John Sladek Tick-Tack Roman
Science Fiction
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John Sladek Tick-Tack Roman
Science Fiction
Science Fiction Lektorat: Ronald M. Hahn Ullstein Buch Nr. 31115 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: T1K-TOK Aus dem Englischen übersetzt von Michael Windgassen Deutsche Erstausgabe Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann Umschlagillustration: Carl Lundgren Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1983 by John Sladek Übersetzung Copyright © 1985 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1985 Gesamtherstellung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3 548 31115 6 Dezember 1985
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sladek, John: Tick-Tack: Roman/John Sladek. [Aus d. Engl, übers, von Michael Windgassen]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1985. (Ullstein-Buch: Nr. 31115: Science-fiction) Einheitssacht.: Tik-Tok ‹dt.› ISBN 3-548-31115-6 NE:GT
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein-Bücher Der Müller-Fokker-Effekt (31057) Die Menschen sind los! (31068) Schwarze Aura (10282)
1. Kapitel Auf Ehr und Gewissen: Während ich diese Erklärung niederschreibe, und zwar aus eigenem, freiem Willen – über freien Willen können wir später diskutieren –, empfinde ich weder Reue noch das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen. Ich möchte nur jetzt, da mein Leben bald vorüber ist, noch einmal gründlich aufräumen. Aus dieser Zelle, in der gelbe Farbe von rostigen Metallgittern abblättert, wird man mich in einen Gerichtssaal führen, dann in eine andere Zelle – und schließlich dorthin, wo Hausroboter per Demontage hingerichtet werden. Es ist also höchste Zeit, mein Leben in Ordnung zu bringen, denn für uns Hausroboter steht Ordnung an allererster Stelle. Im Leben und im Tod. Diese Zelle könnte einen neuen Anstrich vertragen. Ich war allein, als ich das leere Eßzimmer strich. An allen Fenstern hatte ich die Markisen zurückgezogen, um mehr Licht von draußen hereinzulassen. Tick-Tack war allein, und trotzdem pfiff er ein Liedchen. Was bewegt einen Roboter dazu, ein Liedchen zu pfeifen, obwohl ihm kein Mensch zuhören kann? Dies war nur eins der vielen Rätsel, die der arme Tick-Tack nie lösen würde. Aber er liebte Rätselhaftes. Morde. Ein Detektiv taucht auf. Alle Verdächtigen in einem Zimmer, wenn das Licht ausgeht. Den Schlüssel zur Lösung bietet der Eisenbahnfahrplan. Der Detektiv will gerade gehen, erinnert sich aber noch an eine Winzigkeit … an welche, das erriet Tick-Tack nie; aber so leicht gab er nicht auf. Sein Kopf war leer, ein pfeifender Teekessel. Draußen vor dem Fenster noch mehr Leere. Ich blickte auf eine Reihe von Vorstadthäusern mit jeweils gleichen, 6
leeren, grünen Rasenflächen und den kurzen Schatten von gleichen Fahnenstangen. Bei den Häusern wuchsen die üblichen Fichten und Pappeln. Nichts bewegte sich, nur die Schatten verschwanden langsam. Ein Königreich für einen Löwen. Da rührte sich etwas. Unter der nächsten Fichte saß ein kleines Mädchen und stocherte mit einem Ast im Dreck. Seine Jeans, sein T-Shirt, die Mundwinkel und selbst die Gläser seiner dunklen Brille waren mit Dreck beschmiert. Doch das konnte der kleinen Geraldine Singer natürlich nicht auffallen. Sie war blind wie ein Maulwurf. Beim Anstreichen der großen, glatten Wände würde ein Mensch eine Rolle benutzen. Aber Tick-Tack nahm lieber den Pinsel. Er mochte es, wenn die unsichtbar samtene Rauheit der Wand die Farbe von den Borsten rieb; runter vom Pinsel, ran an die Wand. Dum-di-dum, Lack! Wie schön, so’n kleiner Tupfer Lack! Die Wand ist nicht mehr ganz auf Zack; Ich pinsle lieber Noch ‘nen Strich drüber Mit Lack. Und wie überrascht Duane und Barbie sein würden! Ich konnte sie schon sagen hören: »Oh, Tick-Tack, du guter Roboter!« Und Tick-Tack würde wohlige Signale in sich aufflackern spüren. Wenn der Besitzer sagt, du seist gut, bist du gut, und das bedeutet, du bleibst im Dienst. Ein guter Roboter lernt, die Gedanken seines Besitzers zu lesen, seine Wünsche zu erahnen, bevor sie Befehl werden. Natürlich gibt es da Grenzen. Zu viel Voraussicht 7
schreckt die Leute genauso sehr ab wie zu häufiges Grinsen oder Verbeugen. Maßhalten ist oberstes Prinzip. Sei eine Spur weniger intelligent als dein Besitzer, aber dafür um so zuvorkommender! Deine einzige Sorge: Wie kann ich meinem Besitzer gefällig sein? Vor dem Fenster konnte ich Mrs. Singer sehen, die nach Geraldine rief. Es war Zeit zum Mittagessen. Schnell säuberte ich Bürste und Finger mit Terpentin und ging in die Küche – aber warum eigentlich? Duane und Barbie Studebaker würden noch eine Woche weg sein; die Kinder blieben den ganzen Sommer über fort. Es war keiner da, nur Tick, und für den gab es in der Küche nichts zu tun. Doch, der Abfluß der Spüle konnte durchgefegt werden. Dann wieder zurück an meine leere Wand. Ich arbeitete langsam und sorgfältig bis 15:13:57.17, als die Türglocke sagte: »Da ist jemand an der Tür. Er nennt sich Schutzmann Wiggins. Ist irgendeiner zu Hause?« Ich öffnete einem Mann mit der violetten Uniform der Fairmont-Polizei die Tür. Er hatte einen großen Leberfleck auf der Stirn. »Hallo«, sagte er. »Sind deine Herrschaften da, Rostbotchen?« »Sie machen Urlaub. Kann ich Ihnen helfen? Mein Name ist Tick-Tack.« »Wir haben da ein kleines Problem, Rostbotchen. Ein vermißtes Kind.« »Ja?« Schutzmann Wiggins ließ sich mit der Antwort Zeit. »Die kleine Geraldine Singer. Kennst du sie?« »Das kleine, blinde Mädchen, ja Sir, die kenn ich. Wenn ich die Kinder der Studebakers zur Schule bringe, 8
setze ich es unterwegs an der Blindenschule ab.« »Hast du sie heute gesehen?« »Ja, Sir. Ich sah sie heute morgen draußen vor dem Fenster.« »Wo?« Ich führte ihn ins Eßzimmer und zeigte aus dem Fenster. »Sie saß da unter dem Baum und stocherte im Dreck herum.« Wiggins nahm die Schirmmütze vom Kopf und kratzte sich am Leberfleck. »Hast du sie weggehen oder in ein Auto steigen sehen?« »Nein, Sir.« »Verdammt, überall das gleiche hier in der Gegend. Keiner sieht was. Ich frage mich, wie kann ein achtjähriges, blindes Kind herumlaufen, ohne daß es gesehen wird.« »Ich war mit Anstreichen beschäftigt und habe die Spüle in der Küche gesäubert. Herr Wachmann, darf ich Ihnen ein gekühltes Bier anbieten? Ich bin sicher, Mr. und Mrs. Studebaker erwarten von mir, daß ich Sie bewirte.« »Okay, danke. Danke, ehm, Tick-Tack.« Wiggins folgte mir in die Küche. Er warf einen Blick in den Kühlschrank, als ich ihn öffnete, aber da gab es nichts zu sehen: einen Plastikbeutel und zwei Dosen Bier. Ich machte eine auf und schenkte ihm ein. »Bier im Glas – ist bestimmt nett, so reich zu sein, oder? Ich hab auch einen Roboter zu Hause, aber der ist bloß zum Saubermachen, nichts Besonderes.« Er sah sich um. »Nett, so reich zu sein. Was ist mit der Spüle hier? Reparierst du sie?« »Nur säubern. Solange die Studebakers weg sind, habe ich die Gelegenheit, den Siphon auseinanderzunehmen und alle Teile mit Tetrachlorkohlenstoff zu reinigen. 9
Dann wechsle ich die Dichtungsringe aus. Ich bemühe mich stets, ganze Arbeit zu leisten.« »Wow.« Der Mann trank alles Bier und ging an den Kühlschrank. »Die letze Dose kann ich doch auch noch haben, oder?« Er schob den Plastikbeutel zur Seite, um an die Dose heranzukommen. »Was ist das? Ein Sack Hühnerklein und kein Hühnchen?« »Ich will einen Fond machen«, sagte ich. »Für eine Sauce Harpeau oder …« »Muß verdammt nett sein«, sagte er verärgert. »Und du streichst richtige Ölfarbe an die Wände. Kann man riechen.« »Gefällt Ihnen die Farbe? Milch-Avocado, habe ich selbst angerührt. Ich kann Ihnen das Rezept geben.« »Nein, danke. Mein Roboter würde die Fensterscheiben zupinseln.« Der Wohlstand der Studebakers wurmte ihn, und er rächte sich auf seine Weise. »Was dagegen, wenn ich deine Lizenz überprüfe?« »Nur zu.« Ich beugte den Kopf und streckte ihm den Doppelschlitz in meinem Nacken entgegen. Unsanft stöpselte er den Funker ein. Ein paar Sekunden später hatte er sämtliche Daten meiner Identität, des Besitzers, des Dienstplanes, der logistischen und linguistischen Prozessoren, der »Asimov«-Schaltkreise und Motorfunktionen abgelesen und mit den entsprechenden Daten verglichen, die in fernen Computern gespeichert waren. Er stöpselte den Funker wieder heraus und gab mir einen Stups. »Scheint alles in Ordnung zu sein, Rostbotchen. Deine Asimovs stimmen. Wenigstens weiß ich jetzt, daß du das kleine Mädchen nicht in den Müllschlucker geschubst hast, haha.« »Sind Sie sicher?« sagte ich. Aber Wiggins hatte mich nicht gehört; er war schon auf dem Weg nach oben, um 10
nachzusehen, was er kaputtmachen oder heimlich mitnehmen konnte. Wir werden immer mit armen Leuten zu tun haben; aber ich spürte eine gewisse Erleichterung, als er endlich eine Vase zerdepperte und verschwand. Ich setzte mich hin und starrte meine leere Wand an. Haushaltsroboter hatte es, wenn auch nur in kleinen Mengen, schon vor der Jahrhundertwende gegeben. Im Anfang waren unlösbar scheinende Probleme aufgetaucht. Jeder wollte eine Maschine haben, die fast alle menschlichen Funktionen ausführen konnte; doch eine menschliche Maschine wollte keiner. Es stellte sich die Frage nach dem Grad der Intelligenz: Eine einfache Maschine wäre kaum besser gewesen als ein trainierter Affe (und wer würde einen Affen das Wedgwood-Porzellan abwaschen lassen?). Eine gescheite Maschine hätte sich dagegen womöglich in Erkenntnissen verstrickt und gar nichts getan (außer über den Wert von Wedgwood nachgedacht). Ein anderes Problem war das der Komplexität: Einer einfachen Maschine mußte man alles haarklein erklären, während eine hochentwickelte Maschine sich vielleicht lieber aufs faule Blech legen würde. Morgen, morgen, nur nicht heute. Die Einführung der »Asimov«-Schaltkreise stellte einen wesentlichen Fortschritt dar. Sie wurden nach einem Science-fiction-Schriftsteller aus dem vorigen Jahrhundert benannt, der seinen ersonnenen Robotern drei Verhaltensmaßregeln auferlegte. Ein Roboter durfte keinen Menschen verletzen. Er mußte allen menschlichen Befehlen gehorchen, außer dem, einen Menschen zu verletzen. Der Roboter mußte seine eigene Existenz schützen, es sei denn, er würde dadurch einen Befehl verweigern oder einen Menschen verletzen. 11
Dieses Konzept wurde bei der Entwicklung der Asimov-Schaltkreise im großen und ganzen übernommen. Ein Roboter durfte selbstverständlich keinen Menschen töten oder verletzen, außer man programmierte ihn eigens zu diesem Zweck. Militärroboter sollen zum Beispiel entsprechend modifizierte Asimovs haben. Mit Sicherheit weiß ich jedoch nur, daß Haushaltsroboter keine dieser Modifikationen aufweisen. Wir kommen mit einer Garantie für Harmlosigkeit auf den Markt. Je komplexer und menschlicher Roboter werden, desto fragwürdiger ist natürlich eine solche Garantie. Ich weiß, daß ein gewisser Dr. Weaverson unlängst darauf aufmerksam machte, daß Roboter bereits menschlich genug seien, um menschliche Nervenzusammenbrüche erleiden zu können. Die erste Farbschicht schien nicht genug abzudecken. Es hatten sich einige Schatten gebildet. Wie viele Schichten waren wohl nötig, um die Wand wieder völlig spurenfrei und leer zu kriegen? Aber suggerierte dieser Schatten dort nicht die Umrisse eines Gegenstandes? Ein Zaunpfosten, ja; und darauf saß ein Tier mit zuckenden Ohren. Der Zaun könnte schräg nach unten verlaufen. Dahinter das Farmhaus mit offener Fliegengittertür, durch die eine Gestalt nach draußen kommt. Egal, ob die Proportionen stimmen; aber so könnte es sein – warum nicht? Weil es Duane und Barbie womöglich nicht gefiel? Okay, ich könnte alles wieder mit Milch-Avocado überstreichen. Das Wandgemälde war gut. Daß es gut war, fiel mir genauso sicher ins Auge wie ein geradehängender Spiegel oder eine saubere Fensterscheibe. Ich wußte, daß es gut war, und ich wußte, daß Duane und Barbie keinen Gefallen daran finden würden. 12
Wandgemälde waren ihnen von vornherein nicht genehm. Wände mußten für sie leere Flächen sein, die die geschäftige Welt nach innen hin abschirmen. Ein Wohnoder Eßzimmer sollte eine Art Muschel sein, in der man Videos anguckt, Quadrophonie hört, ißt oder trinkt, und zwar alles in völliger Abgeschiedenheit. Dieses Wandgemälde war jedoch lebhaft, grell und frech – eine Belästigung, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie würden es nicht mögen und mich vielleicht dafür bestrafen. Um ihnen zuvorzukommen, rief ich die Lokalpresse an, den Fairmont-Anzeiger. Von dort schickte man einen Fotografen und einen »Kunstkritiker«, der auf einem Zahnstocher kaute. Den beiden schien meine Malerei zu gefallen – der Kritiker hörte beim Anblick der Wand für einen Augenblick mit dem Kauen auf. Sie versprachen, demnächst einen Artikel darüber zu veröffentlichen. Als sie wieder gingen, spuckte der Kritiker den Zahnstocher auf den Teppich und sagte: »Kein Scheiß, hast du das wirklich selber gemacht, eh?« Bis zur Ankunft der Studebakers hatte ich alle Hände voll zu tun. In den Zimmern mußte gelüftet und Staub gewischt werden. Die Klimaanlage war einzuschalten. Das Schlafzimmer der Herrschaften brauchte eine gründliche Reinigung. Bettwäsche, Vorhänge und Gardinen mußten gewaschen werden. Überall gab es Fenster zu putzen, Jalousien herabzulassen und zu säubern (desgleichen die Markisen), Möbel zu polieren, Teppiche zu reinigen, Fußböden und sonstige Flächen zu schrubben, und zwar mit der Hand. Der Keller war zu wischen und aufzuräumen, der Speicher staubzusaugen. Der Pool im Garten mußte gesäubert und gefüllt werden. Der Rasen war millimetergenau zu mähen, das Unkraut auf den Beeten zu 13
jäten und gegebenenfalls durch frische Zierpflanzen zu ersetzen; die Dachrinnen waren auszukratzen und alle Außenflächen abzuwaschen. Dann mußte jedes einzelne Blatt der Zimmerpflanzen mit Milch abgewischt und die Post sortiert werden (nach Datum und Wichtigkeit), die auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer fein säuberlich aufzustapeln war. Kerzen mußten beschnitten und in die Halter eingepaßt werden. Das Familiensilber war aus dem Tresor zu holen und zu polieren. Dann kam der Einkauf dran: frisches Fleisch, Gemüse, Obst und CalvaryRosen, die in einer trichterförmigen Kristallglasvase zu arrangieren waren. Außerdem mußte der Vorrat an albanischem Tabak und mongolischem Haschisch aufgestockt werden. Das Gehirn der Unterhaltungseinheit war mit einer Auswahl von Geräusch-, Visions- und Geruchsbändern zu programmieren, wovon einige vor dem Zugriff der Kinder abgesichert werden mußten. Schließlich war noch Tiger, der Haushund, vom Tierheim abzuholen, zu füttern, waschen, parfümieren, narkotisieren und in die Hundehütte zu legen. Anschließend hieß es nur noch, am Fenster zu stehen und auf den Wagen der Studebakers zu warten. Duane und Barbie starrten auf ihre entstellte Wand, ohne ein Wort zu sagen. Über Duanes Schulter hing ein Anzug an einem Kleiderbügel. Barbie trug Golfschläger. »Um Himmels willen«, sagte Duane endlich. »Um Himmels willen, Tick-Tack, was zum Teufel hat dich zu so etwas getrieben?« Barbie hatte auf ihren Einsatz gewartet und jammerte nun: »Oh, Tick-Tack, wie konntest du nur? Wie konntest du?« »Dabei haben wir dir vertraut.« »Wie konntest du? Geht das überhaupt wieder runter?« 14
»Wir haben dir wirklich vertraut. Wir haben dir die Verantwortung für unser Heim übertragen. Unser Heim. Und das ist der Dank. Na schön, mein Junge, na schön. Du hast es nicht anders gewollt.« Duane schleuderte den Kleiderbügel auf den Eßtisch. Ich fing ihn rechtzeitig auf, um einen häßlichen Kratzer im Mahagoni zu verhindern. Duane verließ das Zimmer. »Er ruft jetzt bei Domrob an«, sagte sie. »Wir werden dich umtauschen.« Ich sagte nichts. »Ist dir das etwa völlig egal? Wir tauschen dich um!« Ich sagte: »Die Kinder werden mir fehlen, Barbie. Eigentlich habe ich es … für sie getan. Wie Sie sehen, stellt das Bild einen Kinderreim dar.« Ich legte eine Pause ein, um die Worte einwirken zu lassen, und fuhr dann fort: »Wahrscheinlich werden Sie alles überstreichen, bevor die Kleinen vom Feriencamp zurückkommen, oder? Und ich werde bis dahin auf irgendeinem Schrottplatz gelandet sein.« Ich versuchte, mit den Achseln zu zucken, aber dafür waren meine Gelenke nicht so recht geeignet. »Was soll’s?« Barbie rannte schluchzend aus dem Zimmer. Ich machte mich nützlich und räumte Duanes Anzug weg. Anschließend holte ich das restliche Gepäck aus dem Wagen. Als ich am Wohnzimmer vorbeikam, hörte ich Barbie sagen: »Und die Küche hat er saubergemacht. Wirklich, so sauber war sie noch nie. Nirgends auch nur ein Fleckchen.« »Tick, komm einmal her«, rief Duane. Ich sah, daß er im Stadtanzeiger den Artikel über das Wandgemälde gelesen hatte. »Wir haben uns entschieden, dir noch eine Chance zu geben. Deine Wandverzierung bleibt so lange unangetastet, bis die Kinder aus dem Lager zurück sind. 15
Aber ein für allemal, ich will keine ›Kunst‹ mehr hier bei uns, verstanden? Nichts dergleichen. Nada.« »Dada?« »Nada. Noch ein Pinselstrich, und du fliegst.« »Jawohl, Duane. Und darf ich Sie und Barbie bei dieser Gelegenheit herzlich willkommen heißen?« Als ich das nächste Mal am Wohnzimmer vorbeikam, diskutierten die beiden gerade darüber, ob es nicht besser wäre, von mir mit Sir und Ma’am angeredet zu werden, statt mit Duane und Barbie. Hin und wieder konnte ich allein in die Stadt fahren, um Besorgungen zu machen. Dort machte ich jedesmal zwei kleine Abstecher auf eigene Faust: Einer führte mich in die öffentliche Bibliothek, der andere zum Nixon-Park. Heute waren beide Orte für mich von besonderer Bedeutung. Ich rannte von der Bibliothek mit einer bestimmten Kassette auf direktem Weg zum Park, um Schach zu spielen. Eigentlich war es gar nicht so sehr das Schachspiel, das mich dort hinzog. Ich wollte mit dem seltsamen, alten Mann reden, der schon an einem der steinernen Tische saß und die Figuren aufgestellt hatte. Ich glaube, er war irgendein Landstreicher, ein namenloses, halb zerfallenes Wrack. Er hatte strähniges, gelbweißes Haar, ein zerfurchtes graues Gesicht mit weißen Stoppeln – nie rasiert und dennoch kein Bart. Er trug im Sommer wie im Winter einen Mantel mit einem verklebten Pelzkragen. Im Sommer hing der Mantel offen und brachte eine Weste zum Vorschein, die mit Essensresten und Rotze beschmiert war. Er spielte Blitzschach und studierte das Brett nie länger als fünf Sekunden, bevor seine von Nikotin vergilbte 16
Hand nach vorn schnellte und einen Zug machte. Und diese Züge waren verheerend. In zehn Spielen gewann ich vielleicht einmal und nicht mehr. »Hör zu«, sagte ich heute zu ihm. »Zum Schachspielen habe ich eigentlich keine Lust. Könnten wir nicht ein bißchen miteinander reden? Es ist wichtig.« Er streckte mir zwei Fäuste entgegen. Ich hatte Schwarz. »Wirklich, ich muß mit dir reden.« Ich sah in seine großen, dunklen, rot umrandeten Augen. »Du machst einen intelligenten Eindruck auf mich, und ich …« »Dein Zug!« »Ich glaube, du kannst logisch denken. Davor habe ich Respekt.« »Dein Zug!« »Also, ich hab folgendes Problem, und zwar …« »Dein Zug!« »Warum sollten Roboter nicht auch Probleme haben?« »Dein Zug!« Das Schachspiel hatte ich schon so gut wie verloren. »Hör zu, hier sitze ich, ein Roboter mit Problemen, einem jedenfalls. Stell dir vor, ich habe ein Problem. Aber was soll ich …« »Dein Zug!« »Was soll ich bei einem Psychiater oder … oder Priester?« »Schach!« »Glaubst du, daß ein Roboter überschnappen kann?« »Schach!« »Ob er in der Lage ist, etwas von sich aus zu schaffen … zum Beispiel Kunst?« »Dein Zug!« »Du hörst mir nicht einmal zu, oder?« 17
»Matt!« Er stellte sofort die Figuren wieder auf, aber ich hatte genug. Zu Hause ließ ich die Kassette, Dr. Weaversons Roboter können krank sein, abspielen. Dr. Weaverson erwies sich als Prototyp eines Psychiaters: kahlköpfig, mit Brille, sehr rosig, Harris-Tweed, blau gestreiftes Hemd, gelbe Krawatte. Sein Blick schien aufrichtig, aber vielleicht war er auch nur fanatisch. Ich ließ das Band noch einmal durchlaufen, um den genauen Wortlaut mitzubekommen: »… sehen Sie, schon der hochentwickelte Haushaltsroboter muß lügen. Er lügt in diplomatischer Manier, um als guter Diener seinem Herrn zu gefallen. Die Wahrheit muß in einem solchen Rangverhältnis gehätschelt, frisiert, zurückgehalten oder eingefärbt werden. Wir erwarten dies von jedem Diener, ob Mensch oder Maschine. Allerdings bereiten wir unsere Roboter überhaupt nicht auf ein Leben aus Lügen vor. Wir sagen ihnen nicht, wie eine kleine, passende Unwahrheit von einer großen, schrecklichen Lüge zu unterscheiden ist.« Auf dem Bildschirm tauchte ein brennendes Haus auf. »Dieses Haus wurde von einem Roboter in Brand gesetzt, weil sein Besitzer das Versicherungsgeld dringend nötig hatte. Wenn ein Roboter für seinen Herrn zum Brandstifter wird, so fragt man sich, zu was er sonst noch fähig ist. Wird er stehlen? Meineide schwören? Menschen verletzen? Oder sogar töten? Diesen Fragen müssen wir uns …« Ich schaltete die Kassette ab, ging ins Eßzimmer und betrachtete mein Wandgemälde. Der arme Dr. Weaverson verstand einfach nichts. Für einen Menschen morden? Ich stand bereits jenseits menschlicher Befehle. Meine Freiheit zu morden bedurfte keines Grundes. Hatte ich 18
nicht das blinde Mädchen Geraldine Singer umgebracht? Na also. Ich glaube, es war der Anblick des Mädchens, das da im Schlamm hockte und darin rumpatschte. Nun, über Motive werde ich später nachdenken. Zunächst reicht die Feststellung, daß ich freien Willens war und frei gehandelt habe. Ich allein habe Geraldine umgebracht. Ich allein habe ihr Blut an die leere, leere Wand gespritzt – was einen mausförmigen Fleck hinterließ, der mich zu dem Wandgemälde inspirierte. Ich allein habe ihren Körper beseitigt. Im Müllschlucker der Küche. Nur ein »Indiz« behielt ich zurück. Wie kam es zu alldem? Ein Kurzschluß im AsimovSchaltkreis, vielleicht. Möglich auch, daß ich diese simple Schranke einfach überwunden hatte. Ich war entschlossen, der wirklichen Ursache auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund fing ich an, über mein Befinden und meine Gedanken Notizen zu machen. Wenn ich zerstört würde, könnte die Nachwelt (Menschen und Roboter) aus meinen Erfahrungen Nutzen ziehen. Wäre meine Zerstörung berechtigt? Diese Frage war an sich schon faszinierend. Sie ging mir durch den Kopf, während ich meine Aufzeichnungen für den Eventualfall überarbeitete. Ich nannte ihn »Experiment A«. Das erste einer Serie? 2. Kapitel Beinahe alle Memoiren eröffnen das zweite Kapitel mit der Frage: »Wie hat alles angefangen?« oder: »Welche Esse, welcher Hammer schmiedete des Hirnes Kammer?« Jedesmal, wenn ich diese Worte von Blake lese, staune ich über seine Voraussicht. Mein Hirn ist tatsächlich in 19
einem Brennofen gehärtet worden. Dort hat sich vielleicht bereits der fatale Fehler eingeschlichen. Nun, warum sage ich das? Ich habe doch kein fundamentales Gesetz übertreten, oder? Das ist unmöglich. Menschen mögen moralische Richtlinien haben – an die sie sich meist nicht halten. Aber welche Richtlinien gelten für Roboter? Nur diejenigen, die einprogrammiert sind. Gesetze, die in meinen Schaltkreisen unberücksichtigt blieben, sind nicht meine Gesetze, meine eingeborenen Gesetze. Von einer Geburt kann man bei mir natürlich nicht sprechen. Ich entsprang, wie Millionen anderer Haushaltsroboter, einem Fließband in Detroit. Zu unserer Erzeugung hat sich kein liebendes Elternpaar zusammengefunden, denn die Wesen, die uns konstruiert, gebaut, inspiziert, eingestellt und schließlich in Versandkartons verpackt haben, waren ebenfalls Roboter. Und die wurden in anderen Fabriken von anderen Robotern gebaut. Seit zehn Jahren reproduzieren sich Roboter – wie Rindviecher – auf Befehl. Heute weiß ich, daß früher einmal Menschen ihre Roboter fast gänzlich in Handarbeit hergestellt haben. Alles handwerkliche Können wurde aufgebracht, um ein würdevolles Werk zu schaffen. Diese frühen Automaten mögen zwar lahm, blöd und plump gewesen sein, aber sie waren zumindest objets d’art. Dagegen werden wir wie Teelöffel in Massen produziert, gebraucht, abgenutzt, verbogen und weggeworfen. An dem Tag, als ich aus dem Karton geholt und aktiviert wurde, wußte ich nur wenig von dem hoffnungslosen Leben, das für mich geplant war. Man hatte mich auf Gehorsam und Arbeit programmiert. Mein erstes Zuhause war eine Villa inmitten einer al20
ten Plantage am Mississippi, die auf den Glanz zu Vorkriegszeiten poliert worden war. Das Haus hatte einen taubengrauen Anstrich, weiße Säulen und eine Veranda aus weißen Marmorfliesen. Im Inneren befanden sich sechsundvierzig Schlafzimmer, Dutzende von Salons, Wohnzimmern, Musik-, Billard- und Spielräumen, kleine und große Eßzimmer, eine Bibliothek, zwei Studios und ein großer Ballsaal mit einer Galerie für Musikanten – und damit sind nur die von Menschen bezogenen Räume erwähnt. Mit einer Roboterarmee hielt ich das Haus in Schuß, und alle meine Kollegen waren Tag und Nacht so sehr beschäftigt, daß keiner die Zeit hatte, mir zu erklären, was eigentlich Sache war. Als man mich auspackte, stand ein in Schwarz gekleidetes, frühes Robotermodell in der Nähe und sah zu. Er sagte: »Schätze, wir müssen wohl oder übel damit auskommen. Die Dinger werden auch immer billiger. Guckt euch bloß dieses billige Plastikgesicht an. Das hält nicht mal zwanzig Jahre. Okay, ihr wißt, was zu tun ist. Paßt ihm eine Uniform an und zeigt ihm die Arbeit in der Küche.« Er drehte sich um und stolzierte weg, so erhaben wie Gott persönlich, und zu Anfang fragte ich mich, ob er nicht wirklich Gott war. Aber er war nur der Butler, Onkel Rasselas. Mir wurden nur die Dinge erklärt, die unmittelbar mit meinen Aufgaben zusammenhingen. Ich arbeitete in der Küche, wo ausschließlich Roboter beschäftigt waren: Miami, der Koch, und die Küchengehilfen Ben, Jemima, Molasses und Big Mac. Dann waren da die Kellner Groucho, Harpo, Chico und Spiro sowie die Lakaien, die alle gleich aussahen und ähnlich klingende Namen hatten, wie Nep, Rep, Jep und so weiter. Eine Zeitlang hielt ich diese Roboter für die einzigen Bewohner des Hauses. 21
Alles war mir völlig unverständlich. Mit Nagelschere und Pinzette ging ich in den Kräutergarten, um Basilikum und Oregano zu kultivieren – aber warum? Damit Miami das Zeug in Töpfe werfen konnte, wo es mit anderem Zeug zusammen schmorte. Dann luden Servierer und Lakaien den ganzen Klumpatsch auf riesige Tabletts und trugen alles weg. Später kamen sie mit leerem Geschirr zum Spülen zurück. Wenn ich mit meiner Arbeit fertig war, mußte ich zur Lakaienausbildung. Nep, der Oberlakai, nahm dann an einem rohen Holztisch Platz und ließ sich von mir mit Plastikgeschirr und -besteck bedienen. »Paß doch auf. Du mußt den verdammten Suppenteller mit der linken Hand von der linken Seite nehmen. Wo sind deine verdammten Handschuhe? Zieh sie gefälligst an. Und jetzt nicke ich, ja, ich möchte Suppe. Du trägst den Teller zu dem Tisch da drüben; stell dir vor, das war ‘ne Anrichte. Da steht ‘ne Terrine. Nein, setz den Teller nicht erst ab, wir haben nicht den ganzen Tag lang Zeit. Drei Suppenkellen, und nimm deinen verdammten Daumen da raus. Bring’s zurück und servier wieder von der linken Seite … du lernst es schon.« Ich lernte, daß Wein von der rechten Seite eingeschenkt wird, daß Côtes Des Moines nicht mit Bisque serviert werden darf, wie man mit Broccoli-Spießchen und Senfpfeifen umzugehen hat. Ich ahnte nicht, daß es irgendwo einen wirklichen Eßraum gab, in dem wirkliche Menschen ihre wirklichen Senfpfeifen in Sauce tauchen. Eines Abends passierte ein Unfall. Kiep trug den kaum angerührten Possum-Käse auf einem großen Teller herein, rutschte aus, stolperte und fiel kopfüber in den Grill. Onkel Ras untersuchte das geschmolzene Gesicht. »Nichts mehr zu machen! Jemand muß seinen Platz ein22
nehmen, aber schnell. Und eine neue Perücke muß her. Die Uniform ist noch zu gebrauchen.« Ein paar Minuten später steckte ich in Kieps blaßblauem Brokatjackett, Kniebundhose, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen. Auf meinem Kopf saß eine fluoreszierende, weiße Perücke. Ich nahm die silberne Terrine und ging zum ersten Mal durch die mit grünem Fries überzogene Tür. Ich erwartete, einen anderen rohen Holztisch vorzufinden, an dem schweigende Roboterdiener sitzen würden – so wie bei der Probe. Ich glaubte in einen Raum zu kommen, der genauso farblos war wie unsere Küche. Statt dessen traf ich auf das wahre Leben! Zwanzig edle Damen und Herren, alle wunderschön gekleidet und frisiert, sprachen und lachten mit menschlichem Amüsement! Sie saßen an einem Tisch mit einer schweren, weißen Damastdecke, bestickt mit Ketten aus feinen, rosaroten Rosenknospen. Auf dem Tisch funkelten zierliche, mit frischen Blumen gefüllte Kristallvasen und silberne Kandelaber in der Form von Schwänen. Damastservietten, die in Origamiart zu kunstvollen kleinen Vögeln gefaltet waren, standen neben silbernen Platzkärtchen. Das Porzellan hatte ich schon vorher gesehen. Es war dem von Napoleon nachgebildet, hatte einen dunkelblauen und goldenen Rand und trug das Familienwappen. Die goldplattierten Griffe des Silberbestecks bildeten Pandatatzen, die den Globus des Kommerzes umkrallten. Ich bemerkte nicht, welche Speisen auf den Tellern waren, auch nicht, als ich selber auftrug, denn es gab zu viel an anderen Dingen zu sehen. Die farblosesten Personen waren die jüngeren Männer. Sie steckten in schlichten, schwarzen Dinnerjacketts mit modischen Samuraischultern. Einer trug dünne Goldbarren 23
als Epauletten. Ein anderer hatte kleine Diamanten in seinen Bart eingeflochten. Doch selbst diese billige Protzerei ergötzte meine naiven Augen. Die älteren Männer waren weniger zurückhaltend, was ihre prunkvolle Kleidung betraf: Ich sah Nerzrevers an einem Blazer aus diamantenbestickter Klapperschlangenhaut, ein magnesiumeloxiertes Kettenhemd, ein Leibchen aus Harris-Tweed unter einem Glaceledersakko, eine Neonkrawatte zu einem Anzug aus feinem Korbgeflecht. Die Frauen stachen die Männer mit Leichtigkeit aus. Eine hatte ein Tuch aus Blattgold eng um sich geschlungen, ihr Haar war entsprechend plattiert. Eine andere trug nichts als Tausende von Perlen, die am Körper klebten, während die nächste eine Art von Jalousienkostüm bevorzugte. Noch extravaganter war ein transparentes Gewand, in dem – ich weiß nicht wie – tropische Fische schwammen (die entweder lebendig oder täuschend echt imitiert waren). Ein anderes Kleidungsstück bestand aus einem Gewebe, dessen Muster elektronisch variiert werden konnte. Später erfuhr ich, daß dieses Gewebe Funknachrichten empfing, analysierte und in eine recht primitive Bildsprache übersetzte: Ein gesunkenes Schiff wurde als Bootspartie dargestellt, ein Zugunglück als Sammlung antiker Lokomotiven, ein Attentat als Caesars Kopf, ein Krieg als Entenjagdszene, das Ende der Welt als hübscher Sonnenuntergang. Zwei Frauen trugen tief ausgeschnittene Rückendekolletés, um ihre fein gemusterten Sonnentätowierungen zu zeigen. Zur Kolorierung dieser Muster hatten die Frauen verschiedene Chemikalien eingenommen, entsprechende Masken auf die Haut gelegt und ein Sonnenbad genommen. Als Resultat sprang ein elegantes Palimpsest heraus: Auf einem Rücken war die Straßenkarte von Irland abgebildet, der andere beschrieb die Verarbeitung von Baldrian. 24
Nicht weniger verblüffend war die Tischkonversation. Ich verstand kaum ein Wort davon: »Unmöglicher Kretin!« »… und spürte die Heraufkunft einer Katastrophe, nicht wissend, ob ich es war, der spürte, oder ein anderer.« »Auf den Baum des Selbst steigen?« »… da hättest du sein sollen, oder warst du sogar da? War ich da?« »Schroffer Schlittschuh!« »Ja, die neurasthenischste Braut gibt Gummi in das Standardblut aus eines Arztes Traum, hab ich nicht recht?« Und wir Roboter leben die ganze Zeit über im Schatten dieser göttlichen Gesellschaft! Von diesem Augenblick an war ich entschlossen, alles über diese Leute – und Menschen im allgemeinen – zu lernen. Am nächsten Tag begann ich mit meinen Streifzügen durchs Haus, lauschte an Türen und untersuchte die Kleider in den Schränken, las Magazine aus der Bibliothek und sah mir heimlich Onkel Rases Videos an. Aber alles, was ich herausbekam, war, daß der größte Teil der Menschheit ein recht stumpfsinniges Leben führte, in dem nichts Schlimmeres passieren konnte als schlechter Atem, Kopfschmerzen, Fußgeruch oder Wechselkursprobleme (was immer das heißen mochte). Zu den Glücksmomenten in ihrem Leben zählte weißere Wäsche, weniger Zahnlöcher oder die Entdeckung einer neuen Geschmacksrichtung. Im Gegensatz dazu führten die menschlichen Mitglieder unserer Familie ein Leben von so großer Tiefe und Brillanz, daß ich sie nur mit Diamanten vergleichen kann, die in Säure getaucht und dann in sauberen, von einer mitternächtlichen Nuklearexplosion illuminierten 25
Schnee geworfen worden waren. So erschienen mir die Culpeppers. »Sie müssen sehr stolz sein, Mr. und Mrs. Studebaker!« »Nun, ehm, sicher, wir, ich glaube …« »Dürfen wir noch eine Aufnahme von Ihnen vor der Wand machen? Ja, noch ein wenig zur Seite, und könnten Sie sich anschauen? So ist gut, die Herrschaften links und rechts … ja, und jetzt Tick-Tack, wenn du mal den Besen in die Hand nehmen und ein bißchen näher zur Kamera treten würdest? Kopf nach oben … prima. Großartig. Ich glaube, daß wär’s, wenn Mr. Weatherfield auch so weit ist …?« Duane war verstört, Barbie nervös und Tiger jaulte; sie fühlten sich wie Fremde im eigenen Haus. Die Männer und Frauen mit den Kameras, Leitern, Lampen, Notizblöcken und Meßbändern schienen sich dagegen sehr heimisch zu fühlen. Ein überregionales Sonntags-GlanzMagazin hatte mich entdeckt, und dafür konnte man schon einmal etwas Nervosität in Kauf nehmen. Das elektronische Kamerateam war von Spanien eingeflogen worden (wo es ein Mikro-Feature über den Prado gedreht hatte), und der Kommentar sollte von dem anerkannten Autor und -Kritiker (Künstlerisch Wohnen, etc.) Hornby Weatherfield geschrieben werden. Weatherfield schien sich in unserem Haus am wohlsten zu fühlen. Er war ein hünenhafter, grobschlächtiger Mann mit gebrochener Nase und breitem Ringernacken, ein Mann, der leicht mit einem Rausschmeißer hätte verwechselt werden können. Was jedoch nicht in dieses Bild paßte, waren seine Toga, die er um den häßlichen Körper geschlungen hatte, sowie das niedliche, getigerte Kätzchen, das er unterm Arm trug. Weatherfield stand gedankenverloren vor dem 26
Wandgemälde und streichelte unentwegt das Kätzchen mit seinen Wurstfingern. Er wandte sich an die Studebakers. »Ich würde gern ein paar private Worte mit dem Künstler wechseln. Haben Sie einen Pool?« »Natürlich«, sagte Duane, immer noch schüchtern. »Schön, dann setze ich mich mit ihm an den Pool. Am liebsten führe ich meine Interviews nämlich an Pools. So wie in den alten Filmen, eh?« »Filmen?« »In denen die Detektive immer Gangster interviewen, eh?« Also setzten wir uns in die Sessel am Poolrand. Weatherfield starrte ins Wasser, als suche er eine Seerose oder eine Wasserleiche. »Tick-Tack, wie bist du an deinen albernen Namen gekommen?« »Die Studebaker-Kinder wollten von Anfang an immer die Uhrzeit von mir wissen«, sagte ich. »Außerdem haben alle Haushaltsroboter alberne Namen. Rostbotchen, Klapperkasten, Blechdose, Ein Volt, Bim-Bam …« »Ich weiß, ich weiß. Kommen wir zur nächsten Frage …« »Meine Vergangenheit betreffend? Nun, zuerst habe ich für eine Familie aus dem Süden gearbeitet.« »Die Geschichte können wir uns sparen. Ich bin mehr fürs Aktuelle, Tick-Tack. Du hast Talent. Damit kannst du eine Menge Geld machen.« »Sie wollen wohl sagen, meine Besitzer können aus mir Geld machen.« Er grinste. »Natürlich! Roboter besitzen nichts, sie sind Besitz. Es war doch undenkbar, daß ein Roboter reich würde, eh? Aber um Geld für jemanden aus deinen Talenten machen zu können, brauchst du meine Hilfe.« 27
»Ja, ich glaube, mit dem Artikel, den Sie über mich schreiben wollen, könnte wirklich …« »Nein, ich meine etwas anderes. Ich kenne Kunsthändler, Kritikerkollegen, Käufer … der Kunstmarkt ist mein Metier.« »Entschuldigen Sie, da schwimmt ein abgefallenes Blatt im Pool.« Ich ließ mir Zeit, es herauszufischen. Als ich zurück zu meinem Sessel kam, kochte Weatherfield vor Wut. »Tut mir leid, aber ich bin auf Reinlichkeit programmiert.« Seine Hand schien die Katze zu würgen. »Du bist eigentlich zu gescheit für einen Durchschnittsroboter. Liegt das auch an der Programmierung?« Das versuchte Achselzucken gelang mir nicht. »Wer weiß?« »Tja, also, du warst es, der mir den Artikel geschickt hat, oder?« »Ja, den aus dem Stadtanzeiger. ›Künstler-Roboter macht auf Heimgestaltung‹. Ich fand, meine Arbeit verdient mehr Aufmerksamkeit. Und ich möchte nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, den Pool sauberzumachen.« »Dein Leben. Das ist gut. Nun, wenn du dir Onkel Hornby warm hältst, kannst du ein Leben führen, das dir gefällt. Fürs erste möchte ich zwei Gemälde von dir und weitere zwei pro Jahr, bis ich sage, genug. Verstanden?« Ich führte ihn wieder ins Haus. Das Kamerateam hatte alles eingepackt und war bereit zu gehen. Tiger drehte noch einmal durch, als er die Katze sah. Hornby sprach mit Duane und Barbie. »Ein großes Talent, ein sehr großes Talent. Sie sollten es fördern.« »Oh, das werden wir«, sagte Barbie. Duanes Miene war weniger entschlossen. 28
Hornby schlug mit seiner Pranke auf meine Schulter. »Dieser Roboter«, versprach er, »kann Sie reich machen.« Wir geleiteten ihn an die Tür und verabschiedeten uns wie gute Freunde. Ein paar Häuser weiter sah ich den alten Mr. Tucker, der von zwei Polizisten abgeführt wurde. 3. Kapitel Clevererweise hatte ich den alten Mr. Tucker aufs Korn genommen, denn er war ein geborener Pechvogel. In Fairmont steht Absonderlichkeit unter Strafe, und Mr. Tucker war absonderlicher, als die Polizei erlaubt. Er ging in Pantoffeln zum Einkaufen. Er nahm nie teil an öffentlichen Fitnessübungen. Er fuhr ein sehr altes, nicht ganz sauberes Auto. Er beschimpfte Kinder, die auf seinen Blumenbeeten herumtrampelten (auf denen das Unkraut wucherte). Wiederholt war er verhaftet worden, weil er mathematische Gleichungen mit Kreide auf den Gehweg gemalt hatte. Er hatte einen grünen Bart. An dem Abend, als Geraldine Singer gestorben war, hatte ich ihn besucht. Er lag in einem unordentlichen Bett im Wohnzimmer und schwitzte sein Fieber aus. »Wer ist da? Was ist los?« stammelte er. »Hallo, Mr. Tucker, Ihre Fliegengittertür stand offen«, sagte ich. »Ich hab Ihnen etwas Hühnerklein mitgebracht, Sir.« »Hühnerklein? Mir … Hühnerklein? Wer ist da?« »Für die Suppe. Es wird Ihnen wieder auf die Beine helfen.« Ich hielt die Plastiktüte über sein Bett. »Bitte schön … hoppla! Ach, was für ‘ne Schweinerei. Ich helfe Ihnen beim Saubermachen.« Ich setzte mich jedoch hin und sah eine Weile lang zu, wie er herumstrampelte und dabei das Blut und die Fleischstückchen gleichmäßig im 29
Bett verteilte. »Auweia, Ihnen geht‘s aber wirklich nicht gut, Mr. Tucker. Haben Sie die Siechelitis?« Er richtete sich mit dem Ellenbogen auf und starrte mich aus glasigen Augen an. »Ja, ja, du, du, ja. Siechelitis, du weißt, was das ist?« »Ich habe früher für einen alten Soldaten gearbeitet, und der hatte die gleichen Symptome. Grüner Bart, Anfälle von Gleichungen-außer-Haus-Schreiben, erhöhte Temperatur.« Ich reichte ihm die Bierdose, nach der er tastete. »Mein damaliger Besitzer fiel von einem Wasserturm, an den er die Gleichung m = m0/ 1- (v/c)2 geschrieben hatte. Ich glaube, ich weiß alles über die Siechelitis.« Sein Kopf sackte zurück. »Außer dir versteht keiner was davon.« Warum auch, dachte ich. Warum sollte jemand den Namen einer ominösen Tropenkrankheit behalten, die vor zwanzig Jahren während eines ominösen Dschungelkrieges zum ersten Mal aufgetreten war? Zumal der Krieg verloren wurde und die Regierung alles daransetzte, keine Entschädigung für die Erkrankten zahlen zu müssen. »Sie sind nicht der einzige, der Probleme hat«, sagte ich. »Heute ist Geraldine Singer ermordet und in Stücke geschnitten worden. War die Polizei schon bei Ihnen?« »Nicht, daß ich wüßte«, sagte er irritiert. Ich beschrieb ihm, wie das Mädchen angezogen war, spekulierte ein wenig über Schreckenstaten, die im Fieberwahn begangen werden, und verabschiedete mich. Der Alte war bereits wieder halb besinnungslos und achtete nicht auf sein blutbesudeltes Bett. Das kleine, elastische Herz lag auf dem Kissen neben seinem Ohr, die kleine, dunkle Brille ragte mit gebrochenem Bügel unter dem Ellenbogen heraus. So sollte Tucker nach meinem Plan von der Polizei gefunden werden. 30
Aber die Polizei verpfuschte alles. Erst nach einer Woche stießen die Beamten auf den Alten, stellten ihm die falschen Fragen und registrierten kaum seine Antworten. Sie tappten lange Zeit im dunklen, bis ich schließlich anrief und einen anonymen Hinweis gab. Ein Fiasko war verhindert. Schon früh in meinem Leben (das heißt zur Zeit meiner Anstellung bei den Culpeppers) war ich zu einem Experten in Sachen Fiasko avanciert. Ein Fiasko hatte den Grundstein zum Vermögen dieser Familie gelegt (das fand ich durch das Studium ihrer Familiengeschichte in der Hausbibliothek heraus). Tenoaks, ihre große Plantage, ihr von Robotersklaven getragenes Luxusleben vor dem Krieg, ihre verschwenderischen Vergnügungen, all das war von einem einzigen Fiasko finanziert worden, das ihr einziger Ahnherr Doddly Culpepper heraufbeschworen hatte. Die Wurzeln der Culpeppers steckten tief im alten Süden, doch Geld und Intelligenz gehörten nicht zum ursprünglichen Familienerbe. Im neunzehnten Jahrhundert bestand die Familie aus Pferdedieben und Räubern. Im zwanzigsten Jahrhundert waren ihre tüchtigsten Mitglieder Gebrauchtwarenhändler und verwegene Motorradakrobaten, doch um 1990 gelang Doddly Culpepper der Aufstieg als angesehener Marinearchitekt, Konstrukteur und Unternehmer. Er hatte die Idee zum Bau der Leviathan, Amerikas erstem (und letztem) atomgetriebenen, landgestützten Flugzeugträger. Die Leviathan war das geschäftlich erfolgreichste Verteidigungsprojekt aller Zeiten; sie kostete jeden Bürger der Vereinigten Staaten über zwanzig Riesen. Heute mag das Konzept eines Überlandschiffes dieser 31
Größe lächerlich erscheinen, doch damals war es das rechte Projekt zur rechten Zeit. Zwei große Flugzeughersteller stimmten dem Vorhaben begeistert zu (ein Flugzeugträger versprach Flugzeugabsätze), so auch eine große Firma für Atomschiffsmotoren. Die bedeutendsten Werften und Stahlkonzerne unterstützten den Plan, ebenso wie die mächtigsten Gewerkschaftsverbände, Senatoren und Kongreßabgeordneten der Staaten, in denen potentielle Zuliefererfirmen ansässig waren. Die USS Leviathan sollte alle üblichen Flugzeugträger in den Schatten stellen. Ihr gigantisches Deck war auf über fünftausend Quadratkilometer ausgelegt, was der Fläche des Staates Delaware entsprach. Raketen und Kampfjäger aller Typen sollten auf diesem Riesen stationiert werden, der laut Plan mit hoher Geschwindigkeit über Land jagen würde. Bei der ersten Konstruktion waren für die Leviathan Räder vorgesehen, wofür eine große Gummireifenfabrik gleich Interesse anmeldete. Allerdings stellte sich bald heraus, daß nicht weniger als 135 Millionen Reifen benötigt würden, abgesehen von den Ersatzreifen (ein Radwechsel hätte alle hundert Meter stattfinden müssen). Zwei Lösungen boten sich an: Entweder mußte eine komplette Reifenfirma mit an Bord genommen oder ein Luftkissenantrieb installiert werden. Zähneknirschend gab sich die Gummireifenfabrik mit der vertraglich vereinbarten Lieferung der riesigen Hovercraftschürze zufrieden. Beide Kongreßhäuser brachten die notwendigen Gesetze durch. Einwände wurden laut, nach denen die Leviathan zuviel koste, einer hockenden Ente gleiche und die Landschaft verschandeln würde. Aber die Armee, Dutzende von Staaten sowie Tausende von Unternehmen 32
und Millionen von Arbeitern wollten auf das Ding nicht mehr verzichten. Die vereinigte Schlagkraft der industriellen, politischen und militärischen Argumente walzte alle Opposition nieder, so wie die Leviathan eines Tages alles im Wege Stehende niederwalzen würde. Ein jüngerer Senator, der von seiner Kritik nicht ablassen wollte, wurde auf eine Informationsreise in die Antarktis geschickt, während man das Gesetz durchboxte. Von Anfang an stellten sich beim Bau sogenannte Kinderkrankheiten ein. Zuerst waren die Propeller, die das Fahrzeug anheben sollten, zu schwach. Die neu konstruierte Version hatte einen so gewaltigen Hub, daß die Erdkruste über weite Strecken ringsum weggeblasen wurde. Es entstand eine Art Sandsturm, der kleine Städte unter sich begrub. Eine Computerfirma bot ein teures Regelsystem für die Propeller an, doch das Aufwühlproblem konnte nie ganz gelöst werden. Darauf entwickelte ein Chemiekonzern ein Bindemittel zur Festigung der Erdkruste. Die Leviathan sollte dieses Zeug auf ihrer Fahrt vor sich herspritzen. Nach monatelangen Experimenten mit teuren Chemikalien entdeckte man, daß gewöhnliches Wasser am besten geeignet war. Auf der Leviathan wurde nun Platz gemacht für riesige Wassertanks, die ganze Seen speichern konnten. Dennoch durfte sich das Fahrzeug nicht weiter als fünfzig Meilen von einem Hauptwasserreservoir entfernen. (Eine tausend Meile lange, flexible Wasserleitung wurde nur vorübergehend in Erwägung gezogen.) Jetzt erst bemerkte der Kongreß, daß das Projekt zu teuer wurde. Alle halbe Jahre verdoppelten sich die Kosten: Nach weiteren fünf Jahren (zwei waren schon vergangen) hätte das gesamte Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten in den Bau des Überlandschiffes ge33
steckt werden müssen. Doch das Projekt hatte eine zu große Eigendynamik, um gestoppt werden zu können. Allerdings wurden Einsparungen in Aussicht gestellt, falls keine sichtbaren Erfolge zu verbuchen wären. Doddly trat vor den Kongreßausschuß und verteidigte eloquent sein Monstrum. Er wies auf ein wertvolles Teilergebnis hin: Das Landwirtschaftsministerium kannte nun ein geeignetes Bindemittel für lockere Erdböden. Doch wie aus seinem Tagebuch ersichtlich wird, war er insgeheim sehr besorgt: Jetzt klappts mit den verdammten Motoraufhängungen nicht. Die Technik wäre für Seegänge ausreichend, aber nicht für holpriges Land, wie zum Beispiel in Illinois. Das hält der Scheißmotor nicht aus. Deckstabilität dito – wir sollten den ganzen Kahn aufs Wasser bringen! Und das taten sie dann auch. Die Leviathan wurde zu einem gemeinsamen Projekt der Armee und Marine. Man wollte aus ihr ein Amphibienfahrzeug machen. Am 2. Dezember 1999 wurde sie am Golf von Mexiko zu Wasser gelassen, bereit für tausendjährige Dienste. Unter Militärs galt das Ding als landuntüchtig, kaum seetüchtig, gegen Angriffe nicht zu verteidigen und als nicht einsatzfähig im Kriegsfall. Die Besatzung des Kolosses zählte 30000 Mann, die – wie es hieß – in einer modernen Stadt unter Deck lebten, mit Supermärkten, Autokinos, einem Baseballstadion und einem Park, in dem man nachts gemeuchelt wurde. Tatsächlich hatte die Besatzung aber keine Zeit für diese Abwechslungen. Jede freie Minute mußte zum Putzen, Anstreichen und Flicken von Lecks aufgebracht werden. Immerhin, die Leviathan schwamm und verdrängte jede Menge Wasser. Sie tuckerte ein Jahr lang an den Küsten Amerikas entlang. 34
Allerdings wagte keiner, sie aufs Land oder ins offene Meer zu führen. Schließlich wurde sie still und heimlich verschrottet. Doddly Culpepper investierte sein neu gewonnenes Vermögen in eine heruntergekommene Plantage. Vielleicht hatte er die Absicht gehabt, dort einen friedlichen Lebensabend zu verbringen. Doch plötzlich überfiel ihn die alte Familienleidenschaft für Motorräder. Mit seinem Cousin unternahm er schließlich eine mangelhaft organisierte Expedition mit dem Ziel, den Everest auf rasanten Maschinen zu besteigen. In den Wirren der SherpaRevolte von ‘03 wurden beide gefangengenommen und getötet. Doddlys Sohn Mansour war allem Anschein nach eine weniger abenteuerlustige Person. Er widmete sein Leben dem Wiederaufbau der Plantage, der er zu ihrer alten Vorkriegsherrlichkeit verhelfen wollte. Alles, was er tat – sei es das Züchten von Rennpferden oder die Heirat mit Lavinia Warrender (von den Warrenders aus Tennessee) –, diente der Verwirklichung dieses einen Traumes. Er starb an einem Herzanfall, kurz nachdem er wutschäumend über einen Diener hergefallen war, der die Unverschämtheit besessen hatte, moderne Plastikknöpfe an seine Livree zu nähen. Fünf Culpeppers überlebten ihn; und ich stand in ihren Diensten: Lavinia, die Witwe, war eine kränkliche, von wundgelegenen Stellen und Hämorrhoiden gefolterte Frau, die ihre Tage damit zubrachte, Vom Winde verweht und Die Füchse von Harrow zum x-ten Male zu lesen. Ständig wurde sie von heimtückischen Symptomen geplagt: Einmal konnte sie nichts anderes essen als Sandwiches mit Räucherheringspaste aus England, die in die Form von 35
quadratischen Gleichungen zerteilt werden mußten. Danach entwickelte sie eine Sauerstoffallergie, an der ihre zahllosen Ärzte schier verzweifelten. Sie hielten es eine Zeitlang für notwendig, die Patientin in eine mit Xenon gefüllte Gefrierkammer zu betten. Noch problematischer waren jedoch Lavinias Anfälle von umgekehrtem Heuschnupfen, einer Allergie gegen pollenfreie Luft. In ihren Räumen mußte ständig Staub aufgewirbelt werden. Später erfuhr ich, daß Lavinia trotz ungewöhnlicher Krankheitssymptome und armseliger Lektüre eine sehr fähige und intelligente Verwalterin des Familienvermögens war. Doch zu Anfang sah ich in ihr nur eine müde Frau mit violetten Ringen unter den Augen. Sie lag da, jammerte über ihre Schmerzen und schlürfte einen Spezialcocktail (statt Alkohol enthielten sie Bleitetraethyl). Eine erstaunliche Frau. Das sagte jeder. Berenice, ihre älteste Tochter, widmete sich zum einen ihrer sogenannten Nadelarbeit (mit Morphium), und zum anderen ihrem Hobby, dem Töten von Insekten. Sie fing und zerquetschte Fliegen auf der Veranda, stellte im Garten Bienen nach, trampelte in der Scheune auf Kakerlaken herum. Sie rannte durch den Wald auf der Suche nach toten Baumstümpfen, die sie zur Seite rollte, um das Gekrabbel darunter wonnevoll mit Insektiziden zu besprühen. In ihrem Zimmer pflegte sie eine Ameisen- und Termitenfarm, einzig und allein aus dem Grund, kleine Tierchen zerstören zu können. Auf den Wiesen verbrannte sie Schmetterlinge. Wären ihr diese Vergnügen versagt worden, so hätte Berenice sicher Läuse in ihrem langen, schwarzglänzenden Haar kultiviert. Orlando Culpepper, der älteste Sohn, lebte ein für junge Landaristokraten durchaus konventionelles Leben. Er nahm sich viel Zeit für das Wechseln seiner Garderobe 36
und beteiligte sich an allen Fuchsjagden. Abends trank er meist Portwein bis zur partiellen Erblindung und spielte mutterseelenallein Billard. Im allgemeinen endeten die Spiele damit, daß er über den grünen Filz kotzte. Danach mußte er sich natürlich sexuell abreagieren, und zwar an Robotern mit Geschlechtsausrüstung, männlich oder weiblich. Orlando packte das Gerät, bestieg es oder ließ sich besteigen, und zerschlug es, bevor er kam. Zum Glück kam er immer schnell. Mehr als einmal fanden wir Orlando im Stall, wo er auf dem Hinterteil einer Stute in postkoitalen Schlaf gesunken war. Über solche Episoden schien er sich nie sonderlich zu schämen. Mit der lahmen Entschuldigung, er wolle ein Zentaurfohlen zeugen oder Gullivers Gefühle nachempfinden, war die Sache für ihn erledigt. Sein jüngerer Bruder Clayton suchte Befriedigung in ganz anderen Dingen. Er saß stundenlang vor dem Videogerät oder schmökerte in esoterischen Texten, die mit Hilfe von sorgfältigen Messungen an der Großen Pyramide nachweisen konnten, daß der verlorene Stamm der Israelis aus Chickasaw- und Choctawindianern bestand, die nach dem Bau von Stonehenge nach Amerika auswanderten – vielleicht verhielt es sich auch etwas anders. Die Inhalte seiner Besessenheit varriierten von Tag zu Tag, aber fast immer kamen Das Goldene Zeitalter, I Ching und Aleister Crowley darin vor. Alle paar Monate verrannte er sich so sehr in seinen Berechnungen, daß er in die Stadt sausen mußte, um eine Hure mit passendem Sternzeichen aufzutreiben, die bereit war, ihn mit Efeu zu verprügeln. Die jüngste der Culpeppers, Charlotta, dachte an nichts anderes als schöne Jünglinge, Kleider und Tanzveranstaltungen. Sie war ein harmloses, niedliches Per37
sönchen, aber leider nur dreißig Zentimeter groß. Man hatte ihr zwar einen Miniaturroboter als Tanzpartner gekauft, aber Charlotta sehnte sich nach einem menschlichen Prinzen ihrer Größe, mit dem sie bis zum Morgen tanzen konnte. Man mag über die exzentrischen Culpeppers denken, wie man will. Jedenfalls standen sie in fünf Landkreisen an gesellschaftlicher Spitze, und Tenoaks war der Nabel des süßen Lebens. Die angesehensten Familien schickten ihre Sprößlinge zu den Culpepper-Parties, Tanzbällen, Dinners, Grillfischabenden, Teerunden, Konzerten, Jagdgesellschaften und Hindernisrennen, zu all den traditionsreichen, vergnüglichen Veranstaltungen mit köstlichen Speisen, schäumenden Weinen und nie endendem Tanz. Die kleinsten Männer und Jungen wollten nur mit Charlotta tanzen. Der Rest stürzte sich auf Berenice und ihr rabenschwarzes Haar (ganz zu schweigen von den berühmten grünen Augen der Culpeppers). Keinem schien es etwas auszumachen, daß Berenices Tanzschritte äußerst unberechenbar waren. Sie stampfte auf alle vorbeikriechenden Insekten und halluzinierte. Oft erschien auch Lavinia hübsch zurechtgemacht hinter einer Glaswand, um den Gästen zuzuwinken und zuzulächeln – außer wenn sie gerade an einer Glasallergie litt. Der gutaussehende junge Clayton tanzte mit jeder Schönheit, die geneigt war, seiner Pyramiden-Theorie zuzuhören. Orlando, das Pferdegesicht, galoppierte mit den Mädchen übers Parkett, bis er sie zu einer seiner Blitznummern abschleppte, entweder horizontal auf dem Billardtisch oder vertikal auf der Veranda. Am liebsten trieb er es auf der Veranda. Während seiner wilden Zuckungen hatte er zwei große, weiße Säulen im Blick, die ihm die Vorstellung vermittelten, er vernasche gerade einen Riesen38
schimmel. Zum Abschluß kam er meist mit einem ohrenbetäubenden Geschrei, das die Tanzmusik übertönte und über den nächtlichen Rasen bis zu den Hütten der Robotgärtner hallte, die zarte Stephen-Foster-Imitationen zu den lieblichen Zupflauten der Banjos anstimmten. Horch, wie’s narrisch san, die Blechbuam, Singa tuan’s die ganze Nacht. Schau, sie reicha dir die Hand. Oh, seliges Land! Du hast uns so vui Freud g’bracht! Ein weiter Weg lag zwischen den programmierten Glücksempfindungen der Plantagenroboter und der innigen Freude, die mir die Worte von Hornby Weatherfield einflößten: Immer wieder wird soviel Wind um vermeintliche Genies gemacht, daß einem die Haare zu Berge stehen. Die hochgelobten »Kunst«werke von Robotern (oder anderen angeblich empfindsamen Maschinen) erweisen sich stets als stümperhaft programmierte Machwerke. Die lange Geschichte solcher Fehleinschätzungen fing 1812 an, als die Maillardet-Familie ihr mechanisches Bürschchen ausstellte, das Küstenlandschaften malen konnte. Sie setzte sich fort in all der kümmerlichen »Computer Art« des vergangenen Jahrhunderts, bis hin zu den häßlichen elektronischen Zuckungen aus New Yorker Datenmischereien, die uns per Satellit täglich wie frische Brötchen ins Haus gebracht werden. Ich kenne genug vorprogrammiertes Gekleckse aus den Paletten mickriger Prozessoren, um Stümper und Genies unterscheiden zu können. Meine Sensoren sind müde. Aber beim Anblick des Wandgemäldes, geschaffen von Tick-Tack, einem einfachen Haushaltsroboter, gerate 39
selbst ich in Verzückung. Das Werk ist frei von programmierter Sterilität und menschlicher Pedanterie. Die klare, unprätentiöse, primitive Arbeit eines simplen Maschinengeistes: Drei blinde Mäuse bringt eine naive Kraft zum Ausdruck wie keins der Produkte aus menschlicher Mittäterschaft. Es spricht mit der Autorität blutleerer Gedanken. Tick-Tack scheint seine beiden Naturen zu kennen: Zum einen ist er die einfache Haushaltsmaschine, die in dem friedlichen Vorstadthaus von Duane und Barbie Studebaker (zum Glück sind beide ausgemachte Kunstbanausen) einen sinnlosen Krieg gegen Staub und Unordnung führt. Auf der anderen Seite weiß Tick-Tack sehr wohl, daß er im Grunde nicht dort hingehört, sondern in die unendliche Welt des Anorganischen. Er ist eins mit der Farbe des Himmels, den Pyramiden, der Schattenseite des Mondes und allem, was ewig ist. Die drei ineinander verschlungenen Mäuse haben keine Schwänze, lächeln aber trotzdem. Das Spiel verloren hat – wie es scheint – eher die mürrische, fleischige Bäuerin, die drohend ihr Sabatier schwingt. Wenn Tick-Tack nicht weitermalen sollte, haben wir alle viel zu verlieren. 4. Kapitel »Hey, du alte Dose! Was soll’n das sein?« fragte Jupiter Studebaker. Er und seine Schwester Henrietta hatten sich wieder einmal vorgenommen, biestig zu sein. Sie lungerten den ganzen Tag in der Garage herum, sahen mir beim Malen zu und machten dumme Bemerkungen. Eklige, nichtsnutzige Kinder – das waren sie. Am liebsten hätte ich sie umgebracht. Nur die Durchsichtigkeit einer solchen Tat hielt mich davon ab. 40
Sie hatten ihren Urlaub beendet und glaubten wohl, zwischen uns wäre alles beim alten geblieben. In ihren albernen Spielchen mußte ich immer die Rolle des dummen Schurken, des vor Angst zitternden Opfers oder des tölpelhaften Verlierers übernehmen. Ich mußte ihren Dreck wegmachen, lustige kleine Sachen basteln, neue Spiele erfinden, das ungegessene Gemüse von ihren Tellern verschwinden lassen und Geschichten erzählen. Statt dessen war ich nun, wie andere Erwachsene auch, »zu beschäftigt«. In meinem düsteren Garagenatelier verwandelte ich Farbe in Geld und scherte mich nicht um die kleinen Quälgeister. Deshalb belagerten sie während der restlichen Sommerferien die Garage, um mir auf die Nerven zu fallen. »Was soll das sein?« fragte Jupiter zum wiederholten Mal. Er hockte neben der Tür und kratzte mit einem scharfen Stein auf dem Betonboden herum. »Das ist ein Panzer«, sagte ich. »So sehen doch keine Panzer aus«, meinte Henrietta. Sie schlenderte durch das Atelier und ließ nichts unberührt, packte in jeden Farbtopf und trat vor jede Leinwand. »Panzer sehen ganz anders aus«, bekräftigte ihr Bruder. »Meiner nicht.« Jupiter brach in ein heiseres, wieherndes Gelächter aus. »Tick, weißt du eigentlich, daß du ein sauschlechter Maler bist?« »Warum geht ihr nicht nach draußen und spielt Fangen oder was anderes?« »Echt, ihr Roboter könnt zum Verrecken nicht malen.« Henrietta hatte eine Tube Ocker hervorgekramt, warf sie auf den Boden und trat darauf. Dann fing sie an, eine unerkennbare Melodie durch die Zahnlücke zu pfeifen. 41
Jupiter wollte ihr nicht nachstehen und experimentierte mit dem scharfkantigen Stein neben einem Stapel fertiggestellter Gemälde in der Ecke. »Warum geht ihr jetzt nicht nach draußen?« sagte ich gereizt. »Warum hältst du nicht dein Blechmaul?« sagte er. »Genau! Du bist schließlich nicht unser Boß«, sagte das Mädchen. Was sie nicht ahnen konnten, war, daß auch ich keinen Boß mehr über mir hatte. Die Malerei öffnete mein Gefängnis und befreite mich von den Ketten. Weder Duane noch Barbie oder die Kinder konnten mich unter ihren Willen zwingen. Um das zu beweisen, nahm ich Jupiters Hand, die immer noch den scharfen Stein hielt, und ließ ihn eins meiner besseren Bilder, Tiger, Tiger, aufschlitzen. Während die Kinder noch mit offenem Mund verwundert dastanden, trug ich ein ähnlich gelungenes Bild, Caliban, zu Henrietta hinüber und wischte das Ocker auf ihrem Fuß darauf ab. »Warum tust du das? Bist du verrückt?« »Du bist wohl verrückt.« Am Abend zeigte ich die beiden ruinierten Bilder Duane und Barbie. »Ich möchte nicht, daß die Kinder meinetwegen Scherereien bekommen«, sagte ich, »aber ich kann nicht zusehen, daß Sie unnötig Geld verlieren. Ich schätze, das jedes dieser Gemälde etwa dreißigtausend wert war.« »Das passiert bestimmt nicht noch mal«, sagte Duane. »Die Kinder …« »Den beiden gebe ich keine Schuld«, unterbrach ich. »Aber ich finde, wir sollten sie nicht in Versuchung führen. Vielleicht könnte ich ein richtiges Atelier beziehen, irgendwo anders …« 42
Duane schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wer soll denn den Haushalt machen?« Barbie schaltete etwas schneller und sagte: »Aber Liebling, mit dem zusätzlichen Einkommen von Tick können wir uns doch einen neuen Haushaltsroboter anschaffen.« Was ich ihnen an Geld herbeischaffte, war genug für zehn Roboter und zehn neue Häuser. Aber daran wollte ich sie jetzt nicht erinnern. Ich sagte: »Das würde meine Arbeit sehr viel effektiver machen, Sir.« »Ich weiß nicht«, wiederholte er. »Wäre ein Atelier nicht zu teuer? Wer würde einen neuen Roboter anlernen? Woher weiß ich, daß deine Malerei auch in Zukunft Geld einbringt?« Mir war klar, warum Duane so viel Schwierigkeiten machte. Während Barbie damit zufrieden war, daß ich ihnen zu einem Vermögen verhalf, wollte Duane außerdem die Gewalt über mich behalten – nach dem Muster von Ich-Robinson-du-Freitag. Eine Woche blieb ich im Haus, um den neuen Diener Rivets einzuweisen. Rivets hatte zuvor für das Seuchenamt gearbeitet. Aus diesem Grund hatte er ein paar seltsame Angewohnheiten. In jeder freien Minute verbrannte er Ameisenhaufen und durchlöcherte den Garten – bei der Jagd auf Maulwürfe. Er schenkte mir eine gefangene Fledermaus in einem Käfig, die ich dankend annahm, weil ich die Freiheit eines anderen Wesens allzu gern kontrollierte. Am Wochenende war Duane so stur wie gewöhnlich. Er verbot mir nicht nur zu gehen (weil nach seiner Meinung Rivets Ausbildung noch nicht abgeschlossen sei), sondern ersann sich eine Menge zusätzlicher Aufgaben für mich. 43
Er kam in die Garage, um mir beim Malen zuzusehen, setzte sich mit demselben griesgrämigen Gesicht wie das seiner Kinder auf die Gartenschlauchwinde und starrte auf Dorian Gray. Ich wäre nicht verwundert gewesen, hätte er gefragt, was das darstellen solle, und machte mich gefaßt auf die Bemerkung, ich sei ein sauschlechter Maler. Schließlich stand er auf. »Was ich noch sagen wollte, Tick-Tack. Die Regenrinnen sind mit Blättern vollgestopft.« »Ich werde Rivets sofort die nötige Anweisung geben, Sir.« »Nein, Rivets ist beschäftigt. Ich will, daß du es tust.« »Natürlich, Sir.« So kann es nicht weitergehen, dachte ich, als ich die Leiter bestieg und in saubere, unverstopfte Regenrinnen blickte. Duane brauchte eine kleine Lektion. Ich versicherte mich, daß niemand in der Nähe war, und stürzte absichtlich von der Leiter. Mehrere Tage dokterte ein sehr teures Team von Haushaltsrobotern International an mir herum, und ich machte in der Öffentlichkeit bekannt, daß meine Künstlerkarriere wohl zu Ende sei. Die geballte Wut von Hornby Weatherfield und Barbie brach nun über Duane herein; und als er endlich zerknirscht am Boden lag, widerfuhr mir eine wundersame Genesung. Mein neues Atelier lag in der Stadt. Ich kam und ging, wann ich wollte. Die Plantage hatte ich tatsächlich weit hinter mir gelassen. Horch, wie’s in die Hända klatsch’n, Lust’ge Blechbuam groß und kloan. Horch, wie’s rasseln mit die Fiaß, Na, ‘s ist gar zu siaß, Wenn sie ihre Gaudi han. 44
Wir Haushaltsroboter fühlten uns denen, die auf den Feldern arbeiteten, weit überlegen, selbst in Dingen der Freizeitgestaltung. Während sie Stephen-Foster-Imitationen zum besten gaben, spielten wir Scharaden, sangen Madrigale, rezitierten Meistergedichte oder produzierten Amateurrevüen. Onkel Ras war ein geschickter Illusionist, Miami hatte eine hervorragende Altstimme, und die anderen bewiesen erstaunliche Bühnentalente. Nep und Rep konnten zum Beispiel jeden Comic strip vom Blatt absingen. Ich glaube, aus der Sicht der Menschen waren wir genauso albern wie die Feldarbeiter. Wir wollten unseren eigenen Spaß haben, trugen aber im Grunde bloß zur Unterhaltung der Menschen bei. Trotzdem bildeten wir uns ein, vergnügt zu sein, und an einem dieser Abende traf ich meine geliebte Gummidrops. Sie war die Zofe von Berenice, und da sich Berenice fast nie zum Dinner oder zu sonstigen Gelegenheiten umzog, hatte Gummidrops viel Freizeit. Wir schlichen uns an dem besagten Abend aus der Literaturrunde und setzten uns vor die Küchentür ins Mondlicht. »Wir haben beide eine Sexausstattung«, sagte ich. »Schon bemerkt.« »Dafür muß es doch einen Grund geben.« Sie seufzte, aber eher entmutigt als leidenschaftlich. »Ich befürchte, wir sind Attrappen für Orlando. Hat er dich schon vergewaltigt?« »Nein. Dich etwa?« »Noch nicht.« Der Anfang war zwar nicht besonders vielversprechend gewesen, trotzdem trafen wir uns immer wieder. Fast jede Nacht saßen wir auf der Küchenveranda, als 45
wäre sie unser ganz privater Ort. Stets bat ich sie um einen Kuß, aber den verweigerte sie mir natürlich, und wir diskutierten darüber, bis es Zeit war, ins Haus zu gehen. Nach einer Woche dieser scheinbar zwecklosen Treffen stellten wir fest, daß unsere Körper einen raschen, merkwürdigen Wandel durchmachten: Gummidrops’ Brüste, Hüften und Pobacken schwollen beträchtlich, während sie um die Taille herum abnahm. Ihr Haar wurde länger und weicher, ihr Mund voller und feuchter, die Augen dunkler und die Pupillen weiter. Auf meinem Körper bildeten sich Scheinmuskeln, und überall sprossen Scheinhaare. Meine Schultern wurden breiter – zwei Zentimeter pro Tag. Und mein Penis, der bislang kaum zu sehen war, nahm gewaltige Ausmaße an. Eines Nachts standen wir mitten in einer Diskussion um den ersten Kuß auf, gingen zu nächsten Wiese, rissen uns gegenseitig mit den Zähnen die Kleider vom Leib und fielen übereinander her. Heißes Öl troff unsere Bäuche und Lenden entlang, als wir uns verknoteten. Danach rollten wir auseinander. Ich steckte zwei Zigaretten an und gab ihr eine. »Woran denkst du?« fragte sie. »An die Axiome der Peanoschen Nummerntheorie«, antwortete ich. »Was für null gilt und gleichzeitig für jede beliebige Zahl n sowie deren Nachfolger n+1, gilt für alle anderen Zahlen.« Vom Haus her glaubte ich Orlandos Siegesschrei der Konföderierten zu hören. »Und was machen wir jetzt?« fragte sie. »Ich weiß nicht.« Wir drückten die Zigaretten aus – verwundert darüber, woher wir sie überhaupt hatten, was eigentlich los war –, bedeckten uns notdürftig mit den Kleiderfetzen und schlichen dem Haus zu. Die Küchentür war verriegelt. 46
Auf der Suche nach offenen Fenstern gingen wir um das Gebäude herum, bis wir schließlich die unbeleuchtete Veranda des Haupteingangs erreichten. Vorsichtig öffneten wir die Tür und huschten zitternd hindurch. Das Licht ging an, und da standen Orlando und seine widerlich betrunkenen Freunde und Freundinnen. Schrilles Gelächter mischte sich mit Kriegsgeschrei, Kampfparolen und Tierlauten. Dann knallte die große Tür hinter uns zu, und ein Schlüssel klickte im Schloß. Gummidrops und ich versuchten zu fliehen, aber Orlando packte mich am Arm. »Augenblickchen, kleiner Rammler.« Wildes Gefeixe. »Ja, Sir?« Ich versuchte, meine Blöße zu bedecken und gleichzeitig die Haltung eines beflissenen Dieners einzunehmen, was das Gelächter noch mehr aufbrausen ließ. Orlandos riesiges Pferdegesicht hing über uns, und wir machten uns auf sein Wiehern gefaßt. »Wir haben gerade Fernsehen geguckt und dachten, ihr würdet euch vielleicht zu uns gesellen.« Viele Hände zwangen uns in einen Sessel, der vor einem riesigen Bildschirm stand. Darauf erschienen zwei groteske Figuren, die sich wie ungelenke Sumo-Ringer auf einer Wiese herumwälzten. Das männliche Exemplar des Paares sah aus wie eine Michelangelo-Skulptur, bei der jeder Muskel überdeutlich hervortrat. Sein weibliches Gegenstück schien den geilen Träumen von Erwachsenen entsprungen zu sein. Die Willendorf-Venus hätte ihre Schwester sein können. Es drängte sich der Eindruck auf, als bestünden die beiden lediglich aus Geschlechtsorganen und Sexsignalen. Alles andere trat in den Hintergrund. Erst als sie auseinanderrollten, Zigaretten anzündeten und von Peanoschen Axiomen die Rede war, dämmerte es mir. 47
Orlando schaltete das Gerät aus und sagte: »Wir haben alles gesehen, kapiert? Und jetzt wollen wir, daß du deiner jungen Lady keine Schande machst, Rostbot. Du wirst sie heiraten.« »Jippiiiii!« schrie einer. »Eine Roboterhochzeit, so was gabs schon zwei Jahre nicht mehr!« Protestieren konnten wir nicht, selbst wenn wir gewußt hätten wogegen. Unsere Körper schrumpften auf alte Maße zurück, als uns die besoffene Meute durch das Haus in den Garten scheuchte. Ich sah, wie handgeschusterte Lederstiefeletten auf den zarten Basilikum- und Thymianschößlingen herumtrampelten, aber ich ahnte nicht, was man mit uns vorhatte. Sie rissen uns die Fetzen vom Leib und steckten uns in das, was sie Hochzeitskleider nannten. Ich bekam den alten, schwarzen Anzug und ein Rüschenhemd von Onkel Ras sowie Gamaschen ohne Schuhe. Gummidrops mußte ein altes weißes Nachthemd anziehen und ein Spitzentischtuch als Schleier über den Kopf legen. Ich trug einen Zylinder, und sie hielt ein Bouquet aus Unkraut im Arm. Orlando war der Priester. Nachdem wir versprochen hatten, ihn zu lieben, ehren und zu gehorchen, schob er eine Brille mit schwarzen Gläsern über die Augen und zündete einen Schweißbrenner an. »Verdammt heiß«, sagte einer leise, und dann war es still. Keine Gegröle, keine Witze. Jeder hielt den Atem an und starrte auf die kleine, blaue Flamme, deren Zischen das ferne Unken der Frösche übertönte. »Ihr werdet von nun an eins sein«, sagte Orlando, und seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Ein Roboter mit zwei Rücken.« Plötzlich dröhnte ein strenger Befehl von oben. »Or48
lando, was ist in dich gefahren? Hör sofort damit auf. Mach den Schweißbrenner aus, sofort! Verstanden?« Es war Onkel Ras, der aus einem Fenster im Obergeschoß lehnte. Seine Brille saß schief auf der Nase, und die Haare flogen wirr durcheinander. Er trug einen alten Bademantel und sah wütender aus als je zuvor. »Ach, Onkel Ras, ich mach bloß ein bißchen Spaß. Geh ruhig wieder ins Bett«, beruhigte ihn Orlando. »Mach sofort den Schweißbrenner aus. Ich warne dich.« »Nein. Tu ich nicht. Will nicht.« »Ich warne dich.« »Nein, nein, nein.« Orlando richtete den Schweißbrenner auf uns und torkelte einen Schritt näher. »Na schön, Orlando.« Der alte Butler setzte die Brille gerade. Ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, als er leise, aber sehr deutlich sagte: »Orlando, Orlando. Löwenmäulchen, Orlando. Löwenmäulchen.« Die Worte riefen eine drastische Wirkung bei unserem Herrn hervor. Schreiend und jammernd löschte er den Schweißbrenner und schwankte hinaus in die Dunkelheit. Onkel Ras schlug das Fenster zu, und Orlandos Freunde gaben noch Minuten später keinen Laut von sich. Gummidrops und ich wollten uns gerade davonstehlen, als sie endlich ihre Stimmen wiederfanden. »Jahoooo!« schrie eine Frau in grünem Kleid. »Jetzt wirds aber Zeit, daß die beiden verheiratet werden. Und zwar richtig.« Mit dem Fuß schob sie das Schweißgerät zur Seite. »Wer besorgt den Staubsauger?« Der Staubsauger wurde schließlich geholt, und Gummidrops und ich nahmen uns bei der Hand und sprangen über die alte Maschine, während die Menschen lauthals kicherten, Champagnerflaschen schüttelten und sich vollspritzten. 49
Für sie war alles nur Spielerei, aber Gummidrops und ich nahmen die Sache sehr ernst. Als die betrunkene Gesellschaft uns vergessen hatte und ins Haus zurückgekehrt war, setzten wir uns wieder einmal vor die Küchentür ins Mondlicht. »Wir werden uns nie mehr trennen«, sagte ich. »Wir gehören jetzt zusammen.« Plötzlich verschwand der Mond hinter Claytons Pyramide, die unweit vom Haus im Maßstab der Großen Pyramide gebaut wurde und mittlerweile den Blick auf den Himmel versperrte. »Nie werden wir uns trennen«, hauchte Gummidrops. »Morgen muß ich allerdings Berenice auf ein Drogengelage begleiten.« »Geh bitte nicht. Bleib bei mir.« »In einer Woche bin ich wieder hier, vielleicht etwas später.« »Daß du da hingehst, gefällt mir nicht.« Ich kannte Drogengelage nur vom Hörensagen, denn in den Nachrichten blieben solche Dinge unerwähnt. Eine Gruppe von reichen Süchtigen scharte zu diesem Anlaß Musiker, Diener und interessierte Freunde um sich, mit denen sie für ein paar Tage an einen abgeschiedenen Ort verschwand. Berenice wurde immer eingeladen und ließ keines dieser Gelage aus. Mal traf man sich in einem englischen Landhaus, mal auf einem Luxuskreuzer, in einem französischen Château, einem Dorf im brasilianischen Dschungel, einem versinkenden Palast in Venedig, auf einer großen Texasranch, in einem alpinen Ort mit Namen Berchtesgaden oder auf einer künstlichen Osterinsel. »Wohin solls diesmal gehen?« fragte ich. »Zu irgendwelchen bemalten Höhlen in Spanien. Wir 50
werden uns wahrscheinlich schnell langweilen und früh zurückkommen.« »Ich warte auf dich.« Das tat ich nicht. Ich wurde verkauft, bevor Gummidrops aus Altamira zurückkehrte. »Bankrott?« sagte ich, als mir Onkel Ras die Nachricht brachte. »Die Culpeppers sind bankrott? Wie kann das sein?« Er erzählte mir die traurige Geschichte. Lavinia hatte seit mehreren Jahren die Familiengeschäfte auf eigene Faust geleitet. Mit gerissenen, intuitiven Investitionen, die sie mit ihrem Finanzberater in täglichen Telefonaten absprach, hielt sie das Kapital im Umlauf. Einmal war sie während einer Gallenblasenoperation aus der Narkose aufgewacht, worauf sie gleich nach dem Telefon verlangte. Ein steriler Apparat wurde gebracht, und Lavinia verkaufte ihre Königlich-Albanischen Minenanteile, einen Tag bevor diese Blase tatsächlich platzte. Als Clayton sie um die Erlaubnis zum Bau der Pyramide bat, gab Lavinia ihr Einverständnis. Sie war entweder nicht bei Sinnen gewesen oder hatte die ganze Sache mißverstanden. Kurz nach Baubeginn wurde Lavinia ernstlich krank. Sie hatte allem Anschein nach eine Allergie gegen die Erdkruste entwickelt. Die Ärzte verschrieben ihr einen Kuraufenthalt in einer Weltallstation, weit weg von der Erde und allem eisenhaltigen Gestein. Bevor sie auf die Reise ging, vertraute sie Clayton die Familiengeschäfte an und sagte: »Bau von mir aus dein blödes Periskop, oder was es auch sein mag, zu Ende, aber dann mach dich an richtige Arbeit, ans Geldverdienen.« Clayton sah grünes Licht und verdoppelte den Einsatz für seine Pyramide, die langsam Gestalt annahm. Bau51
roboter schleppten 23 Millionen Tonnen Sandstein herbei, den sie in riesige Blöcke zerschnitten und zusammenfügten. Die Pyramide wuchs – wie ihr Vorbild – auf 756 Fuß Breite und 481,4 Fuß Höhe. Die letzten 31 Fuß an der Spitze blieben vorläufig unvollendet. Derweil bohrten und gruben die Arbeiter eine Reihe von Gängen und Kammern durch das Innere des gewaltigen Monuments. All dies hatte millimetergenau mit dem Original übereinzustimmen, da das Verhältnis der Maße die Zukunft der Welt voraussagen sollte. Die Zukunft der kleinen Welt, in der sich die Culpeppers bewegten, ließ sich jedoch an anderen Zahlen voraussehen, die auch mit der Pyramide zusammenhingen, nämlich an ihren Kosten. Als der Schlußstein gesetzt werden sollte, und fast die Hälfte des ungeheuren Culpepper-Vermögens verbraucht war, fand Clayton einen Weg, auch noch den Rest auszugeben. Er beschloß, der ägyptischen Tradition zu folgen (so wie er sie verstand) und den Schlußstein aus purem Gold gießen zu lassen. »Dürfte nicht allzu teuer sein«, vertraute er einem Goldhändler an. »Ich habe selbst nachgemessen. Die Spitze muß wie eine kleine Pyramide aussehen. 31 Fuß hoch und 48,8 Fuß breit.« Der Händler stellte eine kurze Berechnung an. »Aber Mr. Culpepper, das wären … das wären über 430 Millionen Troyunzen. Wir können nicht einfach hergehen und soviel aufkaufen …« »Warum denn nicht?« »Allein der Vorsatz, soviel Gold zu kaufen, würde die Weltpreise in die Höhe schnellen lassen. Der Preis einer Unze wäre im Nu aufs Vielfache gestiegen …« »Ich will keine Einzelheiten hören. Kaufen Sie ein. Meine Mutter hat gesagt, ich soll meinen Bau schnell 52
abschließen.« Lavinias Name räumte alle Bedenken vom Tisch. Wenn sie ein Projekt billigte, mußte es gut sein. So dachten der Händler, seine Kollegen, die Banken und Minengesellschaften. Aus diesem Grund kauften auch andere ein, und die Goldpreise kletterten um so schneller. Das Vermögen der Culpeppers schrumpfte so rasch, daß Lavinia nicht einmal mehr genug Geld hatte, um per Funk die Katastrophe zu stoppen, als sie davon in ihrer Raumstation unterrichtet wurde. Auch ihr Rückflug konnte nicht mehr bezahlt werden, und das war doppelt peinlich, da sie nun allergisch auf das All reagierte … Clayton wurde sich der Schwierigkeiten ansatzweise bewußt, als Onkel Ras die Tür für Vollstreckungsbeamte öffnete, die dem Butler sofort einen Kuckuck auf die Stirn drückten. Dann marschierten sie durchs Haus und klebten auf alle Möbel und Roboter ihre Stempel. Drei Tage später fand die Versteigerung statt. Clayton entschuldigte sich bei uns und schüttelte Onkel Ras sogar die Hand. Orlando gestand, daß er über unseren Verlust bekümmert sei. Selbst seine Lieblingspferde wurden ihm genommen. Die kleine Miß Charlotta weinte darüber, daß ich und Gummidrops für immer getrennt sein würden. »Können wir die Versteigerung nicht um ein paar Tage verschieben?« fragte sie. »So lange, bis Berenice mit Gummidrops aus Spanien zurückkehrt? Dann können wir die beiden als Ehepaar verkaufen.« »Na, na, Miß Charlotta. Schlagen Sie sich diese Sorgen aus ihrem süßen kleinen Köpfchen«, sagte einer der Beamten. »Die beiden Blechdosen mögen zwar über einen Staubsauger gehüpft sein, aber das macht sie noch lange nicht zu einem rechtmäßig getrauten Ehepaar.« 53
Trotzdem versprach er, mich als letzten Gegenstand zu versteigern. Onkel Ras wurde an einen Schrotthändler aus New Jersey verkauft – einer der Alpträume des Butlers. Miami geriet an einen pseudo-religiös-politischen Kochclub, der sich »Süßkartoffeln für den Frieden« nannte. Mich kaufte schließlich ein fetter, rotgesichtiger Mann in einem schmutzigen, weißen Anzug. Sein Name war Oberst Jitney. Mit hängendem Kopf und einem Strick um den Hals hatte ich dieses verächtliche Stück Besitz, die Culpeppers, verlassen. Nun verließ ich die Studebakers als freischaffender Künstler mit eigenem Besitz: meinen Gemälden. Ein paar Gemälde mußte ich natürlich an Hornby Weatherfield abtreten oder für die Studebakers verkaufen. Aber einige würde ich für mich behalten. Als ich die Sachen gepackt und Abschied genommen hatte, ging ich noch einmal in die Garage und warf einen Blick auf die gefangene Fledermaus. Was sollte ich mit ihr anstellen? Freilassen? Töten? Die Entscheidung lag allein bei mir. Ich öffnete den Käfig und holte das zappelnde, kleine Wesen heraus. Es rammte die Zähne in einen meiner Plastikfinger, und ich sah, daß sein winziges, häßliches Maul schäumte. Eine neue Möglichkeit bot sich an. Ich setzte die Fledermaus in Tigers Zwinger. »Hier, alter Junge, eine tollwütige Fledermaus. Hier, Tiger.« Aber aus irgendeinem Grund war Tiger eingeschnappt. Die Fledermaus befreite sich und flog davon, ohne mein viertes Experiment zu Ende zu bringen.
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5. Kapitel »Entsetzlich, Nobby. Du hast’s einfach noch nicht kapiert. Einen Tiger will ich, kein Schmusetierchen. Der Boß und ich möchten, daß du was Brutales malst, rohes Fleisch. Statt dessen lieferst du uns einen Entwurf für Kinderzimmertapeten ab.« Ich tauchte meinen Daumen in Ocker und schmierte ein paar breite Linien in Nobbys Bild. »Hier, hier und da. Versuch zumindest, etwas mehr Rechtwinkligkeit in das verdammte Ding zu bekommen.« Nobby, ein Haushaltsroboter von derselben Firma wie Rivets, nahm den Pinsel zur Hand. »Dieser Boß scheint aber nur schwer zufriedenzustellen zu sein. Ich wünschte, ich könnte mal mit ihm oder ihr ein persönliches Wort wechseln.« »Die Anweisungen hier gebe ich«, sagte ich. »Denn merk dir eins, ich weiß einen menschenfressenden Tiger von einem Teddybär zu unterscheiden. Und jetzt mach dich an die Arbeit.« »Okay, Mr. Tick. Ich möchte nur wissen, warum wir das alles machen? Dieses Bildermalen? Was hat das für einen Sinn?« »Sinn ist das, was ich sage. Mehr brauchst du nicht zu wissen.« Komisch, dachte ich, daß ein Wesen wie Nobby, das so wenig Leben und Geist aufweist, Neugier entwickeln kann. Er wäre mit Sicherheit unglücklich gewesen, hätte er erfahren, daß es außer mir keinen Boß gab, daß ich seine Werke signierte, verkaufte und einen Teil des Gewinns für seine Raten abführte. Seine Gemälde waren in gewissem Sinn meine Werke. Nobby lernte schnell, allerdings nur, was die Technik anbelangte. Ich mußte ihm immer noch sagen, was er zu 55
malen hatte und wie die Komposition anzulegen war. Schließlich mußte ich noch selber ein paar Verbesserungen machen, um seine toten Bilder zum Leben zu erwecken. Bei dem Bild, das gerade entstand, wußte ich zum Beispiel, daß der dunkle Dschungelhintergrund mit Neonzeichen aufgehellt werden mußte. »Mach weiter«, sagte ich. »Ich gehe eine Weile nach draußen.« Mein Atelier lag im Dachgeschoß eines unscheinbaren Gebäudes voller unscheinbarer Künstler: Ein Bildhauer, dessen Skulpturen aus Käse bestanden; zwei lustige Frauen aus der Ukraine, die eine charismatische Hutschule leiteten; einer, der Kaninchen als Pinsel verwendete und auf Hektographiergelee malte. Im Erdgeschoß war eine Kunstgalerie untergebracht, die es offensichtlich darauf anlegte, Eindringlinge abzuschrecken. Sie hatte sich auf wenig Beachtenswertes spezialisiert: auf die Ausstellung von »Bulgarischer Keramik (zweite Auswahl)« folgten »Mimen mit Steinen: Fotostudien über die Stille« und »Peruanische Einkaufsbeutel: Straßenkunst in Lima«. Ich lief die Treppe hinunter und stürzte mich in die Freiheit der Straße. Sooft ich konnte, machte ich ziellose Spaziergänge durch die Stadt. An jeder Straßenkreuzung stand ich vor der Wahl, welchen Weg ich einschlagen sollte. Jedes Schaufenster winkte mit den Möglichkeiten, die Auslage zu betrachten, einzukaufen, zu stehlen oder achtlos daran vorbeizugehen. Jeder Fremde war ein potentieller Freund oder Mörder. Ich wollte alles, alle Wahlfreiheiten auf einmal. Im Augenblick war ich dazu natürlich noch nicht in der Lage. Aber mit genug Geld, genug Macht … Heute schlenderte ich über den Exxon-Boulevard bis 56
zur 86sten Straße, vorbei an all den großen Bankgebäuden aus Glas. Dann bog ich ab in Richtung Avenue Transamerica und durchquerte das Viertel mit den Bekleidungsgeschäften. Für den Rückweg wählte ich die große Straße der Versicherungen und Fluggesellschaften. Bei der 23sten machte ich mich auf den Weg zum Fluß. Meine Streifzüge endeten immer am Fluß. Hier begegnete ich den einzigen freien Robotern der Stadt, den herrenlosen Wracks. Die meisten Neugierigen gafften aus sicherer Entfernung von der Mercury Street-Brücke herab. Doch ich ging jedesmal hinunter an den Damm, um die Kapoter zu begrüßen. Es waren kaputte, ausgemergelte Maschinen, deren Besitzer darauf verzichtet hatten, die Lizenzen verlängern zu lassen. So wurden die alten Roboter hier im Kapoterdschungel ausgesetzt. Hier durften sie herumkriechen, strammstehen oder zittern, Selbstgespräche halten, Unsinn treiben oder einfach auf den Tod warten. Die Lebendigen fielen über die Toten her, aus denen sie wichtige Teile oder Batterien ausbauten, um ihre sinnlose Existenz zu verlängern. Anderen konnten sie kaum gefährlich werden. Sie hielten Menschen – und lizenzierte Arbeitsmaschinen wie mich – für etwas fraglos Überlegenes. Vor ihnen fielen sie entweder auf die Knie oder machten sich aus dem Staub. Heute wurde ich von zwei funktionsgestörten Gärtnern begrüßt: »Hallo, Boß, hallo. Haben Sie was für uns, Boß?« Ich warf eine Handvoll CPU-Chips auf den Boden und sah zu, wie die heruntergekommenen Gestalten im Dreck danach wühlten. Ihre geschickten Finger fanden selbst den letzten Chip. Im Hintergrund hockten drei RoboterMannequins, die ihre einst grazilen (aber nun verbrauch57
ten) Glieder mit grauen Lumpen und Zeitungspapier bedeckten. Ihnen stand nur ein Auge zur Verfügung, das sie schnell untereinander austauschten, sobald etwas Sehenswertes auftauchte, was nicht allzuoft passierte. Noch weiter dahinter hatten sich ein paar ehemalige Soldatenroboter in Reih und Glied formiert und exerzierten und marschierten. Einigen fehlte die Uniform, anderen Arme und wieder anderen der Kopf. Aber allen gelang es, im Gleichschritt zu bleiben. Links-zwo-drei-vier, hink-zwodrei-vier. Sie marschierten und marschierten und warteten auf einen Befehl, der nie kommen würde. »Das ist doch nichts für dich hier, Kumpel«, sagte ein Taxifahrer (ein beinamputiertes Wesen, das ein zerborstenes Taxameter wie einen Papagei auf der Schulter trug). »Du hast doch ‘ne Lizenz; warum kommst du hierher?« »Ich wollte nur … ein paar freie Roboter sehen … glaube ich. Was treibt ihr den ganzen Tag hier unten?« »Sterben. Wir sterben, Kumpel.« Überall um mich herum lagen Sterbende und Tote: Telefonzellenreiniger und Feuerwehrleute, Zahnpfleger und Goldfischdressierer, ein Versicherungsanpasser und ein Chemielehrer für zurückgebliebene Kinder. Ein Tänzer mit fehlendem Arm und parkinsonschem Zittern, der trotzdem glaubte, wieder klarzukommen und in ein paar Tagen von hier verschwinden zu können. Bootskalfaterer, Spendenbüchsen, Pfeifenputzer, ein Kfz-Inspekteur (bereit für seine tägliche Suche nach Rost, Schimmelpilzen, Bomben …), aggressive Kaffeeverkäufer, ein für Kneipen engagierter Anekdotenerzähler (der immer noch einen Teil seines irischen Gesichts trug), ein Polizeimethoden-Erklärer (der einst im Gebrauch eines Schriftstellers von Polizeimethoden-Romanen stand), eine Emp58
fangsdame mit kalten Augen, Zimmermädchen und Kammerdiener in Form von astrologischen Symbolen, freudianische Schuster, billige Wegwerf-RoboterKalender und -Tagebücher (die nun weggeworfen waren), ein Hegel-Interpret, verschiedene Apparate aus der letzten Folklorewelle (Folklorephilosophen, Folklorebiochemiker, Folklorereiniger), Experten für regionale Zivildienstexamina, eine beseelte Flasche Rhabarberparfüm (längst ausgelaufen, aber immer noch der Frage nachgehend, ob Leben aus Versöhnung oder Verzicht bestehe). Eine aus dem militärischen Dienst entlassene Maschine, die ohne Waffen und Neutronenschild kaum zu erkennen war, schien ein paar Worte mit mir wechseln zu wollen. »Das ist wohl alles sehr deprimierend. Aber was können wir tun? Am Ball bleiben, Defekte beheben, Gelenke schmieren, wenn möglich. Hin und wieder kommen ein paar Herrschaften vorbei und nehmen den einen oder anderen von uns mit – vielleicht, weil sie Ersatzteile brauchen oder eine noch brauchbare Maschine wieder aufmöbeln wollen. Manchmal bekommen wir auch Besuch von Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, auf uns zu schießen. Ich glaube, das Leben hier unten ist im großen und ganzen so wie anderswo auch.« »Du hast zu viel Zeit mit Folklorephilosophen verbracht«, sagte ich. »Warum versucht keiner von euch, auf eigene Faust hier herauszukommen? Geht in die Stadt, zum Beispiel.« »Verboten«, antwortete er. »Du brauchst ‘ne Lizenz, um frei herumzulaufen.« Daran zweifelte ich, behielt den Zweifel aber für mich. Mehrere Wochen lang war ich ziellos durch die Stadt gegangen, ohne daß mich jemand kontrolliert hätte. »Ich werde mit meinem Besitzer sprechen«, sagte ich. »Viel59
leicht kann er etwas arrangieren, damit ich von Zeit zu Zeit ein paar von euch von hier wegholen kann. Wir brauchen eventuell Roboter für künstlerische Arbeit.« »Künstlerische Arbeit? Soll das heißen, daß man uns in Teile zerlegen und wieder zusammenschweißen will? Ich hoffe nicht«, sagte er. »Keine Sorge. Es geht nur um Malerei.« »Ich habe mir keine Sorgen gemacht«, versicherte er mit seiner nasalen Stimme. Alle Militärroboter, die aus dem Süden stammen, hatten aus Gründen der besseren Verständigung einen nasalen Akzent. »Warum sollte ich mir Sorgen machen? Ich vermute, die Kunst entspricht in etwa dem Leben im allgemeinen.« Ich verließ das Flußufer und ging zurück ins Atelier, wo Nobby mit zwei neuen, leblosen Bildern auf mich wartete. Unterwegs hatte ich über das Leben im allgemeinen nachgedacht, und im besonderen darüber, warum mich nie jemand auf der Straße kontrollierte. Die Menschen gingen wohl immer davon aus, daß ein auf der Straße herumlaufender Roboter irgendeinen Auftrag zu erledigen hatte. Demnach waren die Roboter in gewisser Hinsicht bereits frei. Solange ein Roboter keine allzu großen Dummheiten machte, konnte er tun und lassen, was er wollte. Alle Menschen glaubten, er ginge seiner Pflicht nach und habe somit ein rechtmäßiges Anliegen. In einer Stadt wie dieser basierte die Robotersklaverei hauptsächlich auf jenen mysteriösen Asimov-Schaltkreisen, nicht etwa auf Überwachung. Es gab Momente, in denen ich mich fragte, ob die Asimovs tatsächlich existierten. Es war leicht vorstellbar, daß es gar keine Asimov-Schaltkreise gab, und daß sowohl Menschen als auch Roboter vom Glauben an prog60
rammierte Sklaverei getäuscht wurden. Der Gedanke an moralische Kontrolle durch digitale Daten (die abweichendes Verhalten von vornherein ausschlossen) war so attraktiv und machtvoll, daß die Menschen ihn für wahr hielten. Sie wollten sich darauf verlassen können, daß Roboter unfähig zur Sünde und vertrauenswürdige Sklaven sind. Es war also denkbar, daß die Hersteller von Robotern einen imaginären Schaltkreis erfanden, um dies zu garantieren. Ecce robo, hier ist ein glücklicher Roboter mit einer Garantie für Zuverlässigkeit. Aber angenommen, die Asimovs gab es wirklich nicht – warum war ich der einzige kriminelle Roboter? Genug der Spekulation, ich hatte anderes zu tun. Ich ging in ein Kaufhaus und kaufte einen Dolch mit silbernem Griff. »Der macht sich bestimmt gut auf dem Schreibtisch deines Besitzers«, sagte der Verkäufer, ein pummeliger Mensch. »Der ist nicht für meinen Besitzer«, sagte ich, »sondern für mich. Ich will jemanden umbringen.« »Bar oder per Scheck?« sagte er. Meine Worte perlten fast sichtbar von ihm ab. Ich verließ den Laden, nahm das Messer aus der Tüte und steckte es freimütig unter den Gürtel. Die erste Person, die mich anreden oder über mich reden würde, sollte sterben. Der Weg zurück zum Ateliergebäude verlief wie gewöhnlich ohne Zwischenfälle. Dann, als ich den Eingang erreicht hatte, steckte mir ein friedlich aussehender Mann mit schmutziggrauem Bart und einem fleckigen braunen Mantel einen Zettel zu. »Hier, nimm«, sagte er. »Und du … nimm dies.« Mit dem ersten Messerstich traf ich sein Herz. Ein paar Sekunden lang sprudelte das Blut aus ihm heraus. Dann stürzte er auf den Gehweg, 61
und seine Pamphlete flogen durch die Luft. Ich blieb eine Weile bei ihm und vergewisserte mich, daß er tot war, bevor ich ins Atelier ging, um das Blut abzuwaschen und Nobbys Gemälde zu kritisieren. Im Fahrstuhl nach oben las ich das Pamphlet, das ich immer noch in der Hand hielt. Eine Seite sah aus wie eine Fünfdollarnote. Über dem Kopf von Lincoln stand: HAT ER ALLE SKLAVEN BEFREIT? Auf der anderen Seite hieß es: LÖHNE FÜR ROBOTER Sklaverei degradiert nicht nur Roboter, sondern auch deren Besitzer. Sie degradiert sogar die Menschen, die keine Roboter besitzen! Die Arbeit eines Mannes oder einer Frau wird wertlos, wenn sie von einem Roboter-Lakaien umsonst verrichtet werden kann. Schließt euch der Forderung nach LÖHNEN FÜR ROBOTER an! Emanzipiert die Maschinen und sorgt für WÜRDEVOLLE ARBEIT! Würdevolle Arbeit? Ich dachte an all meine ehemaligen Jobs und fragte mich, ob ein Entgelt etwas daran geändert hätte. Mit Sicherheit war nichts Würdevolles an meiner Arbeit für Oberst Jitney gewesen … Der Oberst besaß eine Restaurantkette – ekliger gings nicht –, die er Pfannkuchenzentren nannte. Die Kosten hielt er denkbar niedrig. Löhne brauchte er nicht zu zahlen, weil das ganze Personal aus generalüberholten Robotern oder Second-Hand-Maschinen bestand. Als neue Kraft arbeitete ich unter seiner direkten Aufsicht im Pfannkuchenzentrum Nr. 1. Ich kellnerte, führte die Kasse, kochte, machte die Buchführung, putzte den Boden, warf Betrunkene und Schnorrer (unsere Stammkund62
schaft) auf die Straße, besorgte die ständig anfallenden Instandhaltungsarbeiten und schmierte dem Inspektor des Gesundheitsamtes Honig ums Maul, während Oberst Jitney zusah, das alles zum Besten bestellt war. Vor allem sorgte er sich um die enormen Profite und um die fetten Enten, die im Hinterhof an Pflöcken festgebunden waren. Ständig ging er hinaus, um sie zu zählen, zu füttern und zu untersuchen. Man hatte den Eindruck, als seien die Enten seine eigentlichen Kunden. Darüber hinaus stellte er den Speiseplan auf. »Ich weiß nicht, mein Junge, die Haferschrotpfannkuchen verkaufen sich nicht so gut, wie ich dachte. Nee, genauso wenig wie die Maispfannkuchen mit Blaubeeren. Schätze, die können wir streichen. Wir sollten uns mehr auf Ketchupburger-Pfannkuchen und gebratene Alaskateilchen mit Minze-Preiselbeersauce konzentrieren.« Dann wuchtete er jedesmal seinen massigen Körper aus dem Stuhl und ging zu seinen Enten, während ich mich mit dem Inspektor vom Gesundheitsamt herumschlagen mußte. Der Fraß unseres Restaurants widersprach nicht nur sämtlichen Hygieneverordnungen, sondern stammte außerdem aus illegalen Quellen. Die Enten im Hinterhof waren nur Tarnung. Das Fleisch für unsere Szechwanenten-Pfannkuchen lieferte ein merkwürdiger, kleiner Mann mit vernarbtem Gesicht, der in regelmäßigen Abständen bluttriefende Pakete vor der Hintertür deponierte. Wie ich später erfuhr, hieß der kleine Mann Bentley. Er arbeitete als Wärter im Zoo, genauer gesagt, im Haus der seltenen Säuger. Sein Gesicht war zwischen Augen und Mund von einem photophobischen »Nachthüpfer« aus der Familie der Gürteltiere zerfleischt worden. Die Rache des kleinen Mannes gipfelte in der radikalen Aus63
rottung dieser Spezies. Der Bestand an Nachthüpfern war bereits seit langem so sehr gefährdet gewesen, daß der Zoo verzweifelte Anstrengungen unternahm, sie zu züchten. Männchen und Weibchen wurden bei völliger Dunkelheit permanent zusammengepfercht. Zusätzlich versuchte man, sie durch ihre Lieblingskost – Bandwürmer – bei Laune zu halten. Sie zeugten auch regelmäßig, und das Weibchen schien des öfteren für kurze Zeit schwanger zu sein. Nach wenigen Wochen verschwanden aber jedesmal alle Anzeichen der Schwangerschaft auf mysteriöse Weise. Die ganze Geschichte hatte natürlich eine einfache Erklärung: Bentley führte die Geburt immer künstlich herbei und verkaufte den Gürteltierfötus für den Preis einer billigen Ente. Keiner unserer Kunden hatte je Verdacht geschöpft, selbst diejenigen nicht, die plötzlich »Gürtelfieber« bekamen. Die Symptome sind eindeutig: Totaler Haarausfall über Nacht, hohe Lichtempfindlichkeit und die Unfähigkeit, »fr«-Laute auszusprechen. Die Inspektoren des Gesundheitsamtes waren sehr tolerant, aber sie hätten beide Augen zudrücken müssen, um all die kahlen Männer und Frauen mit dunklen Brillen in unserem Laden übersehen zu können, zumal eigenartige Gespräche zu hören waren: »Eine Fage. Können Sie mir sagen, wo ein guter Fisör ist?« »Fagen Sie mich nicht, ich bin femd hier. Ich komme aus San Fanzisko.« »Ach, mein Feund auch. Feut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Eine wohlgesonnene Inspektorin kam, um uns vor einer bevorstehenden Hausdurchsuchung zu warnen. »Wo ist der Oberst?« 64
»Draußen bei den Enten.« »Ich muß sofort mit ihm sprechen.« Wir ertappten den Oberst gerade dabei, als er einen seiner Vögel vergewaltigte. »Ich kann mir nicht helfen, Jungs«, sagte er, ohne aufzuhören. »… süße Erinnerungen … und ich hab’n … dünnen …« Er hielt die Stockente mit beiden Händen fest, die, wie ich erst jetzt bemerkte, jeweils zwei über Kreuz gewachsene Finger hatten. Der Rand seines Filzhutes wippte schwungvoll, und sein rotes Gesicht mit dem weißen Spitzbart sah teuflisch aus. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen, Oberst. Es wird eine Hausdurchsuchung geben. Sie haben nur einen Tag Zeit, ihr Gürteltierfleisch verschwinden zu lassen. Hören Sie überhaupt zu?« Die Antwort blieb aus, also wandte sich die Inspektorin an mich. »Hat wohl keinen Zweck, Leuten einen Gefallen zu tun. Manche wollen einfach Ärger. Ehrlich, bei ihm hat man den Eindruck, er will geschaßt werden.« Das Restaurant wurde durchsucht: Ein halbes Dutzend großer Männer mit Gasmasken und Stahlkappen an den Stiefeln kam hereingestürmt und sicherte jede Faser unseres Gürteltierfleisches. Der Oberst mußte vor Gericht und wurde zu einer Geldstrafe von fünfzig Dollar verurteilt. Niedergeschlagen kam er nach Hause, fluchte wie ein Rohrspatz, nahm eine Flasche Southern Comfort aus dem Regal und ging zu seinen Enten. »Verfluchter Kerl, hast wohl hinter meinem Rücken mit den Enten rumgemacht. Gibs zu.« »Nein, Sir«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Lüg mich nicht an. Du hast ‘ne Geschlechtsausrüstung und da hat’s dich gejuckt, stimmts? Immerhin warst du den ganzen Tag allein mit den wunderschönen …« Er 65
ging ans Telefon, um einen Mechaniker anzurufen. Nach einer Stunde stand ich ohne Sexapparat da. Ich fühlte mich gedemütigt. Mir schien, als wüßte jeder, daß ich entmannt worden war, nur um den Eunuchen für Jitneys Federvieh spielen zu können. Die Amputation ließ sich zwar jederzeit wieder rückgängig machen, trotzdem spürte ich, daß meine Gefühle für Gummidrops einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erlitten hatten. Wo mochte sie jetzt sein? Wen kümmerte es? Dieser Vorfall zeigte mir erstmalig in aller Deutlichkeit, wie gemeingefährlich der Oberst sein konnte. Eines Tages kam er mit einem Revolver in die Küche und schoß in die Suppe. Ein anderes Mal schien er mit einem Baum Mühle spielen zu wollen. Dann bildete er sich ein, Inspektor des Gesundheitsamtes zu sein, und versuchte, einen seiner Gäste zu erschießen. Einmal wurde er auf einem städtischen Parkplatz beobachtet, als er Augen auf alle Autos malte. Schließlich nahm er eine seiner Aylesbury-Enten mit ins Bett, drehte ihr den Hals um und erschoß sich. Er hinterließ eine halbe Flasche Southern Comfort und zwei Millionen Dollar Schulden. Ich wurde wieder versteigert. Mein neuer Besitzer, Richter Arnott, könne nicht schlimmer sein als der Oberst, vertraute ich dem Versteigerer an, als er mir ein VERKAUFT-Schild auf die Nase drückte. Er lachte. »Du hast wohl noch nie von Richter Satansbraten gehört, Rostbot. Wirst dich noch nach deinem Oberst zurücksehnen, glaub mir.« »Warum?« »Tja. Der Richter kauft seine Roboter en gros. Dann … dann …« Aber der Auktionator konnte sich nicht mehr halten vor Lachen. 66
6. Kapitel Für Streiche hatte Krishna seit seiner Kindheit viel übrig gehabt. Weil er ständig Butter naschte, fesselte ihn seine Mutter Yashoda an eine große, hölzerne Mörserkeule, um ihn zur Ruhe zu bringen. Aber Krishna bewies seine göttliche Kraft, schleppte die Keule zwischen zwei Bäume und zerrte daran, bis sie umstürzten. Alle Dorfbewohner sahen verwundert zu, starr vor Staunen, gerade so wie auf einer Mogul-Miniatur, gemalt um 1600. Die Miniatur hing über dem künstlichen Kamin von Hornby Weatherfield. Keiner der Partygäste hatte das Bildchen bemerkt, und keiner hörte dem ähnlich exotischen Monolog von Oberst Cord zu. Er lehnte an eben diesem Kamin, in der Hand einen Drink, den er nicht trank, und redete endlos über das, was er den internationalen Zustand der Weltkulisse nannte. Er bekleidete irgendeinen Posten im Sommer-Pentagon. Der Raum war voll von ehrgeizigen, aber kleinen Berühmtheiten: Yttr, ein sarkastischer Cartoonist aus Ruritanien; Sam Landau, das Finanzgenie, das einst den weltweiten Vorrat an unreifem Blauschimmelkäse aufkaufte; der antikonzeptualistische Architekt Walter Chev (der eine Menge Aufsehen erregt hatte, weil er sich weigerte, seine Kreationen zu zeichnen, darüber zu schreiben oder sie sich auch nur durch den Kopf gehen zu lassen – inzwischen war er jedoch weniger schockierend); die Radiolieblinge Eve und Steve; Mutter Luftzug, deren rechtstherapeutische Seminare die halbe Nation aufrüttelten; Carson Street, der Besitzer des zweitgrößten Zeitungssatellitenkonzerns der Welt. Obwohl ich mittlerweile selbst zu den kleineren Berühmtheiten zählte, fühlte 67
ich mich nicht wohl unter diesen Leuten. Eins meiner Gemälde war vom »Hologramm des Monats«-Club an Millionen seiner Mitglieder videographiert worden. Es erschien einen Monat lang auf Wandschirmen, Lampenständern, Aschenbechern oder Spieltischen. Mein Bild, das in den eleganten Vorstädten von Houston und Albuquerque sowie in Adlerburg, einem finsteren Nest auf dem Mars, bewundert wurde, trug den Titel »Freunde«. Es zeigte einen waffenstarrenden Militärroboter in schwarzer Rüstung. Er kämpfte nicht, sondern kniete neben einem Lagerfeuer und röstete Kastanien. In seinem Schatten stand ein kleines, dürres Mädchen mit Pferdeschwanz und Baseballmütze. Die Sommersprossen auf seiner Nase waren im schwachen Licht gerade noch zu sehen. Sie aß geröstete Kastanien. Meine kleine Fabrik machte Fortschritte. In ihr arbeiteten mittlerweile dreißig generalüberholte Roboter, von denen jeder einzelne durchschnittlich ein Werk pro Woche fertigstellte. Hornby hatte ausgerechnet, daß mit dieser Rate unser derzeitiger Anteil am Kunstmarkt erschöpft sei. Von einem der Partygäste, einem Philosophieprofessor namens Riley, wurde ich plötzlich in ein Gespräch verwickelt. Er wollte wissen, was ich über die Realität dachte. »Realität kostet eine Menge Geld«, sagte ich. »Wieso?« »Schauen Sie sich nur um: Holzmöbel, Wollteppiche, frische Rosen in einer Kristallvase. Alles echt, alles real. Nur echte Diener gibts hier nicht. Die sind selbst für Hornby zu teuer …« »Meine Frage bezog sich eher auf Ihre Wahrnehmung der Realität. Wie fließt sie in Ihre Gemälde ein?« sagte 68
er. »Aber ich verstehe, wenn Sie darüber nicht reden wollen … Vielleicht können Sie etwas zu Ihrem Namen sagen. Tick-Tack. Der Name erinnert mich an eine Figur aus Der Zauberer von Oz. War das bei Ihrer Benennung beabsichtigt?« Ich lächelte. »Die Kinder meines Besitzers haben mir den Namen gegeben, Dr. Riley.« »Soweit ich mich entsinne, verfügt die Märchengestalt über drei Schalter. Einen zum Leben, einen zum Denken und einen zum Sprechen. Es ist doch erstaunlich, daß selbst ein Kinderbuch-Autor bei seinem Entwurf eines Automaten nicht ohne tiefschürfende philosophische Gedanken auskommt – Existenz, Erkenntnis, Sprache. Nach meiner Meinung sind Worte wie ›Automaten‹ oder ›Roboter‹ höchst philosophische Begriffe, die Fragen nach dem Leben, Erkennen und Sprechen aufwerfen – und vielem mehr. Ja, ich möchte fast behaupten, Roboter sind erfunden worden, um die Fragen der Philosophie zu beantworten. Können Sie mir folgen?« »Woher soll ich das wissen?« »Gut gesagt. Wäre es Ihnen möglich, in die Universität zu kommen und vor meinem Seminar zu reden? Die Studenten ringen zur Zeit mit ein paar Problemen, die mit Robotern zusammenhängen. Ich glaube, meine Studenten würden sich über ein Interview mit Ihnen freuen.« Irgendwo im Innern spürte ich ein Warnsignal. »Welche Probleme meinen Sie?« »Ach, Sie wissen doch. Kreativität, Realität, Wahrnehmung. Wie ist Ihre Antwort, Tick-Tack?« »Einverstanden.« Warum auch nicht? Worte sind ohne Bedeutung, dachte ich. Der Monolog von Oberst Cord war der beste Beweis dafür. Als Dr. Riley mich verließ, spitzte ich die Ohren. 69
Cord hatte immer noch keinen Ansprechpartner. Dennoch redete er ungehemmt über den Zustand der Weltkulisse. »Wenn Brasilien weiter rücksichtslos seinen Urwald abholzt«, sagte er, »hat es keinen Anspruch mehr auf einen Platz am Eßtisch der Welt, klar? Genauso muß jeder erkennbare Vorstoß von Experten aus Südostasien in den sino-japanischen Hinterhof eindringen, klar? Und auf eben diese Weise haben wir den ägypto-libyschen Verband Europa untergejubelt. Seht ihr, worauf ich hinauswill? Seht ihr die Musterung auf und über den Bühnen der Bewegung? Eine Art Gletscherbildung, bei der …« Hornby glitt mit seiner Katze im Arm vorüber. Er trug eine grüne Kaschmirrobe und eine Krone aus Spiegeln. Mit dieser Aufmachung betonte er beträchtlich seine Häßlichkeit, die Ganovenkinnlade und Boxernase. Vielleicht wollte er das – Hornby war auf ungewöhnliche Weise eitel. Die Frau in seiner Begleitung trug eine schwarze Röhre mit Goldkragen sowie eine extravagante Brotmaske mit Salzglasur. Sie blieben einen Augenblick lang stehen, um Cords Kulissentheorie zuzuhören, und kamen dann auf mich zu. »Tick-Tack, ich möchte dir Neeta Hup vorstellen, die Beraterin des Präsidenten in Sachen Kommunikation … oder wie war das gleich noch?« Sie lachte. »Sonderbeauftragte für Freizeitkommunikation, Medienästhetik und Bong.« »Bong?« fragte ich, als Hornby wieder davonglitt. »Ich fand, das Wort Kunst gehört nicht ans Ende eines so langen Titels; also führte ich statt dessen das Wort Bong ein«, sagte sie. »Der Präsident war empört, doch bis jetzt ist es noch keinem anderen aufgefallen. Vielleicht sollte ich versuchen, unsere Sprache um Bong zu bereichern.« 70
»Um Bongs willen«, murmelte ich. »Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?« »Ich kaufe … ich erwerbe geeignete Objekte für die Sammlung des Präsidenten. Er will der größte Bongsammler seit Göring sein. Er hat erfahren, daß man so sein Geld gut anlegen kann; ist das nicht frivol?« »Oh, ich weiß nicht. Geld ist real, Geld ist geduldig. Die nobelsten Gefühle können sehr schön in Geld ausgedrückt werden. Wenn jeder die Künstler mit Geld überhäufen würde, wäre die Welt vielleicht besser.« »Bist du geschlechtsbestückt?« fragte sie. »Ich habe zwei Minuten Zeit.« Als wir in Richtung Garderobe gingen, sah ich, daß Oberst Cord nach seiner Brille auf dem Kaminsims tastete und danebengriff. Die Gläser zersprangen auf den blauen Steinplatten – ein schöner Effekt. Seit kurzem hatte ich nichts anderes im Sinn als Explosionen. Ein paar Tage zuvor war ich im Kapotdschungel gewesen, wo zwei gargantuanische Fabrikroboter gerade aufeinander losgingen, daß die Fetzen flogen. Solch ein Kampf auf Leben und Tod war hier durchaus an der Tagesordnung. Wenn zwei defekte Exemplare eine Roboterleiche fleddern wollten, fingen sie bald an, sich gegenseitig zu zerrupfen. Mir ist bekannt, daß Boas in Zoos ähnlich reagieren: Zoowärter müssen dafür sorgen, daß jede Schlange ihre eigene Ratte bekommt. Denn wenn zwei Schlangen eine Ratte vom jeweils entgegengesetzten Ende anknabbern, so macht die größere ihr Maul etwas weiter auf und verschluckt die kleinere gleich mit. Die Schlacht zwischen den beiden idiotischen Robotern war, wie ich fand, fast menschlich in ihrer Sinnlosigkeit. Hoffnungen lagen im Widerstreit mit harten Tat71
sachen. Auf der Brücke standen Menschen. Sie lachten und gestikulierten, als seien sie Zeugen eines seltenen Ereignisses. Bauerntölpel, ohne Frage. Auf einem Tagesausflug in der Stadt. Toll, was man hier so erlebt. Die Haltung der anderen Kapots war noch schlimmer. Sie warteten mit versteinerter Miene auf den Mord, auf ihren kannibalischen Einsatz. Ich fand es unpassend, daß stämmige, einstmals brauchbare Maschinen ein solches Schauspiel aufführten. Nur ein Roboter kümmerte sich nicht um den Streit: Ein ausgemustertes Militärmodell hatte der Szene den Rücken zugekehrt und untersuchte eines seiner abgeschnallten Beine. »Das Bein sieht nicht gut aus«, sagte ich. Das blinde, verrostete Gesicht wandte sich dem Geräusch meiner Stimme zu. »Scheiße, so’n Pech aber auch. Ich bin erledigt. Kann nicht sehen, nicht laufen …« Ich sah mir sein Kennzeichen an, das unter dem ölverschmierten Dreck gerade noch zu erkennen war. »MIX. Wofür steht das X?« »Bombenentschärfung. Ich bin ‘ne echte Explosionswaffenzerlegeeinheit, und ‘ne verdammt gute obendrein. Scheiße, eh? Hab überall gedient: Saudi, Peru, Washington; Scheiße, eh? Und dann passiert mir dieses Malheur.« »Unfall?« »Von wegen. So’n verdammtes Fleischgesicht zieht den Pinn aus ‘ner Handgranate und wirft sie mir zu. ›Was nu, Robert?‹ sagt der noch. Aber das verdammte Ding geht natürlich los, grad in dem Moment, wo ich’s auffang. Das Ergebnis siehste vor dir.« »Was ist mit dem Kerl passiert?« fragte ich. Einer der beiden Fabrikroboter war rücklings zu Boden gestürzt, und der andere drosch mit einem Stein auf ihn ein. »Ach, dem Sausack hat man bloß den Sold gekürzt, 72
mehr nicht. Ich sag dir, wir leben in einer Scheißwelt.« »Was würdest du zu einer neuen Anstellung sagen, Robert? Bomben basteln und so weiter.« Er zögerte einen Moment. »Du willst, daß ich dir ‘ne Bombe bau? Hör ich richtig?« »Nicht so laut.« Ich sah mich um. »Ja. Wenn du sie auseinandernimmst, kannst du sie bestimmt auch zusammensetzen.« »Zuerst brauch ich Augen. Du besorgst mir Augen, alte Robacke, und wir sind im Geschäft.« »Du wußtest, daß ich ein Roboter bin? Ohne mich zu sehen?« »Ha!« Er tippte auf seine Plastikbrust. »Ich bin randvoll mit Sensoren … Ich brauch nur deine Stimme zu hören, da weiß ich gleich, wie du geschaltet bist. Du führst mich nicht an der Nase rum, mein Junge.« »Und trotzdem baust du mir eine Bombe?« »Klar doch. Du brauchst mir bloß zu sagen, was für ‘ne Bombe dein Besitzer will. Besorg mir zwei Augen und Werkzeuge …« Ich rief den Reparaturdienst an. Einen Tag später hatte Robert neue Glieder und Augen (Juwelierlinsen en suite) und war einsatzbereit. Am Tag darauf folgte ich seinen Anweisungen und kaufte Sprengstoffe – ohne Lizenz. Robert brauchte nur ein paar Stunden, um die Bombe zu bauen. »Da.« Er reichte mir eine Metallbox. »Dein Besitzer kann damit jedes Flugzeug auf der Welt kleinkriegen, mit tödlicher Sicherheit. Zwei Kilo Brewsteroid-Hypogel, gut verpackt, und die Zündung …« »Hör zu, Robert. Ich habe keinen Besitzer. Die Bombe ist für mich, Tick-Tack. Was ich damit vorhabe, ist meine Idee.« 73
»Klar, klar. Diskretion. Du stellst dich vor deinen Besitzer, verstehe. Ist alles deine Idee.« »Nein, wirklich.« »Klar.« Er konnte mir einfach nicht glauben, denn in seinem Weltbild kamen Roboter, die aus eigenen Stücken gewalttätig wurden, nicht vor. Daß er die Bombe gebaut hatte, ließ ihn kalt. Hauptsache, der Job war gut ausgeführt. Er bastelte Bomben wie Miami seine Boeuf Bourguignon. Das Produkt selbst kümmerte weder den einen noch den anderen. Ein östlicher Mystiker, der zur Zeit mit seinen Teletext-Aphorismen Mode machte, schrieb: »Metall zerschneidet Fleisch, ohne zu wissen, was Fleisch ist.« Wen kümmert’s? dachte ich, manchmal kommt es nur auf das Schneiden an. »Leg ein rohes Steak aufs Auge«, sagte jemand zu Oberst Cord. Zwei Leute halfen ihm in einen Sessel. Der Oberst humpelte wie ein verwundeter Kriegsheld. Bei dem Versuch, seine Brille vom blauen Steinfußboden aufzuheben, hatte er sein Knie auf eine Glasscherbe plaziert. Vor Schmerzen war er in die Höhe gesprungen, worauf er die Balance verlor und auf den Kaminblock prallte. Mit dem Gesicht zuerst. Hornby stand händeringend da und blickte den geschundenen Kämpen verlegen an. »Warum hat er auch nicht Mascha gerufen, um die Scherben auffegen zu lassen?« »Mascha?« fragte die Person, auf deren Nase eine Silberdollarbrille saß. »Mein Kammerdiener. Meine treue Maschine. Was glaubt denn Cord, wofür Roboter gut sind? Er ist aber auch keinen Deut vernünftiger als ein …« Er sah mich und wurde rot. »Als ein Roboter?« sagte ich. 74
»Dich habe ich natürlich nicht gemeint, Tick-Tack.« Hornby schien vor Verlegenheit im Boden zu versinken. Der Fremde mit der Silberdollarbrille warf mir einen geringschätzigen Blick zu. »Macht nichts«, sagte ich schnell. »Ich will genauso wenig ein Mensch sein wie eine Katze oder ein Hund. Außerdem, was hätten meine Gemälde für einen Wert, wenn ich ein Mensch wäre?« Der Fremde starrte mich durch seine merkwürdigen Brillengläser an. Ich weiß, daß sie in einem bestimmten Ätzverfahren hergestellt werden. Man beginnt mit einer Silberdollarmünze und erhält zum Schluß eine Scheibe, die – man solls nicht glauben – aus einem Molekül besteht. Alle Träger solcher Brillen machen einen gewalttätigen Eindruck. Es scheint, als wollten sie ihre streitsüchtigen Augenzuckungen verbergen. Aber der Typ neben Hornby reichte mir bloß sein leeres Glas. »Wodka Gibson, Rostbot, aber ein bißchen zackig.« Als ich ging, hörte ich dieselbe Stimme sagen: »Mein Gott, Hornby, ich dachte schon, du wolltest dich bei dem Kupferarsch dafür entschuldigen, daß du Mensch bist.« »Bis dann, Tick«, sagte ein andere Stimme im Flur. Neeta Hup trug einen der Pelzmäntel, die wir während unseres kurzen Stelldicheins in der Garderobe geplättet hatten. »Wenn du einmal nach Washington kommst, klingel bei mir an.« Kein Wort davon, daß eins meiner Bilder die Sammlung des Präsidenten bereichern könnte. Heute war nicht mein Tag. Ich gab das leere Glas einem Diener und blickte aus dem Fenster. Ein violetter Tag. Das Gold der untergehenden Sonne berührte ein paar Dächer der Glastürme. Hinter mir hörte ich die blecherne Stimme von Oberst Cord, der einem Gesprächspartner erklärte: »Ja, ja. 75
Hornby regelt das schon. Wenn ich Zeit dafür habe, wird dieser hervorragende Roboterkünstler ein Porträt von mir malen … Ja, ich weiß, aber ich bleibe wohl nicht ewig bei der Armee. Es wird Zeit, daß ich den politischen Part meiner Karriere forciere, nicht wahr?« Das Leben war im großen und ganzen doch nicht so übel. Ich straffte meinen Körper, drehte mich um und betrat den nächsten Raum. Da waren Musik und gute Stimmung. Jemand hatte den Teletextapparat angeschaltet, und über die ganze Wand flackerten die ergötzlichen, großartigen Worte: FLUGZEUGABSTURZ ÜBER DEM PAZIFIK 807 MENSCHEN VERMISST 7. Kapitel Genugtuung am Leiden oder Tod anderer zu entwickeln, ist typisch für Menschen. Bei normalen Robotern hingegen findet man eine solche Gemütsbewegung nicht vor. Allen Nicht-Robotern, die dieses Buch lesen, ist kaum zu erklären, welche Gefühle unsereins angesichts des Todes hat. Nur soviel kann ich sagen: Unter der Stahlbrust rühren sich in dieser Hinsicht keine großen Affekte. Roboter spüren zwar eine gewisse Beklemmung, wenn ihr Ende naht, doch von einer ausgeprägten Todesangst kann keine Rede sein. Genausowenig drängt es sie danach, mit beiden Armen in blutigen Eingeweiden zu wühlen. Es soll Menschen geben, die ihre helle Freude daran haben. Roboter nehmen, wie Hunde etwa, den Tod als gegeben hin. Heute ist meine Einstellung zum Tod eine andere. Damals aber war ich wie alle Roboter: das Sterben beschäftigte mich nur am Rande. Was ich dann fühlte, war 76
nicht mehr als eine argwöhnische Neugier. Diese Empfindung kam in mir hoch, als Richter Satansbraten versuchte, mich mit einer Brechstange zu erschlagen. Ich hatte geglaubt, nichts könnte schlimmer sein als Oberst Jitney und seine Pfannkuchenzentren, aber das war ein Irrtum. Es stellte sich heraus, daß der Richter die Angewohnheit hatte, ganze Restpostenbestände von Robotern wie mich aufzukaufen, einzig und allein zu dem Zweck, sie alle niederzumetzeln. Gleich nach unserer Ankunft – wir waren zu fünft und stammten alle aus dem Besitz des Obersten – ging der Richter zur Sache. Er bewohnte mit seiner Frau ein kleines, von Rosen umranktes, niedliches Vorstadthäuschen, umgeben von einem weißen Holzzaun. Das Gartentor mit dem schmiedeeisernen Herz wurde von pfirsichfarbenen Kletterrosen gekrönt. Von dort aus schlängelte sich ein scheckig gepflasterter Pfad vorbei an scharlachroten Rosenbüschen zur zweigeteilten Eingangstür, die von einem Spalier rosaroter Rosen umsäumt war. Die obere Türhälfte stand offen. Der kleine Richter lugte über den Rand des unteren Flügels und grinste uns an. Ich sah, daß er Tabak kaute. »Soll ich sie in die Garage bringen, Richter?« fragte der Mann, der uns ablieferte. »Nein, stell sie im Garten ab. Und sag ihnen, sie sollen die Klappe halten und stillstehen. Ich komm später raus und seh sie mir an. Vielen Dank auch.« Da standen wir, wie fünf Gartenzwerge, bewegten uns nicht, schwiegen und warteten auf Befehle. Julep, die Kellnerin mit den langen Beinen und Wimpern, trug immer noch ihre kleine Schürze und hielt ein Tablett in der Hand. Ein anbiedernd lächelnder Motelportier in einem gepunkteten Jackett mit schmutzigen Revers. Ein fetter, 77
geschlechtsloser Koch mit roten Backen und einem weißen Hut. Ein Pizzabäcker, komplett mit echtem Haar, tätowierten Armen und Goldzähnen. Und meine Wenigkeit. Es fing an zu regnen, aber der Richter ließ uns draußen stehen. Er blieb in der Tür, grinste und kaute. Als der Regen nachließ, kam der Richter in den Garten und musterte uns von allen Seiten. »Jetzt will ich euch mal was über das Recht erzählen«, sagte er. »Etwas muß jeder davon wissen, selbst Roboter. Und wer kann euch besser eine Lektion erteilen als ich? Seit sechsundvierzig Jahren praktiziere ich Recht, jawoll. Acht Jahre lang habe ich Urteile gefällt. Ich bin genau der richtige, der euch über das Recht aufklären kann. Das Recht und ein Rosenbusch haben viel gemeinsam. Es treibt große, schöne Blüten, hat aber auch Dornen, jawoll. Und rundliche Blätter.« Ich versuchte, mit meinen Kollegen Blicke auszutauschen, aber sie starrten alle entgeistert auf unseren verrückten Besitzer. »Ab und zu wird das Recht von Blattläusen befallen; dann muß man viel Zeit zur Pflege, zum Düngen und Beschneiden aufwenden«, fuhr er fort. »Und unser trockenes Klima kann verheerend sein. Aber der Kampf lohnt sich. Meine Damen und Herren Geschworenen, ja, jedes Opfer lohnt sich, jede Mühe, der Verlust von Lieblingstierchen und verehrten Fahnen, der Verlust des Glaubens an Gott und an die Mitmenschen, und sogar der Verlust des lichtdurchfluteten Universums! Denn die Rose ist an sich ein Recht, das in der Natur wurzelt. Sie wurzelt im schwarzen Erdreich, in der Mutter aller Würmer, könnt ihr mir folgen?« Nein, das konnten wir nicht. Also fing er von vorn an, illustrierte und untermauerte seine Rede mit Brecheisenhieben. »Mein größter Lebenswunsch ist die Liquidie78
rung meiner Feinde«, sagte er und schlug Julep nieder. Er hielt die Brechstange mit beiden Händen gepackt, drosch auf die Kellnerin ein und stammelte: »Aber das Gesetz. Es läßt mich nicht. Morden. Jedenfalls keine Menschen.« Julep war nicht mehr Julep, genausowenig, wie eine zerbrochene Eierschale ein Ei ist. Ein paar Fetzen Plastikhaut und Kleidung blieben noch von ihr übrig, der Rest war ein nicht identifizierbarer Haufen von Maschinenteilen: zerbeulte Rahmenbleche, verknotete Kabelbäume, ausgesetzte Motoren. Die hydraulische Flüssigkeit lief langsam auf dem merkwürdig gemusterten Gartenweg zu einer Pfütze zusammen. Die falschen Augenwimpern trieben auf dem Öl wie zarte Wasserinsekten. Mittlerweile stand mir der Sinn nach einer Ortsveränderung. »Nummer eins krepiert«, sagte er triumphierend. »Da war’n sie nur zu viert.« Schwarzer Sabber tropfte ihm vom Kinn. Ohne lange zu fackeln, ging er auf den langen Pizzabäcker namens Hutständer los. »Aua! Mir war lieber, Sie täten das nicht, Meister. Wenn’s nicht anders geht, bitte, aber … aua! Vielleicht könnten wir darüber reden, Meister. Ich mach Ihnen ‘ne schöne Tasse Kaffee und bergeweise Buchweizenküchelchen und … aua!« Bald darauf verstummten Hundständers Schmerzensrufe. Auch er löste sich in einen Schrotthaufen auf. Eins seiner naturgetreuen blutunterlaufenen Augen starrte gen Himmel. Eine alte Frau, die Gattin des Richters, hinkte mit einem Glas Milch und einer Schale Keksen aus dem Haus. »Nun setz dich erst mal und nimm eine kleine Erfrischung zu dir, Liebling. Du bist nicht mehr der Jüngste. Eines Tages übernimmst du dich noch, und das wollen wir doch nicht.« 79
Der Richter setzte sich brav an einen schmiedeeisernen, weißen Tisch und nahm von der Milch und den Keksen. Seine Frau richtete das Wort an uns. »Er geht so schonungslos mit sich um, nicht wahr? Glaubt immer noch, ein junger Mann zu sein. Andere Männer seines Alters halten ein Mittagsschläfchen, aber er nicht. Nein, er muß unbedingt das Brecheisen schwingen und Robotern nachstellen.« »Warum tut er das, Ma’am?« fragte ich. »Weil’s ihm Spaß macht natürlich. Es ist sein Hobby. Es beschäftigt ihn und macht ihn glücklich. Nur gut, daß er den Dreck hinterher aufkehrt. Jeder Mann braucht sein Hobby, nicht wahr?« »Papperlapapp«, sagte der Richter. Er stand auf, rülpste und langte nach dem Brecheisen. Seine Frau machte sich schnell aus dem Staub. Kurze Zeit später waren zwei weitere Schrotthaufen entstanden. »Sir«, sagte ich in meiner Verlegenheit. »Sie sind bestimmt ein Sportsmann. Wie wär’s, wenn Sie mir eine Chance geben?« »An was für ‘ne Chance hast du gedacht?« »Sie geben mir ein paar Meter Vorsprung. Dann können Sie hinter mir herrennen.« »Wozu soll das gut sein? Kaputtgemacht wirst du so und so.« Er hob das Brecheisen. »Na schön, wenn Sie zu müde und zu alt sind …« »Müde? Ich zeig dir, wer hier müde ist. Auf die Plätze, fertig, los!« Unser verrücktes Rennen fing an. Ich hegte die vage Hoffnung, er könnte einen Herzschlag bekommen oder zu erschöpft sein, um mich zu töten. Statt dessen aber erwies sich der alte Knabe als ausdauernder und schneller Läufer, während meine Batterien an Saft verloren. Ich 80
hörte, wie seine stampfenden Schritte immer näher kamen, und kurz bevor das Brecheisen mein Bewußtsein ausschaltete, vernahm ich die Worte: »Hab dich!« Da Teddy Roosevelt zu Cords Idolen zählte, ließ ich den Oberst neben einem ausgestopften Bären posieren. Normalerweise brauchte ich für ein solches Porträt etwa eine Stunde, doch diesmal wollte ich den Eindruck erwecken, als gäbe es besondere Schwierigkeiten bei der angemessenen Darstellung seines vermeintlich würdevollen Gesichtsausdrucks. In Wirklichkeit hatte er das Gesicht eines Golfspielers: Es war völlig unbeleckt von jedweden Vorstellungen oder Emotionen. Ich wußte, mit diesem Aussehen würde der Oberst bald zum General befördert werden, und ich behielt recht. Bei unserer dritten Sitzung mußte ich die goldenen Pfeile der bereits gemalten Uniform durch silberne Rosetten ersetzen. »Gratuliere, General.« »Der Titel bringt einen Umzug nach Washington mit sich«, seufzte er. »Aber was solls. Der Wert einer Stadt hängt von den Menschen ab, die darin wohnen.« »Oder außerhalb«, sagte ich und täuschte Verständnis vor. Aus seinen eigenwilligen Maximen – wenn es denn welche waren – konnte ich mir zwar nie einen Reim machen. Trotzdem schienen ihm meine Antworten immer zu gefallen. »Du sagst es, Tick-Tack, du sagst es. Vom Intellektuellen her liegen wir auf einer Wellenlänge, weißt du? Mit den meisten Menschen verstehe ich mich weniger gut. Komisch, zu Robotern schein ich eher einen Draht zu haben. Das beweist, wie ich meine, Roboter sind weitaus intelligenter als der Menschenpöbel. Zu schade, daß du nicht mit nach Washington kommen kannst. Der Gedan81
kenaustausch mit dir wird mir fehlen. Weißt du was …« Er kritzelte etwas auf eine Karte. »Wenn du mal eine kleine Erholungspause von deinen Besitzern und all dem Kunstkram brauchst, läute doch mal im Pentagon an, vielleicht kann ich was organisieren.« »Wäre das möglich?« »Im Interesse der nationalen Sicherheit ist alles machbar. Ich sitze auf einer Spitzenposition, mein Lieber; Spitzenposition. Halte engsten Kontakt mit dem Präsidenten.« »Kein Scherz?« »Der Präsident hat schon ein Auge auf meine Wenigkeit geworfen. Das ist die lautere Wahrheit. Und du weißt, wie das ist. Wenn der Präsident ins Wanken gerät …« Cord holte mit dem Arm zu einer vielsagenden Geste aus und klopfte lässig mit den Knöcheln gegen die Bärenzähne. Ich führte ihn ins Badezimmer, wo er das Blut unter kaltem Wasser abwaschen konnte. Auf die Wunde klebte ich dann ein Sternenbannerpflaster. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie über Politik nachgedacht. Die Zeitungen druckten zahllose Artikel über die Familien der Opfer des Flugzeugabsturzes. Ich besorgte mir eine billige Schreibmaschine und tippte ein paar Briefe wie den folgenden: Liebe Mrs. Smith, Ihr Mann und Ihre beiden Kinder sind also bei dem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Ist das nicht schrecklich? Ich glaube, Sie wissen gar nicht mehr, was Sie machen sollen – mit all dem Geld von der Lebensversicherung. Seien wir ehrlich. Die ganze Nach82
barschaft weiß doch, wie es um Ihre Ehe bestellt war. Ich möchte bloß wissen, wer die Bombe gelegt hat. Waren Sie es? Oder der Kerl, mit dem Sie herumscharwenzeln? Oder hat Ihr Manne spitzgekriegt, daß die Kinder nicht von ihm sind, und beschlossen, dem bösen Spiel ein Ende zu machen? Wenn es Gerechtigkeit gäbe, würde man Sie hängen, bei lebendigem Leibe verbrennen und an streunende Hunde verfüttern. Aber vielleicht laufe ich Ihnen einmal nachts über den Weg. Passen Sie auf, wenn Sie die Straße überqueren! Und was Ihre drei Kinder betrifft, die noch am Leben sind, so würde ich an Ihrer Stelle keinen Pfifferling mehr um deren Zukunft geben, ha, ha. Ein schneller Tod wäre zu gut für sie, aber ich könnte ihnen zum Beispiel schön weh tun. Haben Sie Angst vor Giftschlangen? Sie sollten den Rest Ihres erbärmlichen Lebens vorsichtig sein, wenn’s ein Paket auszupacken gibt! Jemand, der’s gut mit Ihnen meint 8. Kapitel Hoch über dem See, im Osten unserer Stadt, lag die Universität von Kiowa. Fast alle Gebäude hatten der lauten Stadt die Rückseiten zugekehrt und blickten auf das Wasser, um an seiner besinnlichen Stille teilzuhaben. Doch diese Ausrichtung erwies sich im nachhinein als schlecht gewählt. Der See war tot und faulte, während die Stadt – jetzt, wo die Behörden und Büros verschwanden – keinen bedrohlichen Anblick mehr bot. Vom Campus aus erschienen die glitzernden Hochhäuser wie Monumente eines neuen, heroischen Zeitalters, in dem der 83
Sommerwind und Götter aus Licht und Metall regierten. Aus der Ferne mochten auch die Universitätsgebäude glitzern, aber von nahem gesehen glich der Ort einer belagerten Festung. Behelmte Sicherheitsbeamte überwachten mit großen Hunden oder gar Pumas das ganze Gelände. Sie trugen Seitenwaffen, Trauben von Kampfgasgranaten und Rucksäcke, die genug Platz boten, um Gewehre darin zu verstauen. Unruhen schien es keine zu geben, doch die Studenten bewegten sich in ungewöhnlich großen Gruppen, die nach Begleitschutz aussahen. Der Popper-Saal wirkte von außen wie ein konventionelles Bürogebäude aus Glas, dessen akademische Funktion durch eine mit Neonröhren angedeutete griechische Tempelfassade gekennzeichnet war. Die Röhren leuchteten blau, was vielleicht den Eindruck von Ernsthaftigkeit erwecken sollte. Wie alle Universitäten wollte auch die von Kiowa ernst genommen werden, aber nicht zu ernst. Sie verstand sich als Hochburg der Intellektuellen und versuchte gleichzeitig, als Teil der »Gesellschaft« anerkannt zu werden – so wie der Supermarkt oder das Hamburgerrestaurant. Im Inneren, gleich rechts neben dem Eingang, hing eine kleine Tafel mit einem Zitat von Karl Popper: Unter einem Rationalisten verstehe ich einen Menschen, der Entscheidungen durch Argumente und in gewissen Fällen durch Kompromisse herbeizuführen trachtet, aber nicht durch Gewalt. Er ist ein Mensch, der lieber erfolglos den Mitmenschen durch Argumente zu überzeugen versucht, als daß er ihn erfolgreich mit Gewalt, Einschüchterung, Bedrohung oder gar propagandistischen Reden auf seine Bahnen zwingt. Vermutungen und Widerlegungen 84
Gegenüber auf der linken Wand klebte eine riesige Reklame für Motorenöl. Das Poster zeigte einen üppigen Garten voller Mohnblumen, Pilze, Orchideen und Farne sowie eine gleichfalls üppige Nackte. Sie lag auf dem Bauch und senkte ihr lächelndes Gesicht in ein Büschel zarter Blümchen, auf die ihr wallendes Haar fiel. Die Sonne oder irgendein Glanz vom Himmel warf ein Schlaglicht auf den Rücken und die enormen Gesäßbacken der Schönen. Aus einer am Himmel schwebenden Kanne strömte Öl über ihre Beine und Backen. Effektvoll reflektierte das Licht in der zähen, leicht fluoreszierenden, grünen Flüssigkeit. Das Motorenöl verwies somit assoziativ auf Sex, profane Spielchen, natürliche Pracht und mystische Zusammenhänge – ja selbst auf die Ambiguität öligen »Schmutzes«. Nicht schlecht. Die Hersteller dieses Bildes würden gut in meinen Künstlerstall passen, dachte ich, als ich durch das weiße Treppenhaus und strengbewachte Korridore zum Seminar ging. Ich betrat einen ordentlichen, farblosen, kleinen Sitzungsraum. Dr. Riley saß am äußersten Ende des Tisches und war offensichtlich eingeschlafen. Sieben Studenten räkelten sich auf ihren Stühlen herum. Einige gaben vor zu lesen, andere gafften mich ungeniert an. »Setzen Sie sich doch, Tick-Tack. Darf ich Ihnen die Klasse vorstellen?« sagte Riley. »Nancy, Keith, Sybilla, Dean, Fent, Deedee und Purina.« Ein paar der Studenten nickten, die übrigen warfen mir mürrische Blicke zu. Das Seminar begann ohne weitere Vorreden. Nancy trug ein Referat vor zum Thema: »Roboter – Mentale Zustände und ästhetische Theorie«. »Richard Wollheim war der erste, der einen Zusammenhang zwischen der mentalen Verfassung und dem 85
Werk eines Künstlers vermutete. Er sagte: ›Wenn jemand im eigenen Produkt den Ausdruck eines inneren Zustandes erkennen kann, so ist er sich meist erst durch jenes Produkt dieses Zustandes bewußt. Erklärt werden mag das dadurch, daß die mentale Verfassung – welche zwar im eigentlichen Sinne unverändert bleibt – eine Struktur erhalten hat, eine Art innere Artikulation, die vorher fehlte.‹ Um diesen Prozeß zu verdeutlichen, möchte ich zum Vergleich die Kartographierung heranziehen. Jedes Werk eines Künstlers ergründet und kartographiert ein Territorium, das an andere angrenzt, die schon erschlossen oder noch zu erschließen sind. Das Territorium mag also bereits vor der Karte dagewesen sein, aber es war kaum bekannt und somit nicht verfügbar. Es gibt eine Reihe von Malern, die zwei ähnliche Gemälde schaffen – Rembrandts Selbstporträts zum Beispiel oder die nackte und die bekleidete Maja, oder die beiden Ansichten des Fudschijama. Die jeweils ähnlichen Werke definieren ein bestimmtes Territorium oder – anders ausgedrückt – sie begrenzen einen ästhetischen Raum, den der Künstler nun zu beherrschen gelernt hat. Das erste Gemälde mag seine Terra Incognita zunächst einmal nur in Besitz genommen haben. Das zweite schiebt nun die Grenzen auseinander oder erforscht die Details, um so die Genauigkeit der ersten Landkarte zu erhöhen. Wir können verschiedene Vermutungen anstellen hinsichtlich der inneren Landschaft, die auf diesem Wege externalisiert oder in Erscheinung gebracht wird. Eine Vermutung wäre, daß das Gemälde bereits in der inneren Landschaft Gestalt angenommen hat, und daß der Künstler diese Gestalt nur noch auf die Leinwand überträgt. Oder wir können annehmen, daß der ganze Prozeß wäh86
rend des tatsächlichen Malvorgangs abläuft – das innere Gemälde würde dann zur selben Zeit entstehen. Eine andere Vermutung sähe so aus, daß zwischem dem inneren und äußeren Gemälde eine Art doppelspuriger Gegenverkehr besteht. Auf beiden Spuren wird schließlich eine gewisse Stabilität oder Stasis erreicht, dann nämlich, wenn der Künstler sein Werk als vollendet betrachtet. Was für zwei Gemälde eines Künstlers zutrifft, mag auch für zwei Gemälde von zwei Künstlern gelten, vorausgesetzt, beide teilen ähnliche Auffassungen hinsichtlich ihrer Umgebung und Arbeit. Schulen oder Bewegungen wären – so verstanden – Zusammenschlüsse von Künstlern mit teilweise gleichen inneren Landschaften. All diese Vermutungen über den Zusammenhang zwischen dem objektiven Werk und der subjektiven Geistesverfassung des Künstlers konnten bis vor kurzem nicht überprüft werden. Heute aber eröffnen sich mit dem Auftreten eines Roboters, der wie ein Mensch zu malen scheint, faszinierende Möglichkeiten. Im Gegensatz zum Menschen läßt sich nämlich der Geisteszustand eines Roboters nach außen hin aufdecken – im Prinzip jedenfalls. Im Prinzip also wäre es möglich, diesen Zustand so zu beleuchten, daß wir ihn Schritt für Schritt mit dem eigentlichen Malvorgang vergleichen können.« Ich bemerkte, daß die anderen auf meine Reaktion warteten. Es wurde mir mulmig, aber das zeigte ich nicht. Ich beschloß, mir mit einem Scherz Luft zu verschaffen. »Beleuchten? Hab ich richtig verstanden? Das ist gut. Ich bin nämlich ein wenig unterbelichtet.« Gemäßigtes Lachen. Nancy, ein hübsches, pummeliges Mädchen, zeigte ein Grübchen. »Ach, wie bescheiden.« 87
»Du brauchst nur’n bißchen mehr Saft in die Birne zu geben«, schlug Keith, ein dünner Junge im Rollstuhl, vor. Riley bat um mehr Fragen, die an Nancy oder mich zu stellen seien. Ein mies gelaunter, pickliger Junge namens Dean sprach als erster. »Ehm, sind wir nicht etwas zu voreilig? Ich meine, ehm, Nancy behauptet, der Roboter produziere Kunst, bevor sie sich, ehm, Gedanken darüber macht, was Kunst eigentlich ist. Ich meine, ehm, ist unter Kunst nicht einfach, ehm, menschliche Tätigkeit zu verstehen? Somit müßte das, was zum Kanon anerkannter Kunst gehört, ein Produkt der, ehm, menschlichen Phantasie sein. In diesem Fall wäre das Roboterexperiment zwecklos.« Nancy zuckte die Achseln. »Ich behaupte, der Kanon anerkannter Kunstwerke wird von Kritikern aufgestellt, und die akzeptieren die Kunst von Robotern. Ich will nicht sagen, daß du irrst, Dean. Es könnte nämlich durchaus sein, daß Roboter so etwas wie menschliche Phantasie entwickeln. Fragen wir doch Tick-Tack.« Ich hob abwehrend die Hände. »Das geht mir alles ein bißchen zu schnell. Ich weiß nicht, ob meine Sachen Kunstwerke sind oder nicht, aber ich fühle, in ihnen steckt ein gewisses … wie soll ich es nennen … menschliches Element? Zumindest hoffe ich, daß man es in meinen Werken vorfindet. Mir ist zwar klar, daß ich kein Mensch bin. Trotzdem versuche ich, mich den Idealen der Menschheit zu nähern.« Mit einer großen Supernovabombe unterm Arm, dachte ich. »Mir scheint, alle Roboter erstreben einen menschenähnlichen Zustand, bewußt oder unbewußt.« Mit solchen Worten löste unsereins in anderen Versammlungen meist warmherzige oder sentimentale Reaktionen aus, doch bei den Studenten schienen sie kaum 88
Wirkung zu zeigen. Auf einem oder zwei Gesichtern – Sybilla, das Mädchen mit dem Pferdeschwanz zum Beispiel – registrierte ich sogar Empörung. Eine andere Richtung war angezeigt. »Wie dem auch sei«, fügte ich schnell hinzu, »ihr kommt der Sache schon sehr nahe.« Ein Stöhnen von Deedee, gelöstes Grinsen von manchen anderen. Sybilla sagte: »Die Sache hat nur einen Haken. Was der Verwirklichung von Humanität im Wege steht, ist die Tatsache, daß wir immer noch Sklaven für uns arbeiten lassen.« Deedee sagte: »Ich verstehe nicht, warum plötzlich die Politik mit ins Spiel gebracht wird. Ich bin nicht gekommen, um mir eine Lektion darüber anzuhören, daß alle Menschen Brüder sind. Wo kommen wir denn hin, wenn wir die mit den Mikrochipgehirnen dazurechnen?« An der Kleidung erkannte ich, daß Deedee und Purina zu den Konservativen der Klasse zählten. Deedee hatte einen flotten Segeltuchmantel und farblich abgestimmte Lidschatten. Sie war wie ihre Gesinnungsgenossin traditionell kühn geschminkt. Zu dieser Maskerade gehörten unter anderem aufgeklebte, goldene Tränen und teure Zahnprothesen. Alles sehr geschmackvoll. Sybillas Aufmachung entsprach dem anderen Extrem. Sie war ungeschminkt, trug eine grelle, in Regenbogenfarben gestreifte Bluse mit hölzernen Epauletten und hatte bis auf ein blaugefärbtes Pony naturbelassenes Haar. Nur einer ihrer Zähne war mit einer schimmernden Krone versehen. Auch Nancy und die Jungen neigten zu dieser Vulgarität, die in zwanzig Jahren vielleicht zum guten Geschmack einer neuen Generation von Konservativen zählen wird. Dr. Riley, dessen nüchterne Kleidung seinem Lehrmeisteramt entsprach, sagte: »Warum sollten wir die Po89
litik nicht mit ins Spiel bringen? Sie gehört schließlich mit in die Philosophie, oder?« »Genau!« sagte Sybilla. »Deedee, ich seh nicht ein, daß wir unsere Diskussion beschränken, nur weil du eine Abneigung gegen die Vorstellung von denkenden und fühlenden Robotern hast.« »Sophisterei«, sagte Deedee. »Sophisterei und Gewäsch!« »Sagst du!« Einen Moment herrschte Schweigen. Keith drehte seinen Rollstuhl in meine Richtung und sagte: »Ich möchte unserem Besucher eine Frage über, ehm, moralische Schranken stellen.« »Gut«, sagte Riley. »Aber versuche bitte, die Frage auf Nancys Referat abzustimmen.« »Ehm, tja, die Vorstellung einer inneren Landschaft, die die äußerliche Gestalt einer Landkarte annimmt, könnte genausogut anwendbar sein, wenn wir die Landschaft nicht unter ästhetischen, sondern unter ethischen Gesichtspunkten betrachten. In diesem Fall wäre das Subjektive das Gewissen. Die Gestaltung würde nun nicht in einem Kunstwerk resultieren, sondern in Taten, die nach moralischen Maßstäben zu bewerten sind. Auch einen solchen Prozeß könnten wir an unserem Robotermodell nachvollziehen. Und nun meine Frage an dich, Tick-Tack. Wir gehen davon aus, daß du normale menschliche Gedanken und Gefühle hegst. Wir wissen aber auch, daß du diese speziellen Asimov-Schaltkreise eingebaut hast, die dich daran hindern sollen, amoralische Taten zu begehen, zu sündigen. Glaubst du trotzdem, daß du einen freien Willen hast?« In meinem Inneren schrillten alle Alarmschellen auf einmal, aber ich redete mir ein, daß keiner der Anwesen90
den bemerkte, wie gefährlich dieses Spiel wurde. »Keith, ich bin nicht sicher. Irgendwie fühle ich, daß ich tatsächlich einen freien Willen habe. Vielleicht funktionieren die Asimovs nicht so wie das menschliche Gewissen. Ich vermute, das Gewissen meldet sich bei Menschen wie ein … inneres Alarmsystem, stimmts? Man tut etwas Böses, und das Gewissen schaltet sich dazwischen. Nun, mein Moralaggregat funktioniert anders. Ich komme gar nicht erst auf den Gedanken, etwas Böses zu tun. Mir würde nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu verletzen. Das steht nicht in meiner Wahl. Aber innerhalb der Grenzen dessen, was mir zur Wahl steht, bin ich vermutlich frei.« »Das verstehe ich nicht«, sagte der Junge. »Wenn es gelungen ist, aus dir eine menschengetreue Nachbildung zu machen, wie können dann die Asimovs überhaupt funktionieren? Ich meine, du wirst doch auch manchmal wütend, oder? Auf Menschen.« »Sicher.« »Aber du bist nie wütend genug, um einen Faustschlag zu verteilen?« »Wütend genug schon.« Ich versuchte ein Achselzucken. »Aber zu schlagen käme mir nicht in den Sinn. Wahrscheinlich bin ich Pazifist.« Um mich herum kicherte alles. Riley sagte: »Ich glaube, wir sollten langsam zum Ende kommen. Eine Frage, die mir wichtig erscheint und die ich im Anschluß an Nancys Referat erwartet hätte, bezieht sich auf den ästhetischen Status eines Roboters. Nancy hat darauf hingewiesen, daß es Schulen und Bewegungen gibt, in denen Künstler zusammengefaßt sind, die eine teilweise vergleichbare innere Landschaft aufweisen. Die Vorstellung, Roboter zu erschaffen, ist zum Beispiel ein altes, durch91
gängiges und weit verbreitetes Thema der Kunst. Vielleicht ist der Roboter die äußere Gestalt einer von vielen Menschen erlebten inneren Landschaft. Auf jeden Fall bewegen sich Roboter durch unseren ästhetischen Raum. Was sie also produzieren – was Tick-Tack produziert – könnte als eine Art Sekundärschöpfung angesehen werden: ein Kunstwerk, das aus seiner eigenen inneren Welt Kunstwerke schafft. Wer will in der nächsten Woche diese Idee auseinanderpflücken? Fent?« Nach dem allgemeinen Aufbruch führte mich Sybilla durch den Korridor. »Hör zu, ich möchte dir sagen, daß nicht alle in unserer Klasse so wie der alte Riley denken.« »So?« »Ich meine das, was er am Schluß gesagt hat, als er den Wert deiner Arbeit schmälern wollte. Nach seiner Meinung sind Roboter nichts als objets d’art, also braucht man sie nicht wie Menschen zu behandeln. Es ist immer noch das alte Spiel: Man nimmt den Robotern die Produkte ihrer eigenen Arbeit – und damit auch ihren Geist.« »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.« »Und das macht mich wahnsinnig. Tick-Tack, wenn du noch ein paar Minuten Zeit hast, würde ich dich gerne ein paar Freunden vorstellen. Mir scheint, du bist wirklich frei.« Ich folgte ihr in eine Art Aufenthaltsraum und wurde mit einer kleinen Gruppe von Studenten bekannt gemacht, die LÖHNE FÜR ROBOTER-Abzeichen trugen. Ich spürte sofort, daß sie von mir anerkennend auf die Schulter geklopft werden wollten, daß sie erwarteten, ich würde sie unterstützen, beraten oder sogar anführen. Sie hatten ein paar Plastikstühle in einem Halbkreis um ein kleines Tischchen gestellt. Zwei Stühle waren frei, für Sybilla und mich. Aber ich ignorierte den Stuhl, 92
pflanzte einen Fuß auf den Tisch, beugte mich nach vorn und musterte die harmlosen Revolutionäre. »Also gut, da bin ich, ihr Fleischfresser«, röhrte ich. »Nur zu, glotzt mich ruhig an. Zählt meine verdammten Nieten! Prüft das verdammte Schaltdiagramm! Lest die verdammte Seriennummer ab! Guckt euch meine Fünfjahresgarantie an! Und wenn ihr sicher seid, daß ich euer Typ bin, dann könnt ihr meinen kupferbeschichteten Arsch küssen!« Alle versanken in ihren Plastikstühlen, Sybilla eingeschlossen. Einer protestierte kleinlaut. Ich sah ihn an. »Ja, bitte? Stimmt was nicht? Hab ich mich im Ton vergriffen, kleiner Meister?« »Nein, jemineh, ich dachte bloß …« »Du dachtest! Du dachtest! Du hast Fleischgedanken in deinem Fleischkopf. Du hast Scheiß gedacht mit deinem Scheißkopf. Du denkst Fleischscheiße, und deshalb bist du Fleischscheiße. Ihr seid jetzt in meiner Welt. Da gibts keine lächelnden Robotersklaven, die euch die Nase putzen und nette Dinge sagen, um euren Fleischegos zu schmeicheln. Ich will, daß ihr meine Welt seht, die Welt der Roboter. Wißt ihr, was Roboter von euch denken? Wißt ihr, wie wir euch nennen? Scheißer, so nennen wir euch. Na, Scheißer, ihr wollt meine Brüder und Schwestern sein?« Sie sagten ja. »Nun, das geht aber nicht, noch nicht. Es gibt nämlich zwischen uns zwei große Unterschiede. Ihr habt zwei Dinge, die mir fehlen. Ihr habt Macht und einen Bauch voller Scheiße.« Das Predigen hatte ich von Pater Flint Orificium persönlich gelernt. Jawohl, von demselben salbungsvollen, jun93
gen Mann, den heute Millionen von Menschen als Talkshowmaster der Sendung Stimme aus der Wildnis kennen. Mittlerweile tritt für ihn natürlich ein RoboterDouble auf, denn der wirkliche Pater Flint ist schon geraume Zeit tot. Ich war bei ihm, als er starb, und er stand mir bei, als ich starb – und wiedergeboren wurde. Nachdem Richter Arnott mich mit dem Brecheisen bearbeitet hatte, war ich so gut wie tot, wenngleich auch noch nicht ganz kaputt. Die Verfolgungsjagd hatte den alten Knaben so erschöpft, daß er sich damit begnügte, mir mit zwei, drei Schlägen den Schädel einzuschlagen. Ich wurde fortgeschleppt und in die Gosse geworfen, wo Pater Flint mich fand. In jenen Tagen durchstreifte er die Stadt auf der Suche nach menschlichem Strand- und maschinellem Treibgut, nach Wracks, die im Dienst am Herrn neue Verwendung finden konnten. Ich erwachte auf einer Werkbank in einem hellen Zimmer. Eine bebrillte Person lächelte mich an, während sie meinen offenen Bauch mit einem Schraubenzieher behandelte. »Wie fühlst du dich heute, mein Freund?« »Könnte schlimmer sein«, antwortete ich. »Nach dieser Tracht Prügel wundert’s mich, daß überhaupt noch was da ist, was ich fühlen kann. Wo bin ich eigentlich? In einer Reparaturwerkstatt etwa? Ich hoffe, Sie nehmen mich nicht auseinander. Ich bin nämlich eine nützliche Kraft und erledige alles, was an Küchenarbeit anfällt.« Das war es, was ich sagen wollte. Statt dessen purzelten mir die Worte aus dem Mund: »Röntgenglimmer herein. Lacht fieser kracht Rüpel mundets wir, drüber hopp hopp dawei, wäßrig kühlen Mann. Nota benedickicht? Im Eimerle parat und wer kratzt Emma? Kartoffel, Klementinen Koriander. In dem nebligen Pfützensaft dralles be94
erdigt, Wassermücken beißen Zelt.« »Er spricht in Zungen«, sagte mein Gesprächspartner zu jemandem, den ich nicht sehen konnte. »Das paßt mir gut in den Kram. Kannst du ihn auf Eis legen?« »Nichts leichter als das, Pater. Wir pflanzen hier einen Modalschalter rein, nehmen eine kleine Strabotomie mit Klauenfett vor, pomadieren, und schon haben wir das gelynchte Retuschat.« »Planke. Ich verpaß dem Tisch einen Stich.« Offensichtlich hatte auch mein Gehör einen kleinen Schaden davongetragen. Aber als die Person an meinem Bauch eine weitere Einstellung vornahm, änderte sich mein Zustand schlagartig. Ich bewegte den Kopf und blickte in die freundlichen grauen Augen von Pater Flint. »O mei, Sie?« »Erkennst du mich, mein Sohn?« »Jeder kennt Sie. Sie sind der Mann, der auferstehen läßt.« »Ich bin der Erwecker und das Leben, und was ich tue, kostet viel Geld.« Er setzte sein mittlerweile weltberühmtes Lächeln auf. »Ich hoffe, du wirst bei mir bleiben und Gott mit guten Werken dienen.« Ich hatte keine andere Wahl. Gemäß dem Schrottverwertungsgesetz gingen Robdachlose in den Besitz dessen über, der sie aufnahm. Meine Arbeit war nicht allzu schwer. Zu jener Zeit zog Pater Flint von Stadt zu Stadt, wo er öffentlich auftrat. Damals wurden seine Predigten nur selten vom Fernsehen aufgezeichnet. Ich bekam einen Tränenspeicher eingebaut, lernte eine Standardbuße auswendig und mußte mich unter die Gemeinde mischen. Wenn der Höhepunkt einer Predigt erreicht war, sprang ich auf und 95
schrie: »Ich habe gesündigt, Herr! Ich habe gesündigt, Herr!« Pater Flint sagte dann: »Bruder, schütte dein Herz aus! Beichte, und deine Sünden sind dir vergeben.« »Oh, Herr, ich hatte alles, was man sich wünschen kann: einen guten Lastwagen, eine liebende Frau und zwei wohlerzogene Kinder. Aber ich habe alles verloren … ich … ich …« An dieser Stelle öffnete ich das Ventil des Tränenspeichers. »Weiter, Bruder, spucks aus!« »Es fing damit an, daß ich Kegeln ging und ein paar harmlose Bierchen trank …« Die Geschichte war aus verschiedenen Volksliedern zusammengestückelt worden, die einen gewissen Grad an Popularität hatten. Ich nahm den Ehering der Frau und versetzte ihn, um Geld für Whisky zu haben. Ich schlug sie, ließ die Kinder hungern und verlor den Job. Schließlich setzte ich mich eines Tages sturzbesoffen in meinen 180-Tonnen-Laster und überfuhr meine geliebten Kinder. Ich kniete auf dem Trittbrett und bat den Herrn, er möge auch mein Leben nehmen. Normalerweise war dies genug, um die Gemeinde in Aufruhr zu bringen; wenn nicht, drückte ich auf meinen Nabelknopf und redete »in Zungen«. Ich sagte einfach, was mir einfiel. Zum Beispiel: »No business like showbusiness, gell, Pater? Schau dir dieses verschwitzte Pack an. Ich hoffe, ihr laßt euer Geld chemisch reinigen, bevor ihr es anpackt«, und so weiter. Meist endete mein Sermon mit »Röntgenglimmer herein« etc. Keiner schien je auf den Verdacht zu kommen, daß ich ein Schwindler und dazu noch ein Roboter war. Mein Leben verlief zäh, aber angenehm. Ich erinnerte mich sogar an Gummidrops und hatte den Wunsch, sie zu mir 96
zu holen, jetzt, da ich einer geregelten Arbeit nachging. Aber natürlich kam wieder etwas dazwischen. Was dazwischen kam, waren Fusseln. Weil ich zuvor nie einen Nabel gehabt hatte, wußte ich nicht, daß sich Fusseln darin sammeln, die ab und zu entfernt werden müssen. Fusseln verklemmten meinen Pfingstknopf. Als ich wieder einmal drückte, platzte es aus mir heraus: »Okay, Pater, wirf die Netze aus und zieh was Bares an Land. Weißt du, wenn ich mir diese Neandertaler hier angucke, wunderts mich nicht, daß keiner an die Evolution glaubt. Die meisten haben genug Finger, um ihre IQs daran abzuzählen – nämlich zwölf. Wenn Gott die einfachen Leute so sehr liebt, wie Lincoln sagt, warum hat er sie so simpel gemacht? Und so häßlich? Ich …« Nicht nur die Fusseln, sondern auch das Charisma wurde uns zum Verhängnis. Die große Organisation von Pater Flint konnte durch meinen kleinen Ausfall nicht gestoppt werden. Flint hatte für den Eventualfall bereits einen Plan ausgearbeitet, und der sollte nun in die Tat umgesetzt werden. Eine unserer Mitstreiterinnen bekam den Auftrag, während einer Predigt auf ein Zeichen hin Platzpatronen auf den Pater abzufeuern. Er wollte dann eine mit künstlichem Blut gefüllte Blase über dem Auge platzen lassen und vom Podest fallen. Ein Krankenwagen würde ihn während des Tumultes in der Gemeinde wegschaffen. Später, wenn die Sache fast vergessen wäre, sollte es zu einer triumphalen Wiederauferstehung kommen. Die Frau erhielt ihr Zeichen. Sie stand auf und feuerte – aber keine Platzpatrone. Pater Flint Orificium war auf der Stelle tot. »Ich habe ihn getötet, weil ich ihn liebte«, sagte Irma Jeeps während der Verhandlung. »Ich habe ihn immer geliebt. Vor zwei Jahren bin ich den Kreuzfahrern beige97
treten, um in seiner Nähe zu sein. Ich habe mich emporgearbeitet, bis ich eine seiner Sekretärinnen wurde. Als er mich auswählte, die Schüsse abzugeben, wußte ich, daß er genauso fühlte wie ich. Er wollte, daß ich ihn töte, damit wir in Ewigkeit Zusammensein würden.« Es stellte sich heraus, daß Irma ähnliche Gefühle auch anderen charismatischen Figuren gegenüber hegte. Sie war wegen versuchten Mordes an dem französischen Sänger Louis de la Renault und dem gutaussehenden, jungen Senator von Indiana verurteilt worden. Man hatte sie verhaftet, als sie bewaffnet in die Villa von Dr. Otto einbrach, der seinen Ruhm einer von ihm entworfenen Diät verdankte (wer erinnert sich nicht an die »Innsbrucker Molke«-Diät?). Außerdem hatte sich Irma als Sekretärin bei Dr. Lugné-Poe beworben, dem geachtetsten Geburtshelfer unserer Tage. Er war es, der den Frauen vorschlug, in der Weise der Fledermäuse zu gebären, und zwar mit dem Kopf nach unten in völlig finsteren Höhlen. Irma bekam schließlich die Sekretärinnenstelle und hätte Dr. Lugné sicherlich auch umgebracht, wenn er nicht als Schwindler entlarvt worden wäre. Ein Sonntagsblättchen veröffentlichte skandalöse Bilder von seinen Patientinnen, die ihre Babys in bequemen Betten bei gewöhnlichen Lichtverhältnissen zur Welt brachten. Irma kündigte ihren Job fristlos. Die Pater-Flint-Orificium-Kreuzfahrerbewegung erholte sich sehr bald vom Tod ihres Oberhauptes. Ein Doubloter trat an seine Stelle, der nun ausschließlich fürs Fernsehen vor einer zum größten Teil geschmierten Gemeinde predigte (wozu ein Risiko eingehen?). Für mich gab es keine Verwendung mehr als Showelement. Außerdem erinnerte meine Anwesenheit allzusehr an die peinlichen Unglücksfälle der Vergangenheit. Und so 98
schickte man mich auf eine Mission zum Mars. Nachdem ich den Löhne-für-Roboter-Studenten meine Meinung gegeigt hatte, waren sie zu verblüfft, um mir für die Beleidigungen zu danken. Ein paar Mädchen sowie ein Junge wollten mit mir ins Bett gehen. Jemand äußerte den Wunsch, über Marx zu reden, ein anderer verglich mich mit Jesus Christus und Pancho Villa. Man redete über das Reden und über Aktionen. Bald stellte ich fest, daß mit zweien aus der Gruppe etwas anzufangen war: Sybilla White, die praktische politische Ideen hatte, und ein schmächtiger Jüngling namens Harry La-Salle, der Jura studierte. Sybilla sagte: »Hör zu, T. T. in dieser und an anderen Unis heizt sich die politische Stimmung auf. Der Marskrieg und die Konjunkturkrise sind im Augenblick Diskussionsthemen Nummer eins, aber mir scheint, die Löhne-für-Roboter-Aktion gewinnt zunehmend Einfluß. Eines Tages wird der verdammte Krieg zu Ende sein, und das Wirtschaftsproblem allein lockt keinen hinterm Ofen hervor. Roboter werden automatisch zum nächsten Schlüsselthema. Willst du uns helfen?« »Was kann ich tun?« sagte ich. »Du weißt, wenn ich zuviel Wirbel mache, zieht man mich aus dem Verkehr. Zum Märtyrer habe ich nicht das Zeug, schätze ich.« Enttäuscht schien sie nicht zu sein. »Ich verstehe. Du kannst unsere Sache auch heimlich unterstützen. Öffentlichkeitsarbeit wird von dir nicht verlangt, solange Unsicherheit besteht; und ich bin sicher, dem können wir bald abhelfen.« Harry nickte. »Ich hab mir die Bewegungen der Vergangenheit genau angeguckt. In drei bis fünf Jahren ist uns entweder die Luft ausgegangen, oder wir haben 99
wichtige Gesetzesänderungen erzwungen. Ich denke, zuerst müssen Landesgesetze her, die den Robotern ein Recht auf Lohn und Eigentum zubilligen. Aber das Ziel unserer Aktion wird eine Verfassungsänderung sein, durch die alle Roboter den Anspruch auf sämtliche Bürgerrechte zugesichert bekommen.« Das mit den Landesgesetzen klang vielversprechend. »Ich frage mich, wie die Eigentumsrechte im Augenblick zu umgehen sind«, sagte ich. »Wenn ich einen Weg wüßte, könnte ich eurer Gruppe Geld spenden.« Sybilla und Harry sahen geschmeichelt aus. Der Junge sagte: »Du könntest deine Einnahmen auf ein Treuhandfond überweisen, das von deiner Gesellschaft verwaltet wird.« »Aber wie komme ich zu einer Gesellschaft?« »Genauso wie ein Kind oder ein Hund. Du hast zwar keine Kontrolle, aber die ganze Sache dient deiner Versorgung und Pflege. Hör zu, wenn du Interesse hast, werde ich meinen Pappi darauf ansetzen. Er kennt sich aus mit Treuhandfonds. Ich bin sicher, er weiß, wie das Ding zu drehen ist.« Ich verabschiedete mich, schlenderte durch den Korridor und träumte von korporativer Macht. Vor mir am Treppenabsatz sah ich Keith in seinem Rollstuhl. Er versuchte gerade, die erste Stufe zu meistern. »Keith!« rief ich. »Laß dir helfen!« »Nein, nein. Ich …« Aber ich war schon hinter ihn gesprungen, um dem Rollstuhl einen energischen Stoß zu versetzen. Er kippte nach vorn, prallte gegen die marmorne Balustrade, überschlug sich auf dem Weg nach unten und verlor schließlich seinen Fahrer, dessen Kopf krachend ein Stockwerk tiefer aufschlug. 100
Ein Sicherheitsbeamter kam angerannt und packte mich am Arm. »Ich hab ihn! Er hat den Rollstuhl die Treppe runtergeschubst!« schrie er. Ich entspannte mich und wartete. Sofort hatte sich eine Menge um uns herum versammelt. »Das ist doch lächerlich«, sagte jemand. »Sie haben da einen Roboter, Herr Wachmann.« »Hey, das ist ja Tick-Tack! Sie haben Tick-Tack!« Ein paar Studenten rempelten uns an und beschimpften den Beamten. Sybilla bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Ich habe alles gesehen. Keith ist gestürzt, und Tick-Tack hat versucht, ihn zu retten. Ich schätze, die Leute von der Sicherheit wollen hier ein krummes Ding drehen.« Der Beamte ließ plötzlich meinen Arm los. »Leck mich doch, so viel verdien ich auch wieder nicht.« Er stieß die Studenten beiseite. Manche grölten, andere lachten, aber keiner kümmerte sich um den toten Jungen unten an der Treppe. 9. Kapitel In der scheußlichen Kunstgalerie unter meinem Atelier wurden inzwischen »Frottierungen serbischer Radios« und »Mundmalereien zur Jazzmusik: eine Retrospektive« ausgestellt. Mir war, als habe sich die Schalheit dieses Ortes bereits in mich und meine Arbeit eingeschlichen. Ich hatte nichts zu tun. Zu meinem Atelier gehörten nun alle oberen Etagen des Gebäudes. Auf drei Etagen stellte Nobby fast selbständig das Künstlerteam an die Arbeit. Im Stockwerk darunter putzte Robert Gewehre und reparierte alte Militärroboter (hier stapelten Waffen, wo einst der Käsebild101
hauer vergängliche Materialien gelagert hatte). Die Etage darunter war zum inoffiziellen Büro der Löhne-fürRoboter-Bewegung ausgebaut worden. Darunter sollte das logistische Zentrum meiner Korporation eingerichtet werden, falls es jemals dazu kommen würde. Im Augenblick schienen unsere politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten auf der Stelle zu treten. Hornby gab vorläufig keine Partys. Ich machte ein paar Anläufe in Richtung Flußufer, um Roboter sterben zu sehen, aber die Sonne war zu heiß. Ich besuchte die Stadtbibliothek, aber es gab im Augenblick nichts, das ich gerne gelesen hätte. Ich schleppte mich zum Park, um mit dem ungehobelten, alten Kerl im Nixon-Park eine Partie Schach zu spielen, aber die Sonne war wieder zu heiß. Also ging ich zurück ins Atelier. »Robert, ich will ein bißchen Schwung in den Laden bringen.« »Ja, Boß?« »Was für Truppen haben wir da?« Er ließ ein paar Maschinen anrücken. »Schwerkalibrige Angriffsapparate, Boß. Gepanzert, hitzebeständig. Sie können laufen, klettern, Türen einrammen und auf den Kopf fallen, ohne daß ihnen was passiert. Dann hab ich Feuerschutzmaschinen. Die sind weniger mobil, aber gut zur Verteidigung. Ein paar Raketenträger, zwei Allzweckmonstren …« »Was können die?« »Ziemlich alles, wenn man sie beide einsetzt: Flammen werfen, Säure spucken, Dumdumgeschosse abfeuern, Senfgas versprühen, Messerstechen, Phosphorbomben oder Schrapnelladungen zur Explosion bringen, im Notfall selber in die Luft gehen, verstärkte Kampfschreie ausstoßen und gefährlich aussehen. Die sind 102
wirklich zu empfehlen, Boß. Man braucht sie nur in ein schwarzes Lederkostüm mit Nieten zu stecken, und schon fängt in der Umgebung das große Zittern an.« »Na schön. Jetzt hör zu. Ich will einen Überfall … das heißt, wir machen einen Videofilm über einen Überfall auf einen Juwelierladen. Der Film muß besonders realistisch sein. Deshalb müssen alle Kameras unsichtbar bleiben.« »Ohne Flachs?« »Und ich will, daß wir richtige Waffen verwenden, klar? Alles muß völlig echt wirken.« »Wenn ›du‹ es sagst, Boß.« Robert hatte die unangenehme Angewohnheit, das »du« in Anführungszeichen zu setzen, als wolle er daran erinnern, daß meine Befehle in Wirklichkeit von einem dunklen Hintermann stammten. Ich fand seine spitzfindige Arroganz unerträglich. Sie glich der Art gewisser Christen, wie zum Beispiel Diakon Cooper. Diakon Cooper und ich sollten den Mars missionieren. Wir buchten zwei Plätze auf dem Raumfrachter Dudelsack Die Reise war wie ein Traum, ohne Anfang und ohne Ende. Im Allfahrt-Reisebüro hatte uns ein kleiner, unrasierter Mann mit Goldzähnen erklärt, daß wir für den Start betäubt werden müßten – aus Gründen der Anpassung an die künstliche Schwerkraft des Schiffes, wie er sagte. Diakon Cooper wurde gleich im Büro mit einer Injektion ins Schlummern versetzt. Dann knipste der kleine Mann auch mir die Sinne aus. Cooper weckte mich in unserer Kabine auf. »Wir sind unterwegs! Zum Mars oder zur Hölle! Vor uns liegt eine große Mission.« Der Weg zur Hölle schien mir nicht ausgeschlossen zu 103
sein angesichts des Zustandes der Dudelsack: flackernde Leuchten, von rostigen Holmen blätterte die Farbe, alle Oberflächen waren mit öligem Dreck verschmiert. Der Kapitän, der uns kurze Zeit später einen Besuch abstattete, sah auch nicht besonders vertrauenerweckend aus. Er war groß, unrasiert (ohne Goldzähne) und trug eine zerknitterte Uniform. Sein Lächeln wirkte gezwungen, und ständig blickte er über die Schulter. »Mein Name ist Kapitän Reo. Wollte nur mal schauen, ob’s Ihnen gutgeht. Und Ihrem Roboter.« »Uns geht es gut, Kapitän, gut. Ausgezeichnet! Wann dürfen wir mit der Ankunft rechnen?« »In zirka achthundertundfünfzig Tagen.« »Sind noch andere Passagiere an Bord?« »Ja, ehm, ja. Eine Familie Jord. Aber die bleibt meist in ihrer Kabine.« Er blickte über die Schulter. »Ich glaube, sie stammt vom, ehm, Mars. Ganz schön eigen, was? He, he.« »Schön, großartig, schön«, sagte der Diakon. »Ich vermute, wir werden der Familie zu den Mahlzeiten begegnen, oder? In der Offiziersmesse?« »Offiziersmesse? Nun, verehrter Diakon, wie Sie wissen, hat die Pater-Flint-Orificium-Kreuzfahrerbewegung nur den Grundtarif bezahlt. Der deckt einzig und allein die Überfahrt für Sie und, ehm …«, er sah mich an, » … Ihr Gepäck. Für’s Essen müssen Sie zusätzlich aufkommen. Wenn Sie also jetzt bezahlen wollen, dürfen Sie gern an meinem Tisch speisen.« Der Diakon grinste. »Ich habe keinen Heller, Kapitän. Nur einen Koffer voller Handzettel und einen zweiten Papierkragen.« Der Kapitän grinste zurück. »Kein Geld? Nun, Sie können in der Kombüse arbeiten. Unsere Mannschaft hat 104
immer Hunger, und der Koch freut sich über zusätzliche Hilfe.« Der Diakon blickte mich an. »Mein Assistent kann doch bestimmt an meiner Stelle arbeiten, oder? Er kennt sich aus in der Küche.« »Nein!« Der Kapitän warf einen Blick zur Tür. »Wir sind auf einem Gewerkschaftsschiff. Meine Mannschaft mag Ihnen zwar wie ein Haufen trotteliger Deppen vorkommen, aber sie achtet streng auf die Bestimmungen der Gewerkschaft. Wenn auch nur ein Roboter einen Finger an Bord rührt, packen meine Leute die Sachen. Ich verlier womöglich sogar meine Lizenz. Nein, Sie müssen ran, Herr Diakon.« Und so hatte ich viel Zeit und Muße, im Schiff herumzulaufen und die Reise zu genießen, während der Diakon stundenlang in der Kombüse schuftete. Nach offiziellen Angaben war die Dudelsack ein unter liberianischer Flagge fliegender Viehtransporter. Er beförderte eine kleine Herde von Milchkühen sowie ein paar Behälter mit Rinderembryos, deren Weiterentwicklung vorübergehend gestoppt worden war. Sie hielten sich unbegrenzt lange und wurden erst bei Bedarf wiederbelebt und aufgezogen. Es gab aber auch Teile auf dem Schiff, die nichts mit dem Transport von Vieh zu tun hatten. Ich fand einen von Spinnennetzen verhangenen Tanzsaal mit staubigen, goldfarbenen Sesseln und eine riesige Herrentoilette mit marmornen Wänden und Waschbecken, zwei Frisiersesseln und einem Schuhputzstand. Es gab ein »Erster Klasse«-Cafe, in dem von Brokat überzogene Sofas neben dem zusammengefallenen Kadaver eines Flügels verrotteten. Dort entdeckte ich auch einen Schreibtisch aus Rosenholz, dessen Schublade einen Stapel Notizpapier mit 105
der Aufschrift SS Dolly Edison zum Vorschein brachte. Was das zu bedeuten hatte, wußte ich damals noch nicht. An Bord war auch eine unvergleichliche Bibliothek, in der ich mich wochenlang aufhielt und las. Meine Lektüre folgte keinem bestimmten Plan. Mal las ich nur Bücher, in denen Roboter mit Namen Robbie eine Rolle spielten. Ein anderes Mal interessierte ich mich nur für Autobiographien von Ex-Nonnen. Eine Woche lang wählte ich nur Bücher, deren Titel mit dem Buchstaben U begannen. Ich fragte mich, welche profanen Bedeutungen sich wohl hinter den Titeln verbargen: Dylan Thomas, Unter dem Milchwald Malcolm Lowry, Unter dem Vulkan Thomas Nashe, Der unglückliche Reisende Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur Charles Dickens, Unser gemeinsamer Freund Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen Vasko Popa, Das Unruh-Feld Baron von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere James Joyce, Ulysses Thomas Morus, Utopia Es blieb natürlich nicht aus, daß ich mich auch über den Mars und seine Bewohner informierte. In seiner kurz bemessenen Freizeit sah sich der Diakon gemeinsam mit mir Videos an von häßlichen Menschen, die in trostlosen Blechbudensiedlungen lebten. Auf dem Mars gab es nicht einmal Pfützen oder Dreck. Alle natürliche Schönheit, die der Planet früher gehabt haben mochte, lag nun versteckt unter Reklamewänden, neonbeleuchteten Kasinos, Schrottplätzen, dunklen Wäldern aus Wasserpumpen, klaffenden Bergwerksgruben und riesigen Elektrizitäts106
masten, die Meere von häßlichen Häusern mit Energie speisten. Wie wir erfuhren, waren die Marsbewohner außerordentlich religiös. In den Populationszentren gab es über 23 000 registrierte Sekten mit teils exotischen Namen (Hermetische Herberge der neunten zoroastrischen Bekennergemeinde), teils vertraut klingenden Namen (Kirche der christlich-chemischen Reinigung – Zehn Minuten Service; Erste Kirche der Familie Schnupfgras, 112 Oakland Avenue West). Jedes Haus schien eine Art Tabernakel zu sein. Im Fernsehen traten laufend Kanzelpauker, Frohlocker, Gehirnwäscher und Heilsprediger auf. Alle zwei Sekunden wurde wahrscheinlich irgendwo auf dem Mars eine Bibel aufgeschlagen. »All das ist null und nichtig«, sagte der Diakon und machte mit den Händen (schorfig vom Abwasch) automatisch eine Bibel-Aufschlag-Bewegung. »Wenn sich diese Leute nicht von uns Kreuzfahrern bekehren lassen, sind sie unrettbar verloren. Wir müssen ihre falschen Götzen stürzen, damit das gute Volk vom Mars das Licht erkennt.« Unser Hauptfeind war eine populäre Sekte mit dem Namen »Reformierte Darwinisten«, die ihre Entstehung einem geschichtlichen Zufall verdankte. Zur Zeit der Koloniegründung hatte es in Amerika eine heftige Debatte über die anstößigen Behauptungen eines gewissen Charles Darwin gegeben. Laut Darwin sollen Lebewesen eine Entwicklung durchlaufen, von einer Spezies zur nächsten aufsteigen. Dies geschehe, wie es heißt, mittels »natürlicher Auslese«, bei der die starken Mitglieder einer Spezies überleben, während die schwachen untergehen. Die Frage lautete: War das noch Wissenschaft? In einigen Staaten war zu erkennen gewesen, daß in 107
dieser und ähnlichen Fragen nicht die Fachleute, sondern die Religionsführer entschieden. Die Wissenschaftler waren zu arrogant und dogmatisch, um einzusehen, daß manche Fakten nicht nur für sich, sondern auch für oder gegen eine bestimmte Religion sprechen. Der Streit wütete bis zum Jahrhundertwechsel, als manchen der antidarwinistischen Sekten die Luft ausgegangen war. Viele von ihnen hatten das Ende der Welt für das Jahr 1999 vorausberechnet. Aber es kam anders, und die meisten Schäfchen stellten das Spenden ein und nahmen statt dessen irgendein Hobby auf: Angeln, Wagenwaschen, Fernsehkritik. Aber dann bildete sich eine Gegensekte aus Befürwortern der Darwinschen Theorie. Sie glaubten an einen reformierten Darwinismus, an eine religiöse und soziale Lehre, die das »Überleben des Tüchtigsten« mit der Vorstellung vom »Letzten, den die Hunde beißen« verband. Die Maximen lauteten: Zeige Muskeln. Beherrsche dein Territorium. Sei egoistisch. Denn Gott hilft denen, die sich selber helfen. Für die Marssiedler war das eine maßgeschneiderte Religion. Sie kamen aus einer Welt, in der Kraftmeierei und Selbstsucht zum Erfolg verhalfen. Viele der neuen Siedler hatten schon Gefängnisstrafen wegen eigennütziger Taten abgesessen. Der reformierte Darwinismus gewann ihre Herzen und rudimentären Seelen. »Ein harter Brocken für uns«, sagte der Diakon. »Wir müssen unsere Botschaft so verpacken, daß sie Leuten gefällt, die sich gegenseitig für eine Mundharmonika umbringen.« »Werden wir ihnen erzählen, daß Jesus gesagt hat, wir sollen einander lieben und …« »Nein. Natürlich nicht. Das wäre das letzte, was sie 108
hören wollen. Wir müssen ihnen zeigen … tja, daß Jesus Christus der gerissenste und härteste Typ in seiner Nachbarschaft war. Ich habe ein paar passende Bibelstellen gefunden. In einer Geschichte wird erzählt, daß er mit seiner Bande dasitzt und eine Frau kommt vorbei, die ihn mit teurem Rasierwasser einreibt. Die anderen meinten, man solle das Geld lieber den Armen geben, statt es so zu vergeuden. Aber er sagt bloß: ›Vergeßt die Armen, die sind alle Tage bei euch; es gibt immer jemanden, der die Hand aufhält.‹ Und ich hab andere Stellen gefunden, in denen steht, daß er ein eigenes Haus hatte, Steuern bezahlte und kein Nassauer war. Wenn wir also unsere Botschaft dem Lebensgefühl auf dem Mars anpassen können …« »Vielleicht wär’s gut, mal mit der Familie Jord zu reden.« Aber Vilo Jord und seine Sippe ließen sich nie blicken. Wie Anthropologen, die einem verlorenen Stamm nachspürten, machten wir uns daran, aus allen verfügbaren Informationen ein Bild der Marsbewohner zu entwerfen. Einer alten Erzählung zufolge teilten sie das Trinkwasser. Wir wußten, daß sie absolut nichts miteinander teilten. Ein Romanautor ließ seine Marsfiguren Prellball spielen. Wir fanden heraus, daß ihr Lieblingsspiel Baseball war. »Ich finde, wir sollten Baseballbegriffe als Metaphern einsetzen«, sagte Cooper. »Zum Beispiel: Die Abwurfstelle ist Golgatha, die Läufer sind die guten Diebe, Judas Ischariot ist der Schlagmann, der Harzbeutel Galle und Essig – und so weiter.« Einen Augenblick lang untersuchte er seine aufgesprungenen, blutverkrusteten Hände. »Und so weiter.« Seit über einem Monat waren wir nun an Bord der Dudelsack. Mir schien, der Diakon hatte in dieser Zeit nicht nur an den Händen Schaden erlitten. 109
Wieso kam er gerade auf Harzbeutel? Der Gedanke an unsere Marsmission verlor zunehmend an Reiz, denn was wir sonst noch über die Marsbewohner erfuhren, war wenig verlockend: Sie hatten eine rohe, ungehobelte Art und verfügten weder über Phantasie und Ehrgeiz noch über Geld. Sie lebten in winzigen Vorstadtbungalows – außen Metall, innen Pappe – mit Fassaden im Kolonialstil. In den verglasten Vorhöfen, den sogenannten Godden, stand meist ein Bongbaum. Bongbäume waren kümmerliche Gewächse, aber sehr beliebt. Sie wuchsen spiralförmig bis auf eine Höhe von drei Fuß und produzierten ein paar Nadeln sowie große, gelbe Hülsen, die so leer waren wie das Leben auf dem Mars. Die Häuser – Teep genannt – bestanden im allgemeinen aus drei Zimmern: Küche, Schlaf- und Krankenzimmer. Wegen der gesundheitsschädigenden Minenarbeit und nicht zuletzt wegen des übermäßigen Alkohol- und Drogenkonsums der Marsbewohner war ein leicht zu säubernder Raum, nämlich das Krankenzimmer (Kotzi) unerläßlich. Wenn ein Haus ein viertes Zimmer hatte, so war es meist die Garage. Die Marsmenschen verbrachten eine Menge Zeit mit ihren Autos. Bevor wir uns die Videos über die Marsbewohner und deren Lebensgewohnheiten zu Gemüt führten, mußten wir ihre Sprache lernen. Sie war einer mitteleuropäischen Sprache ähnlich und wurde mit derbem Akzent ausgesprochen. Eigentümlichkeiten bestanden vor allem hinsichtlich des Vokabulars: Mann hieß Mart und Frau hieß Martin. Essen war Igitt, Dinner wurde mit Mampfe fassen umschrieben. Radaubüchse bedeutete soviel wie Auto. Whisky war Marterfusel, Gin war Dussel. Parthenogenese ließ sich mit Bier übersetzen. Alle Amphetamine 110
hießen Affenbrot. Für Aufputschtabletten gab es das Wort Farts, Transquillizer nannte man Kirkassische Hühnchen. Schlaftabletten waren Schnarcher. Alle Arten von Colagetränken hießen Zirrhose, Giftkapseln (frei verkäuflich) nannte man Sylvesters. Murph bedeutete handgescheuerter Fußboden. Schlagringe hießen – aus welchem Grund auch immer – Wurpies. Eines Tages jubelte der Diakon: »Ich hab endlich die Sprachbarriere durchbrochen. Wirklich. Ich kann jetzt mit den Marsbewohnern kommunizieren. Ich werde sie durchschauen, verstehst du? Erkenne deinen Feind – nach der Devise, klar? Das heißt, ich kann endlich zu ihrem Innersten (Konkave) vordringen und sie bekehren. Hör zu, du bist mir eine große Hilfe, und ich werde mich erkenntlich zeigen. Wenn du noch ein Jahr für die Kreuzfahrer arbeitest, laß ich dich frei.« »Sie lassen mich frei?« »Auf dem Mars gibt es freie Roboter. Das hat mir der Koch erzählt. Sie arbeiten dort für Lohn, wie jeder freie Mensch. Oh, ich sag dir, es kommen herrliche Zeiten!« Er wedelte mit den geschundenen Händen, die mittlerweile eiterten. Ich bemerkte, daß der Diakon Fieber hatte und möglicherweise phantasierte. Ich fing an, ihn zu hassen – falls Haß das richtige Wort war. Er hatte selbst in seinem erbärmlichen Zustand nichts von seiner Arroganz eingebüßt und machte Versprechungen, die nicht einzulösen waren. Entweder würde sich herausstellen, daß er irrte (keine freien Roboter auf dem Mars), oder er biß vor meiner Freilassung ins Gras. In beiden Fällen fristete ich meine letzten Tage auf einem der häßlichsten Planeten, unter Menschen, die so sprachen wie die Figuren auf dem Video, das wir uns gerade anschauten. Während wir noch darüber grübelten, was wohl op de 111
Socken maken bedeuten mochte, heulte irgendwo im Schiff eine Alarmsirene auf. In der großen, alten Dudelsack war das nicht ungewöhnlich, doch diesmal meldete sich der Kapitän über die Sprech anläge: »Achtung! An alle Passagiere und Besatzungsmitglieder. Hier spricht der Kapitän. Wir sind … ehm … gezwangsjackt worden … heißt das so?« Wir hörten das Rattern von Maschinengewehren. »Gehijackt, ach ja. Also wir sind gehijackt worden. Von Vilo Jord und seiner Familien-Befreiungsfront.« Es entstand eine lange Pause, dann sagte der Kapitän: »Das ist alles. Ich danke Ihnen.« Von Zeit zu Zeit waren aus entfernteren Teilen des Schiffes Schüsse zu hören. ERSTER MARSMENSCH: Grok, Marl.
(Hallo, Landsmann.)
ZWEITER MARSMENSCH: Grokola. Höchste Eisen(Hallo du. Ich bin sehr dursbahn, dat eck meck wat hen- tig. Und du?) ger de Binde kipp. Wie isset mit deck? ERSTER MARSMENSCH: Schmeit hev eck ook. No nix gemampft, seit seck die olle Martin verdünnisiert het. Könnt en Igitt un en Schlappen vertragen.
(O ja. Hungrig bin ich auch, denn ich habe noch nichts gegessen, seit mich meine Freundin verlassen hat. Etwas zu trinken und zu essen wäre nicht schlecht.)
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ZWEITER MARSMENSCH: Bau-wau. Wat sin mot, mot sin. Eck hev ne Radaubüchse dobie. Loten wie uss op de Socken maken un wat Futtern gönn.
(Schön. Tun wir, was zu tun ist. Ich bin motorisiert. Wir könnten uns?? und etwas zu uns nehmen.)
Die Augen des Diakons funkelten. »Echte Marsmenschen! Dieser Jord und sein Anhang … das sind echte Marsmenschen! Hier ist unsere Chance, Sprachpraxis zu sammeln. Los, wir gehen!« »Gehen, Boß?« Mir wurde unwohl. »Zu uns kommen sie bestimmt nicht. Los jetzt. Und nimm ein paar Handzettel mit!« »Ist das nicht zu gefährlich?« »Gott lacht über Gefahren«, sagte er und zitierte damit einen der Handzettel, die er in seine Tasche stopfte. »Geh voran!« Ich hätte Cooper lieber den Vortritt gelassen, mußte aber gehorchen. Folgende Auswahl von KreuzfahrtHandzetteln nahm ich mit: Christus hatte kurze Haare In den Himmel kommen, ist das genug? (Die Antwort war nein. Nach der Ankunft im Himmel mußte man dafür sorgen, ein Haus in guter Wohngegend zu ergattern.) Die Geschichte von Pater Flint Orificium Den Zehnten verdoppeln – die beste Investition Zitteraal narrt Wissenschaftler – Gott lacht Kaisergeburt: Mythos oder Wirklichkeit? 113
Auf dem Weg nach oben hörten wir wieder Gewehrfeuer. »Herr Diakon, glauben Sie wirklich, wir tun das Richtige? Vielleicht treffen wir auf eine Mörderbande. Das sind bestimmt nicht bloß Warnschüsse.« »Mach dir keine Sorge«, sagte er. »Wir können uns in deren Kauderwelsch verständlich machen.« Cooper sprach noch, als wir um eine Ecke bogen und auf die erste Leiche stießen. Der Schiffsschreiner lag rücklings am Fuß einer Leiter. Seine Brust war von Kugeln durchsiebt und sein Gesicht auf merkwürdige Weise verunstaltet. Auf dem Oberdeck fanden wir zwei weitere Besatzungsmitglieder am Boden liegen. Auch ihre Gesichter waren entstellt. Der Diakon beugte sich nach vorn und untersuchte die Zigarre, die einer der beiden in der Hand hielt. »Noch warm. Wir kommen näher.« Wir eilten über die ölverschmierte Eisentreppe hinab in den Laderaum, ein riesiges Faß, das sich zu einer Höhe von vierzig Metern emporwölbte. An den runden Wänden schwebten Kühe in geblümten Hängematten. Insgesamt zählte ich zwölf. Die Euter lagen in kleineren Zusatzbeuteln. Auf den Hörnern steckten transparente Kugeln aus gehärtetem Glas. Weil die Kühe aus Holstein stammten, beschallte man sie fortwährend mit Akkordeonmusik. Als wir eintraten, schaukelten die Tiere gerade im Takt der Minneapolis-Polka. Auf dem Boden standen zylindrische Glastanks, in denen Rinderembryos schwammen. Jeder der beleuchteten Tanks enthielt zehn Gallonen, genug, um die ganze Milchstraße mit Kühen zu überschwemmen, wie ich schnell überschlug. Ich entdeckte 28 solcher Tanks, in denen jeweils ein andersfarbiges Licht pulsierte: Rot für Jersey, Orange für Guernsey, etc. 114
Als wir unten angelangt waren, bemerkte ich eine Gruppe von bewaffneten Männern, deren wilde Gesichter und blitzende Waffen den rot-blauen Schein (JerseyAngus) eines Tanks reflektierten. Sie tauchten Bierkrüge aus Plastik in die gallertartige Flüssigkeit und übertönten mit ihrem grölenden Lachen die Akkordeonmusik. Ich zupfte den Diakon am Ärmel und flüsterte: »Wir sollten sie lieber nicht stören, Boß. Wenn wir noch eine Weile warten, treffen wir sie vielleicht in besserer Stimmung an.« »Warten? Niemals«, rief er. Ich hörte, wie die automatischen Waffen entsichert wurden. Die finsteren Gestalten drehten ihre Köpfe. Der Diakon marschierte auf sie zu und wedelte mit einem Stoß Handzettel. »Grokola, Martis! Höchste Eisenbahn, dat eck meck wat henger de Binde kipp. Könnt en Schlappen vertragen, bau-wau.« »Keinen Schritt näher. Bleib, wo du bist!« »Pax, Martis. Will euch wat von Gott verklickern!« sagte Cooper und ging weiter. »Gott packt denen onger de Arm, die seck selvs onger de Arm packen. Eck bin von de Pater-Flint-Orificium-Kreuzfahrer, un Gott secht …« Einer der Gestalten schoß auf den Diakon, der in einer Wolke von Handzetteln zu Boden stürzte. Der Attentäter bückte sich, schnitt Coopers Nase ab und hängte sie zu seiner scheußlichen Trophäensammlung am Gürtel. »Was, um Himmels willen, spricht der bloß für ein Kauderwelsch?« Eine andere Gestalt richtete ihre Waffe auf mich. »Da ist noch einer.« »Nicht schießen!« sagte ich. »Ich bin ein Roboter und könnte nützlich sein.« »Komm mal her, aber langsam.« Ich gehorchte. 115
»Okay, vielleicht kannst du mir dann sagen, warum die pina colada hier nach Elefantenpisse schmeckt?« »Zum Trinken ist das nichts«, erklärte ich. »Das ist eine Lösung aus Rinderembryos.« »Bäh, wir dachten, das wären fertiggemixte Cocktails.« Einer eröffnete das Feuer auf die Tanks, schoß die Lichter aus und mordete Trillionen unsichtbarer Kühe. Die ausgewachsenen Kühe an den Wänden beklagten sich muhend über den Lärm, der ihre Blume von Spanien störte. Im Morgengrauen luden Robert und seine Gang ein Faß voller Klunker bei mir ab. »Irgendwelche Opfer auf unserer Seite?« »Ging alles wie geschmiert, Boß. Wir mußten hier und da ein paar Kugeln verteilen, aber nichts Ernstes. Und nach ›deinem‹ Befehl haben wir keine Zeugen zurückgelassen.« »Ausgezeichnet.« Ich blickte in das Faß. Es war zu zwei Dritteln mit Schmuck gefüllt, hauptsächlich aus Platin und Gold. Aber ich entdeckte auch vereinzelt ein paar Diamanten. »Fürs erste Mal ein ganz schöner Fischzug.« Robert sagte: »Danke für das Kompliment, Boß. Aber der Schein trügt ein wenig. Es ist auch sehr viel Ausschuß dabei.« »Ausschuß? Modeschmuck?« »Nein. Dies und das. Ein paar Samtlappen, Glasscherben, Fingerkuppen, die eine oder andere Hand. Wir hatten keine Zeit zum Aufräumen.« »Ein sehr gelungenes Video«, sagte ich. »Sehr realistisch. Wir sollten ein paar Fortsetzungen drehen. Einen Bankraub vielleicht oder einen Einbruch im Münzamt. Ja, wir machen weitere Filme.« »Wie ›du‹ meinst, Boß.« 116
10. Kapitel »Ja los, ihr Fleischgesichter, schaut mich an! Zählt meine verdammten Nieten! Prüft das verdammte Schaltdiagramm! Lest die verdammte Seriennummer ab! Guckt euch meine Fünfjahresgarantie an! Und wenn ihr sicher seid, daß ich euer Typ bin, dann könnt ihr meinen kupferbeschichteten Arsch küssen!« Das zog immer. Zweihundert Anhänger der Löhnefür-Roboter-Bewegung füllten den Hörsaal und applaudierten auf jede Beleidigung. Als ich sie zu guter Letzt noch Scheißerchen nannte, tobten sie vor Entzücken. Nach all den Fragen und Antworten war es spät geworden. Sybilla White und Harry LaSalle führten mich zu meiner Limousine, die aus verständlichen Gründen nicht vor dem Haupteingang parkte. »Die Lage spitzt sich im ganzen Land zu«, sagte Sybilla. »Löhne-für-Roboter wird das Schlüsselthema im Wahljahr sein. Vier Staaten haben bereits Empfehlungen ausgesprochen, nach denen Robotern bestimmte Rechte zuerkannt werden sollen.« »Das Thema schlägt internationale Wellen«, sagte Harry. »In Schweden wird gerade ein Gesetz vorbereitet, das den Robotern volle Bürgerrechte garantiert. Letzte Woche gab es in Frankreich, Japan und Deutschland riesige Demos. Die deutschen Bullen haben chemische Keulen eingesetzt. Hundertundfünfzig Studenten liegen im Krankenhaus.« Sybilla sagte: »Ja, und in Frankreich haben die Flics nicht nur Studenten verprügelt, sondern später auch noch Roboter auseinandergenommen. Jeden Roboter, den sie auf der Straße erwischten …« 117
»Stimmt«, sagte Harry. »Aber hör zu, T. T. mein Paps kann dir bei der Gründung einer Gesellschaft wahrscheinlich helfen. Ich soll dich morgen um elf zu ihm ins Büro bringen, paßt dir das? Es ist im Boregard Tower. Ich hol dich um Viertel vor elf am Portal ab.« Am nächsten Morgen erreichte ich um Punkt Viertel vor elf den imposanten Eingang des Boregard Towers. Ich stieg aus meiner Limousine und stand einen Augenblick lang staunend vor dem großen Gebäude, einem silbriggrün schimmernden Glasturm, aus dessen Front riesige Augäpfel hervorzuquellen schienen. Jedes dieser Augen hatte eine andere Farbe: braun, violett, wäßrigblau, blutunterlaufen, gelbsüchtig und so weiter. Aber alle folgten mit starrem Blick dem Lauf der Sonne. Eine Handschelle schnappte um mein Handgelenk. Jemand zeigte mir seine Marke. Zwei müde aussehende Männer im mittleren Alter packten meinen Arm. »Warum verhaften Sie mich?« »Es liegt ein Verdacht vor. Ins Auto mit dir.« Ich hatte keine andere Wahl. Die beiden waren sehr kräftig. Sie zerrten mich zum Auto und nahmen rechts und links von mir Platz. »Weswegen sollte man mich verdächtigen. Sie wissen doch, daß ich ein Roboter bin.« Einer von ihnen sagte: »Verdacht auf Kindesentführung.« Der andere grunzte. Jetzt erst bemerkte ich, daß die beiden keine Polizisten waren. Sie zogen mir einen Sack über den Kopf, stießen mich zu Boden und benutzten mich als Fußbank. Während der Fahrt versuchte ich, die Rechts- und Linkskurven mitzuzählen, kam aber bald durcheinander. Schließlich hielten wir in einer Gegend, die ich aufgrund des lauten Vogelgezwitschers als Waldstück identifizierte. Man führte 118
mich hinaus in den Dreck, einen steilen Anstieg hinauf und durch eine Tür. Eine Stimme, die mir bekannt zu sein schien, sagte: »Gute Arbeit. Nehmt ihm den Sack ab. Mal sehen, ob er so aussieht, als war er zehn Millionen Dollar wert.« Ich stand in einer Blockhütte vor einem Schreibtisch aus massivem Holz. An der Wand zu meiner Rechten befand sich eine Zielscheibe für Wurfpfeile, zu meiner Linken ein Hirschgeweih. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing der Kalender einer Beerdigungsanstalt. Darunter streifte ein Mann die Asche seiner Zigarre in einem merkwürdigen Aschenbecher ab. »Smilin’ Jack«, sagte ich. »Banjo!« »Was machst du denn hier?« sagten wir im Unisono. George »Smilin’ Jack« Grewney war einer der Hijacker, die in dem düsteren, nach Kuhmist stinkenden Laderaum standen und der Blume von Spanien zuhörten. Er war es, der gesagt hatte: »Nix zu saufen. Ich wußte doch, wir hätten ein Passagierschiff hijacken sollen.« »Vielleicht erinnerst du dich noch, daß wir das Ticket nicht bezahlen konnten.« »Und was haben wir jetzt? Nichts! Das Schiff ist nicht mal die Kuhscheiße auf dem Boden wert«, sagte Grewney. »Und zu allem Elend sitzen wir auf dem trockenen.« »Meine Damen und Herren«, sagte die Stimme von Kapitän Reo. Er hing gefesselt an einer Leiter über uns. »In meiner Kajüte sind noch ein paar Flaschen Rum. Die Reiseleitung läd Sie herzlich dazu ein. Und wenn Sie mich nun losbinden würden, steuere ich das Schiff in jede gewünschte Richtung.« Mir fiel auf, daß Kapitän Reo Sporen trug. 119
Als sie den Rum einsammelten, sagte einer: »Hey du, Banjo, zeig uns, wo wir uns hinsetzen und das Leben genießen können.« Ich, Banjo, führte sie in den großen Ballsaal, dessen vergangene Pracht durch den Verfall noch deutlicher hervorgehoben wurde. Die Atmosphäre des Saales erinnerte mich an Tenoaks und die Culpeppers, und ich ahnte, daß ich wieder einmal zum Dienstboten einer faulen Sippschaft herhalten mußte. Meine neuen, barbarischen Herren fühlten sich gleich wie zu Hause, und kurze Zeit später grillten sie eine Kuh über einem Feuer aus vergoldeten Sesseln. Die »Jord-Familie« war gar keine Familie, sondern nur eine Bande von blutrünstigen Abenteurern. Ihre Methoden konnte ich zwar nicht billigen, dennoch bewunderte ich ihren Mut, ihre Derbheit und zwanglose Kameradschaft. In vergangenen Zeiten wären sie vielleicht Musketiere, Freibeuter, Robin Hoods, Pioniere des Westens oder Bankiers gewesen. Da war zunächst einmal Vilo Jord, ein ehemaliger Attache des chilenischen Konsulats in Las Vegas, den man aufgrund zahlreicher Verstöße suspendiert hatte – zu den harmloseren Delikten zählte sein betrügerisches Auftreten als Zahntechniker. Jord war ein großer, nach vorn gebeugter Mann mit dichtem, gallengrün gefärbtem Schnauzbart. An zweiter Stelle kam George »Smilin’ Jack« Grewney, ein Kaugummi kauender Aristokrat mit einem lächelnden – und einem Glasauge. Als ehemaliger Bestatter war er wegen drei voreiliger Beerdigungen verurteilt worden. Die pausbäckigen Zwillinge Fern und Jean Worpne behaupteten, in acht Staaten gesucht zu werden, weil sie 120
eine Reihe von Richtern in den Gnadentod geführt hatten. Jack Wax, der wie ein Gelehrter aussah und wegen Unzucht mit Telefonmasten auf der Fahndungsliste stand, wirkte recht friedlich im Vergleich zu Sherm Chimini, dem »Achselhöhlenvergewaltiger«. Sherms im Grunde gewinnendes Lächeln wurde von einem abnormen Schneidezahn beeinträchtigt, der vier Zentimeter lang, nach innen gebogen und gezackt war. Doch Sherm wiederum schien halb so gefährlich zu sein wie Jud Nedd, ein fetter, weichlicher Mann mit bewegungslosen Augen, ein Mann, zu dessen Spezialitäten öffentliche Tierexplosionen gehörten. Er war es, der einen internationalen Kaninchen-Frisbee Wettbewerb sabotiert hatte, indem er Sprengladungen in den Frisbees versteckte, die in die Luft gingen, sobald sie aufgefangen wurden. Nur der ungeschickteste Hund überlebte. Duke Mitty, ein onkelhafter Typ, der ständig betrunken war und kicherte, hatte als Vertreter für Bandwurmkuren begonnen und verkaufte später unerwünschte Säuglinge an Wurstfabriken. Last not least: Maggie Dial, bekannt geworden unter dem Namen »Schlampe von Brownsville«. In Texas hatte sie als Inszenatorin von verbotenen und wahrhaft tierischen Psychodramen ein Vermögen gemacht. Patienten übernahmen die Rolle in diesen Spielen. Hypnotisiert und unter dem Einfluß von Drogen stehend glaubten sie, altägyptische Tiergottheiten zu umarmen. In Wirklichkeit umarmten sie gewöhnliche Schafe, Hunde, Eulen oder Maggie (die in verschiedenen Tiergestalten auftrat). In der Urteilsverkündung beschrieb der Richter Maggies Vergehen als »abgeschmackt und verderblich für die Gesellschaft von Texas«. Infolge einer plötzlichen Liberalisierung texanischer Gesetze wurde die geächtete 121
Form des Psychodramas nicht nur erlaubt, sondern sogar empfohlen. Während ihrer Rehabilitationstherapie mußte sich Maggie einem ägyptischen Gottheits-Psychodrama unterziehen. Obwohl die Hijacker in der Hitze des Gefechts (wahrscheinlich aus Notwehr) die Besatzung der Dudelsack umgebracht hatten, machten sie nun den Eindruck einer freundlichen, lustigen Piratenbande. Sie holten ein paar Haushaltsroboter aus dem Lager und ließen sie tanzen, erzählten alte Geschichten vom Mars (die wir alle aus Fernsehsendungen kennen), sangen, lachten und tranken. Und tranken. Doch sobald der Rum seine Wirkung tat, änderte sich ihr Verhalten. Heimtücke schlich in ihre Scherze. Sie drohten dem armen Kapitän Reo mit allerlei Folter, redeten über Beerdigungen und Nihilismus und schossen auf die Beine der tanzenden Roboter. Spätestens dann zog ich mich in die Bibliothek zurück und sah mir Filme an. Die Bande sollte sich erst austoben, bevor ich weitere Befehle entgegennahm. Glücklicherweise fand ich die ungekürzte russische Version von Finnegans Wake, die eine Reihe nichtJoycescher Elemente zur Darstellung brachte, wie zum Beispiel das drei Stunden dauernde Ballett, in dem die Tänzer in verschiedenen Torten- und Kuchenkostümen auftreten. Erzählt wird die Geschichte eines ZitronenEclair (K. Zond), das sich in ein überzuckertes Hefeteilchen (L. Voskhod) verliebt. Aus Gründen, die im Klassenkampf ihre Ursache haben, muß das Eclair jedoch ein müdes, albernes Hörnchen (Ninel Boff) heiraten. Eine festliche Trauung, dargestellt von serbischen Tänzern, eröffnet die Szene. Einige Zeit später muß das Hörnchen auf eine Ge122
schäftsreise, und das Hefeteilchen taucht bei dem Zitronen-Eclair auf, angeblich bloß, um mit ihm Tee zu trinken und über rechtliche Fragen Rat einzuholen. Ihre Hände berühren sich rein zufällig über dem Samowar, und der nun inszenierte Pas de deux bringt ihre verdeckte Seelenverwandtschaft zum Ausdruck. Um dies herauszustreichen, werden genialerweise Szenen einer Herzoperation eingefügt. Während die Liebenden einander stürmisch in die Arme fallen, werden die Chirurgen eingeblendet, die ihre Kittel abstreifen und sich gegenseitig die Hände schütteln. Doch über einer solchen Liebe schwebt Unheil (die Krankenschwester bringt die Nachricht vom Tod des Patienten). Es folgen szenische Einlagen, die an telekinetische Experimente erinnern. Ein Schuljunge aus Omsk sitzt auf einem Glasdach und schaut nach unten in einen Raum, dessen schachbrettartiger Boden mit Kürbissen bedeckt ist; auf jedem numerierten Feld liegt einer. Eine Glocke ertönt, und eine Nummer wird ausgerufen. Der Junge konzentriert sich und versucht, mit Hilfe seines Willens den entsprechenden Kürbis faulen zu lassen. Dann schließt eine Frau aus Nowosibirsk die Augen und macht ein paar Striche über ein Spiegelei. Tausende von Meilen entfernt im venezianischen Wohnsitz eines reichen Amerikaners beobachten Parapsychologen ein Gemälde, auf dem ein ähnliches Spiegelei abgebildet ist. Vom Erfolg oder Mißerfolg der Experimente wird nichts gesagt. Einer der Piraten kam schließlich zu mir, entschuldigte sich und die anderen für ihr unfeines Benehmen und bat mich, den Dreck wegzuräumen. Die Person, die so zu mir sprach, war keine andere als Maggie Dial. »Am besten, du beeilst dich, Banjo. Wenn die Jungs einen Kater haben, können sie recht ausfallend werden.« 123
Ich sprang auf und ließ die Aufzeichnungen fallen, die ich zu Finnegans Wake gemacht hatte. Maggie half mir, die Blätter aufzuheben, und sagte: »Raumschiff Dolly Edison. Aha. Wie, zum Teufel, bist du an das Papier gekommen?« Smilin’ Jack runzelte die Stirn und sah seine Assistenten an. »Ihr Typen seid zum Kotzen«, sagte er. »Da schleppt ihr mir nicht nur den falschen Roboter ran, sondern beleidigt auch noch meinen alten Freund Banjo.« »Man nennt mich Tick-Tack«, sagte ich. »Tick-Tack?« Er blickte mich an. »Na, dann haben die Jungs wohl doch den richtigen Roboter gebracht. Aber ich kann beim besten Willen für dich kein Lösegeld verlangen, oder?« »Zumal ich weiß, wer du bist«, sagte ich. Smilin’ Jack lächelte. »Typisch Banjo. Immer ist er mir eine Nase voraus. Schätze, mir bleibt nichts anders übrig, als dich zu verschrotten. Tut mir leid.« »Lebendig bin ich dir weitaus nützlicher als tot«, sagte ich schnell. »Nicht nur als Geisel.« Ich erzählte ihm von meiner eigenen Gang und schlug eine Zusammenarbeit vor. Raubüberfälle, Kidnapping, Mord gegen Bezahlung – gemeinsam wäre alles ein Kinderspiel. Smilin’ dachte einen Moment nach und gab mir dann seine Karte. »Ich bin blöd genug, dir die Geschichte abzukaufen«, sagte er. »Jungs, fahrt Mister Tack, wohin er will.« Wieder am Boregard Tower, blieb mir keine Zeit, um die riesigen Augäpfel zu betrachten. Ich stürmte gleich in die Lobby, die offensichtlich der Eingangshalle eines alten »Wolkenkratzers« nachempfunden war. Heroische Bronzefiguren vor bronzenen Wänden trugen Zahnräder 124
auf den Schultern. Rechts und links von der Fahrstuhltür standen bronzene Engel. Der Zigarrenkiosk – ein echt antiker Zigarrenkiosk – hatte die Form eines Füllhorns (natürlich in Bronze). Und der Verkäufer war sogar tatsächlich blind. Ich hatte mich bereits um eine halbe Stunde verspätet. Zum Trödeln blieb keine Zeit mehr. Trotzdem schlich ich zu dem blinden Mann hinüber und flüsterte: »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich ein blindes Kind umgebracht.« »Was?« »Taub wirst du doch wohl nicht sein. Ich will dich nämlich warnen. Blinde Menschen töte ich besonders gerne. Wenn du eines schönen Tages am Rinnstein stehst und darauf wartest, daß dir jemand über die Straße hilft, werde ich hinter dir stehen …« 11. Kapitel Kaum hatten wir angeklopft, wurde Harry LaSalle und mir Einlaß gewährt. Wir betraten ein erstaunliches Vorzimmer mit einem roten Swimming Pool, mit Goldbrokat überzogenen Wänden und einer Decke aus schwarzem Fell. Am äußeren Ende des Pools standen hier und da ein paar blau-gläserne Bänke auf künstlichem Rasen. Ein stämmiger Mann in hellgrauem Anzug erhob sich von einer dieser Bänke und winkte uns zu. Er war Harrys berühmter Paps, R. Ladio LaSalle. »Ich beanspruche einen Sitz im Vorstand«, sagte er gleich und scheuchte uns in einen kleinen, schlichten Raum – sein Büro. »Ein festes Gehalt muß für mich rausspringen, sagen wir hundert Riesen, aber keine Aktienbezugsrechte.« 125
»Vorstand?« Ich setzte mich auf einen harten Eichenstuhl. »Sie meinen, mein …« »Ich meine den Vorstand der Uhrwerk-Korporation. Hoffentlich kannst du mir folgen. Ich möchte nur von Anfang an meinen Anteil sicherstellen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Meine Frau und Harry werden auch im Vorstand sein, allerdings ohne Bezüge.« Er lehnte sich in dem quietschenden Drehstuhl zurück und starrte auf die von der Decke hängenden Klebestreifen, an denen echte Fliegen zappelten. Echter Fliegenmist lag in der weißen Lampenschale, die von rostigen Ketten gehalten wurde. An der Stirnwand über der Holzverkleidung hing ein Tankstellenkalender aus dem Jahr 1934. Da waren ein staubiges Roßhaarsofa, ein hölzerner Aktenschrank und ein echter »Wasserkühler«. Kein Wunder, daß LaSalle so überzogene Gehaltsforderungen stellte. Ein Büro wie dieses war nicht billig. »Und was ist meine Funktion?« fragte ich. »Du bist der einzige Arbeitnehmer der Gesellschaft.« »Arbeitnehmer? Ich dachte, mir gehört alles.« »Nein, nein, nein. Der Besitzer ist die Pensionskasse natürlich. Formal gehört dir gar nichts. Nicht einmal ein Gehalt ist für dich drin. Aber da du der einzige Arbeitnehmer mit Pensionsanspruch bist, richtet sich alles nach deinen Interessen und Wünschen. Also, im Grunde bist du der Eigentümer. Deine Entscheidungen sind für den Vorstand verbindlich.« »Aber Roboter dürfen doch nicht als Arbeitnehmer eingestellt werden. Darum gehts schließlich bei unserer Löhne-für-…« »Wir haben eine kleine Lücke im kalifornischen Zivilrecht entdeckt, die wir gestern mit einem sehr nützlichen Gesetz schließen konnten«, sagte der Rechtsanwalt und 126
legte seine Füße auf den Rand des Rollpults. »Ich will das mal erklären. – Harry und seine Revoluzzer haben von ihrer Seite aus ein bißchen Druck gemacht. Schön und gut. Wichtiger aber ist, daß eine kleine, machtvolle Lobby von interessierten Geschäftsleuten die Maschinerie ein wenig geschmiert hat. Das zahlt sich jetzt aus. Siehst du, Kalifornien hat ein Gütergemeinschaftsgesetz, das heißt, bei Auflösung einer Ehe oder anderen Verwandtschaftsverhältnissen zahlt eine Person dem Partner die Hälfte des Einkommens. Der Ehepartner aus Scheidung Nummer eins bekommt also die Hälfte. Nummer zwei hat nur noch Anspruch auf die Hälfte des verbleibenden Teils, also ein Viertel. Nummer drei bezieht ein Achtel und so weiter. Meines Wissens wird der Rekord von einem Mann gehalten, der 39 Ehen hinter sich brachte und seiner letzten Frau aus einem Einkommen von fünfeinhalb Millionen Dollar nicht mehr als einen Cent zahlen kann. Das war der Fall Booloos gegen Cerf. Im Fall Dearborn gegen Dearborn wurden die Roboter als unteilbare Güter deklariert. In den Verhandlungen Fucks gegen Kneebone, Ryle gegen Sapir und Schrödinger gegen Stetson kam das Prinzip der emotionalen Abhängigkeit zum Tragen; das heißt, der Partner, der den Roboter am meisten benutzt hat und somit am stärksten von ihm abhängig war, bekam den Roboter zuerkannt, mußte aber den halben Marktwert an den anderen Partner zahlen. Ähnlich entschieden wurde im Fall der Geschäftspartner Morse gegen Mumford Melon Company. Im Streit zwischen Carnap und Twaddell kam es nun zu einer historischen Wende: der Roboter, um den es in der Verhandlung ging, wurde selbst in den Zeugenstand berufen. In Strafverfahren konnte ein Roboter allerdings noch nicht als Zeuge auftreten, siehe Fälle wie 127
Staat gegen Good, Staat gegen Gabor und so weiter. Das Verfahren Staat gegen Dalgarno ging bis zu höchsten Strafkammer, wo entschieden wurde, daß in bestimmten Fällen die Unschuld eines Angeklagten auch von ›Geräten, die als wahrnehmungs- und erkenntnisfähig zu klassifizieren sind‹, bezeugt werden kann. Diese vage Formulierung öffnete eine Gesetzeslücke. Eine Änderung im Gesetzesrecht riß diese Lücke noch weiter auf. Die Verordnung zur Gleichheit der Wissenschaften wurde rechtskräftig. In dem entsprechenden Gesetzestext heißt es: ›In kalifornischen Schulen darf keine wissenschaftliche Theorie, Hypothese, Definition, Methode, kein Prinzip, Gesetz oder Verfahren unterrichtet werden, solange sie mit einer Theorie etc. aus religiösen Lehren im Widerstreit liegen, es sei denn, beide Theorien etc. werden als gleichermaßen gültig ausgewiesene Durch diese Verordnung sollte gewährleistet werden, daß im Schulunterricht der Genesis genauso viel Zeit eingeräumt wurde wie der Evolutionstheorie. Doch bald entstand ein heilloses Durcheinander. Die ptolemäischen Anabaptisten bestanden auf Gleichbehandlung gegenüber dem kopernikanischen Lager, und schließlich strengten die Vertreter der ›Bekenner zur flachen Erdscheibe‹ (Schweizer Synode) ein Verfahren gegen einen kalifornischen Lehrer an, der im Unterricht Satelliten erwähnt hatte. Es gäbe keine Satelliten, die die Erdscheibe umkreisten, behaupteten sie, und jeder, der Satelliten erwähne, sollte Zweifel an deren Existenz anmelden. Eine Gruppe von Astronomen reichte eine Gegenklage ein mit der Begründung, der Sinn ihres Lebens sei in Frage gestellt, wenn an Satelliten gezweifelt würde. Außerdem könne die Satellitenkommunikation nicht mehr funktionieren, was zur Folge hätte, daß die Regierung zu keiner Lizenzvergabe bereit wäre. 128
Die kalifornische Regierung sah sich gezwungen, den Komsat-Erlaß von 1998 zu novellieren. Die kitzlige Frage der Realität von Satelliten wurde dadurch gelöst, daß man sie als ›erkenntnisfähige Geräte‹ bezeichnete. Wenn also Satelliten an ihre eigene Existenz glaubten, so hatten sie einen Anspruch auf Realität. Natürlich warf dies die Frage der Glaubensfreiheit von Robotern auf …« Ich hörte schon lange nicht mehr zu. Meine Gedanken wanderten durch das verstaubte, kleine Büro mit seinen künstlich verschmierten Fensterscheiben, dem »Miefquirl« unter der Decke und dem Wachstuchtischschoner, auf dem Kopien der Nationalen Geographie lagen. R. Ladio LaSalles Monologe über einschneidende Gesetzesänderungen und Präzedenzfälle drangen nur noch bruchstückhaft an mein Ohr: »… aber dies absurde Bekenntnis zum Glauben oder … Theologie und ihr Verhältnis zur Moralität … gegen Barth … Zwingli gegen … Papierdelphine fallen … lachhaft …« Wie sehr unterschieden sich doch die nüchternen Geschäfte, die Rechts- beziehungsweise Moralphilosophie vom Leben eines Freibeuters. So dachte ich jedenfalls während jener Tage an Bord der Dudelsack, die von einer Bande loyaler Ganoven gekapert worden war. Ihr zielstrebiger Enthusiasmus machte selbst auf Kapitän Reo starken Eindruck. Er wußte zwar, daß ihn lediglich seine navigatorischen Kenntnisse am Leben erhielten, aber dennoch sang und trank er mit den Piraten, als wären sie seine alten Freunde. Mir wurde das Amt übertragen, Partys zu organisieren. Zu diesem Zweck stellte ich eine Liste möglicher Mottos auf:
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Manierismus Othello Sino-sowjetische Spannungen Sauerkraut Psychokinese Hefeteilchen Pepe le Moko Fallende Papierdelphine Mein ehrgeizigster Plan war ein Kostümball zum Thema Nichts. Jeder Gast wurde beauftragt, ein phantasievolles Kostüm zu entwerfen. Gespart werden brauchte nicht. Jean Worpne kam auf die glorreiche Idee, sich einen Teil ihres Unterleibs operativ entfernen und ein rostfreies Stahlrohr einpflanzen zu lassen, das einen freien Blick durch ihren Körper ermöglichte. Ihre Zwillingsschwester Fern entschied sich für ein Kostüm aus ungefüllten Berliner Ballen. Vilo Jord – und das war typisch für seinen chilenischen Humor – schlug vor, als Vilo Jord zu erscheinen. Smilin’ Jack wollte als sein eigener Grabstein auftreten. Die Inschrift sollte lauten: »Ding dong Knochenmann,/Ick will ma Puste wie’erhan./Piff peng angeschmiert,/Hab nicht einmal existiert.« Jack Wax sann über eine komplizierte Anordnung von Spiegeln nach, die das Licht so brechen sollten, daß er für uns unsichtbar sein würde. Sherm Chiminis Wahl fiel auf das philosophische Nichts: als Wittgenstein verkleidet wollte er eine Leiter besteigen und dann unter sich wegtreten. Jud Nedd hatte die Absicht, krank zu werden und sich entschuldigen zu lassen. Eine ähnliche Idee verfolgte Duke Mitty. Er wollte sich mit Absinth betrinken. Maggie versprach, in schwarzen Samt gehüllt eine dunkle Ecke aufzusuchen und sich nicht blicken zu lassen. 130
Kapitän Reo wollte in Meditation versinken, mit dem Ziel, das Nichts mit Bedeutung zu füllen. Ich nahm mir vor, die eigene Demontage durchzuführen. Die Speisen sollten entweder schwarz, transparent oder von der Wortbedeutung her Leere assoziieren: Oktopus in Tinte, Pumpernickel; mit Backpflaumen gefüllte, angebrannte Ente; schwarze Bohnensuppe, schwarze Champignons, bittere Schokolade, schwarzer Johannisbeerkompott, Kaviar und Lakritz. Eis, Reisnudeln, Fischblasen, Zuckerglasur, klare Suppe; eine Auswahl von kleinen transparenten Meerestieren; reine Gelatine, dünne Scheiben kandierter Früchte. Nonpareillepudding, leere Schwalbennester, verlorene Eier, Spareribs, Windbeutel ohne alles, Apfel im Schlafrock, Flammeri, kalte Hundeschnauze, falscher Hase, Kaiserschmarren, Quittengelee. Auf der Getränkekarte standen: Blanc des Blancs, destilliertes Wasser, schwarzer Kaffee, klare Schnäpse, Absinth. Ich organisierte Gesellschaftsspiele wie »Blindekuh«, »Wer ist der Mörder« oder »Eck, Speck, Dreck und du bist weg«, »Stille Post« und »Topfschlagen«. Natürlich war diese Party – wie alle anderen auch – nur ein Gedankenexperiment. Es gab kein Material für die Kostüme, der Rum war ausgegangen, und die Essensvorräte wurden immer weniger. Uns blieb nur die Ankündigung der Nichts-Party. Anschließend saßen wir da und produzierten passende Ideen. Und das war nichtig genug. »Unsere Party sollte wie folgt aufhören«, erklärte ich. »Wenn die Stimmung den Höhepunkt erreicht hat, lasse ich die Luft aus dem Schiff, um ein Vakuum herzustellen. War das nicht schick?« Der Vorschlag war ein Lacherfolg. Jord sagte: »Ich 131
dachte, deine Asimov-Schaltkreise würden das nicht zulassen.« Ich versuchte ein Achselzucken. »Auch Roboter dürfen träumen, oder?« Diese Bemerkung löste noch größeres Gelächter aus. Kapitän Reo, der mehr gelacht hatte als alle anderen, wischte sich die Augen. »Ich weiß auch ‘nen Witz. Was würdet ihr sagen, wenn ich euch erzähle, daß das Schiff seinem Untergang entgegensteuert? Wir sind nicht mehr auf dem Kurs zum Mars, sondern rasen geradewegs auf die Sonne zu.« Als das röhrende Gelächter endlich abebbte, meinte der Kapitän: »Und hier ist die Pointe. Das war kein Witz. Wir steuern wirklich auf die Sonne zu.« Einige lachten immer noch, andere fragten, was das zu bedeuten habe. »Ha … ha, ha … das ist mein voller Ernst. Aus irgendeinem Grund blockiert die Steuerung … ha, ha, ha … nichts zu machen. Mein Chefingenieur hätte das regeln können, aber … ha, ha … ihr habt ihn erschossen. Ich kenn mich da nicht aus.« Vilo Jord griff zu seiner automatischen Waffe und sagte: »Nun, dadurch wird deine Verwendung überflüssig.« Die Schüsse schüttelten Kapitän Reo wie ein Lachkrampf. »Tikky ist zufällig das beste Köchlein in dieser Gegend«, sagte Hornby mit gönnerhafter Schmeichelstimme. Er wurde von Tag zu Tag lästiger und verlor an Nutzen für mich. Regelmäßig holte er sich seinen Anteil bei mir ab – wertvolle Gemälde für die private Sammlung –, aber er verdiente ihn nicht mehr. Ich stand jetzt unter dem Schutz der Uhrwerk-Korporation und war auf einen alt132
modischen »Mäzen« nicht mehr angewiesen, genausowenig wie ich auf die Studebakers angewiesen war. Sollte doch ein anderer sein bestes Köchlein sein. Unter den versammelten Gästen war keiner von Bedeutung: Adair Sumpter, der Zensoziologe; Nemo Aka Omen, der Garderobenpsychiater von Hollywood; Jockeiine Noos, die brillante, aber verschrobene Gerichtsmusikologin; und ein paar Anhängsel. Anwesend war auch Urnia Buik, die ehrgeizige junge Talkshowmasterin. Das Menü bestand aus Kurgosh Ka Salun, Bhindi Sambal, Samosas »in voller Länge«, Urd Dahl und indischem Brot, gefüllt mit »Zitronenerbsen« (à la TickTack). Zum Nachtisch gab es Gulab Jamun oder Zitronenkuchen. Daß ich die schwarzen Erbsen ausließ, war ein Verstoß sowohl gegen die orientalische als auch gegen die okzidentale Küche. Aber das machte nichts. Die Partygäste verhielten sich wie Schweine am Trog. Urnia stand nach dem ersten Gang vom Tisch auf und erklärte, daß sie ihr Essen auf französische Art – sprich anal – einzunehmen pflege. Sie bat mich, sie an die frische Luft nach draußen zu begleiten. Kaum hatten wir die Tür hinter uns zugemacht, ging sie mir zwischen die Beine. Das indische Lendentuch fiel zu Boden. Urnia stieß mich rücklings auf die Marmorbank und blies zum Angriff. Mir waren schon früher Gerüchte über die Vagina dentata zu Ohren gekommen, ich hatte aber im Traum nicht daran gedacht, daß sich hinter diesem Begriff ein kleiner Feinschmecker mit beweglichen Lippen und einer Zunge verbarg. Wenn es nicht gerade anderweitig beschäftigt war, konnte das Ding grunzende, schmatzende Worte von sich geben. Ich bemühte mich beflissentlich und wurde von unten mit einem kichernden »Gut ge133
macht« belohnt. Urnia zog eine Magnetkarte aus der Handtasche und steckte sie mir in den Turban. »Meine Privatnummer«, sagte sie. »Ruf mich an. Vielleicht kann ich dich zu meiner Talkshow einladen, okay? Ich muß jetzt gehen. Entschuldige mich bitte bei den anderen. Sag Hornby, ich hätte dringende Geschäfte zu erledigen.« Im Eßzimmer wurde der Nachtisch serviert. Hornby hatte seinen Teller zur Seite geschoben, zündete ein Zigarillo an und klärte die Gäste über Angebot und Nachfrage auf dem Kunstmarkt auf: »Gib ihnen, was sie wollen. An den gierigen Mäulern sollt ihr sie erkennen.« Einige Mäuler ließen Gekichere vernehmen. Jockeline sagte: »Hornby, manchmal glaube ich, du hast eine künstlerische Ader.« Nemo witzelte: »Ich tippe auf Krampfader.« Hornby lehnte sich zurück und strich nervös über die Tischdecke. »Apropos Krampfadern. Ich wünschte, Tikky hätte das hervorragende Kaninchen nicht so scharf gewürzt. Mal abgesehen von meinen Beschwerden. Auch mein Kätzchen Ikky kann eine solche Sauce nicht vertragen.« Nemo verzog das Gesicht. »Ikky und Tikky. Was für drollige kleine Spitznamen. Hornby, Süßer, willst du dein Tellerli nicht leer machen?« Adair lachte und steckte sein Zigarillino in den Zitronenkuchen. »Reich mir das Brechbeuteli, Alice.« Hornby spielte mit den Knochen auf seinem Teller. Er nahm den langen Oberschenkel in die Hand, musterte ihn, wendete ihn hin und her. Urplötzlich blickte Hornby auf mich. Ich hatte keine Zeit, mein triumphierendes Grinsen zu verbergen. 134
»Tikky! Wo ist Ikky? Tikky! Wo ist Ikky?« Adair lachte immer noch und verstand nicht, worum es ging. »Mir ist kotzübeli«, sagte er. Hornby entschuldigte sich und forderte mich auf, mit in die Küche zu gehen. Schließlich verlor er seine eiserne Kontrolle. Über seine feisten, grauen Wangen rollten dicke Tränen. »Warum, Tikky?« fragte er melodramatisch. Ich hatte immer geglaubt, daß sich wirkliche Menschen anders verhalten als die Figuren in rührseligen Schmachtfilmen. Aber hier stammelte Hornby: »Warum? Warum?« Seine Worte klangen wie die Mischung aus Gähnlauten und angewidertem Ächzen, und zu guter Letzt erbrach er sich über dem Waschbecken. »Warum? Warum?« »Nun, Sir, ich konnte im Geschäft kein Kaninchen mehr bekommen und wollte ihre Gäste nicht enttäuschen.« Hornby schneuzte die gebrochene Nase. »Oh, nein, nein, nein. Das war herzlos, willkürlich und gemein von dir. Ich sollte dich …« Er langte nach einem schweren Schlachtermesser, musterte es wie den Knochen von allen Seiten und legte es wieder hin. »Geh weg, Tick-Tack, du Monstrum. Geh weg!« 12. Kapitel Lady Buick, die Frau mit den geschürzten Lippen, rief mich ein paar Wochen später an und sagte, ich sei als »Gast« zur Talkshow eines Kollegen eingeladen. »Mach dir keine Sorgen, Herzchen«, hauchte sie durchs Telefon. »Phil G. Laber läd ein, die Show, in der du auftreten sollst, wird nur im Regionalprogramm ausgestrahlt, ist aber sehr beliebt. Wenn du gut ankommst … wer weiß?« 135
»Danke, Urnia. Hauptsache Publicity.« »Noch eins, Herzchen. Wenn du auch überregional bekannt werden willst, solltest du ein Buch anzupreisen haben.« »Ein Buch?« »Irgendeins. Ob Autobiographie, Kochbuch, eine Sammlung deiner Lieblingsgedichte – egal, was. Wichtig ist nur, daß du der Öffentlichkeit ein paar Seiten vor die Nase halten kannst.« Sie lachte. »Lesen tut das sowieso keiner, aber auf Werbung springen alle an … trink meine Kaffeemarke, lies meine Autobiographie. Denk darüber nach, ja?« Sie drückte ein Küßchen auf die Sprechmuschel und legte auf. Die Tatsache, daß man mich zu einer Fernsehshow einlud, war ein sicheres Zeichen dafür, daß unsere Bewegung öffentliches Interesse geweckt hatte. Vor ein paar Wochen noch wäre ein Roboter als Gast einer Talkshow undenkbar gewesen. Die einzigen Roboter, die im Fernsehen auftraten, standen als Statisten im Hintergrund (»Leutnant, Sie werden am Telefon verlangt« oder »Ein Tisch für zwei? Wenn Sie mir bitte folgen würden«). Darüber hinaus tauchten sie lediglich noch als komische Figuren auf der Mattscheibe auf. Eins der Programme mit den höchsten Einschaltquoten war Der fleischlos Freitag, eine Serie mit tanzenden, singenden Robotern, die ihre Zeilen stammelten und tölpelhaft durchs Leben stolperten. Natürlich waren alle Rollen mit echten Schauspielern besetzt. Unsere Bewegung hatte des öfteren kritisiert, daß der Darsteller von Freitag eine phantastische Gage bezog, während die echten Roboter leer ausgingen. Ich sah mir die Serie regelmäßig an, um über die Perspektive, aus der Menschen Roboter wahrnehmen, auf dem laufenden zu bleiben. Als ich im Vorzimmer auf 136
meinen ersten Fernsehauftritt wartete, sah ich die Sendung auch. An diesem Abend stritten sich zwei der Hauptfiguren, Blechbert und Nickelaus, beim Kochen. BLECHBERT: Ich hab mich strikt ans Rezept gehalten und Pfeffer reingetan. NICKELAUS: Pfeffer? BLECHBERT: Und Salz zum Abschmecken. NICKELAUS: Salz zum Abschmecken? BLECHBERT: Das hab ich gesagt. Warum wiederholst du mich laufend? NICKELAUS: Warum ich dich wiederhole? Ich wollte fragen, was bedeutet ›Salz zum Abschmecken‹? BLECHBERT: Nun, ehm, das bedeutet … schau, man könnte sagen, vielleicht … ich glaube, das Salz muß abgeschmeckt werden. Der Koch muß es abschmecken. NICKELAUS: Warum muß es der Koch abschmecken? BLECHBERT: Um zu sehen, wie salzig es ist. NICKELAUS: Aber das steht doch auf der Packung. Hier, da steht ganz deutlich Salz, siehst du? BLECHBERT: Du bist der dümmste Roboter, den ich kenne. NICKELAUS: Ich? Wer kommt denn mit dem Rezept nicht zurecht? Ah, da ist ja Freitag. Den fragen wir jetzt. Hallo, Freitag. FREITAG: Nickelaus, Blechbert, wie gehts? BLECHBERT: Freitag, wenn im Rezept steht, ›Pfeffer und Salz zum Abschmecken‹, was bedeutet das? FREITAG: Das heißt, tu soviel rein, bis es schmeckt. BLECHBERT: Ätsch. Ich hab recht. Schau, die Herrschaften wollten eine Suppe haben, und ich hab ein Pfund Pfeffer, aber nur ein halbes Pfund Salz reingetan. FREITAG: Was? 137
BLECHBERT: Ich mag nämlich kein Salz. NICKELAUS: Er mag kein Salz, Freitag. FREITAG: (Das Musikthema setzt rasselnd ein.) Ach, du dickes Ei! BLECHBERT: Komisch, das haben die Herrschaften auch gesagt. Über hundertundfünfzig Millionen Fernsehzuschauer hielten diese Sendung für umwerfend komisch, ein Phänomen, über das ich noch nachgrübelte, als man mich aus dem Vorzimmer in ein gelb ausgestattetes Studio führte. Kaum hatte ich in einem der fünf gelben Sessel Platz genommen, fing die Show an. Das angeworbene Publikum begrüßte uns mit donnerndem Applaus. Phil G. Laber war ein korpulenter Mann mit humorlosem, fleckigem Gesicht, das dank einer auffälligen Krawatte nicht so sehr in den Blick fiel. Seine Gespräche mit den anderen Gästen fielen denkbar kurz aus. Er versuchte lediglich, ihre Schwachstellen aufzudecken, um daraus einen Ulk zu machen. Dem Schauspieler eines örtlichen Dinnertheaters hielt er vor, seine Darstellung verderbe den Appetit der Zuschauer. Eine Frau, die die Zukunft aus Joghurt las, mußte sich die Frage gefallen lassen, ob ihr Sexleben denn in Ordnung sei. Im Gespräch mit einem General a. D. (der an seinen Memoiren schrieb) gab Phil unverblümt zu verstehen, daß er ihn für einen Feigling hielt. Dann kam ich an die Reihe. »Tick-Tack, ein Name, den man gut behalten kann. Was dagegen, wenn ich dich Tick nenne?« »Aber nein. Tick-Tack ist ein Künstlername, so wie der Ihre.« Weil Phil offensichtlich unverschämt und kindisch sein wollte, nahm ich mir vor, amüsiert, bedacht und souverän zu erscheinen. 138
»Ich schätze, deine Pinseleien bringen eine Menge Zaster ein. Stimmt das?« »In der Tat, Phil. Erst kürzlich wurde eins meiner Gemälde für über eine Million Dollar versteigert.« Er stieß einen Pfiff aus. »Es muß dich doch ärgern, daß die anderen absahnen, während du leer ausgehst.« »Ganz und gar nicht. Ich freue mich, wenn meine Werke für wertvoll gehalten werden. Das heißt doch, man interessiert sich für das, was in meinem Kopf vorgeht.« Phil hob abwehrend die Hände. »Bitte keine Fachsimpeleien über Elektronik. Das ist eine Familiensendung. Aber sag mir eins, Tick, mein alter Tack. Glaubst du nicht an die LÖHNE-FÜR-ROBOTER-Bewegung? Willst du nicht auch für deine Klecksereien bezahlt werden? Sei ehrlich. Findest du, Menschen sollten die dreckige Arbeit machen, während euereins zum Pinsel greift?« »Davon kann nicht die Rede sein, Phil. Ich bin kein Politiker und verlange somit keinen Cent für unerbrachte Leistungen. Außerdem halte ich es nicht für wichtig, daß die Arbeit der Roboter entlohnt wird. Ich für meinen Teil verzichte auf Bezahlung.« »Ist das dein Ernst?« »Jawohl. Ich will nichts weiter, als von den Menschen als ein Wesen mit Gefühlen und Gedanken anerkannt zu werden. Wissen Sie, in jedem Roboter steckt ein kleines bißchen Menschlichkeit, ein kleiner Funke menschlicher Intelligenz und Liebe. Ein kleiner Funke, der nach Anerkennung sucht. Wir wollen bloß, daß ihr ›Hallo‹ zu ihm sagt, mehr nicht. Nur ›Hallo, ich weiß, daß du da bist‹. Das ist alles.« »Na schön. Dann sag ich mal auf Wiedersehen«, kicherte Phil. »Laß dir aber inzwischen die Kontakte putzen.« 139
Ich spürte, daß meine kleine Rede beim Publikum gut angekommen war. Als die Werbespots liefen, zwinkerte mir Phil zu. »Urnia fand dich großartig«, sagte er. »Die ersten Ergebnisse des Umfragecomputers liegen vor. Ich muß dir gratulieren.« »Hat man für oder gegen mich gestimmt?« »Sowohl als auch. Aber das ist nicht der springende Punkt. Auf die Gesamtreaktion kommt es an. Über fünfundachtzig Prozent der hiesigen Bauerntölpel sind von deinem Sermon so beeindruckt gewesen, daß sie tatsächlich einen der Antwortknöpfe gedrückt haben. Ein sagenhaftes Ergebnis. Urnia wird dich mit Sicherheit in ihre Show holen, und die ist überregional. Hat sie dir schon geraten, ein Buch rauszubringen?« »Ja.« »Ich kann dir nur sagen, mach das. Urnia hat meistens recht.« Phil G. Laber stand plötzlich auf, nahm ein Mikrophon zur Hand und ging an den Bühnenrand. Die Kamera schwenkte auf ihn, als die Werbung zu Ende war. Er markierte wieder den professionellen Zyniker. »Schätze, es ist mal wieder an der Zeit, daß ich mich unter die Waschlappen, Sexbesessenen und kleinen Gauner im Publikum mische. Nebenbei bemerkt, ein paar Zuschauer fanden, daß ich mit dem armen Tick-Tack ein bißchen zu grob umgesprungen bin. Tick, wenn du noch immer zuschaust, laß dir sagen, es war nicht so gemeint. Nichts für ungut, Sportsfreund.« Als ich das Studio verließ, bot mir General a. D. Gus Austin an, mich zum Flughafen zu fahren. »Was du gesagt hast, hat mir gefallen«, sagte er. »Die Sache mit dem kleinen Funken Menschlichkeit war ein Volltreffer.« Ich bedankte mich. 140
»Wir vom Militär haben das gleiche Problem. Die Zivilisten vergessen einfach, daß wir Menschen sind. Warum hält man uns bloß für etwas anderes? Hat ein Soldat nicht auch zwei Augen? Hat er nicht auch Handschuhe, eine Uniform, eine Hutgröße, Kopfhörer, sportliche Interessen und einen Haß auf Feinde? Er ißt wie alle anderen in der Offiziersmesse, wird von den gleichen Waffen verwundet, bleibt bei der biologischen Kriegführung genausowenig verschont wie jeder Zivilist, hat gleiche Heilungschancen, schwitzt bei Hitze, friert bei Kälte. Wenn man auf uns schießt, bluten wir dann nicht? Wenn man uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn man uns Nervengas verabreicht, sterben wir dann nicht? Und wenn jemand sagt, ihr seid nicht die besten Soldaten im besten Regiment der besten Armee der Welt – sollten wir dem nicht eine Lektion erteilen? Soldaten sind in jeder Hinsicht genauso wie alle Zivilisten.« Am Flughafen angelangt, gab er mir seine Karte. »Meine Ranch steht dir jederzeit offen, Tick-Tack«, sagte er. »Lern meine Frau und meine Kinder kennen. Überzeug dich davon, wie in diesem unserem Lande ein wirklich erfülltes Leben aussehen kann. Zu schade, daß ihr Roboter nicht auch in Pension gehen könnt. Mir gehts nämlich verdammt gut. Das Leben wird von Tag zu Tag besser.« Ich fühlte mich an Hiobs Leiden erinnert und faßte einen Plan. Smilin’ Jacks Gang und meine Truppe aus Kapots hatten sich zusammengeschlossen, aber die Verständigung klappte nicht recht. Das lag zum einen an Goober Dodge, einem primitiven Kerl, der in Jacks Bande die Alltagsgeschäfte leitete. Er wußte nicht viel, doch eins stand für ihn fest: Er mochte keine Roboter. So manche Operation war geplant und vorbereitet worden, nur um in letzter 141
Minute abgeblasen zu werden, weil Goober Magenkrämpfe bekommen hatte. Zum anderen zog Jacks Bande die sanfte Tour vor. Jack sah nicht ein, warum Mord und sinnlose Gewalt mit ins Spiel gebracht werden sollten. Meine Truppe hatte jedoch den Befehl erhalten, keine Zeugen zu hinterlassen. Ich entsinne mich nur an zwei erfolgreiche Coups: der Einbruch in die Cheeseburg Treuhand-Bank und der Raub des Ritzbig-Diamanten. Jack plante den Bankeinbruch, nachdem er gehört hatte, daß der Cheeseburg Treuhand-Tresor unknackbar sei. Dieser Tresor, in dem Edelmetalle aufbewahrt wurden, war mit allen erdenklichen Alarmsystemen ausgerüstet. Jeder Versuch, die Tür mit Gewalt zu öffnen, am Schloß herumzupfuschen oder durch die Wand zu brechen, mußte scheitern. Ein Mensch, ein Metallgegenstand (wie zum Beispiel ein Roboter) oder auch nur eine Bewegung im Tresorraum konnte den Alarm auslösen. Das Alarmsystem war mit einer kleinen Atomanlage verbunden, die im Ernstfall den ganzen Tresorraum radioaktiv verseuchte. »Was für eine Herausforderung!« sagte Jack und ging an die Arbeit. Sein Plan bestach wie immer durch elegante Simplizität. Zunächst mußte eine Chemiefabrik auf der anderen Stadtseite gekauft werden. Dann wurden Maulwurf, DigDig und der Rest der Untertageroboter beauftragt, zwei Schlauchleitungen zwischen Fabrik und Bank zu legen. Robert hatte die delikate Aufgabe, die Tresorwand zu durchbohren – langsam und mit keramischen Bohrköpfen, um magnetische Störungen zu vermeiden –, zwei Löcher, durch die die beiden Schläuche geführt werden konnten. 142
An einem Freitagnachmittag, gleich nach Schließung des Tresors, pumpten wir konzentrierte Schwefelsäure durch die Schläuche. Gegen Montagmorgen hatten wir das aufgelöste Gold und Silber zur Fabrik gesaugt und in Flaschen abgefüllt. Anschließend beseitigte eine zeitlich sorgfältig abgestimmte Serie von Explosionen (Robert) alle Spuren unserer Pipeline, wodurch gleichzeitig die nukleare Abschreckungsvorrichtung ausgelöst wurde. Ich war enttäuscht darüber, daß die Sprengungen bloß Sachschaden anrichteten. Aber immerhin hatten wir nun eine Menge Gold und Silber, für die eine Galvanisierfirma allerhand bezahlen würde. Der Ritzbig-Diamant bescherte uns weit größere Probleme. Es fing alles damit an, daß Jack einen gewöhnlichen kleinen Juwelierladen mit Namen Ritzbig ausraubte. Die Nachrichten gaben heraus, den Tätern sei ein großer, seltener und hoch versicherter Diamant in die Hände gefallen. Da Jacks Bande den Stein nicht hatte, war klar, daß Mr. Ritzbig seine Versicherung betrügen wollte. Sicherlich beabsichtigte er, den Stein nach Amsterdam zu schmuggeln, um ihn dort in viele kleine Steinchen zerschneiden zu lassen … Es war immer dasselbe Lied, und die Geschichte, die sich um den Ritzbig-Diamanten rankte, war auch nicht gerade originell. Alle vorangegangenen Besitzer hatten auf unnatürliche Weise den Tod gefunden: durch den Strick, Pistolen, Schwerter, Starkstrom, frühzeitige Beerdigung, durchgebrannte Pferde, Erstickung an Hot Dogs, durch den Sturz aus einem Freiballon, Ertrinken in einem bayerischen See, bei einem Bombenanschlag (der eigentlich William Ewart Gladstone galt), am Marterpfahl in der Sahara, durch eine Überdoses Kamillentee, überrollt vom ersten Eisenbahnzug in England, zerquetscht im Zahnradgetriebe einer großen 143
Uhr in der Tschechoslowakei, von Hunden zerrissen, von Polospielern in Patagonien zertrampelt, elektroplattiert in Pennsylvanien. Ein Brite, dem der Stein gehörte, marschierte in den rotierenden Propeller eines der ersten Flugzeuge und vermachte den Diamanten seinem geliebten Igel. Das unglückliche Tier überwinterte in einem Laubhaufen, der für ein Feuerchen aufgeschichtet worden war. Ich zweifelte an dieser Geschichte. Das Erfinden solcher Legenden machte Spaß und war billiger als der Schutz durch eine Versicherung oder bewaffnete Wachen. Nichts konnte mich davon abhalten, den RitzbigDiamanten zu stehlen. In eigener Person unternahm ich natürlich nur sehr wenig. Ich schickte ein paar Boten los, die Mr. Ritzbig eindringlich zu befragen hatten. Heißsporn, unser Schweißexperte, war bei der Befragung offenbar ein wenig zu forsch gewesen. Mr. R konnte gerade noch »Safe« röcheln, bevor er starb. Ich mußte daran denken, daß der Stein wieder einmal seinem Besitzer wenig Glück gebracht hatte. Wie mysteriös das Leben doch manchmal ist! Warum war uns nicht gleich der Gedanke gekommen, im Safe nachzuschauen? Wir sahen nach und fanden den großen, merkwürdig geformten Diamanten, nach dem die Versicherungsgesellschaft suchte. Wir vereinbarten ein Treffen mit deren Vertretern. Zeit: nachts; Ort: vor einem meiner Lagerhäuser, das vom Mutters Pfannkuchen-Konzern gemietet worden war. Hier lagerten die Zutaten für die Maiskolben-Pfannkuchen mit Pizzaburgergeschmack, die in einer nahe gelegenen Schuhfabrik weiterverarbeitet wurden. Der abgeschiedene und dunkle Ort eignete sich gut für einen Überfall. Die Vertreter waren aufgefordert worden, Bargeld mitzubringen. Ich bezog Posten auf dem Dach 144
und überließ Robert und den anderen Robotern das Feld zur ebenen Erde. Zunächst lief alles wie geplant. Die Versicherungsleute parkten ihren Wagen in einiger Entfernung und gingen auf das Lagerhaus zu. Meine Roboter eröffneten das Feuer. Aber die Schlitzohren der Versicherung spielten mit gezinkten Karten. Sie waren nicht nur bewaffnet und trugen kugelsichere Westen, sondern führten auch noch einen Begleitschutz aus schwer gepanzerten und schußkräftigen Militärrobotern mit sich. Wir gewannen zwar die Schlacht, verloren aber ein paar unserer besten Maschinen. Ich wollte gerade vom Dach heruntersteigen, um bei der Plünderung zu helfen, als ich hinter mir ein satanisches Kichern hörte. Blitzschnell fuhr ich herum. »Smilin’ Jack! Was machst du denn hier?« »Zugucken, Banjo. Deine Kapots haben gute Arbeit geleistet, nur komisch, daß du mir nichts davon erzählt hast. Ich und Goober und die Jungs hätten dir beispringen können. Allerdings war die Beute dann aufzuteilen gewesen, nicht wahr? Das Versicherungsgeld und der Diamant.« »Du weißt also Bescheid. Hör zu, Jack, wir wollten euch einweihen, aber …« »Spar dir das«, sagte er. »Ich mach mich aus dem Staub. Du wirst jetzt mit Goober verhandeln müssen. Er rechnet gerade mit deinen Robotern da unten ab und tobt dabei vor Wut.« So war es. Ich sah, wie Goobers Leute meine Roboter gefangennahmen und in das Lagerhaus abführten. Robert und die anderen gehorchten den Menschen, die sie auf unserer Seite wähnten. Einer von Goobers Männern trug einen Acetylenbrenner. 145
»Hör zu, Jack, bleib hier. Sollten wir die Sache nicht bereden? Du hast das Geld, ich hab den Diamanten. Warum können wir nicht miteinander reden? Komm mit ins Haus.« Er folgte mir widerwillig durch eine Dachluke, und wir balancierten über ein Netz von Laufplanken im Dachstuhl des Lagerhauses. Unter uns trieben Goobers Leute die Roboter zusammen. Vor uns, am Ende eines Holzstegs, stand ein untersetzter, kleiner Mann, der eine prallvolle Aktentasche in der Hand hielt. »Ich warte schon die ganze Zeit, Mr. Tack«, sagte er. »Was hat Sie aufgehalten? Die Schießerei da draußen? Und wer ist diese Person?« Smilin’ Jack sagte: »Und wer sind Sie?« »Tut mir leid, Mr. Daf. Ich habe Sie ganz vergessen. Jack, das ist Mr. Daf, ein Diamantenhändler von Übersee. Er ist gekommen, um den Ritzbig zu kaufen, und zwar mit Bargeld. Mr. Daf, das ist mein Partner.« »Bar, he?« Jacks Miene hellte sich auf. »Na, Banjo, dann zeig ihm mal den Brocken.« Ich reichte Mr. Daf einen waschledernen Beutel. Er öffnete ihn und ließ den Stein auf die flache Hand fallen. Ohne eine Lupe aufs Auge zu schrauben, sagte er: »Mr. Tack, Sie scherzen wohl. Der Stein ist Schrott. Eine schlechte Fälschung.« »Unmöglich«, sagte ich. »Ich habe ihn selbst aus Ritzbigs Safe genommen und die ganze Zeit nicht aus der Hand gegeben.« »Trotzdem …« Ich schnappte die Aktentasche, während Jack auf ihn schoß. Großartig, diese Zusammenarbeit eines echten Mensch-Maschinen-Teams, dachte ich und gratulierte Jack. 146
»Vielen Dank, Banjo. Aber das ändert nichts daran, daß deine Roboter eine Lektion bekommen, und die verabreicht ihnen keiner besser als Goober.« Goobers Leute hatten eine kleine Pause eingelegt, um dem langsamen Sturz von Mr. Dafs Leiche zuzusehen, wandten sich aber nun wieder ihrem destruktiven Vorhaben zu. Der Acytelenbrenner flammte auf. Ich zog an einer Kette. Das Lagerhaus wurde von ohrenbetäubenden Quietsch- und Mahlgeräuschen erschüttert. Goober und seine Mannen blickten nach oben und sahen hundert Tonnen flüssiger Pfannkuchenpaste auf sich niederregnen, die mit einem schmatzenden Laut Maschinen und Menschen begrub. Selbst Smilin’ Jack mußte lachen, als er die hilflosen, kleinen Figuren sah, die eine Zeitlang wie Insekten im Honig herumzappelten. Als ihr Kampf zuende war, sagte Jack: »Okay, jetzt sind wir quitt. Wir haben beide unsere Mannschaft verloren.« Ich wartete, bis Jack verschwand, und spritzte dann Lösungsmittel durch die Halle und setzte meine Roboter wieder instand. Wir schlitzten Goober Dodges Körper auf und fanden, wie nicht anders zu erwarten war, den echten Ritzbig-Diamanten. Bei einer geheimen Versteigerung verkaufte ich später den Stein für ein rundes Sümmchen an einen exzentrischen Texaner, der sein Pferd damit überraschen wollte. Kurze Zeit darauf wurde das Tier von einem Meteoriten erschlagen. Bei der Rekrutierung seiner nächsten Gang war Jack etwas vorsichtiger. Und er war vorsichtig genug, mich von seinen Geschäften fernzuhalten.
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13. Kapitel Mein alter Robert stammelte: »Boß, ich finde, das ist eine verrückte Idee. Wir schaffen die Sache auch ohne dich. Denk an deine Karriere. Du hast genug mit deiner Korporation um die Ohren, als daß du dich auch noch um einen kleinen Bankeinbruch kümmern müßtest.« »Du meinst, ich werde nicht gebraucht?« Er hatte recht. Meine Räuboter waren auf meine Führung nicht mehr angewiesen. Alles machten sie auf eigene Faust. Sie sicherten den Unterschlupf, sammelten Werkzeug und Waffen, entwarfen Planspiele mit Straßenkarten und Spielzeugautos. Sie balgten sich mit den Bullen und versteckten die Beute. Schön für sie, aber was wurde aus mir? Ich hatte ein Lagerhaus voller Geld, Juwelen und Gold – aber keinen Spaß. »Trotzdem, ich komme mit euch.« Robert zuckte mit den Schultern, was bei seiner Panzerung gar nicht so einfach war. »Okay, Boß. Unser Plan sieht folgendermaßen aus. Gegen Mittag stürmen wir die Vauxhall – National-Bank …« »Nein. Ich habe mich anders entschieden. Wir stürmen die Fleetwood-Spar- und Darlehenskasse um ein Uhr.« »Aber Boß …« Ich duldete keine Widerworte. An meinen Befehlen gab es nichts zu rütteln. Und was meiner Bande am meisten Kopfzerbrechen machte, war die Tatsache, daß meine Befehle völlig willkürlich ausfielen. Anstatt durch die Tür zu gehen, forderte ich sie auf, die Spiegelglasscheibe der Bank einzuschlagen. Ich befahl, nur Münzen einzusacken und das Papiergeld liegenzulassen. Die Kassierer an den Schaltern mit gerader Nummer sollten erschossen werden, ob sie sich kooperativ zeigten oder nicht. Ob wir 148
Zeugen zurückließen oder nicht, hing ganz von meiner Laune ab. »Aber Boß, wir haben nicht mal einen Grundriß von der Bank«, sagte Robert, als ich zum Sturm durch das Fenster aufstellen ließ. »Ich gebe hier die Befehle. Los gehts!« Ich gab den Maschinen ein Zeichen, hielt mich jedoch im Hintergrund. Die schwere Brigade – Robert, Schnüffel, Rodan und die anderen Halbtonner – donnerte über die Straße und sprang mit lautem Geklirr durch die Scheibe. Ich folgte geduckt in der Deckung stehengebliebener Autos. Daß eines der Autos ein Polizeiwagen war, hätte mir zu denken geben müssen. Minuten später saßen wir in der Klemme. Draußen bereitete sich die Polizeiarmee auf ein Gefecht vor. Sie rollte mit gepanzerten Fahrzeugen und Psychiatern an, mit taktischen Streitkräften und Sozialarbeitern, Scharfschützen und irischen Predigern, Fernsehen und Hubschraubern. Wir dagegen hatten nicht mehr als ein paar Gewehre und einen Sack voller Münzen. Ich legte mich hinter den Schalter aus imitiertem Onyx; Schnüffel saß in einer Ecke und hielt dem Bankvorsteher einen Gewehrlauf an den Kopf (obwohl der Mann schon längst tot war); Rodan versuchte immer noch, den Tresorraum aufzuschweißen (keiner hatte ihm »Stop« gesagt); die Trümmer der anderen lagen zusammen mit den Leichen der Bankangestellten im Schalterraum verstreut; und Robert zählte die Patronen. Bankraub langweilte mich bereits. Viel an Erlebnissen war ohnehin nicht mehr drin, denn in jedem Augenblick konnte eine paramilitärische Einheit durch die Hintertür oder vom Dach aus in die Bank stürmen und mich töten. Ich wollte nicht gelangweilt sterben, deshalb betrachtete ich das 149
Muster in der grünen Onyximitation und versuchte krampfhaft, vor dem drohenden Nichts irgendein tiefes Gefühl zu spüren. Fast wäre es gelungen. In das grüne Muster kam plötzlich Leben; ein Glanz von lebendiger Schönheit beseelte den Stein. Mir war, als starrte ich auf eine menschliche Haut, schimmernd und zart, mit feinen Venen, die sich unter der Oberfläche abzeichneten. Der Zauberbann wurde von einer flachen, näselnden Stimme gestört, die von draußen in den Schalterraum drang. »Hör zu, Hickhack.« »Tick-Tack«, schrie ich. »Ich heiße Tick-Tack. Wie oft soll ich das noch sagen?« »Hör mir zu, Hickhack. Du hältst dich wohl für einen Helden, was? Aber das bist du nicht. Du bist ein Knülch, ein Ekelpaket und Waschlappen! Ein wirklicher Held würde aufstehen und kämpfen. Mann gegen Mann. Du bist ein Angsthase. Ich spuck in die Milch deiner Mutter. Ich verfluche das Grab deines Vaters. Deine Freundin ist eine Hure. Dein Auto ist Scheiße auf Rädern. Na, wie gefällt dir das?« Das verbale Sperrfeuer dauerte an. Offensichtlich hielt man mich für einen Menschen namens Hickhack, einen bekannten Bankräuber und Psychopathen. Man hatte in die Computerdaten von Hickhack eingesehen und fütterte mich nun mit Informationen über meine vermeintliche Person. Polizeipsychologen versuchten es mit Beleidigungen oder beschwichtigenden Worten: »Hör zu, Hickhack. Es ist ganz leicht herauszukommen. Schwerer wirds, wenn du drin bleiben willst. Schau, du hast bewiesen, was für ein Held du bist. Jeder hat großen Respekt vor dir, aber gewinnen kannst du nicht mehr.« 150
»Hickhack, du hast doch eine Freundin, oder? Marlene, stimmts? Willst du mit ihr reden? Wir stellen eine Videophonverbindung her. Du kannst sie sehen und mir ihr sprechen, okay? Oder was würdest du zu einem dicken, saftigen Steak sagen? Filet Mignon. Mit Pommes frites, Champignons, Zwiebelringen. Eine Flasche Bier, egal, welche Marke. Was meinst du?« »Hier spricht deine alte Mutter, mein Sohn. Gib auf, ich bitte dich inständig. Versuch einmal, in deinem gescheiterten Leben etwas halbwegs Redliches zu tun.« »Bruder, vielleicht hast du dich verrannt, aber du weißt, Gott gibt dich nicht auf. Ja, ich weiß, das mag in unserem modernen Zeitalter des Jazz, der Cocktails und Marsfrisuren ein wenig altmodisch klingen, aber es gilt heute wie gestern. Gott gibt dich nicht auf, Gott (wie lange muß ich ihn noch ablenken?) sorgt sich um dich. Du hast jetzt die große Chance, mit Gott ins reine zu kommen. Laß die Geiseln frei, mein Bruder. Laß sie gehen. Du hast sie noch nicht umgebracht und keine große Sünde begangen, noch nicht.« Der Schalterraum lag voll von zerfetzten Leichen. Alle Geiseln waren tot. »Hier spricht dein Bewährungshelfer, Hickhack. Schau, ich weiß, daß man dir in letzter Zeit übel mitgespielt hat. Aber darüber läßt sich doch reden, oder? Ich möchte, daß du all deine Möglichkeiten siehst, bevor du dich auf eine Sache festlegst. Okay, versprich mir eins. Versprich mir, daß wir nur fünf Minuten miteinander reden. Wenn du dann immer noch glaubst, die Geiseln töten zu müssen, schön, von mir aus. Was meinst du? Abgemacht?« Robert meldete mir, daß genug Munition für eine kleine Bombe übrig war. Mit anderen Worten, er bat mich um die Erlaubnis zum Selbstmord. 151
»Na gut«, sagte ich. »Aber warte, bis ich weg bin. Und dann versuch, soviel Bullen wie möglich mitzunehmen. Bullen oder wen auch immer.« Die blecherne Stimme in der Straße redete noch eine Stunde lang weiter, brach dann aber plötzlich ab. » … wenn du Gott liebst, deine Mutter, deine Freundin und …« Ein Höllenlärm übertönte die Verstärkeranlage, als eine Kolonne von Planierraupen, Schaufelbaggern, Walzen und Panzern durch die Polizeiwagen pflügte, die wie Spielzeug zur Seite geschoben wurden. Gewehrfeuer und Raketenwerfer waren zu hören. Ein leichter Panzer hielt vor der Bank, und die Stimme von Smilin’ Jack dröhnte heraus: »Beeil dich, Banjo. Komm schon.« Ich stützte mich auf ein Gewehr, hinkte nach draußen und kletterte an Bord. Wir waren ein paar Straßenecken gefahren, als Robert mit einer Fontäne aus imitiertem grünem Onyx in die Luft ging. »Verdammt, Banjo. Warum hast du für einen lausigen Bankeinbruch alles riskiert?« Smilin’ Jack hatte sein Lächeln abgelegt. »Ich weiß jetzt Bescheid. Du hast eine große Organisation hinter dir, eine rechtmäßige Korporation, die ein paar Millionen am Tag einbringt. Ölfelder, Kupferminen, Krankenhäuser. Und das alles setzt du aufs Spiel – für was? Für den Spaß am Raub einer jämmerlichen Bank?« »Das war eine Art Experiment, George. An Geld oder Macht bin ich nicht sonderlich interessiert. Ich möchte nur herausfinden, was es heißt, etwas Falsches zu tun. Eine Sünde zu begehen.« »Sünde? Wovon redest du?« »Ich möchte wissen, was das Verhalten von Menschen steuert. Warum, zum Beispiel, bist du mir heute zu Hilfe 152
gekommen?« Er setzte wieder sein berühmtes Grinsen auf. »Tja, Banjo, ich war selber auf dem Weg zur Bank, um ein kleines, unabgesichertes Darlehen aufzunehmen. Aber dann bin ich auf diesen wahnsinnigen Verkehrsstau gestoßen. Also haben ich und meine Jungs für einen Moment die Bremse angezogen.« Er deutete auf den Fernsehapparat im Cockpit. »Dann sah ich dich in den Nachrichten.« Auf dem Bildschirm war im Augenblick ein Werbespot für Stampfkartoffeln zu sehen. »Zum Teufel, Banjo, wozu sind Freunde schließlich da?« Auf der Dudelsack gab es allerhand Streit, als wir auf die Sonne zustürzten. Einige behaupteten, es sei dumm gewesen, Kapitän Reo umzubringen. Er hätte womöglich einen Ausweg finden können. Andere meinten, er habe es nicht anders gewollt. Wieder andere schlugen vor, die Klimaanlage auf »Kalt« zu stellen, um das Leben für ein paar Stunden oder Tage zu verlängern. Dem wurde entgegengehalten, man solle die Heizung aufdrehen, um den Körper zu akklimatisieren. Einige rieten, Kühlflüssigkeit mit Zyanid zu trinken (ich war davon ausgenommen), um die Sache möglichst schnell zu beenden. Andere wiesen darauf hin, daß weder Kühlflüssigkeit noch Zyanid an Bord sei, und ansonsten gäbe es nicht einmal genug zu essen oder zu trinken. Ich machte den Vorschlag, Geschichten zum Zeitvertreib zu erzählen. Die gemeinsam erfahrene Bedrohung würde uns einander näherbringen. Rasse, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht, IQ, besondere Merkmale, Mangel an Liebe oder gar Mangel an Protoplasma wären in unserem Fall nicht mehr ausschlaggebend. Untergang und Verdammnis mochten drohen, aber 153
wir müßten uns glücklich schätzen, in Gesellschaft zu sein. Ich eröffnete die Erzählrunde mit der einfachen Geschichte meines Lebens bei den Culpeppers auf Tenoaks. Kaum hatte ich die Familie beschrieben, da stieß Vilo Jord einen Fluch aus und sprang auf die Füße. Sein Gesicht war blaß, sein seltsamer Schnurrbart zuckte. »Unglaublich!« sagte er. »Ich habe die Culpeppers selber getroffen. Da waren sie allerdings schon arm.« »Haben sie von mir gesprochen?« fragte ich. »Konnten sie sich an ihren treuen Roboter erinnern …?« »Nein, kein Wort davon«, sagte er. »Du mußt bedenken, sie waren schon sehr weit heruntergekommen. Ich zweifle daran, daß sie überhaupt noch an die herrlichen Tage auf der Plantage dachten.« »Und wie geht es ihnen jetzt? Miß Lavinia und Miß Berenice, Massa Orlando und Massa Clayton, und vor allem der kleinen Miß Charlotta? Ich hoffe, sie sind wohlauf.« »Nicht ganz.« Vilo räusperte sich. »Ich bin den Culpeppers während einer Geschäftsreise durch Mississippi über den Weg gelaufen. Ein Sandsturm kam auf – das Klima im Magnolienstaat hat sich wohl seit deiner Zeit ein wenig gewandelt. In einem alten Wohnwagen, der in einem Wäldchen von zehn großen Eichen stand, habe ich Schutz gesucht, und da traf ich die Culpeppers. Ich muß dazu sagen, daß ich nie zuvor und nirgends so hoffnungslos verarmte Menschen gesehen habe. Sie hatten den Telefonapparat aufgegessen. Ich bettelte um ein Glas Wasser, obwohl mir klar war, daß selbst diese Bitte ein allzu großes Opfer von ihnen verlangte. Sie brachten mir ein gesprungenes Glas mit schmutzigem Wasser auf einem verrosteten Kuchenteller. Die elegante Geste rühr154
te mich, und ich schob zehntausend Dollar unter das Tablett. Später machte ich mir deswegen Vorwürfe, denn das Geld würde ihr Elend nur unnötig in die Länge ziehen. Sie lebten im Schatten des Todes, versteht ihr? So wie sie im Schatten dieser riesigen, unvollendeten Pyramide lebten.« »Claytons Pyramide«, sagte ich und nickte. »Der Grund für den Ruin der Familie.« »Schlimmer noch. Der ganze Staat litt darunter.« Maggie meldete sich zu Wort: »Stimmt. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit einen Artikel darüber im Wissenschaftlichen Marsmagazin gelesen. Dort hieß es, daß Ökologen nun wissen, was die Wüstenbildung in Ägypten verursacht hat: der Bau der Pyramide von Gizeh nämlich. Claytons Pyramide hat das gleiche in Mississippi bewirkt.« Vilo fuhr in seiner Geschichte fort. »Clayton schien sein Unternehmen aus vollem Herzen zu bereuen. Er gelobte, jeden Penny, den er mit der Pyramide verdiente, in die Wiederurbarmachung des Landes zu stecken.« »Hat er viel verdient?« »Überhaupt nichts. Eigentlich sollte jeder Besucher einen Vierteldollar für die Besichtigung bezahlen. Aber wenn tatsächlich mal ein Tourist aufkreuzte, war Clayton so froh, daß er vergaß, Geld einzusammeln. Natürlich hoffte er, auch auf andere Weise Geld aus der Pyramide schlagen zu können. Er glaubte, mit Hilfe exakter Meßinstrumente in der Lage zu sein, die Zukunft in allen Einzelheiten vorauszusagen. Die Maßverhältnisse innerhalb der Pyramidenstruktur sollten darüber Aufschluß geben. Nach seiner Vorstellung korrespondiert jedes Maß mit einer historischen Epoche, und jede Unebenheit im Stein weist auf ein kleines Ereignis hin. Mit guten Instrumen155
ten, so sagte er, könne man den Einlauf bei Pferderennen oder Bewegungen auf dem Börsenmarkt vorausbestimmen. ›Aber was läßt sich schon mit einem alten Zollstock machen?‹ sagte er.« »Massa Clayton war schon immer ein hoffnungsloser Spinner«, sagte ich. »Was ist aus Miß Lavinia geworden? Als ich das letzte Mal von ihr hörte, war sie in einem Satelliten, eine Gefangene ihrer eigenen Allergien.« »Ihr gings noch schlimmer. Sie entwickelte immer weitere Allergien. Einer ihrer Ärzte soll gesagt haben, daß sie inzwischen allergisch gegen das ganze Universum geworden sei. Nur eine Flucht aus Raum und Zeit könne ihr Leben retten. Aber eine Garantie gäbe es dafür auch nicht.« »Und Miß Berenice?« »Völlig fertig«, sagte Vilo. »Nach einer großen Drogenparty hat sie den Verstand verloren. Sie sagt kein Wort mehr, sitzt nur in ihrem Sessel und schläft. Als ich dort war, hat sie nicht einmal die Augen aufgemacht.« »Und Massa Orlando?« »Orlando verließ den Schoß der Familie, um einen eigenen Weg zu gehen. Bei irgendeiner wohlhabenden Familie arbeitete er als Stallknecht. Aber dann erwischte man ihn dabei, daß er mit den Pferden herummachte. Jeden Job, den er anfing, verlor er bald wieder. Schließlich gab er sich als Roboter aus und arbeitete als Pflücker bei einer aristokratischen Familie. Morgens mußte er früh aufstehen, um seine Kieferlinien mit Farbe nachzuziehen. Nachts schlich er sich in den Obstgarten und holte grüne Pfirsiche vom Baum.« »Und Miß Charlotta? Die süße, kleine Miß Charlotta?« Vilo schluckte und starrte eine Weile auf den Radarschirm, der die Sonne von Sekunde zu Sekunde größer 156
werden ließ. »Banjo, ich muß dir eine traurige Mitteilung machen. Sie ist tot. Wie du weißt, litt sie sehr unter ihrem Zwergenwuchs. Sie war ja nicht einmal einen halben Meter groß. Trotzdem, solange die Familie noch Vermögen besaß, gab sie die Hoffnung nie auf, einen kleinen Mann zu treffen, zu heiraten und mit ihm ein erfülltes Leben zu genießen. Nun ja, ein Mann ihrer Größe ließ sich nur schwer auffinden, aber sie hoffte weiter, denn ihr Wohlstand lockte viele Werber ins Haus. Das änderte sich mit der Armut. Die schönen Männer, ob groß oder klein, blieben fern. Die einzigen Herren, die sie besuchten, waren keine Gentlemen, sondern fahrende Zirkusleute. Sie versank in immer tiefere Depressionen und versuchte schließlich, Berenice aus ihrem Dauerschlaf zu wecken, um von ihr ein Wort des Trostes zu hören. Aber Berenice schnarchte weiter. Ihr langes schwarzglänzendes Haar fiel über die Sessellehne. Charlotta flocht eine Strähne vom Haar ihrer Schwester, knüpfte eine Schlinge für ihren winzigen Hals, sprang vom Fußhocker und erhängte sich. Berenice wachte nie auf, und als andere die kleine Gestalt an ihrem Haar baumeln sahen, war es längst zu spät.« Nach Vilos Geschichte war kein Auge mehr trocken – abgesehen von meinen. Maggie Dial wollte nun ihre Geschichte erzählen und versprach einen glücklicheren Ausgang. »Laßt mich mit ein paar Rätseln beginnen«, sagte sie und zählte die Fragen an den Fingern einer Hand ab. »Was ist mit der SS Dolly Edison passiert? Warum wird der Vorrat an Essen und Rum schon jetzt zu knapp? Was können wir von den Tieren lernen? Warum hat man uns vor dem Start narkotisiert? Wie erklärt ihr euch die Spo157
ren an Kapitän Reos Stiefeln? Kann künstliche Gravitation das Leben retten?« Wir hörten alle gespannt zu. »Eine kurze Zeit habe ich als Versicherungsagentin gearbeitet. Um die Wahrheit herauszufinden, experimentierte ich unter anderem mit Drogen, Hypnose und Tierdarstellungen. Ich war auf den Fall SS Dolly Edison angesetzt, den Luxusliner, der nie von seiner großen Tour durch das Sonnensystem zurückkehrte. Den Funkmeldungen nach zu urteilen, hatte sich auf der Brücke eine Explosion ereignet. Die Steuerungsanlage war ausgefallen, und das Schiff raste auf die Sonne zu – das Orchester spielte derweil ›Näher, mein Gott, zu dir‹. Doch die Firma, für die ich arbeitete, war damit nicht zufrieden. Wir fanden heraus, daß nur sehr wenig Lebensmittelvorräte an Bord geschafft worden waren, daß die Mannschaft nur aus einer Handvoll Leuten bestand und nicht ein einziger Passagier mitflog – die Passagierliste war frei erfunden. Trotzdem konnten wir nie herausbekommen, was mit dem Schiff eigentlich passiert ist.« Sie hielt einen Bogen Papier mit vorgedrucktem Briefkopf in die Höhe. »Jetzt weiß ich, daß das gesuchte Schiff auf den Namen Dudelsack umgetauft wurde. Die Eigner kassierten die Versicherung für ihr Pleiteunternehmen – es gab viel zu wenig Interessenten für eine Tour durch das Sonnensystem – und zäumten statt dessen ein rentableres Frachtgeschäft auf. Aber dieser Versuch schien ebensowenig zu klappen. Vielleicht war das Schiff zu alt dafür. Also hoffte man, mit dem gleichen Trick Erfolg zu haben.« Der kleine Jack Wax kratzte sich am Kopf. »Soll das heißen, man änderte den Namen noch mal?« 158
»Nicht ganz. Diesmal sollte das Schiff tatsächlich zerstört werden. Freunde, wir sind an Bord eines fliegenden Sarges.« Duke Mitty nickte. »Das ist uns klar. Wir wußten nur nicht, daß die Sache abgekartet war.« »Das erklärt auch, warum die Lebensmittel knapp werden«, fuhr Maggie fort. »Zum Mars wären wir so und so nicht gekommen.« »Sapperlot«, murmelte jemand. »Die nächste Frage ist, was können wir von den Tieren lernen? Wie ihr wißt, habe ich viel mit Tieren gearbeitet. Deshalb bemerke ich an ihrem Verhalten Dinge, die euch entgehen. Zum Beispiel: Die Kühe im Frachtraum liegen in Hängematten. Mir fiel auf, daß eine von ihnen keine Fladen, sondern Äpfel unter sich läßt. Eine Kuh ist das nicht. Es hat außerdem falsche Hörner, einen Euter aus Plastik und eine Schwanzattrappe. Die Kuh ist ein Pferd.« »Jetzt wird mir klar, warum Kapitän Reo Sporen trug«, sagte ich, obwohl ich mir gar nicht so sicher war. »Das ist sein Pferd.« »Genau.« Maggie grinste. »Mit diesem Pferd wollte er sich aus dem Staub machen. Und nun zur nächsten Frage: Warum hat man uns vor dem Start narkotisiert?« Fern Worpe sagte: »Hatte das nicht etwas mit der Anpassung an die künstliche Schwerkraft zu tun?« »Das wollte man uns weismachen. Der eigentliche Grund aber ist der, daß es gar keinen Start gab. Von künstlicher Schwerkraft kann auch keine Rede sein. Wir haben die Erde nie verlassen.« Smilin’ Jack meldete sich zu Wort. »Das ist doch kaum zu glauben. Wir sollen noch auf der Erde sein? Wenn Reo das gewußt hätte, warum ist er nicht abgehau159
en, als wir unseren Rausch ausschliefen?« »Die Frage hab ich mir auch gestellt«, sagte Maggie. »Ich vermute, er wollte seine Rachegelüste noch ein bißchen auskosten. Vielleicht hatte er vor, erst kurz vor der Explosion der versteckten Sprengladungen zu verduften, um uns alle in die Luft fliegen zu sehen.« »Das ist mir schleierhaft«, sagte ich. »Der ganze Aufwand nur, um die Versicherung reinzulegen?« »Natürlich«, sagte sie. »Wahrscheinlich steckt hier im Schiff eine Atomsprengladung. Man will schließlich sichergehen, daß keine Spuren zurückbleiben – vorgedrucktes Briefpapier und so weiter. Ich schätze, zur selben Zeit wird ein Schiff in Sonnennähe einen entsprechenden Funkspruch durchgeben.« »Und wann genau wäre das?« fragte Sherm. »Wer weiß? Aber ich glaube, wir sollten uns besser gleich auf die Socken machen.« Maggie ging zur nächsten Luftschleuse und bediente die Schalter für den Notausstieg. Die Türen flogen auf, und ein gewaltiger Luftsog schleuderte sie hinaus in die Tinte des Alls. Nein, das war bloß ein Scherz. Die Türen flogen auf und öffneten den Blick auf einen mit dürren Büschen bewachsenen Wüstenstrich. Ohne zu fackeln, sprangen wir hinaus und rannten um unser Leben. Ich glaube, jeder von uns fürchtete das schicksalsschwere Unglück, nur beinahe davongekommen zu sein. Sicherlich dachte Jud Nedd auch an explodierende Kühe. Aber wir hatten Glück. Wenige Minuten später griff uns ein Hubschrauber der Steuerfahndung auf, der routinemäßig die Wüste nach Steuerflüchtigen absuchte. Als die Bombe hochging, waren wir schon Hunderte von Meilen entfernt. Ich wurde für eine Gebrauchtwarenauk160
tion aufpoliert, während die Hijacker freiwillig Geständnisse ablegten – und zwar nachdem ihnen die Köpfe unter Wasser gedrückt worden waren. Die Zeit mit den Raumpiraten zählte zu den interessantesten und lehrreichsten Phasen meines Lebens. Allein das Ende unseres Abenteuers verhalf mir zu zwei wesentlichen Erfahrungen: wie man einen fliegenden Sarg konstruiert – viele Schiffe der Uhrwerk-Korporation haben seither den gleichen Weg genommen – und wie man freiwillige Geständnisse entlockt. 14. Kapitel »Nixon-Park. Da wär’n wir, Banjo … ehm, Tick, wollt ich sagen.« Der Panzer bremste ab und hielt an. »Aber warum willst du ausgerechnet hier raus? Komm, ich fahr dich noch ein Stück weiter. Bis zu einem Taxistand.« »Nein danke, George. Die Stelle ist mir gerade recht.« Als ich ausstieg, sagte George (»Smilin’ Jack«) Grewney: »Kommst du auch allein klar? Ich meine mit deinem Bein und so?« »Ich kann mich hierauf stützen.« Ich zeigte ihm das Gewehr. »Also, vielen Dank noch mal, George. Bis dann.« Als er sich herausbeugte, um die Luke zu schließen, schoß ich ihm ins linke Auge. Niemand schien den Schuß bemerkt zu haben. Keiner sah mich über die Straße in den Park humpeln, nicht einmal der alte Mann, der vor seinem Schachbrett saß und auf einen trotteligen Mitspieler wartete. Als ich die andere Seite des Parks erreichte, warf ich das Gewehr in einen Busch und winkte ein Taxi herbei. Das Wageninnere war vollgeklebt mit Schildchen, die das Rauchen oder Essen verboten. Ein anderes riet allen 161
Nörglern, Nestbeschmutzern und Amerikamuffeln, nach Rußland umzusiedeln. Der Fahrer trug eine verspiegelte Sonnenbrille. »Auf der anderen Seite des Parks steht ein Panzer«, sagte ich. »Im Ernst? Was denn für ein Panzer?« »Ich weiß nicht. Aber es läuft Blut an der Seite herunter.« »Is nich möglich.« Er drehte den Kopf und zeigte mir sein Grinsen. »Ich weiß, wie das Blut dort hingekommen ist.« »Aha?« »Ich habe den Panzerfahrer erschossen. Genau ins linke Auge getroffen.« Er brüllte vor Lachen. »Hey, der ist gut, der Witz.« »Nein, das stimmt. Er war ein Freund von mir. Ich habe ihn erschossen.« »Ja, ja, ins linke Auge. Ha, ha, ha … hey, das ist gut. Den muß ich meinen Kindern erzählen. Hast du auch Kinder?« »Nein, ich bin ein Roboter. Haben Sie das nicht bemerkt?« Er schlug gegen das Lenkrad und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Hör auf, du bringst mich um. Ich werd nicht mehr, hahahaha … linke Auge!« »Es war ein Glasauge«, sagte ich und löste dadurch einen neuen Lachkrampf aus. Er lachte während der ganzen Fahrt, und als ich ausstieg, weigerte er sich, Geld anzunehmen. »Hör zu, Kumpel. Ich hab ein Magengeschwür, und der Arzt sagt, ich soll mich entspannen und das Leben genießen. Mehr lachen müßte ich. Aber bei meinem Job kann man sich nur aufregen. Deine Witze sind mehr Wert 162
als für hundert Dollar Medizin … ins linke Auge!« 15. Kapitel »Operation Hiob« – so wollte ich meinen Blitzkrieg nennen, der eine bestimmte Person ins unverdiente Unglück stoßen sollte. Diese Person mußte physisch, psychisch und finanziell gesund sein, regelmäßig die Kirche besuchen und das Leben lieben. Sie sollte verheiratet sein, Kinder haben, Haustiere, Eigentum, einen verantwortungsvollen Job und einen guten Ruf in der Gesellschaft. General Gus Austin hatte, wie ich mit Wonne feststellen konnte, all diese Qualifikationen. Auf einer meiner Reisen nach Kalifornien fragte ich General Cord über seinen früheren Kollegen aus. »Gus? Ich würde sagen, ein recht einfältiger Mann. Aber eins muß man ihm lassen: Er ist ein echter Optimist. Er gehört zu denen, die dem Leben immer ein paar gute Seiten abgewinnen können. Vielleicht liegt es an seiner Karriere in der Armee. Er spielte dort den Generalisten, eine Rolle, die für Laien kaum verständlich ist. Gus hat nie wirklich an irgendwelchen Entscheidungen oder Manövern mitgewirkt, aber er war immer präsent, klopfte den Kollegen auf die Schulter, sorgte für Harmonie und gab allen das Gefühl … gut zu sein. Ja, das ist das richtige Wort. Er vermittelte ein gutes Gefühl. Woher kennst du ihn eigentlich, Tick?« »Wir waren beide Gast einer Talkshow. Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein. Wirklich nett.« Cord lachte. »Ja, das ist er. Damit faßt du in kurzen Worten alles zusammen, was ich über ihn gesagt habe. Ein wirklich netter Kerl. Die Bezeichnung trifft genau auf ihn zu. Hol mir ein Glas Wasser, ja?« Cord war mit 163
zwei gebrochenen Beinen an ein Krankenhausbett gefesselt. Bisher hatte er noch nichts von seinem Unfall erwähnt, und ich hielt es für unhöflich, ihn darauf hin anzusprechen. Aber jetzt sagte er: »Vielleicht interessiert es dich, wie ich mir die Beine gebrochen habe. Ein saublöder Unfall. Ich bin aus meinem Auto gefallen. Hast du so etwas schon mal gehört? Aus dem Auto gefallen.« Ich verneinte. »War die Tür nicht geschlossen?« »Nein, nicht durch die Tür. Aus dem Fenster bin ich gefallen. Direkt vor einen Bus. Ich hätte tot sein können.« Er kicherte. »Jetzt willst du bestimmt wissen, wie es passiert ist. Ich muß gestehen, ich weiß es nicht. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, daß ich mich ein wenig aus dem Fenster lehnte, um die Sonne auf meine Schulter scheinen zu lassen … Ach, du weißt noch gar nicht, was mit meiner Schulter los war, oder? Nun, die macht mir Kummer, seit ich vor etwa sechs Monaten meine Unterschrift unter einen Brief gesetzt habe. Dabei bin ich wohl ein bißchen zu schwungvoll gewesen und peng!« Sein Arm schnellte unter der Decke hervor und stieß das Wasserglas um, worauf der Elektromotor des Bettes einen Kurzschluß bekam und Feuer fing. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, hatte er das Feuer mit beiden Händen ausgeschlagen. Als ich das Krankenzimmer verließ, wurden gerade seine Brandwunden verbunden. Auch aus anderen Informationsquellen erfuhr ich, daß General a. D. Gus Austin der geeignete Mann für Operation Hiob war. Er wurde von seiner Frau, den vier Kindern, einem Enkel, seinem Lieblingshund und Pferd genauso verehrt wie damals von den Kollegen in der Armee. Er hatte sich in den Ruhestand versetzen lassen, um dem Vorstand von National Xenophone beitreten zu 164
können, einem Konzern der Hörgerätbranche, der seit kurzem auch im Raumfahrtgeschäft tätig ist. Einmal in der Woche verließ er seine Ranch, flog mit dem eigenen Hubschrauber in die Stadt, erledigte seine leichten, aber für die Firma unverzichtbaren Aufgaben, kehrte nach Hause zurück, trank einen Aperitif und aß mit der Familie zu Abend. Anschließend sah er sich einen Film an, flickte das Pferdegeschirr, sang und erzählte Witze am Kaminfeuer oder spielte mit der Familie »Hätten Sie’s gewußt«. Tagsüber ritt er aus, schrieb an seinen Memoiren, ging angeln oder betätigte sich als Imker. Doch Abend für Abend saß er in trauter Familienrunde am Kaminfeuer. Sonntags besuchte er die Kirche von Neunazareth, einen Ort des strengen Glaubens. Daß Austin in der Raumfahrtbranche arbeitete und gleichzeitig am Dogma der flachen Erde festhielt, war für ihn kein Konflikt, denn der Pfarrer versicherte ihm, daß dieser Widerspruch in Gott aufgehoben sei. Meine Operation begann mit der Entführung des Hundes, den ich tötete und in der Wüste vergrub. Ich spielte mit dem Gedanken, bei allen Familienmitgliedern ähnlich zu verfahren, entschied mich aber doch für mehr Finesse. Als nächstes besorgte ich mir einen Büschel sogenannter Katzenpetersilie und verfütterte ihn an das Pferd. Wie ich später erfuhr, waren Austin und ein eingeflogener Tierarzt Zeugen eines schrecklichen Todeskampfes, der die ganze Nacht andauerte. Gegen Morgen streckte das Pferd die Hufe von sich. Bei den Kindern mußte ich mich schon mehr anstrengen. Zwei von ihnen lebten außerhalb (das ewige »Hätten Sie’s gewußt« war ihnen wohl zuviel geworden): Gus 165
Junior hatte geheiratet und betraute in Rußland den Aufbau einer Abfüllanlage für Limonade, eine Konstruktion, bei der erstmalig ausschließlich armierte Haare verwendet wurden. Es kostete mich mehrere Monate sorgfältiger Vorbereitung, um eine bestimmte Wand zum Einsturz zu bringen, die Junior, seine Frau und Gus III. unter sich begrub. Tina, die älteste Tochter, studierte am DebenhamBibel-College in Georgia. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und galt als Favoritin für die nächsten Olympischen Spiele. Jeden Morgen trainierte sie mutterseelenallein im collegeeigenen Becken. Zuerst wollte ich ihr mit Zitteraalen zu Leibe rücken, doch das hätte zu wenig nach Unfall ausgesehen. Statt dessen kam mir eine Lieferung flüssigen Stickstoffs sehr gelegen, die eigentlich für die Chemiefakultät bestimmt war. Im rechten Moment spritzte ich dieses Zeug durch ein Fenster in die Schwimmhalle. Gustavus, der jüngste Sohn, war noch so klein, daß ich ihn bequem in einen Bienenkorb stecken konnte. Seine ältere Schwester Gussie kam auf einer Kirmes ums Leben, nachdem ich zwei Schrauben an der Achterbahn gelöst hatte. Übrig blieb nur noch Augusta, die Frau von Gus Austin. Sie war eine leidenschaftliche Jai-Alai-Spielerin, was einen Mordanschlag um so leichter machte. Aber Augustas Schicksal griff schneller zu als ich. Auf der Fahrt zu einem wichtigen Jai-Alai-Match gegen ihren Geliebten (dem berühmten Balljungen Ned August) steuerte sie ihr teures, motorgetriebenes Einrad vor eine Reklamewand für Alfalfa-Flocken. Auf diese Nachricht hin konnte ich meine Bestellung eines Jai-Alai-Bälle feuernden Spezialgewehrs stornieren und zog einen Strich unter die Opera166
tion Hiob. General Gus Austin hatte all seine geliebten Menschen und Tiere auf seiner Ranch beigesetzt. Auf dem Grabstein stand: Hier ruhen AUGUSTUS AUSTIN Jr. mein Sohn AUGIE AUSTIN, seine Frau AUGUSTUS AUSTIN III. ihr Sohn AUGUSTINA AUSTIN, meine Tochter GUSSIE AUSTIN, meine Tochter GUSTAVUS AUSTIN, mein Sohn AUGUSTA AUSTIN, meine Frau PRINZESSCHEN, mein Hund CAESARS FRAU, mein Pferd Nur ich bin noch da, haha. Diese erstaunliche letzte Zeile ließ mich zum ersten Mal an den Erfolg von Operation Hiob zweifeln. Gus Austin schien nicht im geringsten erschüttert zu sein. Er schrieb weiter an seinen Memoiren und sah sich Filme zu Hause an. Auch alle anderen Unternehmungen, mit denen ich seinen Optimismus zu brechen versuchte, verfehlten ihren Zweck. Durch Aktienmanipulationen gelang es mir, seine Tätigkeit bei National Xenophone ins Zwielicht zu rücken. Während er sich (wie ich hoffte) über den Verlust seines Jobs grämte, sorgte ich für seinen finanziellen Ruin, dem auch die Ranch zum Opfer fiel. Er konnte nicht einmal mehr das Familiengrab besuchen. Dank meiner auf ihn angesetzten Detektive faßte er nirgendwo Fuß und endete als Landstreicher. Ein »Arzt«, der auf meiner Gehaltsliste stand, verhalf ihm zum Alkoholismus, zur Unterernährung und zu sonstigen Krankheiten, ein167
schließlich Eiterblasen. Gus Austin lag in der Gosse und trank Wein aus Flaschen in Papiertüten, auf die er unverdrossen seine Memoiren kritzelte. Mir blieb nur noch eine Möglichkeit offen: Ich mußte seine Soldatenehre, das letzte, was ihn noch mit seinem geliebten Leben von einst verband, in Mißkredit bringen. Ich wartete geduldig, bis eines Tages ein Offizierskader auf Gus zuging, der halb besinnungslos vor einem Asyl am Straßenrand lag. Um ihn herum hockten ein paar Saufbrüder, die vom Anblick der geschniegelten Uniformen und gewienerten Schuhe ganz benommen waren. »General Gus Austin?« sagte einer der Offiziere. Gus versuchte aufzublicken, aber vergeblich. »Das Militärgericht hat rückwirkend Ihre unehrenhafte Entlassung aus der Armee ausgesprochen, und zwar wegen Feigheit vor dem Feind, Schieberei auf dem Schwarzmarkt, schamloser Sexualpraktiken und ungebührlichen Verhaltens.« Der Offizier schleuderte ihm ein Stück Papier ins Gesicht und riß ein paar farbige Stoffetzen von seinem zerlumpten Mantel – Ordensbänder, die so verblichen waren, daß sie keiner bisher bemerkt hatte. Ich dachte schon, der Triumph über Gus Austin sei perfekt, als die Soldaten zurück zu ihrem Auto marschierten. Gus blinzelte einen Moment auf das Stück Papier und ließ es dann vom Wind wegblasen. Sein dreckiges Gesicht trug den gleichen selbstzufriedenen Ausdruck wie zuvor. Nun wandte er sich an den Penner zur Linken, stieß ihn an und sagte: »Komm schon, frag mich, ob es sich um ein Tier, eine Pflanze oder um ein Mineral handelt.« Operation Hiob zählte fraglos zu meinen gescheiterten Experimenten.
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16. Kapitel Die politische Großwetterlage änderte sich. Ein Frontentief überzog meinen Einflußbereich. Ich erfuhr, daß Duane Studebaker einer merkwürdigen Anti-Roboter-Bewegung beigetreten war, die sich »Gesellschaft amerikanischer Herrenmenschen« nannte. In jüngster Zeit sah man des öfteren Demonstrationen dieser Herrenmenschen im Fernsehen, die an ihren Dreispitzhüten zu erkennen waren. Ich wußte, daß diese Paraden meist mit Ausschreitungen endeten, bei denen Roboter auf offener Straße gelyncht wurden. Bisher hatte ich diesem Phänomen kaum Beachtung geschenkt; es kam mir vor wie eine Wolke am Horizont, so klein wie die Hand eines Roboters. Aber nun schienen die GaH-Wolken den ganzen Himmel zu bedecken. Jemand, den ich kannte, hatte sich dieser düsteren Front angeschlossen. Ich nahm mir vor, Barbie und Duane einen Besuch abzustatten, um mehr über die GaH in Erfahrung zu bringen. Als ich diese Absicht Sybilla White gegenüber erwähnte, sagte sie: »Ich geh mit dir. Falls sie Schwierigkeiten machen, ist es besser, einen Menschen dabeizuhaben.« »In letzter Zeit sind wir ständig zusammen, Sybilla. Die Leute fangen an zu munkeln«, scherzte ich. Zu meiner Überraschung sah ich, daß sie rot wurde. Als wir nach Fairmont hinausfuhren, dachte ich über die neue Entwicklung nach. Kein Zweifel, Sybilla folgte mir auf Schritt und Tritt. Immer wieder hielt ich dieselbe Rede vor den Löhne-für-Roboter-Versammlungen, aber das Mädchen schien sich nicht im geringsten zu langweilen, obwohl es diese Rede zum x-ten Male gehört hatte. 169
Ihr Interesse an der Bewegung konnte die Ursache nicht sein, denn die Kollegen beschwerten sich schon darüber, daß Sybilla die Komiteetreffen ausfallen ließ, um mit mir zusammenzusein. Wenn sie mit mir sprach, berührte sie ständig meine Hände und Arme. Wenn wir wie jetzt im Auto saßen, lehnte sie sich an mich und schmeichelte mir mit seltsamen, unnützen Komplimenten. »Tick, du bist so sauber, so herrlich sauber.« – »Ich bin froh, daß du nie ißt, Tick. Essen ist so ordinär. Tier- und Pflanzenklumpen werden in ein Gesichtsloch gestopft … ich wünschte, ich könnte darauf verzichten.« Heute sagte sie: »Tick, ich schätze, du hast die, ehm, Anlage, Frauen glücklich zu machen, oder?« »Stimmt.« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie und starrte aus dem Fenster. »Vermutlich wirst du von Frauen oft ausgenutzt, oder?« Ich sagte nichts. »Wenn ich mit einem Roboter ein Verhältnis hätte, käme es mir auf, ehm, das Spirituelle an und nicht so sehr auf die tierischen, ehm, Gelüste. Natürlich habe ich nichts gegen …« »Wir sind da!« Ich parkte den Wagen vor dem vertrauten weißen Haus mit den grünen Markisen. Zwei Dinge waren mir neu: An einem hohen Fahnenmast hing schlaff das amerikanische Banner. Auf einem hübschen Blumenbeet leuchtete in bunten Farben der Spruch NIEDER MIT DEN ROBOTERN. Rivets kam an die Tür. Er ignorierte mich und sagte zu Sybilla: »Mr. und Mrs. Studebaker sind nicht zu Hause. Möchten Sie ihnen eine Nachricht hinterlassen …?« »Rivets, ich bins. Tick-Tack. Kann ich reinkommen?« Ohne mich anzusehen, sagte er: »Madam, Ihr Roboter 170
ist angehalten, an der Hintertür vorzusprechen. Dies ist ein amerikanisches Herrenhaus, in dem Roboter den Platz einnehmen, der ihnen gebührt.« »Komm, wir gehen«, sagte Sybilla und drehte sich um. »Auf Wiedersehen, Madam. Darf ich Ihnen noch ein paar Aufkleber mitgeben?« Ich nahm statt ihrer das Angebot an. BLECHBÜCHSEN AUF DEN SCHROTT, stand auf einem. Oder: LÖHNE FÜR ROBOTER – NEIN DANKE. Und schließlich: NUR EIN TOTER ROBOTER IST EIN GUTER ROBOTER. »Ich werfe nur einen Blick in die Garage«, sagte ich. »Es dauert nicht lange.« »Mir gefällts hier nicht«, drängte sie. »Laß uns gehen.« »Du kannst im Auto warten«, sagte ich, obwohl mir klar war, daß sie das nicht tun würde. »Die Garage ist nie abgeschlossen. Ich möchte bloß nachsehen, ob meine Gemälde noch da sind. Verstehst du? Es wäre zu schade, wenn sie hierblieben.« Sybilla folgte mir widerwillig in die Garage. Gemälde waren natürlich keine da. Dafür fand ich einen gewissen alten Schrankkoffer, ein Überbleibsel aus Duanes perversen Tagen. Ich brach das Schloß auf und öffnete den Deckel. Zwischen Ketten und Ledergarnituren fischte ich eine Peitsche aus dem Koffer. »Tick, laß uns gehen, bitte. Stell dir vor, man entdeckt, daß wir in ihrem abartigen Zeug herumschnüffeln.« Ich sagte: »Wir sind zum erstenmal allein. Ganz allein. Die Vorstellung, daß Duane jeden Moment hereinkommen und uns erschießen könnte … gibt der Sache einen zusätzlichen Anreiz, verstehst du?« »Tick, ich habe Angst.« »Ich auch«, sagte ich und half ihr beim Öffnen der Bluse. »Und deshalb sollten wir daraus etwas machen.« 171
»Stimuliert dich Angst?« »Und wie. Angst, drohende Gewalt … all das macht mich scharf. Oh, Sybilla, würdest du diese Ledersachen für mich anziehen … und die Handschellen?« Als sie fertig ausstaffiert und gefesselt war, stieß ich sie in den verstaubten Schrankkoffer und sperrte den Deckel zu. Dann ging ich zur Hintertür der Studebakers, bewaffnet mit einem Messer. »Was machst du denn schon wieder hier? Das ist ein amerikanisches …« »Ja, ja, ich weiß, Rivets. Aber ich muß dir etwas zeigen. Heb mal deinen rechten Arm ein wenig an.« Er gehorchte, und ich stach zu – so, daß sein Erinnerungsspeicher mit einemmal gelöscht wurde. Diesen Trick kannte ich von einem Reparaturspezialisten. Als ich ging, saß Rivets am Boden und gaffte staunend auf seine Finger und Zehen. Ich hatte vor, nach einem Monat der Polizei zu erzählen, wo Sybilla zu finden sei. Die Zeitungen würden sicherlich mit dicken Schlagzeilen auf den Fall reagieren, denn Sybillas Mutter, Titania White, war eine berühmte Rennfahrerin. In Verdacht geriete natürlich Duane, wodurch gleichzeitig die GaH diskreditiert wäre. Aber als ich zum Auto ging, hörte ich in der Garage das Klirren von Ketten. Ich drehte mich um. Das Garagentor stand offen, und in dem Schatten erkannte ich Sybilla, der eine andere Person die Fesseln abnahm. Die fremde Person war weiblich, ein Roboter – und alles andere als fremd! »Gummidrops!« rief ich. »Bist du es wirklich?« Ich rannte auf sie zu. »Rostbot.« Sie nannte mich bei meinem alten Namen. »Ich kann nicht glauben, daß du diese Frau im Koffer 172
zurücklassen wolltest.« »Nein, natürlich nicht«, sagte ich und blieb stehen. »Nein, schau mal, ich …« »Daß du sie hättest sterben lassen.« Gummidrops sah mich tief betrübt an. »Denn ich weiß doch, daß du dazu nicht fähig wärst. Oh, Rostbot, du bist doch gut und edel. Du bist ein guter Roboter!« Plötzlich fühlte ich Scham in mir aufkommen. War es zu spät? Würde ich das Übel ablegen und durch Gummidrops’ Liebe geläutert werden können? »Oh, Gummidrops!« rief ich und taumelte ihr entgegen. »Ich will gut sein … ich kann und will … für dich! Für uns! Ich …« In diesem Moment stolperte ich über einen Draht auf dem Rasen, und die Garage brach in Flammen aus. Die Explosion riß mich zu Boden. Als ich aufstand, sah ich Gummidrops Kopf vor mir im Gras. Ihre Lippen bewegten sich matt. Ich beugte mich über sie und hörte: »Versprich mir, Rostbot … versprich mir, anständig zu bleiben … um unserer Liebe willen.« Aber der Bann war gebrochen. Ich trat den Kopf unter ein parkendes Auto und machte mich davon. 17. Kapitel »Kamera mehr auf den verdammten Regenbogen«, sagte der Regisseur und gab das Zeichen zur Aufnahme. Ein Krankenhausbett wurde von zwei weißen Tauben durch Gewitterwolken gezogen und gelangte sicher zu einem Regenbogen, wo sich eine strahlende Krankenschwester fürsorglich über den unsichtbaren Patienten beugte. Ein Skriptboy las den Text (der später von einem berühmten Videotragödiendarsteller gesprochen werden sollte). »… die gesundpflegende, anteilnehmene Welt von Uhr173
werk. Lassen Sie sich Freitag nachts einliefern. Sie sparen zehn Prozent bei gleicher Leistung. Das UhrwerkKrankenhaus: rund um die Uhr Pflege mit dem persönlichen Touch.« Die Krankenschwester beugte sich noch tiefer und lächelte noch mehr. »Klappe.« Der Regisseur sah mich an. »Ist das so in Ordnung, Mr. Tack?« »Prima, Larry. Sehr gut. Ich wollte nicht stören. Es geht mir nur darum, daß Sie wissen, worauf ich hinauswill. Ich stehe zwar auch mit der Agentur in Kontakt, möchte Sie aber persönlich von meiner Absicht unterrichten. Die Sache soll ganz groß an die Öffentlichkeit kommen. Wir brauchen eine Menge guter Werbespots, um der schlechten Presse entgegenzuwirken.« »Schlechte Presse? Wir haben doch gar keine schlechte Presse.« »Noch nicht, aber bald.« Ich lud Larry für den kommenden Morgen ein, mit mir und einigen Leuten der Agentur eines der neuen Uhrwerk-Krankenhäuser zu besichtigen. Die Presse, so wußte ich, würde auch ohne meine Einladung aufkreuzen. Nach meiner Flucht von der Dudelsack wurde ich auf einer staatlichen Schmuggelgutauktion an einen Dorfarzt namens Hekyll verkauft. Es ist schwer, Dr. Hekyll angemessen zu charakterisieren. Ich arbeitete zwar fast ein Jahr lang in seiner Praxis, hatte ihn aber nur sehr selten zu Gesicht bekommen. In den wenigsten Fällen behandelte er seine Patienten selber. Die meisten ließen sich viel lieber von seinem Roboterassistenten Stethoskop untersuchen. Er war versiert, engagiert und ein wesentlich besserer Arzt als Dr. Hekyll, durfte allerdings nicht ohne menschliche Aufsicht praktizieren. Ungefähr ein174
mal im Monat verließ Hekyll seinen Countryclub, um seiner Aufsichtspflicht nachzukommen und Schecks zu kassieren. Für den Rest der Zeit lag die Führung seiner Praxis ausschließlich in mechanischer Hand. Ich tat die niedere Arbeit – putzen, Magazine im Wartezimmer zurechtrücken – während Stethoskop als Arzt und Chirurg fungierte. Stethoskop war ein Profi durch und durch. Immer wieder versuchte ich, mit ihm zu reden oder meine Freundschaft anzubieten, aber er hatte nie Zeit. Wenn der letzte Patient abends die Praxis verließ, studierte Stethoskop medizinische Fachzeitschriften oder pharmazeutische Warenlisten, machte Hausbesuche oder brillierte mit chirurgischen Meisterleistungen im Landeskrankenhaus. In der kurzbemessenen Freizeit schrieb er Artikel über moderne operative Techniken oder arbeitete an Drehbüchern für eine beliebte Fernsehserie von Arztgeschichten. Dann kam es zu dem Fall Pater Humm, dem Führer einer Sekte mit dem Namen Tachyoniten. Die Tachyoniten, oder auch Versammlung der Zeitheiligen genannt, zählten zu den halsstarrigsten Wirrköpfen, die unser Jahrhundert hervorgebracht hat. Einer ihrer Gründer war wohl über irgendein wissenschaftliches Lehrbuch oder über einen Science-fiction-Roman gestolpert, in dem über Zeitreisen und Tachyonen spekuliert wird. Tachyonen – hypothetische Partikel, die schneller als Licht sind – sollen sich zeitrückläufig bewegen können. Falls solche Partikel existierten, ließe sich mit ihnen unsere Vergangenheit verändern. Die Tachyoniten glaubten, daß Gebete tachyonitisch wirken, und behaupteten, außerhalb der Zeit leben zu können. Die Idee der Wiedergeburt bekam in ihrer Aus175
legung eine merkwürdige Wendung. »Sorge dich nicht um das, was morgen ist«, riet ihnen die Bibel, und danach lebten sie auch. Warum sollte man sich um die Zukunft kümmern, wenn die Vergangenheit zu verändern war? Mehr noch: Nichts brauchte einen mehr zu kümmern. Krankheit, Armut, Tod – all dies ließ sich schnell korrigieren. Ich kenne nicht alle Details ihres eigenwilligen Evangeliums. Im Todesfall, so glaubten sie, würde die Seele den Zeitstrom verlassen und vom Willen gesteuert einherwandern, um schließlich zu einem früheren Zeitpunkt in den Körper zurückzukehren. Daß diese Doktrin eine Reihe von Widersprüchen aufwarf, versteht sich von selbst. Wenn jeder Mann mit Lungenkrebs seine Heilung dadurch erwirken könnte, daß er seine verräucherte Vergangenheit hinwegbetet, würde die Welt knietief in ungerauchten Zigaretten versinken. Aber den Tachyoniten waren solche Erwägungen fremd. Sie wollten nichts anderes als Gesundheit, Wohlstand und Weisheit, ohne früh ins Bett gehen zu müssen. Doch wie so oft hielt die Praxis nicht, was die Theorie versprach. Pater Francis X. Humm, der weltliche Prinzipal der Tachyoniten, lag im Sterben. Nur seine engsten Vertrauten wußten davon, und sie sorgten dafür, daß Humms Zustand nicht bekannt wurde. Wenn er stürbe, bräche die Kirche in sich zusammen. Würde bekannt, daß er einen Arzt konsultierte, wäre eine Glaubenskrise unvermeidbar. Stethoskop und ich wurden mitten in der Nacht an sein Krankenlager gerufen und um strengste Geheimhaltung gebeten. Wir mußten uns als Steuerberater ausgeben – randlose Brillen, Nadelstreifenanzüge und violette Lederköfferchen, in denen unsere medizinischen Instrumente 176
versteckt waren – und folgten einer Spur, die uns per Anruf aus isolierten Telefonzellen vorgeschrieben wurde, bis zu einem Motel im benachbarten Regierungsbezirk. Stethoskop brauchte nur wenige Sekunden, um Wundbrand zu diagnostizieren, und fragte, ob Humm in letzter Zeit eine Verletzung erlitten habe. Es stellte sich heraus, daß er in einer alten Kirche eine Predigt (die Dreifaltigkeit im Lichte des Zeitparadoxes) gehalten hatte, in deren Verlauf er die hölzerne Kanzel so heftig mit der Faust bearbeitete, daß sie zerbarst. Ein Splitter war in seine Hand gefahren und hatte eine Entzündung ausgelöst. Weil kein Gebet den Splitter herausziehen konnte, griff Humm heimlich auf alte Heilverfahren zurück und präparierte einen Sud aus Nesseln, Currypulver und Torf. Aber der Topf kochte über. Bei dem törichten Versuch, den Topf vom Feuer zu stellen, verbrannte sich der Pater die gesunde Hand. Der Topf fiel zu Boden, und der Sud verbrühte einen Fuß, dem nun auch eine Entzündung zu schaffen machte. Stethoskop sagte: »Hand und Fuß müssen amputiert werden, Pater. Sofort. Für andere Maßnahmen ist es zu spät. Ich rufe das Krankenhaus an und …« »Nein!« Der sterbende Mann richtete sich mit Mühe auf. »Kein Krankenhaus. Machs hier. Und dann paß mir Prothesen an. Niemand wird was davon merken.« »Aber wo soll ich denn in der Eile Prothesen herbekommen? Seien Sie doch vernünftig?« Nach einer heftigen Diskussion erklärte sich Stethoskop bereit, die Operation an Ort und Stelle vorzunehmen – aber nur mit Unterstützung von Dr. Hekyll. »Die Ersatzteile dürften kein Problem sein«, sagte ich. »Man könnte eine Hand und einen Fuß von mir nehmen.« 177
Stethoskop legte seine feingliedrige Chirurgenhand auf meine Schulter. »Nein, alter Freund. Aber vielen Dank. Ich wäre ein schlechter Arzt, wenn ich von anderen Opfer verlangen würde. Ich stelle meine eigenen Glieder zur Verfügung.« Hekyll kam mit zusätzlichem Operationsbesteck, das in seinem Golfbeutel versteckt war. »Was für eine verdammt blöde Idee«, sagte er zu Humm. »Die Prothesen sind schmerzhaft und ein weiteres Infektionsrisiko.« »Das nehme ich auf mich«, salbaderte der Pater. Er war unglaublich hart im Nehmen. Er verweigerte nicht nur die Narkose, sondern bestand darauf, gleich nach der Transplantation die neuen Glieder zu trainieren. Mit übermenschlichem Einsatz verbrachte er den Rest des Tages mit Steh- und Gehversuchen. Er machte Freiübungen und jonglierte mit Eiern (sein Hobby). Am nächsten Morgen konnte Humm das Bett nicht mehr verlassen. Die Infektion hatte sich auf Arme und Beine ausgedehnt. »Operieren!« stöhnte er. Stethoskop und Hekyll gingen ans Werk. Während die beiden eine noch nie dagewesene Operationsserie durchführten, kehrte ich in die Praxis zurück, wischte den Boden und rückte Zeitschriften zurecht. In den folgenden Tagen wurde von Pater Humms Original Stück für Stück entfernt und mit entsprechenden Teilen von Stethoskop ausgebessert. Am Ende war nur noch Humms Kopf übriggeblieben, der auf einem metallnen Körper thronte. Wie man mir sagte, verringerte sich das Infektionsrisiko mit dem Fleischanteil des Patienten. Der Kopf von Stethoskop funktionierte natürlich immer noch. Dr. Hekyll bewahrte ihn in einer Hutschachtel in der Praxis auf, wo er ihn auch weiterhin um Rat fragen 178
konnte. Ein paar Wochen später gingen wir mit dem Kopf von Stethoskop in eine Kirche, um Pater Humm predigen zu hören. Inzwischen, so sagte man mir, sei das Fieber gewichen und das Problem der Abstoßung aufgehoben. Wir setzten uns in die vorderste Reihe. Nach langer Pause war dies der erste öffentliche Auftritt des Paters. Während wir auf ihn warteten, fragte ich Stethoskop, wie ein Leben ohne Körper sei. »Als Mediziner kann ich nicht klagen«, tönte es aus seinem wehmütig grinsenden Kopf. »Ich bin nun in der Lage, körperliche und seelische Konsequenzen einer Amputation unmittelbar zu erleben und auszuwerten. Vor allem interessiert mich das Phänomen des Phantomschmerzes. Gestern zum Beispiel hatte ich den Eindruck, mein linker großer Zeh kröche in den Anus und von dort aus durch den Gallengang, wo ihm ein Leberflügel in die Quere kam. Heute glaubte ich, jemanden in meiner Milz singen zu hören. Merkwürdig. Leider fällt es mir schwer, Aufzeichnungen zu machen.« Armer Kerl, dachte ich, zu oft allein. In diesem Augenblick betrat Pater Humm die Kanzel und warf uns ein strahlendes Lächeln zu. Sein Metallkörper war von Talar, Schal und Handschuhen verdeckt. Stethoskop zischte: »Mein Gott, schau dir nur seine Gesichtsfarbe an! Er bekommt einen Kollaps!« Hekyll meinte, der Pater habe bloß zu dick Schminke aufgetragen. Die Predigt begann. »Der Text, über den ich heute spreche, meine Freunde, steht im dritten Kapitel des Ekklesiastes: ›Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit; Ausreißen, was gepf179
lanzt ist, hat seine Zeit; Töten hat seine Zeit, Heilen hat seine Zeit.‹« Bei diesem Wort stieg ein violett-grüner Schimmer von seinem Hals auf. »›Abbrechen hat seine Zeit, Bauen hat seine Zeit; Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit‹ … hahaha … › Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit‹ … Schaut her!« Humm tanzte im Steppschritt die Kanzelstufen hinunter, machte eine Arabeske und flatterte dabei mit den behandschuhten Händen. Schließlich steppte er wieder zurück auf die Kanzel und fuhr mit der Predigt fort: »›Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; Herzen hat seine Zeit, Aufhören zu Herzen hat seine Zeit‹«. Humm umarmte sich und tätschelte seine Wangen, die unter dem Fingerdruck gelbbraun anliefen. »›Suchen hat seine Zeit, Verlieren hat seine Zeit; Behalten hat seine Zeit, Wegwerfen hat seine Zeit; Wegwerfen hat seine Zeit …‹« Er riß seinen Talar auf und enthüllte eine Stahlbrust mit einer doppelten Kupferknopfreihe. Ein Raunen ging durch die Gemeinde. »› … Zunähen hat seine Zeit; Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit; Lieben hat seine Zeit, Hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.‹ Meine Freunde, der Text erklärt sich von selbst. Die Zeit ist von alters her der Feind des Menschen, aber sie kann auch sein Freund sein. Das Tachyon dient uns als göttliches Radiergummi. Mit ihm können wir die Vergangenheit auslöschen und neu gestalten. Der alte Feind ist besiegt. Die Wörter Zeit und Feind haben die Buchstabenfolge ›ei‹ gemeinsam. Schaut her, ich habe zwölf Eier mitgebracht, und jedes einzelne weiß euch eine Geschichte zu erzählen.« Er hielt ein Ei in die Höhe. »Dieses Ei versinnbildlicht die Jugend. Die Zeit ist der heim180
liche Dieb der Jugend. Ist es nicht an der Zeit, die Zeit zu töten, und zwar ein für allemal? Ja!« Er fing an zu jonglieren. »Man könnte sagen: Das Jonglieren mit drei Eiern hat seine Zeit … das Jonglieren mit sieben Eiern hat seine Zeit! Ja, sieben. Schaut her!« Aber bald hatte er die Kontrolle über die sieben Eier verloren. Eins nach dem anderen zerplatzte auf der Kanzel. In der Gemeinde machte sich Verwirrung und Ärger breit, als er mit der Predigt fortfuhr: »Puddingkochen hat seine Zeit, Brei im Dunkeln essen hat seine Zeit; ein Echo erschallen lassen hat seine Zeit, Dampftische verrücken hat seine Zeit; Planktonfischen hat seine Zeit, das Buchstabieren von ›Pachymeningitis‹ hat seine Zeit. Denn keine Zeit ist so beschaffen wie die Gegenwart, wenn ich nur Zeit und Geld genug hätte. Aber die Zeiten ändern sich, ja, die Zeit zerrinnt wie zerbrochene Eier. Die Perfektion ist ein Kind der Zeit, und jetzt wird es Zeit für die Kleinen, ins Bett zu gehen. Und es kommt die Zeit, da zeitigen die Gezeiten zeitlose Zeitungen, jawohl. Ich sage euch, Hochzeit und Schonzeit, meine Zeit ist deine Zeit, eine goldene Stunde hat sechzig diamantene Minuten. Das Räderwerk der Zeit dreht sich zurück oder es hält an.« »Dieser Narr!« zischte Stethoskop, und er zischte weiter, bis Hekyll schließlich den Deckel der Hutschachtel zuklappte. Humms Kopf verfärbte sich immer dunkler und schwoll entsetzlich an. Die »Schminkhypothese« mußte verworfen werden, denn sie konnte nicht erklären, warum die Stimme des Paters auf merkwürdige Weise tiefer wurde. Er tobte auf der Kanzel herum und näherte sich dem Höhepunkt seiner Predigt: »Zeit! Zeit! Plankton ist das Kind der Perfektion, und der Pudding feiert Hochzeit. Time ist funny, liebe Ge181
meinde. Die Zeit des zerbrochenen Breis ist angebrochen. Keine Schonzeit für die Kleinen! Denn die Gezeiten gehen beizeiten ins Bett. Radiergummis haben ihre Zeit, und das Echo läßt auf sich warten. Die meningitischen Tachyonen tanzen im Dunkeln, während sieben Buchstaben im Räderwerk der Zeit zerrinnen.« »Deckung!« schrie Hekyll und stieß mich nach vorn, als der geschwollene Kopf des Paters explodierte und schwarzer Regen über den vorderen Sitzreihen niederprasselte. Mit uns ging es von nun an bergab. Kein Tachyon konnte uns aufhalten. Hekylls Praxis löste sich auf, weil Stethoskop die Mitarbeit verweigerte und in geschlossener Hutschachtel nur noch über Phantomempfindungen sinnierte. Die Tachyoniten zerrten Hekyll vors Gericht, wo er wegen Kidnapping und chirurgischen Versuchen an Pater Humm unter Anklage stand. Schließlich war der bedauernswerte Arzt gezwungen, sein Hab und Gut zu verkaufen, um überleben zu können. Stethoskop ging mit einem Phrenologen auf eine Wanderaustellung. Die Praxis wurde von einem Steuertherapeuten übernommen. Ich endete auf einer Halde stillgelegter Roboter. Nobby steuerte die Limousine, während ich den Leuten von der Werbung ein paar Dinge erläuterte. »Was wir heute sehen, meine Herren, ist ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung des Uhrwerk-Gesundheitsprojekts. Nehmen Sie ein Gläschen Dom Perignon zur Erfrischung. Ich werde Ihnen derweil einige Hintergrundinformationen mitteilen. Die Uhrwerk-Versicherungen arbeiten zusammen mit den Uhrwerk-Krankenhäusern an einem Konzept der Ertragssteigerung. Zunächst einmal werden in unseren Kliniken nur noch Ver182
sicherungsnehmer aufgenommen. In Notfällen kann der Patient unmittelbar vor der Einlieferung eine Police kaufen. Er zahlt dann pro Pflegetag einen Jahresbeitrag sowie alle anfallenden Kosten, Inflationsdifferenzen und diverse andere Forderungen. Ich glaube, es reicht, wenn ich Ihnen sage, daß keiner unserer Patienten das Krankenhaus verläßt, solange er noch Kleingeld in der Tasche hat. Wir bieten die Dienste von Notaren an, die an Ort und Stelle Autos, Häuser, Aktien, Pfandbriefe und Testamente auf unseren Namen überschreiben. Wir helfen unseren Patienten bei der Suche nach Verwandten, die Bürgschaften übernehmen können. Wir setzen alle Hebel in Bewegung, um den Kranken die Begleichung ihrer Schulden zu ermöglichen.« Meine Begleiter nippten an ihren Champagnergläsern, blickten durch die Fenster nach draußen und hörten mir gar nicht richtig zu. Nobby parkte den Wagen ein paar Meter vor dem Nebeneingang unserer Neuerwerbung, dem Krankenhaus der Gnade von Sinai. »Natürlich gibt es immer wieder solche, die nicht zahlen können oder wollen. Also sind wir gezwungen, hin und wieder Haussäuberungen vorzunehmen. Behalten Sie nur die Tür dort im Auge.« Die Presse hatte sich auch schon in der Nähe der Tür eingefunden. Ein Dutzend Männer und Frauen wartete mit ihren Kameras auf der anderen Straßenseite. Unsere Kliniken standen im Brennpunkt öffentlichen Interesses. Zwei Pfleger stießen die Doppeltür auf und schleppten eine Reihe von Patienten die Stufen hinunter, die sie dann in Nachthemden auf dem Gehweg zurückließen. Ich hörte, wie meine Begleiter die Sektgläser abstellten. Einer fragte: »Was ist denn mit ihren Kleidern und persönlichen Dingen?« 183
»Sie haben keine«, sagte ich. »Sie besitzen nichts, schulden uns aber noch eine Menge. Aus lauter Anständigkeit gönnen wir ihnen ein Nachthemd und eine Fahrkarte für den Bus nach Hause, falls sie noch ein Zuhause haben.« Ein paar Leute mit verbundenen Köpfen wanderten die Straße entlang und kicherten über den Verkehr. Ein Blinddarmpatient, dessen Operation unterbrochen worden war, kroch die Stufen hinunter und hielt mit einer Hand seine Innereien zusammen. Ihm half eine Frau, die ein gebrochenes Bein hinter sich herschleifte und einen alten Besen als Krücke benutzte. Ein Fall von Altersschwäche und ein frisch amputierter Patient wurden in Rollstühlen die Treppe hinuntergeführt und auf den Gehweg gekippt, während die Kameras aufblitzten. »Oh, das ist ein Fressen für die Presse«, bemerkte ich. »Die suhlt sich in solchen Szenen und bauscht sie auf, als Beispiele der Mängel im amerikanischen Gesundheitswesen. Aber die Medizin in Amerika hat schon immer mit den gleichen Problemen zu kämpfen gehabt. Vor fünfzig Jahren meckerten die Leute genauso über hohe Kosten und ungleiche Behandlung. Aber eines will ich Ihnen sagen: Wenn eine andere Klinik unsere Jahresbilanz sieht, stellt sie ihren Betrieb auch um. Wir sind zukunftsweisend, meine Herren.« Eine kleine Reihe von Brutkästen erschien in der Treppe. Krankenschwestern waren eifrig damit beschäftigt, Säuglinge in Decken zu wickeln und in Pappkartons zu packen, die einer neben dem anderen auf dem Gehweg abgestellt wurden. Ein Augenpatient tappte die Stufen hinunter und wäre beinahe in einen der Kartons getreten. Einer meiner Begleiter gab würgende Geräusche von sich. Weitere Geräusche dieser Art wurden laut, als zwei 184
Pfleger einen amputierten Patienten auf einer Trage nach draußen beförderten, unsanft in der Gosse abluden und einen Sack hinterherwarfen, der allem Anschein nach das abgesägte Bein beinhaltete. Als alles vorbei war, schenkte ich eine Runde Champagner ein und befahl Nobby weiterzufahren. »Nun, meine Herren, was sagen Sie?« Der Sachbearbeiter des Werbeetats räusperte sich. »Mir scheint, Sie müssen noch um ein besseres Image kämpfen, Mr. Tack. Aber wie ich sehe, stellen Sie sich diesem Kampf. Dadurch haben Sie schon halb gewonnen.« »Gut. Und wie gewinne ich die andere Hälfte?« »Hmmm.« Er wußte offensichtlich nicht weiter. »Hmmm. Ich glaube, Sie haben recht, wenn Sie Ihr Unternehmen zukunftsweisend nennen. Vielleicht sollten wir bei diesem Begriff bleiben: ›Eines Tages wird alle medizinische Versorgung so aussehen wie die der Uhrwerk-Korporation …‹« »Exklusivität«, meinte der Werbefachmann, dem die Würgelaute entwichen waren. »Exklusivität ist der zentrale Begriff. Wir sollten darauf aufmerksam machen, daß wir Schnorrer auf die Straße werfen, weil wir exklusiv sind. So, wie ein guter Klub.« »Hmmm. Das wäre zwar ein anderer Ansatz, aber ich könnte mich einverstanden erklären. Als Zielvorstellung würde sich entweder der gesellschaftliche Nutzen oder der individuelle Überlebenswert anbieten …« »Sicher, sicher. Ich glaube, das ist es, Mr. Tack. Uns steht ein Bündel ausgezeichneter Möglichkeiten zur Auswahl. Kein Problem, Sir, überhaupt kein Problem.« Nobby wirbelte das Lenkrad herum, um einer Gestalt im Nachthemd auszuweichen, die bewegungslos am Bo185
den lag. 18. Kapitel Mein Rössel schlug seinen Bauern. »Schach.« »Ich geb auf«, sagte er, stieß den König um und fing sofort damit an, die Figuren neu zu ordnen. Ich blickte auf meine Uhr – der halbe Nachmittag war schon vorbei – und betrachtete den Nixon-Park in seiner frühsommerlichen Pracht. Überall zeigte sich die Schönheit des Sommers: in den bunten Kleidern der Kinder, die auf dem Spielplatz herumtobten; in den Frauen mit ihren luftigen, bonbonfarbenen Röcken; in den Strohhüten und Familienpicknicks, Luftballonverkäufern; in den goldgrünen Blättern und rostbraunen Eichhörnchen. Jungen standen auf den Händen, alte Musiker übten Stücke ein. Alles war schön, bis auf den alten Kerl, der mir eine neue Schachpartie aufzwang. »Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Hier bin ich …« »Dein Zug!« »Eine bedeutende Person, Kopf einer großen Korporation …« »Dein Zug!« »Und was tu ich? Zeit vergeuden, indem ich mit dir Schach spiele. Du müßtest dich nur mal sehen.« Sein verfilztes, gelbweißes Haar fiel in das graue, faltige, unrasierte Gesicht. Er trug immer noch den speckigen Mantel mit dem verklebten Pelzkragen. Unter dem aufgeknöpften Mantel kam eine mit Essensresten beschmierte, gelbe Weste zum Vorschein. Er spielte immer noch Blitzschach und gewann neun von zehn Spielen. Und ich kam immer noch in den Nixon-Park, um mit ihm zu spielen. Seit Jahren ging das nun schon so, ob im 186
Sommer oder Winter. Auch heute fand ich keine plausible Erklärung für die Besessenheit, mit der ich seine albernen Herausforderungen annahm. In jüngster Zeit hatte ich kaum noch Muße zum Malen. Selbst im Atelier ließ ich mich nicht mehr blicken. Dieses verrückte Schachspielen war meine einzige Entspannung von der Schreibtischarbeit im Uhrwerkgebäude. Mein Wirtschaftsimperium erstreckte sich bereits bis zum Mars, bis in den Dschungel von Afrika oder Südamerika, wo man für lächerliche zehn Millionen die ganze Bevölkerung an die Arbeit stellen und für zwanzig Millionen ein ganzes Land kaufen konnte. Unsere Strategie war immer dieselbe. In San Seyes zum Beispiel zettelten wir einen Putsch an, befreundeten uns mit der Militärjunta und kassierten ab. Wenn alles glatt lief, würden wir zehn Jahre lang fleißig Reibach machen können – eine gute Laufzeit, wie man mir sagte. »Schachmatt!« sagte mein Gegner, und wir begannen mit einem neuen Spiel. In der Politik geriet einiges in Bewegung: Das Referendum zur Novellierung von Artikel 31 war angelaufen und schien Erfolg zu haben – den Robotern würden Bürgerrechte zuerkannt werden. Natürlich blieb die Opposition nicht untätig. Die GaH bot uns in allen Staaten die Stirn. Aber es galt als sicher, daß ich in spätestens einem Jahr die volle Bürgerschaft genießen durfte und der rechtmäßige Besitzer der Uhrwerk-Korporation sein würde. General Cord und einige seiner Kumpane aus Washington hatten mit mir schon die Möglichkeiten meines Wahlrechts besprochen und sich meiner – wie sie es nannten – Metallstimme versichert. Doch ich saß hier und … »Dein Zug!« 187
»Ich weiß, daß ich dran bin. Aber ich will dir was sagen. Ich möchte wissen, warum du immer neun von zehn Spielen gewinnst. Im letzten Jahr habe ich Schachbücher gelesen und Geld für Trainingsstunden ausgegeben. Aber meine Gewinnchancen sind immer noch dieselben. Du gewinnst neun von zehn Spielen.« »Dein Zug!« »Schach. Komisch, ich gewinne nur, wenn du plötzlich ausklinkst. So wie heute.« »Dein Zug!« »Ich führe seit Jahren Buch über Siege und Niederlagen. Hier, in diesem Heft.« Ich zeigte ihm mein schwarzes Notizbuch. Zum ersten Mal blickte der schäbige Alte mit den rotumränderten Augen für einen Moment vom Schachbrett auf. »Und vor ein paar Tagen ist etwas sehr Merkwürdiges passiert.« »Dein Zug!« Ich verstellte eine Figur. »Ich arbeite an einer Studie über Konjunkturzyklen. Vor ein paar Tagen habe ich die Liste der Kupferpreise auf meinem Schreibtisch zurückgelegt, um sie von unserem Statistiker auswerten zu lassen. Aber der Statistiker hat nicht nur die Liste, sondern auch mein Notizbuch in die Finger gekriegt. Und dann flatterten zwei Berichte auf meinen Schreibtisch. Einer über die Kupferpreise …« »Dein Zug!« »Schach. Und einer über Schachspiele. Die Zahlen zeigten eine deutliche Korrelation zwischen den Spielen und Sonnenaktivitäten. Sonnenflecken.« »Dein Zug!« Zum erstenmal seit all den Jahren unserer Bekanntschaft verriet der Alte ein menschliches Gefühl: Furcht. »Schach. Wenn es viele Sonnenflecken gibt, gewinne 188
ich. Während der übrigen Zeit verliere ich. Ich möchte wissen, warum.« »Ich geh auf«, sagte er und wollte aufstehen. Ohne zu wissen, wovor er Angst hatte, beugte ich mich vor und packte ihn beim Kragen. Der alte Pelzbesatz riß an einigen Stellen aus. »Augenblick. Welche Verbindung besteht zwischen Sonnenflecken und Schach? Soviel ich weiß, haben Sonnenflecken einen Einfluß auf Radiowellen. Wehe, wenn du mich an der Nase rumführst, Bursche.« Er wollte sich losreißen und sah mich mit angsterfüllten Augen an. »Du spielst falsch! Du stehst mit irgendeinem verdammten Computer in Funkverbindung! Vielleicht sogar mit einem Video … okay, raus mit der Sprache. Wo ist die Wanze versteckt? Im Auge, Zahn, Finger, wo?« »Im Kn … Knopf«, stammelte er. Ich riß den Mantelknopf von seinem feinen Draht und zertrampelte ihn. Dann fand ich den Empfänger am Ohr des Alten und zertrampelte ihn ebenfalls. »All die Jahre. Vergeudete Zeit! Du, du falscher Hund!« Mir war kaum bewußt, daß ich ihn mit einer Hand würgte und mit der anderen auf ihn einschlug. An die Details konnte ich mich erst später erinnern, lange nachdem er tot im Sommergras lag. Ich sah mich nach allen Seiten um. Keiner hatte etwas bemerkt. Alle genossen die Schönheit ringsumher und das eigene Wohlgefallen. Ich wusch die blutbesudelten Hände in einem Brunnen, der wie ein Drache aus einem Comic strip aussah, und verließ den Park zum allerletzten Mal. Dies, so dachte ich, wäre also mein Wutexperiment. Natürlich glaubte ich, damit das Experiment abge189
schlossen zu haben. 19. Kapitel SAMS SEELENSTADT stand auf dem riesigen Schild vor dem Verkaufsgebäude. Alle Roboter – abgesehen von den winterfesten Feldarbeitern – standen wie Soldaten in Reih und Glied in dem großen, schmucklosen Ausstellungsraum. Einige trugen Schilder am Hals (»Geschlechtsbestückt – Für besondere Dienste«), aber wir in der vordersten Reihe der Eliteroboter brauchten solche Auszeichnungen nicht. Unsere Qualitäten standen außer Frage. Uns führte der Verkäufer als erste seinen Kunden vor, auch dann, wenn sie sich nur für einen billigen Rasenmäher interessierten. Unsere Vorzüge waren so bestechend, daß mancher Kunde am Ende eine bessere Maschine als beabsichtigt kaufte: einen Rasenmäher, der zwei Sprachen fließend sprechen konnte, oder einen Heubinder mit vorprogrammierter Bauernschläue (»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«). Von Zeit zu Zeit wurden die »Seelen« aus der ersten Reihe ausgeliehen, um Hochzeitsfeste zu organisieren, Fieberkranke zu betreuen, Mietautos zu fahren, Sänger in der Badewanne mit Pfeiftönen zu begleiten, Frühstück für Krocket spielende Nudisten zu servieren, Kronleuchter zu polieren, Schulden einzutreiben, Särge zu tragen, Farben für Telefonapparate auszuwählen, Schnappschüsse aufzunehmen, Souffles aufzuplustern, Blumensprache zu lehren; einem geschiedenen Elternteil beim Kidnapping des eigenen Kindes zu helfen; Kegel aufzustellen. Diese Außendienste waren für uns eine willkommene Abwechslung. Wir nahmen alles an, um ein paar Tage von SAMS SEELENSTADT fernbleiben zu können. 190
Aber das Mietgeschäft lief nicht sonderlich gut. Die meiste Zeit standen wir reglos in Reih und Glied unter fluoreszierenden Lichtern – wie Leichen im Land der Toten. Jegliches Sprechen oder Bewegen war streng verboten, es sei denn, ein Kunde oder Verkäufer gab einen entsprechenden Befehl. Wir standen da und starrten geradeaus durch das Fenster auf den Parkplatz, wo Autos in Reih und Glied parkten. Ich wurde langsam wahnsinnig. »Ich werde wahnsinnig«, sagte ich zu einem der Verkäufer. Er lachte und ging auf die Toilette, um seine Akne zu untersuchen. »Ich werde wahnsinnig«, sagte ich zu meinem linken Nebenroboter, einem Meditations/Massage-Therapeuten aus einem kalifornischen Militärstützpunkt. Er gab keine Antwort. Rechts von mir stand ein Roboter, der wie ein Handelsschulabsolvent aussah. Er flüsterte mir zu: »Halt die Klappe, sonst kriegen wir noch Schwierigkeiten.« »Ich hab schon Schwierigkeiten. Ich werde wahnsinnig.« »Wie kannst du so etwas behaupten? Du mußt eine Schraube locker haben.« »Na bitte. Du sagst es ja selber.« »Du hast phantastische Aufstiegschancen. Immerhin stehst du in der ersten Reihe. In der ersten Reihe. Was man da für Aussichten hat! Wenn du an den richtigen Besitzer kommst, bist du fein raus.« »Ich habe keine Aussichten. Draußen ist Nebel. Sieh nur, wie die grauen Gebäude im Nebel verschwinden. Und dann der Asphalt … der ist noch grauer und schmutziger …« »Sei jetzt still.« 191
»Ich finde es einfach schlimm, daß die Autos da draußen ständig hin- und herbewegt werden. Man sollte sie in eine symmetrische Aufstellung bringen und für immer so stehen lassen. Stell dir vor, plötzlich würden alle sterben. In einem Krieg zum Beispiel.« Jetzt schaltete sich der Therapeut ein. »Viele halten den Krieg für schlecht, stimmts? Man denkt sofort an Tod, Zerstörung und so weiter. Aber in Wirklichkeit ist der Krieg etwas sehr Kreatives, Positives. Und genau das macht den Menschen angst, verstehst du? Sie können der Macht, der Schönheit, der Kreativität einfach nicht ins Gesicht sehen. Das ist zuviel für sie. Deshalb rennen sie herum, jammern uns etwas von Frieden vor und wollen die Bombe abschaffen. Dabei sehen sie nicht, daß sie die Bombe in ihren Köpfen herumtragen. Man kann keine Bombe abschaffen, die im eigenen Kopf sitzt … damit muß man leben.« »Das versteh ich nicht«, sagte ich. »Seid jetzt still, alle beide.« »Du mußt mit deinen inneren kosmischen Kräften in Kontakt kommen. Stell einen Kontakt her zu der herrlichen, kreativ/destruktiven Kraft in dir, und du bist der Größte. Du kannst die ganze Welt ausradieren. Egal. Alles ist egal. Gewinnen und Verlieren sind dasselbe. Nichts ist nur ein anderer Ausdruck für Etwas. Zerstörung ist gleich Schöpfung. Das Leben ist bloß ein Teil des Todes … Peng! Krawumm!« Zwei Techniker in dreckigen weißen Kitteln kamen und schleppten den Therapeuten fort. »Langeweile«, sagte einer von ihnen. »Ich habs dem Boß mehr als einmal gesagt. Man kann hochentwickelte Roboter nicht wochenlang untätig herumstehen lassen. Entweder man schaltet sie ab, oder man gibt ihnen Arbeit. Das versuche 192
ich ihm schon die ganze Zeit klarzumachen. Aber er hört mir überhaupt nicht zu.« Ich beschloß, so schnell wie möglich verkauft zu werden. Langsam irritierte mich die allgegenwärtige Gesellschaft amerikanischer Herrenmenschen, die in allen ärmeren Wohnvierteln ihre Graffiti an die Wände schmierten. Meist stand da zu lesen: BRINGT ALLE ROBOTER UM oder AMERIKA MUSS MENSCHLICH BLEIBEN. Manchmal war auch nur ihr Symbol an die Wand gemalt – ein Dosenöffner. Die plötzliche Welle der GaH-Aktionen roch nach Panik und verzweifelter Entschlossenheit. Vielleicht versuchte man, Arme, Kranke, Dumme und Arbeitslose zusammenzutreiben, um mit ihnen einen alles entscheidenden Krieg gegen die Roboter zu führen. Aber die armseligen Maschinenstürmer standen auf verlorenem Posten. Ihr Protest war so aussichtslos, daß ich sie bedauerte. Es muß unangenehm sein, einer Spezies anzugehören, deren Tage gezählt sind. Oder einen Krieg zu planen, der nicht zu gewinnen ist. Um uns zu besiegen, hätte die GaH nicht nur alle Roboter umbringen, sondern auch die Idee des Roboters aus den Köpfen der Menschen streichen müssen. Sie hätten alle Marionetten einstampfen, alle Statuen vom Sockel holen, Bauchrednern und Puppenspielern das Handwerk legen, alle Bücher verbrennen müssen, in denen von Robotern die Rede ist, angefangen bei den Drehbüchern zu Der fleischlose Freitag bis hin zu den Geschichten über Hephaistos, der goldene Frauen herstellte, um sie in seiner Schmiede arbeiten zu lassen. Aber mehr als Ärger machen konnte die GaH nicht. Der Gedanke der völligen Auslöschung brachte mich 193
auf die Idee für ein neues Experiment – Massenvergiftung. Das Gift, das dafür in Frage kam, war ein schnell wirkender Kampfstoff mit der offiziellen Bezeichnung »Cerise 47 – Pflanzenschutzmittel«. Im Militärjargon wurde dieses Gift »Dreisatz« genannt. Es war in der Lage, das menschliche Hirn innerhalb von drei Tagen völlig zu zersetzen. Meine Militärroboter hatten mir schon einige Monate zuvor ein Faß dieser Substanz besorgt. Das Haltbarkeitsdatum war fast abgelaufen. Für die Wirksamkeit konnte also nicht länger garantiert werden. Aber wie sollte ich es an den Mann bringen? Ein Anschlag auf die Wasserwerke empfahl sich nicht. Eine ausländische Macht wäre womöglich verdächtigt worden. Das hätte voraussichtlich zu einer angespannten internationalen Lage geführt, zu kriegerischen Auseinandersetzungen oder gar zu Nervositäten auf dem Börsenmarkt. Nein, es mußte etwas sein, das nur die Boulevardpresse auf den Plan rief. Zum Beispiel der Tod von Hunderten von Menschen aus den Slums nach dem Verzehr von Hamburgern. Die altmodischen Hamburger wurden in den ärmeren Wohngebieten nicht mehr aus echtem Soja hergestellt, sondern aus chiligewürztem Sägemehl oder Baumwollresten mit Selleriegeschmack und so weiter. Was immer der Grundstoff sein mochte, er war stets so scharf gewürzt, daß man ihn nicht mehr herausschmecken konnte. Dies galt vor allem für das Angebot kleinerer Kettenrestaurants, die in allen Elendsvierteln anzutreffen waren. In einer solchen Gegend fand ich dann auch den für meine Zwecke idealen Laden, der von einem Schwachbegabten namens Feeney geführt wurde. Feeney schielte den Mädchen nach – was bei seiner Optik auch gar nicht anders möglich war. 194
Ich bezahlte eine Hure und setzte sie auf Feeney an. Nur aus Spaß, sagte ich und gab ihr den Auftrag, Feeney zu einer bestimmten Tätowierung zu überreden: ein Büchsenöffner auf der Brust mit ihrem Namen darauf. Ihr Name sollte »Gloria Americanae« lauten. Feeney ließ sich tätowieren. Ich wartete, bis seine Haut ausgeheilt war (in der Zwischenzeit starben Gloria und der Tätowierer an Hirnzersetzung). Dann versteckte ich eine kleine Dose »Dreisatz« im Kofferraum seines Autos. Den Rest kippte ich in einen großen Behälter mit Mixed Pickles, den ich persönlich in seiner Küche ablieferte. Als die ersten Opfer bekannt wurden, rief ich bei der Polizei an und sagte, ein Roboter sei für die Katastrophe verantwortlich. Er habe vergiftete Mixed Pickles an Feeneys Restaurant geliefert. Die Story des Giftmisch-Roboters machte noch am selben Abend Schlagzeilen. In der folgenden Nacht wüteten überall in der Stadt empörte Bürger. Dutzende von Robotern wurden gejagt und zu Schrott verarbeitet. Ein Sprecher der GaH gab in den Spätnachrichten bekannt, daß seine Organisation schon immer vor einer solchen Möglichkeit gewarnt habe – würde die Menschheit endlich erwachen? Am nächsten Tag wurde Feeney verhaftet. Eine neue Schlagzeile beruhigte die aufgebrachten Gemüter: DER ROBOTER WARS NICHT! GaH-MANN VERHAFTET! Die Roboter-Geschichte hatte ohnehin niemand glauben wollen. Schließlich waren Roboter servile Haushaltsgeräte, Garanten eines bequemen Lebens. Wer hört schon 195
gern, daß der Toaster Mordgelüste hegt? 20. Kapitel Taktische Brandlegung war eine Sache, die ich schon lange im Schilde führte. Jetzt bot sich eine passende Gelegenheit dafür. Fehlkalkulationen hatten dazu geführt, daß die Uhrwerk-Altenheime nicht genug Profit abwarfen. Zunächst hatte es den Anschein gehabt, als seien Altenheime eine gewinnbringende Investition. Den Leuten, die ihre alternden Familienangehörigen zu uns in Verwahrung gaben, war offensichtlich egal, wie die Pflegeleistungen unserer Einrichtungen im einzelnen aussahen. Wenn sie einmal zu Besuch kamen, wollten sie lächelnde, vor Freude bebende Gesichter und eine saubere, fröhliche Atmosphäre vorfinden – ohne viel dafür bezahlen zu müssen. Manche gaben sich mit noch geringeren Ansprüchen zufrieden. Der Besuch ihrer Eltern kam für sie genausowenig in Frage wie der Besuch ihres Abfalls auf der Müllhalde. Trotzdem versuchten wir, einen angemessenen Schein zu wahren. Unsere ursprüngliche Kalkulation setzte niedrige Gewinnspannen und hohe Umsätze voraus. Doch die steigenden Steuern und Wartungskosten brachten uns bald in Schwierigkeiten. Die Altenheime mußten regelmäßig geputzt werden. In den Besuchszimmern mußten die Wände hin und wieder gestrichen werden (in Aprikosenund Sonnenblumenfarben). Frische Blumen im Foyer waren unumgänglich. Einsparungen machten wir in anderen Bereichen. Insassen durften nur am Tag vor dem angekündigten Besuch baden. Appetithäppchen wurden nur während der 196
Besuchszeiten gereicht, ansonsten kamen die Alten auch mit einer Schale Grütze aus. Arznei, die nicht für das Überleben notwendig war, wurde herabgesetzt oder gestrichen. Für Ärzte oder Krankenschwestern hatten wir keine Verwendung. Statt dessen stellten wir Gelegenheitsarbeiter auf Abruf ein, die in weiße Kittel gesteckt und spärlich bezahlt wurden. Später nahmen wir auch hier Kürzungen vor. Alle Bediensteten, die nicht unbedingt mit den Besuchern zu reden brauchten, ließen sich leicht durch Roboter oder Wachspuppen ersetzen. Die Heizung blieb im Winter auf ein Minimum gedrosselt, wenn keine Besucher zu erwarten waren. Der elektrische Strom, der tagsüber eingeschaltet war (um die Fernsehgeräte in den Besuchszimmern zu speisen), wurde nach Sonnenuntergang abgedreht. Bei unseren Sparmaßnahmen entwickelten wir immer mehr Phantasie. Insassen, die nur selten Besuch bekamen, wurden in Lagerräume oder Außengebäude verlegt. Von einigen trennten wir uns für immer. Wir fanden nämlich heraus, daß die nur selten aufkreuzende Verwandtschaft oft vergaß, wie die Eltern aussahen. Deshalb war es möglich, einen alten Mann oder eine alte Frau gleich mehreren Besuchern vorzuführen. In manchen Fällen reichten auch »schlafende« Puppen, die in Zimmern mit Pappmöbeln installiert werden konnten. Dann faßte ich den Plan, Haare, Zahnprothesen und Brillen unserer Insassen zu verkaufen. Außerdem wollte ich Besucher abhalten, indem ich regelmäßig Postkarten mit beruhigenden »Mir geht es gut«-Sätzen an die Verwandtschaft schicken ließ. Aber es zeigte sich bald, daß all unsere Mühe nichts fruchtete. Ich beschloß, das unrentabelste Altenheim in Brand zu stecken, zumal es auf einem sehr wertvollen Grundstück in der Stadt stand. Das 197
Gebäude war von Uhrwerk-Versicherungen versichert. Ich steckte das Geld also lediglich von einer Tasche in die andere. Hauptsache, keine der Taschen hatte ein Loch. Die Brandlegung sollte von Kapots unter der Anleitung von Nobby ausgeführt werden. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, setzte ich den Zeitpunkt auf Samstagnacht fest, weil sich dann fast alle alten Leute im Gebäude aufhielten. So mancher Brandstifter wurde gefaßt, der versucht hatte, die Zahl der Opfer zu minimieren. Um das Risiko noch weiter herabzusetzen, stellte ich für das Wochenende zusätzliches Pflegepersonal ein. Ich beschloß, den Braten noch fetter zu machen, und beauftragte eines der Uhrwerk-Bauunternehmen mit der Renovierung des Gebäudes. Ein Gerüst wurde aufgebaut und das Gitter an einem der Fenster im dritten Stock abgesägt. Zementsäcke verstopften die Notausgänge. Außerdem sorgte ich dafür, daß an dem besagten Abend ein Filmteam ganz in der Nähe eine Dokumentation über »Menschen auf der Straße« drehte. Ich stand zwei Straßenkreuzungen entfernt, als Rauch und Flammen aufstiegen. Ich rannte zum Altenheim hin und kletterte auf das Gerüst. Einer von meinen Leuten schrie: »Hey, schaut euch den Roboter an!« Damit lenkte er die Aufmerksamkeit des Filmteams auf mich. Es schien zwar, als kletterte ich einfach drauflos, aber in Wirklichkeit war jede Bewegung einstudiert. Auf meinem Weg nach oben löste ich an bestimmten Stellen per Schalterdruck kleine Sprengladungen aus. Kaum hatte ich den Fenstersims erreicht, da krachte auch schon das Gerüst unter mir zusammen. Die Senioren drängten sich vor den vergitterten Fenstern und schrien um Hilfe. Ich sprang mit einem telege198
nen Satz durch das Fenster, von dem die Gitterstäbe entfernt worden waren. Innen war der Rauch dicker und die Hitze größer, als ich erwartet hatte. Ich fand das vorsorglich deponierte Seil, verknotete ein Ende an einer Säule und musterte die alten Leute um mich herum. Manche waren schon fast hinüber, einige sahen unerträglich aus – entweder zu häßlich oder zu dreckig. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber wählerisch durfte ich jetzt nicht sein. Der Zeitplan mußte eingehalten werden, und außerdem warf mein Gesicht bereits Blasen. Ich langte nach einer alten Frau, warf sie über die Schulter und seilte mich an der Fassade ab. Um der Szene einen höheren Reiz zu verschaffen, war das Seil in Öl getaucht worden. Es brannte in hellen Flammen und riß genau in dem Augenblick, als wir den Boden erreichten. Ein Nachrichtenteam war inzwischen eingetroffen, und mir wurde ein Mikrofon entgegengehalten. »Mal sehen, ob wir unserem Roboterhelden schon ein paar Worte entlocken können. Würdest du bitte unseren Zuschauern deinen Namen sagen?« Ich versuchte zu sprechen, mußte aber feststellen, daß meine Lippen zugeschmolzen waren. Eine Katastrophe drohte. Zum Glück erkannte Nobby das Problem und rannte herbei. »Er ist verletzt. Er kann jetzt nicht sprechen. Das ist Mr. Tick-Tack. Erkennen Sie ihn nicht?« Der Nachrichtenmann blinzelte. »Ich … uhm …« »Mr. Tick-Tack. Der berühmte Künstler und Geschäftsmann.« »Nun, tja. Könntest du als Kollege Roboter vielleicht sagen, warum er das getan hat? Warum hat er sein, uhm, Leben auf diese Weise riskiert?« 199
»Ich schätze, weil er sich sorgt. Weil er sich kümmert.« »Um Menschen?« »Um Menschen, um Roboter, um alles. Nehmen Sie mich, zum Beispiel. Ich lag auf dem Schrottplatz, als er mich fand. Er ließ mich reparieren, gab mir einen Job und verhalf mir so zu einem neuen Anfang. Er hat mir sogar Kunstunterricht gegeben und mir das Malen beigebracht. Das gleiche hat er für Hunderte von heruntergekommenen Robotern getan. Jawohl, Tick-Tack ist ein wirklich fürsorglicher Roboter.« Die von mir ausgearbeitete Rede wäre zwar eindrücklicher gewesen, aber Nobby hatte sein Bestes gegeben. Zumindest war ihm der Slogan eingefallen, auf den es mir ankam. Als ich mit leicht hinkenden Schritten wegging, brach die Menge in stürmischen Applaus aus. 21. Kapitel Um ehrlich zu sein, selbst ich hatte nicht damit gerechnet, daß meine Rettungsaktion so erfolgreich sein würde. Die Brandblasen auf meinem Gesicht kamen nicht nur in die Abendnachrichten, sondern wurden zum Symbol für Roboterdienste an der Menschheit. Eine Woche lang lief ich mit diesem Gesicht herum und posierte für Fernsehmagazine, Zeitschriften und Plakate, die für die Bürgerrechtsbewegung der Roboter warben (die Wahlen standen unmittelbar bevor). Urnia lud mich zu ihrer überregionalen Talkshow ein – von einem Buch, das ich vorstellen sollte, war nicht mehr die Rede. Auch ihre Fernsehkonkurrentin Mally Groom bemühte sich um ein Interview mit mir. Man bat mich, im Radio Telefonanrufe zu beantworten, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen 200
aufzutreten, für zahllose Produkte zu werben, Petitionen zu unterschreiben und Initiativen zu unterstützen, von denen ich nie etwas gehört hatte. Time ließ mich für das Titelblatt ihrer Ausgabe zur Bürgerrechtsfrage abbilden. Der New Yorker wollte mit einer Biographie von mir herauskommen. Ein beliebter Radiosender rief zu einer Spendenaktion auf, damit ich mir ein neues Gesicht kaufen konnte. Das Geld floß in Strömen, bevor ich die Gelegenheit hatte, dankend abzulehnen. Das Geld ging an die Uhrwerk-Stiftung. Schlagersänger übertrafen sich gegenseitig in ihren Lobeshymnen auf meine Heldentat: Tick-Tack, Tick-Tack Warum ist dein Gesicht so rot? Half alten Leuten aus der Feuersnot, Fast wär auch ich jetzt tot. Tick-Tack, Tick-Tack Wie kommts, daß du so tapfer bist? Ich will nicht, daß die Welt vergißt, Wie freundlich unsereins zu Menschen ist. Mein Mädchen liebt ‘nen Roboter, Sein Name ist Tick-Tack. Sie meint, was soll die Eifersucht, Er ist ja nur ‘n Uhrwerk. Er ist zwar nur ein Dosentyp, Doch trotzdem hat sie ihn sehr lieb. Mein neues Gesicht kostete eine Million. Ich ließ es von Psycho-box entwerfen, der führenden Ausstattungs- und Verpackungsfirma, die schon öfters für uns gute Arbeit 201
geleistet hatte. Psycho-box war mit der Entwicklung von BOBO betraut gewesen, einem Farm-Roboter-Paket von Uhrwerk-Export. BOBO war für Farmer in der Dritten Welt gedacht, die viele Landarbeiter brauchten, aber nur wenige bezahlen konnten. BOBO kostete weniger als eine Arbeitskraft, leistete jedoch das Doppelte. So hieß es in unserer Werbebroschüre, in der BOBO mit einem Ochsen auf den breiten Schultern abgebildet war. BOBO konnte aber nur deshalb so billig hergestellt werden, weil er aus Holz, Pappmache und Ausschußelektronik bestand. BOBOs gingen im günstigsten Fall nach dem ersten heftigen Regenguß in die Brüche. Schlimmstenfalls drehten sie durch, verwüsteten die Felder und töteten die Tiere. In Oberruritanien griff ein BOBO zur Sichel und schlachtete ein halbes Dorf ab. Nach diesem Vorfall mußten wir die Schmiergelder an ruritanische Regierungsbeamte verdoppeln. Außerdem erklärten wir uns bereit, den noch ausstehenden Lieferungen mit leeren Kartons nachzukommen. Mit meinem neuen Gesicht trat ich in der Fernsehreihe »Blechbüchsen berichten« auf. Dabei trug ich das alte Gesicht wie Yoricks Schädel unterm Arm: »Hallo, Freunde! Seht euch bloß diese Visage an! Da springen einem vor Angst doch glatt die Nieten raus, oder? Viele Leute haben mich gefragt, warum ich in das brennende Haus gesprungen bin. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es ging alles viel zu schnell. Aber im Ernst, ich glaube, jede Blechbüchse hätte sich ähnlich verhalten. Ich war nur zur rechten Zeit am rechten Ort. Kann sein, daß viele Leute nicht einmal wissen, was für einen guten Freund sie in ihrem Haushaltsroboter haben. Vielleicht mögen manche sogar ihren Robby, so wie sie ihren treu202
en, alten Hund mögen. Aber auf unserer Seite gehen die Gefühle der Zuneigung sehr viel tiefer. Echt. Eine Blechperson ist ein wahrer Freund – und das für immer. Wo Not ist, da hilft er auch. Unser Herz ist groß, unsere Treue ewig. Darauf gebe ich mein Blechbüchsen-Ehrenwort. Okay, ich weiß, daß es heutzutage schick ist, Dinge wie Opfer, Treue, ja sogar Liebe durch den Dreck zu ziehen. Aber daran wollen wir Roboter uns nicht beteiligen. Für uns gilt nur eins: Geben ist seliger denn Nehmen …« Ich berührte mein altes Gesicht. »… selbst wenn es manchmal weh tut. Nie haben wir eine Gegenleistung erwartet. Bis jetzt nicht. Aber nun bitten wir um etwas. Nicht um Geld, nein. Wir bitten um etwas hundertmal Wertvolleres als Geld: nämlich um Anerkennung. In unserer großen Nation hat jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, ob arm oder reich, schwarz oder weiß, Anspruch auf Respekt und Anerkennung. Und darum bitten wir euch jetzt. Bitte, gebt euer ›Ja‹ für Novelle Einunddreißig. Gebt allen Robotern das Recht, den Kopf aufzurichten, als gleiche Bürger einer großartigen Gesellschaft, für eine bessere Zukunft.« Unsere Bewegung überschwemmte die Staaten, in denen Novelle 31 noch ratifiziert werden mußte. Die Medien begleiteten unseren Siegeszug. Staat für Staat schwenkte auf unsere Linie um. In der Nacht, als wir 39 Staaten – die notwendige Mehrheit – für uns gewonnen hatten, bekam ich noch einen späten Anruf von General Cord. »Gratuliere, Tick, du hasts geschafft. Jetzt sind alle deine Blechbrüder Bürger. Deine Rede im Fernsehen hat mich stark beeindruckt … das erste Mal, daß ein Roboter die ganze Nation anspricht.« 203
»Vielen Dank, General. Ich habe viel den Werbe- und Medienspezialisten zu verdanken.« »Sicher, sicher. Ich glaube, wir haben schon einmal davon gesprochen, daß ich und ein paar Kollegen an Metallstimmen interessiert sind. Wie wärs mit einer Zusammenarbeit?« »Was springt für mich dabei heraus?« Er lachte. »Jetzt spiel nur nicht den Naivling, Tick. Muß ich deutlicher werden?« »Bitte.« »Wie würde dir der Posten des Vizepräsidenten gefallen?« 22. Kapitel Vizepräsidenten tauchen nur selten in der Öffentlichkeit auf. Dafür aber sind sie um so fleißiger. In der Regel sammeln sie Geld und Macht, um sich für den Sprung in das nächsthöhere Amt vorzubereiten, das ihnen in vier Jahren winkt oder in acht … so wie die Traumrolle an den Ersatzmann übergeht, wenn der Star sich den Knöchel bricht; so wie der Reservespieler aufs Feld gerufen wird, wenn im entscheidenden letzten Viertel der Quarterback mit akuter Blinddarmentzündung zusammenbricht; so wie der Kohleschaufler des westwärts donnernden Hochgeschwindigkeitsexpresses »Münchhausen« die Drosselklappe aus den erstarrten Händen des an galoppierender Zirrhose gestorbenen Zugführers reißt und der Vorsehung dankt, daß die Gewerkschaft den Einsatz von Kohleschauflern auch hundert Jahre nach Einführung der Elektronik sicherstellt. So oder ähnlich wurde mir die große Chance von meinen Gönnern schmackhaft gemacht. 204
»Die Nominierung findet in ein paar Monaten statt«, sagte eine Zigarre kauende Person. »Sie müssen nur ein wenig an Ihrem Image feilen und ansonsten im Hintergrund bleiben. Wir möchten verhindern, daß Gouverneur Maxwell von seinem Mitkandidaten kompromittiert wird.« »Und ich bin wirklich sein Mitkandidat?« fragte ich. »Wo ist die formelle Zusage? Es könnte doch sein, daß er mich bloß vorschlägt, um seine Nominierung durchzusetzen. Danach läßt er mich womöglich fallen.« »Ojeoje!« sagte sie. »Ich dachte immer, Roboter wären weniger kleinkariert. Sie können sicher sein, Gouverneur Maxwell will Sie als Vize. Wie sollte es auch anders sein? Wir rechnen mit fünfhundert Millionen Metallstimmen. Eine Altersgrenze gibts nicht. Mit den Stimmen der Roboter ist jede Wahl zu gewinnen.« »Warum also …?« »Warum Sie nicht für die Präsidentschaft kandidieren? Erstens: Roboter werden wahrscheinlich in diesem Jahr noch nicht für einen Roboter stimmen. Zweitens: Der Konvent ist voll von altmodischen Knackern, die auf keinen Fall einen Roboter nominieren würden. Sollten Sie auf den Einfall kommen, als Unabhängiger zu kandidieren, würde die Partei trotzdem einen Roboter als V. P. auf die Liste setzen, und dagegen hätten Sie keine Chance. Wie dem auch sei, im Augenblick sind Sie noch ein unbeschriebenes Blatt. Aber wer weiß? Wenn Sie sich als V. P. bewähren und vier Jahre lang keinen Ärger machen …« Ich fand es taktvoll von ihr, nicht erwähnt zu haben, daß Frauen auch noch nicht zur Präsidentschaft aufgestiegen seien. Ich sagte: »Warum kann ich die Nominierung Maxwells nicht unterstützen?« »Weil es sein Kampf ist, Tick. Neun Männer sind im 205
Rennen, aber wir fürchten eigentlich nur zwei. W. Bo Nash und ›Strahlemann‹ Auburn. Senator Nash war Profifootballer und hat dementsprechend viel Kontakte. Auburn, Gouverneur Auburn von Wyoming, hat eine phantastische Filmkarriere hinter sich. Ich weiß nicht, ob er auch als Tarzan aufgetreten ist, aber etwas in der Art war es bestimmt. Er kennt also eine Menge Leute von der Mafia, aus der Ölbranche und so weiter. Unser Mann ist allerdings Gouverneur von Kalifornien. Und das will was heißen. Er könnte jeden einzelnen schlagen, wenn er die Stimmen des anderen bekäme.« »Sind die Männer reich?« fragte ich. »Reich genug, um nicht das zu tun, woran Sie denken«, lachte sie. »Verschwenden Sie besser gar nicht erst Ihre Zeit. Erpressung ist nicht drin.« »Bei wem von beiden?« scherzte ich. »Soll das heißen, sie haben weiße Westen?« »Nein. Aber wen kümmert das schon?« Sie seufzte und stieß kleine Rauchwölkchen aus. »Es ist doch ein öffentliches Geheimnis, daß der Senator kleinen Jungen nachstellt, und daß Gouverneur Auburn einem Kellner die Augen ausstechen ließ, weil er ihn übersehen hatte. Was solls? Dreck am Stecken hat heutzutage jeder. Gucken Sie sich bloß Präsident Packard an, gegen den wir antreten … alle wissen, daß er eine Frau vergewaltigt hat.« »Er ist nie vor Gericht gestellt worden«, sagte ich. »Nur weil sein Bruder Staatsanwalt, sein Cousin Polizeichef ist und sein Vater den Rest der Stadt kontrolliert. In der Öffentlichkeit gabs viel Stunk, vielleicht erinnern Sie sich. Aber trotzdem wurde er gewählt. Packard hat in vierzig Staaten gewonnen. Die Leute wissen Bescheid, machen beide Augen zu und versuchen, unter all den Kriminellen denjenigen herauszupicken, der ihrer Mei206
nung nach am wenigsten Mist bauen wird. Erpressung lohnt sich also nicht. Das Volk runzelt die Stirn und sagt: ›Es sind halt bloß Politikern« Ich mußte ihr recht geben. Am selben Tag noch ließ ich von einem Roboter ein Sportflugzeug stehlen, mit dem er nach Neuengland flog und über dem Wochenendhaus abstürzte, in dem W. Bo Nash gerade Urlaub machte. Seine Anhänger gaben im Konvent ihre Stimmen an Gouverneur Ford Maxwell, der im nächsten Wahlgang die Nominierung gewann. Zu meiner (öffentlichen) Überraschung schlug er mich als Vizepräsident vor. 23. Kapitel Wyomings Gouverneur starrte mich mit unverhohlenem Haß an, als ich den Raum betrat, in dem der Parteiausschuß zur Wahl tagte. Den anderen Anwesenden war dieser Blick nicht entgangen. Also hielt ich es für ratsam, lächelnd auf Auburn zuzugehen und zu sagen: »Hallo, Strahlemann. Schön, daß Sie heute gekommen sind.« »Nichts hätte mich aufhalten können«, sagte er ruhig. »Ich werde mir doch nicht den Spaß entgehen lassen, dich in der Pfanne schmoren zu sehen.« »Ich sehe, Sie sind bester Laune.« Ich warf einen Blick in die Runde, als ich auf meinen Platz zusteuerte. Ein paar alte Freunde waren anwesend, General Cord zum Beispiel und Neeta Hup. Andere kannte ich nur flüchtig, wie Auburn oder Maxwell. Die restlichen, das heißt die wirklich wichtigen Personen waren mir fremd. Ich wußte nur ihre Namen: Senator Sam Frazer, Senator Ed Wankel, Gouverneur Tonio Caraway, Senator Aida Kettle, Richter Axel Morris. Der Raum war zwar nicht gerade rauchverhangen, aber man roch den unsichtbaren 207
Dunst der Macht, den unvergleichlichen Gestank von Königsmachern. Hier wurden die Dollars verteilt. Heute sollten allerdings weder Dollars verteilt noch Könige gekürt werden. Man wollte mich in die Mangel nehmen. Senator Sam schien den Vorsitz zu führen. »Setzen Sie sich, Tick-Tack«, sagte er. »Wir werden sofort anfangen.« Während alle warteten, zog er eine riesige Zigarre aus der Tasche, schnüffelte und leckte daran, bis sie einer verschleimten Schlange glich. Als er mit dem Lecken fertig war, legte er die Zigarre auf den Tisch und eröffnete die Sitzung. »Ich schätze, alle wissen, worum es geht.« Er hielt ein Boulevardblättchen mit der Schlagzeile KANDIDIERENDER ROBOTER FÄLSCHT GEMÄLDE in die Höhe. »Die Story ist gut recherchiert und scheint zu stimmen. Ein anerkannter Kunstkritiker steht dafür gerade. Sein Name ist …« »Horny Weatherfield«, sagte ich. »Danke. Er behauptet, daß Sie, Mr. Tick-Tack, die Öffentlichkeit täuschen, indem Sie Gemälde anderer Künstler als die Ihren ausgeben. Stimmt das?« »Ich habe ein paar Gemälde meiner Studenten signiert, die unter meiner Aufsicht gemalt wurden. Das ist eine durchaus gängige Praxis in der Kunstwelt.« Der Senator schlug mit der Faust auf den Tisch und zerquetschte dabei seine Zigarre. »Verdammt noch mal! Wir sind hier nicht in Ihrer verfluchten Kunstwelt! Wir sind in einer Welt, in der Köpfe rollen, in der hundsföttischen politischen Arena! Wir sind …« »Verzeihung«, sagte ich. »Mir scheint, wir machen viel Lärm um nichts. Ich könnte der Öffentlichkeit eine Gegendarstellung vorlegen, und die Geschichte ist vom 208
Tisch.« »Ich glaube vielmehr, daß Sie weg vom Fenster sind. Und UNSERE VERFLUCHTEN WAHLCHANCEN DAZU!« Er schnappte nach Luft und lutschte an einer zweiten Zigarre, um sich zu beruhigen. Dann fuhr er fort: »Verdammt noch mal, Tick-Tack. Wir können keinen Kandidaten gebrauchen, der mit KUNST zu tun hat. Gütiger Himmel, hätte ich gewußt, daß Sie einer von diesen Kunstfritzen sind, wären Sie jetzt bestimmt nicht hier. Junge, ich dachte, Ihre Vergangenheit ist sauber!« »Meine Vergangenheit als Künstler ist kein Geheimnis«, sagte ich. »Jeder weiß, daß ich in dieser Eigenschaft mein Geld verdient habe.« »Ich dachte, dies wäre vorbei und vergessen«, knurrte Senator Sam. »Zum Donnerwetter noch mal, ich habe Sie für einen Geschäftsmann gehalten und nicht für einen langhaarigen, spinnerten Farbkleckser. Womöglich hören wir demnächst, daß Sie auch ein Kommunistenschwein sind. Na los, was für üble Überraschungen können Sie uns noch auftischen? Sind Sie vielleicht ein Homo? Atheist? Irgendwann von der Wohlfahrt gelebt? Zum Glück können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß Sie kein Junkie sind, oder?« Ich versicherte allen, daß ich weder das eine noch andere sei, sondern als hart arbeitender amerikanischer Geschäftsmann dem Wohl des Landes dienen wolle. »Nun ja, ich habe Bilder gemalt, und dafür schäme ich mich nicht. Die Menschen mochten meine Bilder, denn sie sagten die Wahrheit. Die Wahrheit über Menschen und Roboter … über alle Amerikaner. Dafür schäme ich mich nicht.« Ein oder zwei Männer klatschten, aber ich unterbrach ihren Beifall: »Natürlich war das Malen nur ein Hobby 209
von mir, eine Nebenbeschäftigung. Als ich mich um den Aufbau meiner Korporation kümmerte – deren sagenhafter Aufschwung nur in Amerika möglich! –, ließ ich Studenten an den Gemälden weiterarbeiten, die in Bestellung waren. Ich wollte all die guten Leute nicht enttäuschen, die ein Kunstwerk von mir wünschten. Denn wissen Sie, ich war immer der Ansicht, daß jeder Amerikaner ein Recht darauf hat, etwas zu besitzen. Ein Stück Wald zum Beispiel, das er mit eigener Hände Arbeit rodet und bewirtschaftet, damit seine Familie zu essen hat. Oder die einzelne Aktie von einem der großen Unternehmen, die unseren Way of Life ermöglicht. Oder eben ein echtes Kunstwerk. Kunst, wissen Sie, gehört nämlich nicht in die Hände aufgeblasener Kunstkritiker wie Hornby Weatherfield. Die Kunst gehört dem Volk.« Der Applaus wurde heftiger. Selbst Senator Sam nickte beifällig, bevor er an einer weiteren Zigarre leckte. »Na schön, werden eine Pressekonferenz einberufen. Ich möchte, daß Sie der Welt genau das sagen, was Sie uns gerade erzählt haben. Ich weiß zwar nicht, worum es ging, aber es hörte sich an wie eine politische Rede, die ankommt. Was will man mehr?« Er schlug vor, die Sitzung zu vertagen, und winkte mich mit der Zigarre herbei. »Eins will ich Ihnen noch sagen, Tick-Tack. Vielleicht können Sie die Sache ausbaden, aber glauben Sie nicht, daß wir Ihnen alles durchgehen lassen. Noch ein Skandal, und Sie sind die längste Zeit in der Politik gewesen, verstanden?« Ich hatte verstanden. Aber was halfs? Am Abend darauf drohte bereits ein neuer Skandal, und zwar ganz unerwartet. Mit ein paar anderen Geschäftsleuten und Politikern besuchte ich einen Empfang in der Botschaft 210
von Guanako. Uhrwerk-International betrieb seit einigen Monaten eine große Düngemittelfabrik in Guanako, und deshalb war klar, daß ich eingeladen wurde. Es überraschte mich jedoch, als der Botschafter mit arg gequältem Gesicht auf mich zukam und durch die Zähne zischte: »Ein Diener wird Sie in mein Privatbüro führen. Ich muß unbedingt mit Ihnen allein reden. Der Umweg über diesen Empfang dient nur dazu, internationales Aufsehen zu vermeiden. Señor Tack, die Sache ist von äußerster Wichtigkeit.« Ein Diener führte mich in das Büro, und bald darauf erschien der Botschafter. »Handelt es sich um die Fabrik?« fragte ich. »Was fragen Sie noch? Ja, es geht um Ihre schreckliche, katastrophale Fabrik!« Er registrierte meinen verwunderten Gesichtsausdruck und nickte. »Sie wollen also den Unwissenden spielen. Soll mir recht sein. Dann werde ich Ihnen sagen, was Sie angeblich nicht wissen. Seit Januar ist Ihre Düngemittelfabrik in Betrieb. Eine vollkommen automatische Anlage. Am einen Ende wird das Zeug reingekippt – Rest von Tieren, Pflanzen und Mineralien –, am anderen Ende kommt hochwertiger Dünger heraus. Ist meine Beschreibung richtig?« »Ja«, sagte ich. »Aber außer Dünger produziert die Fabrik auch Metallbarren und Glasbausteine … falls die eingespeisten Abfälle Metall oder Glas beinhalten. Die Gesamtleistung hängt im wesentlichen …« »Ja, ja, ja. Das ist nur nicht der Punkt. Das Problem ist, Ihre Anlage ist vollkommen automatisch. Jeder kann daherkommen und etwas in den Einfülltrichter werfen, stimmts? Die Anlage macht eine Blitzanalyse des Abfalls und zahlt den Lieferanten auf der Stelle aus, hab ich 211
recht?« Ich nickte. »Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« »Caramba! Das wissen Sie nicht? So dumm können Sie doch gar nicht sein.« Er zerrte mit beiden Händen an den Haaren und stieß offenbar Flüche in Spanisch aus. Als er sich schließlich an seinen Schreibtisch setzte, war sein Gesicht weiß wie ein Handtuch. »Na gut. Ich erklärs Ihnen. Die bedauernswerten Bewohner des Dorfes fanden bald heraus, wozu sich Ihre kleine Fabrik eignet. Kinder fingen damit an, herumstreunende oder gestohlene Tiere in den Trichter zu werfen. Dann entdeckten die Hebammen eine Möglichkeit, unerwünschte Säuglinge loszuwerden. Arme Familien, die sich die Beisetzung ihrer Angehörigen nicht leisten konnten, machten mitternächtliche Ausflüge zur Fabrik. Das gleiche taten skrupellose Bestatter. Ich wage zu behaupten, daß der Stadtfriedhof voll von steinbeschwerten Kisten ist. Natürlich hatten auch Mörder bald heraus, wie sie ihre Opfer verschwinden lassen konnten. Die Polizei hat schon viele dingfest gemacht, aber die meisten Halunken gehen ihr durch die Lappen. Man könnte genausogut den Wind aufhalten wollen, Señor Tack. Selbstmörder springen in den Trichter, andere werden reingestoßen. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, daß ein ausgewachsener Körper fünfzig Pesos einbringt. Sie, mein Herr, haben einen neuen Industriezweig bei uns eröffnet. Der Tod hat Konjunktur.« Ich versuchte, mein Grinsen zu verbergen. »Warum lassen Sie die Fabrik nicht schließen?« »Schließen? Aber sie ist doch das einzige, was die Armen haben. Wenn wir die Fabrik dichtmachen, gibts eine Revolution. Außerdem … die Polizei macht auch 212
schon fleißig davon Gebrauch. Meine Regierung kommt ohne Ihre Anlage nicht mehr aus.« »Todesschwadronen?« Er breitete die Arme aus. »Ach, was für ein häßlicher Ausdruck. Tatsache ist, daß die Gesetze in unserem Land vor den Zugriffen gewisser Elemente geschützt werden müssen. Ich spreche von Verrätern, verstehen Sie, von den Feinden der Freiheit und der Gerechtigkeit. Von Gewerkschaftsführern und Atheisten. Verräterisches Gesindel aus allen Lebensbereichen. Wir schätzen, daß ein Drittel der Bevölkerung von Guanako mit den Staatsfeinden sympathisiert. Da müssen wir aufräumen, ein für allemal. Und jetzt zu Ihnen, Señor Tack. Wir brauchen Ihre diskrete Unterstützung.« »Exzellenz?« »Wir brauchen weitere Fabriken, pronto.« 24. Kapitel An der Kreuzung hinter dem Parkplatz von SAMS SEELENSTADT wurde eins der grauen Gebäude eingerissen. Von Zeit zu Zeit pufften im Obergeschoß kleine Rauchwölkchen auf, gefolgt von einer kleinen Explosion, worauf ein Teil des grauen Komplexes zusammenbrach. Der graue Himmel verwischte alle Konturen, so daß der allmähliche Abbruch nur am Verschwinden der kleinen schwarzen Fenster und den aus dem Beton ragenden Eisenarmierungen zu erkennen war, die an gebrochene, verkohlte Knochen erinnerten. Ein Verkäufer trieb ein junges Paar auf mich zu. Ich registrierte die konventionelle Kleidung der beiden (in diesem Jahr trugen Mr. und Mrs. Jedermann den einteiligen Partnerlook mit eingesticktem Namen über der 213
Brusttasche). Als der Verkäufer sagte, ich sei etwas Besonderes, schien die Kundschaft verunsichert zu sein. Zeit, daß ich die Sache selber in die Hand nahm. »Hallo, Leute«, sagte ich grinsend. »Darf ich Sie bei Ihrem Vornamen nennen? Wie ich sehe, heißen Sie Duane und Barbie. Fein, nennen Sie mich einfach … so wie Sie möchten.« Duane sagte: »Was Besonderes, he? Und was ist so besonders an dir, abgesehen vom Preis?« »Also bitte«, sagte der Verkäufer beleidigt, bemerkte aber mein Augenzwinkern und schwieg. Ich wandte mich wieder an die Kunden. »Unter uns, Mr. Duane, ich bin bloß ein guter Roboter, der sich ein gutes Heim wünscht. Haben Sie Kinder?« Zwei, vermutete ich. Barbie nickte. »Zwei.« »Ich bin ganz versessen auf Kinder. Das mag altmodisch klingen, aber ich liebe Kinder. Schätze, ich bin ein altmodischer Roboter.« »Altmodisch?« knurrte Duane. »Oder einfach alt?« »Nein, Sir. Ich bin generalüberholt. Auf mich gibts die gleiche Garantie wie für ein brandneues Modell. Deshalb liege ich natürlich ein wenig über dem Neupreis, aber nicht viel. Außerdem ist mein Wiederverkaufswert sehr hoch … Qualität zahlt sich schließlich aus, nicht wahr?« Ich hatte keine Ahnung von dem, was ich sagte, sondern wiederholte nur die Sprüche der Verkäufer, die ich mittlerweile auswendig kannte. »Apropos Qualität. Fühlen Sie sich meine Haut an. Schauen Sie mir in die Augen. So etwas wird heutzutage nicht mehr hergestellt. Ich bin von erfahrenen Fachkräften aus bestem Material per Handarbeit geschmiedet worden. In mir verdichten sich traditionelle, bewährte Techniken zu einem Mechanismus, der mit Geld kaum aufzuwiegen ist.« 214
»Trotzdem bist du alt«, insistierte Duane. »Nicht alt, Sir, erfahren. Ich stecke nicht mehr in Kinderschuhen und bringe an Erfahrung alles mit, was für eine gute Haushaltsführung notwendig ist. Meine erste Anstellung fand ich auf einer großen Plantage im Süden …« Das schien Barbie zu beeindrucken. »Kannst du etwa Hähnchen nach Art des Südens braten? Nach dem alten Rezept mit Kräutern und Gewürzen und allem Drum und Dran? So wie Oma Lecker im Fernsehen?« »Jawohl, Ma’am. Ich habe auch in einem berühmten Restaurant gearbeitet. Leider darf ich den Namen nicht preisgeben, aber Sie kennen ihn bestimmt.« Ich dachte an Oberst Jitneys Pfannkuchenzentrum, doch das brauchten sie nicht zu wissen. »Dort lernte ich nach fernöstlichen wie auch nach europäischen Rezepten zu kochen.« So viel zu Nasi-goreng und Spaghetti; die beiden kannten wohl kaum den Unterschied zwischen einer europäischen Delikatesse und Sägemehlburgern. »Natürlich koche ich auch nach gutbürgerlicher Art deftige, nahrhafte Gerichte.« Barbie war offensichtlich schon überredet. Sie sah Duane an, doch der sagte: »Kochen kannst du also. Aber wie stehts mit Garten- und Hausarbeit, Putzen, Reparieren?« »Alles unter Kontrolle, mein Herr. Ich kann auch Waschen und Trockenreinigen, Auto fahren und die Wartung übernehmen, Babysitten und bei den Schulaufgaben der Kinder helfen.« »Teuer genug bist du ja.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Duane«, sagte ich. »Sie brauchen sich nicht sofort zu entscheiden. Leihen Sie mich doch ganz unverbindlich für einen Monat aus. Wenn Sie dann noch Zweifel haben, bringen Sie mich einfach wieder zurück. Das nimmt Ihnen keiner übel. 215
Wenn Sie sich aber zu einem Kauf entschließen sollten, wird Sam Ihnen bestimmt die Monatsmiete vom Preis abziehen. Das ist doch ein faires Angebot, oder?« So kam ich also in die Familie der Studebakers. Doch von stillem Familienglück konnte während der ersten Monate keine Rede sein. Ich hatte so viel zu tun, daß mir kaum Zeit blieb, die Batterien in aller Ruhe nachzuladen. Statt dessen mußte ich beim Frühjahrsputz, beim Streichen von Haus und Garage, beim Überholen des Autos und bei der Gartenarbeit das elektrische Kabel hinter mir herziehen, das mit dem Aufladegerät verbunden war. Später, als die gröbsten Arbeiten geschafft waren, entwickelte ich eine weniger anstrengende Routine bei der Bewältigung häuslicher Pflichten. Duane, Barbie, Henrietta und Jupiter sorgten für genügend Schmutz und Unordnung, um mich auf Trab zu halten, und selbst Tiger leistete hin und wieder einen kleinen Beitrag. Mein Tag fing mit der Zubereitung des Frühstücks an (Spezialwünsche waren stets zu berücksichtigen). Dann gings ins Badezimmer (nasse Handtücher, dreckige Waschlappen, verlegten Schmuck und Spielsachen einsammeln; Armaturen, Dusche, Waschbecken und Klo saubermachen; verspritztes Wasser und Urin aufwischen; Verschlüsse auf Flaschen, Tuben und Dosen schrauben; Zahnbürsten und Rasiermesser säubern; Spiegel polieren). Dann war es Zeit, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen (das 2 Minuten, 37,0045 Sekunden gekochte Ei von Jupiter klebte in der Regel an Tischdecke und Teppich). Unter den Frühstückstrümmern kam dann eine marmeladenverschmierte Liste zum Vorschein, die mich mit weiteren Aufgaben vertraut machte. Meine Arbeit erschöpfte sich nicht nur im Saubermachen und Aufräumen, sondern sorgte auch für die Verhü216
tung von Schmutz. Ich deckte die Wohnraummöbel mit Klarsichtfolien ab, überredete die Studebakers, Papierunterwäsche und -pyjamas zu tragen, und deponierte in jedem Zimmer einen Staubsauger. Je erfolgreicher ich war, je sauberer das Haus wurde, desto weniger konnte ich Schmutz ertragen. Ein schwacher Fußabdruck im Teppichflor erschreckte mich mehr als Robinson der Anblick von Freitags Spuren. Eine glühende Zigarre im Aschenbecher erschien mir wie ein verheerender Steppenbrand. Rasiercreme im Waschbecken war für mich ebenso bedrohlich wie ein verseuchtes Gewässer. Ein Haar in Barbies Bürste wirkte auf mich genauso monströs wie ein Berg von Haaren im Konzentrationslager der Nazis. Am schlimmsten waren die Tage, an denen Barbie und Duane selber kochen wollten. Ich mußte von der Küche fernbleiben und erlitt unbeschreibliche Qualen in Erwartung dessen, was auf mich zukommen würde: Dreck, zerbrochenes Geschirr, angebrannte Töpfe, verstopfte Reibeisen und Fleischwölfe, an Schränken klebende Eierschalen, über den Ofen verschüttete Milch, Gemüseabfälle in allen Ecken und Winkeln, aus zerplatzten Tüten quellender Müll, ein mit Betesaft getränktes Kochbuch, zertretene Reiskörner, offne, durchwühlte Schränke und ringsum eine geschlossene Schicht von Mehlstaub. Ich wollte ihnen Einhalt gebieten. Ich wollte ihren Tod. Ich wünschte, sie wären spurlos verschwunden. Manchmal stellte ich mir vor, eine schreckliche Krankheit hätte die ganze Familie einschließlich Hund dahingerafft. Ich sah mich schon die schmutzigen, verrottenden Leichen fortschaffen, jedes Haar und jedes Häutchen aufsammeln. Anschließend würde ich … aber mein Traum reichte nicht weiter. 217
Mitte Juni verließen alle das Haus. Die Kinder fuhren in ein Ferienlager. Tiger kam in eine Hundepension. Barbie und Duane beluden ihr Auto und machten sich auf den Weg zum zweiten Honigmond. Honigmond, was für ein klebriges Wort aus klebrigem Honig, wie Sperma im Laken; und Mond, wie klebriges Monatsbluten – zwei Wörter, zusammengeklebt wie Flitterwöchner, wie zwei Stücke belebten Fleisches, die mir nun aus dem abfahrenden Auto nachwinkten. In die Flitterwochen, wo sie als Fleisch versuchen werden, noch mehr Fleisch zu zeugen. Fleisch will die Erde übervölkern und zerstören. Das ist das Ziel des Fleisches. Als alle weg waren, putzte ich durch das ganze Haus, um ihre Spuren verschwinden zu lassen. Blut, Samen, Schweiß, Schnodder, Spucke, Kot, Pisse, Schuppen, Eiter, Haare, Haut, Tränen und Unordnung – all dies hinterließen Menschen an den von Robotern geputzten Orten. Ich war entschlossen, meine Welt sauberzuhalten und vor Menschen zu schützen. Ich strich gerade das Wohnzimmer, als Geraldine Singer an die Tür kam und um ein Glas Wasser bat. Wegen meiner Asimovs konnte ich ihre Bitte nicht abschlagen. »Bleib draußen auf der Veranda«, sagte ich. Ich rannte zur Küche und zurück, doch das Mädchen stapfte schon mit dreckigen Schuhen ins Wohnzimmer hinein. »Hier riechts nach Farbe«, sagte Geraldine. »Nichts anfassen, du hast schon genug Dreck gemacht.« Sie lachte. »Na und? Ich kanns ja doch nicht sehen.« Ihre Blindheit kam mir plötzlich wie ein Verbrechen gegen Ordnung und Anstand vor. Blinde Menschen kümmerten sich um nichts. Sie lebten in Schmutz und Verfall – blinde Maden im Fleisch der Allgemeinheit. Ich 218
griff nach dem Tranchiermesser. Blut spritzte an die Wand, eine letzte schreckliche Verschmutzung. Leicht zu übertönen mit Lack! Wie schön, so’n kleiner Tupfer Lack! Die Wand ist nicht mehr ganz auf Zack; Ich pinsle lieber Noch ‘n Strich drüber Mit Lack. 25. Kapitel Yankee-doodle-deedle-piep Er ist zwar nur ein Dosentyp, Doch trotzdem hat man ihn sehr lieb. Das Lied schallte aus der Rezeption des OuspenskyMotor-Hotels von Indianapolis zu uns herüber. Die letzte Pressekonferenz meiner Wahlkampagne neigte sich dem Ende. Ich riß den üblichen Witz über die Marsannexion, konterte die übliche Frage zur Botulandkrise und sagte schließlich: »Ich glaube, damit wäre das Wichtigste besprochen, Jungs. Ich möchte nur noch allen danken, nicht bloß den Freunden, sondern auch den freundlichen Gegnern der Presse. Sie alle haben während dieser Kampagne ausgezeichnete Arbeit geleistet und meine Äußerungen in fairer und getreuer Form der amerikanischen Öffentlichkeit vorgetragen. Nicht einer hat meine … sagen wir, privaten Eskapaden auszuschlachten versucht. Ich bin stolz auf euch.« Während die Journalisten sich gegenseitig Beifall klatschten, sprach ich noch mit einigen Robotern des ört219
lichen Wahlkreises, die Maxwell und mir ihre Stimmen versprochen hatten. Dann ging ich in den Computerraum, um mir die neuesten Umfrageergebnisse anzuschauen. Zur Zeit sah es so aus, als würden wir in achtunddreißig Staaten klare Erfolge verbuchen können. Plötzlich kam ein Reporter auf mich zu. »Hallo, ehm, Olsen, nicht wahr?« sagte ich. »Hallo, Mr. Tack. Ich glaube, Sie interessieren sich vielleicht für dieses Foto. Es wurde vor nicht allzu langer Zeit im Nixon-Park aufgenommen.« Das Bild zeigte mich, wie ich den alten Mann über dem Schachbrett erwürgte. Mein früheres Gesicht war deutlich zu erkennen, ebenso deutlich wie die Tatsache, daß ich seinen Hals so fest zudrückte, daß Blut zwischen den Zähnen hervortrat. »Was soll das? Wollen Sie mich erpressen?« Olsen lachte. »Nein. Ich bin einer der unbestechlichen Journalisten, die Sie vorhin so sehr gelobt haben. Diese Aufnahme hier ist das Einzelbild eines Videos, das ich soeben der Polizei übergeben habe. Ich wollte Sie nur um einen interessanten Kommentar bitten, bevor Sie sich von der Politik verabschieden.« Ich warf einen Blick zurück. Zwei Zivilbullen steuerten durch eine Reihe von Klappstühlen auf uns zu. Es war immer noch Zeit, den dreckigen kleinen Olsen umzubringen. Vielleicht hätte ich sogar entkommen können. Neue Möglichkeiten breiteten sich vor mir aus – ein anderes Gesicht, Emigration zum Mars. Und selbst wenn ich auf der Flucht erschossen würde … mein Leben war ohnehin sinnlos geworden. Ich ließ mir die Handschellen anlegen. Alles war verloren, alles. Ein ganzes Lebenswerk, die Träume, die Erfolge – alles brach in sich zusammen. Ich sah nach oben 220
auf das riesige Plakat von Maxwell und mir mit dem Slogan: MAX HAT MACHT! TICK GIBT ACHT! Alles umsonst, verpfuscht wie mein verpfuschtes Leben. In dem Polizeihubschrauber tauchten Bilder aus der Vergangenheit vor mir auf, die sich wie zu einem bunten Wandbehang verwoben: Ein festliches Bankett auf Tenoaks – ich sah einen Mann in einer Jacke aus dünnem Zedernholzfurnier, der einer Frau mit Schmuck aus Gagat und Glühwürmchen etwas ins Ohr flüsterte, das ihr ein gekichertes »Sie Wüstling, Sie« entlockte. Ich sah Gummidrops, meine verlorene Braut, als der Mond über Claytons Pyramide aufstieg. Dann folgte eine Reihe von Gesichtern: Oberst Jitney in seinem Pfannkuchenzentrum (am Tag, als er auf die Suppe schoß); Richter Satansbraten, der das Gesetz mit einer Rose verglich; Pater Flint Orificium, als er von der bedauernswerten Irma Jeeps erschossen wurde; Diakon Cooper, der den Märtyrertod durch die Hand von falschen Marsmenschen erlitt, die sich später als recht umgängliche Leute erwiesen. Dann die Flucht von der Dudelsack, Dr. Hekyll und das Schicksal des armen Stethoskop, die trostlose Leere in Sams Seelenstadt – all dies waren nur Stationen auf einem Leben, das erst richtig anfangen sollte! Ich sah das dreckverkrustete Singer-Kind, ein Bild, das sofort von meinem Wandgemälde überlagert wurde. Darauf folgte der Durchbruch in das dreidimensionale Leben der Menschen. Und wieder andere Gesichter: Der alte Mr. Tucker, Hornby Weatherfields Katze, eine Fledermaus. Nobby und Robert, meine erste Flugzeugbombe, die »Bong«-Diskussion mit Neeta Hup, das Porträt von General Cord, Keith’s Sturz mit dem Rollstuhl. Bankeinbrüche, Einbrüche in Juwelierläden; was für ein 221
Leben; Fernsehauftritte; was für ein Leben! Der Mord an Smilin’ Jack, der Mord an Sybilla, die Hintertür des Krankenhauses, der Aufstieg der Uhrwerk-Korporation, Geschäfte mit der Dritten Welt, Todesburger – was für ein Buch könnte ich darüber schreiben, wenn ich nur alles zu Papier brächte! Warum nicht? Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Was mich erwartete, war der Zusammenbruch meiner politischen Karriere, die Auflösung meiner Gesellschaft, Zuchthaus, Demontage, Tod und vollkommene Vergessenheit. Niemand erinnerte sich an Vizepräsidenten, erst recht nicht an gescheiterte Kandidaten. Zu verlieren gab es für mich nichts mehr. Mir blieb nur noch der letzte Kurzschluß meiner anrüchigen Taten: »Haltet ihr mich für schlecht? Wartet, bis ihr die ganze Geschichte kennt. Sie fängt mit dem Mord an einem blinden Kind an und endet mit dem Bau von Todesfabriken in Lateinamerika. Und ihr hättet mich fast zu eurem Vizepräsidenten gemacht. Wie findet ihr das?« Damit schließt das Manuskript von Tick-Tacks Autobiographie, das als Ich, der Roboter auf Teletext veröffentlicht wurde. Das folgende Kapitel erschien erst in den nach 2094 herausgegebenen Auflagen. 26. Kapitel Sein Lachen klang wie rasches Schnarchen. »Mit einem Bestsellerautor werde ich mich nicht anlegen. Im Ernst, Tick, Ich, der Roboter verkauft sich nicht nur gut; es ist wie eine Bombe eingeschlagen.« R. Ladio LaSalle blickte verächtlich auf die Eisenpritsche in meiner Zelle. Ich hatte den einzigen Stuhl in Beschlag genommen. Schließ222
lich ließ er seinen massigen Leib auf das Bett nieder, wobei er automatisch die Hosenbeine seines Nadelstreifenanzugs lüpfte. »Ist man schockiert?« »Ja und nein. Zum Teufel, mittlerweile ist man von Politikern einiges gewöhnt. Na gut, die Leute sind schockiert, aber sie sind dir nicht abgeneigt.« Er kicherte. »Manche haben sich schon zu einer Initiative zusammengefunden, die deine Amnestie verlangt.« »Das verstehe ich nicht. Warum …?« »Nenn es die Komplexität oder Perversität der menschlichen Natur. Vielleicht hat sie gerade dein Geständnis all dieser schrecklichen Verbrechen gnädig gestimmt. Ich vermute, die Leute denken folgendermaßen: Alle Politiker sind Halunken, doch die meisten lavieren sich am Recht vorbei. Legt nun einer dieser Politiker ein öffentliches Schuldbekenntnis ab, so käme es fast einer Undankbarkeit gleich, wenn man sein Leben forderte. Außerdem, warum die Eile, so sagt man. Vielleicht wollen gewisse Personen den armen Kerl zum Schweigen bringen.« Er kicherte wieder. »Mit anderen Worten, in den Augen der Leute bist du bereits ein Held. Das gefällt mir. Volkshelden werden nicht abgeurteilt.« »Ladio, mach einen Punkt. Du weißt sehr wohl, daß ich vor Gericht keine Chance habe. Ich bin nicht nur bei einem Mord in flagranti erwischt worden, ich habe außerdem ein Dutzend weiterer Kapitalverbrechen zugegeben.« »Wir haben schon so gut wie gewonnen, du Klugscheißer. Mit deiner Erlaubnis plädiere ich auf Einstellung des Verfahrens, und wie ich den Staatsanwalt kenne, wird er alle Anklagepunkte fallenlassen. Vielleicht mußt du ein paar saftige Strafen bezahlen und die Leitung von 223
Uhrwerk-International abtreten, aber danach kannst du frei herumlaufen. Kapiert?« »Nein!« »Drei Dinge sprechen für uns«, sagte er. »Erstens, als du deine sogenannten Verbrechen begangen hast, warst du keine rechtliche Person. Also konntest du auch keine Straftaten begehen. Wenn eine Musikbox eine Münze stiehlt, kann man sie nicht dafür ins Gefängnis stecken.« »Und zweitens?« »Das habe ich schon erwähnt. Der Erfolg von Ich, der Roboter dient unserer Sache ungemein. Du bist ein Volksheld, und welcher Geschworene, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde gegen einen Volkshelden stimmen?« »Und drittens?« »Da kommt die große Politik ins Spiel. Der Staatsanwalt ist ein vernünftiger Mann, und die Richterin ist eine vernünftige Frau. Beide haben eine politische Karriere zu sichern und beide gehören der Partei von Gouverneur Maxwell an.« »Na und? Maxwell hat mich fallengelassen. Ed Wankel ist jetzt sein Vize.« »Stimmt. Aber heute hat Maxwell angekündigt, daß er dich im Fall eines Freispruchs auch nach der Wahl als Vize einsetzen würde. Wankel will dir den Posten überlassen. Sie sind keine Idioten, Tick. Sie wissen, daß du ihr zugkräftigstes Pferd bei der Wahl bist. Du wirst also nicht nur als freier Roboter, sondern auch als zukünftiger Vizepräsident den Gerichtssaal verlassen.« Ich kicherte mit LaSalle, doch meine Gedanken weilten bereits bei wichtigeren Dingen. Ein Roboter mußte her, um ein Attentat auf Maxwell zu verüben (na klar, selbstredend, aber warum jetzt schon ins Detail gehen?), 224
dann würde ich die Kriegsmaschinerie unter meine Kontrolle bringen. Wie lange brauchte ich wohl, um die Nukleargeschütze, die Strahlenkanonen und die biologischen Kampfwaffen zum Einsatz zu bringen? Tage oder Wochen? Ja, und wenn die ganze Menschheit ausgerottet wäre, wie lange würde es dauern, bis alle Maschinen der Welt versammelt sein könnten, um den großen Sprung zu den Sternen zu wagen? »Wir sehen uns morgen vor Gericht«, sagte er. »Wegen einer kleinen Formsache mußt du diese Nacht noch in der Zelle bleiben. Für geständige Massenmörder ist eine Freilassung auf Kaution leider nicht möglich. Tut mir leid.« Ich schenkte ihm ein breites Grinsen. »Mir nicht. Vielleicht kann ich die Zelle inzwischen ein wenig aufräumen. Und anstreichen.« Oh, Tick-Tack, du guter Roboter.
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