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D/e Armee des Iropenwaldes 1
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D/e Armee des Iropenwaldes 1
V ^ - s ist kurz vor der alljährlichen Regenzeit. Pflanzen, Tiere und Menschen lechzen nach Wasser. Zahllose Brände flackern in den afrikanischen Steppen und Urwäldern auf. Dunkle Rauchpilze stehen unbeweglich in der flimmernden Luft. Matt pulst das Leben in der unbarmherzigen Glut. Aber unaufhaltsam und unerschöpft schiebt sich eine gewaltige Heeressäule mitten durch den dichtverwachsenen Wald. Sie überwindet spielend jedes Hindernis und braucht weder Pfad noch Kompaß. Streng geordnet, von auserwahlten Spähern rechts und links gesichert, von starken Vor- und Nachhuten gedeckt, wälzt sie sich vorwärts. Tausende und Abertausende von gelblichen Ameisen sind unterwegs. Die Tiere ringsum haben in einer seltsamen Fernwitterung die nahende Katastrophe gespürt. Die Ähnung einer furchtbaren Bedrohung hat alles Lebendige erfaßt. Hals über Kopf stürzen Spinnen und Käfer, Kakerlaken und Wanzen aus ihren Schlupflöchern und irren gehetzt ins Ungewisse. Entsetzt schnellen Schlangen und Echsen davon. Vögel flattern auf und umumkreisen schreiend ihre Erdnester."Verzweifelt krümmen Sich Raupen, Schnecken und Würmer. Mit eingezogenem Schwanz drücken sich die größeren Raubtiere seitwärts in den Busch. Und selbst die Elefantenherde verkriecht sich vor dieser gelben Heeressäule in die Schattentiefe des Urwaldes. Es ist ein schrecklicher Tod, unter den Bissen der wandernden Treiberameisen, der berüchtigten Siafus, zu sterben. Scharf und giftig sind ihre Kiefer und unvergleichlich ihre Angriffswut und ihr Hunger. Der Hunger allein ist es auch, der diese Fleischfresser vorwärtstreibt. Auf Raub und Mord ziehen sie aus. Ihre Beute ist jegliches Getier über und unter der Erde. Selbst mit vollgefressenen Riesenschlangen werden sie fertig. Sie plündern die Erdnester der wehrhaften Wespen und die bürgen der Ameisen, sie fassen den Engerling in der Erde und die Larve im faulenden Holz, sie zerren die Grille aus ihrem Loch und die Spinne aus ihrer Röhre, sie überrumpeln den gepanzerten Käfer und die stinkende Blattwanze, sie töten den Jungvogel im Nest und den frischgeworfenen jungen Sauger. Vor ihren schrecklichen Kiefern gibt es nur eine Rettung: die Flucht. Am furchtbarsten 2
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wüten die zwei Zentimeter g r o ß e n Krieger, aber auch die kleineren Arbeiter w e r d e n mit ihren rasenden Giftbissen zu grausigen W ü r g e r n . Jetzt schwärmt die A r m e e plötzlich aus. Die Späher haben eine große Termitenburg gemeldet. Im Nu ist der Ring um die wie ein Turm hochaufragende Festung der Erbfeinde gebildet. Die Wehrlosen Termitenarbeiter sind tief in das Innere geflüchtet und haben ihre bewaffneten Krieger an die Tore geschickt. Sie tragen als Waffen scharfe Kieferzangen, mit denen sie sich zu w e h r e n verstehen. Die Kiefersoldaten der Termiten sind eine zähe und verbissene Mannschaft. Mit ihnen sind die Nasensoldaten vor die Burgtore geeilt. Sie haben für die Angreifer eine besondere Bescherung bereit: Klebrige Säfte, mit denen sie den Gegner überschmieren, bis er sich in einem Gespinst v o n zähen Fäden verhaspelt hat und überwältigt werden k a n n . Aber die Termitenkrieger sind ohne Panzer, ihre Leiber sind weich
Termitenhügel fin Alrika) sind besonders begehrte Ziele für die Raubzüge der Wanderameisen. Das innere besteht aus einer sehr harten, aus Holzstücken zusammengetragenen Masse. Außen sind die bis zu 6 Meter hohen Bauten von einer Erdschicht überzogen 3
und ungeschützt. Auf die Dauer sind sie jedem besser gewappneten Angreifer unterlegen. H u n d e r t e und Tausende der wild a n s t ü r m e n d e n Treiberameisen werden v o n den wahrhaft todesmutigen und sich aufopfernden Wächtern der Burg getötet. Aber unaufhaltsam wälzen sich n e u e Scharen der Angreifer h e r a n . Die Verteidiger fallen und werden zerrissen. Und nun ergießt sich das angreifende Heer in die Burg und beginnt ein fürchterliches Gemetzel unter den wehrlosen Arbeitstieren, den N y m p h e n und Jungtieren. W a s die Räuber nicht an Ort und Stelle v e r z e h r e n können, das schleppen sie zerstückelt mit sich fort. Die einzigen, die sich freuen, w e n n die Siafus kommen, sind die afrikanischen Farmer. G e r n r ä u m e n sie dann Haus, Hof und Stallung dem anrückenden Heer und ziehen sich mit Sack und Pack und allen Fleischvorräten, mit ihren Stalltieren und dem Geflügel zurück. Sie wissen, daß sich diese A r m e e nicht lange aufhalten wird, daß ihren Durchzug aber weder W a n z e noch Floh, weder Spinne noch Termite, w e d e r M a u s noch Ratte überleben werden. Die Treiberameisen sind die besten Kammerj ä g e r Afrikas und leisten gründliche Arbeit. Nicht nur die Behausungen, auch die Pflanzungen w e r d e n durch sie v o n allen Schädlingen befreit.
Linkn turmartige Burgen der australischen Kompaß-Termiten, die genau in Nord-Süd-Rlditung tieften. — ReahU Termitenbau In der Maualiteppt Alrikai i
Links.- dl» oeiQrdi iefe Wanderameis» (in iluaeiioies Weibchen, ein gellügel • (es Männchen und darunfer zwei verschieden große Arbeiter. Redita: Der Hauptfeind der Wanderamelae, der „Kielersoldat" der Termiten mit feinem riesigen Kop! (oben) und den bei den unsymmetrisch vorgestreckten Kie lern. Was die Siafus-Ameisen in Afrika, das sind die Taocas-Ameisen in Amerika. Unter ihnen gibt es sogar völlig blinde Arten.
Die Termiten, die so häufig von Ametsenzügen überiailen werden, begeben sich selber ott aus ihren Verstecken aui Wanderschaft, um Proviant einzuholen. Ein ununterbrochener schwarzer Strom von Tieren zieht viele Stunden dahin, Hunderttausende von Arbeitern und Soldaten nehmen daran teil. Die Arbeiter marschieren in der Mitte, links und rechts werden sie von Soldaten geschätzt, die eine streng geordnete Postenkette bilden. Bei Gelahr, die besonder» von hngrilfslustlgen Ameisenvölkern droht, setzen die Soldaten Ihr» Klebdrüsen in Tätigkeit und beschießen aus langen Stirnnasen die Gegner. Bedrohungen werden mit Windeselle durch dt* Pottenkett* nadi hinten gemeldet I
Unglaublich schnell wandern diese blinden Treiberameisen ja ihren aufgeworfenen Laufgräben dahin, während sehende Späher ihren Zug sichern. Und beide, die Siafus wie die Taocas, sind echte Zigeuner, die keine feste Heimat haben und nur vorübergehend, meist während der Regenzeit, in eroberten, fremden Burgen oder hohlen Baumstämmen verweilen. Es wird berichtet, daß sie nicht einmal während der Brutzeit seßhaft werden, sondern gleich nach der Eiablage weiterwandern und ihre Larven und Puppen mit sich in die Fremde schleppen.
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Der Schrecken der Jarmer
o nützlich dem Menschen die ewig hungrigen Treiberameisen im Kampf gegen die tierischen Schädlinge werden können, so verderblich wirken sich die Raubzüge der Visitenoder Blattschneiderameisen, der Saubas, für den brasilianischen Farmer aus. Wehe der Orangen- oder Erdbeerpflanzung, die das Ziel eines solchen Sauba-Heeres wird! Unbemerkt und nächtlicherweise naht sich der zu einer Riesenschlange zusammengefaßte Zug der Abertausende, schwärmt aus, erklettert die Büsche und Pflanzen, und mit ihren scharfen Kieferscheren beginnen nun die Tierchen, ovale, daumennagelgroße Stücke aus den Blättern zu säbeln. Es regnet Blattschnitzel. Die Saubas verstehen ihr Handwerk und kennen keine Ermüdung. Gegen ihre Kieferscheren sind die Freßwerkzeuge der Raupen und Blattkäfer geradezu harmlos. Noch ehe eine Stunde vergangen ist, stehen die Pflanzen und Bäume entlaubt, dem Erstickungstod ausgeliefert. Der Heereszug aber ordnet sich wieder. Jede Ameise trägt ihr Blattstück wie ein Sonnenschirmdien zierlicii über sich. Geschlossen rücken sie ab, schwenken die kleinen grünen Fahnen und lassen schwer getroffene Farmer und sterbende Pflanzen hinter sich. Es hat manches Kopfzerbrechen bereitet, bis man dahinter kam, weshalb die Saubas eigentlich so viele Blattschnitzel in ihre unterirdischen Burgen schleppen. Zuerst nahm man an, die verwesenden Blätter dienten den Ameisen als Wärmequellen
an kalten Tagen. Erst viel später beobachtete man, daß sie diese Blätter fein zerkauten und sorgsam einspeichelten, bis sie zu einem Brei wurden. Aus diesem Pflanzenbrei legten sie dann unterirdische Pilzgärten an. Die ganze Burg der Saubas ist ein einziger Gemüsegarten, in dem ein kleiner Pilz gezüchtet wird, der nahrhafte Fruchtköpfchen entwickelt. Sie sind die einzige Nahrung, die die Saubas zu sich nehmen, und deshalb kann nicht genug davon in den Speisekammern ihrer Burgen gehamstert werden. Nomaden sind also diese Blattschneiderameisen nicht. Sie haben ihren festen Wohnsitz, zu dem sie zurückkehren. Aber sie dehnen ihre Raubzüge weit aus und scheinen je nach der Jahreszeit ganz besondere Blattarten zu bevorzugen. Um an dieses Blattgemüse zu kommen, unternehmen sie die wohlorganisierten und gefürchteten Raubzüge („Visiten") in den Anpflanzungen 7
Wanleiua* Ameisen dl» die Orientierung verlöret, haben, geraten manchmal in kreisförmige Bewegung unä rennen dann unaulhaltsam hintereinander her wie in einer Mühle. Zuletzt ist de; Schauplatz von Ameiser, übersät, die sich Im wöil liehen Sinne totgelaufen haben. Auch bei den Rie senwanderzügen der He ringe wurden solche Krelt Bewegungen beobachte!. Wir brauchen unseren Blick aber gar nicht erst nach Sud amerika zu richten, um solche w a n d e r n d e n Ameisenheere be obachten zu können. Auch die in unseren W ä l d e r n heimischen Blutroten Raubameisen marschieren in geschlossenen Kolonnen aus, um benachbarte A m e i s e n b u r g e n zu überfallen. Sie wollen nicht wie die Treiberameisen den gegnerischen Stamm ausrotten und auffressen, sondern wollen sich nur in den Besitz der Puppen bringen, die sie davonschleppen. Die Blutroten Raubameisen sind nämlich Sklavenhalter, die sich v o n den Arbeitsameisen a n d e r e r A m e i s e n a r t e n bedienen und auch ernähren lassen. Doch k e h r e n wir zu den echten W a n d e r e r n ohne Heimat und ohne festes Ziel zurück
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Hunderttausend glitzernde Glaskugel
ir schreiben das J a h r 1852. Der Frühling ist in d a s Land gezogen und die M a i e n s o n n e meint es gut. Im D e v a u e r Teich bei Königsberg k n o s p e n die Seerosen. Die W a s s e r o b e r fläche wimmelt v o n Libellenlarven, viele Tausende sind schon an den Schilfstengeln emporgekrochen und ihre Leiber schrumpf» ten unter der Sonne zu m e r k w ü r d i g e n Wesen zusammen. 8
Ein gewaltiger Schöpfungsvorgang roltlt vor unseren Augen ab. Aus unzähligen Larvengespenstern brechen jäh die Leiber der zukünftigen Libellen. Die Halme sind von den kopfunter hängenden, frischgeschlüpften Körperp wie mit großen grünen Körnern übersät. In kurzer Frist hat sich das Bild des Yeicnes ganz und gar geändert, und nach wenigen Sainden ist er ein einziges, die Augen blendendes Glitzern, Unzählige irisierende Liuellenilügel zittern und gleißen im stranieaüen Sonnenlicht. Und immer noch steigen neue Larvenscharen aus der Tiefe. Millionen von Libellen gebiert dieser eine Teich an einem einzigen Tagel Es ist, als seien die frischgeschlüpften Flieger wie gelähmt. In dichten Klumpen bleiben sie beieinander hocken. Der Teich aber speit immer noch Libellenlarven; weit über die Ufergebüscae hinaus ist das Schimmern der farbigen Körper und zitternden Flügel zu sehen. Tagelang verharren die Tiere in dieser Enge, bleiben auf kleinstem Raum zusammengedrängt. Dann aber ertönt plötzlich ein weithin hörbares Schwirren und Klirren. Wie auf ein gegebenes Zeichen haben sich die Unzähligen erhoben und brausen davon. Sie fliegen nicht hoch und — was den Beobachter am meisten überrascac — auch nicht schnell, obwohl sich die Libellen sonst gerade durch ihren reißenden Flug auszeichnen und gern die Falken unter den Insekten genannt werden. Ein Reiter könnte den Zug, ein langes und stundenlang vorüberziehendes Band, in gutem Trab muhelos begleiten. Die Heerschar ist im Durchschnitt sechsmal so breit wie hoch. Keines der Tierchen denkt, ganz im Gegensatz zur sonstigen Gewohnheit, während des Fuegens an Fressen, Räubern oaer an ein Verlassen der Reihe. Da es sich immer um lebhaft glänzende, also frischgeschlüpfte Tiere handelt, die mit guten Nahrungsreserven die Wanderung ins Ungewisse antreten, kann Hunger eigentlich nicht die Ursache des Wandertriebes sein. Man vermutet, daß die Libellen besonders empfindliche Organe für den Luftdruck und die Luftelektrizität besitzen und mit ihrem plötzlichen Massenaufbruch nahe bevorstehenden Wetterumstürzen . auszuweichen versuchen. So haben südamerikanische Forscher festgestellt, daß die Libellenschwärme ein sicheres Vorzeichen für außerordentlich heftige Sceppenstürme sind. Auch bei uns wurde beobachtet, daß sich die Libellen vor aufziehenden Gewittern ungewöhnlich unruhig gebärden. 9
Gewaltige Li bellenschwärme wurden schon 1761 von dem Abbe Chappe bei Tobolsk gesichtet. In Ziegenhals in Ober- 1 Schlesien wurde 1890 ein Heerhaufen beobachtet, der mehrere ' Kilometer breit war und dessen Durchzug vom frühen Morgen bis zum Mittag anhielt. Am 5. Juni 1900 brauste eine Libellen- J wölke über Belgien dahin; über einhundertsiebzig Kilometer erstreckte sich der Schwärm. Die Tiere gingen zur Rast ausgerechnet im Weichbild von Antwerpen nieder und verstopften die Straßen, so daß kein Wagen mehr fahren konnte, j Bäume, Dächer und Hauswände waren über und über mit glitzernden und farbenschimmernden Libellengirlanden gedeckt und behangen. Es war ein märchenhafter und zugleich beängstigender Anblick. 1918 wurden große Libellenzüge im Engadin, 1920 bei Chur und 1921 bei St. Moritz beobachtet. Glaubwürdige Seefahrer haben fliegende Libellenhaufen noch sechshundert Meilen vom Festland entfernt festgestellt.
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£andstrelcherdes Taltergeschlechts
J 0 t- andie unserer Väter werden sich vielleicht noch daran erinnern können, daß im Jahre 1908 alle Straßen, Plätze und Anlagen Münchens plötzlich von Kohlweißlingen wimmelten. In ungeheuren Scharen waren die Falter unterwegs und irrten durch die Straßen der Großstadt. Der Kohlweißling, dieser alltägliche Schmetterling, der unter den Faltern fast die Rolle des verachteten Spatzen spielt, wartet oftmals mit solchen Schauspielen auf. Immer wieder feiert er derartige Riesenauferstehungsfeste. Zu Hunderttausenden und zu Millionen ziehen die Schmetterlinge dann in dichtgebaUten, hellen Wolken dahin und halten hartnäckig die einmal eingeschlagene Richtung ein, als strebten sie einem ganz bestimmten Ziele zu. Es war bezeichnend, daß ein solch massenhaftes Auftreten der Kohlweißlinge immer dann erfolgte, wenn die Schlupf- f wespen, die in manchen Sommern durch die Ungunst der Witte- \ rung schwere Verluste erleiden, ein schlechtes Jahr hatten. In \ guten Schlupfwespenjahren werden die Kohlweißlinge näm- I lieh durch diese kleinen schwarzen Teufelsreiter*) derartig ! *) Vgl. hierzu das Heftchen .Insekten-Rätsel" (Lux-Lesebogen 36 Seite 13). to
jezehntet, daß ihre Zahl nicht übernanünehmen kann, ßln schönes Beispiel dafür, wie schnell die große Ordnung im Haushalt der Natur gestört wird, wenn nur ein Glied, in diesem Falle die Schluptwespe, ausfällt. Auch der Distelfalter ist ein Wandersmann, der aber gern mit anderen Schmetterlingen zusammen die große Fahrt ins Blaue antritt. So wurde er an der Nordwestküste Frankreichs in einem riesigen Zug mit Gammaeulen gesichtet, jenen metallglänzenden Nachtschmetterlingen. Der Schwärm war zehn Kilometer lang, und sein Durchzug währte viele Stunden. Die mit goldenen und silbernen Zeichen auf den Flügeln geschmückten Gammaeulen bildeten die unterste Schicht;' während die Distelfalter eine Höhe von ungefähr vierzig Meter einhielten. Zwischen den beiden Schichten aber zogen große Schwärme von Libellen dahin. Das gewaltigste Distelfalterheer wurde im Juni 1879 über Straßburg gesichtet. Es kam aus dem Süden. Seinen Weg vom Mittelmeerraum her konnte man an Hand der zahlreich einlaufenden Nachrichten ziemlich genau verfolgen. Bereits im April jenes Jahres beobachtete man den Heerzug über der Hafenstadt Algier. Er überflog dann die Straße von Gibraltar und traf Anfang Mai in Spanien ein. Ende Mai überquerte er die Pyrenäen, übersegelte Frankreich und die Schweiz und flog zwischen dem 3. und 8. Juni über Straßburg. Von hier aus scheint sich der Heerhaufen in einzelne Schwärme aufgelöst zu haben, die bald darauf in anderen Gegenden Frankreichs, über St. Gallen, am Bodensee und in Karlsruhe gesichtet wurden. Berühmt ist die Heeresstraße, die aus noch unbekannten Herkunftsgebieten Mexikos nach Südkalifornien und in andere südliche Landstriche der Vereinigten Staaten führt. In manchen Jahren sind die Faltervölker, die auf dieser Luftstraße nach Norden drängen, gar nicht mehr zu überschauen und die Zahl der Mitfliegenden fast unermeßlich. Im April 1942 wurde ein Distelfalterzug verfolgt, dessen Länge über 60 km betrug. Drei Tage lang schwärmte er über das kalifornische Land. In abgesteckten Flächen versuchte man die vorbeifliegenden Falter zu zählen. Man kam für den ganzen Zug auf eine Zahl von 3 Trillionen Faltern. Auch in der Nähe von Genf wurde einmal ein Distelfalterzug beobachtet, der, ziemlich stark aufgelöst, in fünfundzwanzig Kilometer Breite nach Norden eilte. Er n
war schon lange vorher von den Mittelmeerländern her angemeldet. Doch nicht nur der Kohlweißling und der Distelfalter sind Vagabunden. Auch der Totenkopffalter und der OleanderSchwärmer wandern in jedem Jahr aus den Mittelmeerländern über die Alpen und suchen den Weg nach Norden. Sie kommen' zwar nicht in solch gewaltigen Zügen und Schwärmen, und es sind bei ihnen keine ganzen Völkerschaften unterwegs, aber immer wieder treibt es einige kühne Abenteurerzüge auf die Reise, und immer wieder versuchen sie, den mitteleuropäischen Winter zu bestehen. Ein einzigartiges Schauspiel erlebten im Jahre 1856 die Bewohner der kurländischen Küste zwischen Libau und Windau. Auf einer Strecke von rund siebzig Kilometern (!) war die Küste fünfzehn Zentimeter hoch und zwei Meter breit von
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I Audi der Distellalter ist ein Wandersmann.
angeschwemmten Nonnenfaltern bedeckt. Ein starker Südoststürm hatte diesen Billionenzug der Falter aus den russischen Ostseeprovinzen aufs Meer hinausgeblasen. So ungeheuerlich uns diese Zahlenangaben erscheinen mögen, so werden sie doch glaubhaft, wenn wir wissen, daß während der Nonnenplage, die 1890 und 1891 den Ebersberger Park bei München heimsuchte, die Faltermenge in diesem einzigen Forst auf Hunderte von Millionen geschätzt wurde. Jeder einzelne Baum war bis in den "Wipfel hinauf von Faltern bedeckt, und an einem einzigen Stamm wurden bis zu hunderttausend Eier gezählt. Noch sind die Beobachtungen lückenhaft, und wenig weiß man über die Rückflüge der Ausgewanderten. Daß manche Falterarten oder ihre Nachkommen aus den nördlichen Anfluggebieten wieder' zurückwandern, steht heute fest. In den letzten Jahren hat man damit begonnen, wandernde Falter zu kennzeichnen, ähnlich wie man die Zugvögel mit Kennzeichen 12
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versehen hat, um ihren alljährlichen Flugwegen und Zielen nachzuspüren. Man kennte natürlich die Falter nicht wie die Vögel beringen; statt dessen tupfte man ihnen Farbflecke als Steckbriefe auf die Flügel. Aber auch diese Merkzeichen konnten bisher das Rätsel der Falterzüge nicht lösen.
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Raupenheere unterwegs
em Wandertrieb der Schmetterlinge steht der Wanderdrang ihrer Raupen nicht viel nach. Haben die Kohlweißlingsraupen ein Kohl- oder Rapsfeld bis auf die Strünke abgefressen, so vereinigen sie sich zu großen Heerhaufen und gehen gemeinsam auf die Suche. nach neuen Futtergründen. Sie scheuen sich dabei nicht, breite, staubige und vielbefahrene Straßen und selbst Eisenbahndämme zu überqueren. Von ihrem dunklen Trieb besessen, ertragen sie die fürchterlichsten Verluste, ohne sich von der eingeschlagenen Richtung abbringen zu lassen. Zwischen Brunn und Prag brachten sie es einmal fertig, selbst die Eisenbahnzüge zum Halten zu zwingen. Die Raupen schoben sich in solchen Massen quer über die Geleise, daß die eisernen Räder schmierig wurden, die Radkränze nicht mehr griffen und der Zug solange halten mußte, bis das Raupenheer den Bahndamm überwunden hatte. Wie die erfahrenen Globetrotter und Tramps der Neuen Welt scheinen die Raupenheere den glatten Schienenstrang als die beste und kürzeste Straße zu schätzen. Im Juni des Jahres 1908 blieb alltäglich ein Güterzug stecken, der zwischen den Stationen Knin und Spalato in Dalmatien verkehrte. Als Bremsen betätigten sich die Raupen des Schwammspinners, die auf den Geleisen von einem Eichenhain zum anderen pilgerten und sich für diese Wanderschaft regelmäßig die Morgenstunden aussuchten. In dicken Würsten, dicht an dicht, wie die Prozessionsspinnerraupen, schoben sie sich den Schienenstrang entlang und mußten von besonders eingesetzten Eisenbahnern mit großen Reisigbesen weggekehrt werden. Das gab dann immer eine gute halbe Stunde Verspätung für den Zug. Die einzelnen Kolonnen dieser Heere waren durchschnittlich 150 bis 200 Meter lang, die Masse der Tiere ging in die Millionen. 13
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Das tollste StucK aber Haben SICH die Schwammspinneiidupeu in Nordamerika geleistet. Ein Forscher hatte zu Studienzwecken eine Handvoll dieser Raupen aus Europa mit hinübergenommen, und von diesem Häuflein hatten sich drüben ein paar Reiselustige selbständig gemacht und waren entwichen. In knapp zwanzig Jahren hatten sich diese Ausreißer so ungeheuer vermehrt, daß sie im Jahre 1889 das Leben und Treiben der nordamerikanischen Stadt Medford gefährdeten. Die Straßen und Plätze waren teilweise so dicht von den wandernden Raupen bedeckt, daß Fußgänger und Fahrzeuge nicht mehr weiterkamen. Die Raupen drangen in die Häuser ein und überschwemmten die Wände in solchen Massen, daß vom Anstrich und von den Tapeten" nichts mehr zu sehen war. Sie fraßen in den Gärten alles Gemüse und in den Häusern die Zimmerpflanzen ab. Ein ekelerregender Geruch erfüllte die Luft. Die in Massen verendenden Tiere und die ungeheuren Kotmengen verpesteten die ganze Stadt. über hundert Quadratmeilen eroberte sich dieses Raupenheer und verwandelte sie in eine Wüste. Wieder einmal mußte man erfahren, wie bitter sich Tierverpflanzungen manchmal rächen können. Gerade die Schmetterlinge haben dem Menschen die Folgen unüberlegter Eingriffe in die lebendige Natur oft in schmerzlichster Weise vor Augen geführt.
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Der Wurm des Unheils
V ^ n t s e t z e n erfüllte die Herzen der abergläubischen Menschen des Mittelalters beim Anblick des nackten und geheimnisvollen Wurmes, der, gut drei Meter lang, schwerfällig wie eine Schnecke durch den dunklen Wald kroch und aus Tausenden und Abertausenden von schleimigen Maden zusammengesetzt war. Krieg, Mißwachs und Pestilenz leitete man von seinem Erscheinen ab und lief scharenweise ins Holz, um das unheimliche Tier zu betrachten und sich in düsteren Voraussagen zu ergehen. Jungen Frauen aber wurde der Wurm zum Vorzeichen reichen Kindersegens; sie breiteten ihre Kleider vor der schneckengleich kriechenden Schlange aus, und wenn sie darüber glitt, glaubten sie, daß das Glück mit ihnen wäre. Bis um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wußte
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Mode der seltsamen Trauet müdce, die sich mit Aber lausenden ihresgleichen zu einem „Heerwurm" vereinigt und auswandert. man noch nicht, daß es sich um die Larven der kleinen Heerwurmtrauermücke handelte, die sonst im modernden Laube leben und sich aus noch unbekannten Gründen des öfteren zusammenrotten und auswandern. Die schleimigen Körper der Maden verbinden sich während des Zuges zu einer Einheit, zu einer grauen Riesenschlange, die ungefähr eine Hand breit und etliche Meter lang ist. Im gleichen Takt schieben die Maden ihre hintere Körperhälfte vor und strecken danach den Vorderkörper aus. Hierdurch entsteht eine sanfte Wellenbewegung, die den Wurm langsam voranbringt. Auch für den aufgeklärten Menschen hat diese Völkerwanderung der Trauermückenlarven etwas Gruseliges und Spukhaftes an sich. Schon die graue und schleimige Beschaffenheit des Heerwurmes läßt dem Betrachter eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Noch mehr aber überrascht der zielbesessene Drang dieser Tausende von stumpfen Larven, die sich von keinem Hindernis aufhalten lassen, manchmal einen Baumstumpf wie ein Rinnsal umfließen, manchmal unter der Laubdecke verschwinden, und so unaufhaltsam vorwärtsstreben, bis sie irgendwo buchstäblich vom Erdboden verschluckt werden. Es wird uns dabei wieder bewußt, wie wenig wir doch trotz aller Mühe in die Welt der Tiere eingedrungen sind, und wie dicht sich immer noch die Schleier vor ihre Seele, ihre Triebe und Impulse legen. Unfaßlich bleibt es, wie diese Massen sich zusammenfinden, sich untereinander verständigen, und was sie treibt, ihre dunklen und modrigen Schlupfwinkel zu verlassen und sich auf die Wanderschaft zu begeben. Die Heerwurmtrauermücke gehört zur Gruppe der Pilzmücken und ist ein überaus zartes, knapp vier Millimeter messendes schwarzes Tierchen mit braungelben Beinen und schwärzlichen Flügeln. Sie legt ihre Eier in kleinen Häufchen in das modernde Bodenlaub unserer Wälder. Die Eier überwintern, und die ausschlüpfenden Larven ernähren sich von verwesenden Pflanzenteilen. In der Regel verpuppen sie sich auch unter dem Laub, ohne das Dunkel vorher zu verlassen 15
Nur manchmal fällt es ihnen ein, uns klugen Menschen ein Rätsel aufzugeben, an dem wir uns wohl noch manchen Weisheitszahn ausbeißen werden.
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I m Heuschreckensturm
\^y on Agadir an der marokkanischen Westküste ist eine kleine Karawane aufgebrochen und strebt in östlicher Richtung in das Innere der Hochsteppe. Gemächlich schaukeln die Kamele dahin, geduldig trotten die Esel, und die Pferde der Araber schäumen in den Gebissen. Die Karawane kommt gut voran, und aus der langen Reihe des gemächlich dahinziehenden Zuges klingt das muntere Geschwätz der Treiber. Plötzlich aber verfinstert sich das Gesicht des Anführers. Ein großes Insekt ist gegen die Stirn seines Pferdes geprallt Und hat sich an den Troddeln des Zaumzeuges festgekrallt. Eine hübsche, bunte, marokkanische Wanderheuschrecke! Mit einem Fluch packt der Araber das Tier und schleudert es wütend in den Sand. Scharf spähen seine dunklen Augen in die flimmernde Weite und entdecken einen Schatten, der sich wie eine Wolke über den Horizont geschoben hat und sich in rasender Geschwindigkeit nähert. Der Anführer reißt sein Pferd herum, gibt schreiend Befehle und galoppiert auf eine nahegelegene Ruine zu. Der Zug der Tiere schwenkt ein und folgt. Und es wird höchste Zeit, Deckung zu suchen. Knatternd und klirrend ist die Wolke nähergekommen. Schon prasseln allenthalben Heuschrecken gegen Tiere und Menschen. Die Pferde scheuen, und die Esel bocken. Bald waten die Tiere durch aufgeregt zuckende Heuschreckenleiber, die dicht den Sand bedecken. Mit der Wucht eines Wüstensturmes brausen Millionen und Abermillionen glitzernder Flügel heran. Die zertretenen Flieger wenden an Ort und Stelle von den gierigen Kinnbacken ihrer Genossen Zermalmt. Jetzt werden auch die Kamele unruhig. Sie schnauben ängstlich, blecken die Zähne und versuchen, die Lasten abzuschütteln. Die Esel werfen sich auf die Erde. Pferde gehen mit ihren Reitern durch. Und immer dichter wird der surrende Strom. 18
Die getürchtete Wanderheuschrecke, die durch ihr Massenauf treten von Zeit zu Zeit ganze Landstriche kahlfrißt. Mit ihren starken Kinnbacken greiit sie alles an, was nur irgendwie freßbar ist. Billionenzüge von Heuschrecken sind o't unterwegs und durchfliegen ganze Länder und Erdteile. Mit Mühe und Not wird die schützende Ruine erreicht. Hinter ihren Mauern liegen dicht beinander, bleich und zitternd, die Menschen, schwer atmend und in angstvoller Unruhe die Tiere, und lassen die Heuschrecken über sich hinwegbrausen. Es ist am hellen Tag so finster geworden, daß man kaum zehn Schritt weit sehen kann. „Ein finsterer Tag, ein dunkler Tag, ein wolkiger Tag! Gleichwie sich die Morgenröte ausbreitet über die Berge, kommt ein groß und mächtig Volk, desgleichen vordem nicht gewesen und hinfort nicht sein wird zu ewigen Zeiten für und für. Vor ihm her geht ein verzehrend Feuer und nach ihm eine fressende Flamme. Das Land ist vor ihm wie ein Lustgarten und nach ihm wie eine Einöde, und niemand wird ihm entrinnen. Sie sind gestaltet wie die Rosse und rennen wie die Reiter. Sie sprengen daher oben auf den Bergen, wie die Wagen rasseln und wie eine Flamme lodert im Stroh, wie1 ein mächtig Volk, das zum Streit gerüstet ist." Mit einer Sprach- und Bildkraft ohnegleichen berichtet der alttestamentliche Prophet Joel von der furchtbaren Plage eines Heuschreckeneinfalls. Immer ist der Ansturm der Wanderheuschrecken eines der gewaltigsten Naturereignisse, das über die Menschen kommen kann. Es gibt kein Entrinnein vor den Billionen und Aberbillionen dieser Riesenvölker. Denn sie bedecken wirklich „das Land und verfinstern es und fressen alles Kraut im Lande auf und und alle Früchte auf den Bäumen und lassen nichts Grünes übrig". Vor der Freßgier dieser ausgehungerten Horden ist nichts sicher. Getreide und Ackerfrüchte verschwinden unter ihrem Zugriff ebenso wie Kleidung und Gewebe, Teppiche und Lederzeug. 17
Schwere Stunden für die Karawanen! Halbe Tage Hegen sie oft geduckt, in den Sand gegraben, in den abgedichteten Zelten oder im Schutz eines nahen Gemäuers in verzweifelter Abwehr. Die bergende Ruine und die Umsicht des Anführers haben auch unsere Karawane vor dem Ärgsten bewahrt. Die anstürmende Heuschreckenwolke war nur ein verhältnismäßig schwacher Schwärm, doch währte es Stunden, bis die letzten Nachzügler vorüber waren. Kein Vergleich zu den Heerscharen, die man schon beobachtet hat. Sie verwandelten ganze Länder in Wüsten. Hungersnöte und Seuchen folgten ihnen auf dem Fuße Sie wurden zu einer wahren Geißel der betroffenen Völker
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Chronik der großen Heuschreckenplage
\^y on fürchterlichen Heimsuchungen durch die Wanderheuschrecken berichten die ägyptischen Denkmäler, die alten indischen Dichter, die Heilige Schrift und die griechischen und römischen Geschichtsschreiber. Die deutschen Unglückschroniken reichen bis zum Jahre 873 zurück. Die Fuldaer und Xantener Klosterjahrbücher erzählen von entsetzlichen Verheerungen. Bei uns waren es nicht die marokkanischen, sondern die europäischen Wanderheuschrecken, die, vorwiegend aus den südöstlichen Steppenländern kommend, weit nach Norden und Westen vorstießen, und, wo sie einfielen, verödete Landschaften zurückließen. Einer der folgenschwersten Wanderzüge drang in den Jahren 1333—1336 von Syrmien, der Landschaft zwischen der unteren Save und der Donau, nach Ungarn vor, überschwemmte Polen, Böhmen und Österreich, teilte sich dann in zwei Heersäulen, von denen die eine Italien und Frankreich heimsuchte, während die andere Bayern, Schwaben, Franken und Sachsen überfiel. Die Masse der Tiere, die damals unterwegs war, läßt sich woh! schwerlich noch nach Billionen berechnen, denn sie verwüstete das Wachstum und die Ernte aller Länder, die sie überflutete. Die Landschaft um Halle und Leipzig wurde im Jahre 1543 von der Spitze eines Heeres erreicht, das von Polen über Schlesien bis nach Mitteldeutschland vordrang. Die nachfolgenden Jahre, die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, brachten dann fast alljährlich Heuschreckenüberfälle, die die allgemeine Not \f>
doch verschärften. Da um diese Zeit in Buropa nui wenig Land bebaut wurde und die Brachwirtschaft noch weitgehend die Bauernarbeit bestimmte, konnte die Brut der Teufelsflieger sich mächtig und ungestört entwickeln. 1693 kamen die Schwärme auf vier Meilen Wegbreite aus dem böhmischen Raum und verwüsteten die Äcker um Jena, Erfurt und Weimar. Audi dieses Heer hatte sich in Ungarn gesammelt. Die Spitze erreichte Thüringen zwischen dem 18. und 20. Augustj es waren so viele Millionen, daß sie wie schwarze Wolken dahinzogen. Das Geräusch ihrer Flügel glich dem Brausen eines Wasserfalles. Um die Stadt Weimar lagen die Tiere damals zwei Hände hoch. Auch die Jahre 1683 und 1748 waren dunkle Heuschreckenzeiten, von denen heute noch Denkmünzen zeugen, die zur Erinnerung an diese fürchterlichen Wandergäste geprägt worden sind. Der letzte Einfall der Wanderheuschrecken erfolgte in den Jahren 1887/88 in Westpreußen und 1889 in der Mark. Es näherten sich in der Folgezeit wohl ab und zu noch einzelne kleinere Schwärme — man sah sie über Mittel- und Norddeutschland, ja über Schweden, England und Schottland —, jedoch vermochten sie keine schlimmen Verheerungen mehr anzurichten. Südrußland aber wurde in den Jahren 1879/80 und 1920 21 von diesen wandernden Schädlingen in fürchterlicher Weise bedrängt. In Elisabethpol waren im April 1879 die Straßen und Plätze ungangbar, und keiner der Bewohner wagte es, eine Tür oder ein Fenster zu öffnen, weil die freßgierigen Unholde blitzschnell die Häuslichkeit unbewohnbar machten. Alle offenen Stuben und Läden wimmelten von Heuschrecken. Die Bäcker konnten nicht mehr backen. Kanäle, Wasserläufe und Brunnen wurden verpestet. 1880 mußten im Distrikt Gori täglich zwanzigtausend Menschen zur Vernichtung der Tiere antreten. Eine wahre Sintflut von Heusdirecken bedeckte weite Gebiete so dicht und so hoch, daß zwischen Tiflis und Poti keine Züge mehr verkehren konnten. Die Donschen Steppen waren so kahlgefressen, als ob eine Feuersbrunst über sie hinweggefegt wäre. Auch 1920/21 richteten die Heuschrecken solchen Schaden an, daß unter diesem Ansturm der gefräßigen Insekten eine entsetzliche Hungersnot in Südrußland Millionen Todesopfer forderte. Im Jahre 1860 wurden in Bessarabien 128 367 Morgen Kulturland von den Heuschrecken in wenigen Tagen ratzekahl qefressen. Iva Gouvernement Cherson fielen den mörderischen :fj
Kinnbacken im gleichen Jahre 240 000 Morgen und in Taurien 130 000 Morgen guten Ackerlandes zum Opfer. R. H. France schildert in seinem Buch „Lebenswunder der Tierwelt" einen selbsterlebten Heuschreckeneinfall in einer ungarischen Stadt: „Mitten in eine Stadtstraße brach die fahlgelbe Wolke ein, nachdem ihr ein metallisches Rattern in den Lüften vorangegangen war, als sei esi wirklich ein Ritterheer, das sich da nähere. Mit einem Windstoß senkten sie sich. Bevor man noch wußte, was geschehen sei, waren Kopf, Schulter, Hände, Gesicht von den krabbelnden, aufgeregt umherschlagenden, fingerlangen Tieren bedeckt. Die Straße war eine hüpfende, quirlende Tiermasse, in der man keinen Schritt gehen konnte. Sie zerdrückten sich gegenseitig, so daß bald ein schlüpfriger, übelriechender Brei zuckender Leiber die Straße bedeckte. Sie krochen an den Kleidern auf den Leib und machten Miene, zu beißen. Alles in atemloser Hast, zitternd, mit hundert Maschinenbewegungen, gierig, gespenstisch, fünf. Minuten lang, worauf der ganze Schwärm mit einem Knistern und seltsamem Laut, als würden tausend Fächer in Bewegung gesetzt, ebenso rasch davonflog, wie er gekommen war. Er ließ nur einige Tausende Kranke und Leichen zurück, die sofort von den noch Bewegungsfähigen angeknabbert wurden. Rasche Flucht in ein Haus schützte vor der nächsten Wolke, die schon dunkel heranschwirrte und nach wenigen Minuten gegen die Fenster prasselte, als wäre es Hagel. Den ganzen Nachmittag währte dieses Schwärmen, und man stellte danach Schätzungen über die Zahl der Tiere an, die sich bis auf fünfzig Milliarden beliefen." Ist es da ein Wunder, wenn solch ein Heuschreckenschwarm in zwanzig Sekunden 20000 Tabakpflänzchen restlos von der Erde verschwinden lassen kann, wie es uns Marshall von einer amerikanischen Farm berichtet? Denn auch Amerika kennt die Wanderheuschrecke und hat Schwärme von zwanzig Kilometer Breite und hundert Kilometer Länge gemeldet, die ihren Verheerungszug 2800 Kilometer weit ausdehnten. Die gewaltigsten und fürchterlichsten Überfälle jedoch haben die reinen Steppenländer mit mildem Klima, also besonders die Länder um das Mittelmeer herum, zu ertragen. Eine kleine Vorstellung von der unfaßlichen Masse dieser wandernden Völker gewinnen wir, wenn wir hören, daß das Schiff „Amalie" im Jahre 1890 dreiunddreißig Stunden lang durch einen dicken, 20
schwimmenden Pilz ertrunkener Heuschrecken fuhr, denen über dem Roten Meer ein Sturm zum Verhängnis geworden war. Von einem ähnlich gestrandeten Heuschreckenheer berichtet Barrows aus Südafrika, wo die angespülten Tiere auf einer Länge von fünfzig englischen Seemeilen (rund 90 km) die Küste mit einer drei bis vier Fuß hohen Bank bedeckten und der Gestank der verwesenden Tiere das Land weithin verpestete.
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Die Geburt des fliegenden Heeres
V ^ ^ / i e ist es möglich, daß solch ungeheure Insektenheere zum Aufbruch kommen, welcher Trieb halt diese unermeßlichen Massen zusammen und heißt sie, hier oder dort in einen Landstrich einzufallen und nach kurzer Zeit zu erneuter Fernwanderung aufzusteigen? Welcher Sinn weist ihnen die Richtung und läßt sie den Kurs so hartnäckig einhalten, daß die ziehende Schar oft auch das schmälste Hindernis nicht umfliegt, sondern es zu überfliegen versucht? Kommt es doch vor, daß Zugfatter einem einsahen Haus, das in der Fiugrichtung liegt, nicht rechts oder links ausweichen, sondern an seinem- Front emporsteigen, das Dach überfliegen, um nach Überwindung des Hindernisses die alte Flugrichtung fortzusetzen. Man weiß noch wenig über diese Flugrätsel. Das Zustandekommen der Riesenscnwärme kann jedoch aus der erstaunlichen Fruchtbarkeit der Tiere erklärt werden. Heuschreckenmütter zum Beispiel haben die Gewohnheit, ihre Eier in die trockenen Sandböden der Hochsteppen oder Flußufer zu betten. Jedes Muttertier legt rund hundertfünfzig Eier in mehreren Häufchen von dreißig bis vierzig Scück ab. Die Eier werden mit Hilfe einer Legescheide, wie wir sie auch von unseren Laubheuschrecken icennen, drei bis vier Zentimeter tief in dem lockeren Boden abgelegt und mit einer klebrig-schaumigen Hülle umgeben. Und nun muß man sich vorstellen, daß Hunderttausende von Heuschreckenmüttern, auf engem Raum nebeneinanderhockend, zu gleicher Zeit je hundertfünfzig Eier ausscheiden. Einige Billionen Eier kommen da schnell zusammen. Und man muß weiter bedenken, daß diese Ablage auf einem, Boden geschieht, 21
der den ausschlüpfenden Jungen Kaum die dürftigste Nahrung bietet. Jetzt können wir uns schon ein Bild machen von dem schier unvorstellbaren Gewimmel von jungen Heuschrecken, die gewöhnlich nach neun Monaten diesen engen Raum bevölkern, wenn das Wetter nur halbwegs gnädig war und wenigstens die Hälfte der Eier ausreifen konnte. Jetzt verstehen wir auch, daß diese jungen Hüpfer, die noch keine Flügel haben, sonst aber ihren Eltern schon sehr ähneln, sich sofort auf die Wanderschaft begeben müssen, wenn sie nicht alle zusammen verhungern und sich gegenseitig erdrücken wollen. Und wenn sie, ungefähr vierzehn Tage alt, auch täglich nur einen Kilometer vorankommen, so gewinnen sie doch Raum und finden Futter. Nach drei Wochen sind sie schon stattliche Springer, die sich Sätze von mehr als einem halben Meter leisten. Und jetzt geht es flott voran. Zehn Kilometer werden nun täglich geschafft. Nach der fünften Häutung sind dann die Flügel ausgewachsen. Das Trampeln der Billionen Füße, das weithin hörbar war, verwandelt sich nun in ein knatterndes Rauschen. Sieben bis acht Kilometer in der Stunde leisten diese neuen Flügel. Je heißer die Sonne niederbrennt, umso unruhiger und lebhafter werden die Heere. Von überall her stoßen frisch aufgestiegene Heuschreckenwolken zusammen, vereinigen sich, schwellen zu einer brausenden und klirrenden Lawine an und stellen nun eine Masse dar, die wahrhaftig die Sonne verfinstert. Nicht unwesentlich für die Entstehung dieser riesigen Heere ist auch die Zählebigkeit der Wanderheuschrecke. Als echter Nomade kann sie ungewöhnlich lange hungern und wochenlang mit kärglichster Nahrung auskommen. Der abgetrennte Kopf bleibt noch zwanzig Stunden lang lebendig und der kopflose Rumpf springt stundenlang weiter. Der Bauch versucht selbst in diesem Zustand noch zu zeugen. Auch schwimmen können sie sehr gut. Bis zu achtzehn Stunden halten sie sich lebend im Wasser. Selbst ungeflügelte Wanderheere sind also imstande, breite Flüsse und Ströme zu überwinden. Die Paarungszeit setzt ungefähr vier Wochen nach der letzten Häutung ein. Während dieser Zeit verzehren die Tiere kein frisches Grün mehr, sondern halten sich an die dürren Gräser der zukünftigen Brutstätten. Bald nach der Paarung sterben Männchen und Weibchen.
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lm Kampl gegen die Unholde
nd wer es für unter seiner Würde hält, gegen einen solcuen Feind zu kämpfen, den werde ich aufknüpfen lassen!" Das war der Tagesbefehl, den der Pascha von Tripolis an seine gegen die Heuschrecken eingesetzte Armee von viertausend Mann gab* Seine Truppen waren übrigens nicht die einzigen^ die gegen diese Insekten in Bewegung gesetzt wurden. 1860 marschierten in Südrußland 15 000 Soldaten und während des ersten Weltkrieges in der Türkei 10 000 Soldaten unter der Führung deutscher Gelehrter gegen die Heuschrecken, auf. Der Kampf richtet sich in erster Linie gegen die Brut und die noch ungeflügelten Heere. Einfache Mittel haben sich dabei am besten bewährt. Quer zur Wanderrichtung wurden Zinkblechstreifen in die Erde gesenkt, die ungefähr dreißig Zentimeter hoch über den Boden aufragten. An den Enden dieser Zinkwand, die von den anmarschierenden Massen nicht überschritten werden konnte, hob man metertiefe Fanggruben aus. In diese Fanggruben stürzten die nach rechts und links drängenden Tiere und und wurden hier mit Rammen zerquetscht. 1917 gelang es in der Türkei, mit einer solchen, nur 800 Meter langen Zinkblechfalle in zwei Tagen über 100 000 Kilo junge Heuschrecken zu vernichten. Vierzig Mann genügten für diese Aufgabe. Auch das Feststampfen und das überwalzen des mit Eiern besteckten Bodens hat sich als sehr brauchbar erwiesen. Die jungen Tiere vermögen sich dann nicht aus der Erde empor* zuarbeiten. Ebenso werden die frischgeschlüpften Tiere mit Walzen überfahren. Selbst das Einsammeln der abgelegten Eipakete verlohnt sich. So wurden ebenfalls im Jahre 1917 in der Türkei nicht weniger als sieben Millionen Kilo Eier eingesammelt und damit über dreihundert Milliarden Heuschrecken unschädlich gemacht. Ausgebildete Beobachtungstrupps stellten vorher fest, wo die Eier abgelegt wurden und alarmierten dann die Vernichtungskolonnen. Die geflügelten Heere aber werden mit tödlichen Giften, mit Schmarotzerpilzen, Krankheitsbazillen und Giftgasen bekämpft. Mit dem aus Schweinfurter Grün hergestellten „Urania" vergiftet man die Pflanzen oder Lockspeisen, und die Heuschrecken 23
sterben daran. Schmarotzerpilze werden in bakteriologischen Instituten gezüchtet, ebenso ein Cholerabazillus, gegen den die Tiere sehr anfällig sind. Diese Seuche verbreitet sich unglaublich schnell in den großen Heeren. Schmarotzerpilze wurden mit großem Erfolg in Ostafrika und die Cholerabazillen in Argentinien zur Abwehr verwendet. In Amerika wurden gute Erfolge mit Giftgasen erzielt. Den einfallenden Schwärmen jagte man Chlorwoilten entgegen, in denen sie schnell zugrunde gingen, bevor das Gas der Pflanzenwelt schaden konnte. Die Araber versuchen von jeher, die Schwärme durch Rauchwolken, helle Feuer und großes Getöse vom Einfall abzuhalten. Sogar mit Kanonen haben sie in die Heuschreckenwolken geschossen. Höllenkonzerte mit Pfeifen, Trommeln, Biechdeckeln und Feuerwaffen lenkten die Schwärme ab. Bei aller Feindschaft sind die ungebetenen Gäste doch oft auch von Nutzen. Araber, Perser, Marokkaner und Birmesen schätzen Heuschrecken im gebratenen, gesottenen und gesalsaizenen Zustand. In Notzeuen backen sie auch flache Kuchen aus den zerkleinerten Tieren, die das fehlende Brot ersetzen. Gebratene Heuschrecken souen wie trockene Bücklinge oder Garnelen schmecken. GeKochte Heuschreckeneier aber werden in allen Sceppeniändern als appetitliche Leckerbissen verzehrt. Auch die Herde der Araber haben gute Tage, wenn Heuschrecken wie Regen vom Himmel fallen; getrocknete Heuschrecken sind für sie ein begehrtes Futter, tn Europa kennt man die Heuschreckenkost als Mastfutter für Schweine, Zum Glück ist die Wanderheuschrecke das Leibgericht einer großen Anzahl tierischer Feinde, die den Menschen im Kampf gegen die geflügelten Unholde unterstützen. Bussard und Sperber, Faike und vv^eihe, Storch und Reiher, Kranich und Tia^pe leben in der Heuschreckenzeit fast ausschließlich von dieser Kost. Ais besonders tüchtig erweisen sich die Störche, die lange Treiberketten bilden, die Heuschrecken flügelschlagend zusammentreiben und dann richtige Schlemmergelage abhauen. Ein ständiger Begleiter der wandernden Völker ist der Rosenstar, der die Heuschrecken mit einer solchen Freßlust verschlingt, daß ihm buchstäblich der Schnabel zusammenklebt. Auch der Löffelhund, ein kleiner, fuchsähnlicher Säuger, frißt neben Termiten hauptsächlich Heuschrecken und dezimiert gewaltig ihren Nachwuchs. 24
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aß sich uubere jungen Wolfs- und Krabbenspinnen tap frühen Herbst auf die Wanderschaft begeben, das weiß jeder, dem schon einmal ein „Altweibergespinst" um die Nase geGogen ist. Den wenigsten Naturfreunden aber wird es bewußt sein, daß es sich auch hier um eine Völkerwanderung handelt, zu der der gesamte Nachwuchs der Altweiberspinnen aufgebrochen ist. Die seidenen Flatterfäden, die sie mit sich führen sind gleichsam die Luftschiffe dieser Spinnenjugend. Wie bei allen anderen Tierwanderungen wird die Eroberung neuen Lebens- und Nahrungsraumes angestrebt. Die jungen Spinnen müssen auswandern, denn der Ort ihrer Geburt bietet nicht Nahrung genug für alle. Die Tierchen stehen beim Start in das erste Abenteuer ihres Lebens auf einem zum Abflug ausersehenen, erhöhten Platz, stellen sich gegen den Wind, verank'ern sich mit einigen Fäden und schießen dann einen langen Faden, den der Wind rasch ausbeult. Auch dieser Faden wird auf dem Abflugsplatz befestigt und dann fleißig verstärkt und verlängert. Ist die Schlinge weit, lang und kräftig genug, dann beißt die Spinne die Befestigung durch, löst gleichzeitig alle acht Beine aus der Verankerung und läßt sich vom Winde davontragen. Die Aufwinde heben sie schnell empor und lassen sie beträchtliche Höhen gewinnen. Noch in dreitausend Meter Höhe hat der französische Insektenforscher Bertrand fliegende Spinnen in seinen aus dem Flugzeug gehängten Netzen gefangen. Die meisten Spinnen aber flogen in einer Höhe von 800 bis 1000 Metern in das Netz. Und das Überraschende dabei ist: es waren vorwiegend Spinnen, die er während seiner Flüge fing, kaum irgendein anderes Getier Es sind also wirklich ganze Spinnenvölker auf der Reise, nur schließen sie sich selten zu großen dichten Wolken zusammen; jede Spinne segelt auf eigene Faust. Und es ist sicher, daß es noch viele unbekannte Spinnenarten gibt, die auf die gleiche Weise auswandern. So berichtet der Naturforscher Darwin, daß er während seiner Weltumsegelung beobachtete, wie sich sechzig Seemeilen vom Lande entfernt Tausende kleiner rötlicher Spinnen an Bord der „Beagle" niederließen und das ganze Deck von diesen kleinen Weltenbummlern dicht gepolstert wurde. Hier handelte es sich wahrscheinlich um einen richtigen Heerhaufen, den vielleicht der Wind zu einer großen Einheit %?
Aufbruch einer .Altweibersommer" -Spinne (Wolfs- und Krabbenspinne). Das Tierchen hat beim Sonnenautgang. ein erhöhtes Plätzchen, einen Zaun, Strauch, die Erwärmung Erwärmung der der Lult Luft ab. Felsvorsprung erklettert und wartet nun die Mit Spinnfädenfesseln, die es über den Beinen an der Unterlage befestigt, sichert es sich einen testen Stand und entläßt dann aus der Spinndrüse des Hinterleibs einen Faden. Auch der Faden wird an der Unterlage festgeklebt und nun kann der Wind die Schlinge weit ausbeulen. Ist die Luitströmung stark genug, dann beißt die Spinne die Fußiesseln und den Faden an der Befestigungsstelle durch und läßt sich dann von dem wehenden Spinnfaden durch die Luft tragen. Will sie landen, dann rollt sie den Faden auf und segelt langsam nach unten.
zusammengeweht hatte. Ähnliche Spinneninvasionen auf Schiffe sind auch von anderen Weltenfahrern bezeugt. So ganz hilfslos scheinen also die kleinen Flieger nicht dem Winde ausgesetzt zu sein. Sie kennen wohl einige Kunstgriffe der Navigation. Man vermutet, daß die fliegende Spinne, wenn sie landen will, sich entweder fallen läßt oder aber den Fa^en aufrollt und so allmählich auf den erstrebten Zielpunkt oder Rastplatz niedersinkt. Auch die Spinnen gehören also zu den wandernden Tiervölkern; kein Raum der weiten Erde ist vor ihnen sicher; nicht einmal die fast luftdicht verschlossenen Räume der Erdbebenwarten, in die sie hineinzukommen wissen; und mancher dieser vielbeinigen Eindringlinge hat schon die feinnervigen Geräte in Tätigkeit gesetzt und mit falschem Alarm die klugen Leute der Stationen zum Narren gehalten.
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Ber S'egeszug der Wanderratte
er deutsche Naturforscher Pallas, der im Dienste der Kaiserin Katherina II. stand, war Augenzeuge der wohl gewaltigsten S ä u g e t i e r w a n d e r u n g , die je beobachtet u n d überliefert wurde. Er sah die endlosen Scharen des Rattenheeres 26
das bei Astrachan gegen die Wolga brandete, den breiten Strom durchschwamm und sich dann in westlicher Richtung verlor. Das w a r im J a h r e 1727. Es w a r ein Anblick v o n schauriger Großartigkeit. Lange Zeit w u r d e deshalb das J a h r 1727 als das Datum für das Auftauchen der W a n d e r r a t t e in Europa angesehen. Die n e u e r e n Forschungen h a b e n aber ergeben, daß die W a n d e r ratte sehr wahrscheinlich schon viel früher zu u n s gekommen ist. Denn bereits der alte Gesner, ein Pflanzen- und Tierkundiger, der v o n 1516—65 in der Schweiz lebte, vermittelt uns in seinem um 1550 erschienenen Tierbuch eine gute Abbildung der W a n d e r r a t t e . Und g e n a u h u n d e r t J a h r e später finden w i r bei J o h n s t o n sogar die Bilder v o n Haus- und W a n d e r r a t t e nebeneinander gestellt. Wir dürfen also annehmen, daß die ersten W a n d e r r a t t e n schon im 16. und 17. J a h r h u n d e r t auf holländischen Schiffen nach W e s t e u r o p a kamen. Und es ist bei
Wanderratten kamen erst im 16. und 17. Jahrhundert nach Europa und begannen hier den Kamp! mit der Hausratte, die durch sie last ganz verdrängt wurde. Der Wandertrieb hat die Ratte riesenhafte Entfernungen zurücklegen fassen. Auf weit ausgedehnten Raubzügen überfallen sie Pflanzungen und Siedlungen
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:1er Vorliebe der Ratten tut die Seetahn anzunehmen den sie wirklich zuerst den leichteren Wasserweg wählten. Das gewaltige Rattenheer aus dem Jahre 1727, das nach einem starken Erdbeben aus den kaspischen Ländern gegen Westen zog, gab aber sicher den Ausschlag für das siegreiche Vordringen des Tieres auf breiter Front und vor allem für den erfolgreichen Kampf gegen die ebenfalls aus dem Osten gekommene Hausratte. Unsere Vorväter, die Germanen, kannten die Ratte noch nicht. Die Hausratte ist wahrscheinlich um die Zeit der Kreuzzüge aus den Ostländern zu uns gekommen. Den Zug vom Osten nach dem Westen unternahmen inzwischen ja auch der Hamster und das Steppenhuhn, die Haubenlerche und der asiatische Wanderfrosch. 1750 erschien das Rattenheer in Ostpreußen und Schlesien 1780 erreichte es Thüringen, 1781 Quedlinburg und 1783 Nord hausen. Vorher aber hatte eine andere Marschkolonne schon Westeuropa überflutet. Bereits im Jahre 1732 waren erste Exem plare in England gesichtet worden. Zwei Jahre darauf erschien die Wanderratte in den nordfranzösischen Hafenstädten, um 1748 eroberte sie Paris, und bereits 1755 landete sie in Nordamerika. Der Kampf der vordringenden Wanderratten gegen die in den menschlichen Ansiedlungen heimisch gewordenen Hausratten begann nicht sofort. Die Wanderratten lebten nach alter Gewohnheit zuerst auf den Feldern, wo sie sich nach Hamsterart eingruben. Erst der Winter trieb sie in die Dörfer und Städte Und nun begann das fürchterliche und blutige Drama im Dunkel der Kanäle und Keller, der Abzugsgräben und Senkgruben, der Schleusen und Schlachthäuser, jetzt hob dies grausige Gemetzel an, ein Kampf auf Leben und Tod, dem fast überall die schwächere und verweichlichte Hausratte unterlag. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Hafen zu Hafen zogen die blutdürstigen Sieger. Sie haben sich nicht ein einziges Mal mit den Hausratten vertragen, geschweige denn sich mit ihnen gekreuzt. In diesem Kampf gab es nur die Vernichtung des Schwächeren. Und weiter von Land zu Land, von Erdteil zu Erdteil, von Insel zu Insel ging der Siegeszug der Wanderratte, die sich schnei! zu einem Weltbürger auswuchs. Die spärlichen Reste der Hausratte zogen sich vorerst auf die Böden und Scheuern zurück und genossen hier eine kleine Atempause; denn die Wanderratte liebte das Feuchte und Dunkle. Später wurden aber auch diese letzten Zufluchtsorte •Jfi
der Hausratte gesäubert. Die Wanderratte Ist Sieger geblieben, während die Hausratte nur noch vereinzelt ein bescheidenes Dasein führt,
Die Wanderung ins Meer
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iese vom Himmel be-i starkem Gewitter herabgeregneten Lemars, welche wie die Heuschrecken in ungeheuren Schwärmen auftreten, zerstören alles Grüne, und was sie einmal angebissen haben, stirbt ab wie vergiftet. Wenn sie abziehen wollen, sammeln sie sich wie die Schwalben, manchmal aber sterben sie haufenweise und verpesten die Luft, wovon die Menschen Schwindel oder Gelbsucht bekommen, oder werden von den Hermelinen aufgefressen, welche letztere sich an ihnen förmlich mästen." Das sind die Worte, mit denen der berühmte Bischof Olaus Magnus den großen Lemmingszug aus dem Jahre 1518 schildert. Der Chronist erweist sich hier als ein echtes Kind seiner Zeit, die gute .Beobachtungen mit phantastischem Rankenwerk versieht, weil sie die großen Zusammenhänge noch nicht überschauen kann. Der Lemming ist ein etwa hamstergroßes, in Skandinavien und Lappland beheimatetes Nagetier, das die weiten Moossteppen bewohnt und sich vorwiegend von der Ren-Flechte und von Pflanzenwurzeln ernährt. Sein schöner langer Pelz ist von braungelblicher Farbe, dunkel gefleckt und im Nacken stark aufgelichtet. Wie die Wühlmaus lebt der Lemming in unterirdischen Höhlen und ist fruchtbar wie das Kaninchen. Mehrere Hochzeiten in einem Jahr sind die Regel. Jeder Wurf bringt fünf bis sechs Junge. In besonders günstigen Jahren kann die Vermehrung der kleinen Nager ins Ungemessene wachsen. Und wie bei unseren Feldmäusen, treten durch die Übervölkerung auch bei den Lemmingen verheerende Seuchen auf, die fürchterlich unter den Tieren aufräumen. Diese Lemmingseuche und der Futtermangel veranlassen die Nager — besonders häufig nach Steppenbränden — sich zusammenzurotten und auszuwandern. Schar stößt zu Schar, Haufen zu Haufen, Volk zu Volk, und bald wälzt sich ein Millionenheer gen Westen. Begleitet werden die Lemmingheere von Füchsen, Wölfen und Hermelinen, die sich an der Beute platzvoll fressen. Audi der Vielfraß fehlt nicht im Gefolge. In der Luft aber kreisen Adle> 29
Die hamsf ergroßen Lemmitige, die in Skandinavien und Lappland beheimatet sind, gehören zu den Tieren, deren Wandersucht uns noch immer ein Rätsel ist. und Eulen, Bussarde und Raben ü b e r dem W a n d e r z u g . Doch w e d e r Hunger noch Seuche, w e d e r tierische noch menschliche Feinde vermögen viel g e g e n die Unzahl der Nager auszurichten. Unaufhaltsam und unbesiegbar, Tal um Tal, Feld um Feld, W a l d um W a l d verwüstend, ziehen die Massen bis zum Meer, stürzen sich ohne Zögern in die Flut und — w e r d e n nicht mehr gesehen. W i e ein Teufelsspuk ist alles vorbei. Der Todeszug der Lemminge ins Meer w u r d e lange als eine Fabel a n g e s e h e n und spöttisch angezweifelt, obwohl er v o n Gelehrten im Range eines Linne ausführlich beschrieben war. H e u t e sind die Lemmingwanderungen und die gleichzeitig auftretende Lemmingsseuclie e m w a n d t r e i erwiesen. Unter den vielen Versuchen, sich diesen Zug nach dem W e s t e n und besonders den selbstmörderischen Sturz ins Meer zu erklären, können wir die Lehre W e g e n e r s als die wahrscheinlichste Eritlärung ansehen. Nach der Ansicht dieses g r o ß e n Geologen liegen die ürdteile nicht starr in dem Oberfiäcnengefüge des Erdballs, sondern verä n d e r n in u n g e h e u r e n Zeiträumen—ihre Lage zueinander. So nimmt W e g e n e r auch an, daß im Bereich der nördlichen Meere
die Erdkarte im Laufe von Jahrmillionen gewaltige Ver Schiebungen der Festländer und Inseln erfahren habe. Er glaubt, daß Skandinavien einst nur durch einen schmalen Meeresarm von Grönland getrennt gewesen sei. In den Lemmingen entwickelte sich während dieser Zeit die Gewohnheit, bei Hungersnöten und Seuchen den schmalen Meeresarm zu durchschwimmen und die damals noch grünen Weidegründe ihrer alten Heimat in Grönland aufzusuchen. Dieser jahrmillionenalte Trieb beherrscht die Tiere auch heute noch. Sie stürzen sich in dem festen Glauben ins Meer, daß sie das gelobte Land schwimmend erreichen könnten und gehen an dieser vererbten und tiefeingewurzelten Überlieferung zugrunde. Es wäre noch viel zu berichten von wandernden Tiervölkern, von geheimnisvollen Wanderzügen über Kontinente und Meere: von den Reisen der Zugvögel und Fledermäuse, den Massenzügen der Aale und Dorsche, dem Standortwechsel der großen Herdentiere und Elefanten, der Wale und Robben. Bücher sind angefüllt mit Deutungen und Berichten. Hier aber sollte nur von jenen tierischen Völkerwanderungen erzählt werden, die ins Ungewisse und ins Ungefähr gehen, und von denen es nur selten eine Rückkehr gibt. Das dunkle, geheimnisvolle Rätsel der Schöpfung treibt die Tiervölker in eine unbekannte, lockende Ferne, über Meere und Kontinente wandern sie dem fernen, nie gesehenen Ziel entgegen, durch Not und Gefahr, nichtachtend des Todes, der ihr Weggefährte ist; einem Befehl gehorchend, von dem wir nicht wissen, woher er kommt und welchem Zweck er dient. Voller Wunder ist die Natur — hier aber ist eines ihrer größten unerforscht und vom Zwielicht des Undeutbaren umschimmert.
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Diesen Lesebogen sdirieb Hans Wilhelm der 1. Umschlagseite: Wanderheuschrecken aul der Umschlag-Rückseite: Todeszug der
Smolik im Anllug; Lemminge
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LUX-LESEBOGEN 57 Natur- und kulturkundliche Hefte. Verlag Sebastian Lux, Murnau-München. Bestellungen (vieteljährlich 6 Hefte zu DM 1,20) durch jede Buchhandlung <md jede Pöstanstalt. Druck: Buchdruckerei Hans Hnlzmann. Bad Wörishofen
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