Terra Astra 355
Der Zeit-Sklave PETER TERRID Die Abenteuer der Time-Squad 10. Roman
1. Es war ein merkwürdiges Gefühl...
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Terra Astra 355
Der Zeit-Sklave PETER TERRID Die Abenteuer der Time-Squad 10. Roman
1. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihn liegen zu sehen, ausgestreckt und reglos, auf einem modernen Operationstisch. Er trug noch die Kleidung seiner Zeit, die Waffen, die seinen Ruhm begründet hatten. Er, das war jener Mazedonier Alexander, Sohn der Olympias und des Philippos, den schon seine Zeitgenossen den Großen genannt hatten. Eine Fabelgestalt der Weltgeschichte, jäh aufleuchtend wie ein Komet und ebenso schnell wieder verschwunden. Im April des Jahres 334 vor unserer Zeitrechnung war er aufgebrochen, die Welt zu erobern zweiundzwanzig Jahre alt, ausgerüstet mit unbegrenztem Optimismus und begleitet von knapp dreißigtausend Mann Fußtruppen und fünftausend Reitern. Elf Jahre später, nach einem Marsch von rund 25.000 Kilometern, nach zahllosen siegreichen Schlachten, war er gestorben - in Babylon, einer 2
der Hauptstädte, die er erobert hatte. Er war gestorben als Herr der damaligen Welt, Herrscher über Griechenland, Ägypten, Kleinasien, Persien, Teile Indiens. Einer seiner Gefolgsleute - Diadochen - hatte auftragsgemäß den Leichnam des toten Helden nach Alexandria geschafft. Alexander wollte in der Stadt begraben sein, die er gegründet hatte und die seinen Namen trug. Und dann waren wir gekommen, die Mitarbeiter der TimeSquad, und hatten den Sarkophag geleert und den Leichnam in das dritte Jahrtausend der modernen Zeitrechnung verschleppt. * Man schrieb den 19. November 2378. Es war früher Morgen, und wir hatten uns im Büro von Demeter Carol Washington versammelt. D.C., wie sie kurz genannt wurde, war ungewöhnlich ernst an diesem Morgen. Der Rest der kleinen Versammlung bestand aus dem Stab von Mitarbeitern der Time-Squad, der sich vor fast jedem Einsatz zu einer Besprechung traf. Don Slayter gehörte dazu, Chef der Abteilung San Francisco, alt und von der Last seiner Verantwortung gezeichnet. Anastasius Immekeppel, der Mann aus dem zwanzigsten Jahrhundert, unverkennbar mit seinem Wuschelkopf über dem hageren, hochaufgeschossenen Körper. Marleen de Vries gehörte dazu. Als Archäologin und Sprachexpertin war sie unersetzlich. Was gutes Aussehen und Fachkenntnis betraf, konnte sie es fast mit D.C. aufnehmen. ,,Ich habe lange überlegt“, sagte D.C. leise und eröffnete damit die Besprechung, ,,ob wir einen Versuch wagen sollen, diesen Mann ins Leben zurückzurufen.“ Sie deutete auf Alexander. Der Mazedonier war nicht tot, jedenfalls nicht in dem Sinne, den wir diesem Begriff beimaßen. Auf geheimnisvolle, erschreckende Art und Weise lebte er noch. Und vor einem Wesen, das dem Tode auf diese 3
Weise zu trotzen vermochte, verspürte nicht nur ich einen Höllenrespekt. ,,Es gilt, bei dieser Entscheidung zwei besonders wichtige Gesichtspunkte zu berücksichtigen“, fuhr D.C. fort. ,,Da ist zum einen das Risiko für Alexander. Vielleicht stirbt er - in unserem, das heißt unwiderruflichen Sinne - bei dem Experiment. Wir sind schließlich nicht die Wissenschaftler, für die sein Körper präpariert wurde.“ Ich unterdrückte ein Lächeln. Es war typisch für sie, daß sie in diesem Augenblick an Alexander dachte, obwohl diese Person wahrscheinlich zu unseren Gegnern gerechnet werden mußte. ,,Es besteht weiterhin die Möglichkeit“, sagte D.C. halblaut, ,,daß wir im Erfolgsfall ein Wesen ins Leben zurückrufen, das uns sehr zu schaffen machen könnte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Zeit-Zauberer Valcarcel.“ Ich verzog das Gesicht. Von allen Anwesenden brachte es nur D.C. fertig, diesen Namen gleichgültig auszusprechen. Bei uns anderen rneldeten sich bei diesem Namen Gefühle, die alles andere als angenehm waren. D.C. sah uns nachdenklich an. ,,Ich habe in diesem Fall die Verantwortung zu tragen. Und ich sehe keine andere Wahl - wir werden versuchen, Alexander aufzuwecken.“ Inky verzog das Gesicht. Mit sichtlichem Widerwillen schielte er zu dem Körper hinüber, der auf dem Operationstisch lag. ,,Muß das wirklich sein?“ fragte er leise. D.C. nickte. Sie drückte die Sprechtaste ihres Kommunikators. Im Blickfeld der Kamera, die das Bild aus dem Operationsaal in Demeter Carol Washingtons Büro übertrug, erschien ein Mann in der Uniform der Mediziner. ,,Fangen Sie an, Doktor“, sagte D.C. ruhig. ,,Wir kommen sofort in den Operationssaal.“ 4
„Wir wissen nicht genau“, versuchte der Arzt zu erklären, ,,wie unsere Vorfahren den Körper dieses Mannes präpariert haben. Wir haben ihn in den letzten Tagen gründlich untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß wir es mit einem Fall von künstlicher Hibernation zu tun haben, also künstlichem Winterschlaf, zu dem ein Mensch normalerweise nicht fähig ist.“ ,,Na, ich weiß nicht recht“, murmelte Inky skeptisch. ,,Ich kenne da ... “ Ein Blick von D.C. ließ ihn verstummen. ,,Das Herz schlägt nur alle fünf bis sieben Minuten einmal. Der Schläfer atmet nur einmal pro Stunde, sämtliche Stoffwechselvorgänge sind extrem verlangsamt. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß diese Hibernation bei Zimmertemperatur stattfindet.“ ,,Und was wollen Sie gegen diesen Schlafzustand tun?“ fragte Don Slayter. ,,Wir versuchen ihm ein Mittel injizieren, das im Normalfall den Stoffwechsel anregt. Ein Aufputschmittel, wenn Sie diesen Ausdruck vorziehen“, sagte der Arzt. D.C. mischte sich ein. ,,Könnten Sie im Körper des Mannes eine Droge feststellen, die für diesen Schlafzustand verantwortlich ist?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. ,,Wir hatten nicht die Zeit für sehr gründliche Blutuntersuchungen“, berichtete er. ,,Wir neigen eher zu der Ansicht, daß es sich dabei um ein sehr psychisches Phänomen handelt.. Dafür sind nach unserer Einschätzung Parapsychologen zuständig.“ ,,Eine Art hypnotischen Winterschlafs also?“ ,,So kann man es nennen“, bestätigte der Mediziner. ,,Kann ich jetzt anfangen? Oder brauchen Sie noch Erklärungen?“ ,,Beginnen Sie“, bestimmte D.C. nach einem Rundblick. Der Arzt nahm eine Injektionspistole und setzte sie an den 5
Oberarm des Toten. Man hörte ein leises Zischen, als die Droge mit Druckluft in den Körper gepreßt wurde. ,,Es wird ein wenig dauern“, sagte der Arzt. Er trat zur Seite und legte die Injektionspistole ab. ,,Woran ist der Mann eigentlich gestorben?“ fragte Don Slayter nach einer sehr kurzen Pause, ,,Ich meine, woran starb seinerzeit Alexander der Große, offiziell sozusagen?“ Marleen de Vries übernahm es, zu antworten. ,,Malaria tropica“, sagte sie knapp. ,,Dazu kam noch eine allgemeine Erschöpfung. Alexander hatte überaus strapaziöse Jahre hinter sich. Und zu guter Letzt litt er vermutlich auch an einem handfesten Leberschaden - die letzten Tage seines aktiven Lebens hat er praktisch nur im Vollrausch verbracht.“ Der Arzt nickte zu Marleens Worten. ,,Die Malaria können wir mühsam bekämpfen“, verkündete er. ,,Und die Leberschädigung ist noch nicht sehr weit fortgeschritten. Im Sinne unserer Medizin ist er gar nicht einmal sehr krank.“ ,,Und vor allem nicht tot“, sagte Inky mit gepreßt klingender Stimme. ,,Seht, er bewegt sich!“ Es war ein gespenstischer Vorgang. Fast zweieinhalb Jahrhunderte hatte dieser Körper in Alexandria in seinem Sarkophag gelegen, bis wir ihn in die Zukunft entführt hatten. Mehr als zweieinhalb Jahrtausende alt war dieser Körper, der in diesem Augenblick sein Leben fortzusetzen begann. Ich sah, wie die Brust sich hob und senkte, wie die Hände leicht zu zittern begannen. An den Schläfen und am Hals sah man den Pulsschlag in den Venen. ,,Er lebt“, murmelte D.C. Auch sie hatte einige Mühe, den Vorgang zu verkraften. ,,Puls beschleunigt sich“, gab der Arzt bekannt. Ein Sammelsurium von Drähten und Kabeln ging von dem Operationstisch aus. Die Leitungen wurden gebündelt und endeten in einem oberschenkeldicken Strang, der in der Decke 6
verschwand. An den Wänden, rechts und links, zeichneten Schreiber die Werte auf, die die Kabel übertrugen. Der Operationssaal hatte ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem Regieraum einer Videoanstalt. ,,Atemfrequenz steigt an“, erklärte der Mediziner. Seine Augen flogen über die Skalen. ,,Die Blutdruckwerte nähern sich ebenfalls dem Normalwert.“ Wir konnten nicht mehr tun, als zuzusehen. Die eigentliche Arbeit lag in den Händen der Mediziner. Dazu gehörte nicht nur der eine Mann im weißen Kittel, der mit uns im Raum war. Ich wußte, daß in den Nachbarräumen einige Dutzend qualifizierter Wissenschaftler mit Argusaugen jede Information überprüften, die durch die Leitungen gingen. Minuten vergingen in absoluter Stille. Ich war gespannt, wie die ersten Worte lauten würden, die Alexander aussprach. Ich sah, wie Muskeln angespannt wurden. Der Mann auf dem Operationstisch öffnete die Augen. Er zwinkerte, bewegte die Augen, dann den Kopf. Alexander sah sich um. Sein Blick fiel auf uns. Ich sah Verwunderung in diesem Blick, aber, keine Angst. Dennoch glitt die Rechte des Mazedoniers an die Hüfte. Ich sah, wie in seine Augen ein Ausdruck der Befriedigung trat, als er das Metall des Schwertgriffs in der Hand spürte. Wir hatten ihm die Waffen gelassen, nicht zuletzt, um genau diesen Effekt zu erzielen. Er sollte im Augenblick des Erwachens nicht völlig hilf- oder wehrlos sein. Eine halbe Minute verging, in der kein Wort gesprochen wurde. Alexander setzte sich auf den Rand des Operationstisches. Mit gleichmäßigen Handbewegungen streifte er die Sensorkontakte von seiner Haut ab. ,,Willkommen“, sagte Marleen de Vries. Was sie wirklich sagte, verstand ich nicht, aber der Text erklärte sich aus dem Sachverhalt selbst. Alexander ... Es war kein Lächeln, das über sein Gesicht 7
huschte. Es war ein Grinsen, eine Grimasse der Verachtung. Dann öffnete er den Mund und begann zu sprechen. Dazu fraß er D.C. geradezu mit Blicken auf. ,,Was sagt er?“ fragte D.C. ruhig. Marleen war rot geworden. ,,Das ... “, stotterte sie verwirrt. ,,Ich kann das nicht übersetzen. Er macht Bemerkungen über Ihr Aussehen, Chefin, und ... also mir fehlt sowohl das altgriechische als auch das englische Vokabular, seine Bemerkungen zu übersetzen.“ ,,Ahh, Deecee!“ machte Alexander der Große. ,,Vorsicht!“ flüsterte Inky vernehmlich. ,,Die Konservierung ist ihm nicht bekommen.“ Ich war inzwischen zur gleichen Ansicht gekommen. Was da auf dem Operationstisch hockte, unverschämt grinste und anzügliche Bemerkungen über unsere Chefin machte, mochte meinethalben der Abgott seines Zeitalters gewesen sein - für mich war er in diesem Augenblick nicht mehr als ein überaus ungezogener Dorfcasanova. Alexander glitt vom Tisch. Er ging auf D.C. zu. Sofort traten Inky und ich näher. Wenn dieser Bursche glaubte, daß er sich Frechheiten herausnehmen durfte ... ,,Marleen“, sagte ich schnell. ,,Machen Sie diesem Lüstling ... “ Marleen kam nicht mehr dazu, Alexander etwas klarzumachen. Der Mazedonier folgerte aus unserem Vortreten offenbar, daß wir ihn angreifen wollten. Sein Schwert kam aus der Scheide. Die Waffe war tadellos und glänzte im Licht der elektrischen Beleuchtung. ,,Die Waffen weg!“ befahl D.C. Inky und ich nahmen die Hände von den Kolben unserer Nadler. Alexander trat noch einen Schritt zurück. Verwundert sah er uns an, dann schien er zu begreifen, daß in diesem Raum D.C. diejenige war, die das Kommando hatte. Er grinste wieder. Dann machte er einen Fehler, einen sehr dummen Fehler, wenn auch für ihn verzeihlich. Offenbar hatte er vor, sich zum Herren der Szene aufzuschwingen, und zu diesem Zweck 8
erschien es ihm am ratsamsten, sich der Person unserer Chefin zu bemächtigen. Inky und ich bekamen unsere Nadler schnell genug aus den Halftern, aber unser Eingreifen war nicht mehr nötig. Alexander machte zwei Schritte auf D.C. zu und versuchte, sie an sich zu ziehen. Während wir zu den Waffen griffen, ließ D.C. wortlos ihre Handkante auf den rechten Unterarm des Mazedoniers heruntersausen. Alexander der Große stieß einen empörten Schrei aus. Wahrend sein Schwert klappernd auf dem Klinkerfußboden landete, setzte D.C. zu einem Schulterwurf an, der einen laut aufschreienden Alexander durch die Luft fliegen ließ. Er landete mit scheppernder Rüstung in einer Ecke des Operationsraums. In diesem Augenblick wurde eine Tür geöffnet. Einer der überwachenden Mediziner betrat den Raum. ,,Aufgepaßt!“ rief ich. Der Mazedonier hatte die Instinkte eines Raubtiers. Er sah einen Weg in die Freiheit, und er reagierte ohne Zögern. In wenigen Sekundenbruchteilen hatte er sich aufgerappelt und rannte auf die Öffnung zu. Ich ließ die Waffe sinken. In meinem Schußfeld stand der Mediziner, der überhaupt nicht begriff, was im Raum verging. Im Schußfeld meiner Waffe war auch D.C. Sie schnellte sich nach vorn und fegte Alexander mit einem gekonnten Tackling zu Boden. Auf Raufereien mit solchen Mädchen war der Mazedonier nicht eingerichtet. Er stöhnte noch einmal dumpf auf, dann hatte D.C. ihn fürs erste ins Reich der Träume geschickt. Reglos blieb Alexander auf dem Boden liegen. D.C. stand auf und klopfte sich einen Staub von der Kleidung, den es in einem Operationssaal gar nicht geben durfte. ,,Doktor“, .bestimmte sie ruhig, ,,lassen Sie von dem Patienten ein Elektroenzephalogramm anfertigen. Ich bin 9
sicher, daß Sie eine Überraschung erleben werden.“ „Das kann man sagen“, brachte der Arzt über die Lippen, der gerade erst den Raum betreten hatte. ,,Deswegen bin ich ja überhaupt erst eingetreten. Sehen Sie. Chefin!“ Er drückte D.C. einen breiten Plastikstreifen in die Hand. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick darauf werfen und sah nicht mehr als ein paar parallele Zackenlinien. D.C. ließ den Streifen durch die Hand gleiten. Sie nickte mit zusammengepreßten Lippen. ,,Dachte ich es mir doch“, murmelte D.C. und gab den Streifen an den Chefarzt weiter. ,,Was sagen Sie dazu?“ Ich verstand gar nichts mehr, Der zweite Mediziner unterzog den Streifen einer ähnlich geheimnisvollen Prüfung und produzierte dazu ein bedeutungsschweres Nicken. ,,Was gibt es?“ fragte ich, als ich die Neugierde nicht mehr ertrug. ,,Was verrät dieser Streifen?“ ,,Das ist eine Aufzeichnung der Hirnstromkurven“, gab D.C. bekannt. Die Werte wurden gemessen und gespeichert, bis der Patient die Sensoren herunterriß. Die Hirnstromkurven verraten uns, daß wir es nicht mit einem normalen Menschen zu tun haben.“ ,,Für diese Erkenntnis brauche ich das da nicht“, sagte Inky und deutete auf das EEG. ,,Dieser Alexander ist irre, oder wie immer Sie das ausdrücken wollen.“ D.C. lächelte verhalten. ,,Wir können nicht einmal sicher sagen“, erklärte sie, ,,ob die Person, die wir da in unsere Zeit gebracht haben, überhaupt Alexander der Große ist.“ ,,Wen hatten wir denn sonst in dem Sarkophag finden sollen?“ rief Inky aus. ,,Wenn ich mich recht erinnere, stand an dem Kasten sogar geschrieben, daß Alexander darin liegt.“ ,,Das wäre nicht der erste Etikettenschwindel der Geschichte“, sagte D.C. lächelnd. ,,Nein, der Körper, den Sie hergebracht haben, der gehört zweifelsfrei Alexander. Es ist 10
nur die Frage, ob der Geist, der diesen Körper bis vor ein paar Augenblicken kontrolliert hat, der Geist des großen Mazedoniers ist.“ ,,Sie meinen, er hat zwei Seelen in seiner Brust?“ fragte Inky. ,,Oder daß er irre ist, persönlichkeitsgespalten?“ ,,Das wäre nicht verwunderlich nach diesem langen Winterschlaf“, warf Marleen ein. Ich sagte nichts. Mir dämmerte, daß es noch eine andere Möglichkeit gab, eine Möglichkeit, die ich mir besser nicht allzu detailliert auszumalen wagte. Ruhig, wie es ihre Art war, sagte D.C.: ,,Ich vermute, und das EEG liefert einen ersten brauchbaren Beweis für diese Vermutung, daß der Körper dieses Mannes tatsachlich von zwei Seelen bewohnt und geführt wird. Und ich glaube, daß es sich bei diesen zwei Seelen nicht um die Bestandteile eines normalen Geistes handelt - der Körper Alexanders des Großen ist, davon bin ich fest überzeugt, von einem anderen, überlegenen Geist in Besitz genommen worden!“ Ich nickte nur. Das war es, woran ich gedacht hatte. ,,Und was ist das für ein Wesen, das Menschen einfach so übernehmen kann?“ fragte Marleen beeindruckt, ,,Doch nicht etwa ... “ D.C. machte eine Geste der Ratlosigkeit, selten bei ihr. ,,Ich weiß es nicht“, gab sie zu.: ,,Aber es ist durchaus denkbar, daß; es sich bei diesem Wesen um einen Kollegen oder Artgenossen eines alten Bekannten von uns handelt.“ Der Name war bereits einmal gefallen in diesem Raum und an diesem Tag. Er brauchte kein zweites Mal genannt zu werden. Jeder von uns kannte den Namen, und sein Träger war jedem von uns ein Begriff. Keiner sprach den Namen aus. Aber jeder dachte an ihn: Valvarcel, der Zeit-Zauberer. 11
2. Divorsion ließ die Tür hinter sich ins Schloß knallen. Er schleuderte die Sandalen von den Füßen, und als eine davon eine teure Vase vom Regal fegte und auf dem Boden zerschellen ließ, tat ihm das Klirren über die Maßen wohl. Sein Zimmergefährte Klythiar sah auf und runzelte die Stirn. ,,Schlechte Laune?“ Divorsion schob den Kragen des Hemdes ein Stück zurück und entblößte den Hals. Die beiden Einstichlöcher hoben sich gegen die helle Haut deutlich ab. ,,Zum dritten Mal in diesem Monat“, schimpfte er und ließ den elastischen Kragen zurückschnellen. Die Bewohner von H'thara zeigten nicht gern, wenn sie Kontakt mit einem Oberen gehabt hatten, jedenfalls nicht untereinander. „Das ruiniert meine ganzen Prüfungsvorbereitungen.“ Klythiar hütete sich, einen Kommentar abzugeben. Er hatte mehr als überdurchschnittliches Glück gehabt. Nicht ein einziges Mal im letzten halben Umlauf war er mit einem Oberen zusammengestoßen. Er strotzte vor Kraft und Gesundheit. ,,Ich hätte nicht übel Lust ...“, begann Divorsion grimmig. Klythiar legte eine Hand über den Mund. ,,Leise!“ warnte er und wies mit dem Kopf auf die Wand aus Bast, die das Zimmer der beiden von den Nachbarappartements trennte. ,,Man könnte dich hören.“ ,,Und wenn schon“, fauchte Divorsion. Seine Stimme verriet überdeutlich seinen Gemütszustand, eine Mischung aus Resignation, Verzweiflung und Wut. ,,Ich hätte Lust“, sagte Divorsion, nun sehr leise, „mich den Rebellen anzuschließen.“ Klythiar machte eine Gebärde des Erschreckens. ,,Bist du von Sinnen“, flüsterte er entsetzt. ,,Das wäre dein 12
sicherer Tod, und für mich würde es lebenslanges Lager bedeuten. Willst du mir das antun?“ ,,Natürlich nicht“, sagte Divorsion abwehrend. ,,Du solltest das wissen, alter Freund. Ich frage mich aber immer häufiger, warum du dich nicht ebenfalls den Rebellen anschließen willst.“ Klythiar sah an die Decke und seufzte leise. In den letzten Tagen und Wochen war dies das erste und wichtigste Thema zwischen den beiden gewesen. Klythiar deutete auf das Buch auf seinem Schoß. ,,Wenn du dich etwas mehr mit der Geschichte unseres Systems und etwas weniger mit Weibern und K'hall-Gelagen beschäftigen würdest, bräuchtest du mich nicht zu fragen“, erklärte er. Divorsion wehrte ab. ,,Ich weiß“, sagte er unwillig. ,,Die Götter haben es so bestimmt.“ Er ließ sich auf den Matten nieder, die seinen Privatbereich bezeichneten, und streckte sich aus. Seine Glieder schmerzten von der erzwungenen stundenlangen Starre, und sein Herz schlug schnell, hart und laut. ,,H'thara ist jahrzehntausendelang ohne die Oberen ausgekommen“, sagte er finster. ,,Warum sollten wir nicht auch jetzt ohne sie auskommen?“ Klythiar schüttelte den Kopf. ,,Du weißt offenbar nicht, wieviel Blut damals geflossen ist bei den zahlreichen Kriegen, die wir untereinander geführt haben.“ ,,Fließt jetzt etwa kein Blut?“ ,,Natürlich“, gab Klythiar zu. ,,Aber von jedem nur ein bißchen, von keinem alles. Wer sich an den Platz begibt, der ihm zugewiesen wurde, wer die Regeln beachtet, die für den Umgang zwischen uns und den Oberen auf gestellt wurden, der hat nichts zu Befürchten.“ 13
,,Nichts!“ wiederholte Divorsion grimmig und rieb sich den Hals. ,,Nicht, daß ich es dir wünsche, aber du hast entschieden mehr Glück gehabt als ich. Noch ein Abend wie dieser, und ich muß mich als unbrauchbar einstufen und krankschreiben lassen.“ ,,Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering“, versetzte Klythiar sanft. ,,Glück und Pech sind nun einmal - statistisch gesprochen - normal verteilt. Es gibt nur wenige ausgesprochene Pechvogel, wie es auch nur wenige Glückspilze gibt. Alles gleicht sich aus.“ ,,Für den einzelnen nicht“, beharrte Divorsion. Klythiar schüttelte wieder den Kopf. ,,Auch im Leben gleichen sich Glück und Pech aus, meistens jedenfalls. Und in jedem Fall ist es besser, ab und zu einem Oberen zu begegnen, als sich gegenseitig die Hälse durchzuschneiden. Das wirst du doch wohl zugeben, oder?“ Divorsion zuckte mit den Schultern. ,,Was soll ich dagegen sagen?“ fragte er müde. ,,Natürlich ist es in jeder Beziehung gut, daß die ewigen Bruderkämpfe auf unserer Welt ein Ende gefunden haben. Aber, alter Freund, wenn man uns aus der Traufe fischt und in den Regen stellt, dann werde ich doch wohl noch sagen dürfen, daß es eklig naß ist! Besser ist noch lange nicht gut.“ Klythiar legte den Folianten beiseite. Es war das Kompendium über die Geschichte H'tharas, die letzten zwei Jahrzehntausende umfassend. Die Geschichte des Planeten vor dem Eintreffen der Oberen wurde nicht gelehrt - sie wäre auch kaum zu lehren gewesen. Die endlose Liste von Schlachten, Heerführern, Siegen und Niederlagen konnte sich niemand merken. Was nach dem Eintreffen der Oberen hingegen geschehen war, ließ sich in dürren Worten zusammenfassen. Zwar strotzten die Bücher von Daten, aber diese Informationen bewiesen dem, der sie zu lesen verstand, 14
lediglich, daß in den letzten Jahrtausenden der Geschichte H'tharas nichts Aufregendes mehr vorgefallen war. Das hektische Hin und Her der Frühzeit war einem gleichmäßigen Trott gewichen, der sich durch Jahrtausende hindurch nicht geändert hatte. Aus der Unruhe war ein stetes Gleichmaß geworden, aus der wild hin und her zuckenden, aber immer aufwärts weisenden Schicksalskurve des Volkes von H'thara eine waagrechte Linie, deren Wellenschlag kaum mehr wahrzunehmen war. Und es zeichnete sich eine Ära ab, da sich diese Wellenlinie sanft neigen würde und der schleichende, unaufhaltsame Abstieg begann. ,,Du hast recht“; sagte Klythiar. Er studierte die Geschichte seines Volkes und wußte, wovon er sprach. ,,Und du hast nicht recht. Beides zugleich. Es gibt kein Naturgesetz, das vorschreibt, daß das Volk von H'thara von den Oberen unterdruckt werden muß.“ ,,Das sage ich doch“, rief Divorsion impulsiv. „Es gibt aber auch“, setzte der ruhigere Klythiar seine Überlegungen fort, ,,Regelmäßigkeiten, die beinahe den Rang eines Naturgesetzes erreicht haben. So steht es zum Beispiel mit der Macht der Oberen so, daß keine Macht vorstellbar ist, die diese Vorherrschaft brechen konnte. Und wie es zu einem Naturgesetz gehört, daß man aus zwei Ereignissen ein drittes exakt vorhersagen kann, so kann man in unserem Falle vorhersagen, daß dich weiteres Rebellieren den Kopf kosten wird.“ ,,Und doch ...“, murmelte Divorsion trotzig. ,,Wir könnten fliehen, du und ich.“ Klythiar lächelte geringschätzig. ,,Keiner von uns beiden kann ein Raumschiff lenken“, sagte er wegwerfend. ,,Kein Bewohner von H'thara hat je ein Raumschiff lenken können, denn keiner hat je eines besessen. Nur die Oberen reisen durch die große Schwärze des Raumes. Und wohin willst du fliehen, da doch überall die Oberen zu 15
finden sind - entweder sie, oder ihre Sklaven.“ ,,Es muß eine Möglichkeit geben“, beharrte Divorsion. ,,Es muß einfach!“ ,,Du bist ein Narr“, schalt ihn Klythiar. Er nahm das Buch wieder auf. ,,Ein Narr, ein Wirrkopf, ein Träumer. Nenne dich, wie du willst - nur mit der Wirklichkeit darf es nichts zu tun haben. Und nun wäre ich dir verbunden, würdest du mich in Ruhe lesen lassen.“ Bei diesen Worten schlug Klythiar das Buch wieder auf, und da sich Divorsion nicht zu räuspern wagte, war er sehr bald wieder in sein Studium vertieft. Divorsion hatte sich auf den Rücken gelegt und blickte .an die Decke. Die beiden Freunde wohnten im achtzehnten Stock des Wohnheims, unmittelbar unter dem Dach. Divorsion griff nach der dünnen Bastschnur neben sich und zog daran. Die Jalousie wurde zusammengerollt, ein Stuck des Himmels wurde unmittelbar über Divorsion sichtbar. Er sah den dunkelroten Mond, Jaydar genannt, der sein Licht von der Sonne Jay bezog, dem dunkelroten Auge, zu dem die früheren Bewohner von H'thara gebetet hatten. Divorsion sah das Gefunkel der Sterne. In der Schule hatte er gelernt, daß all diese glitzernden Punkte Sonnen waren, Jay vergleichbar, und daß viele dieser Sonnen Planeten besaßen, bewohnt wie H'thara. Und daß es jenseits des Bereichs, den man mit bloßem Auge sehen konnte, noch mehr Sonnen gab. Millionen Sonnen mit Millionen Planeten. Und alle diese Millionen von Planeten sollten beherrscht sein von den Oberen? Untertänig der Macht der Schwarzen Kamarilla, dem Siebengestirn der Finsternis? Wenn dies stimmte - und Divorsion kannte niemanden, der das Gegenteil zu behaupten gewagt hatte -, dann gab es wahrlich keine Auflehnung gegen die Macht der Oberen. dann stand er auf verlorenem Posten. 16
Divorsion drehte sich auf die Seite und weinte lautlos. Es waren Tränen der Wut und der Verzweiflung, die über sein Gesicht liefen und im Kissen versickerten. Als der Tränenstrom - von Klythiar unbemerkt - versiegte, hatte Divorsion einen Entschluß gefaßt. Wenigstens einen der Oberen wollte er töten. Wenigstens einen. * Als am nächsten Morgen Jay leuchtendrot über dem Horizont aufging, war Divorsion bereits wach. Er wusch sich hastig, aß wenig und machte sich dann auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte. Gewandt turnte er am Treppengerüst hinunter. Es war an jedem Morgen das gleiche. Das Haus schwankte und zitterte, daß auch der hartnäckigste Schläfer aus dem Bett gescheucht wurde. Unter dem Ansturm der Jaynums, wie sich die Bewohner von H'thara nannten, brach das Gerüst aus Holz und Bast beinahe zusammen. Auf der anderen Seite bewies das Baumaterial, die bis zu hundert Meter hohen schlanken Stämme des Hafther, erneut ihre scheinbar grenzenlose Elastizität und Belastbarkeit. Divorsion war heilfroh, als er den Boden erreicht hatte und den weichen, gelben Lehm zwischen den Zehen spürte. Nach einem Kontakt mit einem Oberen war man naturgemäß etwas geschwächt, und Divorsion hatte solche Kontakte im letzten Monat häufig erleben müssen. Er hätte sich nicht gewundert, wäre er unterwegs gestürzt. Divorsions Arbeitsplatz lag am Raumhafen. Für einen Jaynum war dies eine Luxusarbeitsstelle, was das Gehalt betraf. Zudem hatte man dort ständig mit Oberen zu tun, die auf dem Hafengelände keinen Jaynum belästigten, nicht einmal in Ausnahmefällen. Divorsions Kontakte hatten sich auf dem Nachhauseweg abgespielt, und in diesem Fall gehörte wirklich 17
ausgesprochenes Pech dazu, in einem Monat dreimal erwischt zu werden. Der Schilfgleiter brachte Divorsion über den Arm des Großen Binnensees, der den Wohnbereich der Jaynums vom Arbeitsbereich trennte. Zu Hunderten hockten die Jaynums auf dem flachen Deck des Schilfgleiters, eng aneinandergeklammert - zum einen, um der morgendlichen Kälte nicht ausgesetzt zu sein, zum anderen, um sich festhalten zu können. Nicht, daß die Jaynums schlechte Schwimmer gewesen wären aber das Wasser war um diese Jahreszeit mörderisch kalt, und zu spät zur Arbeit zu erscheinen, gab einen handfesten Punkteabzug, der sich in der Jahresabrechnung deutlich bemerkbar machen konnte. Auf der anderen Seite des Meeresarms trennten sich die Wege. Während die Mehrzahl der Jaynums durch das hüfthohe Reet zu den keramischen Werkstätten hinüberstapfte - das gleichzeitige Geräusch einiger hundert Füße im Schlamm konnte niemand vergessen, der es je gehört hatte -, ging Divorsion weiter, auf den Raumhafen zu. Schon von weitem konnte er die schlanken, hohen Schiffe im Sonnenlicht glänzen sehen. Symbole der Macht, die die Oberen ausübten, und ihre Werkzeuge. Wehe der Welt, der es einfiel, sich gegen das Siebengestirn der Finsternis aufzulehnen binnen zweiter Tage tauchte eine Flotte über der betreffenden Welt auf, Soldaten regneten vom Himmel; und wenn sie wieder abzogen, hinterließen sie zwar genügend Gründe, aber kein Wesen mehr zum Wehklagen. Dutzendfach waren die Anlagen des Raumhafens gesichert. Es gab elektrische Zäune, stählerne Netze, von hohen Pfeilern gehalten, Holzgitter, an deren Spitzen die Amulette dem Besucher entgegengrinsten. Von solchen Sperren ließen sich aber nur einfältige Gemüter aufhalten, die den elektrischen Strom für reine Zauberei hielten. Die eigentliche Absperrung war kaum zu sehen und wurde 18
doch respektiert. Es war nicht mehr als eine dünne Linie, die blaßrot über den Boden lief. Divorsion hatte sich einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, wie diese Sperre in ihrer Gesamtheit aussah - herausgekommen war ein Gebilde, das fünf Spitzen auf wies und an zwei ineinander verflochtenen Dreiecke erinnerte. Und einmal hatte Divorsion auch erlebt, wie ein Jaynum, der einem Oberen den gebührenden Gruß verweigert und damit den Tod verdient hatte, auf seiner verzweifelten Flucht versucht hatte, diese Sperre zu überwinden. Der Jaynum war eines Todes gestorben, den Divorsion ungeachtet seines Hasses nicht einmal einem der Oberen wünschte. Der Aufseher, selbst ein Jaynum, der zeitlebens nicht mehr den Hafenbezirk verlassen durfte, nahm Divorsions Kennkarte in Empfang und steckte sie in den Prüfer. Die gelbe Lampe blitzte auf, folglich war alles in Ordnung. Mit einem Blick auf die Uhr über dem Eingangstor stellte Divorsion fest, daß er sekundengenau gekommen war. Der Aufseher gab Divorsion die Kennkarte zurück. „Du siehst schwach aus“, sagte er. Nun, da das Tor geschlossen war, hatten die beiden Jaynums mehr Zeit. Wie die Oberen es bewerkstelligten, die Sperrlinie aus der Entfernung zu öffnen und zu schließen, blieb ihr Geheimnis. Divorsion wußte, daß das Gelände nun abgeriegelt war. Nichts Lebendes konnte den Raumhafen jetzt noch verlassen, nicht einmal die Oberen selbst. „Ich bin schwach“, versetzte Divorsion trotzig. Er hatte keine Lust zu einem Gespräch und ging weiter. Das Gebiet des Raumhafens umfaßte ein Areal, auf dem die Jaynums normalerweise überhaupt nicht gebaut hätten. Der Boden war fest und hart, und nach dem Betreten des Geländes mußte Divorsion wie jeder Jaynum Spezialschuhe anziehen, damit seine empfindlichen Füße keinen Schaden litten. Die Bewohner von H'thara waren an weiche, sumpfige Böden 19
gewöhnt, der harte Untergrund des Raumhafens machte ihnen sehr zu schaffen. Die Schuhe waren nichts anderes als ein klobiger Behälter mit Doppelwandung. Die äußere Wand war hart, innen gab es eine elastische Haut. Zwischen den beiden Wänden lagerten ölgefüllte Plastikzellen, die ein paar Luftblasen enthielten. Auf diesem Öl-Luft-Gemisch konnten die Jaynums leidlich laufen. Die starre Außenhaut verlieh ihrem Gang dabei allerdings etwas Steifes, Ungelenkes. Divorsion zog seine Stiefel an und überquerte den Platz. Für heute war keine Landung eines Raumschiffs vorgesehen. Man hätte die Passanten auch gewarnt, den Platz zu überqueren, hätte ein Schiff zum Landeanflug angesetzt. Der Boden des Landefelds bestand aus Kunstgestein, das in einem Fuß in den Boden eingelassen war. Vierzig Meter tief ragte dieses Gestein in den Boden. Auf dieser massiven, kilometergroßen Platte konnten sogar die großen Truppentransporter der Oberen ungefährdet landen. Divorsions Arbeit bestand hauptsächlich darin, in den gelandeten Raumschiffen für Sauberkeit zu sorgen. Er mußte Abfälle wegräumen, die nutzlos gewordenen Hüllen der Oberen in die Verbrennungsanlagen schaffen und dergleichen mehr. Das Schiff, um das sich Divorsion zu kümmern hatte, war am Vortag gelandet, als Divorsion bereits auf dem Heimweg gewesen war. Der Obere, dem das Schiff gehörte, wartete in der Schleuse auf Divorsion. Er hatte die Gestalt eines Bewohners von H'thara angenommen - nur waren seine Fußballen nicht so groß und weich wie die eines Jaynums. „Spute dich“, befahl der Obere und machte eine herrische Geste. „Sieh zu, daß das Schiff sauber wird. Ich will bald wieder starten!“ Der Obere ließ Divorsion stehen und verließ das Schiff. 20
Divorsion sah ihm wutentbrannt nach. Es gab auch ohne die Oberen Rangunterschiede auf H'thara, aber niemals hätte ein ranghoher Jaynum einen rangniederen derart unhöflich und herrisch behandelt. Doch warum sollte ein Oberer zu einem Jaynum höflich sein, auch wenn er die Gestalt eines H'thara-Bewohners angenommen hatte? Seine Macht lag so grenzenlos über der eines einfachen Jaynum, wie die eines Jaynums über der eines Schilfhalms - für sich mochte der Halm Bestand haben, aber ein Jaynum konnte mit ihm machen, was immer ihm einfiel. „Die Götter mögen dich verdammen“, knurrte Divorsion der davongehenden Gestalt nach. Er ging in das Innere des Schiffes. Die Raumfahrzeuge der Oberen waren in der Mehrzahl schlanke Jachten, die nur von einem Oberen benutzt wurden. Fünfzig bis achtzig Meter hoch, dabei knapp fünfzehn Meter durchmessend, boten sie einem Oberen den Platz und den Luxus, den er beanspruchen konnte. Zwei Drittel des Schiffes wurden vom Antrieb und von der Energieversorgung eingenommen. Dieser Bereich war für die Jaynums gesperrt. Die Schotte waren mit magischen Siegeln gesichert, die kein Jaynum angefaßt hätte - es sei denn, der betreffende Jaynum war lebensmüde. Den restlichen Platz nahmen die Wohnräume der Oberen ein. Je nach Gestalt verfügten sie über methangefüllte Räume, über Zimmer mit Sauerstoffbelüftung - was immer gewünscht wurde, konnte von den Servomechanismen geliefert werden. Divorsion machte sich an die Arbeit. Wie nicht anders zu erwarten, war die Mehrzahl der Räumlichkeiten auf die Verhältnisse H'tharas eingestellt. Dort hatte Divorsion leichtes Arbeiten; Er säuberte das Eßgeschirr, räumte Besteck auf, putzte den Boden, alles Arbeiten, die er schon Hunderte von Male durchgeführt hatte. Am Vorabend schien es in dem Schiff zu einem kleinen 21
Gelage gekommen zu sein. Überall gab es Blutflecke, die Divorsion mit kalter Gelassenheit wegwischte. Es gehörte zu seiner Arbeit, solche Spuren zu beseitigen - er hatte sich daran gewöhnt, wie an so vieles. Danach waren die Einheiten an der Reihe, die nicht dem Standard von H'thara entsprachen. In der kleinen Schleusenkammer streifte sich Divorsion den Druckanzug über und schloß die Flaschen mit Sauerstoff an. Die einzige Erleichterung war, daß der Obere vor seinem Fortgang die Schwerkraft im gesamten Schiff auf den Normalwert von H'thara eingestellt hatte. Das ersparte Divorsion die Mühe, sich unter der doppelten oder gar mehrfachen Schwerkraft bewegen zu müssen, und das noch dazu in einen unbequemen Anzug gezwängt und mit zwei Stahlflaschen auf dem Rücken. Divorsion mußte warten, bis die Automatik den Druckausgleich hergestellt hatte, dann konnte er einen weiteten Teil des Schiffes betreten. Divorsion stöhnte leise auf. Dichte Nebelschleier wallten um ihn herum, es war schneidend kalt. Der doppelschichtige Anzug hielt diese Kälte nur mühsam ab. Atmosphäre kroch durch Ritzen in der Maske und drang peinigend in Divorsions Geruchsgänge. Er konnte die Übelkeit gerade noch zurückdrängen. Bereits nach wenigen Schritten durch den Methannebel wäre Divorsion beinahe gestolpert. Das war ihm einmal passiert, und er war froh, diesen Tag überlebt zu haben. Die Hülle des Oberen lag auf dem Boden, die dürren Beine von sich gestreckt, die Flügel matt schimmernd. Einer der Flügel war geknickt, blaugrünes Blut hatte an der Stelle eine glitzernde Kruste gebildet. Die Fühler vibrierten leise bei den schwerfälligen Tritten, mit denen sich Divorsion vorwärtsbewegte. Die Hülle schimmerte in einem fahlen Gelb. Auf H'thara war Gelb die Farbe, die Behaglichkeit signalisierte. 22
Gelb war das Schiff, gelb war der Bast, mit dem die Häuser zusammengebunden wurden, gelb war auch der weiche, glucksende Boden, über den zu wandern eine Freude war. An der Hülle des Oberen wirkte das Gelb anders, bedrückend und bedrohlich zugleich. Vielleicht lag es an den zahngespickten Kiefern der Hülle, vielleicht an den Abmessungen - die Hülle war dreimal länger als Divorsion. Divorsion machte eine Gebärde des Abscheus, dann bückte er sich, um nach einem der sechs leblosen Beine zu greifen. Es wurde Zeit, daß die Hülle im Konverter landete, bevor sie in Fäulnis überging und die Luft mit Sauerstoff verpestete. Divorsion erstarrte in der Bewegung. Gedämpft, aus ganz großer Ferne klang es durch das Schiff. Alarm. Divorsion wußte, daß er in der Falle saß. 3. „Der Geist eines Menschen entzieht sich der Definition“, sagte der Psychologe. „Wir wissen immer noch nicht mit der bei Naturwissenschaftlern üblichen Exaktheit, wie Geist eigentlich definiert ist.“ Alexander fletschte die Zähne. Er war wieder bei Besinnung, aber gefesselt. Außerdem hatten wir ihm seine Waffen abgenommen. Er hätte damit nur Unfug angestellt, der große Alexander. „Wenn wir feststellen, daß in diesem Körper zwei verschiedene Geister Platz gefunden haben, dann - und das gebe ich zu - ist das nicht mehr als eine grob unwissenschaftliche Umschreibung.“ D.C. nickte nur. Seit der Wiedererweckung des Mazedoniers waren vier Stunden vergangen. Seither hatten die Wissenschaftler sich um Alexander gekümmert - in erster Linie 23
Psychologen und Biochemiker. Herausgekommen war bei der ganzen Untersuchung nichts, was D.C. nicht bereits in der ersten Viertelstunde diagnostiziert hatte - Alexander war, um einen altmodischen, aber überaus bildkräftigen Ausdruck zu gebrauchen, besessen. „Machen wir es kurz“, sagte D.C. gelassen. Sie hatte dem Disput der Wissenschaftler aufmerksam und mit großer Geduld zugehört „Der Patient weist zwei verschiedene Persönlichkeiten auf. Eine dieser Persönlichkeiten empfinde ich als ausgesprochenen lästig, flegelhaft und überflüssig. Ist es Ihnen, gleichgültig auf welche Weise, möglich, diesen Persönlichkeitsteil zu unterdrücken?“ „Natürlich“, sagte einer der Biochemiker sofort. „Wir müssen nur ... “ „Ja?“ fragte einer der Psychologen hämisch. „Nur?“ „Ich nehme an, daß sie den stark trieborientierten Teil der Persönlichkeit meinen'', fuhr der Biochemiker böse fort. „Diese Impulse können wir selbstverständlich unterdrücken, indem wir die solchen Impulsen zugrundeliegenden Hormongaben durch Medikamente mit antigonistischem Effekt kompensieren,“ „Wenn ich dieses Kauderwelsch nur höre“, stöhnte der Psychologe. „Herr Kollege ...“ „Ich wüßte nicht, in welcher Beziehung wir Kollegen wären“, kam es schneidend zurück. „Ich bin Wissenschaftler, Herr!“ „Herr Wissenschaftler“, fuhr der Psychologe fort, „wollen oder können Sie nicht begreifen, daß der menschliche Geist viel komplizierter ist, als Sie es sich vorstellen? Natürlich können Sie, um ein Bespiel zu gebrauchen, das Klingeln bei einem Verbrennungsmotor dämpfen, indem sie ihn mit hochoktanigem Flugbenzin betanken. Aber Sie müssen doch dabei bedenken, daß bei solchen Primitivkuren die Substanz leidet.“ , 24
D.C. hob die Hand. Fast augenblicklich wurde es im Raum still. „Ich schlage vor“, sagte sie ruhig, aber sehr bestimmt, „daß wir dem Patienten ein Medikament geben, das geeignet ist, die Wirkung einer Tiefenhypnose dauerhaft zu unterstützen.“ Die beiden Streithähne sahen sich verblüfft an, dann nickten sie hastig. „So geht es natürlich auch“, erklärte der Chemiker. »Dann fangen Sie an“, gebot Demeter Carol Washington. * Es gab kein Entkommen. Divorsion wußte das, und er ärgerte sich maßlos darüber, daß er keinerlei Hilfsmittel besaß, die ihm einen Ausweg eröffnet hätten. Alarm, das bedeutete, daß der Ring um das Raumhafengelände geschlossen wurde, Nichts Lebendes konnte dann mehr diesen Bezirk verlassen. Divorsion stieß einen unterdrückten Fluch aus. Es half nichts, er mußte seine Arbeit fortsetzen. Sehr lange konnte er es im methangefüllten Teil des Schiffes nicht mehr aushalten. Ächzend und schnaufend zerrte er an der leeren Hülle des Oberen. Fast schien es ihm, als grinste ihn die Hülle mit ihren handtellergroßen Facettenaugen spöttisch an. Divorsion verstärkte seine Anstrengungen. Er zerrte und schleppte die Hülle durch den Methannebel und war am Ende seiner Kräfte, als er endlich die Klappe des Abfallvernichters erreichte. Sein Atem ging schwer, und in seinen Lungen fraß das Methan wie eine Säure. Vorsichtig öffnete Divorsion die Klappe. Das irisierende bläuliche Feld wurde sichtbar. Erneut mußte Divorsion alle Kräfte aufbieten, um den ungefügen Körper der Hülle vor die Klappe zu bugsieren. Danach genügte ein kräftiger Stoß, um die Hülle abstürzen zu lassen. Fasziniert sah Divorsion zu, wie der Körper in Bewegung geriet, wie eines der langen dürren Beine in das Auflösungsfeld tauchte, das im gleichen Augenblick grell zu 25
strahlen begann. Als der Körper das Feld erreichte und atomar zerstäubt wurde, wurde das Leuchten so grell, daß Divorsion die Augen schließen mußte. „Geschafft“, murmelte er. Er schloß die Klappe, danach wischte er die Blutspuren auf, die er bei dem Transport der Hülle auf dem Boden hinterlassen hatte. Erst nach dem er auch diese Arbeit erledigt hatte, durfte er diesen Bereich des Schiffes verlassen. Was sich draußen auf dem Feld abspielte, interessierte Divorsion nicht sonderlich. Sobald er wieder normale Luft atmen konnte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich unter eine Dusche zu stellen, um den widerlichen Methangeruch aus dem Fell zu bekommen. Es war Mittagszeit, als Divorsion das Schiff des Oberen verließ. Triebwerkslärm hatte ihm verraten, daß mittlerweile weitere Schiffe der Oberen gelandet waren. Als Divorsion die Schleuse erreicht hatte und einen Blick nach draußen warf, wußte er, daß sich etwas Bedeutendes abzeichnete. Was dort auf dem Landefeld stand, das waren keine Jachten für die Oberen. Es waren schwerbewaffnete Truppentransporter, ein halbes Dutzend, zählte Divorsion. „Bei Jay“, murmelte Divorsion beklommen. „Was soll das werden?“ Tief unter sich sah er einen Jaynum, der ihm zuwinkte. Divorsion betätigte den Knopf, der den Gravitationslift in Tätigkeit setzte. Lautlos sank Divorsion in die Tiefe. Es war eine der einheimischen Wachen, die am Fuß des Schiffes auf Divorsion wartete. „Gut, daß du kommst“, sagte der Posten düster. „Noch ein paar Minuten mehr, und wir hätten dich geholt. Es wurde Alarm ausgelöst!“ „Das habe ich gehört“, sagte Divorsion leichthin. Er war zu intelligent um sich Illusionen zu machen. Daß die Spanne seines Lebens nunmehr kürzer ausfallen würde, lag in der 26
Natur der Dinge begründet. „Wir hätten dich in eine Strafkompanie gesteckt“, verkündete die Wache drohend. „Melde dich bei der Sammelstelle!“ Der Posten starrte Divorsion finster an und wartete, bis sich Divorsion dazu herabließ, ihn mit dem militärischen Ritual zu grüßen. Dann erst wandte sich die Wache zum Gehen. Betont langsam ging Divorsion quer über das Flugfeld. Die Sammelstelle lag in der Nähe des großen, rotlackierten Transporters. Alle Jaynums, die auf dem Raumhafengelände zu tun hatten, waren dort zusammengetrieben worden. Ungefähr ein Drittel der Jaynums war bewaffnet - ihre Aufgabe bestand darin, die anderen zu bewachen und in Schach zu halten. Verdrossen mischte sich Divorsion unter die Gruppe der Unbewaffneten. „Ausgerechnet heute“, erregte sich ein Alter. „Wo ich nur noch zwei Monate zu arbeiten habe. Ausgerechnet heute, um diese Tageszeit. In einer Stunde wäre ich verschwunden gewesen.“ „Was willst du, Alter“, fauchte ihn Divorsion an. „Du hast dein Leben bereits zum größten Teil hinter dir. Also beklage dich nicht. Übrigens - wohin soll es eigentlich gehen?“ Der Alte zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, murmelte er. „Bei Jay, daß mir das passieren muß. In meinem Alter stirbt man nicht gern.“ „In meinem auch nicht“, entgegnete Divorsion. Die Schlange - die Jaynums hatten sich in Fünferreihen aufgestellt -wand sich langsam in die Ausrüstungshalle hinein, deren Tore weit geöffnet waren. An den Torflügeln standen Jaynum-Wachen, aber diese Wachen trugen nicht nur Neuropeitschen sondern schwere, doppelläufige Strahler. Ihre Gesichter machten einen entschlossenen Eindruck. Kein Wunder, sie waren die einzigen Jaynums, die das Vertrauen der Oberen sichtlich genossen. Der Jynadar, der über die Jaynums herrschte, mochte großartige Abzeichen tragen und sich des 27
Wohlwollens der Oberen erfreuen - wirklich bevorzugt waren nur die Jaynums, die Energiewaffen trugen. Sie hätten es fertigbringen können, einen Oberen zu töten, sie allein besaßen die Waffen dazu. Es verstand sich von selbst, daß diese Jaynums hundertfach gesiebt waren. Es würde ihnen nicht im Traum einfallen, die Waffe gegen einen Oberen zu erheben - ebenso sicher war, daß sie auch keinen Sekundenbruchteil zögern würden, die Waffen gegen andere Jaynums zur Anwendung zu bringen. „Herhören!“ erklang eine Stimme über den Lautsprecherwagen, der mit hoher Fahrt über das Landefeld gerast kam. „Ihr seid ausgewählt, für die Oberen zu streiten. Ich hoffe, daß ihr diese Ehre zu würdigen wißt.“ „Schwätzer!“ knurrte Divorsion wütend. Er haßte die Unterdrückung durch die Oberen, aber mehr noch haßte er jene Jaynums, die nicht nur das taten, was ihnen aufgezwungen wurde, sondern die sich auch noch bemühten, sich bei den Oberen einzuschmeicheln. „Ihr werdet nun Waffen erhalten“, verkündete der Sprecher. „Ihr werdet diese Waffen zu gebrauchen lernen, und dann werdet ihr sie in einem glorreichen Kampf, der den Ruhm der Jaynums mehren wird, gegen den Feind richten.“ „Den Ruhm der Jaynums mehren“, stieß der Alte bitter hervor. „Wir sollen doch nur das Grab vertiefen helfen, in dem man uns begraben wird!“ Divorsion zuckte mit den Schultern. Was half das Räsonieren? Die Oberen besaßen die Macht, und sie hatten die Mittel, und die Oberen allein kannten auch die Wege, diese Mittel einzusetzen. Nur die Oberen besaßen Raumschiffe, sie allein bestimmten über den Einsatz der schweren und leichten Energiewaffen. Selbst wenn sie es gewollt hätten, die Jaynums hätten sich nicht auflehnen können - sie wußten nicht, wie man Raumschiffe oder Energiewaffen baute. 28
Divorsion stand in der Fünferreihe unmittelbar vor dem Tor der Ausrüstungshalle, als er eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Langsam, um die Wachen nicht nervös zu machen, drehte sich Divorsion um. Die magische Sperre war geöffnet worden, zum ersten Mal, seit Jaynums Kämpfer für das Imperium der Schwarzen Kamarilla stellten. Divorsion sah, wie Transportfahrzeuge durch die Tore fuhren, auf den Ladeflächen mit schwerbewaffneten Jaynums vollgestopft. Divorsion preßte die Kiefer zusammen. Er hatte nicht vor, seinen Tod willentlich herbeizuführen. Er plante, sich gehorsam ausrüsten zu lassen und dann abzuwarten. Aber, so schwor er sich in diesem Augenblick, niemals würde er seine Waffe auf einen Jaynum richten. Wenn die Oberen - was ihrem Gemüt entsprach, ihrem sonstigen Vorgehen nach aber unüblich gewesen wäre - ausgerechnet Jaynums dazu bestimmt hatten, unter Jaynums eine Strafaktion durchzuführen, dann würde er sich weigern. Eher würde er seine Waffe auf einen Oberen richten - vorausgesetzt, er bekam überhaupt einen zu Gesicht. Mit den nächsten Schritten betrat Divorsion die Ausrüstungshalle. So konnte er nicht mehr sehen, was auf dem Gelände des Raumhafens vorging. Er konnte nur hören, und sein geschultes Organ sagte ihm, daß innerhalb kurzer Zeit, vier riesige Truppentransporter auf H'thara gelandet waren. „Ich verstehe das nicht“, murmelte der Alte. „Wenn sie uns zwingen wollen, aufeinander loszugehen, wozu dann die Transporter?“ Divorsion zuckte mit den Schultern. Er hatte einen vagen Verdacht, aber er hütete sich, diese Mutmaßungen auszusprechen. In den Tagen und Wochen, die einer Truppenaushebung folgten, wurde - normalerweise - geübt. Und wer sich in diesen Übungen auszeichnete, durch Tapferkeit, Geschicklichkeit im Umgang mit der Waffe, Gewitztheit und Raffinesse, der hatte eine Chance, Offizier zu 29
werden. Offiziere lebten in er Regel besser - vor allem aber hatten sie die größten Überlebenschancen. „Stellt euch in ordentlichen Reihen auf!“ schnauzte ein Unteroffizier die Jaynums an. Er stand hinter dem Ausgabeschalter, narbenbedeckt, ein alter Kämpfer. Divorsion zuckte mit keiner Wimper. Ihn konnte dieser Anblick nicht beeindrucken. Mit Gesten, die so etwas wie Ehrfurcht erkennen ließen, übernahmen die Gepreßten ihre Waffen. Während |sie die Standardkampfausrüstung ziemlich gelassen anlegten, zitterten einige vor Erregung, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Energiestrahler in den Händen hielten. Divorsion gehörte zu den Erstlingen, aber er ließ sich nicht beeindrucken. Er ahnte bereits, was ihm eine erste schnelle Prüfung bald bestätigte - die Waffen waren gar nicht geladen. Am Wirksamkeit waren sie gar den Wurfkeulen unterlegen. Divorsion warf seine Dienstkleidung achtlos irgendwohin, dann schlüpfte er in die enge Kampfkombination, die wie eine zweite Haut den Körper umschloß. Der Stoff, aus dem die Kombination bestand, war bereits ein technisches Geheimnis erster Güte. Er half bei der raschen Heilung von Verletzungen, er paßte sich in der Farbe dem jeweiligen Gelände an, er war wasserdicht aber luftdurchlässig, temperaturstabil - die Liste ließ sich nach Belieben verlängern. Neben diesen angenehmen Eigenschaften besaß die Kombination auch noch eine Spezialität, die sie - in der Sicht der Betroffenen - zur Todesfalle machte. Wurde das Material mit einer Energieart bestrahlt, die nur den Oberen bekannt war, zog sich das Material blitzartig zusammen und zerdrückte den jeweiligen Träger. Ein besseres Verfahren, Meutereien im Ansatz zu ersticken, ließ sich kaum denken. Sorgfältig und ruhig befestigte Divorsion die Waffen am Gürtel: die Kriegskeule, das ultraharte Messer, die Handgranaten, die einen Psychokampfstoff verbreiteten (auf, den die Oberen nicht reagierten, selbstverständlich), den 30
kleinen Kasten mit Medikamenten und Verbandsmaterial. „Phantastisch“, rief ein junger Jaynum begeistert an Divorsions Seite. „Sieh nur einmal!“ Mit dem Kampfmesser säbelte der Junge Späne aus der Stahlkante eines Dachträgers. Divorsion konnte über soviel Unvernunft nur den Kopf schütteln. Ahnte der Junge denn nicht, was ihm bevorstand? Wußte er nicht, wie die Oberen mit Aufständischen verfuhren? „Die Gruppe verläßt sofort das Depot!“ brüllte es aus dem Lautsprecher. Divorsion beeilte sich, er war einer der ersten, die das Freie erreichten. So konnte er sich in strammer Haltung in der ersten Reihe aufbauen - in der Hoffnung, daß man ihn bemerkte und seinen Eifer zu würdigen wußte. Divorsion sah starr geradeaus, genau auf die Reihe der Truppentransporter. Es waren häßliche, ungeschlachte Kästen, aber sie erfüllten ihren Zweck. Wie dieser Zweck aussah, darüber wurde Divorsion belehrt, als er einen scheuen Blick zur Seite warf. Zum zweiten Mal war die magische Sperre geöffnet worden - diesmal, um Tausende von Jaynums einzulassen, die von Bewaffneten wie Vieh herangetrieben wurden. Divorsion erschrak heftig. Bis zu diesem Augenblick hatte er geglaubt, die Oberen rüsteten mit Hilfe der Jaynums eine Strafexpedition gegen ein unbotmäßiges Volk auf. Die Oberen griffen gern auf das Verfahren zurück, die eine Sklavenrasse zur Befriedung der anderen einzusetzen. Jetzt aber, angesichts der Heerscharen, die auf dem Raumfeld - zusammengetrieben wurden, zeichnete sich ab, daß es um mehr ging als nur um die Niederwerfung lokaler Aufständischer und Rebellen. Es sah nach einem Krieg aus, nach einem großen Krieg, in dem sich die Schlachten häuften. Denn zur gleichen Zeit, als die Oberen ihre Truppentransporter auf diesem Teil von H'thara landeten, gingen in anderen Gebieten weitere Transporter nieder, um die Armeen der Jaynums aufzunehmen. 31
Auf dem Raumfeld formierten sich Schlangen, die sich vom Eingang zur Ausrüstungshalle und von dort zu den einzelnen Truppentransportern wanden. An einigen Stellen kamen sich die Schlangen bis auf Rufweite nahe. Divorsion konnte ein zynisches Grinsen nicht unterdrücken, als er in einer Reihe von einstweilen noch Unbewaffneten ausgerechnet Klythiar entdeckte. Sein Freund machte ein Gesicht, in dem sich Niedergeschlagenheit und Wut abzeichneten. Kein Wunder, hatte er doch geglaubt, vor allen Anfeindungen gesichert zu sein. Als Student konnte er die meiste Zeit des Tages in der Wohnung verbringen, und dort war man weitgehend vor den Oberen sicher. Divorsion winkte seinem Freund zu, als er an ihm vorbeiging. Mehr erlaubte er sich nicht, dazu gab es in der Nähe zuviele Wachen. Die großen Truppentransporter fuhren die Rampen aus. Jedes der großen Raumschiffe faßte zehntausend Mann JaynumTruppen, und mittlerweile waren allein auf diesem Raumhafen zwei Dutzend Transporter gelandet. Es konnte keinen Zweifel mehr geben: Eine Großaktion stand bevor. Divorsion kannte sich in der Geschichte nicht sehr gut aus - sie war eine Geschichte der Oberen, und dafür interessierte sich kaum jemand. Aber selbst mit seinen geringen Kenntnissen erinnerte sich Divorsion, daß Aktionen der Oberen in dieser Größenordnung letztmalig vor einigen Jahrtausenden durchgeführt worden waren. Irgend etwas war geschehen im Meer der Sterne. Hatten die Oberen eine neue Welt entdeckt, die sie sich jetzt von den Jaynums erobern lassen wollten? Gab es Rebellionen, offenen Aufruhr im Reich der Oberen? Divorsion konnte vorerst keine Antwort auf diese Fragen geben. Er hatte mehr als genug mit sich selbst zu tun. Zudem erreichte er nach kurzer Zeit das Ende der Rampe, und damit war seine Verbindung mit der Außenwelt einstweilen 32
abgeschnitten. Der harte Stahlboden des Transporters tat den empfindlichen Füßen der Jaynums weh, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit bloßen Füßen über das obendrein bösartig kalte Metall zu gehen. Der Transporter mußte letztmalig Methanatmer befördert haben. Der Geruch war nicht zu verkennen und hing noch in jedem Winkel. Befördert wurden die unfreiwilligen Söldner jeder aktive Jaynum erhielt pro Einsatztag drei Einheiten, also praktisch ein Monatsgehalt - in Räumen, die eher an Käfige erinnerten. Jeweils zehn Jaynums wurden in einem Raum zusammengesperrt, in dem es sich nur aushalten ließ, wenn es sich fünf Mann auf den Betten bequem machten - sofern man es als Bequemlichkeit bezeichnen wollte, eng nebeneinander auf einem verdächtig aussehenden Sack zu liegen. Der Rest mußte sich auf den Boden hocken, und auch dort war die Bewegungsfreiheit mehr als eingeengt. Divorsion begann sich zu fragen, wohin die Reise gehen würde, aber ihm fiel keine Antwort ein. Die Jaynums besaßen nur geringe astronomische Kenntnisse, und die Oberen taten ein Übriges, die Jaynums unwissend zu halten. Divorsion faßte seine Waffe fester. Er wußte, daß ein Kampf bevorstand. Der Krieg war - zumindest für Divorsion - unvermeidlich geworden. Es war nur fraglich, und mit dieser Frage begann sich Divorsion zu beschäftigen, gegen wen er die Waffe richten würde - den Feind, den er noch nicht kannte, oder den Bedrücker, den er nur zu gut kannte oder gegen sich selbst. 4. Der Patient war überaus ruhig. Alexander lag auf dem Operationstisch, vorsichtshalber an 33
Armen und Beinen gefesselt. Auf den Monitoren konnten wir den Herzschlag, verfolgen und die Zackenlinie des EEG. Diesen Werten nach zu schließen, befand sich Alexander in einem Zustand höchster Erregung. „In seinem Schädel kämpfen zwei verschiedene Geister miteinander“, murmelte D.C. bedrückt. „Ich finde keinen anderen Vergleich, so scheußlich sich das auch anhören mag.“ „Und welcher dieser beiden Geister wird siegen?“ fragte Inky halblaut. D.C. zuckte mit den Schultern. Wir warteten bereits eine halbe Stunde auf ein Ergebnis. Die Drogen, die man Alexander eingespritzt hatte, waren längst voll wirksam geworden. Der Versuch des Psychiaters aber, den Kranken zu hypnotisieren, war nur teilweise gelungen. Der Geist - oder sollte man Dämon sagen? -, der Alexander gefangenhielt, kämpfte mit aller Verbissenheit. Die Gesichtszüge des Kranken waren entspannt. Das war eine Folge der Medikamente. Das EEG aber zeigte, daß der Geist des Mannes auf dem Operationstisch alles andere als entspannt war. Wir konnten die Zackenlinien mit ihren erschreckenden Ausschlägen nur vage interpretieren. Was sich hinter der glatten Stirn abspielte, blieb uns verschlossen. Wir konnten nicht einmal sagen, wie dieser rein geistige Kampf überhaupt ausgetragen wurde. Sicher war nur, daß er stattfand. „Hoffentlich gewinnt Alexander“, flüsterte Marleen de Vries. D.C. verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. „Ich erhoffe mir das Gegenteil“, sagte sie knapp. „Alexander haben wir bereits erlebt.“ Marleen zog die Brauen in die Höhe. „Sie meinen ... ?“ fragte sie zweifelnd. „Die Persönlichkeit, die wir in diesem Raum zuerst erlebt haben“, sagte D.C. gelassen, „war Alexander - ein ungehobelter mazedonischer Barbarenhäuptling.“ 34
„Und der andere?“ D.C. zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise. * Divorsion konnte den ohrenbetäubenden Lärm hören, mit dem der Transporter vom Raumhafen abhob. Die Andruckabsorber konnten die Beschleunigungskräfte nicht ganz abfangen. Die Jaynums wurden vom Andruck auf den Boden gepreßt, daß ihnen die Luft wegblieb. Divorsion, der mehr mit künstlicher Schwerkraft zu tun gehabt hatte als seine Leidensgefährten, überstand die erste Beschleunigungsphase ohne Blessur. Zwei seiner Gefährten hatten weniger Glück und mußten während einer Periode freien Falles in die Krankenabteilung gebracht werden. Divorsion kannte sich an Bord von Raumschiffen besonders gut aus, daher betraute man ihn mit der Aufgabe, den kleinen Transport durch das Innere des Raumschiffs zu führen. Sie waren nicht die einzigen, die Verletzte schleppten, und angeblich hatte es sogar zwei Tote gegeben bei dem wilden Startmanöver. Divorsion verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen, als er in einer Gruppe von Krankenträgern ausgerechnet seinen alten Freund Klythiar wiederentdeckte. Klythiar schleppte mit verdrossenem Gesicht einen Leichtverletzten. „Es gleicht sich alles aus“, spottete Divorsion. „Nicht wahr?“ Klythiar winkte ab. Vor dem Eingang zur medizinischen Sektion staute sich der Verkehr. Nur jeweils einem Krankentransport war es möglich, sich durch das nur halb geöffnete Schott zu zwängen. Die anderen mußten warten. „Hast du eine Ahnung, wohin die Reise geht?“ Klythiar hatte sich in dem allgemeinen Durcheinander an 35
Divorsion herangeschoben. Seine Stimme verriet einiges von der Besorgnis, die den jungen Jaynum erfüllte. Divorsion zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich“, sagte er. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und tat so, als sei er das Durcheinander gewöhnt. Die Rolle des erfahrenen, abgebrühten Kämpen stand ihm gut. Klythiar hingegen wurde seiner Nervosität nicht Herr. Seine Gesichtszüge verrieten seine Angst. Divorsion zuckte mit keinem Muskel, als der Transporter zu einer neuen Beschleunigungsphase ansetzte und die Andruckabsorber erneut nicht hundertprozentig arbeiteten. Die Jaynums purzelten durcheinander, und ihre erschreckten Schreie übertönten das Schmerzgeheul der bereits Verletzten, auf deren Wunden und Brüche die Gesunden fielen. „Verflucht seien ...“ Die Stimme überschlug sich fast und brach auf dem Höhepunkt ab. Nicht einmal in dieser extremen Lage brachte es ein Jaynum fertig, eine Verwünschung der Oberen auszusprechen. Die Angst vor diesen Wesen war tiefverwurzelnd und den Jaynums von Kindesbeinen an eingebleut worden, und wer dann noch das Pech hatte, einem leibhaftigen Oberen über den Weg zu laufen, der hatte seine Lektionen in Furcht und Schrecken gelernt. Es dauerte zehn Minuten, bis im Vorraum zur Medosektion wieder ein Zustand einkehrte, den man mit einigem Wohlwollen als Ruhe bezeichnen konnte. Ein gewisses konstantes Murmeln ließ sich von den Wachen beim besten Willen nicht unterdrücken. Noch immer hielt sich Klythiar in Divorsions Nähe auf. „Deine Ruhe möchte ich haben“, murmelte der Jüngere. Divorsion zuckte mit den Schultern. „Was heißt schon Ruhe“, sagte er ebenso leise. „Ich weiß, daß ich keinen Einfluß mehr auf das habe, was uns bevorsteht. Alles, was ich tun kann, läuft darauf hinaus, das Ende meines 36
Lebens rascher herbeizuführen. Wozu also sollte ich mich aufregen.“ Klythiar sah sich unruhig an, bevor er weitersprach. „Aber bedenke, man wird uns Waffen geben“, flüsterte er. „Energiewaffen. Damit kann man ...“ Divorsion lächelte geringschätzig. „Das bleibt abzuwarten“, sagte er ruhig. Er stand auf, als eine der Wachen ihm mit einem Handzeichen bedeute, daß er seinen Kameraden in die Medosektion bringen sollte. Divorsion griff nach einer der Tragestangen an der Trage und gab seinem Gefährten ein Zeichen. Klythiar faßte unaufgefordert ebenfalls zu. Er schien sich entschlossen zu haben, in jedem Fall, was auch immer geschehen mochte, in Divorsions Nähe zu bleiben. In der medizinischen Abteilung herrschte eine Atmosphäre, die von unübersehbarer Hektik war. Die einzigen, die sich von dieser Stimmung nicht anstecken ließen, waren die Steuereinnehmer. Sie, die in jedem Krankensaal, jedem Sterbezimmer zu finden waren, zeigten sich nie von irgendeiner Stimmung beeindruckt. Zu einem Gefühlsausbruch wären sie auch niemals in der Lage gewesen. Die Oberen ließen ihre Steuern durch Roboter eintreiben, die kein Mitleid kannten und unbestechlich waren - im Guten wie im Bösen. Sie forderten niemals mehr, als ihnen nach Gesetz und Recht zustand - im Falle von Schwerverletzten und Sterbenden war das alles. Angewidert und zugleich gefesselt sah Divorsion zu, wie einer der Steuerkollektoren seine Sonde in den Körper eines Sterbenden einführte und mit einem leisen Klicken die Saugpumpe einschaltete. Der Vorgang selbst nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch, dann hatte der Kollektor jeden Kubikzentimeter Blut des Sterbenden abgesaugt. Divorsion mußte sich setzen. Er war in diesem Monat schon dreimal einem der Oberen 37
über den Weg gelaufen und hatte den Tribut zahlen müssen mit Blut. Wenn man dies ausklammerte, war die Herrschaft der Oberen fast schon gemäßigt zu nennen. Wer sich ruhig verhielt und sich nichts zuschulden kommen ließ - beides allerdings überaus dehnbare Begriffe -, konnte einigermaßen frei und unbeeinflußt leben. Die Oberen forderten nicht mehr als höchstens zehn Prozent des Bruttosozialprodukts - und Blut. Kein Jaynum wußte, warum die Oberen ihren Untertanen Blut abzapften. Sie taten es einfach, und die Jaynums mußten sich fügen. Divorsions Schwächeanfall ließ etwas nach. Er kam wieder auf die Beine, gerade noch rechtzeitig, um einen totenbleich gewordenen Klythiar aufzufangen. Der Jüngere schien den Anblick der Medostation nicht verkraften zu können. „Schwächling“, murmelte Divorsion verächtlich und ließ den jungen Jaynum auf den Boden des Raumes gleiten - nackten, fleckigen Stahl. Erleichtert atmete Divorsion auf. Viel länger hätte er Klythiar nicht halten können - der dreimalige Blutverlust des letzten Monats hatte ihn sehr schwach und anfällig gemacht. Niemand kümmerte sich um Divorsion, als er die Medosektion verließ. Divorsion kannte den Dienstbetrieb an Bord von Raumschiffen. Da die meisten Jaynums von den technischen Innereien eines solchen Transportmittels nicht das geringste verstanden, durften sie sich frei im Innern bewegen. Zudem waren die Inneneinrichtungen solcher Schiffe narrensicher wer an den Knöpfen und Hebeln herumspielte, setzte lediglich sein eigenes Leben aufs Spiel. Zu einer Schaltung, die für einen der Oberen hätte gefährlich werden können, konnte es nicht kommen, dafür sorgten die Automaten in der Zentrale des Schiffes. In einem Winkel in der Nähe der Offiziersunterkünfte stieß Divorsion dann auf ein Bild, das ihn zurückzucken ließ und 38
ihm ein Gefühl kalten Schauders verschaffte - ein Oberer, über einen jungen Jaynum gebeugt. Der Jaynum zeigte die typische Angststarre, wie sie vom Biß eines Oberen schlagartig hervorgerufen wurde. Divorsion preßte die Kiefer aufeinander. Im letzten Monat hatte er diese Prozedur dreimal über sich ergehen lassen müssen, und er erinnerte sich an diese Vorfälle nur ungern. Es war nicht der feine Schmerz, mit dem die Hohlzähne der Oberen durch die Haut drangen, es war auch nicht das Gefühl einer herannahenden Ohnmacht, das einem solchen Zusammentreffen zwischen einem Jaynum und einem Oberen folgte - das war es nicht, was die Jaynums eine solche Begegnung fürchten ließ. Das Schlimmste war, eine Art Nahrungsmittel zu sein, von den Oberen wie ein Glas Wasser genommen, geleert und weggeworfen zu werden. Die Demütigung, die in diesem Vorgang lag, lief dem natürlichen Ehrgefühl der Jaynums völlig zuwider. Divorsion war im Begriff, sich zurückzuziehen, um dem jungen Jaynum die Peinlichkeit zu ersparen, gesehen zu werden, wenn der Obere ihn aus seinem Griff entließ. Der Obere war bewaffnet. Er trug an der Hüfte die gleiche Waffe, die auch Divorsion zugeteilt bekommen hatte. Einen Unterschied aber gab es. Die Waffe des Oberen war mit Sicherheit geladen, scharf geladen. Divorsion begann zu zittern. Sein Puls raste. Gier und Angst tobten in seinem Gehirn, und dann siegte die Gier. Mit dem Mut, den die Verzweiflung ihm gab, griff Divorsion an seine Hüfte. Unglaublich schwer wog die Waffe in seiner Hand, und er mußte sich anstrengen, als er die Waffe des Oberen aus dem Gürtel zog und gegen seine eigene vertauschte. Divorsion richtete die Mündung auf den Kopf des Oberen. Der Obere hatte die Augen geschlossen. 39
Ein Knopfdruck würde genügen. Eine winzige Bewegung, dann war der Obere tot, mit Sicherheit tot. Divorsions Hand mit der Waffe sank herab. Erstens nutzte ihm dieser private Racheakt überhaupt nichts, und zum zweiten mußte er gegenwärtigt sein, bei diesem Mord - denn nichts anderes wäre diese Handlung gewesen - auch den völlig unschuldigen jungen Jaynum zu töten. Es gab keinerlei Erfahrungswerte, was genau geschah, wenn ein Oberer einem Jaynum das Blut aus dem Leib saugte. Vielleicht mußte der Jaynum sterben, wenn die ekelhafte Verbindung gewaltsam getrennt wurde. Dann sah Divorsion wie sich der Körper des Oberen zu bewegen begann. Das genügte, um Divorsion in die Wirklichkeit zurückzubringen. Er mußte verschwinden, und das sehr schnell, bevor der Obere ihn wahrnehmen konnte! Divorsion brauchte nur einige Schritte zu machen, um außer Sicht zu kommen. Er verschwand hinter einer Biegung, und sobald er sich unbeobachtet wußte, begann er zu rennen. Nach einigen Dutzend Metern erreichte er eine Verzweigung des Ganges, und nach weiteren einhundert Metern hatte er eine Schar von aufgeregt diskutierenden Jaynums erreicht, in der er mühelos untertauchen konnte. Als er in Sicherheit war, holte Divorsion erst einmal tief Luft. Er wußte nur zu gut, welches Risiko er eingegangen war. Hätte der Obere ihn entdeckt ... er hätte nur noch wenige Augenblicke zu leben gehabt. Und selbst jetzt bestand noch Gefahr. Wenn der Obere den Tausch der Waffen bemerkte und eine Untersuchung forderte, war Divorsion ebenfalls verloren. Allerdings rechnete der Jaynum damit, daß in dem allgemeinen Durcheinander an Bord des Transporters keine gründliche Untersuchung möglich war. „Festhalten!“ erklang eine gebieterische Stimme ,aus dem Lautsprechersystem. „Wir setzen zum Landeflug an!“ 40
Divorsion sah sich hastig um. Er wußte, was es hieß, auf einem fremden Planeten zu landen, auf dem es vielleicht keinen Raumhafen gab. Nach kurzem Suchen hatte Divorsion einen Platz gefunden, der ihm sicher schien. Er hockte sich in den Winkel zwischen Boden und einer Treppe und klemmte sich dort regelrecht fest. Das Arbeitsgeräusch der Triebwerke verstärkte sich. Dazwischen erklang das nervtötende Pfeifen der Korrekturdüsen. Das Raumschiff wurde gedreht und kehrte dem Zielplaneten nun das Heck zu. „Seht euch den Feigling an!“ spottete ein junger, verwegen aussehender Jaynum, als er Divorsion in seiner Ecke entdeckte. Divorsion ging auf den Spott nicht ein, auch nicht, als sich eine Gruppe um sein Versteck zu scharen begann und ein boshaftes Gelächter anstimmte. Die Heiterkeit verflog schlagartig, als der erste Bremsschock durchschlug. Er fiel weit heftiger aus als die Stöße und Püffe beim Start. Die jungen Leute wurden davon völlig überrascht. Zum zweiten Male binnen weniger Stunden purzelten die Jaynums haltlos durcheinander. Während Divorsion sich festhielt, hörte er mit stillem Vergnügen zu, wie das Chaos aus Armen, Rümpfen, Beinen und Köpfen durch ein Gewirr von Wehlauten, Flüchen und Verwünschungen verstärkt wurde. Beim zweiten Bremsmanöver war das Chaos dann perfekt. Im Inneren des Schiffes sah es so aus, wie sich Divorsion einen alkoholisierten Ameisenhaufen vorstellte. Was ihn dabei amüsierte, war nicht nur das Gefühl der Überlegenheit den Jüngeren gegenüber - er war nun auch einigermaßen sicher vor einer Entdeckung. Denn in dem Durcheinander in den Räumen und Gängen wurden auch zahllose Ausrüstungsstücke vertauscht und verwechselt. Aus diesem Wirrwarr die verschwundene scharfe Waffe herausfinden zu wollen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Kriechströme flossen durch das Metall im Innenraum des 41
Schiffes. Divorsion, der damit gerechnet hatte, biß die Zähne zusammen und verkniff sich jede Schmerzensäußerung. Aus dem Gliederhaufen in seiner Nähe, der unablässig zuckte und zappelte, erklangen entsetzte Schreie. Woher sollten die jungen Jaynums, die niemals zuvor ein Raumschiff von innen gesehen hatten, wissen, wie alt und morsch die großen Truppentransporter der Oberen waren jedenfalls in den Bereichen der Zelle, in denen die Truppen zusammengepfercht wurden. Sie hatten die Leitungen nicht gesehen, in denen die Energie für die Schutzschirme von den Maschinenräumen nach außen geführt wurde - Kabel, über denen kurz nach dem Einschalten des Stromes Wolken standen, die von langsam verschmorendem Isolationsmaterial stammten. An einigen Stellen lag das blanke Metall der Leiter auf dem Boden - und wäre der nicht von einer fühlbar dicken Schmutzschicht überzogen gewesen, hätte sich der größte Teil der Energie im Innern des Transporters entladen. So floß die Energie überwiegend in die Schirmfelder, die einmal zur Abwehr der Luftmoleküle der fremden Atmosphäre dienten, zum anderen den Sinn hatten, feindliches Feuer zu neutralisieren. Divorsion, der immer wieder zusammenzuckte, konnte hören, wie die Atmosphäre und die Schirmfelder zusammentrafen. Reibung entstand, und die Schirmfelder wurden in Schwingungen versetzt, die sie prompt an den Schiffskörper weitergaben. Zuerst war nur ein dumpfes Dröhnen zu hören, dann aber, je tiefer das Schiff in die Atmosphäre eindrang und je heftiger der Luftwiderstand wurde, steigerte sich dieser Ton - er wurde höher und lauter, und nach kurzer Zeit hatte er eine Höhe erreicht, die für die Ohren der Jaynums schmerzhaft war. Zum Glück behielt der Ton diese Höhe nicht lange bei, sonst wäre unter den Jaynums wahrscheinlich eine Panik ausgebrochen, die sich auf die Statik des landenden Schiffes verheerend hätte 42
auswirken können. Minuten vergingen, in denen das Schiff auf den Planeten herabstürzte. Das Geräusch des Hecktriebwerks schwoll zu einem Dröhnen an, und immer wieder brachen die Andruckabsorber für Sekundenbruchteile zusammen. Bereits nach kurzer Zeit wünschte sich Divorsion, das Schiff möge wie ein Stein abstürzen, um dieser Qual ein Ende zu bereiten. Als dann aber das Triebwerksgeräusch tatsächlich leiser wurde und auch der Ton von den Schirmfeldern abschwoll, fühlte sich Divorsion erleichtert. Erst als er den harten Stoß spürte, mit dem das Schiff aufsetzte, wurde ihm wieder bewußt, daß das Ärgste noch nicht hinter ihm lag. Ein metallisches Kreischen ging durch das Schiff, als die Landestützen belastet wurden. Divorsion hörte den Ton mit steigender Angst. Der Zielplanet besaß also keinen Raumhafen. Der Transporter mußte ; auf dem natürlichen Boden aufsetzen. Divorsion hörte das Bersten, mit dem zwei der Landestützen brachen und wegknickten. Er hörte das entsetzte Schreien seiner Leidensgefährten, er spürte, wie sich das riesige Schiffe zur Seite neigte, wie die Reaktoren noch einmal aufheulten und dann verstummten. Für die Dauer eines Herzschlags war es totenstill, dann krachte der Transporter auf den Boden, und für Divorsion zog sich die Welt hinter einem Vorhang aus undurchsichtiger Schwärze zurück. 5. „Versuchen Sie es noch einmal.“ Marleen trat zögernd einige Schritte näher. Alexander hatte ihr das Gesicht zugewandt. Es war der gleiche Mann, der vor kurzer Zeit erst aus einem 43
todesähnlichen Schlaf wiedererwacht war. Und doch sah er anders aus als vor einigen Stunden. Sein Blick hatte nichts mehr von jener primitiven Dreistigkeit, mit dem er vor Stunden zu D.C. hinübergeschielt hatte. Dieser Blick verriet Interesse, Neugierde. Marleen öffnete den Mund. Sie sprach klassisches Griechisch, daher verstanden wir so gut wie nichts von dem, was sie sagte. Aber wir konnten sehen, wie Alexander zu lächeln begann. Er sah gut aus, der berühmte Mazedonier, ein ausgesprochener Frauentyp, und wie wir an Marleens Gesichtsausdruck erkennen konnten, verfehlte er seine Wirkung auch bei modernen Frauen nicht. So einer hatte uns gerade noch gefehlt. „Er versteht, was ich sage“, sagte Marleen. „Fragen Sie ihn nach seinem Namen!“ bestimmte Demeter Carol Washington. „Ja, aber ... “, stotterte Marleen verblüfft. „Wir wissen doch, wie er heißt - er ist Alexander.“ Der Mazedonier nickte. Marleens Unterkiefer klappte nach unten. Da erst begriff ich, daß die Geste des Wiedererweckten verneinend gemeint war. Alexander begann zu sprechen. Marleen übersetzte, und sie bewies ihre Qualitäten als Dolmetscherin, indem sie synchron übersetzte. „Ich heiße nicht Alexander“, gab der von den Toten Auferstandene bekannt. „So heißt nur der Körper, dessen ich mich bediene. Mein wirklicher Name ist Divorsion.“ D.C. lächelte zurückhaltend. „Von welcher Welt stammt er?“ fragte sie knapp. Marleen übertrug die Frage ins Altgriechische. „Er weiß es nicht“, gab sie bekannt. „Seine Welt heißt H'thara, aber er kann nicht sagen, wo sich diese Welt befindet. Er fragt, ob wir ihm einen Körper verschaffen können, einen neuen Körper.“ 44
„Was gefällt ihm an diesem nicht?“ „Er muß ihn sich mit Alexander teilen“, verkündete Marleen. „Und das sei nicht angenehm.“ „Ich kann es mir denken“, sagte D.C. trocken. * Das erste, was Divorsion hörte, als er wieder zu sich kam, war ein wehleidiges Stöhnen. Er war überrascht, als er feststellte, daß er selbst dieses Stöhnen ausgestoßen hatte. Immerhin, stellte er fest, lebte er noch. Der Transporter war und damit hatte Divorsion gerechnet - einfach umgekippt, und nur die Tatsache, daß Divorsion sich rechtzeitig einen leidlich sicheren Halt, verschafft hatte, hatte ihn vor ernstlichen Verletzungen bewahrt. Mit seinen Leidensgefährten sah es nicht sehr gut aus. Tote waren zwar nicht zu beklagen, aber dafür gab es genug Leichtund Schwerverletzte. Divorsion rappelte sich auf. Es war nicht einfach, sich in einem Raum zurechtzufinden, dessen Decke zur Wand und dessen Wand zum Boden geworden war. Durch die geborstenen Platten der Hülle schimmerte Tageslicht ins Innere des Transportraumers. Die Luft war angenehm kühl und frisch. Es lag ein merkwürdiger Geruch in der Luft, ein vages, unbestimmtes Aroma, das Divorsion nicht zu identifizieren vermochte. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Die Luft, die er atmete, war nicht die Luft von H'thara. Diese Luft gehörte zu einer anderen, einer fremden Welt. Vielleicht hatte noch nie ein Jaynum diese Welt betreten. Divorsion zwängte sich durch die Risse in der Außenhaut des Transporters und erreichte das Freie. Stahlblau war der Himmel, der sich über dem weiten Land spannte. Der Boden war von saftigem Rot bedeckt, und wohlig 45
bewegte Divorsion seine empfindlichen Füße auf dem sanft, fast zärtlich nachgebenden Boden dieser Welt. Am Himmel standen ein paar zerfaserte weiße Wolken, die sich - in weiter Ferne und mit bloßem Auge kaum mehr zu sehen - am Gebirge zusammenballten. Das Schiff lag auf den Boden, und seine Hülle wirkte in dem sprießenden Rot des Bewuchses doppelt häßlich. Die anderen Schiffe, die etwas sorgfältiger gelandet waren, standen in der Nähe und reckten ihre scheußlichen Nasen in den Himmel. Die Luken waren geöffnet worden, und in langen Zweierreihen schoben sich die zwangsrekrutierten Jaynums aus den dicken Bäuchen der Transportschiffe. Die armen Opfer wirkten verloren, wie sie da auf der endlosen Wiese standen. Natürlich, das Gras hatte nicht die richtige Farbe, und als Divorsion sich niederbeugte und die Gewächse näher betrachtete, stellte sich auch heraus, daß es gar kein richtiges Gras war. Aber der Blick streifte über weites, weiches Land, in den die Füße fast versanken, es war angenehm warm, der Wind verschaffte ein wenig Kühlung, und wenn es in der Weite des Weltraums einen Planeten gab, der wie geschaffen dazu schien, von den Jaynums in Besitz genommen zu werden, dann mußte es diese Welt sein. „Unglaublich!“ Divorsion drehte sich nicht um. Er hatte Klythiar an der Stimme erkannt. „Ob es hier Leben gibt? Ich meine, Leben, so wie wir es kennen?“ „Möglich“, sagte Divorsion, den diese Frage wenig scherte. „Sogar wahrscheinlich, wenn man bedenkt, ,daß die Oberen uns bewaffnet hierherverfrachtet haben.“ „Eine schöne Welt“, murmelte Klythiar ergriffen. „Schön zum Leben.“ „Wir sind zum Töten hier“, erinnerte ihn Divorsion. Es tat ihm gut, Klythiar mit dieser schroffen Bemerkung zu verletzen. 46
Er hatte gerade das gleiche gedacht. „Zum Töten“, wiederholte er bitter. „Oder zum Sterben.“ Unwillkürlich griff er nach seiner Waffe. Er hatte beim Verlassen des Schiffes nachgesehen. Es war die Waffe, die er dem Oberen abgenommen hatte, und das Magazin war noch immer voll. „Warum lassen die Oberen uns nicht hier siedeln?“ fragte Klythiar. „Warum? Warum!“ äffte ihn Divorsion nach. „Weil sie die Oberen sind, darum. Such deine Ausrüstung zusammen. Lange wird man uns nicht mehr hier stehen und plaudern lassen.“ Er selbst machte sich auf den Weg zum nächsten Transporter. Ein Gleiter fegte mit hoher Geschwindigkeit über die Ebene. Er hielt in der Nähe der Transporter, aus denen immer mehr Jaynums förmlich hervorquollen. Sie stolperten die Laderampen hinunter und blinzelten in die Sonne, deren Licht ihnen in die Augen stach. „Herhören!“ brüllte es aus dem Lautsprecher, der oben auf dem Gleiter installiert war. „Dieser Planet heißt Fergulth, seine Bewohner nennen sich Fern, die Fern.“ „Bewohnt“, stieß Klythiar hervor. „Habe ich es nicht gesagt?“ „Sei still“, zischte Divorsion. „Die Fern werden bald bemerkt haben, daß ihr gelandet seid. Sie werden also sehr bald angreifen. Die Fern wissen, daß wir ihre Welt brauchen, und sie wissen auch, daß ihr in unserem Auftrag kämpft, für das Wohl der Gemeinschaft.“ „Was für eine Gemeinschaft verbindet Sklaven und Sklavenhalter?“ flüsterte Divorsion. „Es wird an euch liegen, das beste aus dieser Lage zu machen. Entweder erobert ihr den Planeten, oder die Fern werden euch töten. Wir werden solange Armeen auf dieser Welt absetzen, bis sie dem Siebengestirn dienstbar gemacht ist. 47
Es ist uns gleichgültig, wie lange dieser Konflikt dauern wird. Ihn zu lösen und zu beendigen, das ist allein eure Aufgabe. Es wird nicht mehr, lange dauern, bis die ersten Fern hier auftauchen werden.“ Der Obere grinste boshaft. „Viel Vergnügen“, wünschte er spöttisch. „Und glaubt nicht, daß ihr euch mit den Fern vielleicht einigen könntet - wir haben dafür gesorgt, daß die Fern sich auf keinerlei Friedensverhandlungen einlassen werden.“' In ohnmächtigem Zorn ballte Divorsion die Fäuste, und einige Jaynums taten es ihm gleich. Indes half es nichts. Es knackte laut und vernehmlich, als der Obere das Mikrophon ausschaltete. Der Gleiter setzte sich in Bewegung, und nach wenigen Augenblicken war das Fahrzeug im Rumpf eines Transporters verschwunden. Es fiel den Oberen nicht ein, öffentlich bekanntzugeben, daß sie starten wollten. Sie ließen einfach die Triebwerke anlaufen. Mochten die Jaynums zusehen, wie sie aus dem Startbereich kamen. Sobald der erste Ton erklang, setzten sich die Jaynums in Bewegung und stoben in panischer Angst auseinander. Divorsion, der mit dieser Aktion gerechnet hatte, konnte aus seiner Deckung erkennen, daß bei dem Start kein Mitglied seines Volkes verletzt oder gar getötet wurde. Divorsion wartete ab, bis der Transporter am Himmel kaum noch zu erkennen war, dann richtete er sich auf. „Hierher!“ brüllte er. „Alles her zu mir!“ Knapp zwei Dutzend Jaynums, die seinen Ruf hören konnten, befolgten den Befehl und scharten sich um Divorsion. „Wir haben keine Offiziere“, sagte Divorsion laut. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die eine besteht darin, daß wir abwarten, bis die Fern kommen und uns töten, die zweite, daß einer das Kommando an sich reißt und Befehle gibt, die dann auch befolgt werden müssen. So ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß wir die ersten Stunden und Tage überleben.“ 48
„Und du willst also unser Offizier sein?“ fragte ein älterer Mann. „Jawohl“, erklärte Divorsion. „Wenn ich versage, könnt ihr immer noch einen Nachfolger wählen. Aber bis dahin befehlige ich. Andernfalls werden wir nämlich soviel Zeit mit sinnlosen Diskussionen vergeuden, daß die Fern leichte Arbeit haben werden.“ Es trat das ein, was Divorsion erhofft hatte. Dadurch, daß er sofort die Initiative an sich gerissen hatte, hatte er sich vorerst ausreichend als Befehlsgeber legitimiert. Die Zukunft würde zeigen, was daraus wurde. Jedenfalls war die Mehrzahl der Jaynums froh, überhaupt einen Führer zu haben. „Ich werde gehorchen“, sagte Klythiar laut. Divorsion hatte damit gerechnet, daß er sich als erster melden würde, aber er hütete sich, die Bestätigung seines Verdachts mit einem Lächeln zu kommentieren. Nacheinander murmelten die Jaynums, daß sie - vorerst - mit Divorsions Führung einverstanden seien. Zwei tatenlustige junge Männer erklärten, lieber auf eigene Faust handeln zu wollen. Divorsion nahm diese Entscheidung, die nach seiner Einschätzung der Lage auf einen raschen Selbstmord hinauslief, schweigend zur Kenntnis. „Dann los“, sagte er schließlich. „Sammelt eure Ausrüstung. Laßt nichts liegen, gar nichts. Man kann nicht wissen, was wir noch brauchen werden.“ „Und dann?“ „Wir treffen uns hier bei dem Wrack“, bestimmte Divorsion. „Anschließend werden wir uns ein Nachtlager suchen - in den Bergen.“ In der Gruppe wurde Unmut laut. Berge, das waren Anhäufungen von Steinen mit vielen harten und spitzen Kanten und Zacken - also das genaue Gegenteil von dem, was die empfindlichen, an Sumpfland gewöhnten Jaynums schätzten. „Muß das sein?“ stöhnte Klythiar wehleidig. 49
„Es muß!“ sagte Divorsion hart. Er hatte mit voller Absicht diesen unbeliebten Befehl sehr früh gegeben - er mußte sicher sein, daß seine Truppe ihm gehorchte. Eine Mannschaft, die nur parierte, wenn es ihr in den Kram paßte, war unter den gegenwärtigen Bedingungen wertlos. Offenbar kamen die meisten zur gleichen Einsicht. „Wir gehorchen!“ murmelte der Alte, den Divorsion besonders im Auge behalten wollte. Ehrfurcht vor dem Alter war ein typischer Charakterzug der Jaynums - wenn sich der Alte Divorsions Befehlen unterwarf, war der Rest einfach. Die Männer zerstreuten sich. Divorsion setzte sich auf den Boden und genoß die feuchte Kühle. Es würde für geraume Zeit das letzte Mal sein, daß er so angenehmen Boden unter den Füßen hatte. Es vergingen sieben Minuten, bis auch der letzte Mann aus dem Trupp sich wieder eingefunden hatte. Divorsion schätzte, daß er über mehr als fünfzig Mann gebot, als sich der Trupp in Bewegung setzte. „Muß das wirklich sein?“ fragte Klythiar. Er hielt sich an Divorsions Seite. „Ich meine, wir müssen doch nicht sofort in die Berge ...“ „Wir müssen“, sagte Divorsion. Die Ausrüstung und das Gepäck schienen Tonnen zu wiegen, und die Gurte schnitten ins Fleisch. „Wir wissen nicht, wie die Fern überhaupt aussehen“, fuhr Divorsion fort. Er sprach mit Absicht sehr laut. Die Truppe sollte hören können, was er zu verkünden hatte. „Wenn sich die Bewohner des Planten auf dem Boden bewegen“, erläuterte er, „dann wird auch für sie das Gebirge sehr unwegsam sein. Und wir brauchen unter allen Umständen einen zeitlichen Vorsprung. Wir müssen wissen, wie die Fern aussehen, wie sie kämpfen, womit sie kämpfen - und wie wir ihren Angriffen begegnen können. Im Gebirge können wir uns vor ihnen eine Zeitlang verstecken, auf der Ebene sind wir 50
ihnen praktisch ausgeliefert.“ „Du hast recht“, ließ sich Klythiar herab, zuzugeben. Divorsion unterdrückte ein Grinsen. Er konnte hören, wie seine Erklärung weitergegeben wurde und allgemein akzeptiert zu werden schien. Divorsion marschierte an der Spitze des kleinen Trupps, neben ihm stapfte Klythiar ächzend über den weichen Boden. Das Gras stand hier ziemlich hoch. Die Jaynums verschwanden bis an die Brust darin. Vom Landeplatz der Schiffe aus waren sie nach kurzer Zeit nicht mehr wahrzunehmen. Das war Divorsion sehr recht. Er ahnte, daß eine Katastrophe bevorstand. Er kannte seine Jaynums. Der Planet war in diesem Teil seiner Oberfläche aus Jaynum-Sicht das reinste Paradies. Zudem hatte jeder Jaynum eine Energiewaffe in der Hand - und vermutlich längst vergessen, daß die darin enthaltenen Magazine leer waren. Wie immer die Fern aussehen mochten, ihr erster Angriff würde das Hauptheer höchstwahrscheinlich vollständig überraschend und daher mit vernichtender Wucht treffen. Die Oberen konnten dann - für sie eine leichte Aufgabe - ein neues Heer landen. Nach einem halben Dutzend solcher Schlachten hätten sie dann in den Überlebenden ein ausgesuchtes Korps von Offizieren und Unteroffizieren gehabt, die die Finessen eines Kampfes mit den Fern aus eigenem Erleben kannten. Und Divorsion hatte weder vor, beim ersten Angriff auf der Strecke zu bleiben, noch plante er, in dem Heer der Jaynums eine Offiziersstelle zu bekommen. Divorsions Plan sah anders aus. Er wollte sich mit seinem Trupp in die Berge verziehen und dort die nächsten Monate, wenn nötig, sogar Jahre, versteckt zubringen. Den fünfzig Mann - von denen erwartungsgemäß die Hälfte auf der Strecke bleiben würde - würden die Fern keine große Bedeutung beimessen angesichts der Tausendschaften, die die Oberen stündlich auf Fergulth landen konnten. 51
Divorsion wußte, daß man keinen ganzen Planeten mit der Taktik des Guerilla erobern konnte - wohl aber konnte eine kleine, gutgeführte und zu allem entschlossene Truppe von Guerilleros auf diese Weise die großen kriegsentscheidenden Schlachten überstehen. Später, wenn die Fern geschlagen waren und sich unterworfen hatten, konnte Divorsion dann mit seinen Soldaten aus dem Gebirge zurückkehren. In dem zu erwartenden allgemeinen Durcheinander konnte er sich dann wieder in die Reihen der Jaynums einschleichen. Divorsion war sich sehr wohl der Tatsache bewußt, daß er wie ein Feigling handelte. Es störte ihn nicht - schließlich hatte man ihn nicht gefragt, ob er ein tapferer Held zu werden beabsichtigte. Er wußte genau: Die Fern hatten keine Lust zu sterben, und die Jaynums legten ebenfalls wenig Wert auf einen Heldentod. Indes blieb den Fern gar nichts anderes übrig, als zu kämpfen, und so erging es auch den Jaynums. „Die Berge sind aber sehr hoch“, murmelte Klythiar besorgt und riß Divorsion aus seinen Gedanken. „Um so mehr werden wir von dort oben erkennen können“, gab Divorsion zurück. Der untere Rand der Sonne, die als großer, hellblauer Ball am Himmel hing, berührte die Ebene, als er mit seinen Männern die ersten Ausläufer des Gebirges erreichte. Er selbst war erschöpft, seine Soldaten nicht minder. Divorsion gab den Befehl, zu lagern. „Nach der Rast marschieren wir weiter“, sagte er dann herausfordernd und blickte sich um. In den Gesichtern seiner Untergebenen spielte sich Fassungslosigkeit. „Jetzt noch?“ fragte einer mit ungläubiger Stimme. „In der Dunkelheit?“ „Die Dämmerung wird noch eine Zeitlang dauern“, erläuterte Divorsion geduldig. „Wir können also noch eine tüchtige Strecke marschieren. Und je weiter wir uns vom Landeplatz 52
entfernen, um so sicherer sind wir vor den Fern.“ Er bekam ein Murren zur Antwort, mehr nicht. Einstweilen waren seine Zwangsrekruten damit beschäftigt, die Abendmahlzeit vorzubereiten. Wenigstens in diesem Punkt hatten die Oberen vorgesorgt. Jeder Soldat im Heer der Jaynums führte zwei Pfund Trockennahrung mit sich, hauptsächlich Fisch und Algenpaste. Die Jaynums brauchten nur Wasser, um die knochenharten Würfel in eine genießbare Speise zu verwandeln. Die Paste, die dabei entstand, war genießbar - was nicht hieß, daß die Jaynums die Mahlzeit genossen. Sie waren Frischkost gewöhnt, und die Konserven schmeckten fade. Überdies schmerzten allen die Füße. An das Schuhwerk mußte man sich erst gewöhnen. Wasser gab es in Hülle und Fülle. Gebirgsbäche waren zwar nicht ganz das, wovon ein Jaynum träumte, das Wasser war auch ein wenig zu klar und durchsichtig, um wirklich wohlschmeckend zu sein - aber es war naß und in Mengen vorhanden. Wenn sich dieser Zustand hielt, gab es einen Grund weniger, zu klagen. Divorsion erlaubte den zukünftigen Helden von Fergulth sogar noch ein Bad in einem Tümpel, den Klythiar entdeckt hatte, dann trieb er seinen Trupp wieder zusammen. Unwillig murrend, aber leidlich willig folgten die Jaynums ihrem selbsternannten Feldherrn ins Gebirge. 6. „Ich habe Angst“, verkündete Klythiar mit einer bei ihm ungewohnten Heftigkeit. „Ich gehe keinen Schritt mehr weiter!“ Zwei Tage waren vergangen, seit der kleine Trupp den Landeplatz der Transporter verlassen hatte. In diesen zwei 53
Tagen hatte Divorsion seinen Untergebenen das Letzte abverlangt, körperlich wie geistig. Allen schmerzten die Füße, die Eintönigkeit der Nahrung machte die Männer mürrisch, und einen Fern hatte man auch nicht zu Gesicht bekommen. Unter diesen Umständen verloren die Jaynums naturgemäß alles Interesse an einer Flucht, die Divorsion so erbarmungslos vorantrieb, als säße den Männern der Tod im Nacken. Divorsion stieß zischend die Luft aus. Die beiden Jaynums standen am Rande einer fast waagrechten Fläche aus weißem Fels. Dieser Fels sah etwas merkwürdig aus, aber da er in der Lage war, Felsmassive zu bilden, die bis in die Wolken reichten, mußte es wohl einigermaßen stabil sein. Das Gebirge jedenfalls bestand von einer bestimmten Höhe an ausschließlich aus diesem weißen Gestein. „Wovor hast du Angst?“ fragte Divorsion müde. Er war erschöpft, weniger körperlich als vielmehr psychisch. Es erforderte unerhört viel Arbeit, die Männer zusammenzuhalten und anzutreiben. Noch wurde seine Führungsrolle nicht angerührt, aber der Unwille der Jaynums stieg stündlich. Klythiar deutete auf die Felsplatte. Er zischte ebenfalls beim Sprechen, weil er die kalte Luft hastig einsog. „Das da gefällt mir nicht!“ stieß er hervor. „Irgendwie glaube ich, diese Art Fels ist ätzend oder giftig, oder sonst etwas. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter!“ Sekundenlang war es still. Divorsion hörte das Geräusch, das der Wind machte, wenn er durch die Felsen strich. In dieser Höhe war das Atmen schwer, und die Kälte behagte den Jaynums überhaupt nicht. Sie brauchten viel Energie, und aus diesem Grund schmolzen auch die Nahrungsmittelbestände rascher zusammen, als Divorsion angenommen hatte. „Ich gehe als erster“, verkündete Divorsion. Wenn er demonstrierte, daß an Klythiars ängstlichem 54
Geschwätz nichts dran war, würden sie ihm folgen - hoffte Divorsion. Er hoffte auch, daß seine Untergebenen ihm zu Hilfe kommen würden, sollten sich Klythiars Befürchtungen bewahrheiten. „Bleib hier!“ beschwor Klythiar seinen Vorgesetzten. „Du wirst das nicht überleben!“ „Das bleibt abzuwarten“, versetzte Divorsion gleichmütig. Er wußte, daß es kein Zurück gab. Erst wenn das Zentrum des Gebirges erreicht war, konnten sich die Jaynums leidlich sicher fühlen - vor den Fern und vor den Oberen. Der Weg in diese Sicherheit führte über den beängstigend gleichfarbenen hellen Fels. Divorsion machte ein paar Schritte. Inzwischen hatte er sich gezwungenermaßen an den unvermeidlichen leichten Dauerschmerz gewöhnt, den das Schuhwerk hervorrief. Er stand am Rand des Felsplateaus. Die Jaynums schrien entsetzt auf, als Divorsion einen weiteren Schritt machte, der ihn auf die Felsplatte führte. Eine Staubwolke wirbelte auf, und erschreckt sahen die Jaynums, daß sich Divorsions Beine unter der Einwirkung des merkwürdigen Materials bis an die Knie auflösten. Offenbar wirkte das Teufelszeug nicht nur chemisch, sondern auch psychisch. Divorsions stieß in seiner Qual ein wahnwitziges Gelächter aus, das den verängstigten Jaynums in den Ohren gellte. „Hierher!“ brüllte Divorsions mit sich überschlagender Stimme. „Kommt her zu mir!“ Klythiar streckte abwehrend beide Hände aus. Dann aber sah er, daß sich Divorsion erneut zu bewegen begann, und als sich die zweite Staubwolke gelegt hatte, stand er völlig unversehrt neben dem weißen Material. Klythiars Augen weiteten sich, als er Divorsions Schuhe sehen konnte. Offenbar hatte der Staub ihn wider Erwarten nicht aufgelöst. Vorsichtig ging Klythiar auf Divorsion zu. 55
„Ihr elenden Feiglinge“, rief Divorsion und grinste breit. „Ich weiß nicht was das für ein Zeug ist, aber es ist in jedem Fall ungefährlich.“ „Das wird sich herausstellen“, orakelte Klythiar. Er sah Spuren des merkwürdigen Materials an Divorsions Schuhen. Divorsion lachte laut und warf den weißen Staub mit beiden Händen in die Höhe. „Völlig harmlos“, kicherte er. „Und es ist ein Genuß, darauf zu laufen - wenn auch ziemlich kalt.“ Vorsichtig nahm Klythiar eine Probe des Stoffes. Er war sehr leicht und besaß eine eigentümliche, kristalline Struktur. Irgendwie erinnerte er Klythiar an ein Salz. „Was ist das?“ murmelte er ratlos. Die anderen Jaynums waren näher gekommen. Noch trauten sie der Angelegenheit nicht, und als Divorsion aus dem Kristallstaub mit den Händen eine Kugel formte und nach seinen Untergebenen warf, stoben die erschreckten Jaynums in panischer Angst davon. Einer verirrte sich in seiner Angst und kippte nach einigen überhasteten Schritten kopfüber in den Kristallstaub. Begleitet von einem gellenden Angstschrei verschwand er völlig in dem Staub. In Klythiar stieg wieder die Angst hoch, während Divorsion laut lachte. Nach wenigen Augenblicken tauchte der Junge wieder auf, verlegen grinsend und über und über bestaubt. „Es ist wirklich harmlos“, stieß er hervor. „Wirklich!“ Jetzt gab es für die anderen kein Halten mehr. Nach einigen wenigen turbulenten Minuten glich die Szenerie einem Tollhaus. Die Männer bewarfen sich mit dem Kristallstaub und tobten darin herum, bis ihnen die Luft wegblieb und sie sich nun tapfer geworden - der Länge nach in den Staub legten. Divorsion hatte sich längst die Schuhe ausgezogen und 56
stapfte in dem Staub herum. „Kalt“, stellte er fest. „Sehr kalt, aber leichter zu ertragen als die elenden Schuhe.“ „Ich wüßte gern, was das für ein Stoff ist“, murmelte Klythiar immer wieder vor sich hin. Er hielt eine Probe des Materials in der Hand und sah fassungslos zu, wie sich der Stoff aufzulösen begann. Die Kristalle schienen flüchtige Bestandteile zu enthalten, die bei Wärmeeinwirkung verwehten und nur eine Flüssigkeit zurückließen, die Klythiar in einem selbstmörderischen Geschmacks-Versuch als Wasser identifiziert hatte. Die flüchtigen Stoffe, vermutlich Gase oder ätherische Öle, waren völlig geruchlos und ohne Farbe. „Siehst du nun ein, daß wir diesen Weg nehmen müssen“, sagte Divorsion zufrieden. „Wir haben alle Vorteile auf unserer Seite - in diesem Kristallpulver kommen wir gut vorwärts, es gibt Wasser in ausreichender Menge für jeden, und in ein paar Tagen werden wir den Gebirgskamm erreicht haben und wissen, was für ein Land auf der anderen Seite liegt.“ „Hoffentlich hast du recht“, murmelte Klythiar, der nicht von seinem Pessimismus lassen wollte. Mißtrauisch beäugte er die Berge in der Umgebung. Schon jetzt waren die Jaynums höher gestiegen als jemals zuvor in ihrem Leben. Und die Bergspitzen ringsum, die es zu überwinden galt, waren noch entschieden höher als das Plateau, das die Jaynums erreicht hatten. „Wir werden sehen“, murmelte Klythiar skeptisch. „Wir werden sehen, was passiert.“ Divorsion schlug ihm lachend auf die Schulter. „Los, Leute“, rief er vergnügt. „Es geht weiter!“ * Divorsion lag auf dem Bauch und spähte in die Tiefe. Den Gebirgskamm hatten die Männer ohne Verluste 57
überwunden, und die unvermeidlichen Verletzungen hielten sich im Rahmen dessen, was man mit dem obligatorischen Medo-Kasten und ein wenig Geduld heilen konnte. „Ob die Fern dort unten wohnen?“ murmelte Klythiar. Divorsion machte eine Geste der Ratlosigkeit. „Wir werden es vermutlich bald erleben“, sagte er leise. Er setzte das Fernglas an die Augen. Unter ihm, nur verschwommen im Glas zu erkennen, lag eine weitere Ebene der Fläche nicht unähnlich, auf der die Oberen ihre unfreiwilligen Soldaten abgesetzt hatten. Viel mehr als das dichte Rot des Planzenbewuchses und das Blau einiger Flußläufe war nicht zu erkennen. Allerdings wies der Bewuchs ein derart regelmäßiges Muster auf, daß Divorsion eigentlich nicht daran zweifeln konnte, daß die Ebene bewohnt war. Wortlos setzte er das Glas ab und reichte es zu Klythiar hinüber. Der junge Jaynum hatte sich in den vergangenen Tagen erstaunlich entwickelt. Langsam begann Divorsion in ihm seinen Stellvertreter zu sehen. Die Strapazen, die die Überwindung des Gebirges gekostet hatten, waren nicht ohne Spuren geblieben. Klythiars Gesichtszüge verrieten neuerdings Härte und Entschlossenheit. Ein paar Kilo Fett waren ebenfalls verschwunden; er bewegte sich nun geschmeidiger, rationeller und auch kraftvoller als früher. Den meisten anderen war es ähnlich ergangen. Für Divorsion besonders wichtig war die Tatsache, daß er unzweifelhaft als Führer der Gruppe anerkannt war. Niemand hatte es gewagt, seine Abwahl vorzuschlagen oder einen seiner Befehle nicht zu befolgen. Daß wichtige Entscheidungen vorher besprochen wurden, war zur Selbstverständlichkeit geworden. Nur in einem Punkt hatte Divorsion seine Soldaten hintergangen. Die Männer hatten keine Ahnung, daß Divorsion über eine geladene Energiewaffe verfügte. Bisher war es auch nicht nötig gewesen, davon Gebrauch zu machen. Divorsion 58
ahnte allerdings, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis ein solcher Notfall eintraf, in dem er sich entscheiden mußte, ob er einen Kameraden oder sein Geheimnis opfern sollte. Wie diese Entscheidung ausfallen würde, stand für Divorsion fest. Divorsion kroch auf allen vieren vorsichtig zurück, dann richtete er sich auf. Klythiar behielt seinen Beobachtungsposten bei und suchte weiter nach Anzeichen von höherem Leben in der Weite der Ebene. „Freunde“, sagte Divorsion halblaut, „wir müssen eine Entscheidung treffen. Wir können im Gebirge bleiben und uns hier verstecken. Nach allem, was wir bisher erlebt haben, wissen wir, daß wir es zur Not sehr lange im Gebirge aushalten könnten.“ „Körperlich bestimmt“, bekam er zur Antwort. „Aber seelisch - wir sind nicht für die Berge geschaffen. Wie sieht die Alternative aus?“ „Wir unternehmen einen Vorstoß in die Ebene“, schlug Divorsion vor. „Dort können wir uns - so hoffe ich informieren, wie die Fern aussehen und wie sie kämpfen. Außerdem können wir im Flachland wesentlich leichter Nahrung beschaffen, bessere, wohlschmeckendere Nahrung, als wir sie in den Gebirgstälern finden könnten.“ „Dabei laufen wir aber Gefahr, von den Fern gesehen und verfolgt zu werden!“ hielt man Divorsion entgegen. Der zuckte mit den Schultern. „Völlig risikofrei zu leben ist ein Ding der Unmöglichkeit“, erklärte er. „Wenn wir in irgendeiner Weise erfolgreich sein wollen, müssen wir Risiken eingehen.“ Klythiar verließ seinen Beobachtungsposten und kam langsam näher. „Was würden wir Jaynums tun“, fragte er die Soldaten, „wenn wir entdecken müßten, daß auf unserer Welt ein Heer von Fremden gelandet ist.“ „Kämpfen!“ klang es ihm entgegen. „Die Feinde vernichten. 59
Krieg führen!“ „Ich vermute, daß die Fern genau das gleiche tun werden. Fraglich ist nur, wenn sie uns entdecken, wieviel Bedeutung sie unserer Gruppe beimessen. Solange das Große Heer noch existiert, werden sie uns wahrscheinlich gar nicht beachten.“ „Vorausgesetzt“, warf Divorsion ein, „daß die Fern wissen, daß es sich bei unserer Truppe nur um einen kleinen Haufen handelt.“ „Damit würden wir unsere eigene Schwäche offenbar machen“, sagte der Älteste in der Gruppe. Divorsion nickte. „Das müßten wir tun“ erklärte er. „Und ich gebe auch zu, daß wir nur solange einigermaßen sicher sind, solange das Große Heer die Fern bedroht. Ist dieses Heer erst einmal geschlagen, werden die Fern vermutlich eine Treibjagd auf die Überlebenden veranstalten - und dann sind auch wir an der Reihe.“ „Das Große Heer wird sich behaupten“, hoffte Klythiar. Divorsion machte ein abweisendes Gesicht. „Wir hätten trotz der Entfernung mitbekommen müssen, wenn die Oberen ein zweites Heer auf dieser Welt abgesetzt hätten. Unsere Leute wurden aber nicht verstärkt - und angesichts der Größe eines ganzen Planeten ist ein Heer von nur einigen Tausend Kämpfern hoffnungslos verloren.“ Diesmal war es Klythiar, der den Kopf schüttelte. „Wir wissen doch nicht einmal, wie die Bewohner dieser Welt überhaupt aussehen“, gab er zu bedenken. „Wie wollen wir dann wissen, was sie tun werden?“ „Erstens“, begann Divorsion, „sind wir mit Waffen auf dieser Welt gelandet. Das wäre nicht nötig, wären die Fern gleichgültig, wie sie aussehen - bereit, sich den Oberen zu unterwerfen, man hat uns hierhergebracht, damit wir kämpfen. Wenn wir auch nicht viel wissen - diese Tatsache jedenfalls steht fest. Ein Kampf ist absolut unausweichlich. Vielleicht 60
kann es unserem Trupp gelingen, sich aus diesen Kämpfen weitestgehend herauszuhalten, aber mehr wird uns kaum möglich sein.“ „Das Risiko, daß wir in die Kämpfe verwickelt werden, steigt, wenn wir Vorstöße in die Ebene unternehmen.“ „Das ist richtig“, gab Divorsion zu. Er sah sich um. „Gäbe es dieses Problem nicht, brauchten wir gar nicht erst zu diskutieren. Es ist euer Leben, das ihr riskiert - also entscheidet euch !“ „Ich bin für einen Vorstoß“, sagte Klythiar hastig. Divorsion konnte sich ein feines, kaum merkliches Lächeln nicht verkneifen. Der junge Jaynum war vom Übervorsichtigen zum Waghals geworden. „Ich komme mit!“ Die ersten Hände stiegen in die Höhe. „Noch eines“, warf Divorsion ein. „Wenn wir das Gebirge verlassen, dann selbstverständlich geschlossen. Wir dürfen unsere schwachen Kräfte nicht zersplittern.“ Ein rascher Blick in die Runde genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß er eine ausreichende Mehrheit für seinen Vorschlag gefunden hatte. Nur zwei Jaynums stimmte gegen den Plan, einen Erkundungsvorstoß in die Ebene zu unternehmen diesen beiden würde nichts anderes übrigbleiben, als sich der Mehrheit anzuschließen. „Wir brechen sofort auf“, bestimmte Divorsion. „Wir wollen das Flachland noch vor Einbruch der Dämmerung erreichen!“ Die Jaynums hatten gelernt, sich Divorsions Befehlen zu fügen. Sie gehorchten ohne Murren, schnürten ihre Gepäckbündel zusammen und machten sich auf den Weg. Von Weg konnte genaugenommen keine Rede sein. Vermutlich gab es Trampelpfade oder Saumwege im Gebirge. Divorsion konnte sich nicht vorstellen, daß die Berge das Land tatsächlich teilen konnten. Die Fern hatten mit Sicherheit Mittel und Wege gefunden, den Warenaustausch auch über das 61
Gebirge hinweg durchzuführen. Zur Zeit schien dieser Verkehr jedoch zum Stillstand gekommen zu sein. Im Gebirge jedenfalls hatten die Jaynums kein höheres Leben feststellen können. Die Wege, die zu anderen Zeiten wahrscheinlich benutzt wurden, waren jetzt von Schnee bedeckt und nahezu unpassierbar. Ziemlich verwundert hatten die Jaynums feststellen müssen, daß das kristalline Pulver, das überall die Berge bedeckte, nichts weiter war als eine ihnen bisher unbekannte Spielart von normalem Wasser. Wasser in dieser Gestalt auf H'thara war völlig unbekannt. Divorsion ging als Anführer voran. „Wie glaubst du, werden die Fern aussehen?“ fragte Klythiar plötzlich. Diese Frage irritierte Divorsion. Es gab wichtigere Probleme als dieses, aber Klythiar kam immer wieder darauf zurück. „Werden sie uns ähnlich sein? Oder werden sie Ähnlichkeit mit den Oberen haben?“ „Warte ab“, empfahl Divorsion. „Früher oder später wirst du die Antwort bekommen.“ Er sah Klythiar verweisend an. Der junge Jaynum senkte den Kopf. Er wußte, daß er mit dieser Frage Divorsion auf die Nerven ging, aber das Problem bedrückte und quälte ihn sehr. Er hatte noch nie ein Wesen gesehen, das nicht auf H'thara geboren war. Einer ersten Begegnung mit fremden Intelligenzwesen fieberte er förmlich entgegen. „Haltet eure Waffen bereit“, sagte Divorsion leise. Auf dieser Welt wurde es nur langsam dunkel, die Dämmerung zog sich über Stunden hin. Es war denkbar, daß es zur Zeit für die Bewohner des Planeten bereits stockfinster war - es hing davon ab, wie ihre Sinnesorgane gebaut waren. Die Jaynums nahmen sehr langwellige Strahlung über ihre Greiforgane auf. Dort äußerte sich diese Strahlung als an- und abschwellender Druck. Feine Sensoren in der Haut reagierten 62
auf starke Schwankungen in den unregelmäßigen Molekularbewegungen. Für höherfrequente Schwingungen besaßen die Jaynums ein Organ in der Vorderseite ihres Kopfes - dort wurden extrem kurzwellige Strahlungen registriert - und ein paar weitere Organe an den Seiten des Schädels. Diese Organe reagierten auf Frequenzen im Bereich von 102-105 Schwingungen pro Zeiteinheit. Wie die Sinnesorgane der Fern gebaut waren, konnte Divorsion nicht abschätzen. Möglich war, daß die Jaynums ihnen auf diesem Gebiet überlegen waren. „Wir werden auf der Hut sein“, erklärte Klythiar. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der kriegerischen Mut verraten sollte. Divorsion hatte da seine Zweifel. Wenn er was ab und zu vorkam - sich selbst gegenüber ehrlich war, hielt er im Grunde niemanden für herausragend gut, nicht einmal sich selbst. Er wußte, daß er ein Feigling war - obwohl er in den letzten Tagen ein Verhalten an den Tag gelegt hatte, das seine Überzeugung eigentlich hätte Lügen strafen müssen. Indes wußte Divorsion, daß er hauptsächlich von der Angst vorwärtsgetrieben wurde. Er wußte, daß er auf diesem Planeten - Invasionsarmee hin und her - hoffnungslos in der Minderheit war. Genaugenommen mußte er auch vor seinen eigenen Leuten fliehen - wenn die anderen Jaynums ihn und seine Truppe zu fassen bekamen, würde man sie garantiert als Deserteure behandeln und töten. Diesem Schicksal konnte er nur entgehen, wenn die nächsten Wochen und Monate den Jaynums auf diesem Planeten ein handfestes Chaos bescherten, in dem das Verschwinden von ein paar Dutzend Soldaten nicht weiter auffiel. Er bewegte sich rasch und geschmeidig auf dem felsigen Boden. Die Gruppe hatte inzwischen eine Höhe erreicht, wo der Boden auf einigen wenigen Flächen wieder Bewuchs 63
zeigte. Den Bereich, in dem auf unerklärliche Weise Wasser zu dem weißen Kristallpulver wurde, hatten die Jaynums hinter sich gelassen. Divorsion warf einen Blick auf die sinkende Sonne. Eine Stunde lang konnte er seine Untergebenen noch vorwärtstreiben. Danach würde es auch für die Augen der Jaynums dunkel sein. Divorsion blieb plötzlich stehen. „Was gibt es?“ fragte Klythiar aufgeregt und schob sich an Divorsion heran. Wortlos deutete Divorsion auf den Boden. „Spuren“, sagte er; er war erstaunt, wie ruhig seine Stimme klang. „Dies ist ein Weg, ein oft benutzter Weg.“ Zweifelnd kniete Klythiar nieder. Divorsion hatte recht, daran konnte nach einer kurzen Prüfung kein Zweifel mehr bestehen. Hier waren irgendwelche Wesen gegangen, die über Intelligenz und - wie die Spuren an einigen Felsen bewiesen - auch über Werkzeuge verfügten. Der Fels zeigte deutlich Spuren von Bearbeitung. „Fern ?“ fragte Klythiar auf geregt. „Ich nehme es an sagte Divorsion leise und ruhig. Seine Hand griff fester nach der Waffe. „Ich gehe voran. 7. „Es ist überaus schwierig“, klagte Marleen. In ihrer Stimme waren Enttäuschung und Überanstrengung deutlich zu erkennen. Wir saßen im Dienstraum von D.C. und tranken Tee. Seit zwei Tagen war Marleen an der Arbeit; sie versuchte, die Geschichte, die uns Alexander zu erzählen hatte, zu übersetzen. „Sprechen Sie sich aus“, sagte D.C. sanft. „Da ist zunächst einmal das Problem, daß er in seinem echten Körper über einen ganz anderen Sinnesapparat verfügt haben 64
muß“, versuchte uns Marleen zu erklären. „Ich kann das vielleicht an einem Beispiel erläutern. Wir alle kennen Schwingungen. Ganz niedrige Frequenzen können wir als Schall hören. Werden die Schwingungen kurzwelliger, dann können nur noch einige Tiere etwas wahrnehmen - Hunde beispielsweise können Klänge hören, die wir als Ultraschall bezeichnen. Dann kommt eine Lücke, in der wir überhaupt nichts mehr wahrnehmen können, jedenfalls nicht mehr mit unseren Sinnesorganen.“ „Dafür aber mit einem Radio“, warf Inky ein. „Davon redest du doch, oder?“ Marleen nickte. „Technisch können wir diese Frequenzen verarbeiten“, fuhr sie fort. „Steigern wir die Zahl der Schwingungen pro Sekunde noch mehr, dann können wir plötzlich sehen - Licht, Farben und dergleichen. Und an diesen Bereich schließt sich das Ultraviolett an, die Röntgen-, Gamma- und Höhenstrahlung. „Bis hierher komme ich mit“, sagte D.C. freundlich. Sie sah frischer aus als Marleen, obwohl sie in den letzten achtundvierzig Stunden garantiert nicht geschlafen hätte. „Nun stellen Sie sich vor, Sie müßten einem fremden Wesen den Unterschied zwischen Hören und Sehen klarmachen.“ Ich begann zu begreifen, vor welchen Schwierigkeiten Marleen bei ihrer Arbeit stand. „Wer nicht über die gleichen Sinnesorgane verfügt wie wir Menschen, wird überhaupt nicht verstehen, wovon wir reden. Er wird nur erkennen können, daß Schallschwingungen und sichtbares Licht in verschiedenen Frequenzbereichen angesiedelt sind. Er wird vielleicht sogar begreifen können, daß - aus unserer Sicht - zwischen Schall und Licht ein qualitativer Unterschied liegt. Was aber kein Andersartiger jemals begreifen wird, sind die Qualitäten selbst. Für ein solches Wesen haben Beethoven und Picasso praktisch das gleiche gemacht - sie haben Schwingungen zusammengestellt 65
und manipuliert. Den Unterschied zwischen einem Komponisten und einem Maler werden sie niemals begreifen.“ „Und der Fremde im Körper des Mazedoniers hat ein anderes Wahrnehmungsvermögen?“ Marleen nickte. „Ich habe zwei geschlagene Stunden gebraucht, bis mir endlich klar wurde, daß dieses seltsame Kristallpulver Schnee sein sollte - ich hatte an einen Stoff wie Sand gedacht.“ D.C. nickte verständnisvoll. „Und zu diesem Problem“, setzte Marleen ihre Klage fort, „kommt noch die Schwierigkeit, das alles aus dem Griechischen zu übersetzen.“ „Das müßte doch ziemlich einfach sein“, warf ich ein. Marleen lachte bitter auf. „Die alten Griechen“, klärte sie uns auf, hatten - um nur ein Beispiel zu nennen - ein ganz anderes System, Farben zu charakterisieren. Sie teilten Farben in völlig andere Kategorien ein als wir beispielsweise - sie kannten Farben, die hellglänzend waren, die dunkel schillerten, matt glänzten, stumpf waren und so fort.“ „Das würde bedeuten“, versuchte ich ihre Erklärung zusammenzufassen, „daß du erstens einmal die physikalischen Gegebenheiten von Alexanders Heimatwelt in unser PhysikSystem übertragen müßtest - und dann das dafür nicht genau passende altgriechische Wort, das Alexander benutzt, in ein dazu nicht genau passendes englisches Wort zu übersetzen hast.“ „Genauso ist es“, bestätigte Marleen. „Oder, um das ganze Problem wissenschaftlich knapp und unverständlich auszudrücken: Die Redundanz bei dieser Übertragung ist sehr gering.“ „Keine Fremdworte“, verbat sich Inky. „Sprich deutlicher, Mädchen.“ „Als Redundanz bezeichnet man das Maß, in dem eine 66
verstümmelte Information rekonstruierbar ist. Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu erläutern. Nimm an, du hast eine Tante in Washington, die dich gern einmal besuchen will. Damit du sie vom Bahnhof abholen kannst, schickt sie dir ein Telegramm mit folgendem Wortlaut: LIEBER INKY - ANKOMME ÜBERMORGEN SONNTAG DEN XY HAUPTBAHNHOF 15:30 - BITTE HOLE MICH DORT AUF BAHNSTEIG SIEBEN AB - VIELE GRÜSSE TANTE ANASTASIA. Im schlimmsten aller denkbaren Fälle ist das Telegramm so verstümmelt, daß nur noch eine Silbe verständlich ist: SO. Da dieses Telegramm aber sehr redundant ist, kannst du seinen Inhalt mühelos rekonstruieren. Daß die Nachricht aus Washington kommt, ist auf jeden Fall klar zu erkennen. Wenn du dich erinnerst, wen du dort alles kennst, dann weißt du auch, daß dieses Telegramm nur von der lieben Tante stammen kann. Wenn du weiter weißt, daß die Tante Angst vor Flugzeugen hat, ist auch klar, mit welchem Verkehrsmittel sie reisen wird und wo sie ankommt. Vermutlich wird sie auch keinen Zug nehmen, der mitten in der Nacht in Washington losfährt - und das wiederum grenzt die mögliche Zeit ihres Eintreffens sehr stark ein. Du wirst also keine Schwierigkeiten haben, rechtzeitig am Bahnhof zu sein, um sie in Empfang zu nehmen. Denn mit SO kann selbstverständlich nur ein Sonntag gemeint sein.“ „Aber nicht unbedingt der nächste Sonntag“, warf ich ein. „Irrtum“, entgegnete Marleen. „Ein Telegramm würde die sparsame Tante niemals verwenden, wenn sie statt dessen einen billigen Brief für ihre Ankündigung benutzen könnte. Dieses Telegramm kann also so verstümmelt werden, daß nichts außer der Information SO aus Washington übertragen wird - und doch kannst du rekonstruieren, wie das Telegramm ursprünglich einmal ausgesehen haben muß. Das nennt man Redundanz.“ 67
„Ich danke für die Erklärung“, sagte Inky feierlich. „Aber diese Rekonstruktion ist doch nur möglich, wenn ich bereits einen Haufen von Informationen habe, aus denen ich den tatsächlichen Sachverhalt rekonstruieren kann.“ „Genau das ist das Problem bei unserem Gast“, erklärte Marleen. „Was ich von ihm an Informationen bekomme, sind praktisch nur verstümmelte Informationen. Stelle dir vor, das besagte Telegramm würde durch einen Zufall bei mir abgegeben - ich könnte nicht das geringste damit anfangen. Und so ergeht es mir ununterbrochen.“ D.C. lächelte verständnisvoll. „Ich gebe Ihnen Zeit, sich auszuruhen, Marleen.“ Unsere junge Kollegin war zwar erst kurze Zeit Mitarbeiterin bei der Time-Squad, aber sie kannte die Verhältnisse bereits sehr gut. Wie gut, das verriet sie, als sie skeptisch fragte: „Wieviel Zeit zum Ausruhen wird das sein? Eine Viertelstunde?“ D.C. lachte halblaut. „Schlafen Sie sich aus“, erklärte sie gönnerhaft und warf einen Blick auf die Uhr. Mit der ihr eigenen freundlichen Rücksichtslosigkeit fuhr sie fort: „Und Sie, meine Herren, wünsche ich in zwei Stunden wieder hier zu sehen. Es gibt noch ein Problem zu lösen - wir müssen einen Körper für Divorsion beschaffen.“ „Jetzt?“ fragte Inky entgeistert. „Mitten in der Nacht? Wir können doch keine Körper aus dem Boden stampfen!“ „Deswegen“, sagte D.G. liebenswürdig, „gebe ich Ihnen ja auch zwei Stunden Zeit, sich etwas einfallen zu lassen.“ „Langsam“, murmelte ich - immerhin so laut, daß D.C. mich sehr gut verstehen konnte, „beginne ich mich zu fragen, ob wir unseren Kampf nicht aufgeben sollen. Soviel schlimmer kann die Sklaverei unseres uns bekannten Gegners gar nicht sein.“ D.C. zeigte ihr strahlendstes Lächeln. „Mag sein, daß sich die Peitschenschläge ziemlich ähneln“, 68
sagte sie strahlend. „Aber denken Sie auch an das Zuckerbrot ... “ Sie nahm Marleen am Arm und verließ mit ihr den Raum. Inky und ich sahen uns an. Wir zuckten mit den Schultern. „An die Arbeit!“ sagte ich. * Sie schafften es in dieser Nacht nicht mehr. Der Weg, den sie entdeckt hatten, war zwar bequemer als die Kletterei, die sie bisher hatten ertragen müssen, aber nun hemmte die Vorsicht ihr Vordringen. Sie verbrachten eine unerfreuliche Nacht. Jetzt, da sie genau wußten, daß es Leben, intelligentes, vielleicht gar waffentragendes Leben in ihrer Nähe gab, schliefen die Jaynums schlecht. Zudem mußten Wachen aufgestellt werden, die nach eventuellen Angreifern Ausschau zu halten hatten. Als Divorsion aufwachte, begann gerade die Morgendämmerung. Divorsions erster Blick galt den Wachen. Keiner der Posten schlief. Divorsion hatte auch nicht damit gerechnet. Er wußte, daß seine wackeren Krieger viel zuviel Angst vor den unbekannten Fern hatten, als daß sie es sich erlaubt hätten, auf Wache zu schlafen. Divorsion stieß seinen Nachbarn an. Klythiar brauchte einige Sekunden, um wach zu werden Zeit genug, ihn ein halbes Dutzend Mal zu töten. Dann aber sprang er auf und griff sofort zu seinen Waffen. „Langsam, mein Freund“, sagte Divorsion erheitert. „Wir werden nicht angegriffen. Also setz dich hin und iß erst einmal. Kämpfen kannst du später immer noch.“ „Ich habe geträumt' ersuchte Klythiar zu erklären. „Ich träumte, daß wir kämpfen müßten, gegen scheußliche Ungeheuer.“ 69
Er grinste plötzlich. „Wir waren übrigens die Sieger in diesem Kampf“, sagte er amüsiert. „Vielleicht hat es deswegen gedauert, bis ich richtig wach wurde.“ Selbstkritik, in diesem Zusammenhang ein positives Zeichen, dachte Divorsion. Er nahm einen Schluck aus der Feldflasche. Das Wasser schmeckte ein wenig schal. Es wurde Zeit, daß der Trupp einen größeren Tümpel erreichte. Dort konnte man endlich die lebenswichtigen Spurenelemente aus dem Schwebeteilchen herausfiltern. Mit Schrecken hatte Divorsion festgestellt, daß sich bei seinen Soldaten die ersten Mangelerscheinungen bemerkbar machten. Noch war der Zustand nicht kritisch. Aber war er es erst einmal, wurde die Angelegenheit lebensgefährlich. Vor allem für ihn selbst, das wußte Divorsion sehr genau. Er hielt es fast für ein Wunder, daß er bis zu diesem Tag alle Strapazen - und Mühen ohne größere Schwierigkeiten überstanden hatte - und das, obwohl er in den letzten Wochen dreimal einem Oberen in die Hände gefallen war. Eine Stunde später war die Truppe marschbereit. Divorsion ging voran, an seiner Seite stapfte - wie üblich - Klythiar den Berg hinab. Der Pfad schlängelte sich in vielen Windungen und Kurven langsam in die Tiefe. Immer wieder suchte Divorsion nach frischen Spuren, aber er fand keine. Offenbar zogen die Fern es vor, das Gebirge nur sehr selten zu überqueren. Was sich aus dieser Tatsache für Schlußfolgerungen ableiten ließen, konnte Divorsion nur ahnen. Es wurde Zeit, höchste Zeit, daß er einmal einem leibhaftigen Fern begegnete - nur so konnte er vielleicht eine Strategie entwickeln, die ihm und seinen Gefährten das Leben retten konnte, wenn es zu einem Kampf mit den Fern kam. Stunden vergingen, in denen sich nichts ereignete. Der Weg war ziemlich breit geworden und so bequem, daß die Truppe in 70
einen fast einschläfernd wirkenden Trott verfallen konnte. Um so heftiger wirkte der Schock, als Divorsion stehenblieb. Der nächste Mann prallte auf, und innerhalb weniger Sekunden war ein Durcheinander entstanden, das Divorsion nur durch einen scharfen Befehl wieder unter Kontrolle bringen konnte. „Hinlegen!“ befahl er und warf sich auf den Boden. „Klythiar, das Glas!“ Der junge Jaynum nestelte das Fernglas hervor und reichte es Divorsion. „Kannst du etwas sehen?“ wisperte er, nachdem er anstandshalber Divorsion eine Sekunde Beobachtung gegönnt hatte. „Kannst du die Fern sehen? Wie sehen sie aus?“ Mit einer heftigen Handbewegung gebot Divorsion Stille. Was sich da gegen den hellen Hintergrund scharf und kantig abzeichnete, war keine Felsnadel. Diese Gestalt war kein Naturprodukt. Die Einwirkung durch intelligente Lebewesen war nicht zu übersehen. Das Haus bestand größtenteils aus Felssteinen, die man sorgfältig zurechtgehauen und gestapelt hatte. Deutlich konnte Divorsion im Glas die wuchtigen Mauern aus dunklem Fels erkennen, die quadratische Struktur der Mauern. Das Haus stand auf einer Erhebung. Von diesem Platz aus hatten die Bewohner einen hervorragenden Blick in die Runde. Sich diesem Gebäude ungesehen zu nähern, würde eine schwierige Aufgabe werden. Es war schwer zu schätzen, wieviele Fern das Gebäude beherbergen mochte. Divorsion übertrug die Maßstäbe seiner Heimat auf die Verhältnisse von Fergulth und kam zu dem Ergebnis, daß ein Gebäude dieser Größe achtzig bis einhundertfünfzig Jaynums als Unterkunft dienen konnte. Wenn es sich um eine kriegerische Anlage handelte - und davon ging Divorsion aus -, deren Bewohnern man mehr zumuten konnte als Zivilisten, dann ließen sich mindestens zweihundert Bewaffnete in der Burg unterbringen. 71
Fünfzig Jaynums, deren kriegerische Qualitäten mehr als zweifelhaft waren, gegen die Besatzung einer kleinen Festung, deren Kopfstärke in jedem Fall höher anzusetzen war. Nur eines tröstete Divorsion. Er sah keine Wachen auf den Mauern der Burg. Es sah aus, als sei der große Krieg zwischen den Fern und den Jaynums nicht ausgebrochen. Zumindest schienen die Bewohner der Burg noch nichts davon zu wissen. Divorsion konnte sich nicht vorstellen, daß sie sonst die Burg unbewacht gelassen hätten. „Sollen wir es versuchen?“ Divorsion konnte nicht hören, wer die Frage gestellt hatte. Der Sprecher war aufgeregt, seine Stimme klang unnormal, überschlug sich. Angst, diagnostizierte Divorsion, unverkennbar Angst. Die Diagnose war leicht; ihm war die Burg ebenfalls nicht geheuer. „Wir müssen uns entscheiden“, stieß Divorsion hervor; er erschrak fast, als er den erregten, heiseren Tonfall seiner eigenen Stimme hörte. „Es ist eine sehr wichtige Entscheidung. Wir sind allein auf dieser Welt. Gut, es gibt noch das Große Heer, aber das wird uns nicht helfen können, wenn wir versuchen, die Burg zu erobern.“ „Wer spricht von erobern?“ warf Klythiar ein. „Wir könnten erst einmal nachsehen, wer oder was dort überhaupt lebt. Ich möchte keinen Streit mit den Fern anfangen. Wenn ein Kampf unvermeidlich ist, gut, dann wollen wir ihn austragen - aber ich werde nicht so dumm sein, einen solchen Streit überflüssigerweise heraufzubeschwören.“ In der Runde erklang beifälliges Gemurmel. Divorsion senkte den Kopf. Er dachte nach. Was war zu tun? Er zermarterte sich das Hirn, aber er fand keine Lösung für das Problem. Niemand wußte, was die Fern wie immer diese Wesen aussehen mochten - für Waffen benutzten. Wenn sich Divorsion mit seinen Leuten der Burg näherte und die Fern fingen von sich aus - vielleicht in 72
Kenntnis einer Schlacht zwischen Fern und Jaynums auf der anderen Seite des Gebirges - einen Streit an? Wer garantierte dann, daß sie nicht in der Lage waren, gleich beim ersten Zuschlagen sämtliche Jaynums aus Divorsions Haufen vom Boden wegzufegen, als hätte dieser Trupp nie existiert? Vielleicht gab es für die Jaynums nur die eine Möglichkeit, zu überleben - nämlich die, erbarmungslos und hart zuzuschlagen, vor allem aber: den ersten Schlag zu führen! „Ich schlage vor“, sagte Divorsion nach geraumer Zeit, und er krümmte sich fast, so schwer fiel es ihm, die Worte über die Lippen zu bringen. „Ich schlage vor, daß wir uns mit aller gebotenen Vorsicht der Burg nähern. Ich werde fünf oder sechs Mann mit mir nehmen - wir werden uns der Burg offen nähern. Den Rest wird Klythiar heimlich an die Burg heranführen sollte es zu einem Konflikt kommen, hätten wir so noch eine gewisse Macht in der Hinterhand.“ Er hütete sich, zu Klythiar hinüberzusehen. Daß der Junge vor Stolz beinahe platzte, lag auf der Hand. Und an den Gesichtern seiner Männer konnte er ablesen, daß einige mit Divorsions Wahl durchaus nicht einverstanden waren. Doch die Mehrzahl der Jaynums schien einzusehen, daß Divorsions Plan der einzige war, der aus dem offenkundigen Dilemma herausführte. Divorsion wartete. Er wartete darauf, daß einem seiner Männer eine andere Möglichkeit einfiel, ein Ausweg, bei dem er nicht offenen Auges in den möglichen Tod gehen mußte. Daß nur er, Divorsion, den Voraustrupp anführen konnte, lag auf der Hand - die Männer hätten ihm die Gefolgschaft verweigert, hätte er an Klythiars Stelle den Trupp geführt, der in sicherer Deckung sich der Burg nähern sollte. Davor, das Kommando abgeben und damit die Kontrolle über die Jaynums verlieren zu müssen, hätte er fast noch mehr Angst als davor, sich offen der Burg zu nähern. 73
Indes fiel keinem seiner Männer etwas ein. Niemand hob die Hand und machte einen Vorschlag, der Divorsion aus seiner mißlichen Lage hätte helfen können. Im Gegenteil, einige seiner Gefolgsleute blickten ihn fast schon bewundernd an - sie staunten offenbar über den Mut, mit dem er dem Tod ins Gesicht sah. Woher hätten sie wissen sollen, daß nichts Divorsion ferner lag als diese Absicht. Und nicht zu verkennen war bei den meisten auch die Zufriedenheit darüber, daß nur einige wenige den Kopf würden hinhalten müssen - wobei jeder im stillen damit rechnete, daß er zu jenem Trupp gehören würde, der sich der Burg in sicherer Deckung nähern sollte. „Dann brechen wir jetzt auf“, stieß Divorsion hervor. Er stand langsam auf, um seinen Untergebenen eine letzte Zeitspanne für einen besseren Vorschlag zu geben, aber niemand nutzte die kurze Pause. Divorsion seufzte leise, dann machte er sich auf den Weg. Unruhig umklammerte seine Hand die Energiewaffe, in deren Kolben ein Magazin stak, aus dem noch kein einziger Schuß abgegeben worden war. Ob diese Waffe - die einzige, von der bekannt war, daß sie einen der Oberen töten konnte - auch gegen die Fern unüberwindlich sein würde? In wenigen Stunden würde Divorsion genauestens Bescheid wissen. Divorsion brauchte sich gar nicht erst umzudrehen. Er wußte, daß seine tapferen Untergebenen im Gänsemarsch hinter ihm her trotteten, jeder sorgfältig darauf bedacht, den eigenen kostbaren Leib hinter dem des Vordermannes zu verstecken. Ab und zu warf Divorsion einen Blick zur Seite, flüchtig und verstohlen, um dem Gegner keinen Hinweis zu geben. Von der Truppe, die Klythiar anzuführen hatte, war nicht das geringste zu sehen. Entweder war sie noch gar nicht aufgebrochen, oder sie versteckte sich beim Marsch ganz hervorragend. „Langsamer“, bestimmte Divorsion. „Klythiar muß zu uns 74
aufschließen können.“ Dieser logisch klingende Befehl verschaffte ihm ein paar Augenblicke Zeit zusätzlich, bis zu dem Augenblick, an dem er in den Schußbereich der Burg geriet - wobei es ein Geheimnis war, welche Waffen die Fern gegen ihre Widersacher einzusetzen beliebten. Vielleicht ... Divorsion hoffte natürlich, daß die Ausrüstung der Fern primitiv war. Immerhin - was er bisher von Fergulth gesehen hatte, wies nicht darauf hin, als hätten die Fern sich darauf beschränkt, ihre Widersacher lediglich mit Steinen zu bewerten. Wenn die Oberen es für nötig erachteten, ein Expeditionskorps der Jaynums einzusetzen, dann gewiß nicht aus dem Beweggrund, diesen Jaynums zu einem exotischen Urlaub zu verhelfen. „Ganz langsam“, flüsterte Divorsion. „Ganz langsam!“ Der Vormarsch kam vollends ins Stocken. Minutenlang verharrten die Jaynums praktisch an einer Stelle, bis Divorsion klar wurde, daß er keine andere Wahl hatte. Mit einem leisen Seufzer machte er die nächsten Schritte. Einstweilen geschah nichts. 8. „Ein Idiot“, schlug Inky vor. „Wir nehmen einen Geistesschwachen, jemanden, dessen Intelligenz praktisch gleich Null ist.“ D.C. lächelte verhalten. Ich konnte ihr ansehen, daß sie dem Zusammenbruch nahe war. Aber sie gab nicht auf. Dies war der erste bekannte friedliche Kontakt mit einem Außerirdischen. In der Geschichte der Menschheit gab es keinen Augenblick, der von größerer Tragweite gewesen wäre - weder die Landung des Kolumbus auf einer Insel der Westindischen Gruppe noch jener 75
unvergessene Tag, da ein gewisser Neil Armstrong als erster Mensch den Boden eines fremden Himmelskörpers betreten hatte. All dies wurde geringwertig, verglichen mit dem, was wir erleben durften. „Das Problem“, sagte D.C. leise, „besteht nicht darin, einen neuen Gastkörper zu finden. Wir haben seit der Gründung der Time-Squad stets einen derartigen Wirtskörper in Reserve. Ich weiß, das hört sich unmenschlich an.“ Ihr beruhigender Blick galt mir. Sie wußte wie ich, daß ich selbst einmal ein solcher Idiot gewesen war. Der Zeit-Agent Tovar Bistarc hatte damals meinen Körper übernommen - und behalten. Und in seinem Körper hatte sich mein Geist entwickeln können. Jetzt war ich Tovar Bistarc, und ich gedachte es zu bleiben. Was Spielereien mit Geistesschwachen anbelangte, hatte ich naturgemäß eine ganz besondere Einstellung. D.C. wußte das. Wahrscheinlich informierte sie mich deshalb erst jetzt. „Wenn es so einfach ist, einen Körper zu beschaffen“, meinte Inky, „wo liegt dann das Problem ?“ „Unser Gast hat ganz offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten mit seinem derzeitigen Wirtskörper“, erklärte D.C. „Da es auch in der Vergangenheit genügend Idioten gegeben hat, stellt sich die Frage, wieso er in diesem Körper verblieben ist. Das Problem lautet also - wie bekommen wir den fremden Geist aus dem Körper des Mazedoniers heraus?“ Ich sah D.C. verblüfft an. Sie hatte recht mit ihrer Analyse der Lage. Wie konnten wir den Fremden und Alexander trennen? Mir fiel dazu nichts ein. D.C. sah zu Inky hinüber. Der zuckte hilflos mit den Schultern. Nacheinander sah unsere Chefin jeden ihrer Mitarbeiter an. In keinem der Gesichter war eine Lösung des Problems zu erkennen, alle sahen gleichermaßen finster und ratlos drein. 76
„Schade“, murmelte D.C. „Ich hatte gehofft, daß Ihnen vielleicht etwas eingefallen wäre.“ Sie sah auf die Uhr. „Vielleicht morgen“, setzte sie ihren Gedankengang fort. „Wir müssen die Angelegenheit überschlafen.“ Sie produzierte ein schwaches Lächeln. „Ist es nicht merkwürdig?“ fragte sie uns. „Ausgerechnet wir von der Time-Squad haben Zeitprobleme. Und uns hilft auch keine ... “ Sie hielt inne. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und machte dem Ausdruck der Entschlossenheit Platz. „Ist eine Zeitmaschine klar?“ fragte sie hastig. „Wenn ja, soll sie sofort eingeschaltet werden. Und Sie, Tovar, schaffen unseren Gast herbei. Wir werden ihn auf die Reise schicken.“ * Das Holz war alt, von Wetter angefressen. Die schweren Beschläge aus Eisen waren mit Stacheln besetzt, die zu den Jaynums herüberdrohten. „Das gefällt mir nicht“, sagte Divorsion. „Das gefällt mir überhaupt nicht.“ Es sah aus, als sei die Burg unbewohnt. Die Zugbrücke war hochgezogen. Auf den Zinnen war niemand zu erkennen. „Unglaublich“, murmelte Divorsion. „Warum ist dieses Gebäude verlassen?“ Er sah, daß sich im Hintergrund die Gruppe um Klythiar heranschob. Da sich nichts rührte, wurden auch diese Jaynums tapfer. Eine halbe Stunde verging, dann standen alle Jaynums auf der Plattform vor der Zugbrücke. Sie schnatterten aufgeregt durcheinander. Die Burg mit ihren hohen Türmen beeindruckte die Jaynums sehr. Divorsion sah sich die Burg etwas genauer an, und ihm 77
entgingen nicht die Öffnungen in der Burgmauer, von denen aus angreifende Scharen mit heißem Wasser begossen werden konnten oder brennendem Pech oder geschmolzenem Blei - die Phantasie der Belagerten kannte da keine Grenzen. Mit den Waffen, die die Jaynums einzusetzen hatten Divorsions Energiewaffe ausgenommen -, war diese Festung nicht zu stürmen, nicht, wenn es bei der Zahl der Stürmenden blieb und man auf Widerstand stieß. Divorsion hockte auf den Boden. Er holte sein Messer aus dem Gürtel und winkte einen Untergebenen heran, der ein Bündel Stricke zu schleppen hatte. Eines der dünnen, aber tragfähigen Seile band Divorsion an der Klinge des Messers fest. Mit dem Messer des Untergebenen verfuhr er ebenso. „Was hast du vor?“ erkundigte sich Klythiar. Divorsion unterdrückte ein Seufzen. Wieviele Handlungsmöglichkeiten blieben denn noch in dieser Lage? Er würdigte den Jüngeren keiner Antwort. Divorsion trat an den Rand des Burggrabens und begann das Messer an dem Seil um seinen Kopf zu wirbeln. Angesichts der blitzenden Klinge traten die Jaynums vorsichtshalber zurück. Divorsion mußte sehr genau aufpassen, um sein Ziel zu erreichen. Bei den ersten drei Würfen verfehlte er es. Dann aber schaffte er, was er sich vorgenommen hatte. Das Seil hatte sich um einen Mauervorsprung gelegt und hing daran fest. Jetzt kam es nur noch darauf an, auf irgendeine Art und Weise das baumelnde Messer wieder einzufangen. Dieser zweite Teil von Divorsions Plan erwies sich als erheblich schwieriger durchzuführen als der erste. Zwar gelang es Divorsion sehr bald, das zweite Messer so zu werfen, daß es im Holz der Zugbrücke steckenblieb. Dann aber stand er vor der Aufgabe, das dünne Seil, das an diesem zweiten Messer hing, so zu bewegen, daß es sich um das herabbaumelnde erste Messer legte. Immer wieder rutschte die Schlinge ab. Divorsion geriet sehr bald in Schweiß und dann auch in Wut. 78
Seine tapferen Untergebenen fanden nämlich seine Bemühungen hochinteressant und zeigten nicht die geringste Neigung, Ihrem Anführer helfend beizuspringen. Als Divorsion endlich sein Ziel erreicht hatte und sehr vorsichtig das erste Messer heranzog, brach die Meute tatsächlich in Beifall aus. Divorsion unterdrückte einen Fluch. Der Rest der Anstrengungen war schnell geschafft. Divorsion hatte nun beide Enden jenes Seiles in der Hand, das um eine Zinne geschlungen war. Aus diesen beiden Enden eine Schlinge zu formen, sie zuzuziehen und dann an diesem Seil hochzuturnen, war eine Angelegenheit von nur wenigen Minuten. Angst überfiel den Jaynum, als er; auf der Zinne stand. Er sah auf einen Burghof hinab, auf dem sich nichts bewegte. Die Burg wirkte wie ausgestorben. „Kannst du etwas sehen?“ rief Klythiar hinüber. Jetzt, da das Problem gelöst schien, erwachte sein Tatendrang. Divorsion schüttelte den Kopf. „Ich werde versuchen, die Zugbrücke herabzulassen“, rief er zu seinen Gefährten hinunter. Er brauchte dazu nur das Seil, an dem er hochgeklettert war, auf die andere Seite der Burgmauer zu befördern, dann konnte er vergleichsweise bequem hinabklettern. Divorsion ließ sich Zeit dabei. Die Stille zerrte an seinen Nerven, und aus der Höhe der Burgmauer wirkte der Boden des Burghofs mit seinen dunklen Pflastersteinen bedrohlich. Das ganze Gemäuer machte einen Eindruck finsterer Drohung. Divorsion begann schneller zu atmen, und das nicht nur, weil das Klettern am Seil anstrengte. Ihm war es, als steige er mit jeden Fußbreit Seil, den er tiefer sank, der Finsternis entgegen, dem Grauen in den offenen Rachen. Das Geschrei seiner Freunde draußen wurde immer leiser, je tiefer er kam. Die Burgmauer schirmte den Lärm ab, das sagte ihm sein Verstand. Eine geheimnisvolle Macht schob 79
eine Wand des Schweigens zwischen ihn und die Welt, das sagte ihm sein Gefühl, und das Gefühl bekam langsam die Oberhand. Unwillkürlich spähte er in die Höhe. Der Himmel verfinsterte sich. Wolken ballten sich zu schwarzen, unheilschwangeren Gebilden zusammen. Der Wind, der durch das Gemäuer pfiff das erste Geräusch, das Divorsion hören konnte -, wurde eisig kalt und strich ihm dem Rücken entlang. Wie eine Feuerschlange fühlte sich das Seil in seinen Händen an. Alles in ihm drängte danach, das Seil loszulassen. Divorsion beherrschte sich. Er kletterte langsam, mit gleichmäßigen Bewegungen hinab. Als er mit den Füßen, den Boden berührte, traf es ihn wie ein Schlag. Der Boden war warm, erheblich wärmer als die Umgebung. Blitzartig stieg in Divorsion die Panik hoch. Er griff nach dem Seil. So schnell wie möglich fort - aber das Seil entwand sich seinen Händen, fiel auf ihn herab. Er schrie, als sich Windung auf Windung um ihn legte, als führe eine unsichtbare Hand das Seil, um ihn zu erwürgen. Mit einem häßlichen Klatschen landete der letzte Rest des Seiles auf dem Boden. Divorsion machte zwei weite Sätze, die ihn von dem Seil fortbrachten. Er vergaß, daß er selbst so dumm gewesen war, die Schlinge halb zu lösen. Keine Geisterhand hatte an dem Seil gearbeitet. Und doch ... Divorsion steckte im Würgegriff der Angst, und diese Angst wuchs mit jedem, Augenblick. Es gab nur ein Mittel, diesem Gefühl zu begegnen - Divorsion mußte schnellstens seine Gefährten in die Burg lassen. Er rannte nach links. Dort stand der Torbau, der von außen praktisch unbesteigbar war, dank seiner Stacheln und Bewehrungen. Die Zugbrücke war eine einfache Konstruktion mit einer großen Winde, die über eine endlose Kette betrieben 80
wurde. Divorsion griff nach dem Hebel, der die Winde in ihrer Position fixierte. Mit einem kräftigen Stoß beseitigte er die Sperre. Die Zugbrücke bewegte sich nicht. Divorsion warf sich gegen das Holz, aber die Brücke rührte sich um keinen Millimeter. Zu schwer schien die Zugbrücke zu sein, als daß ein Jaynum allein sie in Bewegung setzen konnte. Divorsion stieß eine Reihe erbitterter Flüche aus. Wütend verabfolgte er der Brücke einen Fußtritt, und mit einem Geräusch, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ, setzte sich die Zugbrücke in Bewegung, sank herab und legte sich über den tiefen Burggraben. Divorsion hielt den Atem an. Dort, wo sich die Brücke in ihren Lagern drehte, stiegen schwärzliche Nebel aus den Boden und bildeten mitten auf dem Weg eine undurchsichtige Wand. „Hierher!“ rief Divorsion mit steigendem Entsetzen. Unwillkürlich klammerte sich seine Hand fester um die Waffe. Aus dem Nebel löste sich eine Gestalt. Sie taumelte. Divorsion erkannte Klythiar, der hustend und würgend näher kam. „Wo sind die anderen?“ schrie ihm Divorsion entgegen. „Geflüchtet“, ächzte Klythiar. „Sie sind einfach verschwunden, weggelaufen. Sie hatten Angst vor dem Nebel.“ Divorsion konnte das verstehen. Er verstand aber auch, daß er und Klythiar jetzt ganz auf sich allein gestellt waren. Aussichtslos, die versprengte Schar noch einmal zusammentreiben zu wollen. Längst würden sich die Jaynums verstreut haben. Kopflos waren sie nach allen Himmelsrichtungen davongestoben! Langsam kam Klythiar wieder zu Luft. „Wer lebt hier?“ fragte er hustend. Der schwarze Nebel biß in den Lungen. Divorsion zuckte mit den Schultern. 81
„Sehen wir nach“, schlug er vor. Ihn überkam ein Mut, der nur aus der absoluten Verzweiflung erwachsen konnte, aus der Tatsache, die sich nicht wegleugnen ließ - entweder unternahm er etwas, oder er müßte sehr bald sterben. Jede Lösung würde besser sein, so sagte er sich, als das Warten auf irgendein Ereignis, von dem man jetzt ohnehin nicht sagen konnte, wie es aussah. „Sieh nur!“ schrie Klythiar auf. Irgendwie hatte Divorsion damit gerechnet. Ebenso unerklärlich, gespenstisch, wie sie sich geöffnet hatte, ging die Zugbrücke nun langsam wieder in die Höhe. Die dunklen Gase, deren Schwaden in Wirbeln dem Boden entstiegen, ballten sich zusammen. Von Grauen geschüttelt sah Divorsion, wie diese Nebel ein Gesicht zu bilden begannen, unverkennbar das Gesicht eines Jaynum - sein eigenes Gesicht, wie Divorsion erst nach einigen angstdurchzitterten Minuten klar wurde. Neben ihm klapperte Klythiar mit den Zähnen. Der junge Jaynum war am Ende seiner Kraft. Und noch war das schauerliche Spektakel nicht vorüber. Das Gesicht schien zu leben, es grinste Divorsion mit einem Spott an, der den Jaynum frösteln ließ. Über dem Gemäuer der Burg wurde es dunkler und dunkler. Schwarz und dicht, riesenhaft aufgebläht schoben sich die Gewitterwolken heran, stumm und drohend wie eine Schlachtreihe. Erste Blitze zuckten und übergossen die leichenhaft bleiche Landschaft mit fahlem Licht. Der Wind pfiff höhnisch in den Winkeln. „Komm“, sagte Divorsion leise. Er nahm Klythiar bei der Hand. Der junge Jaynum folgte brav. Noch immer war der Boden des Burghofs warm, tobte das Feuer des Planeteninnern unmittelbar unter diesem Pflaster, dessen Katzenköpfe sich angenehm den Füßen der Jaynums anzupassen schienen. Es war ein angenehmes Gefühl, darauf zu gehen. Erst als Klythiar, vor Angst fast um den Verstand gebracht, 82
zur Seite taumelte und Divorsion hinspringen mußte, um den Kameraden vor dem Zusammenbrechen zu bewahren, und plötzlich kalte Steine unter den Füßen spürte, kalten Fels, dessen Kälte das Fleisch wie mit Messern bearbeitete, da wußte Divorsion, daß nur der Weg erwärmt war, ein Weg, von dem er annehmen mußte, daß er in den Tod führen würde. Divorsion stützte Klythiar und ging weiter. Er folgte dem Pfad, der ihm vorgeschrieben wurde, der ihn mit Angst und Schaudern erfüllte, auf dem die Luft nach Moder roch und nach Tod, dessen nasse Steine im fahlen Licht der Blitze glitzerte. Er ging weiter Schritt um Schritt, obwohl ihm vor Grauen das Atmen schwerfiel. Er ging eine Treppe hinauf, und erst als sie die halbe Höhe erreicht hatten, sahen die beiden Jaynums, daß die knisternden Fackeln in Schädeln staken und in dieser Halterung den Weg mit ihrem unsicheren Licht erhellten. Erst in diesem Augenblick bemerkte Divorsion, daß der Wind, dessen Kälte ins Mark ging, ihm überall ins Gesicht blies, welche Richtung er auch einschlug. Obwohl alles in ihm danach schrie, diesen Ort des Grauens zu verlassen, ging er dennoch weiter, weil er in der anderen Richtung des Weges den Tod wußte, der ihm in diesem Gemäuer entgegenbleckte. „Laß uns umkehren“, murmelte Klythiar mit bebender Stimme. Er war kaum mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Divorsion erging es nicht viel besser, aber er richtete sich immer wieder daran auf, daß er eine Energiewaffe mit vollem Magazin besaß, eine Waffe, der nichts in der bekannten Welt gewachsen war, die Schirmfelder eines Raumschiffs ausgenommen. Am Ende der Treppe ging es nach rechts. Auch hier blakten Kienfackeln, in die leeren Höhlen von Schädeln gesteckt. Noch immer führten die warmen Steine den Jaynum, der wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Dazu hätte er die geistige Kraft nicht aufbringen können. 83
Langsam setzte Divorsion einen Fuß vor den anderen. Er nahm nicht wahr, wie sich das Gewitter über der Burg austobte. Er sah nur, wie in kurzen Abständen weißblaues Licht durch die Räume strahlte, wie sich Stoffe unter dem Druck des Windes bauschten. Immer tiefer ging es ins Innere der Burg, immer tiefer auch in den Untergrund hinab. Längst hatte Divorsion den oberen Bereich der Burg verlassen. Er bewegte sich jetzt im massiven Feld. Große Räume hatte man aus dem Gestein geschlagen, reich mit kostbaren Teppichen verkleidet. Von irgendwoher erklang Musik. Die Klänge entsprachen genau dem Empfinden der Jaynums, waren exakt auf ihre Mentalität abgestimmt. Der Eindruck, den sie hervorriefen, war ein Gemisch aus Furcht und Anziehungskraft. Dieser magische Schrecken war unüberwindlich. Divorsion folgte ihm, und seit die Musik erklungen war, ging auch Klythiar auf eigenen Füßen, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Augen glänzend wie in hohem Fieber. „Wir werden dies hier nicht überleben“, sagte Klythiar leise. „Ich weiß es, wir werden diese Burg nicht wieder verlassen!“ Divorsion fühlte sich nicht in der Lage, auf diese Bemerkung eine Antwort zu geben. Er spürte, wie der geheimnisvolle Zauber der Burg ihn immer stärker in den Bann schlug, ihn tiefer hineinsog in die Unterwelt, aus der die befremdliche, unheimliche Musik erklang, die gleichzeitig in den Ohren gellte und ihn bestrickte. Vergeblich versuchte sich Divorsion einen Augenblick lang gegen diesen Zauber zu stemmen, wieder Herr zu werden über die eigenen Entschlüsse. Dann aber mußte er aufgeben. Willenlos stapfte er durch eine Umgebung, von der er nichts mehr sah. Endlich erreichte er den letzten Absatz einer Treppe, die tief hinabführte in den Untergrund. Eine Tür, massives, dunkles Holz mit glitzernden Kristallbändern beschlagen, stellte sich den beiden Jaynums in 84
den Weg. Betäubend wirkte der Geruch des Rauches, der in feinen Schwaden durch die Ritzen des Holzes drang. Divorsion trat vor, hob eine Hand und klopfte an. Ein tiefer, hallender Ton war zu hören, dann schwangen die beiden Flügel der Tür lautlos zurück. Von einem tiefen, satten Blau war der Raum erfüllt, der sich für die Jaynums öffnete; dunkelblau die Decke, im gleichen Farbton waren die Wände, alle Flächen von glitzernden Kristallen übersät. Blitzartig durchfuhr Divorsion der Gedanke, daß Wände und Decke des Raumes - wo die Wände aufhörten und die Decke begann, ließ sich nicht erkennen -, eine verkleinerte Darstellung des Weltraums seien. „Kommt näher!“ Es war eine tiefe, hallende Stimme, die da sprach. Eine kniehohe Schicht weißen Rauches stand auf dem Boden, der glatt und kühl war. Wirbel bildeten sich in dem Rauch, ballten sich zusammen und verwehten wieder. Nur zögernd schritten die beiden Jaynums durch den Raum. Vor allem Klythiar hatte Mühe, sich zusammenzunehmen. Hätte er nicht Angst vor dem Bodennebel gehabt, wäre er längst in einer rettenden Ohnmacht zusammengesunken. „Was wollt ihr in meinem Reich?“ Divorsion sah sich um. Die Person des Sprechers war nicht zu erkennen. Verschwunden schienen auch die Wände. Die Tür, durch die die beiden Jaynums den Raum betreten hatten, war nicht mehr erkennbar. „Wir ... “, stammelte Divorsion. Er versuchte, irgendwo einen Anhaltspunkt für seinen Blick zu finden, etwas, an dem er sich quasi optisch festklammern konnte. Aber es gab nichts dergleichen. Die Stimme des Unbekannten klang, als stünde er unmittelbar neben Divorsion. Die Verachtung, der Spott, der Hochmut - der Ausdruck der Stimme war nicht zu überhören. 85
Jetzt erst fiel Divorsion auf, daß der Fremde eine Sprache benutzte, die die beiden Jaynums verstehen konnten. Er sprach jenes Idiom, das im gesamten von den Oberen beherrschten Imperium gesprochen wurde. „Wir wollten uns umsehen“, stammelte Divorsion. Es gab einen leisen Seufzer, dann sank Klythiar neben ihm in sich zusammen. Der Bodennebel verschluckte ihn. Nur die Spitze seines Schwertes ragte aus dem brodelnden Weiß heraus. „Sieh dich um“, spottete der Unsichtbare. „Gefällt es dir?“ Verzweifelt suchte Divorsion mit den Augen nach dem Sprecher. Wenn er sich gegen dieses Wesen verteidigen wolle, wenn er seine Energiewaffe ein setzen mußte, dann brauchte er ein Ziel für seine Waffe. „Ihr wollt unsere Welt erobern“, sagte die Stimme. Zu Divorsions Verblüffung klang sie nun weiblich. Gab es mehrere der Fremden in der Halle? „Warum? Was haben wir euch getan, daß ihr unsere arme Welt mit Krieg überziehen wollt?“ „Wir tun es nicht freiwillig“, stieß Divorsion hervor. „Wir werden dazu gezwungen, von den Oberen.“ „Wer sind die Oberen? Wie sehen sie aus?“ Divorsion geriet langsam außer Fassung. „Wir wissen es nicht“, stotterte er. „Sie sahen aus wie wir. Sie sehen immer aus wie die Völker, die sie befehligen. Wenn sie eure Welt ... “ Das Lachen, das nach diesen Worten durch die Weite der Halle schwoll, ließ Divorsion erstarren. „Du meinst, wenn die Oberen, wie du sie nennst, auch uns überfallen? Das wird niemals geschehen.“ Divorsion zuckte mit den Schultern. „Dessen wäre ich nicht so gewiß,“ murmelte er.
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9. „Der Bursche bekommt eines Tages noch einmal Prügel von mir!“ Noch nie zuvor hatte ich Marleen de Vries derart wütend und energisch gesehen. Mit dem Burschen war ein gewisser Alexander gemeint, ein ausnehmend hübscher, wohlgebauter Jüngling, der nun wieder allein und uneingeschränkt über seinen Körper verfügte. Zum Leidwesen der weiblichen Mitarbeiter der Time-Squad verharrte der hübsche Alexander allerdings in Verhaltensmustern, die in seiner Zeit vielleicht üblich gewesen waren, bei modernen Frauen und Mädchen allerdings auf wenig Verständnis stießen. Patriarchalisch war noch die mildeste Umschreibung für die dummdreiste Art von Schürzenjägerei, deren er sich befleißigte, seit er wieder bei Bewußtsein war. Es würde uns einige Mühe kosten, aus ihm einen leidlich wohlerzogenen Menschen zu machen. D.C. lächelte sanft. Achtundvierzig Stunden Erholung hatten ein mittleres Wunder bewirkt. Wir waren frisch und ausgeruht, D.C. zauberhaft wie selten, und als neues Mitglied in unserer Runde konnten wir einen Fremden willkommen heißen, der sich Divorsion nannte und von einer Welt namens H'thara stammte. Divorsions neuer Körper war der eines kräftigen jungen Mannes. Einstweilen wirkte das Gesicht noch leer, ungeprägt. Dunkle Augen und dunkle Haare waren zu erkennen, von einer Persönlichkeit fehlte noch vieles. Im Laufe der Monate würde sich das hoffentlich ändern. „Ich hatte auch stets große Schwierigkeiten mit ihm“, sagte Divorsion lächelnd. „Uns fehlt noch der Schluß deiner Geschichte“, forschte Inky unvermittelt. Er war neugierig und zeigte das auch sehr deutlich. „Wie ging es weiter? Und wie, vor allem anderen, bist 87
du dann überhaupt auf die Erde gekommen?“ „Ich werde es euch erzählen“, sagte Divorsion. Er bewegte die Finger wie ein Klavierspieler, der seine Gelenke aufwärmt. Offenbar war er noch nicht ganz mit seinem neuen Körper vertraut. Dann nahm er den Faden wieder auf ... * Wieder erklang das Lachen, das Divorsion schon einmal erschüttert hatte. Der Jaynum nahm allen Mut zusammen. „Warum zeigt ihr euch nicht“, rief er laut in die Weite des Saales. Daß dieser Raum viel zu groß war, um in den Felsenuntergrund der Burg hineinzupassen, nahm er gar nicht wahr. „Ich möchte wissen, wie ihr ausseht!“ Im nächsten Augenblick entstand neben Divorsion eine Gestalt, zum Greifen nahe. Entsetzt wich der Jaynum zurück. Er schrie auf. Vor ihm stand - er selbst. Divorsion sah sich selbst, er sah in sein Gesicht, sah wie sich seine Hände bewegten, wie er sich selbst unsagbar überlegen, spöttisch, höhnisch ansah und belächelte. „Wir haben viele Gestalten“, sagte Divorsion II. „Oder ist dir diese lieber?“ Diesmal sah Divorsion genau hin, aber er konnte nicht erkennen, wie der Fremde die Verwandlung bewerkstelligte. Divorsion sah nur, wie sich der Fremde für den Bruchteil einer Sekunde in eine Säule aus weißem Rauch hüllte, und als dieser Rauch verwehte, stand Klythiar neben dem vor Angst bebenden Divorsion. „Seid ihr ... “ Ein entsetzlicher Gedanke drängte sich Divorsion auf. War sein Gesprächspartner vielleicht einer der Oberen? Ein Oberer in seiner wirklichen Gestalt, beziehungsweise auf seiner 88
Heimatwelt? Wurden die Jaynums dazu benutzt, einen Bruderkrieg zwischen den Oberen auszufechten? Der Gedanke ließ den Jaynum erschauern - er verhieß ein erbarmungsloses Blutvergießen, bei dem sehr gut alle Jaynum auf der Strecke bleiben konnten. „Wir sind nicht die Oberen“, sagte Klythiar II. „Wir sind die Fern, die Bewohner dieser Welt, und wir wünschen keine Besucher.“ Divorsion merkte, daß der Dialog weit über das hinausging, was er verkraften konnte. Er kicherte hysterisch. „Wir wollen euren Planeten auch gar nicht besuchen“, versetzte er. „Uns bleibt gar nichts anderes übrig. Wir werden gezwungen.“ Er sah zur Seite, wo sich Klythiar - Klythiar I - zu regen begann. Als der junge Jaynum seines identischen Ebenbildes angesichtig wurde, verdrehte er die Augen und fiel zurück. Über das Gesicht des Ebenbilds huschte ein Lächeln. „Und nun zu dir“, sagte der Fern. Divorsion kannte sich im Umgang mit andersartigen Lebewesen nicht aus. Er sah sich einer Spezies gegenüber, die mit normalen Jaynummaßstäben nicht zu messen war, und die Angst in ihm nahm Formen an, denen der Jaynum nicht länger gewachsen war. In einem Anfall von Panik riß er seine Energiewaffe hoch. Die Ereignisse spielten sich mit rasender Geschwindigkeit ab. Klythiar II löste sich auf, aus dem Lauf von Divorsions Energiewaffe löste sich ein Strahl, der ins Leere zischte doch etwas traf, denn eine ohrenbetäubende Detonation zerriß die Stille. Dann barst das Astralgewölbe. Von irgendwoher erklang ein markerschütternder Schrei. Divorsion betätigte noch einmal den Abzug. Röhrend brach der Energiestrahl aus der Mündung. Dem Jaynum kam nicht zum Bewußtsein, daß er mit etwas herumhantierte, dessen Wirkungsweise er überhaupt nicht begriff, und daß er auf etwas 89
schoß, das er noch weniger begriff. Der Jaynum hatte Angst, und in seiner Angst feuerte er um sich, schoß auf all das, was ihm bedrohlich vorkam, schreckerregend, grauenvoll. Er sah nicht, wie sich die Struktur des Astralgewölbes in irrlichternden Feuerbällen auflöste, er sah nicht, wie der Strahl seiner Waffe den Boden verdampfen ließ. Und immer wieder erschütterte der Klang von Explosionen die Luft. Dazwischen war immer wieder jenes infernalische Heulen zu vernehmen, das die Angst des Jaynum nur verstärkte. „Aufhören“, schrie Klythiar, der überraschend zu sich gekommen war. Der junge Jaynum zeigte alle Anzeichen eines beginnenden Nervenzusammenbruchs. „Hör auf, du bringst uns um!“ Divorsion ließ die Waffe fallen. Nicht, daß er seine Gefühle ausagiert hätte - die Waffe war von dem minutenlangen Irrsinnsfeuer so heiß geworden, daß er sie nicht mehr halten konnte. Der Raum war von einem Chaos erfüllt, einem Durcheinander von Farben und Klängen, Gerüchen und Geräuschen. Flammen tanzten meterhoch über dem Boden, wirbelten durch die Luft. Meterlange Eruptionen zuckten aus bunten Gaswolken, durchschlugen die Leiber der beiden Jaynums und hüllten sie in betäubende Gerüche. „Was hast du getan?“ schrie Klythiar. „Was hast du getan? Wir müssen sterben!“ In grellen Spiralen jagte Energie durch den Raum. Ab und zu war nackter Fels zu sehen, von dem weißglühend etwas herabtropfte. Der Boden begann sich unter den Füßen der beiden Jaynums zu wellen. Klythiar schrie vor Angst, bis seine Stimme umschlug und in einem mißtönenden Krächzen erstarb. Divorsion spürte sein Herz jagen. Er hörte das Knistern von Bränden, roch den ätzenden 90
Qualm, der den Raum zu erfüllen begann, und selbst bei geschlossenen Augen sah er ein fahles, rötliches Leuchten, das an Kraft zunahm und anschwoll. Wie herbeigezaubert, erschienen Gestalten in der Luft, Wesen, die in einem Alptraum entstanden waren und nun Wirklichkeit wurden, um ihren Schöpfer zu peinigen. Zähne fletschten zu Divorsion hinüber, aus weitgeöffneten Kiefern wehte ihm ein Aasgeruch entgegen, der ihm kalte Schauer über den Rücken jagte. Das Leuchten wurde stärker. Divorsion begann zu schwitzen. Die Luft im Innern der Halle wurde wärmer, viel wärmer, als es Jaynums liebten, und die Temperatur stieg. Das Leuchten war so stark geworden, daß es alles andere überstrahlte, und Divorsion spürte entsetzt, wie dieses seltsame Leuchtfeld ihn zu lähmen begann. Seine Lippen wollten einen Schrei formen, aber kein Ton kam aus der Kehle. Die Atmung setzte aus. Divorsion sah an sich herab. Das Leuchten durchdrang ihn, stieg an ihm und in ihm in die Höhe. Seine Haut, seine Knochen verschwanden oder wurden durchsichtig. Er löste sich auf. Fest bestehen blieb nur eines, die Angst, die ihn lähmte und schüttelte. Und dann, mit einem Schlag, war auch die Angst verschwunden. Divorsion schrie, was seine Lungen hergaben. Es tat unendlich gut, die eigene Stimme zu hören, selbst wenn in ihr Panik mitschwang, wenn sie vom Grauen so verzerrt war, daß er sie kaum als die eigene zu identifizieren vermochte. Er lag auf dem Boden, er lag auf dem Rücken, und er sah hinauf in einen hellen, hochgewölbten Himmel, über den langsam weiße Wolken trieben. Es war angenehm warm um ihn herum, und die Luft war erfüllt mit Gerüchen, die kein Jaynum jemals zuvor gerochen hatte. Divorsion verstummte. 91
Er begriff, daß er lebte, und diese Tatsache allein genügte, um ihn verstummen zu lassen. Er lebte noch - aber er befand sich nicht mehr in der Burg des Unheimlichen. „Divorsion!“ Der Jaynum drehte sich herum. Hinter ihm stand Klythiar, im Gesicht Fassungslosigkeit und Angst, und deutete auf die Landschaft. „Wo sind wir?“ fragte er ängstlich. „Dies ist nicht die Welt der Fern, und auch auf H'thara gibt es keinen Flecken wie diesen.“ Divorsion nickte. Der Boden war felsig, nur ab und zu wurde er von Pflanzen bedeckt, die in einem befremdlichen Grün strahlten. Von Lebewesen war nichts zu sehen. In Sichtweite standen einige hellfarbene Büsche, die sich zum Entsetzen der beiden Jaynums in Bewegung zu setzen begannen. Divorsion sah sich gehetzt um. Er fand die Energiewaffe nicht. Vermutlich lag sie noch in der Halle der Bergfestung auf Fern. Ein Griff an den Gürtel. Auch Schwert und Dolche fehlten. Die beiden Jaynums waren waffenlos. „Lauf!“ schrie Divorsion seinem Gefährten zu. Die beiden Jaynums sahen zu, daß sie das Weite gewannen. Der Boden war hart und riß Wunden in ihre weichen, empfindlichen Füße. Schon nach weniger als hundert Metern floß das erste Blut. „Weiter“, drängte Divorsion, der sich in einem Wirklichkeit gewordenen Alptraum wähnte. „Sie kommen näher!“ Ob die Buschtiere gefährlich waren, wußten die beiden Jaynums nicht, aber die aufgeregten Rufe der Wildtiere klangen in ihren Ohren. Daß es sich nicht um intelligente Lebewesen handeln konnte, stand für Divorsion fest. „Wasser!“ brüllte Klythiar plötzlich. „Da vorn ist Wasser!“ Divorsion, der etwas zurückgeblieben war, um die Angreifer beobachten zu können, schloß hastig auf, Klythiar hatte recht. Dort unten, glänzte der Spiegel eines Gewässers, eines großen 92
Sees. Divorsion stiegen Tränen in die Augen. „Los“, drängte Klythiar. „Machen wir uns an den Abstieg!“ Divorsion stockte. Er hatte etwas gesehen. Dann schrie er gellend auf, und der Schrei erstarb in einem Gurgeln, als der Speer ihn traf. * „Und das ist das Ende meiner Geschichte“, sagte Divorsion ruhig. „Fürs erste, jedenfalls. Jener Speerschwinger war natürlich niemand anders als unser Freund Alexander, damals knappe dreizehn Jahre alt und ein Schlagetot, wie er im Buche stand. Er hatte einen Freund bei sich, der später sein Reitergeneral werden sollte, der Alexander mehr als einmal das Leben rettete und zum Dank für all dies in einer Nacht von dem völlig betrunkenen Mazedonierkönig eigenhändig getötet wurde dieser Freund, der Alexander an Qualität kaum etwas nachstand, schwang seinen Speer und spießte den armen Klythiar auf.“ D.C. riß die Augen auf. Dies war eines der wenigen Male, wo ich sie völlig verblüfft gesehen hatte. „Aber wenn Alexander euch tötete ... “, begann sie ihre Frage. Divorsion lächelte. „Wir Jaynums“, sagte er langsam, „sehen nicht nur anders aus als ihr Menschen. Wir haben auch eine ganz andere Art des Todes. Wenn ein Jaynum stirbt und er dazu Zeit hat, dann kann er seine gesamte Persönlichkeit in einen bestimmten Teil seines Körpers lenken und dort sozusagen konzentrieren.“ „Und das habt ihr beide getan“, sagte ich. Divorsion nickte. „Das taten wir. Auf H'thara ist es üblich, das betreffende Organ aus dem Körper zu lesen und irgendwo einzupflanzen. 93
Es wächst dann eine Blume aus diesem Organ, und wenn diese Blume blüht, dann löst sie das Bewußtsein des längst gestorbenen Jaynum in Schönheit und Wohlgeruch auf. Das ist ein sehr schönes Ende für ein Lebewesen, und nur wir Jaynums können auf diese Art sterben. Wenn aber ein Raubtier einen Jaynum frißt, dann geht der Geist des Jaynum auf das Raubtier über, und der Jaynum kann im Körper des Raubtiers weiterleben, bis auch dieses Tier stirbt.“ „Ich verstehe“, murmelte D.C. „Menschen sind bekanntlich Allesfresser, und die Gestalt eines Jaynum ...“ Wieder nickte Divorsion. „Wir sehen den Wesen, die ihr Robben nennt, ziemlich ähnlich, und dieser Alexander ist alles andere als ein Zoologe. Er sah ein seltenes Wild, brachte es zur Strecke und verzehrte davon, was ihm schmeckte. Seit jenem Tag war ich im Körper des Mazedoniers gefangen, als hätte mich ein Raubtier gefressen. Klythiar, mein Freund und Gefährte hingegen wurde das Opfer von Alexanders Freund.“ Marleen de Vries mischte sich ein. „Die Charakterzüge Alexanders, die uns überliefert wurden und so wenig in die Gewohnheiten seiner Zeit paßten, stammen die von euch? Beispielsweise Alexanders Großmut?“ Divorsion lachte bitter. „Dieser Bursche hat nicht genug Verstand, um einen Fingerhut damit zu füllen. Zeit seines Lebens hat er nur nach seinen Vergnügungen gelebt - Weiber, Wein und Waffenlärm, das war das Rechte für ihn. Aber er ist nicht ohne Pfiffigkeit, unser Freund Alexander. Er bemerkte, was mit ihm geschehen war, und er bemerkte auch, daß ich ihm geistig weit überlegen war. Ich durfte für ihn die Schlachtpläne austüfteln, ich durfte seine Feldzüge planen und ausführen. Das Raufen, das besorgte er selbst.“ „Immerhin scheint er kein Feigling zu sein“, warf Inky ein. 94
„Er ist viel zu dumm, um wirklich, Angst zu haben“, knurrte Divorsion. „Ich wünschte, ich könnte euch schildern, wieviele Tode ich gestorben bin, wenn sich dieser Tollkopf ins dickste Gewühl stürzte - darauf vertrauend, daß mir im Zweifelsfall eine Möglichkeit einfallen würde, ihm den sicheren Tod zu ersparen.“ „Was machen wir jetzt eigentlich mit diesem Tollkopf?“ fragte ich D.C. „Schließlich können wir ihn nicht einfach in seinen Sarg zurückstopfen.“ D.C. zuckte mit den Schultern. „Damit wäre die nächste wichtige Frage erreicht“, sagte sie, zu Divorsion gewandt. „Wie kommen Sie in den Kristallsarg in Alexandria?“ Divorsion leckte sich die Lippen. Es war erstaunlich, wie rasch er sich mit den Gegebenheiten seines neuen Körpers abfand. Dann allerdings fiel mir ein, daß er ja jahrelang mit dem Körper Alexanders geübt hatte. „Nun“, sagte er gedehnt, „den größten Teil der Geschichte kennen Sie ja. Offenbar scheint unser tollwütiger Schönling eine historisch bedeutsame Persönlichkeit zu sein.“ „Wenn wir den Historikern verraten, was es mit dem großen Alexander wirklich auf sich hat“, murmelte Inky grinsend, „wird es eine Reihe von Selbstmorden geben. Ich sehe noch die Augen meines Professors vor mir, wenn er verzückt vom Genius des Hellenismus sprach. Der arme Kerl, er wird ...“ „Er ist längst tot“, erinnerte ich Inky. Ab und zu vergaß der Gute, daß er nicht in unser Zeitalter gehörte, sondern ein Kind des 20. Jahrhunderts war. „Alexander und seine Mazedonier eroberten Persien, das ist bekannt“, erklärte D.C. „Was hat es mit seinem Zug nach Indien auf sich?“ Divorsion lächelte schwach. „Das war mein Einfall“, sagte er. „Ich sah mich um und stellte fest, daß ich unter Barbaren gelandet war.“ 95
Tobendes Gelächter bekam er zur Antwort. Der Begriff Barbaren war ausgerechnet von den Griechen geprägt worden, um alles zu bezeichnen, was nicht zur Kultur des Hellenismus gehörte. Der beliebte Frauenname Barbara bedeutete soviel wie die Fremdländische. Man konnte aber auch - boshafter, doch ebenso präzise sagen: Trampel. „Ich wollte zu meinem Volk zurück“, fuhr Divorsion fort. „Mit den Leuten, die ich in Griechenland traf, ließ sich so etwas nicht erreichen. Also habe ich versucht, mich dem Zentrum der menschlichen Kultur zu nähern - und dieses Zentrum lag im vierten vorchristlichen Jahrhundert zweifelsohne im Osten. Ich mußte aber einsehen, daß ich mit den schwachen Kräften der Mazedonier nicht daran denken konnte, auch Indien in einem Zug zu erobern. Ich marschierte nach Babylon, und dort wurde ich dann krank.“ D.C. nickte ihm aufmunternd zu. „Ich bemerkte“, sagte Divorsion ruhig, „daß ich den Körper des Mazedoniers nicht verlassen konnte. Auf der anderen Seite aber stand auch fest, daß ich nicht an Malaria sterben würde. Daher gab ich meinem Freund Ptolemäus den Befehl, für mich ein entsprechendes Grabmahl in meiner Stadt Alexandria zu bauen - einschließlich einer technischen Apparatur, die keinerlei wirkliche Funktion hatte, aber zukünftigen Bewohnern des Planeten klarmachen sollte, daß hier ein Geheimnis lag. Ich hoffte, daß es später einmal möglich sein würde, die Malaria zu heilen.“ „Das haben wir geschafft“, sagte D.C. lächelnd. „Noch eine Frage: Wie sehen die Fern aus, und wie haben wir uns die Oberen vorzustellen?“ Divorsion zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte er niedergeschlagen. „Den Fern habe ich ja nicht richtig zu Gesicht bekommen.“ „Aber du hattest doch mehrfach Kontakt mit den Oberen“, warf ich ein. 96
„Sicher“, bestätigte Divorsion. „Doch die Oberen sehen immer so aus wie die Angehörigen des Volkes, das sie versklaven.“ „Wenn es also Obere auf der Erde gäbe“, setzte ich den Gedankengang fort, „dann sähen sie aus wie Menschen?“ Divorsion nickte. „Und auf H'thara sehen sie aus wie Jaynums“, klagte er. „Das ist ja das eigentliche Problem bei der Bekämpfung der Oberen man weiß nie, ob man nicht einen Angehörigen der eigenen Rasse vor sich hat, bis es zu spät ist.“ „Und es gibt keine Möglichkeit, einen Oberen zu besiegen?“ „Doch“, erklärte Divorsion und lächelte schwach. „Es gibt einige Möglichkeiten“, sagte er halblaut. „Da existieren beispielsweise gewisse Kampfstoffe, auf die die Oberen stark reagieren, die sie sehr rasch töten.“ Mir stieg bei diesen Worten ein unbestimmter Verdacht auf, ein Verdacht, der so fürchterlich war, dass ich ihn nicht auszusprechen wagte. „Es gibt“, setzte Divorsion seine Aufzählung fort, „gewisse mentale Felder, die von den Oberen peinlichst gemieden werden.“ Ich sah, wie Inky unbewußt eine bestimmte Figur auf das Leder der Sessellehne zeichnete. Ich hatte an das gleiche Muster gedacht. Der Verdacht erhärtete sich. „Und schließlich gibt es sogar zwei Mittel, einen Oberen zu töten“, verriet uns Divorsion. Mit einer Handbewegung schnitt ihm D.C. das Wort ab. Sie war erschreckend bleich geworden. „Die eine Methode besteht darin, den Oberen - gleichgültig, in welcher Gestalt er auftritt - mit einem Energiestrahler zu vernichten.“ Divorsion nickte wie ein Automat. Sein Gesicht verriet Erstaunen. 97
„Die zweite Methode besteht darin“, fuhr Demeter Carol Washington fort, „zunächst den Träger des Oberen zu töten. Danach muß das Herz des bereits toten Wesens mit einem angespitzten hölzernen Pfahl durchbohrt werden.“ Divorsion sprang auf. Inky und ich sahen uns fassungslos an. „Vampire?“ stöhnte Marleen de Vries auf. D.C. nickte. „Ich sehe keine andere Erklärung“, sagte sie leise. „Denkt an die merkwürdige Plantage auf dem Mond Demeter. Knoblauch, angeblich ein Mittel, Vampire zu vertreiben. Vielleicht - um den Zusammenhang zu erklären - wirkt Allyldisulfid auf die Oberen ähnlich wie Senfgas auf Menschen.“ „Jetzt wissen wir endlich, gegen wen wir kämpfen“, murmelte Inky. „Es sind Invasoren aus einem anderen Sternensystem.“ Divorsion schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß es sich um ein anderes Sonnensystem handelt“, sagte er leise. „Ich weiß auch nicht, was ein Fern ist, wie er aussieht und woher er seine Macht bezieht. Ich weiß nur, daß die Oberen alles daransetzen wollen, den Planeten der Fern zu erobern. Ich glaube, daß es dort etwas gibt, was man als Zeit-Pforte bezeichnen könnte. Die Zeit-Pforte ist nichts anderes als die Kontaktstelle zwischen zwei Universen!“ Ein Angriff aus einem anderen Universum, versucht von Wesen, die sonst nur in Alpträumen auftauchen. Der Time-Squad stand allerhand Arbeit bevor. ENDE
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