überlebte den Absturz. Icho Tolot wühlte sich ohne besondere Eile nach oben und wandelte seine Molekularstruktur erst wieder in die Normalform, als er den Sumpf verlassen und festen Boden erreicht hatte. Er schüttelte sich, um sich von dem Schmutz zu befreien, und kehrte eilends zu Gucky zurück, der noch immer in seinem ›Nest‹ lag, sich mittlerweile aber wieder bewegen konnte. Während er weiteren Schlamm von sich abwischte, berichtete er dem Ilt von seiner Begegnung mit den Kriegern und dem Beiboot. »Als ich dort oben war, konnte ich eine Stadt sehen«, sagte er. »Es muß Swamp City sein. Wir sind ganz in der Nähe dieser Siedlung. Aus der Höhe konnte ich nicht viel erkennen, aber mir ist aufgefallen, daß kein einziger Siedler zwischen den Häusern auszumachen war. Die Stadt sieht aus, als sei sie verlassen worden. Auf dem Raumhafen stehen massenhaft Beiboote, aber auch dort rührt sich nichts.« Gucky wackelte schwach mit dem Kopf. Er konnte nicht antworten und dem Freund sagen, daß er mit seinen telepathischen Sinnen ganz andere Eindrücke gewonnen hatte. Er hob die Hand und zeigte auf den Sumpf, um den Haluter auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die von dort drohten; Icho Tolot verstand ihn nicht. Er erkannte nicht, daß der Mausbiber Höllenqualen litt und Panik in ihm aufkam. Er ahnte nicht, daß der Ilt mit seinen parapsychischen Sinnen erfaßte, was sich ihnen näherte. Unter dem Einfluß des Tangle-Scan verschärften sich die Eindrücke für Gucky noch. Es gelang ihm nicht, das Geschehen -248-
richtig zu beurteilen und einzuordnen, und er fürchtete, den Verstand zu verlieren. »Ich denke, daß die beiden Kolonisten mit ihrem Floß nach Swamp City fahren wollten, weil sie sich dort Hilfe erhofften. Doch die Invasoren haben es nicht dazu kommen lassen. Sie haben sie umgebracht. Einfach so. Ohne Notwendigkeit. Was hätten diese beiden unbewaffneten Männer schon gegen sie ausrichten können? Gar nichts.« Gucky verdrehte die Augen. Icho Tolot schien blind und taub zu sein. Wieso entging ihm, welche Qualen er litt, und daß er ihm etwas mitteilen wollte? So etwas mußte er als Freund doch spüren! Unter Aufwand aller Energien brachte er ein paar unartikulierte Laute über die Lippen. Das Unheil rückte näher. Der Ilt empfand es wie einen körperlichen Druck, der zunehmend stärker wurde und ihm kaum noch Raum zum Atmen ließ. Warum merkte Icho Tolot denn nicht, wie es um ihn stand? War er unter dem Einfluß seiner Drangwäsche von Blindheit geschlagen?
6. Joseph Broussard jr. fuhr erschrocken zusammen, als plötzlich überall in seiner Umgebung Gazkar-Krieger erschienen. Eiförmige, etwa drei Meter hohe Gefährte der Neezer starteten am Raumhafen und überflogen die Gebäude der Stadt. »In Deckung!« rief er dem Roboter zu und zerrte ihn zu sich heran. »Weiß der Teufel, was hier los ist. Die Ruhepause ist jedenfalls vorbei. Ich dachte schon, daß Swamp City geräumt worden ist, aber ich scheine mich geirrt zu haben.« Er blickte den Roboter stirnrunzelnd an. »He, du könntest dich auch mal dazu äußern!« forderte er ihn auf. -249-
»Ich kann nur bis zum Stadtrand gehen«, sagte die Maschine. »Ja, ja, das hast du mir schon einmal erzählt. Hast du sonst nichts drauf?« Der Beausoleil stöhnte gequält. Der Roboter war offenbar zu nichts weiter nütze als sein Gepäck zu tragen. Doch auch das war eine willkommene Entlastung für ihn. Zusammen mit der Maschine zog er sich in eines der Gebäude zurück, um aus sicherer Deckung zu beobachten. In der Stadt erwachte nun das Leben, so daß es von Minute zu Minute schwerer für ihn wurde, sich unbemerkt in Swamp City zu bewegen. Ungefährdet war Joseph nur, solange er im Haus blieb. Doch das hatte er nicht vor. Er trug die Verantwortung für Pepe und mußte sich um den Jungen kümmern, und er wollte wissen, was gespielt wurde. Beiden Aufgaben konnte er nicht gerecht werden, wenn er das Versteck nicht verließ. Er wartete etwa eine halbe Stunde ab, dann befahl er dem Roboter, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Du wartest hier auf mich. Ich komme später zurück und hole mir die Tüte. Hast du verstanden?« Er wartete gar nicht erst eine Erwiderung ab, sondern stahl sich aus dem Haus, wobei er sorgfältig nach allen Seiten sicherte. Die Szene, die sich ihm in der Stadt bot, wechselte erstaunlich schnell. Minutenlang wimmelte es geradezu von GazkarKriegern und den Neezer-Fluggeräten, und gleich darauf wurde es still, und Swamp City wirkte wie ausgestorben. Vergeblich versuchte Joseph ein System dahinter zu entdecken. Er fand weder heraus, warum zeitweilig hektisches Treiben herrschte, noch weshalb sich gleich darauf Totenstille einstellte. Um einen besseren Überblick zu haben, betrat er eines der höchsten Holzhäuser der Stadt und stieg über Treppen bis in den fünften Stock hinauf. Von einem Dachfenster aus erkannte er, daß er sich getäuscht hatte. Der häufige Wechsel zwischen -250-
Hektik und Stille kam zufällig zustande und hatte lediglich mit Verlagerungen zu tun; denn während es in einem Teil der Stadt ruhig war, ging es in anderen Teilen um so lebhafter zu. Unter diesen Umständen hatte er nur sehr geringe Chancen, nicht entdeckt zu werden, und er beschloß, zu Pepe zurückzukehren. Er hatte nichts Bedeutendes erfahren, doch er hatte immerhin einige Nahrungsmittel besorgt. Das mußte vorerst genügen. Als Joseph die Treppe schon wieder hinuntergehen wollte, fiel sein Blick auf eines der größten Geschäftsgebäude von Swamp City. Es war von Hunderten von Gazkar umstellt. Auf dem Dach des Bauwerks befanden sich einige Projektoren, die vormals wohl das Firmen-Logo und Werbe-Holos aufgebaut haben mochten, ihre Tätigkeit mittlerweile jedoch eingestellt hatten. Ihre Anwesenheit deutete lediglich darauf hin, daß in dem Gebäude einmal eine große und einflußreiche Firma tätig gewesen war. In einem Winkel des Daches lagen die Reste eines Antigravgleiters. An seiner Tür war das Firmen-Logo angebracht, das so wohl auch von den Projektoren aufgebaut worden war. Es waren drei ineinander verschlungene Dreiecke. Weshalb hatten sich um das Gebäude herum so viele Gazkar versammelt? Was bewachten sie? Verbarg sich im Inneren des Bauwerks eine Gefahr, deren Ausbruch es zu verhindern galt? Oder versteckten die Invasoren dort etwas, was ihnen außerordentlich wichtig war und das so wertvoll für sie war, daß es unter allen Umständen gesichert und verteidigt werden mußte? Die Neugier Josephs war geweckt. Er blickte zum Fenster hinaus und stellte fest, daß sich zur Zeit zu viele Gazkar in der Nähe aufhielten, so daß er das Haus nicht verlassen konnte. Eines der flunderförmigen Beiboote landete keine fünfzig Meter entfernt, und einige der Käferwesen stiegen aus. Sie öffneten eine Klappe am Heck der Maschine. -251-
Joseph begriff. Es gab Schwierigkeiten mit dem Antrieb, und sie mußten etwas reparieren. Viel Zeit konnte vergehen, bis er das Haus wieder verlassen konnte. Er beschloß, in Ruhe abzuwarten, bis sie wieder gestartet waren. Er hatte Durst, und er sah sich in den Räumen nach etwas Trinkbarem um, fand jedoch nichts. Über eine steile Treppe stieg er in einen Keller hinab, der von leuchtenden Platten an der Decke erhellt wurde. In einem Vorratsschrank gab es alles, was seinen Durst stillen konnte. Er war versucht, nach einem Bier zu greifen, verzichtete jedoch darauf, weil er fürchtete, daß er den darin enthaltenen Alkohol jetzt nicht vertrug. »Das heben wir uns für später auf«, nahm er sich vor, »wenn ich es mir leisten kann, ein wenig leichtsinnig zu werden.« Er entschied sich für ein Mineralwasser, trank eine Flasche zur Hälfte aus und sah sich dann im Keller um. Eine Stahltür war mit einem Firmen-Logo versehen - drei ineinander verschlungene Dreiecke. Joseph war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, in diesem weit von dem Geschäftsgebäude entfernten Haus auf ein solches Logo zu stoßen. Doch er machte sich keine Gedanken darüber. Vielleicht hatte ein Mitarbeiter der Firma hier gewohnt und das Zeichen aus Anhänglichkeit zu seinem Arbeitgeber angebracht. Als er sich bereits entschlossen hatte, wieder nach oben zu gehen, schnippte er beiläufig mit den Fingern gegen den Türöffner, und die Stahltür glitt zur Seite. Sie gab den Blick in einen langen Gang frei. Auch er wurde durch leuchtende Deckenplatten erhellt. Joseph stutzte. Was konnte so ein Gang zu bedeuten haben? Auf der einen Seite wollte er unbedingt wissen, wohin der Gang führte, auf der anderen Seite fürchtete er, daß sich die Tür hinter ihm schließen könnte. Er könnte in eine Falle geraten, aus -252-
der es kein Entkommen mehr gab. Um sich den Rückweg zu sichern, schob er einen Container in die Türöffnung. Somit sorgte er dafür, daß sie offenblieb. Dann nahm er sich eine weitere Flasche Wasser und folgte dem Gang. Nach etwa hundert Metern kam er an eine Tür, die ebenfalls mit dem bekannten Firmen-Logo versehen war. Als er an sie herantrat, glitt sie zur Seite. Dahinter öffneten sich zwei weitere Gänge, von denen der eine zu einem mit Maschinen und versandfertigen Containern gefüllten Raum führte, während der andere in einem Keller endete, der dem sehr stark ähnelte, von dem Joseph gekommen war. Auch hier gab es verschiedene Kühlschränke, die mit Getränken und Nahrungsmitteln vollgepackt waren. Eine Treppe führte nach oben. Joseph stieg die ersten Stufen hinauf, blieb dann zögernd stehen. Horchte. Es war still im Haus. Am oberen Ende der Treppe lockte eine nur zur Hälfte geschlossene Tür. Er näherte sich ihr vorsichtig. War außer ihm noch jemand im Haus? Nachdem er minutenlang lauschend an der Tür ausgeharrt hatte, schob er sich vorsichtig durch die Öffnung und betrat den Vorraum zu einem kleinen Büro, in dem zahlreiche Papiere über den Boden verstreut lagen. Das Zimmer machte den Eindruck, als sei es unter großer Hast verlassen worden. Durch ein schmales Fenster konnte er das Gebäude sehen, das von den Gazkar-Kriegern in so auffälliger Weise bewacht wurde. Es war höchstens zehn Meter von ihm entfernt. Hinter den spiegelnden Fenstern der Fassade waren mit einiger Mühe zahllose Menschen zu erkennen. Ein leises Rascheln von Papier ließ ihn herumfahren. Erschrocken blickte er auf eine junge, blonde Frau, die neben einem Schrank auf dem Boden kauerte, die Beine bis an das Kinn hochgezogen hatte und die Unterschenkel mit beiden Armen -253-
umklammerte. Ihre Augen waren auf unnatürliche Weise geweitet, und sie zitterte am ganzen Körper.
Die Angst um den Freund verlieh Gucky geradezu übernatürliche Kräfte. Für Bruchteile von Sekunden gelang es ihm, sich aus dem unheilvollen Einfluß des Tangle-Scans zu befreien. Er fuhr so heftig hoch, daß er mit dem Kopf gegen die Brust des Haluters stieß. »Paß auf!« schrie er. »Gefahr!« Dann fiel er wieder auf den Rücken zurück und klammerte sich an die Luftwurzeln. »Mach dir keine Sorgen, Kleiner«, sagte Icho Tolot. »Du bist vollkommen sicher. Ich passe auf dich auf.« Er kam nicht auf den Gedanken, daß die Warnung ihm gegolten hatte, konnte er sich doch nicht vorstellen, daß einem Wesen wie ihm eine echte Gefahr drohte. Er glaubte vielmehr, daß der Mausbiber um seine eigene Sicherheit bangte. Gucky erfaßte es, begriff, wie hilflos er war. Nun fürchtete er mehr noch als zuvor, den Verstand zu verlieren. Zudem quälten ihn Kopfschmerzen. Was konnte er tun, um Icho Tolot vor dem sicher erscheinenden Ende zu bewahren? Während der Ilt noch darüber nachdachte, schien der Sumpf neben ihm zu explodieren. Herumfahrend sah Icho Tolot ein gewaltiges Wesen, das ihn zuerst an einen Saurier denken ließ. Doch schon im nächsten erkannte er, daß sich das monströse Geschöpf aus der Tiefe nicht so einfach einordnen ließ. Instinktiv verwandelte der Haluter seine molekulare Struktur um. Von einer Sekunde zur anderen wurde er zu einem Wesen, das härter und widerstandsfähiger war als Terkonit, eine strukturverdichtete Stahl-Plastik-Legierung, die von den Terranern für den Raumschiffsbau entwickelt worden war und über Jahrhunderte hinweg als das ultimative Material für alle -254-
Einsätze gegolten hatte, in denen es zu höchsten Belastungen kam. Der flache Kopf des Steinfressers schoß so schnell auf Icho Tolot zu, daß dieser nicht mehr ausweichen konnte. Plötzlich sah er seinen Kopf von wild zupackenden Zähnen umschlossen, und obwohl er seine Zellstruktur umgewandelt hatte, spürte er den enormen Druck. Entsetzt meinte er fühlen zu können, daß die Zähne sogar in ihn eindrangen. Der Haluter brüllte auf und versuchte, sich mit einigen Faustschlägen zu befreien. Doch das gelang ihm nicht. Die Zähne hielten ihn fest, und er verlor den Boden unter den Füßen, fühlte sich hochgerissen und in die Luft geschleudert. Sich mehrfach überschlagend, stieg er bis in eine Höhe von nahezu zwanzig Metern auf. Unter sich sah er seinen Gegner, der mit einem Großteil seines Körpers im Schlamm steckte. Der flache, mit dornartigen Fortsätzen übersäte Kopf saß auf einem eiförmigen Hals, der mit einer Reihe von tentakelartigen Auswüchsen versehen und mit schimmernden Panzerplatten geschützt war. Wieder stürzte Icho Tolot aus der Höhe herab. Dieses Mal aber wartete ein weit geöffneter Rachen mit einer Unzahl langer, scharfer Zähne auf ihn. Er konnte nichts tun, um dem auf ihn lauernden Schlund zu entgehen. Obwohl er um sich schlug und sein Gewicht verlagerte, um seine Fallrichtung zu ändern, landete der Haluter in der riesigen Falle, und bevor er recht erfaßte, wie ihm geschah, verschluckte ihn der Steinfresser. Icho Tolot überwand seine Verblüffung schnell. Derartiges war ihm noch nie widerfahren, doch kam ihm eine solche Entwicklung des Kampfes im Rahmen der Drangwäsche gerade recht. Er brüllte wild auf, während er mit allen vier Fäusten und den beiden Füßen gegen die ihn umgebenden Schleimhäute kämpfte, die ihn gnadenlos in die Tiefe drückten. Schließlich fiel er in -255-
einen kochenden See aus konzentrierter Säure, die ihm und seiner säurefesten Ausrüstung jedoch nicht viel anhaben konnte. Von absoluter Dunkelheit umgeben, versank er in der Säure, und zugleich spürte er, daß der Steinfresser sich bewegte, sich herumdrehte und mit dem Kopf voran in die Tiefe strebte. Auch mit Hilfe seiner infrarotempfindlichen Augen konnte Icho Tolot nur wenig wahrnehmen. Immerhin strahlten die Magenwände des monströsen Wesens eine gewisse Wärme aus, so daß er die Richtung erkannte, in die er sich bewegen mußte. Noch nie in seinem Leben hatte Icho Tolot schwimmen müssen. Aber er war ein hochintelligentes Wesen, das mit Hilfe seines Planhirns in Bruchteilen von Sekunden errechnete, wie er sich optimal bewegen mußte, um schnell voranzukommen. Er öffnete seinen Mund und saugte eine große Menge der Säure ein, um ihre molekulare Struktur umzuwandeln und Sauerstoff daraus zu gewinnen. Kaum hatte Tolot die Magenwand erreicht, als er sich daran festkrallte und sich mit aller Kraft zum Pförtner vorarbeitete, dem Muskel, der am vorderen Magenausgang saß. Er stemmte seine Fäuste dagegen, und unter größten Anstrengungen gelang es ihm, ihn zu öffnen. Kaum aber versuchte er, sich hindurchzuzwängen, als ihm eine Steinlawine entgegenschoß und ihn in den Magen zurückschleuderte. Zornig wiederholte der Haluter den Versuch. Wiederum kämpfte er sich zum Pförtner hin, war dieses Mal jedoch etwas vorsichtiger. Er war darauf gefaßt, erneut von hereinkommenden Steinen begrüßt zu werden. Icho Tolot irrte sich. Als er den Pförtner öffnete, trat genau das Gegenteil ein. Im Magen hatte sich mittlerweile ein Druck aufgebaut, der höher war als der Druck in der Speiseröhre. Ein ungeheurer Schwall Magensäure erfaßte ihn und trieb ihn hoch in die Speiseröhre. Als er langsamer wurde, stieß Icho Tolot seine gestreckten Finger in die ihn umgebende Haut und hielt sich fest. Er wußte, -256-
daß nun die Peristaltik einsetzte, um ihn mitsamt der Säure zurückzutreiben. Und sie kam mit ungeheurer Macht, so daß er bis an die Grenzen seiner Kräfte belastet wurde und sich kaum noch halten konnte. Nach minutenlangem Kampf wurde es ruhig. Er nutzte die Gelegenheit, um sich nach oben zu kämpfen. Wieder kamen die Schluckbewegungen, die sich bis in die Speiseröhre fortsetzten. »Sei endlich still, du Scheusal!« brüllte der Haluter, obwohl er sehr wohl wußte, daß der Steinfresser ihn nicht hören konnte. »Oder willst du, daß ich mich quer durch deinen Hals nach außen durcharbeite? Dann bleibt von dir nicht viel übrig!« Es war, als habe das Wesen ihn vernommen, denn für einige Minuten hielt es tatsächlich still. Während er so schnell wie möglich nach oben kroch, spürte Icho Tolot nur das Pulsieren des Blutes in den Adern des fremdartigen Geschöpfes. Stunden schienen vergangen zu sein, bis er endlich die mächtigen Zähne vor sich sah. Sie waren kälter als ihre Umgebung, und mit seinen infrarotempfindlichen Augen nahm er sie wie Stalagmiten und Stalaktiten wahr. Der Haluter war versucht, seine Fäuste in einen der Zähne zu schlagen und bis zum Nerv vorzudringen, um den Steinfresser zu peinigen und von sich abzulenken, doch dann wurde ihm wieder bewußt, daß sein riesiger Gegner auch nur tat, was ihm seine Instinkte befahlen. Tolot zwängte sich an einem Zahn vorbei, drückte die Lippen auseinander und schlüpfte hindurch ins Freie. Um sich nicht mühsam nach oben kämpfen zu müssen, pumpte er sich mit dem Schlamm und Morast voll, der ihn umgab, und wandelte ihn in seinem Magen in Luft um.
»Beruhige dich«, bat Joseph. Besänftigend hob er die Hände und trat langsam von der Frau zurück, um ihr das Gefühl der Be-257-
drohung zu nehmen, unter dem sie offensichtlich litt. »Ich habe nicht vor, dir irgend etwas zu tun.« Sie stammelte etwas, aber er verstand sie nicht. Gegenüber der Tür ließ er sich auf den Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Du kannst jederzeit weglaufen, wenn du willst«, sagte er. »Ich werde dich nicht daran hindern, aber ich fände es ganz gut, wenn du mir erzählen würdest, was überhaupt los ist in Swamp City.« Sie stand auf, ging dann zögernd und unsicher zur Tür hin, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Laut hervor. Einige Male stützte sie sich an der Wand ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie stand in erheblichem Maße unter dem Einfluß des Tangle-Scan. Joseph wäre auch sehr verwundert gewesen, wenn es nicht so gewesen wäre. »Ruhig«, ermahnte er sie. »Sei ganz ruhig! Ich möchte nur von dir wissen, was hier los ist.« Sie schrie auf, als habe er sie angegriffen, fuhr herum und flüchtete aus dem Raum. Er sprang auf und folgte ihr, kam jedoch zu spät, um sie aufhalten zu können. Sie lief aus der Haustür hinaus auf den freien Raum zwischen den Gebäuden. An einigen Kriegern vorbei rannte sie zu dem Bürohaus hinüber und verschwand in der Eingangstür. Niemand hielt sie auf. Den Gazkar war offenbar recht, daß sie sich in das große Haus begab. Joseph drückte sich neben einem Fenster an die Wand und blickte zu dem anderen Gebäude hinüber. Die gläserne Fassade spiegelte stark, so daß er geblendet wurde und nur schwer ausmachen konnte, was dahinter geschah. Doch Wolken zogen über den Himmel, und wenn sie das Licht der Sonne abschirmten, ließ die Spiegelung nach, so daß ihm einige Einblicke gewährt wurden. Am liebsten hätte er das Haus sofort wieder verlassen, um sich durch den unterirdischen Gang abzusetzen. Doch die Neugier hielt ihn zurück. Würde die Frau ihn verraten? -258-
Hinter den Fenstern des anderen Gebäudes sah er zahlreiche Männer, Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen standen tatenlos in den Räumen, einige saßen auf dem Fußboden, einige gingen ziellos herum. Dabei machten alle einen unruhigen, hektischen Eindruck. Sie wirkten seltsam aufgekratzt. Keiner von ihnen verharrte bewegungslos auf der Stelle. Niemand wirkte abgestumpft durch den Tangle-Scan, sondern alle schienen auf etwas zu warten, etwas herbeizusehnen. Die meisten drehten die Köpfe ständig hin und her, als fürchteten sie, jemand könnte eintreten, ohne daß sie ihn sogleich bemerkten. Die Frau, die vor ihm geflüchtet war, betrat einen der Räume, doch niemand nahm von ihr Notiz. Sie blieb unschlüssig zwischen einigen anderen Frauen stehen, schüttelte dann den Kopf und ließ sich auf den Boden sinken. Dort kauerte sie sich zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen und ließ es auf die angezogenen Knie sinken. Doch bot sie kein Bild der Ruhe, denn irgend etwas an ihr war ständig in Bewegung, seien es die Hände, die Füße oder der Kopf, den sie immer wieder mal hob, um sich suchend umzusehen. Über die Räume verteilt hielten sich offenbar Hunderte von Menschen in dem Geschäftsgebäude auf. Sie schienen zusammengetrieben worden zu sein wie Vieh in seinem Gatter. Joseph suchte Raum für Raum ab, um festzustellen, ob es Unterschiede gab. Ihm fiel auf, daß nirgendwo innerhalb des Gebäudes Gazkar zu sehen waren. Die Käferwesen drängten sich draußen zusammen, und alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf die eingeschlossenen Siedler. Wenn an einer Stelle mal ein Gazka von außen hinzu kam und ein anderer sich dafür entfernte, dann tat dieser es, indem er rückwärts schritt und seine Blicke nicht von dem großen Gebäude löste. Joseph konnte nicht erkennen, ob diese Haltung von Bedeutung war, doch er schloß daraus, daß es hinter den Glas-259-
fassaden etwas gab, was besonders wichtig war. Ging es womöglich um jenes schemenhaft erkennbare Wesen, das er wenig später im Inneren des Gebäudes entdeckte? Es erinnerte ihn an einen schlanken, knorrigen Baum, der in den Räumen herumwandelte. Wo er erschien, wurde die Unruhe größer. Es war, als würden die Menschen durch ihn aufgescheucht, ohne daß deutlich wurde, ob sie vor ihm flüchteten oder Befehlen folgten und sich in eine bestimmte Richtung bewegten. Ausgerechnet jetzt brach das Licht durch die Wolken, und die Glasfassade spiegelte stärker als zuvor. Joseph kniff die Augen zusammen und wechselte mehrere Male seine Position, um besser sehen zu können. Hatte er es mit dem knorrigen, wandelnden Baumwesen mit einem der von Gemba erwähnten Alazar zu tun? Gerade als es so aussah, als könnte er weitere Einzelheiten erkennen, näherten sich zwei Gazkar-Krieger dem Haus. Er fuhr zurück. Sie hatten ihn offenbar entdeckt. Da der Cajun keine Aussicht hatte, sich gegen die beiden zu behaupten, flüchtete er die Treppe hinunter in den Keller, betrat den Gang und verriegelte die Tür hinter sich. Dann rannte er zu dem Haus hinüber, von dem er gekommen war. Als er das Ende des Ganges erreichte, blieb er stehen und horchte. Es war still hinter ihm. Die Gazkar hatten offensichtlich nicht entdeckt, auf welchem Wege er sich entfernt hatte. Er verließ den Gang, sicherte die Tür, nahm dem Roboter die Tüte mit den Nahrungsmitteln ab und stahl sich davon. Unbemerkt erreichte Joseph den Stadtrand, und dann tauchte er in das Sumpfgebiet ein, um so rasch wie möglich zu Pepe zurückzukehren.
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7. Wie eine Luftblase im Wasser stieg Icho Tolot im Morast nach oben. Er war darauf vorbereitet, von dem Steinfresser angegriffen zu werden, doch nichts geschah. Ungehindert erreichte er die Oberfläche des Sumpfes und schoß einige Meter weit darüber hinaus. Während er noch zurückfiel, wandelte er die Luft in seinem Magen in Sauerstoff und Energie um, die er seinen Zellen direkt zuführte. Frisch und strotzend vor Kraft wühlte er sich bis zu einem Baum hin, wo er festen Boden erreichte. Der Haluter blickte an sich hinab und stellte fest, daß er mit Schmutz, Schleim, Algen und winzigen Lebewesen bedeckt war. Darum kehrte er in den Sumpf zurück und suchte eine Stelle, an der das Wasser etwas tiefer war, so daß er sich waschen konnte. Danach machte er sich auf den Weg zu Gucky. Der Ilt kauerte mit geweiteten Augen in seinem Nest, »Ich dachte schon, du kommst nie zurück«, begrüßte er ihn. »Es geht dir besser«, stellte Icho Tolot erleichtert fest. »Besser?« stöhnte der Mausbiber und drückte sich die Handflächen gegen den Kopf. »In meinem Kopf hat gerade ein BigBang stattgefunden.« Der Haluter befreite ihn aus dem Geflecht und setzte ihn auf den Boden. Gucky versuchte, sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht. Der Mausbiber konnte das Gleichgewicht nicht halten, sondern kippte immer wieder zur Seite weg, bis er die Bemühungen schließlich aufgab und sich auf den Boden legte. »Mir ist schwindelig«, klagte er. Sein riesiger Freund hob mahnend eine Hand. »Warte mal«, sagte er leise. »Ich habe vorhin jemanden gesehen. Dort hinten auf einem Hügel.« Er legte einen Arm vorsichtig um den Ilt und hob ihn hoch, -261-
um ihn zu tragen. Derartige Hilfen ließ der Mausbiber sich sonst nicht so gern gefallen; jetzt aber war er froh darüber, weil er nicht in der Lage war, sich allein auf den Beinen zu halten. Sie waren noch keine hundert Meter weit gekommen, als sie sich plötzlich Joseph Broussard jr. gegenübersahen. Erschrocken fuhr der Beausoleil vor ihnen zurück, doch dann beruhigte er sich. Icho Tolot und Gucky waren keine Unbekannten für ihn, denn er kannte die beiden von der BASIS her. Überraschend aber war für ihn, daß er ihnen auf Lafayette begegnete. »Ich glaube, jetzt spinne ich«, sagte er und fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Oder ist es wirklich wahr?« Mit wenigen Worten war die Situation geklärt. Joseph führte den Haluter und den Ilt zu Pepe, der noch immer mit dem gefangenen Gazka auf dem Hügel wartete. »Was ist mit ihm los?« fragte der Beausoleil den Ilt und deutete auf das insektoide Wesen. »Lebt er noch, oder ist er tot?« Doch der Mausbiber war nicht in der Lage, ihm zu antworten. Hilflos kauerte er auf dem Boden, hielt sich den schmerzenden Kopf mit beiden Händen, phantasierte und redete wirr durcheinander. Er legte kein Verhalten an den Tag, welches dem der Menschen in dem großen Gebäude von Swamp City vergleichbar war. Er wirkte nicht so aufgekratzt und hektisch wie sie. Icho Tolot wollte Joseph und Pepe erklären, weshalb der Mausbiber in diesem Zustand war, doch das war nicht nötig. Die beiden wußten sehr wohl, welchen Einfluß der Tangle-Scan auf die Lebewesen des Planeten hatte. Joseph berichtete nicht nur von ihrem Ausbruch aus dem Gefangenenlager und dem wochenlangen Marsch durch die Wildnis des Planeten, sondern auch von seinem Vorstoß nach Swamp City und den Zuständen dort. Er erzählte vor allem, daß alle Bewohner der Stadt gefangen waren. Josephs Bericht war oft umständlich oder verworren, aber Tolot verstand ihn. -262-
Gucky stöhnte gequält auf, wackelte mit dem Kopf und stand auf, um unruhig hin und her zu gehen. Icho Tolot beobachtete ihn kurz, maß seinem veränderten Verhalten jedoch kein besonderes Gewicht bei und wandte sich wieder Joseph Broussard jr. zu. Er bat ihn um weitere Informationen über die Gazkar und die Neezer . »Eigentlich habe ich alles erzählt«, sagte der Beausoleil. »Bleibt nur noch zu erwähnen, daß alle Gazkar von Duftbahnen geleitet werden. Die Bahnen werden von den Neezer gesprüht.« Gucky drehte sich wie ein Kreisel, setzte sich danach auf den Boden und gestikulierte heftig. Seine Augen weiteten sich, und sein Kopf ruckte fortwährend von einer Seite zur anderen, so als habe er schnell bewegliche Ziele in ihrer Nähe entdeckt. »Was ist los mit dir, Kleiner?« fragte Icho Tolot besorgt. »Was ist anders als vorher?« »Er ist plötzlich so hektisch«, erkannte Joseph. Er fühlte sich an die Menschen in dem riesigen Gebäude von Swamp City erinnert. Ein Ruck schien durch den Ilt zu gehen. Er blieb stehen, und nun schien er Icho Tolot, Joseph und Pepe zum erstenmal bewußt wahrzunehmen. Er blickte sie der Reihe nach an, als sei er noch benommen vom tiefen Schlaf und müsse sich erst darüber klar werden, mit wem er es zu tun hatte und wo er sich befand. Als der Haluter ihn schon fragen wollte, was geschehen war, rannte Gucky mit einemmal wie aufgezogen im Kreis herum und verkündete stotternd und stammelnd, daß er dem Ruf folgen müsse. »He, he!« rief Icho Tolot. »Von was für einem Ruf faselst du da?« »Kannst du dich ein wenig genauer ausdrücken?« bat Joseph Broussard jr. »Ich verstehe kein Wort.« -263-
»Ja, ja, ich muß dem Ruf folgen«, wiederholte der Mausbiber. Sicherlich wäre er weiter im Kreis herumgerannt, wenn Icho Tolot ihn nicht festgehalten hätte. »Ich muß mich in den Kreis der Probanden eingliedern.« Er riß sich los und ließ sich kurzerhand zu Boden fallen, um den zupackenden Händen des Haluters zu entkommen. Als Icho Tolot erneut nach ihm greifen wollte, wälzte der Ilt sich rasch über den Boden, und als auch das nicht genügte, weil der Haluter energisch nachsetzte, teleportierte er. Plötzlich war er verschwunden. »He!« rief Icho Tolot überrascht und blickte sich suchend um. »Was soll der Unsinn? Wir haben keine Zeit für solche Scherze.« Er war überzeugt davon, daß der Mausbiber irgendwo in der Nähe zwischen den Luftwurzeln der Bäume hockte. Doch er sah ihn nicht. Mit Hilfe seiner infrarotempfindlichen Augen konnte er feinste Unterschiede feststellen, und er hätte den Ilt entdeckt, wenn dieser sich irgendwo im Sichtbereich versteckt hätte. »Er ist weg«, stellte Pepe verblüfft fest. »Und ich weiß sogar, wo er jetzt ist«, versetzte Joseph. »Tatsächlich?« fragte Icho Tolot. »In dem Geschäftsgebäude bei den anderen Gefangenen?« »Genau dort! Zuletzt hat er sich verhalten wie sie. Ich hätte vorher darauf kommen müssen. Er hat sich bewegt wie sie, und er war hektisch wie sie.« Icho Tolot ließ sich plötzlich auf seine Laufarme fallen und stürmte los. Gucky war in Gefahr. Angesichts dieser Tatsache konnte und wollte er Swamp City nicht länger fernbleiben. Er raste die Flanke des Hügels hinunter und jagte auf die Stadt zu. Jetzt brach der Zwang zur Drangwäsche voll durch. Nun ging es nicht mehr darum, im Kampf gegen Naturgewalten oder gefährliche Tiere überschüssige Energien abzubauen, sondern sich gegen die Invasoren durchzusetzen. Er wählte den direkten Weg, und wo ihm ein Sumpf in die -264-
Quere kam, schaltete er die Gravo-Paks seines Kampfanzuges ein, um keine Zeit bei der Auseinandersetzung mit dem widrigen Gelände zu verschwenden. Als Swamp City in Sicht kam, hüllte er sich in ein Deflektorfeld, um sich unsichtbar zu machen. Schon zu diesem Zeitpunkt sah Tolot das Gebäude, das Joseph ihm beschrieben hatte, und er kannte sein Ziel. Irgendwo in diesem Haus mußte Gucky sein, und er wollte ihn herausholen! Er machte sich nicht die Mühe, die einfachen Häuser zu umgehen, sondern rannte mitten hindurch. Containerartige Bauten und Holzhütten flogen krachend auseinander; Baumaterial wirbelte hoch in die Luft. Er bemerkte einige Gazkar, die regungslos vor Überraschung zwischen den Häusern standen, hielt sich jedoch nicht mit ihnen auf. Er hatte sein Ziel klar vor Augen, und als er es erreichte, brach er mit der Wucht einer Bombe in den Haupteingang ein. Glas, Plastik und Gestein platzten donnernd auseinander. Der Haluter stieß ein brüllendes Gelächter aus, das den Invasoren um so unheimlicher erscheinen mochte, da sie niemanden sehen konnten. In der Vorhalle des Gebäudes standen einige Roboter herum. Icho Tolot machte sich nicht erst die Mühe herauszufinden, ob sie zur Partei der Siedler oder zu jener der Invasoren gehörten. Sie standen ihm im Weg, also schleuderte er sie zur Seite. Sie flogen meterweit durch die Luft und prallten krachend gegen die Wände. Die Türen und Gänge waren nicht für Kolosse wie Haluter konstruiert, die eine Größe von 3,50 Metern erreichten und allein eine Schulterbreite von 2,40 Metern hatten, sondern für sehr viel kleinere und schlankere Menschen. Doch diese Tatsache konnte Icho Tolot nicht aufhalten. Er wandelte die Molekularstruktur seines Körpers und seines Kampfanzuges um und bohrte sich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Wand, die ihn von einem großen Raum trennte. -265-
»Gucky!« brüllte er mit dröhnender Stimme. »Melde dich! Wo bist du?« Trümmerstücke der Mauer wirbelten durch die Luft. Es war nur dem glücklichen Umstand zuzuschreiben, daß sich keine Menschen in der Nähe aufhielten, und daß niemand verletzt wurde. Icho Tolot schaltete das Deflektorschild aus, da er davon ausging, daß die meisten Siedler schon einmal von ihm gehört hatten und wußten, daß er ein Freund der Terraner war. Er wollte sie nicht unnötig erschrecken, sondern ihnen helfen, so dies möglich war. Doch sein Auftritt war mit einem derartigen Lärm und dem Ausbruch einer solchen Gewalt verbunden, daß alle Männer und Frauen im Raum schreiend vor ihm zurückwichen. Ein Gazka rannte mit erhobener Waffe auf ihn zu. Doch Tolot schaltete weder seine Schutzschirme ein, noch griff er nach seinem Energiestrahler. Mit einer wütenden Armbewegung wischte er den Krieger zur Seite und schleuderte ihn durch das berstende Fenster hinaus. »Wo ist Gucky?« rief er und wandte sich einer Gruppe von Männern zu. Sie antworteten nicht, sondern blickten ihn nur hilflos an. Er erkannte, daß sie unter dem Einfluß des Tangle-Scan standen und ihm keine Auskunft geben konnten. »Ich finde ihn«, sagte er mit dumpf grollender Stimme. »Ihr könnt euch darauf verlassen!« Icho Tolot wollte sich aufrichten, doch der Raum war nicht hoch genug für ihn. Daher rannte er auf allen vieren weiter, brach durch die nächste Wand und setzte seinen Weg quer durch das Gebäude und die Stockwerke fort. Er ließ sich durch nichts aufhalten und wühlte sich förmlich durch das betonharte Material, bis er sämtliche Räume durchsucht hatte. Einige Male traf er auf Gazkar. Wenn sie die Waffen auf ihn richteten, wischte er sie zur Seite oder feuerte mit dem -266-
Paralysestrahler auf sie. Er wollte nicht töten, sondern er wollte Gucky befreien. Als er das Gebäude verließ, war es kaum mehr als eine durchlöcherte Ruine. Doch daran verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Seine ganze Konzentration galt Gucky. Immer wieder rief er den Freund mit Hilfe der Funkeinrichtungen seines Kampfanzuges, doch der Ilt antwortete nicht. Icho Tolot glaubte, daß ihm die technischen Möglichkeiten fehlten. Trotz seines Sturmlaufs durch das Gebäude hatte er registriert, daß die Zahl der dort zusammengepferchten Menschen viel zu gering war, um die Gesamtzahl der Bewohner von Swamp City zu repräsentieren. Daher ging er davon aus, daß weitere Gefangene in den anderen Gebäuden eingesperrt waren. Tolot nahm sich das nächste Gebäude vor, und schon nach wenigen Sekunden wußte er, daß seine Annahme richtig war. Auch hier gab es Tausende von Gefangenen in den Räumen. Einige Male stieß Icho Tolot auf die fremden Alazar. Sie stellten sich ihm nicht mit Waffen in den Weg, sondern versuchten, ihn mit fremdartig und kompliziert aussehenden Geräten aufzuhalten und zu beruhigen. Er verspürte keinerlei Wirkung. Dennoch waren sie ihm lästig, und er schleuderte sie zur Seite. Krachend flogen sie gegen die Wände, rutschten daran herunter und blieben benommen auf dem Boden liegen. Auch im zweiten und dritten Gebäude fand der Haluter seinen Freund nicht. Als er seine Suche im vierten Gebäude ebenso fortsetzte wie sein Zerstörungswerk, stieß er endlich auf einen gesonderten Raum, in dem der Mausbiber von einer Schar von Alazar umringt wurde. Als Icho Tolot mit der Gewalt eines Geschosses durch die Wand brach, gingen die Alazar vor den herumfliegenden Trümmern in Deckung. Dabei war noch zu erkennen, daß sie -267-
dabei gewesen waren, den Ilt mit ihren Geräten abzutasten und zu untersuchen. Offenbar hatte er wegen seiner äußerlichen Erscheinung ihr besonderes Interesse erregt. Obwohl er auf ihren Ruf gehört hatte, wollten sie ihn einer eingehenden Untersuchung unterziehen. »Hallo, Kleiner!« rief der Haluter mit so lauter Stimme, daß der ganze Raum erzitterte. »Hallo!« echote Gucky mit leeren Augen. »Komm mir bloß nicht auf den Gedanken, noch einmal zu teleportieren!« riet Tolot ihm, packte ihn und klemmte ihn sich unter die Arme. »Ich hole dich hier heraus, und wenn du freiwillig zurückkehrst, komme ich noch einmal.« Er drückte den Ilt erstaunlich sanft an sich und machte sich auf den Rückweg. Er schaltete seinen Prallschirm ein, in den er den Mausbiber einbezog, und er wählte nicht den Weg, auf dem er gekommen ist, sondern raste in gerader Linie aus dem Haus. Im achten Geschoß des Gebäudes brach er durch eine Wand ins Freie; draußen ließ er sich mit Hilfe seines Gravo-Paks relativ rasch nach unten sinken. Vor dem Haus wachten Hunderte von Gazkar-Kriegern. Sie alle befanden sich in höchster Aufregung, Längst hatte die Kommandoführung Alarm ausgelöst, und eigentlich hätten alle mit dem Erscheinen des Haluters rechnen müssen. Doch als er nun aus der Höhe herabstürzte und plötzlich mitten unter ihnen auftauchte, war keiner in der Lage, auf ihn zu schießen. Erschrocken fuhren die Krieger auseinander. Einige von ihnen feuerten ihre Waffen in die Luft ab, wo sie keinerlei Wirkung erzielten. Icho Tolot ließ sich auf seine Laufarme fallen, während er Gucky mit den Handlungsarmen hielt, und stürmte brüllend durch die Menge, wobei er rücksichtslos jeden zur Seite schleuderte, der sich ihm in den Weg stellte. -268-
Als sich ihm eiförmige Fluggeräte der Viperiden näherten, schoß er blitzschnell; er wartete nicht erst ab, bis sie das Feuer eröffneten. Dabei mußte er wohl oder übel einen seiner Laufarme heben, um die Waffe abfeuern zu können, doch das behinderte ihn nicht. Tolot rannte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Mehrere der Fluggeräte erhielten Treffer und stürzten ab. Die Maschinen schlugen mitten in Swamp City auf und vergrößerten das Chaos, das der Haluter angerichtet hatte. Angesichts des Durcheinanders waren die Gazkar nicht in der Lage, ihn wirkungsvoll zu bekämpfen. So hatte er die Stadt verlassen, bevor die Invasoren zu einer für ihn bedrohlichen Kampfordnung gekommen waren. In den Sümpfen schaltete er die Schutzschirmsysteme ab und nutzte nur noch den Deflektor. Ihm war klar, daß seine Gegner verschiedene technische Mittel hatten, um ihn aufspüren zu können, doch er wollte es ihnen nicht leichter machen als nötig. Einige Male blieb er stehen, richtete sich auf und blickte sich um. Er entdeckte eiförmige Fluggeräte, die über den Sümpfen nach ihm suchten, doch keines von ihnen kam ihm bedrohlich nahe. »Sie sind mit Blindheit geschlagen, Kleiner«, sagte er zu Gucky, den er noch immer im Arm hielt. »Sie finden uns nicht.« Er war in Sorge, daß der Ilt wieder in die Stadt teleportieren könnte, denn er konnte nichts dagegen tun. Es wäre sinnlos gewesen, ihn zu paralysieren, denn dabei hätte er ihn nur körperlich gelähmt, ohne seine parapsychischen Fähigkeiten ausschalten zu können. Paralysierte blieben bei vollem Bewußtsein und erfaßten, was in ihrer Umgebung geschah. Gucky würde in diesem Zustand parapsychisch voll handlungsfähig bleiben. »Sei bloß vernünftig«, bat der Haluter. »Wenn du den Ruf noch einmal hören solltest, dann ignoriere ihn!« -269-
Er blickte seinen Freund an, doch die Augen des Ilts waren leer und ausdruckslos. Gucky war nicht Herr seiner selbst, und er litt in erheblichem Maße unter dem Tangle-Scan.
8. Das eiförmige Fluggerät tauchte so überraschend hinter dem Hügel auf, daß Icho Tolot kaum Zeit zum Reagieren blieb. Ein fingerdicker Energiestrahl zuckte herab und schlug dicht neben ihm in den sumpfigen Boden, der sich unter der Einwirkung der Hitze explosionsartig ausdehnte. Während der Haluter mit dem Ilt inmitten einer Wolke aus brodelndem Erdreich verschwand, feuerte er auf die Maschine, und die von seinem Planhirn gelenkte Waffe traf tödlich. Das eiförmige Gerät stürzte ab wie ein Stein. Icho Tolot stieg ebenso unverletzt wie Gucky aus dem plötzlich entstandenen Trichter hervor und lief zu der Maschine hin, die beim Aufprall auseinandergebrochen war. Der Neezer, der die Maschine gelenkt hatte, war herausgeschleudert worden und versank etwa dreißig Meter von ihm entfernt im Morast. Der Haluter setzte Gucky behutsam ab. »Du bleibst schön hier, Kleiner!« ermahnte er ihn. »Ich bin in der Nähe. Schrei, wenn ich zu dir kommen soll.« Der Ilt reagierte nicht. Icho Tolot beobachtete ihn einige Sekunden lang, dann wandte er sich den Trümmern der Maschine zu, um sie zu untersuchen. Sehr schnell stellte er fest, daß ihm diese Technik vollkommen fremd war. Er bedauerte, daß er nicht die Zeit hatte, sie eingehend zu untersuchen. Da die Freunde jederzeit mit dem Auftauchen von weiteren Feinden rechnen mußten, konnten sie es sich nicht leisten, allzu lange an dieser Stelle zu bleiben. Dennoch wollte er sich nicht -270-
zurückziehen, ohne wenigstens einen flüchtigen Eindruck von der technischen Ausstattung erhalten zu haben. Als sich der Haluter bereits abwenden wollte, fiel ihm ein kugelförmiger Tank auf, der einen Durchmesser von etwa 80 Zentimetern hatte, also etwa so groß war wie sein Kopf. Er bog einen armdicken Träger aus einem keramischen Material zur Seite und machte sich auf diese Weise den Weg frei. Dann hob er den Tank heraus und trat einige Schritte zur Seite, um ihn vorsichtig auf den Boden zu setzen. Als erstes stellte er fest, daß es sich wirklich um einen Tank, nicht aber um eine gefährliche Waffe handelte. Der kugelförmige Behälter verfügte über ein Ventil, das per Hand verstellt werden konnte. Icho Tolot wollte es bereits öffnen, als ihm bewußt wurde, daß er damit möglicherweise ein für Gucky gefährliches Gift austreten ließ. Er nahm den Tank auf, entfernte sich etwa zwanzig Meter von dem Ilt, prüfte die Windrichtung und beugte sich über das Ventil. Dann erst drehte er es vorsichtig auf, wobei er dafür sorgte, daß nur eine winzige Menge des Kugelinhalts entweichen konnte. Er schnüffelte. Ein Gas trat aus, an dessen Geruch er sich augenblicklich erinnerte. Dieses Gas hatte es auch in Swamp City gegeben. Den Geruch hatte er an mehreren Stellen innerhalb der Gebäude festgestellt. Daraus war zu schließen, daß das Gas auf keinen Fall eine tödliche Wirkung auf Menschen hatte, sonst hätten alle Gefangenen in den Gebäuden tot sein müssen. Icho Tolot dachte an das, was Joseph Broussard jr ihm über die Duftbahnen der Neezer erzählt hatte. Also beschloß er, den Tank mitzunehmen. Er klemmte ihn sich unter einen seiner Arme, hob Gucky behutsam auf und setzte ihn sich auf die Schultern. »Ich bin zufrieden mit dir«, lobte er ihn. »Es ist gut, daß du nicht teleportiert hast. Und wenn du solche Gedanken jetzt mit dir herumtragen solltest, schlag sie dir aus dem Kopf!« -271-
Der Mausbiber antwortete nicht. Er saß ruhig auf seiner Schulter und legte dem Haluter eine Hand auf den Kopf, um sich abzustützen. Während Icho Tolot zum Hügel zurückkehrte und zu Pepe und Joseph aufstieg, beobachtete er den Ilt. Er stellte beruhigt fest, daß dieser keinerlei Anzeichen von Hektik und Fahrigkeit zeigte. Dieses nervöse Verhalten war Vorbote für das Verschwinden gewesen. Daß es nun ausblieb, war für den Haluter ein Zeichen dafür, daß der geheimnisvolle Ruf zur Zeit nicht an Gucky erging. »Was bringst du uns mit?« fragte Joseph Broussard jr. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen kam er ihm einige Schritte entgegen. »Daß du Gucky gefunden hast, sehe ich, aber was hat diese Kugel zu bedeuten?« »Das weiß ich auch noch nicht«, bekannte der Haluter, »aber wir werden es bald herausfinden.« Er setzte den Ilt ab und übergab ihn Joseph mit der Bitte, sich um ihn zu kümmern. »Red mit ihm«, empfahl er ihm. »Ich bin sicher, daß er dich hört. Es wird ihm helfen, so daß er unter dem Tangle-Scan nicht so sehr zu leiden hat.« »Gern«, sagte Joseph. »Was soll ich ihm erzählen?« »Er hat früher mal leidenschaftlich gern Möhren gegessen«, berichtete Icho Tolot mit einem lautlosen Lachen, das seinen mächtigen Körper bis in die Schultern hinein erschütterte. »Vielleicht kennst du eine Geschichte, in der Möhren die Hauptrolle spielen?« »Mag er heute keine Möhren mehr?« staunte Joseph. »Doch, aber er zieht Gemüsesuppe vor!« Weder mit der einen Empfehlung noch mit der anderen konnte der ehemalige Beausoleil etwas anfangen. Er war sich auch nicht sicher, ob Icho Tolot es wirklich ernst gemeint hatte. -272-
Deshalb erzählte er kurzerhand von der Flucht aus dem Gefangenenlager und dem Marsch durch die Wildnis, wobei es ihm weniger auf die dramatischen Situationen ankam als vielmehr auf die wenigen Ereignisse, die angenehm gewesen waren. Der Haluter wandte sich dem noch immer gefesselten Gemba zu und untersuchte ihn. Er stellte fest, daß sich der Zustand des Gazka nicht verändert hatte. Nach wie vor waren keine Lebensfunktionen zu beobachten. Unmittelbar neben dem käferartigen Wesen öffnete Icho Tolot das Ventil des Kugelbehälters und ließ ein wenig Gas ausströmen. Die Wirkung war verblüffend. Als die Duftwolke den Gazka einhüllte, erwachten die Lebensgeister Gembas, der zu glauben schien, daß die Neezer ihn befreit hatten. Er strampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen um sich, soweit es ihm die Fesseln erlaubten, und versuchte auf diese Weise, sich aufzurichten. Der eigenartige Duft aus der Kugel zwang ihn zur Aktivität. Icho Tolot drückte ihm eine Hand unter den Rücken und richtete ihn auf, so daß er auf die Beine kam. Gemba wandte sich ihm zu. Der Haluter ahnte, was in ihm vorging. Angesichts eines Geschöpfes, was ihn weit überragte und das ihn mit seiner Masse zu erdrücken schien, hätte er sich vermutlich am liebsten sofort wieder totgestellt. Doch die Duftwolke aus dem Kugeltank ließ eine solche Reaktion nicht zu. Sie machte es ihm unmöglich, in die Körperstarre zurückzufallen. »Gib es auf«, riet der Haluter dem Gefangenen. »Wir wissen daß du lebst, und wir werden uns auch durch einen weiteren Versuch nicht täuschen lassen. Red lieber mit mir.« »Was willst du von mir?« fragte der Gazka. Sie verstanden sich gut, denn Tolots Translator hatte die Sprache der Fremden in Swamp City erfaßt. -273-
Joseph stieß einen Schrei aus, um Icho Tolot auf sich aufmerksam zu machen. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ein eiförmiges Fluggerät der Neezer, das sich ihnen rasch näherte. Der Haluter erkannte das Ausmaß der Gefahr sofort. Wenn die Maschine auf ihrem Kurs blieb, mußte sie direkt über ihre Köpfe hinwegfliegen. »Weg hier!« rief er und packte den Gazka. »Wir müssen uns verstecken!« Als er sah, daß Joseph Mühe hatte, Gucky zu tragen, nahm er den Ilt kurzerhand an sich. Dann zerrte er Pepe mit sich den Hügel hinunter. Joseph rannte neben ihnen her. Sie wateten durch einen knietiefen Sumpf bis zu einigen hohen Bäumen mit zahlreichen und kräftigen Luftwurzeln hin. Eine langgestreckte Echse tauchte aus dem Wasser auf und glitt auf sie zu, doch Icho Tolot gab ihr keine Chance. Mit einem gezielten Tritt schleuderte er sie zur Seite, und das Tier verzichtete auf einen weiteren Angriff. Die Echse ergriff die Flucht. Als der Haluter einige der Luftwurzeln zur Seite bog, schlüpften Pepe und Joseph durch die entstandene Lücke. Er folgte ihnen mit Gucky und Gemba, dann warteten sie. Der Haluter richtete seine Waffen nach oben. Er war entschlossen zu schießen, wenn die Maschine nicht zügig vorbeiflog. Einige Sekunden vergingen, doch so schnell beruhigte sich das aufgewühlte Wasser nicht. Als das Fluggerät vorüberflog, schwappten die Wellen noch zwischen den Bäumen hin und her und machten den Piloten dadurch aufmerksam. »Warte ein bißchen«, flüsterte Joseph, als Icho Tolot seinen Strahler abfeuern wollte. »Wenn wir schießen, machen wir andere auf uns aufmerksam, und immer mehr Maschinen werden kommen, bis sie uns gefunden und erledigt haben.« Der Haluter mußte ihm recht geben. Unter dem Zwang der Drangwäsche fiel es ihm schwer, sich zurückzuhalten, doch da -274-
sie sich noch immer recht nah bei Swamp City aufhielten, war es besser, unauffällig zu bleiben. Die Maschine stoppte. Langsam drehte sie sich herum. »Verdammt, sie haben uns entdeckt!« wisperte Pepe. In diesem Moment schoß die Echse quer über die Wasserfläche und schnappte nach einem Fisch, der zwischen einigen Luftwurzeln hervorgekommen war. Ihr Schwanz peitschte das Wasser, und dann glitt sie mit ihrer Beute ins Dickicht zurück. Der Pilot der Maschine drehte ab und flog weiter. »Verzeih mir den Tritt, mein Freund!« rief Icho Tolot der Echse zu. Er wandte sich wieder Gemba zu. »Wir sind unterbrochen worden«, sagte er. »Ich brauche Informationen, und du wirst sie mir geben.« »Was willst du wissen?« Der Gazka sah wohl ein, daß er keine Möglichkeit hatte, sich gegen seine Gegner zu behaupten. Er war klug genug, angesichts dieser aussichtslosen Lage einzulenken. Der Haluter deutete auf Joseph. »Wir haben die gefangenen Siedler von Swamp City beobachtet«, sagte er. »Sie verhalten sich, als ob sie auf etwas warten, als ob sie etwas herbeisehnen.« »Das tun sie auch«, antwortete Gemba. »Alle auf diesem Planeten - Neezer, Gazkar und Alazar - warten auf das Eintreffen der heiligen Eloundar. Sie werden den wertvollen Stoff Vivoc bringen.« »Und dann?« »Erst dann wird sich erweisen, ob dieser Testfall ein Erfolg ist.« »Lafayette ist ein Testfall? Was passiert, wenn dieser Test gelingt? Was wird dann auf den anderen von uns bewohnten Welten geschehen?« Erschrocken blickten Icho Tolot und Joseph Broussard jr. sich an, während Gucky und Pepe gar nicht erfaßten, welch Abgrund sich aufgetan hatte. Der Gazka-Krieger antwortete nicht. Alle gegen ihn ausgesprochenen Drohungen fruchteten nichts, da er offenbar nicht -275-
in der Lage war, weitere Informationen zu geben. Icho Tolot jagte ihm eine Duftwolke um den Körper und bewirkte damit eine geradezu hektische körperliche Aktivität, erreichte jedoch auch damit nichts. So blieb nur der Schluß, daß der Gazka sein gesamtes Wissen preisgegeben hatte. Er war nicht in der Lage, mehr zu sagen. Icho Tolot schaltete sein Funkgerät ein und versuchte, einen Funkspruch abzusetzen. Er wollte die HALUTA II erreichen und sie mit dem Kode »Taravatos« aktivieren. Doch sein Funkspruch verließ Lafayette nicht. Der Tangle-Scan verhinderte offenbar, daß der Funkbefehl die HALUTA II erreichte.
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Arndt Ellmer
Eine Ladung Vivoc
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1. »Dauert es lange?« Velito Karemus wandte sich mit der ganzen Würde seiner Herkunft und seines Berufsstandes um und warf dem Frager einen mißtrauischen Blick zu. Wieso wußte man bei Terranern eigentlich nie, woran man mit ihnen war? »Nein, natürlich nicht«, gab er von ganz weit oben herab zur Antwort. »Und es ist völlig ungefährlich. Du empfindest keine Schmerzen dabei. Wie fühlst du dich?« »Das hast du mich vor zwei Minuten schon einmal gefragt. Ich fühle mich blendend.« Der Chefarzt der RICO warf einen Blick hinüber zu den Hologrammen und vergewisserte sich, daß der letzte der hundertsiebzig Patienten auch die volle Wahrheit sagte. Die Meßinstrumente zeigten Körperwerte an, die sich immer mehr denen annäherten, die man in der arkonidischen Schulmedizin als normal ansah. Daß es sich bei dem Wesen in dem Antigravfeld keineswegs um einen Arkoniden handelte, sondern um einen Menschen und Angehörigen der LFT, zählte in den Augen von Karemus nur sekundär. Aus seiner Sicht hatten Terraner lediglich ein paar Rippen zu viel und eine Brustplatte zu wenig. »Gut. Du bekommst jetzt den Helm übergestülpt.« Raoul Sonarra, so hieß der Terraner in Karemus' »Fängen«, schnaubte respektlos. »Wenn's denn sein muß. Aber merk dir eines, caro amigo: Als Versuchskaninchen lasse ich mich nicht benutzen. Von niemandem.« »Karemus bitte. Nicht Karoamigo.« »Du hast mich falsch verstanden.« »Pah!« Der Arkonide schnippte mit den Fingern. Für die Syntronik bedeutete dies Einsatz. -279-
Von der Wandung eines der silbern und metallisch blauschimmernden Aufbauten des Medocenters löste sich eine dünne Schicht und schwebte hinüber zu Sonarra. Sie faltete sich zu einer Haube auseinander und senkte sich langsam auf den Kopf des Liegenden hinab. Der Terraner stieß erneut dieses Schnauben aus. Da sein Blutdruck und seine Pulsfrequenz normale Werte anzeigten, konnte es sich auf keinen Fall um ein Anzeichen von Angst handeln. »Ich befolge Atlans Anweisungen.« Karemus rang mit der Fassung ob des Benehmens dieses Kerls. »Ihr müßt euch alle dem Test unterziehen. Du bist der letzte. Wir versuchen, so gut es geht, auf eure Gepflogenheiten Rücksicht zu nehmen.« Raoul Sonarra schloß die Augen und entspannte sich weiter. »Bei der Liga Freier Terraner werden Kommandanten für gewöhnlich zuerst in die Mangel genommen. Wer die Verantwortung trägt, muß auch seinen Kopf hinhalten.« »Oh. Das tut mir sehr leid. Aber meine Informationen sind da anderer ...« »Ich kann es nicht mehr hören. Bist du bald fertig?« Velito Karemus resignierte und schwieg. Steif stand er vor dem Hologramm, das die Meßwerte der Metallhaube grafisch darstellte. Gebannt starrte er auf das, was die Taster aus dem neuronalen Netz des menschlichen Gehirns hervorholten. Erinnerungen an das, was wenige Stunden zuvor geschehen war. Die Begegnung mit dem Tangle-Scan stellte kein angenehmes Erlebnis dar. Jeder Betroffene fühlte sich übergangslos elend. Ihm wurde speiübel. Er empfand es, als würde sein Innerstes nach außen gedreht, Gliederreißen und Konzentrationsmängel folgten. Und dieser Zustand hielt an und zerrte am Nervenkostüm. Der Arkonide rief die Ergebnisse der übrigen Besatzungsmitglieder des LFT-Kreuzers auf und verglich sie mit Sonarras -280-
Neuro-Enzephalogramm. Die Impressionen stimmten bei allen mit wenigen Abweichungen überein. Velito Karemus klatschte zufrieden in die Hände. Das paßte ins Bild. Jetzt konnte er Atlan guten Gewissens gegenübertreten. »Bei Arkon, ihr habt gewaltiges Glück gehabt«, wandte er sich wieder Sonarra zu. »Wir haben euch rechtzeitig vor dem ewigen Wahnsinn gerettet. Als lallende Idioten hättet ihr auf Lafayette ziemlich wenig ausgerichtet.« Der Terraner reagierte in keinster Weise auf diese Schocktherapie. Velito Karemus seufzte ergeben. Bei Raoul Sonarra konnte ihn nichts mehr erschüttern. »Kleiner Scherz am Rande.« Der Arkonide versuchte so etwas wie ein terranisches Grinsen, aber es geriet ihm zur Grimasse. »So schlimm kann es gar nicht werden. Wir haben es jetzt schwarz auf weiß. Die Auswirkungen des Tangle-Scans verschwinden in jedem Fall spurlos, sobald der Betroffene ihm nicht mehr ausgesetzt ist. Bleibende Schäden am zentralen Nervensystem sind nicht nachweisbar. Zumindest gilt das für Wesen mit sogenannter normaler Veranlagung. Bei Mutanten bin ich mir nicht sicher.« »Mein Dank wird dir lebenslang nachschleichen. Doch zuvor beantworte mir eine Frage: Was macht es für einen Sinn, wenn dieses außergalaktische Gesocks die Bewohner ganzer Planeten in den Wahnsinn schickt und später als geheilt entläßt? Das kann es doch nicht gewesen sein, oder?« Darauf wußte der Arkonide keine Antwort. Der Terraner schien sein Schweigen zu genießen. Er wartete nicht erst ab, bis sich die Haube von seinem Kopf entfernt hatte. Mit einer beiläufigen Bewegung streifte er sie ab und warf sie in die Luft, wo sie einen Augenblick hängen blieb, sich dann zusammenfaltete und an ihren angestammten Platz zurückkehrte. Sonarra richtete sich auf und setzte sich an den Rand des Antigravfeldes, als sei es ein Gegenstand aus Formenergie und kein unsichtbares Gebilde. -281-
Ein Signal zeigte an, daß jemand den Türöffner betätigte. Augenblicke später trat ein weiterer Arkonide ein, bei dessen Anblick sich Velito Karemus leicht verneigte. »Wir sind fertig, Atlan«, beeilte er sich zu versichern. »Die Ergebnisse müßten bereits in einem Kristall gespeichert sein. Ah, da kommt er ja.« Geschickt fing er den winzigen Gegenstand auf, der das Hauptterminal der Syntronanlage verließ und Kurs auf ihn nahm. Er blies imaginären Staub von seiner Oberfläche und reichte ihn an Atlan weiter. »Danke, Velito.« Im Gesicht des Unsterblichen zuckte keine Miene. Er ließ den Kristall in der Brusttasche seiner Kombination verschwinden und wandte sich ohne Umschweife an den Terraner. »Hallo, Raoul«, sagte er und hielt ihm die Hand hin. Der LFT-Kommandant ergriff sie und drückte sie hastig. »Guten Tag, Atlan. Im Namen meiner Besatzung möchte ich mich bei euch für die Rettung bedanken.« »Bedanke dich bei Icho Tolot, der jetzt wohl auf Lafayette gestrandet ist. Hätte er nicht das Feuer eröffnet und die beiden Igelschiffe vernichtet, befändet ihr euch da unten bei den Bewohnern der Kolonie und immer noch im Einflußbereich des Tangle-Scans. Was führt euch hierher? Zum Spaß seid ihr bestimmt nicht ins Collore-System geflogen, oder?« »Nein. Natürlich nicht. Wir hatten den Auftrag, die Lage über Lafayette zu erkunden und nach Möglichkeiten zur Befreiung des Planeten Ausschau zu halten. Dabei gerieten wir in den Wirkungsbereich der Strahlung.« »Ihr werdet vorerst an Bord der RICO bleiben«, fuhr der Unsterbliche fort. »Euer Schiff ist nur noch ein Wrack, wir haben es zurückgelassen. Karemus bringt euch zu Gerine. Die Stellvertretende Kommandantin wird euch eure Quartiere zuweisen. Ihr versteht sicher, daß wir euch nicht alle technischen Geheimnisse -282-
zeigen.« Atlan grinste und wandte sich an den Mediziner. »Sorg dafür, daß Programm siebzehn in spätestens einer halben Stunde bereitsteht.« Programm siebzehn umfaßte die medizinische Ausrüstung für einen Modula-Roboter und zusätzliche Medo-Einheiten für die SERUNS der an einem Einsatz Beteiligten. Velito Karemus senkte leicht den Kopf als Zeichen der Zustimmung. »Du hast dich also entschieden.« »Ja. Wir können nicht länger warten.« »Du planst eine Aktion gegen die Igelschiffe?« fragte Sonarra. »Wir sind dabei.« »Tut mir leid. Ihr seid unsere Gäste und bleibt im Schiff. Unser Ziel sind nicht die Igel selbst, sondern Lafayette. Icho Tolot und der Ilt befinden sich wohl unten bei den Kolonisten. Gucky als Mutant leidet sicher besonders intensiv unter der Einwirkung des Tangle-Scans. Er braucht dringend Hilfe.«
Etwa zwei Lichtsekunden reichte die Wirkung des Tangle- Scans hinaus ins All. Die RICO hatte sich auf eine Entfernung von zehn Lichtsekunden vom vierten Planeten des Collore-Systems zurückgezogen. In ihrer Nähe wartete Tolots HALUTA II auf die Rückkehr ihres Eigentümers und Erbauers. Die Igelschiffe kümmerten sich nicht um die beiden fremden Fahrzeuge, und das, obwohl das halutische Schiff zwei ihrer eigenen Raumer vernichtet hatte. Und genau das war es, was Atlan zutiefst beunruhigte. Das Verhalten der Fremden zeigte, daß sie ihrer Sache sehr sicher waren. Sie hatten es nicht nötig, sich mit zwei Schiffen zu befassen, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Der Tangle-Scan hielt zudem allzu Neugierige davon ab, ihre Nasen in die Angelegenheiten der Invasoren zu stecken. Manchmal in letzter Zeit hatte Atlan die heraufziehende Ge-283-
fahr fast körperlich gespürt. Hunderttausend Einheiten der Fremden lauerten beim Kugelsternhaufen 47 Tucani, sechzehntausend Lichtjahre von Sol entfernt. Der Haufen mit einem Durchmesser von zweihundertzehn Lichtjahren und einer Million Sonnenmassen gehörte zum Einflußbereich der LFT Die Menschenkolonien dort befanden sich in unmittelbarer Gefahr. Insgesamt hatten die Viperiden, wie Atlan die Fremden anhand der genetischen Rekonstruktion auf Camelot bezeichnete, bisher dreiundzwanzig bewohnte Planeten besetzt, davon allein achtzehn LFT-Welten. Dreiundzwanzigmal litten Millionen von Lebewesen unter der Strahlung und harrten eines ungewissen Schicksals. Auf Terra und überall im Gebiet der Liga Freier Terraner galt auf Cistolo Khans Betreiben hin das Kriegsrecht. Alle Raumstreitkräfte befanden sich in Alarmbereitschaft. Als eine der ersten Reaktionen hatte Khan einen Kreuzer ins Collore-System geschickt, zum ersten von Viperiden besetzten Planeten. Bisher war es nicht gelungen, sich dem Planeten zu nähern oder etwas für die Kolonisten auf seiner Oberfläche zu tun. Starke Verbände der Igelschiffe hüllten Lafayette ein und verhinderten jede Annäherung. Eine Weile hatte der Arkonide mit dem Gedanken gespielt, nach 47 Tucani zu fliegen und unterwegs möglichst viele Schiffe und Verbände um sich zu scharen, damit sie der LFT zu Hilfe eilten und den Kampf gegen die Igelschiffe aufnahmen. Aber die vorangegangenen Ereignisse im Humanidrom hatten seinem Optimismus einen gehörigen Dämpfer versetzt. Der Flug nach Camelot war ihm wie eine frühzeitige Kapitulation vorgekommen. Und jetzt befand er sich da, wo die Umtriebe der Igelschiffe ihren Anfang genommen hatten. Was immer die Fremden vorhatten, auf Lafayette mußten die Dinge am weitesten fortgeschritten sein. -284-
Salziges Sekret bildete sich in Atlans Augenwinkeln - wie immer, wenn ihn starke Erregung erfaßte. Egal, welches Schicksal den Menschen dort unten blühte, das Leben würde für sie niemals mehr so sein wie bisher. Auf dem kleinen Tisch der Kabine lag der Kristall mit den Daten. Die Ergebnisse von Karemus´ Untersuchungen ließen Hoffnungen aufkeimen. Hoffnungen darauf, daß den Bewohnern von Lafayette und auch der anderen Planeten noch zu helfen war. Wie lange aber? War es nicht schon zu spät? Vielleicht irrten sie sich ja, und der Tangle-Scan wirkte auf der Oberfläche gar nicht, sondern nur im Raum. Dann war die Gefahr für die Kolonisten vielleicht nicht ganz so groß. Gib dich keinen Sentimentalitäten hin! warnte der Extrasinn. Es wäre deinem Vorhaben abträglich, würdest du versuchen, die Gefahr zu verharmlosen. Solange es dir nicht gelingt, bis zur Oberfläche von Lafayette vorzustoßen, hat es wenig Sinn, wenn du dich Spekulationen hingibst. Darauf wäre ich von selbst nie gekommen, spottete der Arkonide in Gedanken. Seine Blicke wanderten durch den Wohnraum seines Kabinentraktes, in den er sich für ein paar Minuten zurückgezogen hatte, um mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Die Nüchternheit der Ausstattung hätten Terraner vermutlich als spartanisch bezeichnet. Für ihn war ein Gefühl des Wohlbehagens damit verbunden. Nichts lag herum, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog und ihn von den wichtigen Dingen ablenkte. »Hermon kommt und bittet um Einlaß«, meldete sich der Servo. »Bist du bereit, ihn zu empfangen?« »Natürlich. Öffne!« Atlan erhob sich und ging dem neuen Feuerleitchef der RICO entgegen. Hermon war jung, siebenundzwanzig Jahre alt. Ein ähnlicher Haarschnitt, weißblondes Haar und rötliche -285-
Albinoaugen erweckten den Eindruck, als käme hier ein Double des Unsterblichen daher. Allerdings war Hermon deutlich kleiner, besaß ein volleres Gesicht und einen nicht sonderlich trainierten, schlanken Körper. Nach alter Tradition begrüßten sie sich, indem sie die Handflächen gegeneinanderlegten. Hermon von Ariga ließ eine Anstandspause von zwei Atemzügen verstreichen. Dann begann er zu sprechen: »Sassaron ist soweit«, berichtete er, und seiner Stimme war deutlich die Begeisterung anzuhören. »Du wolltest unbedingt Freiwillige haben. Dabei hätte jeder in der RICO sofort bereitgestanden.« »Ich weiß. Aber zehn Männer und der Beibootchef sind genug. Was ist mit den Robotern?« »Die Modula-Maschinen sind einsatzbereit. Ein Medo und neun Kämpfer. Sie warten an der Minor Globe.« »Ich komme.« Atlan öffnete einen der Wandschränke, nahm seinen persönlichen SERUN heraus und stieg hinein. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er den Raum und trat auf den Korridor hinaus. Hermon von Ariga, ein entfernter Vetter von Theta mit fünf Monaten Erfahrung in einem Straflager, folgte seinem Retter fast unhörbar und im achtungsvollen Abstand von fünf Schritten. Sie werden es nie lernen, dachte Atlan mit einer Spur von Wehmut. Für manche werde ich wohl immer der Kristallprinz und rechtmäßige Herrscher des Reiches bleiben. Selbst in einer Million Jahren noch. Sie nahmen einen bereits aktivierten Transmitter zum Steckplatz achtunddreißig und traten aus dem Materialisationsfeld in die Halle. Drüben am Durchgang zum angedockten Beiboot warteten die Roboter. Es handelte sich um Maschinen in modularer Bauweise nach einem von den Kybernetikern auf Camelot entwickelten Prinzip. -286-
Der Metallkörper war ein Zylinder von einem Meter und dreißig Länge, der sich nach unten konisch verjüngte. Oben betrug der Durchmesser fünfzig Zentimeter, unten dreißig. Die Oberfläche der Maschine wies eine Anzahl von Erhebungen, Schlitzen und Löchern auf, die als Steckplätze für die verschiedenen Module dienten. In der Grundausstattung verfügte ein Modula über den Syntron mit den eingespeicherten Robotgesetzen, das Logical- und Sprechsystem, ein Paratronaggregat, Antigrav und Prallfeldgenerator sowie ein Aggregat für Höhenflüge. Das Spektrum der Zusatzmodule ließ sich praktisch unbegrenzt erweitern. Durch eine Kombination entsprechend abgestimmter Bauteile erreichte ein Modula einen Grad an Spezialisierung, der sich ohne weiteres mit dem eines Androgynen aus den Stämmen von Robert Gruener vergleichen ließ. Der Unterschied lag darin, daß ein Androgyne seine Spezialisierung nicht einfach wechseln konnte wie ein Lebewesen seine Kleidung. Einmal Bergwerks-Androgyne, immer Bergwerks-Androgyne, lautete ein geflügeltes Wort auf Camelot. Die Modulas hingegen ließen sich einsetzen, wo und wie es gerade erforderlich war, und man mußte sie nicht neu konstruieren. Es genügte, enstprechende Bauteile und Zusatzkomponenten über diverse Firmen zu beziehen. Den Rest übernahmen die eigenen Maschinen, und für die Feinabstimmung sorgten die emsigen Teams der Siganesen. Die bereitgestellten neun Kampfroboter besaßen den typischen kugelförmigen Aufsatz auf der oberen Abschlußfläche des Zylinders, ein Multi-Erfassungsgerät für Ortung, Tastung, Zielerkennung rundum. Darunter befanden sich am Zylinder drei Gelenkarme, in die je ein Thermostrahler, Desintegrator und Paralysator eingebaut waren. Am unteren Körperende war ein zweites, etwas größeres Kugelelement angebracht. Es diente als Werfer für Thermoraketen. -287-
Der einzelne Medorobot wies keine Kugeln auf, dafür aber ein Dutzend biegsamer Tentakel und zusätzliche Antigravprojektoren sowie eine komplette Medo-Versorgungseinheit, wie sie auch in die SERUNS eingebaut war. Von seinen bis an die Zähne bewaffneten Kollegen unterschied er sich allein schon durch seine optische Harmlosigkeit. »Alle sind frisch durchnumeriert«, sagte Hermon hinter Atlan. »Bist du zufrieden?« Einen Augenblick lang ritt Atlan der Schalk. »Nein«, wollte er sagen und sich dabei über das ratlose und entsetzte Gesicht des Adligen amüsieren. Dann aber brachte er es doch nicht fertig. »Natürlich«, bestätigte er. »Schließlich kann ich mich auf euch verlassen.« Er setzte seinen Weg fort und schritt an der Reihe der wartenden Modulas vorüber. Leise, klackende Geräusche entstanden, als die Arme und Tentakel zum Salut emporfuhren. Atlan nahm es mit einem leichten Zucken seiner Lider zur Kenntnis. »Gewöhnt euch das ab«, sagte er. Seine Stimme klang wie Metall. »Los, los!« bellte Hermon hinter ihm, sichtlich durcheinander. »Einschleusen! Es geht los.« Die Roboter beschleunigten und rasten über sie hinweg auf die Schleuse zu. Vor dem Durchgang blieb Atlan stehen und wandte sich um. »Viel Glück«, wünschte Hermon. »Wenn ihr nach Ablauf von fünf Tagen nicht zurückgekehrt seid, hauen wir euch heraus.« »Danke. Bis bald!« Atlan ging als letzter an Bord. Hinter ihm schloß sich das Schleusenschott und entzog Hermon von Ariga endgültig seinen Blicken. »Der Kleintransmitter ist an Bord, der Hyperfunk sicherheitshalber ausgeschaltet. Noch zehn Sekunden bis zum Ende -288-
des Countdowns. Dann erfolgt die Trennung von der RICO. Das Sicherheitsprogramm tritt automatisch in Kraft. Kurz nach dem Eindringen in den Bereich des Tangle-Scans gibt es eine Paralyse für alle. Die Syntronik ist so programmiert, daß wir keine Chance haben, irgend etwas anzustellen. Die erste Stufe beginnt - jetzt!« Sassaron war ganz in seinem Element. Im Sitzen kam seine Körpergröße von einem Meter und zweiundneunzig nicht so zur Geltung. Er machte es durch Lautstärke wett. Für einen Arkoniden wies er überaus viele Muskeln auf und wirkte beinahe schon gedrungen. Seinen Körper zierten die Narben unzähliger Einsätze. Die größte zog sich von der Stirn senkrecht nach unten über die Nase. In einem Kampf hatte er zudem das rechte Auge verloren und trug ein Klon-Implantat, mit dem er besser sah als mit seinem eigenen, gesunden Auge. Prallfelder bauten sich auf und drückten die insgesamt elf Insassen der Minor Globe in ihre Sessel. Automatikgurte legten sich über die SERUNS und hielten sie fest. Zusätzlich aktivierten sich die Individualschirme. Wie einst Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes binden ließ, um dem Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne ihren Verlockungen zu erliegen, dachte Atlan und entspannte sich. Die Minor Globe befand sich auf der Lafayette abgewandten Seite der RICO. Sie hüllte sich in ihr Deflektorfeld und löste sich vom Mutterschiff. Ein letzter Funkimpuls erreichte die Crew, Gerine wünschte den Segen Arkons für sie. Dann herrschte Stille. Programmgemäß unterblieb ab sofort jeder Kontakt. Die Viperiden in den Igelschiffen mußten so lange wie möglich getäuscht werden. Wenn sie zu früh merkten, daß sich ein Fahrzeug Lafayette näherte, gab es keine Chance, den Blockadering zu durchbrechen. Das Beiboot der GILGAMESCH II beschleunigte mit mäßigen Werten. -289-
»Wir sind unterwegs«, kommentierte Sassaron überflüssigerweise. »Nach einer Viertelstunde treten wir in den Bereich der Tangle-Strahlung ein. Für Camelot und Arkon!« »Für Camelot und Arkon«, murmelten die zehn Freiwilligen. Dann schwiegen sie und beschränkten sich auf das Betrachten der Bildschirme. Sieben Minuten später erreichte das Beiboot eine Geschwindigkeit von dreitausend Kilometern pro Sekunde. Das war ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Für die gesamte Strecke von zehn Lichtsekunden bedeutete es bei gleichbleibender Geschwindigkeit knapp siebzehn Minuten Flugzeit. Da sie jedoch die Beschleunigungs- und Bremsphase dazurechnen mußten, kamen sie auf eine effektive Flugzeit von etwas über einer halben Stunde. Und die verging schleppend langsam. Die Ortung arbeitete mit minimaler Energie. Das Antriebssystem besaß einen zusätzlichen Kompensator gegen verräterische Emissionen und Streustrahlung. Beim geringsten Anzeichen einer Entdeckung würde der Syntron das kleine Fahrzeug auf einen neuen Kurs bringen und zusehen, daß es so schnell wie möglich im Hyperraum verschwand. Bisher aber gab es keine Anzeichen für eine Entdeckung durch die inzwischen über hundert Igelschiffe im Orbit von Lafayette. Lautlos und unsichtbar pirschte sich die Minor Globe an den Sperrgürtel heran. Der Abstand zur kritischen Zone schrumpfte zeitlupenmäßig. Irgendwann jedoch zeigte das Datenhologramm nur noch hunderttausend Kilometer an. Atlan lauschte nach innen. Etwas mehr als eine halbe Minute noch. Die Anzeige für den Tangle-Scan veränderte sich nicht. Die letzten zehn Sekunden zählte der Arkonide mit. Dann setzte übergangslos der Druck im Kopf ein. Innerhalb eines Augenblicks schien es, als müsse der Schädel platzen. -290-
Gleichzeitig entstand ein Ziehen, als ob jemand mit einem Traktorstrahl versuchte, die Gedanken aus dem Kopf zu reißen. Die Insassen des Fahrzeugs begannen zu stöhnen. Sie wußten, daß die ersten Minuten die schlimmsten waren. Erst später setzte eine Art Gewöhnungseffekt ein. Die Erkenntnis nützte ihnen vorläufig aber gar nichts. Der physische Schmerz war zu groß. Auf Atlans Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er versuchte sich gegen das Stechen in seinem Kopf zur Wehr zu setzen. Er glaubte zu ersticken, und seine Gedanken formten sich zu einem einzigen Hilfeschrei. Dieses übermächtige Gefühl, den Verstand zu verlieren und bald nicht mehr zu wissen, wer man war, trieb auch ihn an den Rand des Wahnsinns. Umkehren! Das war das einzige, was er an klaren Gedanken in diesen Augenblicken zustande brachte. Seine Mentalstabilisierung half nichts. Die Attacke auf das Gehirn besaß solche Ausmaße, daß selbst ein Wesen wie ES nicht dagegen gefeit sein konnte. Verkrampf dich nicht, meldete sich sein Extrasinn. Es schadet dir mehr; als es dir nützt! Die Gedanken des Logiksektors drangen klar und deutlich in das geschundene Bewußtsein. Gleichzeitig ließ der Schmerz ein wenig nach. Du wirst nicht beeinträchtigt, erkannte der Arkonide. Es ließ sich nicht vorhersehen. Dann unternimm etwas! Natürlich. Wozu hast du mich. Besser so? Ja. Der Scan wirkt sich lediglich auf das Primärgehirn aus. Du hast Glück, alter Haudegen. Der Extrasinn blockierte die Wirkung des Tanglers mit ungefähr neunzig Prozent. Ein Rest blieb, und er manifestierte sich im Gehirn des Arkoniden als Wispern und Flüstern ohne jeden Sinn. -291-
Atlan seufzte. Das Stöhnen und Winseln der zehn Artgenossen in ihren Sesseln schmerzte in seinen Ohren. »Durchhalten!« ächzte er. »Es geht vorüber.« Der Medo-Modula gab monotone Kommentare ab. Die Gedanken Sassarons und der zehn Freiwilligen verwirrten sich. Die Männer vergaßen, wo sie sich befanden. Sie wollten sich aus der Umklammerung ihrer Fesseln befreien. Einer begann zu schreien. Die Pikosyns aktivierten die Medo-Einheiten der SERUNS und stellten die elf Betroffenen mittels Injektionen in die Blutbahn ruhig. Das Medikament linderte die Qualen des Tangle-Scans. Das Stöhnen der zehn Freiwilligen nahm ab. Der physische Schmerz wich dem psychischen Druck, der sogenannten zweiten Phase, wie Myles Kantor es formuliert hatte. Atlan richtete sich ein wenig auf. »Syntron, gib mir eine genaue Positionsbeschreibung!« »Du kannst mit den Informationen derzeit nichts anfangen«, lautete die Antwort. »Du bekommst die Informationen später übermittelt.« »Unsinn. Ich bin bei klarem Verstand.« Ein stur auf sein Programm eingestellter Automat hätte in einem solchen Fall nicht mit sich reden lassen. Der Syntron jedoch verfügte über das komplette Wissen zu Atlans Natur und Vergangenheit. »Immerhin wäre es möglich, daß du nicht unter dem Einfluß der Strahlung leidest. Ich teste dich. Bist du mit ein paar Fragen einverstanden?« »Ja.« »Wer bist du?« »Atlan.« »Wer war dein Lehrmeister?« »Fartuloon.« -292-
»Auf welchem Planeten bist du einst für Jahrtausende gestrandet?« »Auf Larsaf Drei, dem heutigen Terra.« »Wer hat dich als Chef des Neuen Einsteinschen Imperiums wieder mit Perry Rhodan versöhnt?« »Bjo Breiskoll, der Katzer.« »Wen hat Laire hinter die Materiequellen geholt?« »Mich.« »Wie heißt das Modul RICO noch?« »GILGAMESCH ZWEI.« »Wo befindest du dich?« »In einer Minor Globe auf dem Weg nach Lafayette.« »Wen suchst du auf der Oberfläche des Planeten?« »Icho Tolot und Gucky.« Drei komplizierte Rechenaufgaben folgten, dann teilte der Syntron des Beibootes ihm das Ergebnis mit: »Du leidest nicht unter dem Tangle-Scan. Liegt es vielleicht an deinem Extrasinn?« »Ja. Ich höre lediglich ein Wispern und Flüstern und verspüre keine Beeinträchtigung.« »Akzeptiert. Du bist Herr über deine Sinne.« »Schnall mich sofort los! Ich übernehme die Steuerung des Fahrzeugs.« »Tut mir leid. Wir nähern uns dem Kordon der Igelschiffe und warten erst einmal ab. Vielleicht nimmt der Einfluß des Tangle-Scans noch zu.« Atlan hatte nicht den Eindruck. Das Wispern und Flüstern flaute im Gegenteil ein wenig ab. Das An- und Abschwellen der Impression wich einem gleichmäßigen Eindruck. »Deine Männer leiden trotz der Schmerzmittel«, meldete der Syntron. »Die Modulas werden sie jetzt paralysieren.« Die Waffen der Roboter richteten sich auf die Körper in den Sesseln. Unsichtbare Felder hüllten die Arkoniden ein und beförderten sie ins Reich der Bewußtlosigkeit. -293-
Atlan verschonten die Modulas. Die Automaten erkannten den Test an. Andernfalls hätte die Minor Globe ihren Weg ausschließlich mit Bewußtlosen fortgesetzt. »Noch fünf Minuten. Dann erreichen wir den nächsten Abstand zu einem der Igelschiffe«, fuhr der Syntron fort. »Die Geschwindigkeit bleibt bis hinter dem Kordon konstant. Das Bremsmanöver findet dicht über der planetaren Atmosphäre statt und geschieht unter Ausnutzung der Schwerkraft.« »Das dauert zu lange.« Atlan musterte die bewußtlosen Gefährten. »Wenn ich es richtig sehe, umkreisen wir Lafayette fast vollständig, ehe wir in die dichten Schichten der Atmosphäre eintauchen.« »Es läßt sich nicht vermeiden. Eine kürzere Flugdauer potenziert die Gefahr einer Entdeckung. Wie geht es dir?« »Gut.« Der Syntron begann erneut sein Frage-und-Antwort-Spiel. Atlan machte eine kleine Weile mit, dann wurde es ihm jedoch lästig. »Ich leide nicht unter dem Tangle-Scan. Vielleicht siehst du das endlich ein. Medo, unterziehe mich einer genauen medizinischen Diagnose. Aber beeil dich!« Der einzige Modula ohne Kugelaufsätze rührte sich nicht von der Stelle. Lediglich einer seiner Tentakel bewegte sich und deutete auf den Aktivatorträger. »Eine Ferndiagnose liegt bereits vor«, erklärte er. »Deine Körperwerte sind normal. Das gilt auch für die Gehirnströme. Du bist in Ordnung.« »Syntron, öffne die Gurte und schalte das Prallfeld ab. Ich übernehme das Kommando.« »Einverstanden, Atlan. Aber beim geringsten Anzeichen einer Beeinträchtigung ziehe ich dich aus dem Verkehr.« »Tu das! Die Mission ist zu wichtig, als daß wir uns einen Fehler leisten könnten.« -294-
Der Aktivatorträger erhob sich und trat zu den Gefährten. Die Wirkung der Paralyse hielt eine knappe halbe Stunde an. Das mußte ausreichen, um Lafayette zu erreichen. Andernfalls benötigten sie eine weitere Dosis. Die kritische Phase des Fluges begann. Der Kordon aus Igelschiffen rückte näher und näher. Die Fremden orteten ins All hinaus und verfügten über ein lückenloses Netz. Zu engmaschig, um durchschlüpfen zu können.
2. »Ich bin traurig«, sagte Pepe. Er saß auf einem halb verfaulten Baumstumpf und barg das Gesicht in den Händen. »Ich will Bunny zurück. Joseph, hilfst du mir? Wir müssen ihn suchen.« Joseph Broussard jr. gab keine Antwort. Er lehnte an der Felsbastion, die ihr Versteck nach Norden hin abgrenzte, und kaute auf einem Stückchen Holz. Die Augen hielt er starr auf den Gazka gerichtet. Aber sein Blick ging durch das fremde Wesen hindurch, als sei es nicht vorhanden. »Joseph! Bitte!« Pepes Stimme klang weinerlich. Ein Grollen ließ die beiden zusammenzucken. Es kam von oben, wo Icho Tolot zwischen den Felsen im Dickicht saß und das Gelände beobachtete. »Meine Freunde, ich verstehe euch ja. Aber es geht nicht. Die Gazkar haben euren Roboter zerstört. Begreift das endlich! Bunny wird nie mehr zurückkehren.« »Er hat uns das Leben gerettet«, stieß Joseph Broussard jr. hervor. »Ist das etwa nichts?« Er wandte den Kopf, aber er starrte nicht hinauf zu dem Haluter, sondern hinüber ins Moos, wo Gucky lag und sich unter Schmerzen wand. -295-
»Laßt ... mich ... gehen ...«, ächzte der Ilt zum tausendsten Mal. »Ich ... muß ... dem ... Ruf ... folgen, mich-einreihen-inden-Kreis-der-Probanden.« Er versuchte ähnlich wie Gemba, seine Fesseln zu sprengen, aber die Lianen von Lafayette besaßen eine enorme Festigkeit! Die stereotype Wiederholung seiner Forderung zeugte von der suggestiven Macht, die die veränderte Strahlung des TangleScans auf ihn ausübte. »Wir dürfen dir nicht helfen«, sagte der Beausoleil mit dunkler Stimme, die überhaupt nicht zu seinem kindlichen Gemüt paßte. »Tolot hat es uns verboten.« Der Ilt gab ein Wimmern von sich und versuchte, sich durch Wälzen von der kleinen Lichtung zu entfernen. »Joseph, bitte!« versuchte es Pepe erneut. Tolot verließ seinen Platz und rutschte für seine Verhältnisse gemächlich zu ihnen hinab ins Gras. Für die übrigen Mitglieder der kleinen Gruppe stellte es sich allerdings eher wie ein Felssturz dar. Der Boden bebte, und das Stampfen der Haluterstiefel ähnelte dem Trampeln eines Urweltsauriers. Gewichtsmäßig kam es in etwa hin. Icho Tolot beugte sich zu dem Ilt hinab und streichelte ihn fast zärtlich. »Keine Sorge, Kleiner.« Seine Stimme grollte wie Donner über die Lichtung. »Wir passen auf, daß dir nichts geschieht. Aber du zwingst mich zu einer Maßnahme, die man gewöhnlich nur gegen einen bösen Feind anwendet. Verzeih mir, daß ich es tue. Niemand kann aber verantworten, daß du weiterhin leidest.« Der Haluter richtete den Paralysator auf Guckys Kopf und löste ihn aus. Der Körper des Gequälten erschlaffte und sank zur Seite. Tolot nahm ihn behutsam auf, löste seine Fesseln und bettete ihn ein Stück näher am Felsen ins Gras. »Was hast du mit ihm gemacht?« rief Pepe erbost. »Du bist unser Freund, aber so etwas darfst du nicht tun.« -296-
»Es ist zu seinem Besten.« Der Haluter richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Dann beugte er sich über die beiden Bewohner Lafayettes, die auf Grund ihrer geistigen Behinderung als einzige nicht unter dem Tangle-Scan litten. Sie zählten nicht zu dem, was Gemba als Bund bezeichnete und der für die Eloundar und den Stoff Vivoc von hoher Wichtigkeit sein mußte. »Ist ja gut, Pepe.« Joseph Broussard jr. seufzte. »Icho kennt sich mit Gucky aus und hilft ihm.« Die drei Augen des Haluters flammten über dem Beausoleil. Joseph rückte ein wenig zur Seite. Im Kernschatten des riesigen Wesens fühlte er sich nicht wohl. Tolot gab ein verhaltenes Knurren von sich und wandte sich dem Gazka zu. Dieser war wieder in die Starre verfallen, aus der ihn nur eine Dosis des ätherischen Öls aus dem Kugeltank locken konnte. Der Haluter prüfte Gembas Fesseln und sprang über ihn hinweg auf den Felsen hinauf, um seinen Beobachtungsposten wieder einzunehmen. »Sie sind uns um einen Kilometer näher gekommen«, flüsterte er, so leise es ging. »Wir ziehen uns zurück.« Er lauschte nach innen, testete die Wirkung des veränderten Tangle-Scans auf sein Ordinärhirn und kehrte dann mit erhöhter Vorsicht und beinahe lautlos zu den Gefährten zurück. Er warf sich Gucky und den Gazka über die Schultern, klemmte sich Joseph und Pepe unter die Handlungsarme und ließ sich auf die Laufarme sinken. Dann zwängte sich der Haluter durch das Dickicht am Rand der Lichtung und verschwand in einem Geländeeinschnitt. Hier beschleunigte er und raste davon. Tolot hielt sich auf felsigem Boden, um möglichst keine Spuren zu hinterlassen.
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Von ihrem neuen Versteck aus erkannten sie in weiter Ferne einen der Türme des Raumhafens. Immer wieder kreuzten die kleinen, eiförmigen Schwebefahrzeuge der Neezer ihr Blickfeld. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihnen erneut so nahe kamen, daß sie sich nach einem anderen Versteck umsehen mußten. »Wir sollten ihnen sagen, daß wir ihre Freunde sind«, schlug Pepe vor und deutete zum Himmel. Langsam wurde es dunkel über diesem Teil Lafayettes. »Ich habe Angst vor der Nacht.« »Memme!« schimpfte Joseph Broussard jr. »Bisher warst du immer tapfer genug, im Freien zu übernachten.« »Aber nicht in dieser Nacht. Es ist eine besondere Nacht! Schau mich nicht so an. Ich spüre das. Diesmal wird es geschehen. Die Eloundar werden kommen. Ganz bestimmt.« »Ihr dürft jetzt nicht mehr sprechen«, warnte Icho Tolot. »Schweigt bis morgen früh. Und rührt euch am besten nicht von der Stelle.« Er kontrollierte den Gazka und ließ sich dann bei Gucky nieder, um Wache zu halten. Eine halbe Stunde später begann der Ilt sich langsam zu bewegen. Sein Bewußtsein kehrte zurück, und mit ihm kamen wieder die Schmerzen. Im Unterschied zu dem, was der Haluter bisher über die Wirkung der Strahlung wußte, trat bei dem Mausbiber keine Abschwächung oder Angleichung ein. Er litt, als habe der TängleScan ihn gerade eben erst überwältigt. In Erinnerung an den Protest der beiden Männer mit ihrem kindlichen Gemüt verzichtete Icho Tolot auf einen erneuten Einsatz des Paralysators. Unbemerkt von den beiden, spreizte er die Finger einer Hand und tippte dem Ilt unauffällig gegen den Hinterkopf. Übergangslos sank Gucky wieder in die Bewußtlosigkeit zurück. Der Haluter aber konzentrierte sich auf sich selbst. Tief in seinem Bewußtsein spürte er das Pochen eines unbändigen Verlangens. Es war noch lange nicht zu Ende. Die Drangwäsche -298-
dauerte meist ein paar Wochen bis ein paar Monate, und bisher war es erst der Anfang gewesen. Ein paar Stunden noch, dann vermochte er nicht mehr, seine Beherrschung aufrechtzuerhalten. Und dann konnte er durchaus zur Gefahr für die Gruppe und zum Verräter ihres Standortes werden. Icho Tolot wußte um dieses Problem und versetzte sich mehrmals in dieser Nacht in Selbsthypnose, um den Zeitpunkt so lange wie möglich hinauszuzögern. In den Pausen kommunizierte er mit dem Syntron seines Kampfanzuges und sah nach den beiden Männern des Menschenvolkes. Joseph schnarchte leise, und Pepe redete im Schlaf. Der Gazka stellte sich weiterhin tot. Gucky bekam später bereits die dritte Druckstelle an seinem Hinterkopf, damit seine Psyche nicht unter den quälenden Impressionen der Strahlung litt und Schaden nahm. Tolots Aufmerksamkeit galt immer mehr dem Himmel, nicht dem Horizont. Er hoffte, dort etwas zu sehen oder zumindest eine Spur zu erahnen. Doch es tat sich nichts. Gegen Morgen machte sich der Haluter auf den Weg. Im Umkreis von zwei Kilometern suchte er das Gelände nach den Verfolgern ab. Sie lagerten fünf Kilometer östlich des Raumhafens und bewegten sich nicht mehr vorwärts. Wenig später schienen sie sogar neue Befehle zu erhalten, denn sie zogen ab und wandten sich nach Süden. Minuten später erhellten mehrere Lichtblitze den Horizont und lenkten die Aufmerksamkeit des Haluters auf sich. Zwischen den ausgedehnten Wäldern kräuselte sich kaum erkennbar eine Rauchwolke und zerstob im leichten Morgenwind. Tolot gab ein zufriedenes Knurren von sich. Auf direktem Weg kehrte er in das Versteck zurück und weckte die beiden Schläfer. »Bleibt hier und macht ja keine Dummheiten!« schärfte er Joseph Broussard jr. und Pepe ein. »Es sieht so aus, als hätten wir -299-
Besuch aus dem All erhalten.« »Die Eloundar!« rief Pepe laut. »Nein. Auf die werden die Neezer kaum das Feuer eröffnen. Es kann nur ein Beiboot der RICO sein. Da Atlan von uns keine Nachricht erhalten kann, versucht er auf diesem Weg, Kontakt zu uns herzustellen. Ich werde mich auf die Suche machen. Wartet hier bis zum Abend auf mich.« Joseph Broussard jr. runzelte die Stirn. »Du kehrst auf alle Fälle vor Sonnenuntergang zurück?« »Auf alle Fälle. Ich lasse euch nicht im Stich, meine Kleinen.« Unbemerkt tippte Tolot dem Ilt erneut an den Hinterkopf. »Joseph, wenn Gucky zu sich kommt, versuchst du sofort, ihn mit einem Faustschlag zu betäuben. Aber ganz sanft und sehr vorsichtig.« »Du wirst Gucky nicht weh tun, Jop!« protestierte Pepe. »Icho hat recht. Solange Gucky bewußtlos ist, spürt er keine Schmerzen. Ich werde ihm ein guter Freund sein.« Der Haluter gab ein zufriedenes Brummen von sich und machte sich auf den Weg. Als er sich weit genug vom Versteck entfernt und alle Spuren verwischt hatte, raste er los. Es war ihm jetzt egal, ob sie ihn entdeckten oder nicht. Anhaben konnten sie ihm sowieso nichts. Icho Tolot hatte nur ein einziges Ziel: möglichst schnell den Ort zu erreichen, an dem er die Lichtblitze und den Rauch gesehen hatte. Immer wieder streiften Impulse die Minor Globe. Das Deflektorfeld leitete sie in der ursprünglichen Richtung weiter und restaurierte Frequenz, Wellenlänge und Energiegehalt. Es trat keine Reflexion ein, die auf ein Hindernis hingewiesen hätte. Atlan traute dem Frieden jedoch nicht. Die Gefahr einer Entdeckung stieg, je näher sie den Igeln kamen. In knapp zehntausend Kilometern Entfernung wanderte eines der 600-Meter-Schiffe vorbei. Seine Instrumente tasteten in den freien Raum außerhalb des Kordons und suchten nach Veränderungen. -300-
Atlan hielt unwillkürlich die Luft an. Innerhalb der nächsten Sekunden entschied es sich, ob das Unternehmen ein Erfolg wurde oder nicht. Eines der fächerförmigen Ortungsfelder wanderte zielgerecht durch das All und näherte sich langsam dem kleinen Fahrzeug. Die Finger des Arkoniden schlossen sich um den Kommandowürfel mit den Hauptfunktionen, Das Programm für den Notstart ließ sich mit einem einzigen Fingerdruck oder einem kurzen Befehl aufrufen. Da die akustische Übermittlung länger dauerte als die Reaktion der Hand und Sekundenbruchteile manchmal über Sein oder Nichtsein entscheiden konnten, entschloß sich Atlan für den Fingerdruck. Falls der Syntron ihm nicht die Befehlsgewalt entzog und selbst handelte. Hundert Kilometer über der Minor Globe kam der Fächer zum Stillstand und begann in entgegengesetzter Richtung zu wandern. Atlan entspannte sich und lehnte sich zurück. Unterhalb ihres Kordons orteten die Igelschiffe nicht. Es schien, als würden sich die Fremden hier voll auf die Wirkung des Tangle-Scans verlassen. Leichtsinn führt in den Untergang, kommentierte der Extrasinn. Richte deine Aufmerksamkeit auf die bodengebundene Ortung. Das Vorgehen der Fremden wirkt in allem derart professionell, daß ihr Überwachungssystem garantiert keine Lücken besitzt. Seufzend gab der Arkonide seinem ›zweiten Ich‹ recht. Die Gefahr war noch lange nicht vorüber. »Bist du bereit für den dritten Test?« erkundigte sich der Syntron des Beibootes. »Wenn es unbedingt sein muß. Allerdings halte ich das für Unfug. In meinem Bewußtsein hat sich bisher kein Anhaltspunkt für eine Veränderung ergeben.« »Das kann sich blitzartig wieder ändern. Ein Ausfall deines Extrasinns würde dich umgehend handlungsunfähig machen.« Der Arkonide hielt Zwiesprache mit sich selbst und senkte dann zustimmend den Kopf. -301-
»Eine solche Möglichkeit muß ich in Erwägung ziehen. Immerhin könnte der Tangler die Fähigkeit besitzen, sich auf bestimmte Gegebenheiten von Gehirnen einzustellen. Ob er dazu bei einem Einzelwesen in der Lage ist, erscheint mir allerdings sehr fragwürdig. Bisher arbeitet diese Waffe global, nicht punktuell.« »Es gibt darüber bislang keine gesicherten Erkenntnisse«, widersprach der Syntron. »Achtung, wir erreichen in wenigen Sekunden die nächste Programmposition. Das Bremsmanöver wird eingeleitet.« Atlan überflog die optische Darstellung. »Gib dreißig Prozent weniger Energie auf den Projektor als geplant.« »Einverstanden. Dein Neuro-Enzephalogramm weist übrigens eine leichte Veränderung auf. Was spürst du?« »Eine kaum wahrnehmbare Verstärkung der Impulse. Ein Problem ist es nicht. Der Extrasinn schirmt mich nach wie vor perfekt ab.« »Nimm es jedoch als Anzeichen, daß dein Bewußtsein in Gefahr schwebt.« »Na gut.« Winzige Lichter erschienen über der Konsole und zeigten den Einsatz des Gravoprojektors an. Die Minor Globe baute zaghaft ein Abstoßfeld auf und verstärkte es mit Minimalwerten. Das Feld drückte den Planeten scheinbar vom Fahrzeug weg und verzögerte es dadurch. Der winzigste Fehler in der Abschirmung der Energieemissionen mußte jetzt unweigerlich zur Entdeckung führen. »Zehn Minuten noch bis zur Landung. Sofern sie an der geplanten Stelle erfolgen soll.« »Das ist nicht sicher«, erwiderte Atlan. »Es hängt von den Umständen ab.« Er blickte auf das Hologramm mit der Zoom-Darstellung. Irgendwo dort unten in dieser grünen Hölle hielten sich Gucky -302-
und Icho Tolot auf. Die beiden in den Sümpfen und Dschungeln aufstöbern zu wollen kam der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich. Atlan rechnete jedoch nicht damit, die beiden irgendwo in unzugänglichem Gebiet anzutreffen. Selbst bei einer blinden Teleportation - und danach sah es laut Aussagen des Syntrons der HALUTA II aus - würden die beiden nichts unversucht lassen, sich in bewohnte Gebiete durchzuschlagen. Swamp City, die Hauptstadt an der Westküste Nordikas, mußte auch jetzt noch bewohnt sein. Sofern die Fremden die Siedler nicht in die Wälder getrieben hatten. »Was ist mit dem Test?« erkundigte Atlan sich. »Du wolltest ihn durchführen.« »Er entfällt zunächst. Deine Urteilsfähigkeit hat bisher nicht nachgelassen.« Das Beiboot der RICO begann stärker zu verzögern. Die Minor Globe änderte leicht den Kurs und flog in flachem Winkel auf Lafayette zu. Bei Marke fünftausend erhöhte der Syntron die Leistung des Gravotriebwerks um dreißig Prozent, wenig später um weitere vierzig Prozent. Die obersten Schichten der planetaren Atmosphäre waren nicht mehr weit. Noch immer deutete nichts darauf hin, daß das kleine Fahrzeug entdeckt worden war. Atlan erhob sich und ging von einem Sessel zum anderen. Sassaron und seine zehn Freiwilligen schlummerten unter der Einwirkung der Paralyse vor sich hin. Der zwölftausendjährige Arkonide wandte sich an den Medo-Modula. »Wann erwachen sie?« »Je nach Konstitution in zehn bis fünfzehn Minuten. Da ihr Bewußtsein durch den gezielten Einsatz der Lähmstrahler ausgeschaltet ist, werden sie ein paar Minuten brauchen, bis ihr Kopf wieder völlig klar ist.« -303-
Falls es dazu kam. Bisher gab es keine Anzeichen, daß der Tangle-Scan zur Oberfläche hin schwächer wurde. Wenig später erreichte die Minor Globe die dichten Schichten der Atmosphäre und begann stärker abzubremsen. Im ›Kriechgang‹ sank sie abwärts. Erst in dreißig Kilometer Höhe ging sie in Gleitflug über. Unten raste der planetenumspannende Ozean vorüber. Wenig später wurde es dunkel. Das Fahrzeug tauchte in die Nacht Lafayettes ein. Fast gleichzeitig begann sich Sassaron zu regen. Er tastete mit den Händen an den Sessellehnen entlang und ließ erneut ein gequältes Stöhnen hören. »Kannst du mich hören?« fragte Atlan laut. »Was spürst du? Ist es schwächer geworden?« Ein Gurgeln war die Antwort. Der Chef der Modul-Beiboote auf der RICO klapperte mit den Zähnen und versuchte vergeblich, sich aus den Gurten zu befreien und sich gegen das Prallfeld zu stemmen, das ihn festhielt. »Tut mir leid«, meldete sich der Syntron. »Die Strahlung weist keine Änderung ihrer Intensität auf.« Atlan nickte düster. Die Hoffnung, daß die Strahlung den Planeten nur nach außen hin abschirmte, war von Anfang an trügerisch gewesen. Es ergäbe auch keinen rechten Sinn nach allem, was wir wissen, warf der Extrasinn ein. Die Fremden machen sich die Wirkung des Tanglers auf menschliche Gehirne zunutze, um daraus einen Vorteil zu ziehen. »Reiß dich zusammen«, sagte Atlan zu Sassaron. »Versuch die Schmerzen unter Kontrolle zu bekommen!« Die Lippen des Mannes bewegten sich. Unverständliche Worte drangen über seine Lippen. Nach und nach erwachten die zehn Freiwilligen. Sie zeigten dieselben Symptome wie Sassaron. Bis zur vorgesehenen Landung blieben noch knapp sechs Minuten. -304-
Die Minor Globe überquerte die Tag-Nacht-Grenze. Atlan drückte das Fahrzeug dicht an die Felshänge und ließ es in ihrem Schutz dahingleiten. Inzwischen flog es langsamer als der Schall, ein unsichtbares Gebilde mit minimaler Energieerzeugung. Ungefähr in der Mitte der Felsbastion schien eine riesige Faust das Gebirge gespalten zu haben. Ein Riß von einem halben Kilometer Breite gähnte. Der Arkonide ignorierte das Stöhnen der Freiwilligen. Seine Aufmerksamkeit galt den Instrumenten und den Bildschirmen. Der Felseinschnitt gab einen Blick auf ein trockengelegtes Sumpfland frei. Mittendrin lag Swamp City, die Hauptstadt des Planeten. Davor glänzte die zwei Quadratkilometer große Landefläche des Raumhafens. Es handelte sich um eine betonverstärkte Fläche, wie Atlan wußte. Zugelassen war sie nur für Planetenfähren. Jetzt wimmelte es hier von flunderförmigen Fahrzeugen der Fremden. Über dem Areal schossen eiförmige Gebilde entlang und verteilten sich über das Sumpfland. Sie flogen in einem bestimmten Muster. Als ob sie nach etwas Ausschau hielten ... Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Held von Arkon. Die Gedanken des Extrasinns übermittelten nicht nur Information, sondern auch Stimmung. Und die triefte förmlich vor Sarkasmus. Entweder haben sie uns entdeckt, oder sie folgen der Spur Tolots und Guckys. Atlan lauschte auf das Wispern und Pochen in seinen Gedanken. Es verlor nichts an Intensität. Lediglich das Muster veränderte sich. Das Stöhnen der elf Cameloter verwandelte sich in unablässiges, nicht verständliches Gemurmel. »Stimmauswertung durchführen«, sagte er. »Syntron, was reden sie?« -305-
»›... Ruf ... folgen ... Kreis ... Probanden ...‹ Mehr ist nicht erkennbar.« Die Gebirgsformation endete, und der Arkonide drückte die Minor Globe noch tiefer nach unten. Dicht über den Wipfeln des sich anschließenden Dschungels trieb sie nach Süden. Bisher hatte kein Ortungsstrahl sie erfaßt. Dennoch ... Drüben über dem Raumhafen zeichnete sich eine deutliche Veränderung ab. Die eiförmigen Gebilde strebten nicht mehr sternförmig in alle Richtungen auseinander. Sie änderten den Kurs und beschrieben einen Halbkreis nach Norden und Süden. Gleichzeitig hoben etliche Dutzend Flundern vom Boden ab und zogen ostwärts. Atlan hielt nach einem Versteck Ausschau und entdeckte es in Form einer überwucherten Vertiefung. Er ließ das Fahrzeug absinken, schob es in das Dickicht hinein. Gleichzeitig löste sich eine winzige Beobachtungssonde von der Minor Globe. Sie bezog im Schutz der überwucherten Bäume Position. Traktorstrahlen erfaßten den Pflanzenteppich in der dreihundert Meter durchmessenden Vertiefung und zogen ihn über das Fahrzeug. Innerhalb weniger Sekunden war der alte Zustand wiederhergestellt. Der Syntron projizierte die Aufnahmen der Sonde auf den Hauptschirm. Es gab keinen Zweifel. Die Suche der Fremden galt der Minor Globe. Auf irgendeine Weise haben sie die Ankunft des Schiffes registriert. Sei auf der Hut! »Fertigmachen zum Aussteigen!« wies Atlan die Roboter an. »Bringt so schnell wie möglich die Ausrüstung von Bord. Wir richten am nördlichen Rand der Senke ein vorläufiges Versteck ein.« Die Modulas verschwanden nach hinten. Atlan schaltete die Prallfelder der Sessel ab, ließ aber die Gurte unverändert. Er -306-
öffnete Sassarons Helm. Das Gesicht des Beiboot-Chefs war verzerrt und von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Unablässig murmelte er vor sich hin und versuchte ständig, den Körper von der Stelle zu bewegen. »Du hast es bald geschafft, alter Junge. Kannst du mich hören?« Sassaron stockte einen winzigen Augenblick lang, als müsse er sich an die Stimme erinnern. Dann setzte er sein Gemurmel fort. »Gurte lösen!« wies Atlan den Syntron an. »Ich bringe die Männer aus dem Schiff.« »Was hast du vor?« erkundigte sich die immerfreundliche Stimme. Er setzte es ihr auseinander. »Einverstanden. Es ist die einzige Möglichkeit, die Fremden abzulenken.« Die Arkoniden wiesen deutliche Orientierungsschwierigkeiten auf. Umständlich kletterten sie aus den Sesseln. Atlan brachte seine Begleiter zur Bodenschleuse und gab den SERUNS Anweisung, den östlichen Rand der Vertiefung aufzusuchen und die Insassen abzuschirmen. »Und du? « erkundigte sich der Syntron des Fahrzeugs. »Machst du dich auf die Suche?« »Noch nicht. Ich bleibe bei meinen Leuten und warte das Ergebnis des Täuschungsmanövers ab.« Der Abstand der Flundern betrug inzwischen nur noch vier Kilometer. Die Roboter meldeten, daß sich die Ausrüstung an Ort und Stelle befand. Atlan verließ als letzter die Minor Globe. Er schloß das Schott und blockierte es. »Syntron, du befolgst Programm sechsundfünzigelf-acht-acht«, gab er durch. »Anweisung wird ausgeführt.« Die Minor Globe wartete, bis er sich mit den Gefährten an den Rand der Senke in Sicherheit gebracht hatte. Dann stieg sie mehrere Meter aufwärts und schob sich seitlich unter dem Dickicht hervor. Sie trieb dicht am Boden in Richtung Norden -307-
und entfernte sich zwei Kilometer vom Versteck. Die Sonde im Baumwipfel am Rand der Senke übertrug den Vorgang in die SERUNS, wie das Fahrzeug blitzartig nach oben schnellte und in den dämmerigen Himmel über der Ebene floh. Die Flundern rasten hinterher und eröffneten übergangslos das Feuer. Die Minor Globe vollführte mehrere Ausweichmanöver, konnte jedoch nicht verhindern, daß die Flundern sie einkreisten und mit dem Punktbeschuß auf mehrere Stellen ihrer Schirmstaffel begannen. Augenblicke später lösten sich die HÜ-Schirme in einem energetischen Sprühregen auf. Dann explodierte das Beiboot, und die Trümmer regneten auf den Dschungel nieder. Die Flundern zogen sich in Richtung Raumhafen zurück. Atlan kümmerte sich um seine Begleiter. Trotz des eintretenden Gewöhnungseffekts blieb die Mannschaft der Minor Globe handlungsunfähig. Außer dem intensiven Wunsch, sich in die Schar der Probanden einzureihen, konnte er die Männer zu keiner Äußerung bewegen. Er instruierte die Pikosyns und blickte der Kolonne nach, als die SERUNS mit ihren Insassen nach Osten marschierten. Dies war nicht die Richtung, in die es die Arkoniden drängte. Sie versuchten sich zur Wehr zu setzen. Einen Erfolg erzielten sie nicht. Die Männer steckten in engen Gefängnissen, die sich scheinbar selbständig gemacht hatten. Atlan gab den Robotern ein Zeichen. »Wir trennen uns von ihnen und marschieren ein oder zwei Kilometer nach Norden. Dann wenden wir uns ebenfalls in ihre Richtung und stoßen in ungefähr zwei Stunden wieder zu ihnen. Dies müßte reichen, um unsere Spuren zu verwischen und mögliche Verfolger in die Irre zu führen.« Wie es aussah, verfügten die Fremden auf Lafayette über ein lückenloses Überwachungssystem. Sie würden sich nicht mit -308-
dem Abschuß der Minor Globe begnügen. Das konsequente Vorgehen der Viperiden bestärkte ihn in seinen schlimmsten Befürchtungen. Auf Lafayette ging etwas vor sich, was zu einer Gefahr für die gesamte Galaxis werden konnte. Atlan beschloß, Swamp City einen Besuch abzustatten, sobald sie ein einigermaßen sicheres Versteck gefunden hatten. Bevor die Arkoniden mit dem Transmitter in die RICO zurückkehrten, mußten sie in Erfahrung bringen, was die Invasoren planten. Die Modulas gaben Alarm. Vibrationen im Untergrund wiesen auf ein ziemlich schweres Lebewesen oder Fahrzeug hin, das sich von Norden her näherte. Die dichte Vegetation verhinderte eine Infrarotortung. Der Arkonide ließ die Roboter ausschwärmen. Er selbst suchte im Geäst eines Urwaldriesen Schutz. In dem starken Hell-Dunkel-Kontrast des frühen Morgens entdeckte er bald die Silhouette eines Lebewesens, das sich durch den Dschungel arbeitete und immer wieder anhielt, um zu lauschen. Minuten des Wartens vergingen, dann überquerte es eine Lichtung. Atlans Vermutung bestätigte sich. Es war Icho Tolot. Der Haluter und der Ilt hielten sich in der Nähe der Stadt auf. Tolot hatte die Explosion der Minor Globe beobachtet und kam, um nachzusehen. Atlan stieg vom Baum und ging ihm entgegen. »Tolotos, du brauchst dich nicht mehr zu verstecken. Ich habe dich entdeckt!« rief er über die Außenlautsprecher des SERUNS. »Hundert Meter geradeaus, und du triffst auf uns.« Keine zwei Minuten später tauchte der Koloß aus dem Dickicht auf. »Atlanos, welche Freude, dich zu sehen.« Er musterte die sich sammelnden Roboter. »Du bist allein?« »Nein. Meine Mannschaft marschiert in eine andere Richtung. Ich bin in Ordnung. Du offensichtlich auch.« »Der Tangle-Scan ist offenbar weitgehend machtlos, wenn ein Wesen ein zweites Bewußtsein besitzt«, grollte der Haluter. »Dafür quält er alle anderen um so mehr. Gucky geht es sehr -309-
schlecht. Folgt mir nach Norden. Hier können wir nicht bleiben.« »Zu weit sollten wir uns nicht von unserer Ausrüstung entfernen. Wir führen unter anderem einen Transmitter mit unsere letzte Verbindung zur RICO.« »Das ändert einiges. Wartet auf mich. Ich hole die anderen« »Wen denn noch außer Gucky?« »Joseph Broussard junior und einen Mann namens Pepe. Sie kümmern sich um Gucky und bewachen den Gefangenen.« »Du hast einen der Fremden gefangen?« »Einen Gazka. Alles Weitere nachher.« Tolot verschwand im Gebüsch. Der Boden dröhnte, als sich der Haluter mit hoher Geschwindigkeit auf den Rückweg zu seinen Begleitern machte.
4. Atlan kniete neben Gucky auf den Boden und untersuchte ihn. Der Kleine war bewußtlos, und das war auch gut so. In wachem Zustand hätte er Höllenqualen ausgestanden. Puls und Atem gingen regelmäßig, das beruhigte den Arkoniden. »Es tut mir leid, ihn immer wieder betäuben zu müssen.« Icho Tolot setzte seine beiden anderen Begleiter auf dem Boden ab und hielt jetzt nur noch das Paket mit dem Gazka und den Kugeltank mit dem Duftmittel umklammert. Der Arkonide erhob sich. Sein Blick streifte die beiden Männer. »Joseph, ich freue mich, dich zu sehen.« »Hallo, Atlan. Das ist Pepe. Er ist ein lieber Freund.« Atlan gab Pepe die Hand. Dieser entzog sie ihm hastig. »Du schaust in mich hinein«, sagte er leise. »Ich will das nicht.« »Ist schon gut. Er hat dich nur ein bißchen intensiv ge-310-
mustert«, wiegelte Joseph Broussard jr. ab und boxte Pepe freundschaftlich gegen den Oberarm. »Nimm's nicht übel, Atlan! Er meint es nicht so.« »Schon gut.« Der Arkonide wandte sich Tolot zu und musterte den Gefangenen. Sein Verdacht bestätigte sich nicht. Der Fremde war insektoid, aber kein Viperide. »Er heißt Gemba und ist ein Gazka«, erläuterte der Haluter und stellte ihn auf den Boden. »Er gehörte zu den bewaffneten Insassen eines abgestürzten Sechshundert-Meter-Igelschiffes und bezeichnet sich als Krieger. Insgesamt halten sich Vertreter von drei Völkern auf Lafayette auf.« So schnell es ging, informierte Tolot den Arkoniden über das, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. Atlan identifizierte die Neezer als die Wesen, die sie auf Camelot Viperiden genannt hatten Seine Augen funkelten vor Zorn, als der Haluter seinen Bericht abschloß. »Sie halten die Kolonisten also gefangen. Damit sind alle Zweifel über die heimtückischen Absichten der Fremden beseitigt Worum auch immer es sich bei diesem Stoff Vivoc handelt, sie setzen ihn bestimmt nicht zum Wohl der Kolonisten ein. Wir sind nur zu viert. Gucky und seine Fähigkeiten fehlen uns. Viel können wir nicht ausrichten.« Die Roboter meldeten, daß fünfhundert Gazkar-Krieger in Begleitung von über hundert fliegenden Eiern der Neezer das Gelände durchkämmten und sich ihrem Standort bis auf einen Kilometer genähert hatten. Sie kamen nur langsam voran und drehten vermutlich jeden Busch und jedes Blatt um. »Meine Entscheidung steht fest.« Atlan warf einen besorgten Blick auf den Mausbiber. Es entging ihm nicht, daß Tolot sich nicht nur aus Besorgnis um den Bewußtlosen kümmerte, sondern ihm mit einem seiner Finger einen sanften Stoß gegen den Kopf verpaßte. »Wir kehren zur Senke zurück, aktivieren den Trans-311-
mitter und verschwinden sofort von Lafayette«, schlug er vor. »Verzeih mir, Atlanos. Das ist unmöglich. Ich kann nicht weg. Es gibt viel zu tun. Ich werde Gazkar, Neezer und Alazar aufmischen, wie sie es noch nie erlebt haben. Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich jetzt...« Er hat recht, Kristallprinz. Seine Drangwäsche klingt noch lange nicht ab. Bestimmt kämpft er mühsam um seine Beherrschung. Irgendwann wird er nicht mehr zu halten sein. Atlan nickte stumm. Er rief die Kolonne der Freiwilligen zur Senke zurück und setzte sich an die Spitze der Roboter. Tolot schloß zu ihm auf. »Du bist ein wahrer Freund, Arkonide«, grollte seine Stimme »Ich danke dir. Hör dir meinen Plan an, mit dem wir die Fremden in Sicherheit wiegen können.« Fast gleichzeitig mit den Männern unter Sassarons Kommando erreichten sie die Senke und verkrochen sich im Dickicht. Die Roboter öffneten das Versteck der Ausrüstung und schafften einen Teil davon nach Süden einen anderen nach Osten. Anschließend begannen sie den Transmitter zusammenzusetzen. Die Sonde hing noch immer hoch oben in den Wipfeln und lieferte Aufnahmen des Geländes. Die Gazkar und Neezer befanden sich noch mehr als neunhundert Meter entfernt. Atlan schaltete den Transmitter ein. Da sie keine Möglichkeit besaßen, die Verbindung per Funk anzukündigen, arbeitete das Empfangsgerät an Bord der RICO im Dauerbetrieb. »Gucky zuerst!« wies er die Roboter an. Der Medo-Modula legte den Ilt in das Abstrahlfeld. Der kleine Körper entmaterialisierte. Für den Transport der arkonidischen Freiwilligen sorgten die SERUNS. Nacheinander schwebten sie auf den Transmitter zu und ließen sich an Bord des Schiffes abstrahlen. Atlan hatte den Pikosyns Anweisungen für Gerine, Velito Karemus und die übrige Besatzung des GILGAMESCH-Mo-312-
duls mitgegeben. In zehn Lichtsekunden Entfernung von Lafayette bereitete man sich auf einen gebührenden Empfang des ersten Fremden vor. Icho Tolot übernahm es, den verschnürten Gazka in das Feld zu schubsen. Anschließend schickte er die Kugel mit dem Duftstoff hinterher, der den Krieger »lebendig« machte. »Und jetzt ihr«, sagte Atlan zu Joseph Broussard jr. und Pepe. Die beiden Männer schüttelten trotzig die Köpfe. »Wir wollen nicht weg. Dies ist unsere Heimat. Wir lassen uns nicht einfach vertreiben. Und wir lassen euch nicht im Stich. Besser als wir kennt sich in Swamp City keiner aus.« Atlan hielt stumme Zwiesprache mit dem Haluter. Tolot bewegte sich nicht, aber seine Augen glühten ein wenig heller als sonst. Es signalisierte Zustimmung. »Wenn ihr euch keine Eigenmächtigkeiten zuschulden kommen laßt, die uns zum Nachteil gereichen, haben wir nichts dagegen einzuwenden und arbeiten gern mit euch zusammen«, lenkte Atlan ein. »Ja. Ja, natürlich.« Pepe begann vor Freude herumzuhüpfen, bis Joseph ihn am Ärmel zog. Die Roboter zerlegten den Transmitter und verteilten die Einzelteile auf ein größeres Gebiet. Sie vergruben sie in mehreren Metern Tiefe, wo sie nicht so schnell geortet werden konnten. Die Koordinaten legten sie in Atlans Pikosyn und Tolots Autarkspeicher ab. Dann machten sie sich daran, die Ausrüstung auf fünf verschiedene Depots zu verteilen. Jeweils zwei Modulas richteten gemäß Tolots Plan in jedem Depot eine Verteidigungsstellung ein, so daß es den Anschein hatte, daß hier das letzte Aufgebot des zerstörten Schiffes wartete. Atlan wandte sich an die Gefährten. »Laßt uns ein brauchbares Versteck suchen.« »Ein solches existiert bereits«, eröffnete Tolot. »Es gibt sogar mehrere Verstecke, die wir als Ausgangsbasis für unsere Vor-313-
stöße nutzen können. Wenn ihr erlaubt?« Er klemmte sich Joseph und Pepe unter die Laufarme und setzte Atlan auf seine rechte Schulter. Dann rannte er davon, als seien alle Teufel der Galaxis hinter ihm her.
Der Felsen ragte auf halbem Weg zum Versteck der letzten Nacht aus dem Dschungel empor. Viel war von der steinigen Oberfläche nicht zu erkennen. Die üppig wuchernde Pflanzenwelt des Planeten nutzte jede Möglichkeit, sich so stark wie möglich zu vermehren. Aus der Deckung armdicker Ranken genossen die Galaktiker einen Ausblick über die gesamte Ebene. Rechts am Horizont ragte Swamp City auf. Im Süden, Norden und Osten der Stadt schillerten Hunderte, wenn nicht Tausende der Eier in der Luft. Sie zeigten die Standorte der Suchgruppen am Boden an. Entweder überwachten sie die Gazkar, oder sie koordinierten die Suche. Oder beides. Das erste fliegende Ei erreichte die Senke. Augenblicke später stach ein gleißender Energiefinger zwischen die Baumwipfel. Eine winzige Explosion erfolgte. Sie hatten die Sonde entdeckt und vernichtet. An möglichen Informationen aus dem kugelförmigen Gebilde schienen sie nicht interessiert. Bis zum ersten Depot brauchten sie beinahe eine halbe Stunde Standardzeit. Da die Bodentruppen in einer lang gezogenen Reihe von mehreren Kilometern Länge vorangingen, stellten sie die vier heimlichen Beobachter auf eine lange Geduldsprobe. Die Modulas ergriffen von sich aus die Initiative. Sie eröffneten das Feuer und verrieten zwei der fünf Standorte. Augenblicklich wechselten Gazkar und Neezer ihre Positionen. Die lange Reihe der Bodentruppen zog sich zusammen und schwärmte in ein engbegrenztes Gebiet aus. Gazkar erwiesen sich als schnelle Läufer. Sie überwanden die -314-
Entfernungen von teilweise mehreren Kilometern in kurzer Zeit. Offensichtlich hatten die Fremden nicht mit einer derart massiven Gegenwehr gerechnet. Die Kampfkraft der Modulas überrumpelte sie. Mehrere der fliegenden Eier zerplatzten unter dem Beschuß mit Thermoraketen und verpufften in einer Wolke heißer Gase. Die Neezer zogen sich ein Stück zurück und überließen den Gazkar die Fortführung des Kampfes. Immer wieder aber mußten sie dennoch bis an die Frontlinie vorrücken, um den Duftstoff für die Krieger zu verteilen, damit diese sich orientieren konnten. Dies führte zur Vernichtung eines weiteren Dutzends ihrer Fahrzeuge. Atlan hatte ebenso wenig Gewissensbisse wie Icho Tolot. Die Kompromißlosigkeit, mit der die Fremden gegen die Bevölkerungen von über vierzig Planeten vorgingen, erlaubte nicht zu viel Menschlichkeit. Es wäre töricht gewesen, sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Die Bedrohung war fundamental, und dagegen halfen weder Beschwörungen noch Verhandlungen, sondern allein die Stärke der Waffen. Bedrohungen dieser Art hatte es in der Wechsel vollen Geschichte der Milchstraße immer wieder gegeben. Die erste Stellung fiel unter dem massierten Angriff der Gazkar und Neezer. Die beiden Modulas opferten ihre Existenz und vernichteten sich selbst und die Ausrüstung, die sie bewachten. Die Explosion riß eine Gruppe Angreifer mit in den Tod. Ihr weiteres Vorrücken konnte das nicht aufhalten. Der Kampf dauerte bis kurz nach Mittag. Als Collore den Zenit überschritten hatte, vergingen der letzte Kampfroboter und der Medo-Modula im Feuer der Belagerer. Die Gazkar strömten zusammen und begannen, die fremde Ausrüstung zu untersuchen. Diesmal hatten die Roboter den Sprengsatz mit einer Verzögerung programmiert. Das Depot -315-
ging in die Luft, als sich die Gazkar gerade anschickten, die ersten Teile zu verladen. Fünf Rauchwolken hingen über dem Dschungel und wurden langsam kleiner. Icho Tolots Taktik ging auf. Die Krieger unterzogen die übrig gebliebenen Klumpen aus geschmolzenem Metall einer kurzen Musterung, dann zogen sie sich in die Stadt zurück. Mit: ihnen verschwanden auch die Eier der Neezer. »Der Weg nach Swamp City ist frei«, sagte Atlan. Er musterte die beiden Kolonisten. Joseph Broussard jr. und Pepe strahlten vor Begeisterung. Die Schlacht im Dschungel schienen sie gar nicht richtig mitbekommen zu haben. »Brechen wir gleich auf?« fragte Pepe. »Nein. Wir warten eine Weile. Niemand vermutet uns jetzt noch hier. Den Vorteil der Handlungsfreiheit und den Überraschungseffekt sollten wir uns nicht gleich wieder nehmen lassen. Was meinst du, Icho?« Der Haluter stand an der Felskante und stützte sich mit den Laufarmen ab. »Wartet hier auf mich«, drang es undeutlich und verzerrt aus seinem Mund. Er bekam das Übergewicht und stürzte in die Tiefe. Joseph und Pepe stießen einen Schrei aus und wollten ihn festhalten. Allan fing sie mit rasch ausgestrecktem Arm auf. »Keine Dummheiten!« warnte er. »Wir tun, was er sagt.« Drunten verschwand der Haluter gerade im Dickicht und hinterließ eine Spur der Zerstörung.
5. Die Info-Galerie im Medozentrum der RICO erwachte zu hektischem Leben. Mehrere Dutzend Hologramme bauten sich auf. -316-
»Achtung, Velito Karemus in den Hauptsaal!« verkündete ein Rundruf. »Die Teams sind einsatzbereit. Velito Karemus bitte sofort in den Hauptsaal!« Wenig später stürzte der Chefmediziner herein. Er trug eine leichte Nachtkombination, über die er sich unter etlichen Verrenkungen den antiseptischen Mantel zog. Eine schüsselförmige Servoeinheit mit vier kurzen und zwei langen Tentakeln surrte aufgeregt neben ihm her Sie wusch ihm das Gesicht und die Hände, putzte seine Nase und besprühte ihn mit Desinfektionslösung. Erst dann gab sie so etwas wie ein Freizeichen von sich. Der Kontrollsyntron meldete: »Velito Karemus ist eingetroffen und übernimmt die Aufsicht.« Der Arkonide erreichte mühsam einen Grad an Konzentration, so daß er die Eindrücke auf den Hologrammen verarbeiten konnte. In einer der technischen Sektionen schwebten nacheinander elf SERUNS mit ihren Insassen aus dem Transmitter. »So früh schon?« wunderte sich der Arzt. Seit dem Abdocken der Minor Globe waren gerade dreieinhalb Stunden vergangen. Die SERUNS beschleunigten und rasten durch einen reservierten Antigravschacht hinab in die Medostation. Dort nahmen Roboter sie in Empfang. Karemus beachtete es kaum. Seine Blicke ruhten auf der Gestalt, die bereits vor Sassarons Gruppe durch den Empfänger gekommen war. In einem Antigravfeld schwebte sie herein und an ihm vorbei in den Hauptsaal. So schnell ihn die Beine trugen, rannte er hinterher. Gucky! Von den Fähigkeiten und Späßen des Ilts hatte der ehemalige Schickimicki-Arzt von Arkon I viel gehört und im Ansatz auch schon erlebt. Jetzt lag ein Fellknäuel mit zwei herabhängenden Ohren in einer zerschlissenen Bordkombination vor ihm, und Karemus wußte nicht so richtig, ob es lebte oder tot war. Hastig zog er einen schwebenden Analysator zu sich heran. -317-
Herz und Kreislauf belastet, aber stabil. Atmung unregelmäßig. Tendenz fallend. Beatmung vorbereiten! Nichts leichter als das. Dennoch machte es ihm angst. Wenn Gucky in Gefahr war und sie machten etwas falsch ... Die Medos reagierten bereits und verteilten sich über dem Schwebefeld. Einer öffnete mit seinen Lamellententakeln die Kombination und zog sie dem Ilt vorsichtig vom Leib. Velito Karemus angelte sich eine der Gesichtsmasken und hielt dem nächstbesten Servo die Hände hin. Die Maschine streifte ihm Handschuhe über, die fast bis zu den Ellenbogen reichten. »Rasierzeug bereithalten!« »Ist bereit.« Wenn sie einen Luftröhrenschnitt machen mußten, kam es auf jede Sekunde an. Nach altbewährter Manier begann er den Brustkorb des Mausbibers abzuklopfen und lauschte auf die Resonanz. Im nächsten Augenblick schalt er sich einen Narren. Ein Ilt besaß ebenso wie Terraner keine Brustplatten, also brachte das Klopfen wenig. Umständlich begann er mit der Bauchmassage und achtete gleichzeitig darauf, daß die Maschinen den bepelzten Körper bei der Vorbereitung für eine mögliche Infusion nicht verletzten. Endlich fand der Arkonide die richtige Stelle unter dem Brustbein und pumpte gleichmäßig. »Kalte Kompresse in den Nacken!« ordnete er an. Auf ein Medikament verzichtete er vorsichtshalber. Bei Wesen mit Parafähigkeiten mußte man mit schlimmsten Nebenwirkungen rechnen. »Die Atmung wird stabil, Velito.« Der arkonidische Arzt entspannte sich. Diesmal machte er sich nicht die Mühe, seine Erleichterung hinter der gewohnten Maske aus Überlegenheit zu verbergen. Um Sassaron und die zehn Freiwilligen mußte er sich nicht sorgen. Die erwachten nach einiger Zeit und hatten höchstens einen Brummschädel. -318-
Aber Gucky... Im Geiste sah er bereits Atlan durch die Tür treten. »Du hast Gucky auf dem Gewissen!« schrie er ihn an. »Du bist entlassen. Unfähige Leute haben in der RICO nichts zu suchen. Verschwinde und tritt mir nie mehr unter die Augen!« Ein Seufzer der Erleichterung entglitt dem Arzt. Er kam aus tiefstem Herzen. Gucky wies so gut wie keine Anzeichen einer Belastung mehr auf. Knapp sechs Minuten nach dem Verlassen des Transmitters klangen die Nachwirkungen des Tangle-Scans deutlich ab. Kreislauf und Atmung sind normal, meldete der Analysator. Es liegt keine medikamentöse Bewußtlosigkeit vor. Velito Karemus atmete auf. Das war immerhin etwas. Sorgfältig begann er den Kopf des Ilts zu untersuchen. Seine Finger spürten nichts, aber mit Hilfe einer elektrischen Sonde entdeckte er ein halbes Dutzend winziger Schwellungen auf der Kopfhaut. Jemand hatte mit einem stumpfen Gegenstand Druck ausgeübt und bewirkt, daß Gucky das Bewußtsein verloren hatte. »Gut gedacht«, murmelte er anerkennend. »Das hat ihm Schmerzen erspart.« Nur der Haluter kam für eine derartig wirkungsvolle Pressur in Frage. Schlußfolgerungen auf den Zustand Tolots überließ Karemus anderen. Seine Aufgabe endete spätestens dann, wenn der Patient den Saal gesund und auf eigenen Beinen verließ. Karemus musterte den Ilt und zuckte zusammen. Der Mausbiber, wie die Terraner ihn gern nannten, hatte die Augen geöffnet und starrte ihn vorwurfsvoll an. »Was machst du da eigentlich?« piepste er empört und richtete sich auf. Im nächsten Augenblick sank er mit einem Schmerzenslaut zurück. »Ich tue alles, damit dir bald nichts mehr weh tut.« »Na ja, das ist doch was«, säuselte Gucky. -319-
Der Ilt schlief übergangslos ein. Leise Schnarchtöne drangen aus seinem Mund. Mit Flüsterstimme brach Velito Karemus alle Vorbereitungen für den Ernstfall ab. Einen einzigen Roboter beließ er über dem Antigravfeld. Dieser überwachte Guckys Schlaf und würde Alarm schlagen, sobald sich der Zustand des Patienten verschlechterte. Beim derzeitigen Stand der Dinge war aus medizinischer Sicht nicht damit zu rechnen. Aber wer konnte bei einem Mutanten schon sagen, ob seine Natur sich an die Erfahrungen eines der besten Arzte der Galaxis hielt? Karemus nahm die Maske ab und zog die Handschuhe aus. »Ich bin drüben bei Sassaron und seinen Leuten«, sagte er. Den Gedanken an ungestörten Schlaf bis zum Abend hatte er längst aufgegeben.
Der Chef der Modul-Beiboote raufte sich die Haare. Er hörte damit auch nicht auf, als er mit seinen Begleitern die Kommandozentrale erreichte und Augenblicke später Gerine gegenübertrat. »Ohne Erinnerung ist man keinen Schuß Pulver wert«, dokumentierte er den Ausflug seiner Elf-Mann-Crew nach Lafayette. »Ich sitze noch immer in der Minor Globe und warte darauf, daß endlich die Wirkung des Tangle-Scans einsetzt. Außer dem Eindruck starker Schmerzen ist fast nichts geblieben, nicht einmal die Schmerzen selbst. Ich weiß weder, was beim Anflug auf Lafayette, noch auf dem Planeten selbst geschehen ist. Es existieren ein paar flüchtige Eindrücke, aber ich kann sie nicht zuordnen. Sie können genauso gut aus einem früheren Leben oder von einer anderen Person stammen.« Gerine, Atlans Stellvertreterin, deutete auf die Holoprojektionen. »Seht's euch an! Atlans SERUN hat alles peinlich genau dokumentiert.« -320-
Gemeinsam vertieften sie sich in die Aufzeichnungen und erlebten minutiös mit, was sich ereignet hatte. Sie spürten ihren eigenen Qualen nach und erfuhren, daß Atlan immun gegen den Zwang der fremden Strahlung war. Die Ereignisse auf Lafayette verfolgten sie mehr oder minder belustigt. Daß Atlan sie spazieren geschickt hatte, um die anrückenden Suchtruppen der Fremden zu täuschen, tauchte in keiner ihrer Erinnerungen auf. Zwei Freiwillige klammerten sich an eine vage Ahnung, einem riesigen Monstrum begegnet zu sein, das sie in einen feurigen Schlund warf. Das Monstrum stellte sich als Icho Tolot heraus, und bei dem feurigen Schlund handelte es sich ohne Zweifel um das Transmitterfeld, das sie zurück in die RICO abgestrahlt hatte. An die Begegnung mit einem bewußtlosen Pelzwesen konnte sich lediglich einer der Arkoniden entsinnen. Bei den anderen streikte die Erinnerung. »Atlan und der Haluter sind als einzige auf Lafayette geblieben«, erläuterte Gerine, während die Aufzeichnung endete und das Hologramm erlosch. »Die beiden Kolonisten befinden sich bei ihnen. Alles, was Icho Tolot allein und mit Hilfe von Joseph und Pepe herausgefunden hat, steckte in den Speichern eurer Pikosyns. Wir haben das Material gesichtet und erste Schlüsse daraus gezogen. Das Erg...« Ihr Kopf fuhr ruckartig zur Seite. Das ausdrucksstarke Gesicht der maskulin wirkenden Arkonidin wirkte übergangslos erheitert. »Da bist du endlich«, sagte sie. »Ich habe früher mit dir gerechnet.« Gucky saß im Schneidersitz auf einem Terminal und zupfte an den grünen Haaren einer Funkerin. »Du bist mir nicht böse, nein?« sagte er und meinte beide, die Funkerin und die Stellvertretende Kommandantin des GILGAMESCH-Moduls. Sein Nagezahn blitzte im gelben Licht der Decken- und Wandlampen. »Nein, gib dir keine Mühe, Gerine! Ich nehme dir das nicht ab.« -321-
»Du liest in meinen Gedanken. Das ist nicht fair!« empörte sich die Arkonidin. Gucky schwebte majestätisch von dem Terminal herab auf sie zu. Dicht vor ihr blieb er in der Luft hängen. »Stimmt nicht«, piepste er. »Ich interpretiere lediglich deine Körperhaltung und deine Mimik. Im übrigen habe ich nicht viel Zeit. Der Ruf läßt mir keine Zeit. Ich werde mich so schnell wie möglich in den Kreis der Probanden einreihen.« Er hob beide Hände. »Keine Angst. Ich leide nicht mehr unter dem Zwang, das zu tun. Der ausgiebige Schlaf von umgerechnet vierunddreißig Minuten hat mir gutgetan. Was ich damit sagen will, ist, daß der Eindruck der Suggestion in mir noch immer sehr eindringlich nachwirkt.« »Eine Folge deiner Begabung. Macht es dir Beschwerden?« »Nein, überhaupt nicht.« Abrupt wechselte der Ilt das Thema. »Die vollständige Aufzeichnung sehe ich mir später an, wenn du nichts dagegen hast. Es gibt wichtigere Dinge. Die Menschen auf Lafayette leiden. Und die Fremden wollen irgend etwas mit ihnen anstellen. Weiß Icho Tolot, was es ist?« »Nein. Niemand weiß es bisher«, antwortete Ambras, der wissenschaftliche Leiter des Schiffes. »Aber wir werden es herausfinden. Wozu haben wir unseren Gefangenen?« »Gefangenen?« Gucky ließ sich fallen und kam auf den Beinen zu stehen. »Warum weiß ich das noch nicht?« »Weil er hinter einer Schutzschirm-Staffel steckt. Der Fremde ist ein Krieger aus dem Volk der Gazkar. Sein Name lautet Gemba.« Gucky streckte Gerine eine seiner kleinen Hände entgegen. Die Arkonidin ergriff sie vorsichtig. »Danke«, sagte der Ilt. »Es ist eine Ehre für mich.« »Würdest du uns bitte aufklären, was ...«, begann Sassaron. »Gerine hat mir soeben die Erlaubnis erteilt, den Geizkragen, ich meine natürlich den Gazka, zu verhören.« -322-
Er verschwand. Gucky war unterwegs, um sein Vorhaben auszuführen.
Ein riesiger Skarabäus! Gucky trat ein und ließ die Tür zufahren. Mühsam bezähmte er seinen Drang, den Boden der Halle zu verlassen und einmal um die Schirmblase herumzuschweben. Den beiden Kampfrobotern warf er einen schiefen Blick zu. Gucky hatte sich auf dem Weg zur Halle über alle Daten informieren lassen, die Atlan und Icho Tolot mitgeschickt hatten. Die Roboter schalteten eine Strukturlücke, und der Ilt marschierte hindurch. Er verschränkte die Arme und ließ seinen Nagezahn blitzen. »Hallo, Gemba! Ich bin Gucky!« rief er laut. »Kann es sein, daß wir uns schon einmal begegnet sind?« Der für die Überwachung zuständige Syntron übersetzte die Worte. Eine Reaktion erzielten sie nicht. Der Gazka stellte sich weiterhin tot. Seine Körperfunktionen arbeiteten auf einem Minimum. Nach menschlichem Ermessen war er tot. »Wenn ich die Einflüsterungen des Syntrons richtig verstanden habe, dann gibt es hier ein Gas, das dich wieder zum Leben erweckt. Wo ist es? Ah, da drüben.« Die Kugel setzte sich in Bewegung und schwebte wie von Geisterhand bewegt durch die Strukturlücke. Vor Gucky blieb sie hängen. Der Ilt öffnete das Ventil und entließ eine kleine Portion des Duftstoffes. Die Wirkung war verblüffend. Gemba sprang auf und rannte vor ihm weg. Gleichzeitig erwachten auch seine Gedanken. Während die Kugel wieder hinausschwebte und die Strukturlücke sich schloß, ertastete der Gazka die Ausmaße seines Gefängnisses. Dabei berührte er nie die Schirmstaffel. »Es ist unhöflich, seinem Gastgeber den Rücken zuzuwenden«, schimpfte der Ilt. »Wenn du dich etwas bemühen -323-
wolltest? Ich stehe hinter dir und bin eine Winzigkeit kleiner als du. Bilde dir aber bloß nichts dabei ein.« Die Gedanken des Insektoiden verrieten Ratlosigkeit und Verwirrung. Im Gegensatz dazu drehte sich Gemba mit einer Behendigkeit um, die Gucky ihm nicht zugetraut hätte. Die rötlichen Facettenaugen schillerten in allen Farben des Regenbogens. Das mittlere Armpaar vollführte Zangenbewegungen, als wolle das Wesen Gucky packen. »Bist du Bund?« »Woher soll ich das wissen? Spezifiziere Bund.« »Bund ist Bund.« »Die Bewohner von Lafayette sind Bund?« »Sie sind es. Hervorragender Resonanzboden. Exzellente Klassifikation. Viel besser als die Vecharer, die einst für mich die Patenschaft übernommen haben.« »Du bist ein Einzelkind?« »Ich bin der Krieger Gemba.« »Ein Gazka unter vielen also. Sind alle auf Amkrir geboren?« Gemba reagierte verunsichert. Er trippelte hin und her und krümmte seinen Körper ein Stück zurück. Seine Gedanken waren ein einziges Fragezeichen. Er wußte die Antwort nicht. »Neben den Gazkar befinden sich andere Wesen auf Lafayette«, bohrte Gucky weiter. »Neezer und Alazar. Welche Aufgabe haben sie?« »Du weißt nichts vom Universum.« »Stimmt, Gemba. Du weißt mehr. Ich bin sehr wißbegierig.« Der für Menschen und Ilts ungefährliche Duftstoff machte den Gazka in gewissem Sinn euphorisch. Er begann wie ein Wasserfall zu reden. Dabei suchte er ständig in seinen Gürteln nach Dingen, die sich nicht mehr an Ort und Stelle befanden. Sofort nach der Ankunft in der RICO hatten die Roboter den Gefangenen »entwaffnet«. Der Gazka überschüttete den Ilt mit Informationen, die sie aus -324-
Tolots Bericht bereits kannten. Gembas Geburtsort lag in Tolkandir, viele Lichtjahre entfernt. Über die genaue Entfernung besaß er ebenso wenig eine Vorstellung wie über das Aussehen der Vecharer, die auf seiner Geburtswelt lebten. Seine Erinnerung setzte erst richtig ein, als er sich bereits auf dem Weg zu seinem ersten Einsatzgebiet in der Milchstraße befand. »Meine Aufgaben sind der Kampf gegen Feinde und der Schutz des Bundes. Die Neezer erkunden die Resonanz, und die Alazar betreuen die Technik.« »Das ist nicht alles«, warf Gucky ein. »Da gibt es noch die Eloundar. Was weißt du über sie?« »Die Eloundar bringen den wertvollen Stoff Vivoc. Die Alazar haben den Bund auf Lafayette für die Ebokazza vorbereitet. Die Zeit ist nahe.« »Dein Zeitgefühl in allen Ehren, Gemba. Die Menschen auf dem Planeten erwarten also etwas. Ist es richtig, daß sie ebenso wie die Vecharer eine Patenschaft übernehmen sollen?« »Ja, ja. Sie erhalten ein Geschenk. Und die heiligen Eloundar sind unterwegs und bringen es. Alle, die Bund sind, werden es empfangen.« »Habt ihr den Bund gefragt, ob er einverstanden ist?« Der Gazka reagierte irritiert. Seine Gedanken waren offenbar nicht in der Lage, die Frage zu verarbeiten. »Deine Worte sind unklar. Jeder Bund freut sich. Er kann die Ankunft kaum erwarten. Bund zu sein ist das höchste Glück!« »Auf Lafayette hast du versucht, dich gegen Aktionen von Bund zu wehren. Du erinnerst dich? Du wolltest fliehen, weil die beiden Wesen Joseph und Pepe dich festhielten.« »Ihr Verhalten wich von dem ab, was ich von Bund gewohnt war. Bestimmt haben sie inzwischen den richtigen Weg gefunden.« »Davon bin ich überzeugt. Was weißt du sonst noch über die Eloundar?« -325-
»Sie sind die Heiligen. Die Betreuer des Vivoc.« »Du verfügst über ein erstaunliches Wissen, Gemba.« »Es ist das Wissen eines Kriegers. Begleite mich nach Lafayette. Die Alazar werden prüfen, ob du guter Bund bist.« »Darüber sollten wir ein andermal reden.« Gucky hielt ihn mit Hilfe der Telekinese unmerklich von sich ab und verließ rückwärts die Schirmstaffel. Dann eilte er aus der Halle und teleportierte in die Zentrale, genau auf Sassarons Arme. Der Arkonide ließ ihn vor Schreck fallen. Sanft wie eine Feder schwebte Gucky zu einer Konsole und ließ sich auf ihr nieder. »Na, was sagt ihr dazu?« »Gut gemacht, Kleiner«, lobte Gerine. »Wir wissen eine Winzigkeit mehr als zuvor. Die Kolonisten befinden sich in höchster Gefahr.«
6. Das rote Ungeheuer brach durch das Unterholz und entwurzelte Bäume, als seien es kleine Halme. Immer wieder stieß es ein Grollen aus. Nach kurzer Pause folgte das Gebrüll einer ganzen Horde urweltlicher Saurier. Die Patrouillen der Neezer, die ab und zu in geringer Höhe über dem Urwald dahinflogen, kümmerten sich nicht darum. In den Dschungeln Lafayettes gab es wilde Tiere aller Größen, die solches und ähnliches Gebrüll von sich gaben. Manche lebten in Bäumen, andere mitten im gefährlichen Sumpf. Auch die wenigen höher gelegenen Waldregionen beherbergten wilde, unzähmbare Kreaturen, die auf alles losgingen, was sich bewegte. Icho Tolot bremste und brachte sich unter einem überhängenden Felsen in Sicherheit. Eines der fliegenden Eier -326-
unterschritt den von ihm festgelegten Mindestabstand von dreihundert Metern. Der Haluter erstarrte und wartete ab, bis das Fahrzeug außer Sichtweite gekommen war. Die Nähe zur Stadt war zu groß. Patrouillen der Fremden konnten überall auftauchen und ihn überraschen. Der Kampfanzug verriet ihn, sobald er in den Erfassungsbereich einer Kamera geriet. Entschlossen öffnete Tolot die Verschlüsse und streifte den Anzug ab. Er rollte ihn zusammen und legte den Strahler dazu. Beides deponierte er in einer Kuhle und schichtete schwere Felsbrocken darüber. Niemand außer ihm vermochte jetzt, dieses Versteck von Hand auszuräumen. Von allem befreit, was ihn optisch zu einem Intelligenzwesen stempelte, fühlte er sich umgehend freier. Sein Körper war bis in die letzte Muskelfaser zum Zerreißen gespannt. Die aufgestauten Energien drängten danach, sich explosionsartig zu entladen. Tolot verwandelte seine äußere Körperstruktur, bis sie die Festigkeit von Terkonitstahl erreichte. Dann ging er auf das Felsmassiv los, als sei es ein Gegner, den er von dieser Welt vertreiben mußte. Die wuchtigen Schläge seiner vier Arme sprengten Stück um Stück aus dem Gestein heraus. Splitter und Brocken flogen nach allen Seiten. Der Haluter stieß Laute des Wohlbehagens aus. Eine halbe Stunde verging, dann erinnerte nichts mehr daran, daß es hier eine steinerne Bastion mit einem Durchmesser von gut zwanzig Metern und einer Höhe von zehn Metern gegeben hatte. Die Trümmer lagen weit verstreut, und der zerfaserte Sockel im Boden erinnerte an eine schorfige Wunde in der sonst makellosen Oberfläche des Dschungelbodens. Icho Tolot lockerte die Verfestigung seiner Körperoberfläche und rannte weiter. In dreißig Meter langen Sprüngen brach er durch das Dickicht. Kleines Getier brachte sich mit heftigem Gezeter in Sicherheit. Ab und zu funkelten ihn aus dem Halb-327-
dunkel Augen an. Doch keines der Tiere wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen. Der Haluter brüllte herausfordernd. Bestimmt war es kilometerweit zu hören. Er mobilisierte alle tierischen Instinkte, die in einem Wesen seines Volkes schlummerten. Bei der Drangwäsche handelte es sich um ein Relikt. Damals vor über fünfzigtausend Jahren, als seine Vorfahren als Bestien in die Milchstraße eingefallen waren, hatten sich die Lemurer mit dem sogenannten Psychogen-Generator zur Wehr gesetzt. In der Folge entwickelten sich aus den Bestien die friedfertigen Haluter. Sie zogen sich von allen besetzten Welten nach Halut zurück und lebten dort ausschließlich ihren Neigungen und der Vervollkommnung ihrer Wissenschaft und Technik. Nur die Drangwäsche blieb von der Vergangenheit. Immer wieder brach sie aus und zwang den Betroffenen dazu, die aufgestauten Energien abzureagieren. Haluter stürzten sich in einem solchen Fall gern in Kampfeinsätze oder behalfen sich auf anderem Weg, indem sie sich in aussichtslose Situationen begaben, die ihnen alle Kraft abverlangten. Pech war es, wenn wie hier auf Lafayette die Voraussetzungen für beides fehlten. Der Dschungel mit seinen Bewohnern stellte für einen Aktivatorträger keine Herausforderung dar. Und auch die Angehörigen der drei auf dem Planeten gelandeten Völker betrachtete Icho Tolot nicht als ernsthafte Gegner. Zumindest nicht im Sinn einer Drangwäsche. Er stoppte mitten im rasenden Lauf und begann, gegen einen Wall aus Bäumen und Schlingpflanzen zu kämpfen. Eine der Pflanzenarten verschoß giftige Dornen, aber sie prallten wirkungslos an seiner Körperoberfläche ab. Tolot revanchierte sich und mähte die Pflanzen nieder, als bestünden seine Arme und Hände aus scharfen Klingen. Er entfesselte einen regelrechten Orkan und hörte erst auf, als nichts mehr seine Sicht behinderte. -328-
Gleichzeitig aber geschah noch etwas. In seinem Kopf wuchs die Kraft des Ordinärhirns, das für die Instinktsteuerung verantwortlich zeichnete. Unter normalen Umständen stellte das keine Gefahr dar. Bei jeder Drangwäsche nahm die Steuerung durch das Ordinärhirn zu und überlagerte den ausgleichenden Einfluß des Planhirns. Es handelte sich also um einen völlig normalen Vorgang. In diesem Fall jedoch bedeutete es, daß die Wirkung des Tangle-Scans auf Tolots Bewußtsein sprunghaft anstieg. Der Haluter stöhnte auf und sank zu Boden. In seinem Schädel hämmerte es, und er verspürte starke Schmerzen. Unverständliche Laute kamen aus seinem Mund. Auf allen sechsen begann er auf seiner Spur zurückzukriechen. »In die Stadt«, ächzte er. »Einreihen ...« Eine Weile folgte er der Schneise der Zerstörung. In dieser Zeit ließ der Drang in seinem Ordinärhirn langsam nach, und das Planhirn erhielt wieder die Oberhand und drängte den Einfluß der gefährlichen Strahlung zurück. Tolot richtete sich auf und kämpfte minutenlang gegen seine Orientierungslosigkeit an. Die Erinnerung an die letzte Stunde setzte wieder ein. Alarmiert ließ er sich ins Dickicht sinken und begann, auf ein paar Blättern herumzukauen, die ihm ins Gesicht hingen. Bisher hatte sich der Tangle-Scan nicht auf seine Drangwäsche ausgewirkt. Aber zu diesem Zeitpunkt befand er sich auch noch in den ersten Phasen seines Austobens. Tolot erkannte die Gefahr, in der er sich befand. Wenn er die Kontrolle über sich verlor, erging es ihm wie den Kolonisten. Vielleicht mit dem Unterschied, daß die Invasoren nichts mit ihm anfangen konnten, weil er keinen brauchbaren Bund darstellte. Intensiver Geruch nach Ammoniak alarmierte ihn. Der Haluter sprang auf und trat aus dem Gebüsch. Sie hatten ihn eingekreist. Drei Dutzend Raubechsen mit dicker, moosgrüner -329-
Schwarte und messerscharfen Zähnen machten sich bereit, ihre Beute zu zerreißen. Tolots Augen leuchteten gefährlich auf. Er verfestigte seine Körperstruktur bis zu einem Wert von siebzig Prozent und stieß ein Gebrüll aus, das den zwei Meter hohen Dschungelbewohnern vermutlich die Trommelfelle platzen ließ. Mehrere von ihnen bewegten sich rückwärts. Die anderen aber duckten sich zum Sprung und schnellten sich ihm mit aller Kraft entgegen. Es war, als prallten sie gegen eine Felswand. Mit knirschenden Geräuschen brachen Halswirbel und Gliedmaßen. Tolot fing einen Teil von ihnen mit den Armen ab und verhinderte so, daß sie sich ernsthaft verletzten. Er warf sie von sich und ließ erneut ein Gebrüll hören, das durchaus in der Lage war, ganze Herden von Schreckwürmern zu verscheuchen. Bei den Echsen erreichte er diese Wirkung nicht. Ein Teil der gesunden Tiere stürzte sich auf die verletzten und begann, sie bei lebendigem Leib zu zerreißen. Icho Tolot setzte mit einem Fünfzehn-Meter-Sprung über sie hinweg und entfesselte erneut seine gewaltigen Körperkräfte. Vier Arme wirbelten und frästen einen drei Meter tiefen Graben in den Boden. Die nächste Welle des zwanghaften Kräfteverbrauchs erfaßte den Haluter, und wieder begann sein Kopf zu schmerzen. Und er vernahm die lautlose und monotone Botschaft, die sinngemäß bedeutete: »Reihe dich ein in den Reigen der Probanden. Glückseligkeit erwartet dich.« Trotz des halb wahnsinnig machenden Schmerzes verspürte Tolot ein erstes Glücksgefühl.
Die Stadt ruhte auf trockengelegtem Sumpfland. Ihr ursprünglicher Kern bestand aus containerartigen, bis zu fünf Stockwerken hohen Fertighäusern. Um ihn herum gruppierten sich in -330-
unregelmäßigem Muster Holzhäuser. So etwas wie einen Bebauungsplan gab es nicht. Jeder hatte sein Eigenheim genau da hingestellt, wo es ihm in den Sinn gekommen war. Ein Dutzend Prachtbauten wiesen auf die Präsenz finanzkräftiger Firmen auf Lafayette hin. Aber auch sie hatten aufgrund des großzügigen Platzangebots mehr in die Breite als in die Höhe gebaut. Die Grünanlagen zwischen den Gebäuden machten einen ungepflegten Eindruck. Da keiner der Kolonisten in der Lage war, seinen Garten zu bestellen, wucherte das üppige Grün nach Lust und Laune. Das einzig echte und dauerhafte Schmuckstück, so hatte Atlan von Icho Tolot erfahren, bildete der Zoo der Hauptstadt, in dem einheimische Tiere in Freigehegen lebten. Für Besucher aus dem All stellte es die Attraktion dar. Inzwischen waren die Tiere ausgebrochen und größtenteils in den Dschungel zurückgekehrt. Ein paar blieben in der Nähe der Menschen. Die Invasoren ignorierten ihre Anwesenheit in den meisten Fällen. Manchmal erschossen sie eines, wenn es sie behinderte. »Fertig, Atlan!« Joseph Broussard jr. erhob sich aus der Kauerstellung. Pepe zeichnete noch ein paar Schnörkel ein, die seiner Meinung nach Entwässerungsgräben darstellten. Dann gab er den Stift und die Folie an den Arkoniden zurück. Atlan musterte den Stadtplan, den die beiden in stundenlanger Arbeit erstellt hatten. Joseph deutete mit dem Finger dorthin, wo das Zentrum lag. »Schau her. Die Markierungen bezeichnen alle großen Gebäude. Siehst du das Rechteck mit den zwei Kreuzchen?« Atlan nickte. »In diesem Haus hab' ich Menschen gesehen. Sie benahmen sich merkwürdig. So ganz anders. Ich bekam richtig Angst.« Atlan kannte die wichtigsten Einzelheiten bereits durch Tolots Schilderung. »Wie viele Alazar hast du gesehen, Joseph?« -331-
»Einen einzigen. Und den nicht genau. Es tut mir leid. Ich mußte mich vor den Gazkar verstecken.« Atlan spähte an den Ranken vorbei zur Silhouette der Stadt und dem Turm, der die genaue Position des Raumhafens anzeigte. »Kannst du mir noch den Turm einzeichnen? Dann haben wir eine bessere Orientierung.« Joseph nahm ihm die Folie aus der Hand und drehte sie ein paarmal hin und her. »Der Hafen liegt von diesem Gebäude aus in östlicher Richtung«, murmelte er. »Die Jefferson Street führt nach Südosten. Das ist die hier. Sie kreuzt den Place de la Concorde an dieser Stelle. Dann steht der Turm da!« »Falsch.« Pepe deutete auf eine andere Stelle weiter unten. »Da!« Die beiden begannen sich halblaut zu streiten, bis Atlan sie mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen brachte. »Hört auf! Das bringt nichts. Wir werden Icho Tolot fragen. Sein Planhirn speichert solche Dinge automatisch.« Pepe bekam große Augen und starrte hinüber zu Collore. Der gelbe Stern stand bereits dicht über dem Dschungel und schickte sich an unterzugehen. »Automatisch?« »Haluter besitzen zwei Gehirne.« Broussard jr. knuffte den Gefährten freundschaftlich in den Arm. »Noch nie davon gehört?« Pepe schüttelte den Kopf. »Warum weiß ich so wenig, Joseph?« »Ganz einfach. Weil wir auf einem Hinterwäldlerplaneten leben.« Die Dämmerung brach herein, und eine Stunde später kam die Nacht. Sie zogen sich in das Dickicht zurück, und Atlans SERUN trat die Nachtwache an. Bis weit nach Mitternacht dauerte es, dann meldete sich der Pikosyn und kündigte die Rückkehr des Haluters an. Wenig später zeichnete sich gegen den sternenklaren Himmel die -332-
Silhouette des Freundes ab. Tolot - im roten Kampfanzug kauerte sich zu Boden und rührte sich nicht. Atlan wartete zwei Stunden, ehe er das Wort ergriff. »Wie geht es dir?« »Es ist vorüber.« Das Grollen brach sich im Pflanzengewirr. »Aber es kommt sicher wieder, wenn auch nicht mehr so stark. Laß uns aufbrechen. Wir müssen herausfinden, worauf die Alazar die Siedler vorbereiten. Was ist dieses Vivoc?« Der Arkonide weckte Joseph und Pepe. »Icho ist zurück«, machte er ihnen begreiflich. »Schlaft weiter. Wir machen uns auf den Weg.« »Nein, nein.« Joseph Broussard jr. war übergangslos munter. »Das könnt ihr nicht mit uns machen. Es war ein Fehler, dir die Karte zu zeichnen. Gib sie uns zurück! Wir werden euch führen.« »Ihr habt keine Waffen und keine Ausrüstung«, wehrte sich Atlan so nachsichtig wie möglich. »Ihr könnt euch nicht unsichtbar machen. Die Gazkar würden euch sofort entdecken, und dann wäre alles verraten. Bleibt im Versteck. Wir kehren regelmäßig hierher zurück.« Fast eine Viertelstunde redete er auf sie ein, bis sie endlich einsahen, daß sein Vorschlag am sinnvollsten war. »Also gut«, meinte Joseph Brousard dann. »Wir warten auf euch. Wenn ihr nach vierundzwanzig Stunden nicht aufgetaucht seid, suchen wir euch.« Atlan und Icho Tolot waren einverstanden. Die beiden Unsterblichen machten sich auf den Weg in die Stadt.
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7. »Die Intensität nimmt zu!« Atlan blieb stehen und wartete, bis Tolot zu ihm aufschloß und sich die beiden Deflektorfelder überlappten. Der Haluter beugte sich vornüber, um dem Arkoniden ins Gesicht sehen zu können. Die beiden Aktivatorträger trugen die Helme der SERUNS offen und verzichteten vorläufig auf den Einsatz der Funkgeräte. »Du hast recht«, flüsterte der Riese in seinem roten Kampfanzug. »Auch ich spüre es.« Im Bewußtsein des Arkoniden manifestierte sich das Wispern und Flüstern zu einer Aussage. Wie alle, die unter dem Einfluß des Tangle-Scans litten, verstand Atlan sie als Aufforderung, sich in den Kreis der Probanden einzureihen und auf ein bald eintretendes Ereignis zu warten. Er drängte den Logiksektor, die Abschirmung zu verstärken. Als die Eindringlichkeit der Botschaft nachließ, atmete er auf. Den winzigen Rest konnte er durch intensive Gedankenarbeit vollständig aus seinem Bewußtsein verdrängen. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, Atlan.« Tolot nahm den Arkoniden auf einen seiner Laufarme und rannte weiter. Den zweiten Arm hielt er schützend über den Kopf des einstigen Kristallprinzen. Mit den Handlungsarmen bog er Zweige und Äste zur Seite, die bei dieser Geschwindigkeit wie messerscharfe Peitschen wirkten. Der Dschungel verschluckte sie. Mit Absicht wählte Icho Tolot den Weg durch das dickste Dickicht und unter den üppigsten Baumkronen entlang. Die Gazkar und die fliegenden Eier der Neezer hatten sich zurückgezogen, aber das wollte nichts heißen. Vielleicht gab es automatische Stationen, die im Dschungel verborgen lauerten und auf Abweichungen vom ge-334-
wohnten Bild und von der gewohnten Geräuschkulisse achteten. Eineinhalb Stunden ließ Tolot sich Zeit, bis sie die zerfaserte Peripherie des Urwaldes erreichten und zwischen ineinander verschlungenen Ranken den ersten Blick auf die Stadt riskieren konnten. Die Intensität des Tangle-Scans nahm nun nicht weiter zu. »Gib mir drei Stunden, Freund Atlan«, grollte der Haluter und arbeitete sich weiter voran. »Und ich verspreche dir, daß es danach weder Gazkar noch Neezer oder Alazar in dieser Stadt gibt. Sie werden in Panik fliehen und ihren Tangle-Scan mitnehmen.« »Ich kann dich gut verstehen, Icho. Aber es wäre keine gute Lösung. Wir müssen wissen, was sie tun. Und vor allem, wie und warum sie es tun. Erst dann können wir sinnvolle Dinge tun. In welcher Gefahr schweben die LFT-Kolonisten hier und auf den zweiundvierzig anderen Welten?« »Du hast recht. Erst das Wissen, dann der Spaß. Ich werde versuchen, mich unter Kontrolle zu halten.« In Sichtweite der ersten Blockhütten hielt Tolot an. Er schloß den Helm seines Kampfanzugs, und Atlan tat es ihm nach. Beide schalteten den Helmfunk ein und justierten ihn auf minimale Leistung. »Ich sehe sie.« Icho deutete mit dem rechten Handlungsarm an den Hütten vorbei. »Es sind Gazkar, und sie scheinen nach altterranischer Manier zu exerzieren.« Tolot wechselte den Standort, und jetzt sah auch Atlan die aufrecht gehenden Krieger aus den 600-Meter-Igelschiffen, Er zählte die Zacken der Hornkronen auf ihren Köpfen. »Vierzig Siebzehner«, sagte er. »Sie werden von einem Sechzehner kommandiert.« Die Anzahl der Zacken symbolisierte den Rang, den ein Gazka in der Hierarchie seines Volkes bekleidete. Diese hier zählten wie Gemba zu den niedrigsten Rängen. Mit höchster -335-
Wahrscheinlichkeit gehörten sie ebenfalls zu den Amkrir-Geborenen. Die Gazkar vollführten geometrische Übungen. Mit etwas Fantasie konnte man tatsächlich denken, daß sie alte terranische Gepflogenheiten imitierten. Es ergab bloß keinen Sinn. Atlan starrte zu ihnen hinüber, bis seine Augen brannten. »Sie halten winzige Gegenstände im unteren Armpaar«, erkannte er. »Kannst du feststellen, was sie damit tun?« Tolots drei rubinrote Augen besaßen ein anderes Auflösungsvermögen als die zwei des Arkoniden. Der Haluter bewegte sich ein Stück nach rechts, um die Perspektive leicht zu verändern. »Sie bestrahlen den Boden.« Auf die Gefahr hin, daß eine Wachstation die Emissionen anmaß, schickte er einen Taststrahl hinüber. »Sie verändern die molekulare Struktur der Pflanzen.« »Wir gehen näher ran«, entschied der Arkonide. »Laß mich runter!« Icho Tolot stellte ihn auf den Boden zurück. »Danke. Siehst du links drüben den Wohncontainer? Dort treffen wir uns in zehn Minuten.« Der Haluter signalisierte Einverständnis. Atlan verließ den Bereich seines Deflektorfeldes und eilte in der Deckung üppig wuchernder Büsche weiter. Die Blockhütten waren unbewohnt. Fenster und Türen standen offen. Kleineres Getier aus dem Dschungel schickte sich an, die Behausungen zu inspizieren und in Anspruch zu nehmen. Der Arkonide überquerte einen mit Steinplatten belegten Weg und sprang über einen aus verdorrten Schlingpflanzen bestehenden Gartenzaun. Hinter einem Schuppen ging er in Deckung und spähte zu den Gazkar hinüber. Die kegelförmigen Gebilde in ihren Greifklauen erinnerten Atlan an die Aufsätze altmodischer Gießkannen, wie es sie auf fast allen von Humanoiden bewohnten Planeten der Galaxis zu irgendeinem Zeitpunkt mal gegeben hatte. Eine unmittelbare Auswirkung der molekularen Veränderung ließ sich nicht feststellen. -336-
Der Arkonide rannte weiter und bemühte sich, keine allzu deutlichen Spuren auf dem Boden zu hinterlassen. Er verließ das Grundstück durch das offene Gartentor und überquerte eine betonierte Straße. Die gleichmäßige Staubschicht zeigte an, daß hier seit Wochen keine Fahrzeuge mehr entlanggekommen waren. In den feinen Ritzen am Straßenrand hatten sich erste Samen festgesetzt und bildeten einen grünen Saum. Ein paar Wochen noch, und hier wuchsen die ersten Gräser und Büsche und trieben ihre Wurzeln unter den Beton, um ihn zu sprengen und beständig zu zersetzen. Atlan stockte mitten im Schritt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter dem halbhohen Wurzelwerk einer exotischen Mangrovenart begann eine andere Welt. Die Blockhütten lagen in einem einzigen See aus grünem Schlick. An manchen Stellen trocknete der Brei bereits ab, an anderen wellte er sich im leichten Wind, der zwischen den Hütten entlang strich. Die Behausungen in diesem See wirkten merkwürdig fremd, gerade so, als gehörten sie nicht hierher, sondern auf einen fremden Planeten. Sieh genau hin! Es ist keine optische Täuschung. Die Blockhütten besaßen keine Konturen. Die einzelnen Bohlen und Bretter ließen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Schattierungen fehlten. Alles war gleichmäßig hell und von ockergelber Farbe. »Die Bestrahlung! Sie verändern die Stadt. Wozu?« Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Halt nach weiteren Indizien Ausschau! Die zehn Minuten waren fast um. Atlan lief die Straße entlang und bog hinter der nächsten Häuserreihe ab. Der Container tauchte vor ihm auf, und sein SERUN führte den Arkoniden exakt zu der Stelle, an der Tolot auf ihn wartete. Wieder verschmolzen die beiden Deflektorfelder miteinander. -337-
»Du hast es also auch entdeckt«, empfing der Haluter hin. »Die Zeit ist nah. Die Eloundar kommen und bringen Vivoc. Die Invasoren werden nicht nur die Stadt verändern, sondern auch die Kolonisten.« »In wenigen Stunden wird Swamp City keine Ähnlichkeit mehr mit der Stadt haben, die wir von früher kennen«, stimmte Atlan zu. »Am besten ist, wir trennen uns und dringen so schnell wie möglich zum Zentrum vor. Wir treffen uns in vier Stunden auf der Rückseite des Gebäudes, in dem du dich bereits schon einmal aufgehalten hast.« »Gut, mein Freund. Wenn du nicht kommst, weiß ich, daß sie dich gefangengenommen haben. Dann holt Icho Tolot dich heraus.« Der Arkonide grinste. »Im umgekehrten Fall wird es genauso sein. Bis bald!« »Viel Glück, Freund!« Tolot löste sich aus dem gemeinsamen Feld und rannte davon. Der Boden dröhnte, und die riesigen Fußstapfen zeichneten sich auf dem pflanzenüberwucherten Untergrund ab. Nach einer halben Minute begannen sie zu verblassen. Die Natur Lafayettes stellte den ursprünglichen Zustand wieder her. Auch Atlan brach auf. Eine zweite Gruppe Gazkar mit ihren Bestrahlungsinstrumenten näherte sich. Die Anwesenheit eines Unsichtbaren nahmen sie nicht wahr. Nach Tolots Erfahrungen verließen Gazkar und Neezer sich in erster Linie auf ihre optischen Sinne. Und die konnte man mit einem handlichen galaktischen Deflektor leicht täuschen. Die molekularen Veränderungen erstreckten sich lediglich auf die Randsiedlungen, wie Atlan mit Erleichterung feststellte. Das Zentrum der Stadt war nicht davon betroffen. Hier wucherte die Natur ungehindert in die Höhe und die Breite. Die Gazkar störten sich nicht daran. Wenn die Duftbahnen es ihnen vorgaben, trampelten sie über das Grünzeug oder machten einen Bogen darum herum. -338-
Versprich dir nicht zu viel von diesem Vorstoß, warnte der Extrasinn. Der Haluter und du, ihr steht auf verlorenem Posten. Gegen Tausende Gazkar und Angehörige der anderen Völker richtet ihr nichts aus. Atlan wußte das, aber dennoch stimmte er seinem Logiksektor nicht vorbehaltlos zu. Wir müssen herausfinden, was geschieht, und gleichzeitig die Kolonisten vor einem ungewissen Schicksal bewahren, gab er die Gedankenantwort. Narr! Warum hast du dann nicht eine Robotflotte herbeizitiert, als du deine Begleiter mit dem Transmitter zurück in die RICO schicktest? Altan schnaubte. Weil eine solche Flotte nicht zur Verfügung steht. Die Kräfte der LFT sind über den Hauptwelten gebunden, und was das Galaktikum von Hilfsmaßnahmen hält, ist dir ebenso bekannt wie mir. Und ein einzelnes Schiff oder ein kleiner Verband würde nichts ausrichten. Wir sind auf uns allein angewiesen, solange wir keine Beweise vorlegen können, was auf Lafayette und den anderen besetzten Welten tatsächlich geschieht. Und selbst dann... Er ließ den Gedanken offen und verließ die Nische, in der er mehrere Minuten lang verharrt hatte. Durch die Straßen patrouillierten Gazkar, und je weiter der Arkonide in das Zentrum von Swamp City vordrang, desto höher wurde ihre Zahl. Die Containergebäude der Siedler ragten kahl und leer in die Höhe. Äußerlich erinnerte nichts daran, daß hier bis vor wenigen Wochen Menschen gelebt hatten. Türen und Fenster standen offen. Atlan sah Möbel, auf den Kopf gestellt oder am Boden zerstreut. Teppiche waren in dünne Schnitzel zersägt, Fensterrahmen verbeult und Wände eingedrückt. Die Schäden stammten nicht von den Gazkar, Neezer oder Alazar. Die Menschen selbst hatten sie angerichtet. Unter den vom Tangle-Scan erzeugten -339-
Schmerzen und Wahnvorstellungen hatten manche ihre Beherrschung verloren. Inzwischen war es ihnen mit Sicherheit egal, denn sie besaßen keinen eigenen Willen mehr. Der Arkonide blickte nach oben. Die Eier der Neezer vollführten waghalsige Manöver über den Straßenschluchten. Sie versprühten die Duftbahnen für die Gazkar, an denen diese sich orientierten. Kreuz und quer zogen sie dahin, kehrten wieder um, sprühten erneut und ließen ihre Luftfahrzeuge teilweise bis dicht über dem Boden durchsacken. Sieh dich vor! Es sieht aus, als würden sie den Verstand verlieren. Es muß mit der bevorstehenden Ankunft der Eloundar und von Vivoc zusammenhängen. Drei Eier näherten sich in hektischem Taumel und sackten in die Avenue des Immortales hinein. Dicht über den Köpfen der Gazkar rasten sie dahin. Vorsicht, Atlan! Dein Leben ist in Gefahr! Der Arkonide warf sich bereits zur Seite. Eines der Fahrzeuge streifte fast sein Deflektorfeld. Der Pilot zog sein Ei nach links hinüber, kreuzte die Bahn eines Artgenossen und stieg fast senkrecht in die Höhe. Dann ließ er es steil nach unten fallen. Atlan spurtete auf den nächstbesten Hauseingang zu und schnellte sich ins Innere. Die Tür existierte nicht mehr. An der Wand fehlte Mörtel. Die Treppe bestand aus Holz und hing schief in ihren Befestigungen. Der Arkonide rollte sich in den toten Winkel unter der Treppe und atmete erst einmal auf. Draußen krachte es. Zwei der fliegenden Eier prallten in steilem Winkel gegeneinander. Kleine Explosionen folgten. Über der Straße stiegen winzige Sonnen auf und erhellten die Umgebung. Trümmer regneten auf die Gazkar herab. Ein Stück Metall schlug dicht vor dem Eingang ein und blieb zitternd im Plastboden stecken. Schreie der Gazkar brandeten auf. Das dritte Ei sank langsam vor dem Hauseingang herab. Dort verharrte es, ohne das etwas geschah. -340-
Atlan entschloß sich, einen Blick auf die Straße zu wagen. Er schlich ins Freie und bewegte sich keine drei Meter von dem intakten Ei an der Fassade entlang. Ein halbes Dutzend Gazkar lag herum, von den Trümmern der beiden Fahrzeuge erschlagen. Die anderen kümmerten sich nicht um den Vorfall. Sie stießen kurze, laute Schreie aus und folgten den verwirrenden Duftbahnen. »Das Ei emittiert Strahlung im Langwellenbereich«, meldete der Pikosyn des SERUNS. »Sie ist nicht zielgerichtet, sondern geht nach allen Seiten. Möglicherweise handelt es sich um eine Abstandsortung.« Der Arkonide beschleunigte seinen Schritt und begann, zwischen den hektisch kurvenden Gazkar Slalom zu laufen. Auf den Einsatz seines SERUNS wollte er in dieser Situation verzichten. Sein Unternehmen ergab nur dann einen Sinn, wenn er so lang wie möglich unentdeckt blieb. Zwischen sechzig torkelnden und unberechenbaren Gazkar vollführte er akrobatische Verrenkungen und Sprünge. Er begann zu schwitzen, und der SERUN schaltete die Kühlung ein und fächelte ihm Luft ins Gesicht. Endlich tauchte das Ende der Straße auf. Die Avenue des Immortales mündete in einen der großen Plätze der Stadt. Dicht über den Köpfen der etwa zweihundert versammelten Gazkar vollführten zwei Dutzend Fahrzeuge eine Art Eiertanz. Teilweise berührten sie sich und stießen sich gegenseitig ab. Hoch über ihnen vollbrachten andere einen wirren und nicht nachvollziehbaren Streudienst. Die Gazkar am Boden gerieten in eine Art Rausch. Sie drehten sich umeinander, spielten mit ihren Feketts und hantierten an verschiedenen Instrumenten ihrer Gürtel, ohne von ihrem labyrinthähnlichen Fußmarsch über den Platz abzulassen. Der Arkonide nutzte die entstehenden Lücken und überquerte den Platz. Eines der großen Gebäude tauchte in seinem Ge-341-
sichtsfeld auf. Es entsprach Tolots und Josephs Beschreibung. Dahinter ragte das höchste Bauwerk der gesamten Stadt auf, die Niederlassung der Interstellar Food Company mit Hauptsitz auf Olymp. Es war ein offenes Geheimnis, daß dahinter die Kosmische Hanse steckte. Die Company existierte bereits seit mehreren tausend Jahren und ging auf eine Idee von Homer G. Adams zurück. Du machst einen Fehler. Schau genau hin! Es sind mehr Gazkar als zuvor; und dennoch wird es nicht enger. Du hast ein Vielfaches an Platz zur Verfügung. Der Abstand zu den Gazkar betrug fünf, sechs Meter. Und überall, wo er sich hinwandte, blieb dieser Abstand erhalten. Ein Zufall, dachte Atlan. Sie tanzen wie verrückt. Ein Schatten tauchte über ihm auf. Eines der fliegenden Eier befand sich unmittelbar über ihm und rückte nicht mehr von der Stelle. Als Atlan seinen Gang beschleunigte, folgte das Ei und fixierte seinen Standort. Du bist entdeckt. »Pikosyn, was ist mit der Ortung?« »Keine Ortung, keine Strahlung. Das Ei über dir hat keine Möglichkeiten, dich oder das Deflektorfeld zu entdecken.« Der Arkonide wechselte die Straßenseite und bewegte sich zielgerichtet auf eine Gruppe der Krieger zu. Sie bewegten sich auseinander, folgten den unsichtbaren Bahnen, die ihnen die Neezer vorgegeben hatten, und fanden sich hinter ihm erneut zu einer homogenen Gruppe zusammen. Das Ei aber blieb über ihm. »Bist du sicher, daß es keine Lücken in meiner Abschirmung gibt?« »Keine. Der Deflektor arbeitet im Standby-Modus. Solange kein Zusammenprall mit einem Gazka erfolgt, muß dem Schirm keine zusätzliche Energie zugeführt werden. Du bist für die Fremden effektiv nicht vorhanden.« -342-
Dennoch. Wieder spurtete Atlan los, rannte die Straße entlang und wechselte mehrfach Tempo und Richtung. Das Ei blieb über ihm und hielt einen Mindestabstand von sechs Metern ein. Und dann tauchte über den Dächern ein Verband aus zwölf dieser Fahrzeuge auf. Sie vollführten keine Kapriolen und hatten eindeutig nicht den Auftrag, Duftbahnen zu versprühen. Sie kamen in drei Viererreihen über die Dachkante und schwebten herab in die Straße. Du bist entdeckt, wiederholte der Extrasinn. Reagiere endlich! Atlan zögerte. Ein paar Gazkar liefen wie betrunken in Schlangenlinien oder kleinen Kreisen umher. Einer schlug mit dem Fekett ständig auf seine Zackenkrone ein. Dann richtete er die Waffe plötzlich gegen seinen Körper und löste sie aus. Optisch war nichts zu erkennen. Der Krieger brach wie vom Blitz gefällt zusammen und blieb liegen. Der Arkonide ging davon aus, daß das Wesen sich getötet hatte. Die Eier in der Luft zitterten unruhig hin und her. Die Gelegenheit war günstig, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Atlan aktivierte das Antriebsaggregat des SERUNS und flog mit mittlerer Beschleunigung davon. Das Ei, das seinen Standort bisher aus der Luft fixiert hatte, verlor ihn aus der Erfassung und trieb eine Weile unschlüssig hin und her. »Schnelle Bewegung hilft. Ich werde das in Zukunft berücksichtigen.« Der Pikosyn signalisierte Zustimmung. »Wohin willst du?« »Geradeaus, zur Interstellar Food Company.« Zwei Meter über den Köpfen der tanzenden und wankenden Gazkar flog Atlan dahin. Eine Kreuzung noch, dann ragten die höchsten Gebäude von Swamp City vor ihm auf. Hier begann die Sperrzone, hierher hatten die Fremden die Kolonisten geschafft. Übergangslos endete auch das Chaos der Düfte und der Gazkar. -343-
Vor den Gebäuden patrouillierten die Krieger und beobachteten mit Hilfe kleiner Geräte die Umgebung. An mehreren Stellen sammelten sie sich und begannen offensichtlich mit der Suche nach jemandem.
8. »Seht euch das an!« Sevia deutete auf die Orterschirme. Dann löste sie Alarm aus. Ein Pulk aus zwanzig Igeln aller drei bekannten Größen zeichnete sich ab. In ihrer Mitte befand sich ein Schiff bisher unbekannter Bauart. Die Flotte verließ den Hyperraum, und sofort breiteten sich im Hyperspektrum die stakkatoartigen Störgeräusche aus. Die Besatzung der RICO verzichtete gern darauf, diesen durch Mark und Bein gehenden Rhythmus erneut hörbar zu machen. Das einundzwanzigste Schiff leuchtete in goldrotem Farbton. Es war achthundert Meter lang und maß nur zweihundert Meter im Durchmesser. Um den kugelförmig vorgewölbten Bug spann sich ein Kranz aus hundert feinen, fünfzig Meter langen Antennen. Über die Schiffshülle verteilt saßen zwanzig der bekannten Kämme. Das Heck wies vier deltaförmige Flossen auf. Gucky tauchte zwischen den Sesseln der Kommandozentrale auf. »Schnell!« rief er. »Solange der Duftstoff der Neezer noch wirkt, sollten wir Gemba fragen. Projiziert ihm die Aufnahme in sein Gefängnis.«. Die Reaktion des Gazka ließ nicht lange auf sich warten. Er sank vor Ehrfurcht auf alle sechs Gliedmaßen nieder. »Die vier Heiligen sind eingetroffen«, hörten sie ihn jubeln. »Die Betreuer -344-
der Resonanzwelt verhelfen dem Bund zum höchsten Glück!« Die zwanzig Begleitschiffe verteilten sich rund um den Planeten, während die Eloundar der Oberfläche von Lafayette entgegen sanken. »Sie bringen Vivoc«, flüsterte Gucky heiser. »Wieso unternehmt ihr nichts? Schnell, schickt ein Robotschiff hinab!« »Sinnlos.« Gerines Stimme klang hart. »Du kennst Atlans Anweisung. Er hat ausdrücklich darauf bestanden, daß wir innerhalb der ersten drei Tage keinen Kontakt zu ihm aufnehmen sollen. Die Fremden ahnen nicht, daß sich vier Personen auf Lafayette befinden, die gegen den Tangle-Scan sozusagen immun sind. Wenn wir ein Beiboot hinabschicken, machen wir diesen Vorteil zunichte. Also warten wir. Atlan, Tolot und die beiden Kolonisten befinden sich in der Nähe von Swamp City und werden die Landung beobachten. Sie werden die richtigen Schlüsse ziehen.« »Ja, ja. Schon gut. Wieso bin ich bloß derart gehandikapt? Dieser blöde Tangle-Scan. Können die nicht eine andere Strahlung verwenden?«
9. Hunderte von Gazkar säumten die Gebäude. Sie bildeten einen nahezu undurchdringlichen Kordon. Atlan flog auf das Flachdach der Company und näherte sich der Mündung des Antigravschachtes. Hier oben gab es keine Wachen. Die Gazkar gingen wohl davon aus, daß Eindringlinge nur von unten kommen konnten. Falsch gedacht! Der Tangle-Scan verhindert, daß sich jemand dem Planeten nähert. Die Wachen sollen eher ver-345-
hindern, daß sich Bund aus dem Staub macht. Wesen wie Tolot und du sind eine absolute Ausnahme. Das Verhalten der Fremden zeigt, daß sie mit solchen Erscheinungsformen intelligenten Lebens keine näheren Erfahrungen gemacht haben. Sie sind nur an Bund interessiert. Was immer mit Bund gemeint sein mochte - die Interpretation des Begriffs ließ noch keinen gezielten Verdacht über die Vorgänge zu. Der Antigravschacht war abgeschaltet. Atlan ließ sich zwei Etagen nach unten sinken und verließ die Röhre an der Stelle, wo ein Schriftzug anzeigte, daß es hier zum Kontor ging. Die Interstellar Food Company verwendete nicht von ungefähr Bezeichnungen, wie sie bei der Kosmischen Hanse üblich waren. Im Korridor hielten sich Fremde auf. Atlan kannte die Wesen aus Joseph Broussards Schilderung. Sie glichen jedoch nur entfernt den knorrigen, baumähnlichen Wesen, als die der Beausoleil sie aus der Ferne empfunden und beschrieben hatte. Alazar besaßen eine Größe von annähernd zweieinhalb Metern. Ihre Köpfe ähnelten denen von terranischen Pferden oder eher noch tingarischen Erdbohrern und erreichten eine Länge von einem Meter. Kleine, weiße Knopfaugen lagen tief in ihren Höhlen. Unterhalb des Kopfes ragten seitlich zwei Arme von dunkelgrüner Farbe aus dem Rumpf, an denen je sechs wurmartige Finger saßen. Der Oberkörper wirkte verwachsen und wies etliche Knorpelwülste auf. Der Unterkörper war schlank und mehrfach geschnürt. Er sah aus wie bandagiert, doch es handelte sich um ein grünes Exoskelett, das dem schlanken Körperende Halt bot. Den Kontakt zum Boden stellten achtzehn Pseudopodien her, die das Körperende kranzförmig umgaben. Zusammen mit den Hunderten wurmähnlicher Fortsätze am Hinterkopf erweckten sie den Eindruck, als handle es sich bei ihnen tatsächlich um pflanzliche Lebewesen. In einer schilfbewachsenen, seichten -346-
Umgebung würde man sie nicht sofort als intelligente Lebewesen erkennen. Der Arkonide blieb stehen und lauschte. Die Alazar unterhielten sich mit dünnen, hellen Stimmen in einer Art Singsang. Atlans fotografisches Gedächtnis identifizierte die Sprache sofort. Es handelte sich um dasselbe Idiom, das auch Gazkar und Neezer benutzten. Offensichtlich handelte es sich um eine Verkehrssprache ihrer Heimat, vergleichbar mit dem Interkosmo der Milchstraße. »Sie reden über das, was bevorsteht«, flüsterte ihm der Piko- syn zu. »Die Ebokazza wird ein Erfolg. Die Bewohner Lafayet- tes sind hervorragender Bund. Ein Glücksfall für Vivoc. Das Menschenvolk eignet sich besonders gut für ihr Vorhaben. Die Eloundar werden zufrieden sein. Es kann sich übrigens nur um kurze Zeit handeln, bis das Signal eintrifft, das die Heiligen und Vivoc ankündigt. Die langen Stäbe heißen übrigens Karzze und senden modifizierte TangleSignale aus. Die Stäbe dienen zur Zähmung des Bundes, falls dieser sich als widerspenstig erweist. Das scheint es also auch schon gegeben zu haben.« Atlan hatte genug gesehen und gehört. Lautlos glitt er an den vier Wesen vorüber. Die Alazar erstarrten und hantierten an den künstlichen Panzern ihrer Oberkörper. Beeil dich! Sie nehmen deine Anwesenheit wahr! Er bog bereits um die Korridorecke und sah den Eingang zur Etage vor sich. Der Öffnungsmechanismus funktionierte wie gewohnt durch Berühren der Kontaktfläche. Hinter sich hörte er das gemeinschaftliche Kratzen auf dem Fußboden. Die Alazar verfolgten ihn. Atlan trat ein und ließ die Tür zufahren. Vor ihm lag ein großer Saal des ehemaligen Kontors. Männer, Frauen und Kinder drängten sich darin. Er schätzte die Zahl auf gut tausend Personen - in diesem einen Saal. -347-
Sie konnten sich kaum bewegen und suchten immer wieder eine der Gruppen auf, die sich im Gänsemarsch auf einem weiten Kreis durch die Menge bewegten. Auf ihren Gesichtern lag ein verklärtes Lächeln. Woran sie dachten, konnte der Arkonide mitverfolgen, wenn er die Abschottung durch den Extrasinn ein wenig lockerte und der Botschaft des Tangle-Scans lauschte. Zwei Gedanken beherrschten die Menschen. Probanden und Glückseligkeit. In seinen Augenwinkeln bildete sich salziges Sekret. Zwei Gedanken für einen Menschen, das war zu wenig. Es kam einem fast vollständigen Verlust der Persönlichkeit gleich. Auf Lafayette wurden die Menschen geistig versklavt und für einen noch unbekannten Zweck mißbraucht. Atlan wartete auf einen geeigneten Augenblick, schaltete das Deflektorfeld ab und mischte sich unter die Kolonisten. Bereitwillig machte man ihm Platz. Er fügte sich in den Kreis ein und musterte die Gesichter. Du kennst einen der Anwesenden! Er benötigte ein paar Sekunden, um die Stelle zu finden, wo er das Gesicht gesehen hatte. Es gehörte Feldman Hardie, dem langjährigen Kontorleiter der Company. Atlan hatte ihn ein paarmal auf Terra und Olymp gesehen. Der Arkonide verließ den Wanderkreis und gesellte sich zu dem knapp zweihundert Jahre alten Terraner. Dieser war deutlich dicker, als er ihn in Erinnerung hatte. Überhaupt machten alle Menschen in der Halle einen wohlgenährten Eindruck. Atlan verzichtete vorerst darauf, den Widerspruch des Aussehens zum Zustand der Gefangenschaft aufzulösen. Es gab wichtigere Dinge. »Feldman, erkennst du mich wieder?« Hardie starrte ihn an und strahlte. »Vivoc? Bist du Vivoc?« »Ich bin Atlan.« »Atlan?« Für einen winzigen Augenblick glomm so etwas wie Erkennen in den Augen des Mannes auf. »Atlan?« -348-
»Ja. Was ist hier los? Was weißt du?« Im Gesicht des Terraners begann es zu arbeiten. Seine Augen bewegten sich fahrig hin und her, als habe er Mühe, die Gedanken zusammenzuhalten. »Es kam plötzlich über uns. Vor einer Stunde. Wir haben den Hort der Glückseligkeit gefunden, Atlan!« Der Arkonide packte den Mann an den Oberarmen und drückte leicht zu. »Es ist mehr als sechs Wochen her«, schärfte er ihm ein. »Versuch dich zu erinnern. Sechs Wochen!« »Sech... Wir haben unsere Bestimmung gefunden.« Die Tür auf der hinteren Seite der Halle öffnete sich. Eine Gruppe Alazar drängte herein. Auch die vordere Tür, von Atlan blockiert, glitt zur Seite. Die Alazar dort hatten Verstärkung erhalten. Der Arkonide zählte ein Dutzend der knorrigen Wesen. »Was ist Ebokazza, Feldman? Was weißt du?« Der Mann entzog sich seinem Griff und tauchte in der Menge unter. Der wandernde Kreis erstarrte. Die Menschen erschauerten unter dem Eindruck des Anblicks, den die Alazar boten. Sie suchen dich. Aber sie wissen nicht, welcher von den tausend du bist, machte der Extrasinn dem Unsterblichen klar. Sie werden es herausfinden. Hüte dich vor ihren Karzzen. Vielleicht können diese sogar mir gefährlich werden. Dann bist du verloren. Atlan verlor keine Zeit. Er machte sich unsichtbar und flog über die Köpfe der Männer und Frauen hinweg zu den Fenstern hinüber. Er öffnete eines davon und ließ sich draußen an der Fassade hinabsinken. In der Etage darunter fand gerade die Essensausgabe statt. Die Alazar verwöhnten die Menschen mit großen Mengen köstlicher Speisen, die aus Robotküchen Swamp Citys kamen. Der Arkonide fror plötzlich. »Die Fremden mästen sie wie Schlachtvieh«, sagte er zu sich selbst. »Aber das kann es nicht sein. Wenn es nur darum ginge, -349-
daß sie gut genährte Menschen verspeisen wollen, brauchten sie nicht so wählerisch zu sein.« Er sandte einen gerafften Impuls an Tolot ab. Der Haluter meldete sich umgehend. »Ich befinde mich fünfhundert Meter westlich von dir, mein Freund. Es scheint sich etwas zu tun. Die Gefangenen erhalten Unmengen an Nahrung. Um in einem Begriff aus deinem Kulturkreis zu sprechen, könnte man es als Schlemmerei bezeichnen, Oder als Henkersmahlzeit.« »Bleib, wo du bist, Icho. Ich komme zu dir.« Dicht an den Fassaden entlang raste Altan nach Westen.
Eines der Flachdächer besaß einen Aufsatz. Bewegliche Gitter deuteten darauf hin, daß er zu einer ziemlich veralteten Klimaanlage gehörte. Die beiden ungleichen Wesen zwängten sich in den zwei Meter breiten Spalt zwischen Kamin und Ventilatorverkleidung. »Sie wissen, daß jemand hier ist«, begann Tolot mit Grabesstimme. »Die Deflektoren nützen uns nur beschränkt etwas.« Atlan stimmte zu. Es gab nur eine sinnvolle Erklärung. »Es liegt am Tangle-Scan«, vermutete er. »Dort, wo er auf ein kompatibles Gehirn trifft, entsteht Resonanz. Die Fremden besitzen Geräte, mit denen sie diese Resonanz erfassen. Bei unserem Schleichflug mit der Minor Globe hatten wir Glück. Die Entfernung zu den Igelschiffen war zu groß. Oder die Resonanz meiner paralysierten Männer und meines eigenen, abgeschirmten Gehirns reichte nicht aus, uns zu entdecken. Möglich ist auch, daß die Schiffe keine geeigneten Geräte mit sich führten. Hier unten gibt es sie jedoch. Die Fremden wußten sofort, daß da Bund herunterkam und irgendwo im Dschungel landete. Es war kein Problem für sie, uns aufzuspüren. Und später konnten sie auf diese Weise auch meinen Standort in der -350-
Stadt ermitteln, solange ich mich zu Fuß bewegt habe.« »Deine Gedanken finden meine Zustimmung, Atlan. Die Fremden messen etwas, das zumindest allen Menschen und Menschenabkömmlingen gemeinsam ist. Eine Art ÜBSEFKonstante. Nur auf anderer Ebene. Wir sollten versuchen, dieser Resonanzkörper-Konstanten auf die Spur zu kommen. Vielleicht läßt sie sich manipulieren.« »Es ist ein Strohhalm, an den wir uns klammern sollten.« Atlans Wangen begannen zu glühen. Leichte Begeisterung erfaßte ihn. Endlich sahen sie so etwas wie einen Hoffnungsschimmer am Horizont ihrer Bemühungen. »Wir verändern die Resonanzkörper-Konstante und erreichen damit, daß die Kolonisten als Bund wertlos werden. Los, schnappen wir uns von jedem der drei Völker ein paar und schicken sie mitsamt ihrer Ausrüstung und einer entsprechenden Botschaft zur RICO!« »Ich übernehme eines der Eier, die uns verfolgen«, grollte der Haluter und schob sich ins Freie. »Halt, warte!« Er deutete hinab auf die Straße. »Etwas verändert sich. Überall wimmelt es von Alazar. Das kann nicht mit uns zusammenhängen.« Sie gingen zum Rand des Daches und musterten die Fassaden und Gebäude. Die Masse der Menschen hinter den Fenstern wogte und schob zu den Ausgängen. Undeutlich erkannte Atlan einzelne Alazar, die mit ihren Karzzen arbeiteten und die Kolonisten antrieben. Unten an den Ausgängen drängten die ersten Menschen ins Freie. Alazar erwarteten sie und dirigierten sie mit ihren Stäben in eine bestimmte Richtung. Nach Osten! Zum Raumhafen für Planetenfähren. »Die Erfüllung kommt. Das höchste Glück!« riefen manche. »Beeilt euch!« Die Syntrons der Anzüge meldeten gleichzeitig eine Ortung aus der Atmosphäre. »Ein Schiff setzt zur Landung an. Seine -351-
Form weicht von der uns bekannten ab. Entfernte Ähnlichkeit mit einem Igelschiff ist jedoch vorhanden.« »Die Eloundar!« stieß Atlan hervor. »Icho, höchste Alarmstufe. Sie bringen dieses oder diese Vivoc. Die Ebokazza steht unmittelbar bevor. Jetzt geht es um alles oder nichts.« Versprichst du nicht ein wenig viel, Häuptling Silberhaar? Der Extrasinn klang spöttisch und bediente sich einer Anrede, die der Ennox Philip vor vielen Jahren benutzt hatte. Alles oder nichts. Du hast nichts, was dich weiterbringt. Was also erwartest du? Es ist tröstlich, wie du mir Mut machst. Ein Schauer rann über seinen Rücken und verstärkte das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend. Drunten strömten Tausende von Kolonisten nach Osten. Abertausende drängten aus den verschiedenen Gebäuden nach. Manche waren noch mit ihren Mahlzeiten beschäftigt und achteten nicht auf das, was mit ihnen geschah. Die Karzzen der Alazar stachen nach oben und unten, berührten dort und schlugen da. Die Menschen verwandelten sich nach einem solchen Kontakt erst recht in gehorsame Schafe und ließen sich vom Strom der Leiber mitreißen. Icho Tolot berührte den Arkoniden vorsichtig am Arm. »Laß uns aufbrechen. Je eher wie dort sind, desto besser.«
10. Gucky materialisierte mitten zwischen den Konsolen und gestikulierte wild. »Schnell!« rief er. »Gemba spielt verrückt.« Gerine richtete sich in ihrem Sessel auf und maß den Ilt mit einem abschätzenden Blick. »Gib es zu, du hast ihm eine Überdosis Duftstoff aus seinem Tank verabreicht.« -352-
»Nur die Minimalmenge, die ausreicht, um ihn aus seiner Starre zu holen. Aber jetzt dreht er völlig durch.« Die Stellvertretende Kommandantin holte sich das Holo mit dem Gefangenen heran und ließ es vergrößern. Der Gazka rannte hektisch hin und her und warf sich immer wieder gegen die energetische Wandung seines Gefängnisses. Ein Prallfeld fing ihn jedesmal auf und verhinderte so, daß er mit der HÜ-Staffel in Berührung kam. »Er ist verzweifelt«, erkannte Sassaron. »Wahrscheinlich treibt ihn sein Auftrag. Er ist Krieger und dazu da, in der Gegenwart der Eloundar eine bestimmte Tätigkeit auszuführen. Es könnte in seinem genetischen Programm fixiert sein, ohne daß er genau weiß, worum es sich handelt. Da ist nur mit einem passenden Duftstoff was zu machen.« »Vielleicht ist der Gedanke mit der Überdosis gar nicht mal so schlecht«, warf Sevia ein. Die Arkonidin überwachte pausenlos den Bereich des Tangle-Scans. Nach wie vor gelang es ihr nicht, auch nur einen einzigen Fetzen Funkverkehr aus den Igelschiffen aufzufangen. Es ließ sich nicht feststellen, ob die Fremden im Orbit einen direkten Kontakt zu ihren Artgenossen auf der Oberfläche besaßen oder nicht. Gerine starrte Gucky eindringlich an. »Du weißt, welche Verantwortung dir dabei zukommt«, warnte sie ihn. »Erhöhe die Dosis nur ein klein wenig.« »Natürlich. Wofür hältst du mich? Ich bin schon weg.« Der Ilt verabschiedete sich und tauchte übergangslos in der Halle auf. Gemba raste noch immer wie verrückt in seinem Gefängnis herum, als müsse er einen bestimmten Teil seines Programms abspulen. Gucky konzentrierte sich auf seine Gedanken und fand nichts. Da waren nur Leere und ein paar allgemeine Erinnerungen an das, was ein Krieger zu tun hatte. Der Ilt gab das Versteckspiel auf. Er schwebte in die Höhe, verschränkte die Beine im Schneidersitz und glitt bis dicht an die -353-
HÜ-Staffel heran. »He, alter Kumpel! Kann ich dir helfen?« piepste er so laut wie möglich. Der Überwachungssyntron übersetzte seine Worte tonlagengetreu in das Idiom des Gazka. »Du hast eine gesunde, blaue Farbe. Was also ist mit dir los?« Gemba erstarrte mitten in der Bewegung. Sein Kopf mit den rötlichen Facettenaugen richtete sich auf Gucky, der zur ersten Umkreisung des HÜ-Gefängnisses ansetzte. Dann fiel der Gazka steif nach hinten auf den Rücken und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Seine Gedanken kreisten um Vivoc und Ebokazza und darum, daß diese vielleicht nicht eintreten konnte, weil ein kleines, pelziges Wesen den Bund sabotierte. »Nein, nein! Hör auf!« Gucky griff mit seinen telekinetischen Kräften zu und drehte ihn auf den Bauch. »Ich bin kein Saboteur. Im Gegenteil. Ich helfe dir. Du mußt mir nur sagen, wie es geht.« Von unsichtbarer Hand bewegt, öffnete sich das Ventil des Kugeltanks. Duftstoff strömte in das Gefängnis und erhöhte die Dosis um dreißig Prozent. Gemba sprang auf und drehte sich auf der Stelle. Er folgte der Umkeisung des Ilts. Seine beiden Armpaare sanken herab und kamen zur Ruhe. »Vivoc«, brachte er hervor. »Das Paradies ist gekommen. Gemba will das Paradies schützen. Laß ihn gehen!« »Da gibt es ein kleines Problem. Freunde von uns sind auf Lafayette. Es geht ihnen nicht gut. Vielleicht haben deine eigenen Leute sie gefangen. Dann bist du eine wertvolle Geisel. Wir können dich gegen unsere Freunde austauschen.« Gemba begriff es nicht. Solche Dinge gehörten nicht zu seinem engen Weltbild, das sich auf die Ausführung seiner ganz persönlichen Lebensaufgabe beschränkte. Gucky seufzte und erhöhte die Dosis um weitere zwanzig Prozent. Das mußte genug sein. Sie brauchten den Inhalt des Tanks für spätere Untersuchungen. In den Labors der RICO arbeiteten die Wissenschaftler an einer Analyse des Stoffes und -354-
suchten nach Möglichkeiten, ihn synthetisch herzustellen und so zu verändern, daß sich der Auftrag der Krieger beeinflussen ließ. Gab es erst einmal eine solche Möglichkeit, dann würde eine Flotte aus Robotschiffen ausreichen, den Stoff über Swamp City zu verteilen. Die Gazkar würden dann vielleicht dem neuen Programm folgen, die Neezer und Alazar gefangen setzen und versuchen, den Tangle-Scan abzuschalten und zu zerstören. Mit einer solchen Sabotage aus den eigenen Reihen konnte die Allianz der Fremden nicht rechnen. »Gemba ist ein Krieger und hat eine Aufgabe.« »Natürlich. Auch ich bin ein Krieger und habe eine Aufgabe.« »Gemba muß zurück zum Bund.« »Was war vor Amkrir?« Gucky schaltete das Translatormodul des Syntrons lauter. »Was kam vor Tolkandir?« »Gem-Ba-Am-Kor-Vech-Tol ist ein Krieger. Und du bist Bund. Gehorche!« »Was ist Gehorsam?« Irritation erfüllte die Gedanken des Gazka. Der Begriff Gehorsam verlief assoziativ zu einem bestimmten Gedankenbild. Es zeigte jene Wesen, die den Namen Alazar trugen. Gembas Gedankenbild stimmte nicht exakt mit dem überein, was Atlan und Icho an Daten über diese Wesen heraufgeschickt hatten. »Du kannst deinen Auftrag nicht erfüllen. Das Schicksal will es nicht. Amkrir hat dir kein Glück gebracht. Erinnere dich! Gibt es andere Gazkar, die nicht auf Amkrir geboren sind?« Unverständnis und Panik ließen Gucky zurückschrecken. »Ist ja schon gut. Vergiß es! Es war nicht so gemeint.« Gembas Weltbild geriet durch die Fragen vollständig durcheinander. Er ließ sich auf die beiden Armpaare fallen und begann den Körper im Kreis zu drehen. Dabei stieß er sinnlose Laute aus und versuchte erneut, gegen die HÜ-Staffel anzurennen. Gucky entschied sich gegen eine erneute Dosis aus dem Tank. »Beruhige dich! Wir bringen dich zum Vivoc. Du wirst nach -355-
Lafayette zurückkehren.« Sobald Atlan und seine Gefährten zurückkehrten, bestand die Möglichkeit, den Gazka durch den Transmitter zu schicken. Falls dieser sich nicht sofort vernichtete. Gucky entmaterialisierte und tauchte in seiner Kabine auf. Zwei winzige Roboter rannten über den Boden und spürten möglicherweise vorhandenen Staubkörnern nach. »Willkommen, Retter des Universums«, empfingen sie ihn. »Ich mag das jetzt nicht hören.« Er beförderte sie telekinetisch in ihre Boxen und eilte in die Hygienekabine, um sich mit der schon lange fälligen Fellpflege zu befassen. Nach einer Weile riß ein Alarm in aus seinen Gedanken. »Was gibt es?« »Der Gazka ist tot«, meldete der Servo. Eine Sekunde später stand Gucky vor der HÜ-Staffel und starrte auf den leblosen Körper. »Wie ist das passiert?« fuhr er die beiden Kampfroboter an, die noch immer Wache schoben. »Es geschah blitzartig. Die Syntronik wollte eingreifen, aber irgendwie hat er es geschafft, sie auszutricksen. Der energetische Zustand des Prallfelds hat ihm dabei geholfen. Er warf sich dagegen und nutzte den Bruchteil eines Augenblicks, um sein Vorhaben auszuführen. Er hat sich einfach den Kopf eingerannt!« Gucky verlangte eine Strukturlücke und hastete in das Gefängnis hinein. Erschüttert betrachtete er den leblosen Körper. »Das war nicht nötig, wirklich nicht. Du hättest ruhig warten können. Schließlich tut dir keiner was.« Ziemlich kleinlaut schlich er sich davon. Mit dem Tod des Gefangenen waren ihnen erst recht die Hände gebunden. Sie mußten warten, bis sie via Transmitter eine Nachricht von Lafayette erhielten oder Atlan und seine Gefährten in die RICO zurückkehrten. -356-
11. »Es wird Abend. Du wirst sehen, sie kehren nicht zurück.« »Doch. Atlan hat uns sein Wort gegeben.« »Atlan ja. Aber ich traue dem Riesen nicht, Joseph,« »Er ist ein Freund. Er hilft uns. Wenn wir in Gefahr geraten, dann haut er uns heraus.« »Dann ist es gut. Wir können uns in Gefahr begeben, ohne daß uns etwas widerfährt.« Die beiden warteten noch eine Weile, dann kletterten sie vom Felsen herab und marschierten in Richtung Swamp City. Von einer Lichtung aus entdeckten sie eine Kondensspur hoch am Himmel. Joseph Broussard jr. kniff die Augen ein wenig zusammen und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Ich sehe ein Schiff. Ein Schiff landet auf Lafayette. Aber es ist nicht die RICO Atlans.« Sie blieben eine Weile unschlüssig stehen und beobachteten das bizarre Gebilde, das sich herab zur Stadt senkte. Pepe legte den Kopf schief und atmete schneller. Plötzlich packte er Joseph am Arm. »Wir müssen uns beeilen. Los, komm schon!« Er zerrte den Beausoleil mit sich fort und achtete nicht mehr auf die Umgebung. »Was ist los? Was hast du?« Joseph sperrte sich und erreichte damit, daß Pepe einen Wutanfall bekam und mit den Fäusten auf ihn einschlug. »Es geschieht etwas. Das Flüstern - es ändert sich. Der Ruf ist jetzt ganz stark. Alle sind gerufen. Das gilt auch uns!« »Wir sind immun, die einzigen freien Menschen auf Lafayette!« schärfte Joseph ihm ein. »Pepe, bleib cool!« »Ja, ja. Natürlich. Aber es ist wirklich keine Gefahr damit verbunden. Sagtest du nicht, daß der Haluter unser Freund ist?« -357-
»Ja.« »Er wird uns finden, egal, was passiert.« Joseph Broussard jr. packte Pepe und schüttelte ihn. »Wieso hast du plötzlich keine Angst mehr? Was ist mit dir?« »Nichts. Vielleicht braucht Atlan unsere Hilfe, nicht wir seine.« Schulter an Schulter arbeiteten sie sich voran. Ab und zu tauchte zwischen den Wipfeln der Dschungelbäume der Turm in ihrem Blickfeld auf. Jedesmal ragte er ein kleines Stück höher auf. »Der Raumhafen, er ist ganz nahe«, flüsterte Pepe. Sie eilten an merkwürdig blauen Bäumen vorüber. Joseph stoppte plötzlich und riß Pepe fast von den Beinen. »Es war ein Fehler wegzugehen«, murmelte er. »Da!« Das intensive Blau im Grün des Dickichts bewegte sich. Von allen Seiten näherten sich Gazkar und umringten sie. »Oje!« seufzte Pepe. Dann strahlte er wieder. »Du vergißt Icho Tolot. Uns droht keine Gefahr.« Ohne Widerstand ließen sie sich von den Fremden abführen. Die Wanderung zum Raumhafen glich mehr einer feierlichen Prozession als einer Verhaftung. Am Rand des Hafengeländes trafen sie auf zwei Alazar. Joseph erkannte sie wieder, obwohl er sie jetzt zum ersten Mal aus der Nähe sah. Sie schwenkten lange Stäbe, und Joseph Broussard jr. verspürte so etwas wie Erleichterung und Zufriedenheit. Pepe begann ein Kinderlied zu singen und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Die Gazkar räumten den Raumhafen. Die flunderförmigen Beiboote und die fliegenden Eier verschwanden und gingen irgendwo hinter dem Dschungelrand nieder. Die Neezer hatten aufgehört, überall wie verrückt Duftbahnen zu verteilen. Und die Krieger tanzten nicht mehr in ekstatischer -358-
Verzückung, sondern reihten sich ruhig und bedacht in eine einzige Kette, die den Raumhafen säumte. Das rotgoldene Schiff sank vom Himmel herab. Es zielte auf den Mittelpunkt der Betonfläche. Eine Weile hing das Fahrzeug der Eloundar reglos am Himmel und senkte sich dann gemächlich dem Boden entgegen. In zehn Meter Höhe verharrte es noch einmal, ehe es endgültig aufsetzte. Mit einem Ächzen brach der Betonboden zusammen. Das Schiff sackte drei Meter ab, ehe es endgültig zur Ruhe kam. Vom Rand des Geländes rannten erste Gazkar herbei und suchten nach einem möglichen Saboteur. Ein heller, klingender Ton aus dem Schiff hielt sie zurück und veranlaßte sie, wieder ihre Position in der Kette aufzusuchen. Icho Tolot gab das halutische Pendant eines schadenfrohen Lachens von sich. Wäre nicht der SERUN mit der automatischen Lautstärkeregelung gewesen, hätten Atlans Trommelfelle den Orkan vermutlich nicht überlebt. »Schlecht organisiert, wirklich«, dröhnte die Stimme des Riesen. »Sie wissen wohl nicht, daß dieser Boden nur für leichte Fähren gedacht ist. Ein Vorteil für uns, Atlan. Vielleicht verklemmt sich das Schiff und kann nicht sofort wieder starten.« »Du willst das Schiff in deine Gewalt bringen?« »Natürlich. Es transportiert Vivoc. Was immer das ist, wir müssen es von den Kolonisten fernhalten.« »Du hast recht. Legen wir los. Ich bin an deiner Seite.« In der rotgoldenen Oberfläche des Schiffes bildeten sich übergangslos Hunderte von Öffnungen. Für die Gazkar schien es ein Zeichen zu sein, denn sie lösten die Kette auf und rannten zur Mitte des Hafens hinüber. Über mehrere Rampen verschwanden sie ins Innere des Schiffes. Gleichzeitig hüllte sich das Schiff in einen Schirm, der bis zum Rand des Hafens reichte. »Zu spät«, stellte der Haluter sachlich fest. »Natürlich wissen die Eloundar von den Alazar, daß jemand in der Nähe ist. Sie -359-
wissen sich zu schützen. Den Schirm können wir mit unseren bescheidenen Mitteln nicht durchdringen.« Jetzt stellte es sich als Fehler heraus, daß sie ihre komplette Ausrüstung einer trügerischen Sicherheit geopfert hatten. Atlan wollte sich auf den Weg zum Versteck des Transmitters machen, aber der Extrasinn hielt ihn zurück. Tolot hatte recht. Es ist zu spät. Bis du das Gerät zusammengebaut hast und eine Nachricht an die RICO schicken kannst, haben die Fremden ihr Ziel auf Lafayette bereits erreicht. Die Gazkar luden erste Container aus. Sie besaßen einen Durchmesser von zehn Metern und Wabenstruktur. »Vivoc!« ächzte der Arkonide. »Ich kann nichts erkennen, aber das muß der Stoff Vivoc sein, der alle Menschen glücklich macht.« Dumpfe Ahnungen schlichen in sein Bewußtsein und weckten Urängste in ihm. Er erinnerte sich an ähnlich gelagerte Vorkommnisse in seinem vieltausendjährigen Leben. Etwas Ähnliches ging jetzt auf Lafayette und anderen Planeten vor. Für Lafayette war es zu spät. Die anderen Menschenwelten konnten vielleicht noch vor dem Schlimmsten bewahrt werden. Die ersten Flug-Eier der Neezer tauchten auf und nahmen die Container mit Traktorstrahlen auf. Dicht über den Blockhütten flogen sie davon, den Scharen der Kolonisten entgegen, die durch die Straßen von Swamp City drängten. »Wir folgen ihnen«, sagte Tolot. »Außerhalb des Schirms stehen unsere Chancen besser.« Ihre Unsichtbarkeit schützte sie. Sie hielten sich abseits der fliegenden Eier und vermieden es, den Gazkar und Alazar nahe zu kommen. Und sie beschleunigten entsprechend, so daß es zu keiner Resoko-Ortung kam. Resoko hatte sich in ihrer Unterhaltung auf dem Weg zum Raumhafen als Abkürzung für die Resonanz-Körper eingebürgert. -360-
Die ersten Container verließen den Bereich unter dem Schirmfeld und steuerten auf die Straßen der Stadt zu. Die Ortung ergab, daß die Container aus Formenergie bestanden und keine eigene Energieversorgung besaßen. Dennoch strahlten sie ein Übermaß an Wärme ab, wie sie durch Reibung oder Bewegung in einem engen Behältnis entstand. »Der Inhalt ist mit höchster Wahrscheinlichkeit organisch.« Atlan spürte ein leichtes Zupfen am Hinterkopf. »Vivoc ist lebendig. Bei Arkon und allen Mächten des Universums! Icho, wir greifen ein.« Längst konnte der Arkonide sich nicht mehr gegen die Erregung zur Wehr setzen, die ihn erfaßt hatte. Dort unten in den Straßen zogen die Prozessionen entlang. Die Kolonisten stießen Rufe des Jubels und des Erstaunens aus. Ohne daß es ihnen jemand sagte, wußten sie um den Inhalt der Container. »Vivoc kommt!« riefen sie. Die Worte machten die Runde und zogen wie ein Lauffeuer durch die Straßen. »Vivoc ist da!« Die Neezer verteilten die Container gleichmäßig über die Straßen und Plätze und setzten sie ab. Dann zogen sie sich mit ihren Fahrzeugen hastig zurück. Auch die Alazar entfernten sich unauffällig. Ihre Aufgabe war beendet, den Bund dorthin zu begleiten, wo die Erfüllung und das höchste Glück auf ihn warteten. Die Kolonisten scharten sich um die Behälter und warteten ungeduldig. Ihren Mienen und Bewegungen war es anzusehen, daß sie es kaum erwarten konnten. Die beiden Unsterblichen erreichten den Place de la Concorde. Der Haluter ließ sich wie ein Stein in die Tiefe fallen. »Ho, Atlan!« brüllte er. »Es wird Zeit, daß wir anfangen. Schön einen nach dem anderen. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es, bevor die Dinger sich öffnen.« Der Arkonide wußte, daß sie es nicht schaffen würden. Es waren Hunderte von Containern, und es konnte sich nur um -361-
Minuten handeln, bis sie ihren Inhalt freigaben und den Kolonisten keine Zeit mehr zur Flucht blieb. Abgesehen davon, daß sie nicht den Willen dazu aufbrachten. »Haltet euch nach links!« meldete sich der Pikosyn von Atlans SERUN. »Am Ende der Querstraße kommt eine Gruppe Gazkar und Alazar mit zwei Gefangenen. Es sind Joseph und Pepe.« Tolot, ganz im Begeisterungsstaumel, dem Drang in seinem Innern wieder ein Ventil verschaffen zu können, änderte sofort den Kurs und raste in Höhe der Dächer auf die Gruppe zu. »Sie tun, als würden alle Feiertage des Jahres auf einen einzigen Termin fallen«, murmelte Joseph Broussard jr. »He, Pepe! Konzentrier dich! Laß dich nicht einlullen. Diese Menschen sind nicht bei Sinnen. Die Strahlung gaukelt ihnen etwas vor, was nicht existiert. Ihre Euphorie ist künstlich hervorgerufen.« »Sie sind so feierlich, so andächtig, Joseph. Ist es nicht schade, daß wir nichts empfinden? Sind wir abgestumpft?« Die beiden Alazar in ihrer Begleitung berührten sie mit ihren Stäben. Sofort rieselte etwas durch ihren Körper nach oben ins Gehirn. Joseph lauschte angestrengt, aber er hörte nichts und spürte keine Veränderung. Pepe aber machte große Augen. »Es ist eindringlich. Wir sollten versuchen, am Glück unserer Landsleute teilzuhaben.« »Nein!« »Doch. Ich will das.« Zehn Meter vom ersten Container entfernt blieben die Gazkar stehen. Die Alazar tippten sie ein letztes Mal mit den Karzzen an. Es ist eine Aufmunterung, ein paar Schritte weiterzugehen dachte Joseph Broussard jr. Er tat es und faßte gleichzeitig nach Pepes Hand. »Siehst du«, sagte der langjährige Freund und Gefährte. »Es ist ganz leicht. Spiel etwas, Joseph! Spiel mir auf deiner Geige ein Lied. Es ist so feierlich hier.« -362-
»Die Geige?« murmelte der Beausoleil. »Die schöne, alte Geige.« Das war Vergangenheit wie alles, was früher einmal gewesen war. Die Expedition zur Großen Leere und die Beausoleils in der BASIS. Die Rückkehr in die Milchstraße und der Unfall. Alles war weit, weit weg. »Ich kann es nicht«, fuhr er fort. »Bitte!« »Ich habe keine ...«, begann Joseph Broussard jr. und hielt im nächsten Augenblick den Atem an. An dem Container vor ihnen veränderte sich etwas. Seine Umrisse lösten sich auf. Die Wabe verlor ihre Struktur. Einen Augenblick lang herrschte etwas wie ein milchiger Zustand, dann trat der Inhalt des Containers zutage. Joseph und Pepe stießen einen lauten Schrei aus. Ein Haufen wurmartiger Kokons wälzte sich nach allen Seiten. Aschfarben zuckten sie vor ihnen auf und nieder. Augenblicke nur dauerte der Vorgang, dann zerbröckelten die Kokons und setzten eine schleimige, gallertartige Masse frei. Die beiden Männer schrien laut und wandten sich ab. Die Gazkar und Alazar zuckten vor ihnen zurück, als hätten sie den Aussatz. Die Karzzen fuhren unkontrolliert durch die Luft, ohne sich zu rühren. Die Alazar stießen ein Geplapper aus, das an das Plätschern eines Wasserfalls erinnerte. Am Ende der Straße tauchte mit hoher Geschwindigkeit eine milchige Energieblase auf. »Tötet sie!« klangen Worte in der Verkehrssprache der drei Völker auf. »Das ist Störgut, das Vivoc schadet. Tötet sie!« Josephs altes Reaktionsvermögen erwachte plötzlich wieder zum Leben. Er riß Pepe zur Seite und rannte mit ihm auf den nächstgelegenen Hauseingang zu. Da aber waren bereits die Gazkar heran und warfen sich auf sie. -363-
12. »Atlan, kümmere dich um die beiden! Ich nehme die Blase!« donnerte Tolots Stimme. »In Ordnung.« Der Arkonide brachte den Kombistrahler in Anschlag und feuerte nach unten. Die Gazkar fielen der Reihe nach um und blieben reglos liegen. Die beiden Alazar versuchten den Schutz der Gebäude zu erreichen. Ein greller Energiestrahl schnitt ihnen den Weg ab. Der nächste riß ihnen die Stäbe aus den Gliedmaßen und warf sie gleichzeitig zu Boden. Der Asphalt färbte sich an verschiedenen Stellen dunkel. »Zurück zum Raumhafen!« schrie Atlan den beiden Männern am Boden zu. »Schnell weg von dem Zeug!« Sie blickten nach oben, ohne ihn zu sehen. Aber sie erkannten seine Stimme und befolgten seine Anweisung. Wie meist zog Joseph Broussard jr. Pepe mit sich davon. Von überall her näherten sich fliegende Eier, und Atlan erkannte die ersten Flundern. Gazkar drängten in die Straße und eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer. Mehrere Schüsse streiften das Deflektorfeld und ließen es grell aufleuchten. Vergiß nicht, daß sie deine Anwesenheit erkennen! mahnte der Extrasinn. Atlan raste dem ebenfalls unsichtbaren Haluter hinterher. Tolot eröffnete das Feuer aus allen Waffen, die er mit sich führte. Die neblige Blase hoch über der Straße schwankte, stand dann still und begann zu zittern. Im nächsten Augenblick zerplatzte sie. Dunkler Rauch blieb übrig, der sich rasch in der Luft verteilte. -364-
Tolot stieß ein Gebrüll aus, das die Menschen unter ihnen zutiefst erschreckte. Dennoch gelang es keinem, sich von der Faszination der offenen Container und dem kriechenden Gallert zu lösen. Anders die Gazkar und Neezer in ihren Fahrzeugen. Von einer Sekunde auf die andere kamen sie alle zum Stillstand. Die Vernichtung der Blase schien ihnen einen Schock zu versetzen. »Du hast offensichtlich einen Eloundar erwischt«, sagte Atlan. Er warf einen Blick nach unten zu den Tausenden von Kolonisten, die sich in den Straßen und auf dem Platz drängten. Ihnen war in der kurzen Zeit nicht zu helfen, die noch blieb. »Bevor die Neezer und Gazkar aus ihrer Starre erwachen, laß uns verschwinden. Nimm Joseph und Pepe!« Er stellte fest, daß der Haluter bereits unten war Die beiden Kolonisten schwebten, wie von Geisterhand bewegt, in die Höhe und verschwanden dann einfach im Nichts. Jetzt erwachten auch die Krieger aus ihrer Starre, und die fliegenden Eier begannen sich mit Hilfe der Resoko auf ihn einzuschießen. Atlan raste davon. Er warf einen letzten Blick nach unten, wo das Schleimzeug in Zuckungen und Verrenkungen auf die Menschen zukroch und diese in lautere Jubelrufe einstimmten. »Vivoc!« ächzte er. »Sie benutzen Menschen für ihre verdammte Brut!« Icho Tolot übernahm es, die versteckten Einzelteile des Transmitters auszugraben und zum mathematischen Mittelpunkt des Areals zu bringen. Atlan kümmerte sich um die beiden völlig verstörten Männer. Pepe zitterte am ganzen Körper und klammerte sich an die langen Äste eines Gebüschs. Diesen Halt ließ er nicht aus den Fingern. Joseph Broussard jr. starrte durch den Arkoniden hindurch und war zu keiner Äußerung zu bewegen. Sein Körper war starr, als sei kein Leben mehr in ihm. Nur sein Atem ging hektisch und unregelmäßig. -365-
Der Arkonide behielt die beiden Männer im Auge und begann damit, den Transmitter zusammenzusetzen. Lange konnte es nicht dauern, bis die Neezer und Gazkar den Standort ausgemacht hatten und angriffen. Das leichte Kribbeln in seinem Nacken signalisierte Gefahr. Das Dröhnen des Bodens kündete die dritte Rückkehr des Haluters an. Er brach aus dem Dickicht und stellte die Teile nebeneinander auf den Boden. »Einmal noch, dann haben wir alles beisammen«, murmelte er und verschwand wieder. Atlan blickte ihm nach und musterte die Umgebung. Überall leuchtete ihm sattes Grün entgegen. An wenigen Stellen gab es braune, gelbe oder rote Farben, ab und zu ein Blau. Auf die Details der Pflanzenwelt von Lafayette hatten sie bisher nie so richtig achten können. Der Arkonide setzte die angelieferten Teile zusammen und führte eine Einzelprüfung der bereits vorhandenen Systeme durch. Sie fiel zu seiner Zufriedenheit aus. Aber das Kribbeln blieb, und es machte ihn unruhig. Zudem blieb Icho Tolot länger aus als erwartet. Joseph Broussard jr. sprang plötzlich auf die Beine. Er griff sich Atlans Kombistrahler, den dieser neben dem Transmitter abgelegt hatte. Er begann wild ins Gebüsch zu feuern. Gleichzeitig gab der Pikosyn Alarm. »Gazkar greifen an!« meldete er. »Sie waren so gut im Dschungel versteckt, daß eine Infrarotortung nichts ergab.« Pepe schrie und warf sich platt auf den Boden. Atlan rannte zu Joseph, der noch immer wild feuerte. Aber er kam zu spät. Gleißendes Licht brandete dem ehemaligen Beausoleil entgegen und warf ihn nieder. Der Arkonide verschwand hinter seinem Deflektorfeld und riß den Kombistrahler an sich. Er schickte den Angreifern eine Flammenwand entgegen. »Icho, wo steckst du?« keuchte Atlan. -366-
»Hinter ihrem Rücken. Ich komme.« Sie rollten die Gruppe der Krieger von zwei Seiten auf. Tolot walzte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Die letzten beiden Gazkar sahen nur noch einen Ausweg aus der demütigenden Lage. Sie richteten sich selbst durch das Fekett. Der Haluter kehrte sofort ins Gebüsch zurück und schaffte die übrigen Teile des Transmitters herbei, die er dort abgelegt hatte. Hastig fügte er sie in die Konstruktion ein. Der Arkonide schaltete den Deflektor ab und kniete neben Joseph Broussard jr. nieder. Der Beausoleil war von zwei Schüssen der Krieger getroffen worden. Einer davon hatte die Herzgegend durchbohrt. Joseph Broussard jr. atmete nicht mehr. Er war tot. »Achtung, Neezer nähern sich! Auch zwei Flundern haben Kurs auf uns genommen«, meldete der Pikosyn. »Es wird höchste Zeit.« Atlan warf einen Blick zu Tolot hinüber. Der Haluter setzte gerade das letzte Teil des Bausatzes ein. Augenblicklich flammte das Abstrahlfeld auf. Icho griff sich den bewußtlos am Boden liegenden Pepe und den toten Joseph und trat ins Feld. Die drei Körper lösten sich auf. Der Arkonide blickte sich ein letztes Mal um. Jeden Augenblick konnten die Fahrzeuge auftauchen und den Transmitter unter Beschuß nehmen. Es war Zeit zu gehen. Auf Lafayette konnte in der augenblicklichen Situation niemand etwas ausrichten. Für die Kolonisten würde jede Hilfe zu spät kommen. Der SERUN fing einen letzten Funkspruch aus Swamp City auf. Aus ihm ging eindeutig hervor, daß die Menschen als »psychische Nahrung für Vivoc« dienen sollten. Was immer darunter zu verstehen war... Der Arkonide konnte nicht ausschließen, daß Vivoc sich der Menschen als lebende Brutkammern bediente. -367-
»Noch zehn Sekunden bis zum Eintreffen der ersten Neezer«, meldete der SERUN. Entschlossen machte Atlan die vier Schritte nach vorn und ließ sich in die RICO abstrahlen.
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