Friederike Schmöe
Tochter-Seelen
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Während einer Messepräsentation in Sofia gelangt eine Geheimdie...
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Friederike Schmöe
Tochter-Seelen
scanned 06_2007/V1.0
Während einer Messepräsentation in Sofia gelangt eine Geheimdienstakte über einen längst vergangenen Mord in den Besitz der jungen, deutschen Aushilfskraft Alexina. Auf der Suche nach den Hintergründen gerät sie selbst zwischen die Fronten der Eliten von einst, während die Schlinge der Vergangenheit sich langsam um die Gegenwart legt … ISBN: 3-935202-09-1 Verlag: Buchverlag Andrea Schmitz Erscheinungsjahr: 2003
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Dies ist ein Roman. Alle darin vorkommenden Personen wurden frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Menschen sind daher rein zufällig und nicht beabsichtigt. Zur Freiheit der Erzählerin gehört auch, Museen umzubauen und Straßen anders nennen zu dürfen, Büsche zu pflanzen, wo in Wirklichkeit keine sind. Die Kenner Sofias mögen es verzeihen.
Vorwort Wo war deine Seele, bevor es dich gab? Bevor sie – in einen Körper gebannt – auf diese Welt geworfen wurde. Vom allmächtigen Schöpfer auf Reisen geschickt, segeltest du über die Meere … noch bevor du Säugling warst und der guten und schlechten, fröhlichen oder erbarmungslosen Mutter anheimgestellt wurdest. Nun bist du ein Boot mit einem langen Kiel geworden, von Ost nach West segelnd, die Wellen durchschneidend, und du sinkst nicht.
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1. München, Januar Jemand jagte sie, an dem heißen Atem in ihrem Nacken konnte sie es spüren, an ihrem Herzen, das zu Zerspringen drohte, an ihren Lungen, die kurz vor dem Platzen schienen. Da war eine merkwürdige Beleuchtung um sie herum, und sie erspähte neben sich goldene, warme, strenge Gesichter, dunkle Augen. Der Verfolger griff nach ihr, riß ihre linke Schulter herum, aber als sie Auge in Auge standen, verschwamm sein Gesicht sofort, es blieb nichts, nicht einmal eine Fratze. Dann ging das Licht fort. Es ging nicht aus, es ging fort. Es schien, als habe es sich umgedreht und verließe nun langsam und gemächlich den Raum. Stechender Schmerz in ihrer Kehle, und die Finsternis des Erstickens breitete sich aus. Aus den Augenwinkeln sah sie ein Kind, einen Jungen mit einer Lederkappe auf dem Kopf. Augen, so dunkel wie die der anderen Gesichter. Er duckte sich und verschwand, aber dann sah sie sein Gesicht plötzlich wieder, verschwommen, als blicke er sie aus einem Aquarium heraus an. Schmerz über Schmerz. Schreien funktionierte nicht. Sie öffnete den Mund, doch es fehlte ihr sowieso die Luft zum Schreien. Sie spürte die scheußliche Trockenheit im Rachen, ihre Zunge war eine Dörrpflaume. Sie schmeckte Schweiß. Den Schweiß der Hand ihres Verfolgers. Die Augen, so dunkel. Alles wurde jetzt dunkel, das Licht war an der Tür angekommen und zog sie hinter sich zu. Luft! Alexina atmete so tief ein, daß die Luft ihre ausgetrocknete Mundschleimhaut beinahe in Fetzen riß.
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»Das war ein Traum, das war ein Traum!« schrie sie sich selbst an, um sich zu beruhigen. Der typische Fehlschluß, den sie ungefragt von ihrer Mutter übernommen hatte: Anschreien beruhigt. Dabei war es schon der dritte Traum dieser Sorte innerhalb von 14 Tagen. Sie hatte mitgezählt, feine Bleistiftstriche im Taschenkalender. Sie wußte nicht, woher der Traum kam, und sie wunderte sich über die Schönheit der dunklen, goldenen Gesichter, die sie in ihrer Todesangst umgaben. Früher hatte sie viel mit Inga diskutiert, ob man seinen eigenen Tod träumen könne. Sie konnte. Aber nicht bis zum bitteren Ende. Da blieb immer noch ein Strahl Helligkeit, bis das Licht die Tür vollständig hinter sich zugezogen hatte, war sie noch jedesmal aufgewacht. Halb sechs. Sie faßte an ihren Hals, wo noch vor Sekunden der stechende Schmerz getobt hatte. Da war nichts. Ihr Schlafanzug klebte klatschnaß an ihrem Körper. Sie würde nicht mehr schlafen können. Das Wasser schoß heiß in die Badewanne. So heiß, daß sie ihren Fuß fast nicht hineintunken konnte, aber sie hatte es sich angewöhnt, das Wasser so heiß wie möglich zu machen und an der Grenze des Verbrühens einzutauchen. Nur so erfüllte sie danach das Wohlgefühl, die Entspannung, die sie brauchte. Cora, ihre Mitbewohnerin, war vor ein paar Wochen zu ihrem Freund gezogen. Alexina hatte prinzipiell nichts dagegen, die Wohnung für sich zu haben, aber seit Neujahr spürte sie die Einsamkeit deutlich. So deutlich, daß sie ihr körperlich weh tat. Dennoch war sie nicht noch einmal zu ihrer Mutter gefahren. Sie mußte es sich wirklich nicht antun. Und heute würde sie ins Büro gehen und Arbeiten erledigen, die vor Weihnachten liegengeblieben waren. Eine dumme Idee für einen dritten Januar, besonders, da sie bis zum achten Urlaub hatte. Aber 5
besser das Büro. Besser als die schweigende Wohnung und das Gefühl des Versagens. Sie hatte ihre Mutter über Weihnachten besucht und war bis Sylvester geblieben. Die übliche Pflichterfüllung mit einem Hauch Hoffnung, daß es besser werden würde als die letzten Jahre. Es war nicht besser geworden, denn sie glaubte gar nicht daran, jemals mit ihrer Mutter auskommen zu können. Sie mußte sich nicht nur dieses ständige Scheitern vorwerfen, sondern auch, daß sie selbst es verursachte durch ihr negatives Denken. Las sie nicht allenthalben, daß man seines eigenen Glückes Schmied sein konnte, wenn man nur rundum positiv war und die Welt mit dem eigenen Lächeln entzückte? Dabei konnte niemand, kein lebender Mensch mit ihrer Mutter auskommen, nicht einmal ihr Vater, darum hatte er sich aus dem Staub gemacht, und da war Alexina noch klein gewesen. Sie hatte ihren Vater gehaßt, weil er sie verlassen hatte, in den Fängen des Kaimans. Ihre Mutter – ein Reptil, lauernd auf die Schwäche ihres Opfers, unbarmherzig. Wenn Alexina an ihre Mutter dachte, empfand sie unsägliche Einsamkeit. Sie kam gegen die Mutter nicht an. Sie war schwach, weil sie nicht wußte, wie Stärke gegenüber ihrer Mutter aussehen mußte. Inga hatte ihr geraten, sich ein für allemal von ihrer Mutter zu distanzieren. Und wenn sie es mental nicht schaffte, dann sollte sie eben wegziehen, sich anderswo eine Arbeit suchen. Möglichst weit weg, wo ihre Mutter nicht nachkommen konnte und regelmäßige Anrufe ihr zu teuer waren. Aber Alexina hatte auch das nicht geschafft. Sie seifte sich von Kopf bis Fuß ein. »Ich schaffe es!« sagte sie trotzig, dann kleinlaut: »Ich schaffe es nicht.« Wenn nur Sommer wäre, sie könnte mit dem Fahrrad rausfahren, sie liebte ja die Natur. Aber es war Januar, gefrierende Nässe und Schneeregen … Inga würde den Einwand nicht gelten lassen. »Es gibt Busse, Alexi«, würde sie sagen, »und man kommt auch zu Fuß ziemlich weit.« 6
Vielleicht sollte sie doch nicht ins Büro gehen, es wäre besser, einen Ausflug in die Natur zu unternehmen. Draußen – wo alles aussah, als wäre es aus Blei gegossen. Sie würde ins Büro gehen und im Internet nach Jobs suchen, die für sie in Frage kamen. Vielleicht könnte sie nach England gehen. Sie sprach gut Englisch. Bei ihrer Arbeit mußte sie oft englische Briefe schreiben. »London – da gehe ich unter.« Solche Gedanken konnten töten. Alexina tauchte, um das Shampoo aus den Haaren zu spülen, aber den Atem anzuhalten verursachte Todesangst in ihr. Sie kam wieder hoch, rang nach Luft und begann zu weinen. »Muß ich zu einem Psychologen?« sagte sie laut zu dem quittegelben Duschschlauch, den sie nun zur Hand nahm. »Ich bin beschädigt. Ein beschädigter Mensch. Alpträume reißen mich aus dem Schlaf. Wer bin ich!?« Während sie die Seife vom Körper duschte, überlegte sie ernsthaft, wie diese morbiden Gedanken sich ihrer bemächtigen konnten. Sie war nicht melancholisch – gar nicht. Sie war unternehmungslustig. Offenherzig. Es fiel ihr leicht, Kontakte zu knüpfen. Hatte sie nicht gerade vorhin das Gegenteil gedacht? Wie bin ich wirklich? Sie kletterte aus der Wanne, zog ihren Bademantel an und tappte in die Küche, brühte sich Kaffee auf. Draußen immer noch Dunkelheit. Die noch feuchten Haare unter einer dicken Skimütze versteckt und den Kragen ihres Anoraks weit hochgeschlagen, kämpfte sie sich eine halbe Stunde später zum Bäcker durch. Zwei heiße Croissants und ein Vollkornbrot preßte sie an sich, als sie den Laden wieder verließ. »Kalter Tag heute«, meinte Frau Menger und lächelte freundlich hinter ihren dicken Brillengläsern, die sie als weitsichtig auswiesen. »Fangen Sie heute schon so früh an zu arbeiten?« »Ich muß nicht, aber ich möchte«, antwortete Alexina. »Damit ich nachmittags früher fertig bin, verstehen Sie?« 7
»Und wie ich das verstehe. Aber als Chefin … da kann ich mir solche Freiheiten nicht leisten.« Sie reichte das Wechselgeld über den Tresen. »Schönen Tag dann!« Im Büro zog Alexina die Vorhänge auf und betrachtete ihren Schreibtisch. Nichts hatte sich seit dem 22. Dezember verändert. Die Reste der Weihnachtsfeier hatte sie beseitigt, bevor sie sich in den Urlaub verabschiedete Sie hatte in der Zwischenzeit ein paar Е-Mails bekommen. Inga schrieb aus Perth, daß es heiß sei und sie Sehnsucht nach Schnee habe. Sonst nichts von Belang. Sie begann mit der Durchsicht der Terminmappe und wollte gerade anfangen, ein Protokoll ins Reine zu schreiben, als die Tür nebenan klappte. Ein anderer eifriger Arbeiter war zur Ferienzeit in die Fakultät gekommen, um sich ein bißchen zu beschäftigen. Alexina arbeitete eigentlich gerne hier. Sie hatte nach ihrem Studium zunächst keinen Job gefunden, aber nach wenigen Wochen Arbeitslosigkeit hatte sie auf die Stellenanzeige der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät geantwortet, wo für den Lehrstuhl für Finanzwirtschaft eine Sekretärin mit guten Fremdsprachenkenntnissen gesucht wurde. Prof. Martin hatte sie mit Handkuß genommen. »Verstehen Sie, ich bin ein verkappter Geisteswissenschaftler, habe mich als Historiker versucht, aber leider … vielleicht reichte meine Begabung nicht aus. Und mit der Finanzwirtschaft lebt man einfach besser. Ich stelle Sie ein!« Alexina war so überrascht von dieser schnellen Zusage gewesen, daß ihr einige Sekunden der Mund offengestanden hatte. Dann hatte sie bei ihrer Mutter angerufen. »Sekretärin? Also Alexina, bei deinen Noten, bei deinem Abschluß.« 8
Wer nahm schon eine Magistra mit glänzenden Noten in Geschichte, vergleichender Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft? Ein Professor für Finanzwirtschaft. Eine einfache Sache. »Mama, Sekretariat in der Uni, das hat nichts mit Tippse zu tun, wie du es dir vorstellst …« Alexina hatte förmlich in den Kopf ihrer Mutter hineingesehen, wo zehennägellackierte Blondinen mit Miniröcken auf den Schreibtischen ihrer Chefs saßen und ihr Dekolleté vorzeigten. »Und in einem Großraumbüro – wie unpersönlich.« Da war es wieder – wer hatte was von Großraumbüro gesagt? »Mama, davon ist keine Rede. Ich habe ein eigenes Büro.« »Melde dich doch lieber wieder arbeitslos. Übrigens … Chez Nanette, du weißt schon, in der Boutique – da suchen sie eine Verkäuferin. Auch nicht ganz das, aber Sekretärin …« »Ich werde keine Verkäuferin«, hatte Alexina mit einer Prise Ungeduld geantwortet und die Tweedblazer der Marke Rodier vor ihrem geistigen Auge in Reih’ und Glied aufmarschieren lassen. »Und Sekretariat bietet doch viel mehr Aufstiegschancen.« Wieder einer jener Versuche, ihrer Mutter ein ernsthaftes Argument anzubieten. Sie hatte es zerfleddert. »Aber was für ein Unsinn. Frau Piete-Loften kann die Boutique auch nicht mehr lange machen, sie braucht einfach eine Nachfolgerin, sie hat ja keine eigenen Töchter, ach die Ärmste …« Alexina hatte dieses Gespräch beendet, wie die meisten anderen mit ihrer Mutter auch – eine Dreiviertelstunde zu spät und mit lausiger Wut im Bauch. Als wäre ihre Mutter jemals glücklich darüber gewesen, eine Tochter zu haben! Sie war nur zufrieden, wenn sie nörgeln und zeigen konnte, wie sehr sie alles verachtete, was nicht ihrem selbstdefinierten Niveau entsprach. Deswegen benötigte sie eine Tochter. 9
Prof. Martin klopfte und betrat den Raum. »Ich habe Licht gesehen. Und können Sie mir sagen, warum Sie arbeiten, wo Sie doch Urlaub eingetragen haben?« Alexina lächelte. Prof. Martin brachte Sonne in dieses Gebäude. Seine sechzig Jahre lagen hinter ihm wie ein goldener, wertvoller aserbaidschanischer Teppich. Die Zufriedenheit über die meisten seiner Webmuster war ihm anzumerken. »Ehrlich gesagt habe ich es zu Hause in diesem Feiertagsmief keine Minute mehr ausgehalten.« Er nickte nachdenklich. »Weihnachten sind alle immer ein bißchen nervös. Das braucht man nicht für normal zu nehmen. In ein oder zwei Wochen hat man sich beruhigt und merkt, daß es ein Leben nach dem Weihnachtsfest gibt.« »Hatten Sie einen schönen Urlaub?« »Absolut. Meine Frau hat mich in ihre uckermärkische Heimat entführt. Ein Traum, sage ich Ihnen. Die Kinder fahren ja nicht mehr mit – sie tauchen mit Freund oder Freundin ab. Vernünftig von ihnen.« Er grinste und legte eine Karte mit einem wattierten Umschlag vor ihr ab. »Ich habe eine Einladung nach Sofia. Vortrag vor der bulgarischen Handelskammer. Möchten Sie mitkommen?« Als Krieger wäre Prof. Martin ideal. Überraschend angreifen, und der Gegner war bewegungsunfähig. »Bitte – mitkommen?« »Es wird eine Präsentation geben; ich möchte ein paar Projekte vorstellen, richtig mit Multimedia und so, und vielleicht hätten Sie Lust, das zu übernehmen. Der Vortrag ist nämlich auf einer Art Außenhandelsmesse, und außer mir sind da noch eine Reihe anderer Leute, die Projekte vorstellen. Ich habe daran gedacht, ein oder zwei Präsentationen an einem Messestand immer wieder laufen zu lassen. Dazu brauche ich jemanden, der 10
so was kann. Sie sind doch souverän im Umgang mit Leuten. Sie sprechen Englisch, Französisch und – wenn ich mich nicht täusche – ein bißchen Russisch. Kommen Sie doch mit!« »Ich …« Alexina leckte über ihre Lippen. »Klar, das würde ich gerne. Wenn Sie mir noch sagen, wann …« »Oh, erst Ende März, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Die Präsentation ist noch nicht mal fertig. Aber ich hätte schon ein paar Arbeiten für Sie …« Als Prof. Martin das Sekretariat verließ, machte sich Alexina daran, in einem Sofioter Hotel zwei Zimmer zu bestellen, Martins und ihre Teilnahme an der Veranstaltung per Fax zu bestätigen und klickte sich schließlich im Internet nach Bulgarien durch. Ikonen sagte ein Verweis, und auf dem Bildschirm baute sich ein Kunstwerk in Schwarz und Gold auf. Die Е-Post an Inga ging in der Mittagspause ab: Fahre mit meinem Chef nach Sofia/Bulgarien (nur falls du von down under nicht so schnell rauskriegst, wo Sofia ist), um an einer Außenhandelsmesse teilzunehmen und einige Präsentationen zu übernehmen. Bin rasend gespannt. Weißt du was über Bulgarien? Alexina Am späteren Nachmittag ging Alexina auf dem Heimweg in eine Buchhandlung und kaufte einen Reiseführer.
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2. Sofia, Januar Marina Minkowa hatte zwar beschlossen, sich das Rauchen abzugewöhnen, aber die Beschwernisse des Sofioter Winters redeten ihr zu, es damit vorerst nicht so genau zu nehmen. Da gab es Probleme mit der Heizung und dieser ewige Gestank in den Straßen, in ihrer Wohnung zog es und Petars Sohn Walentin hatte eine neue Freundin, brauchte Geld, weil sein Auto ständig kaputt war. Wenn Marina ihm ein paar Scheine zugesteckt hatte, fragte sie sich jedes Mal, wann Mutterschaft bzw. Großmutterschaft an ihre Grenzen geraten konnte. Überhaupt hatten immer die Frauen das Nachsehen. Ihr Mann stellte sich tot, wenn das warme Wasser nicht funktionierte oder Walentin davon sprach, wieviel ein Liter Benzin kostete – Boris mutierte einfach zum Käfer und drehte sich auf den Rücken. Mathematikprofessoren sind nicht zum Heiraten da, hatte ihre Mutter ihr erklärt, und dies hätte sie sich zu Herzen nehmen sollen. Dabei war es mit ihrem Leben gar nicht so schlimm gekommen. Marina lachte leise in sich hinein, als sie den Tisch abwischte, an dem sich Sohn und Enkel vor einer Stunde ein Abendessen einverleibt hatten. Wie oft, wie viele Millionen Mal in ihrem Leben hatte sie diesen Tisch schon abgewischt? Den Lappen naßgemacht, ihn ausgedrückt und war damit über dieses Wachstuch gefahren, hatte es mit den Fingernägeln bearbeitet, mit scharfen Putzmitteln? Seit Petar klein war, und das war immerhin fünfzig Jahre her. Und immer noch endete das Tischabwischen nicht. Danach den Lappen auswaschen und wieder auswringen, sich anschließend über den Geruch an ihren Händen ärgern. Das war sicher ein Phänomen, das sich durch alle Zeitalter und Generationen zog – Putzlappen, Spüllappen und all ihre großen und kleinen Geschwister rochen. Muffig. Marina Minkowa war keine 12
Feministin, jedenfalls keine erklärte, die den Männern Tod und Pestilenz an den Hals wünschte. Nur die Sache mit den Essensflecken auf dem Küchentisch – die könnte sie noch militant machen. Sie freute sich nur, daß Petar und seine kleine Familie miteinander glücklich waren. Während sie sich eine neue Zigarette anzündete und in den schwarzen Nachthimmel sah, glitten vor ihren Augen Bilder von Petar vorüber. Er war ein süßer kleiner Kerl gewesen, mit seinen blauen Augen, die er vom Vater hatte, und sie und Blaga waren mit den Kindern so oft draußen gewesen im Frühling. Beide Kinder waren kurz nacheinander im Herbst geboren, und viele Jahre hindurch saßen Blaga und Marina gemeinsam in dieser Küche und beteten das Frühjahr herbei, um mit den Kindern ins Sofioter Umland fahren zu können, in die frische Luft, in die Natur. Schon damals erschienen ihnen die Winter unendlich, das war heute nicht anders geworden. Blaga erheiterte die anderen in diesen polaren Zeiten mit Geschichten. Sie war immer gut im Ausdenken und Phantasieren gewesen, und Marina, Petar und Ewa schienen die besten Bewahrer ihrer Ideen. Sie mußte nichts zu Papier bringen, denn Petar sagte etwa: »Tante Blaga, noch mal die Geschichte mit den Kamelen.« Und dann begann Blaga zu erzählen, aber als sie an die Stelle kam, wo die Kamele die Oase Scheim al Scheich verließen, um sich nach Osten zu wenden, unterbrachen Petar oder Ewa und riefen: »Aber nein, nach Norden, nicht nach Osten … Mensch, du verwechselst wieder alles.« Im Grunde waren die Kinder ein sicherer Aufbewahrungsort ihrer Geschichten, denn Blaga versteckte darin ihren Antikommunismus nicht gerade auf subtile Art. Später, als die Kinder größer und an Märchen nicht mehr interessiert waren, hatten Marina und Blaga sich zusammengesetzt und auf einer alten Schreibmaschine die Geschichten aufgeschrieben. 13
Entweder hatte Blaga alleine geschrieben, und Marina hatte ihr Tee gekocht und Zigaretten angezündet, den Aschenbecher ausgeleert, der Freundin die Schultern massiert und andere Handlangerdienste geleistet. Wenn Blaga nicht mehr konnte, hatte Marina sich an die Maschine gesetzt, und Blaga hatte diktiert. Dann, in den Sommerferien, fuhren sie in Blagas Ferienhaus nahe der Schwarzmeerküste und versteckten die Manuskripte. Marina war neben Blagas Mann die einzige, die wußte, wo die Papiere lagerten. Und Ewa hatte es natürlich gewußt. Wie unvorsichtig, Ewa dieses Wissen anzuvertrauen. Schließlich hatte Blaga, nachdem Ewa gestorben war, einige Manuskripte kopiert – sie hatte sie selber abgetippt, denn damals gab es noch keine Kopierläden, wie sie nun überall aus dem Boden schossen – und in Marinas Datscha in Dragalewsi versteckt. Da gab es ein loses Holzbrett im Boden, fast wie im Krimi. Aber Marina hatte die Manuskripte nicht einfach dort hineingesteckt, sondern einige andere Planken gelöst und die Umschläge mit den beschriebenen Bögen darin einen neben den anderen von unten an die Holzdielen geklebt. Wie genial haben wir uns gefühlt, weil wir spürten, wieviel Angst sie vor ein paar Versen hatten, dachte Marina, und mit sie meinte sie den Staat, die Mächtigen, die Kommunisten, Schiwkow oder wer auch immer als Drohne im Stock gehockt und auf Leute gelauert hatte, die sich eigene Gedanken erlaubten. Blaga und Marina hatten einander nie verlassen. Sie waren einander die verläßlichsten gewesen. Das Schicksal hatte Blaga alleine auf der Welt zurückbehalten. Erst die Tochter tot, dann der Mann. »Ich bin ihr geblieben«, seufzte Marina vor sich hin, »aber ich bin kein guter Ersatz.« Sie hatten heute Tee miteinander getrunken und die politischen Ereignisse diskutiert. Beide waren sie skeptisch in Bezug auf viele Dinge, aber Blaga wies sich neuerdings durch eine gewisse Schärfe im Ton aus. Sie sezierte das Geschehen im Land, als 14
habe sie eine ziemlich ekelerregende Froschleiche vor sich. Marina wollte es ruhiger angehen lassen, Chancen geben. Blaga haßte Chancen, die niemand wahrnahm. Sie lüftete ihre lange unterdrückte Wut gegen die Nomenklatura jedesmal ein wenig länger, auffälliger. Außerdem sah sie schlecht aus. Sie hatte Ringe unter den Augen, ein blasses Gesicht. »Das ist nur der Winter«, sagte sie dazu, aber Marina wollte, daß sie einen Arzt aufsuchte, um sich durchchecken zu lassen. Blaga reagierte darauf mit »Papperlapapp« und merkte abermals an, daß dies vom Wetter komme und sie obendrein schlecht schliefe. »Warum schläfst du schlecht? Du solltest nicht so viel und so spät essen.« »Wie kommst du darauf, daß ich spät esse?« fragte Blaga. »War nur eine Vermutung.« »Unsinn. Ich esse nicht spät.« »Du siehst schlecht aus, Blaga.« »Ja, weil ich schlecht schlafe.« »Aber dafür muß es einen Grund geben. Die Wechseljahre sollten eigentlich vorbei sein!« Marina grinste in Erinnerung an ihre nächtlichen Telefongespräche, von denen ihr Mann nicht das Geringste mitbekommen hatte, da er bis drei Uhr morgens in seinem Arbeitszimmer über Formeln zu brüten pflegte. »Bist du verrückt? Wir sind beide fast 70.« »Eben. Warum schläfst du also schlecht?« »Weil ich eine alte Frau mit Alpträumen bin. Ewa besucht mich nachts.« Marina schwieg. »Nicht jede Nacht, aber ich fürchte mich davor und freue mich gleichzeitig. Ist das nicht pervers?« »Nein.« 15
»Sie wäre jetzt 50. Und verheiratet und hätte Kinder. Und vielleicht schon Enkel. Ich könnte Urgroßmutter sein.« Marina tat der Schmerz der Freundin weh. »Ich hätte noch mal Kinder bekommen sollen. Ich war ja erst 35.« »Aber du hast keines bekommen. Sagtest du nicht immer: Was soll die Wahrheit schaden?« »Und nun willst du, daß ich ihr ins Auge sehen soll, nicht wahr, Marina? Und das tue ich. Und was ist die Wahrheil? Daß meine tote Tochter in meine Träume kommt und mir den Schmerz zurückholt.« Marina konnte nicht herausfinden, ob Blaga sich in der letzten Zeit zuviel mit Ewa beschäftigt hatte. Blaga neigte dazu, ab und zu alte Fotos anzusehen und darüber zu brüten. Aber Alpträume – die waren lange vorbei! Da war die Zeit der brutalen Verfolgungen und Eingriffe in ihr Privatleben gewesen. Blaga mußte die Stelle als Historikerin an der Universität räumen, weil man mit ihren Gedanken nicht klar kam. »Ich habe mir niemals Alpträume erlaubt, Marina«, sagte Blaga, die begabte Gedankenleserin. »Ich hatte auch keine Gelegenheit. Immer gab es etwas zu kämpfen. Zuerst die Kommunisten. Ewas Tod. Dann der Versuch, die demokratischen Kräfte zu bündeln. Wir haben Schiwkows Sturz mit herbeigeführt, auch wir haben an einem Zipfel seines Jacketts gezogen, weißt du nicht mehr? Dann Ljubens Tod. Er starb mit so vielen Hoffnungen. Aber wir haben sie uns selbst nicht erfüllen können. Nun leben wir halt so dahin, wohnen unserem Leben bei. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir hatten große Visionen von Europa, aber sie sind zerronnen. Was interessiert uns Europa?! Wer in Europa interessiert sich für uns? Nur Kriege lenken die Blicke der Welt auf den Balkan. Und nun habe ich Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Dann steht Ewa vor meiner Tür.« 16
Marina setzte sich ins Wohnzimmer und lauschte dem Klappern der Schreibmaschinentastatur aus Boris’ Arbeitszimmer. Sie wußte, daß er einen Zeitungsartikel veröffentlichen wollte, aber sie hatte keine Ahnung, worum es ging. Boris war kein politischer Mensch. Er war damit gut gefahren, und als Mathematiker war er ganz großartig. Sie würde Blaga zureden müssen, doch zum Arzt zu gehen. Vielleicht könnten sie alle zusammenlegen und Blaga zur Kur schicken. Selbstverständlich war das unrealistisch. Und dann war Blaga auch so stur! Wie heute nachmittag – symptomatisch hatte sich das abgespielt, das apodiktische »nein, kommt nicht in Frage«, das Blaga aussprach. »Du hast zuviel an sie gedacht!« »Vielleicht habe ich viel zu wenig an meine Tochter gedacht, all die Jahre. Vielleicht hätte sie mehr Aufmerksamkeit und mehr Erinnerung verdient.« »Es ist 33 Jahre her, Blaga.« Marina sah Härte in Blagas Augen. »Nicht genug Zeit, um zu vergessen.« »Paß auf dich auf.« »Wozu?«
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3. München, Januar bis März Hallo Alexi, leider weiß ich nichts über Bulgarien, außer daß es mal kommunistisch war (das weiß wohl jeder), und daß der bulgarische Geheimdienst den Papst ermorden wollte, was dann aber nicht geklappt hat. Habe hier Kontakt zu einer Serbin, und die sagt, die Bulgaren wären alle orthodox und sehr stolz drauf, und sie haben wunderschöne Ikonen. Schreib mir mehr über das Projekt! Love, Inga Ingas Е-Post tickte gerade in den Computer, als Alexina ein paar Tage später eine Datei für Prof. Martin bearbeitete, die für die Präsentation gebraucht wurde. Alexina spürte, daß er wegen des Termins in Sofia doch etwas angespannt war. Offenbar waren die Vorbereitungen gewaltig. Alexina hatte die Aufgabe, bereits eine erste Version der Präsentation – freilich ohne die kompletten Daten und die Pointen, wie Prof. Martin sich ausdrückte – als Internetversion zu erstellen. Das Handbuch zu dem entsprechenden Programm auf ihrem Schoß balancierend gab sie die passenden Daten in den Computer ein, aber der Kurs, den sie zum Programmieren von Internetseiten belegt hatte, war schon länger her, und sie war sich bei vielen Funktionen nicht mehr sicher. Deswegen brauchte sie für diese Vorabversion einen ganzen Tag, antwortete nur mit wenigen Worten auf Ingas Mail und kam abends müde nach Hause. Prof. Martin hatte recht gehabt. Die Dinge renkten sich ein, sobald der weihnachtliche Hafen außer Sicht war.
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Sie beschäftigte sich in ihrer Freizeit fast ausschließlich mit der geplanten Reise. Prof. Martin hatte am Vormittag einige Stapel Bücher vor ihr abgelegt. »Sehen Sie sich das mal an. Entwerfen Sie uns ein schönes Freizeitprogramm, für die zwei Tage nach der Messe. Die möchte ich dann so richtig genießen; ach, und meine Frau ist sehr kunstinteressiert. Wie war das mit dem griechisch-römischen Erbe Bulgariens? Wenn Sie Zeit haben, arbeiten Sie sich da ein bißchen ein. Ist doch Ihr Fach.« Er grinste. »Nicht, daß Ihre Fähigkeiten hier ganz verdorben werden.« Alexina begann, es sich zu Gewohnheit zu machen, abends nach der Arbeit in die Universitätsbibliothek zu gehen und zu recherchieren. Sie beobachtete die Studenten, die oft panisch oder gelangweilt vor den Regalbrettern herumirrten und in letzter Minute auf der Suche nach dem richtigen, einzig wahren Buch waren, daß es ihnen möglich machen würde, ein Referat zu halten oder eine Hausarbeit gerade noch rechtzeitig abzugeben. In der Abteilung für Slawistik fühlte sich Alexina am wohlsten – wenige Leute arbeiteten dort. Ende Februar überreichte sie Prof. Martin ein Dossier, das sie selbst zusammengestellt hatte: Informationen zur Landesgeschichte, praktische Hinweise, Ideen für die Gestaltung von zwei freien Tagen in Bulgarien. »Ich bin beeindruckt, Frau Hernany«, sagte Prof. Martin, dessen Gesicht zur Zeit Spuren von starker Müdigkeit aufwies. »Das ist ja ein richtiger selbstgemachter Reiseführer.« »Es hat mich einfach interessiert, zu sehen, was es für Möglichkeiten gibt. Und die üblichen Reisebücher kann man vergessen. Neckermann fliegt seine Leute schon in die passenden Hotelanlagen an die Schwarzmeerküste.«
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»Ich bin geplättet.« Prof. Martin schlug Seite um Seite um. »Darf ich das mit nach Hause nehmen?« »Deswegen habe ich es ja ausgedruckt und zusammengeheftet.« »Klasse. Meine Frau wird es Ihnen danken.« Prof. Martin verließ das Sekretariat und Alexina machte sich daran, eine Mail an Inga abzuschicken. Liebe Inga, hatte viel Arbeit mit der Bulgarienreise und dann natürlich einige andere Dinge nebenher. Ich habe jetzt ein Dossier zu Bulgarien geschrieben – richtige Einarbeitung, sage ich dir. Jetzt bin ich erst mal gespannt wie ein Regenschirm. Wußtest Du, daß erst seit kurzem keine Sozialisten mehr an der Regierung sind, und daß sich die bulgarische KP nach 1989 offensichtlich sehr viel weniger geläutert hat als die Altkommunisten in Polen oder Ungarn? Wer weiß, was dort zu erleben ist. Werde übrigens die Frau meines Chefs kennenlernen. Studierte Medizinerin, die nach der Heirat den Job an den Nagel gehängt und Kunstgeschichte studiert hat. Bis bald! Alexi Drei Tage vor ihrer Abreise am 17. März ließ Prof. Martin morgens einen Stapel Din A 4-Blätter auf Alexinas Schreibtisch fallen. »Wir müssen noch ein bißchen Politik machen«, sagte er. »Das hier sind Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Suchen Sie mal alles zu Bulgarien raus, kopieren Sie das und legen Sie es mir noch heute abend rüber. Ich habe nicht mehr viel Zeit für solche Dinge, aber ich will sicher gehen … nichts versäumt zu haben. Und lesen
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Sie das Zeug auch mal. Kann ja nicht schaden, wenn zwei Leute wissen, wo der Hase im Pfeffer liegt.« Er rauschte hinaus. Alexina war froh über den Lesestoff. Die Berichte enthielten einiges über die politische Situation in Bulgarien, und sie war sowieso so aufgeregt wegen der bevorstehenden Reise, daß sie das Gefühl hatte, ihre Beine und Arme nicht stillhalten zu können, es sei denn, sie las oder arbeitete am Computer. Der Koffer stand schon gepackt im Schlafzimmer – die schicken Klamotten für die Präsentationen samt einem Reisebügeleisen, das Täschchen mit den Medikamenten gegen Unbill aller Art, Tagebuch und Stift … Ihre Mutter hatte auf ihre Ankündigung, sie würde eine gute Woche nach Sofia reisen, wenig erfreut reagiert. »Nun bauen die ausgerechnet, wirklich ausgerechnet in der Zeit den neuen Heizungsbrenner bei mir ein. Das ist aber auch wirklich ungünstig. Gerade in der Zeit! Aber natürlich geht deine Arbeit vor, das ist doch ganz selbstverständlich …« Sie will hören, daß ich ihrer Heizung wegen die Reise absage, dachte Alexina bitter. »Genau, die geht wirklich vor. Ich muß Präsentationen vorführen und …« »Ich hoffe, euer Hotel ist in Ordnung. Du solltest dich auf sehr unwirtliche Verhältnisse einstellen. Man weiß ja, wie es im Osten ist. Die Augen des KGB sind noch überall. Aber du wirst dir ja nichts zuschulden kommen lassen … Vielleicht hören die euch auch ab! Schließlich sind sie unser alter Klassenfeind. Ich verstehe eigentlich nicht, wie dein Chef dir zumuten kann, dort hinzureisen.« Wie sie nur darauf kam! Alexina legte den Hörer aus der Hand und bemerkte eine eindeutige Panik in ihren Eingeweiden. Ihre Mutter schaffte es immer, jedes Mal, sie zu verunsichern. »Alexina, das schaffst du nicht. Die Rutsche ist noch zu hoch für dich. Das Klettergerüst ist nur was für größere Kinder …« 21
Sie rannte. Sie rannte, daß ihre Beine fast den Boden nicht mehr berührten, und sie erklomm einige Treppen, atmete miefige Luft. Da waren wieder die Gesichter, viele von ihnen, warm, aber streng dreinblickend. Straften sie sie, mit diesem heftigen Schmerz im Genick, am Hals, mit dieser entsetzlichen Atemnot? Wieder tauchte ein Kindergesicht in ihren Augenwinkeln auf, dann ging das Licht fort, Schwärze breitete sich aus, sie begann zu schweben, und dann hörte sie eine Frau schreien – das war nicht sie selbst, eine Frau schrie, und kurz sah sie die Konturen eines Gesichts vor sich, weit aufgerissene Augen und sonst nichts als Mund, der schrie … Sie erwachte, sitzend im Bett, beide Hände an ihrem Hals. Nicht jetzt! Nicht gerade heute! Die Verzweiflung über den neuerlichen Alptraum, die Erschöpfung, die Müdigkeit – Alexina kämpfte heftig gegen die Panik, unterlag schließlich und weinte, bis sich gegen sechs Uhr helle Streifen am Himmel zeigten. Sie stand auf, schüttelte die Müdigkeit ab, duschte, kochte Kaffee und wartete auf das Taxi, das pünktlich um acht Uhr vor ihrer Haustür halten sollte. Keine Gefühle. Kein Schmerz. Sie würde gern auf alles verzichten, wenn nur die Angst verschwände. »Hallo Frau Hernany, schön Sie kennenzulernen. Ich habe Ihr Dossier schon gelesen! Da haben Sie sich wirklich viel Arbeit gemacht!« Taufrisch saßen Prof. Martin und seine Frau im Taxi. Alexina hatte Anneliese Martin nie zuvor gesehen. Sie war mindestens zehn Jahre jünger als ihr Mann, hatte halblanges, exakt geschnittenes, brünettes Haar und trug eine konkurrenzlose Brille, deren dunkler Rahmen ihre braunen Augen betonte. »Es hat mich selber interessiert, so etwas zusammenzustellen.«
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»Jedenfalls werde ich, während Sie beide arbeiten, genug zu tun haben, um all die Dinge zu sehen, die Sie in ihr Konvolut aufgenommen haben«, entgegnete Anneliese Martin. Beide hatten offensichtlich ausgeschlafen und waren guter Dinge. Reisen mußten etwas Herrliches sein, wenn man nicht von einem Monster, das Panik hieß, die Nacht vorher heimgesucht worden war. Beim Anblick des Flughafengeländes mußte Alexina sich darauf konzentrieren, ihren Magen zu bändigen. Er bestand darauf, seinen Inhalt, eine einzige Tasse Kaffee, wieder von sich zu geben. »Wir steigen im Grand Hotel Sofia ab«, unterrichtete Prof. Martin seine Frau, während er ihren Gepäckkarren durch die Abflughalle manövrierte, »und da ich leider nicht viel Zeit hatte, mir Frau Hernanys Unterlagen so genau anzusehen wie du, wirst du mir im Flugzeug schildern, welche Sehenswürdigkeiten dort in der Nähe liegen und wie wir den Weg zum Veranstaltungsort finden und all das.« Er bremste den Karren vor dem Lufthansaschalter elegant ab. »Meine Frau liest nämlich Stadtpläne wie andere Leute Kriminalromane«, erklärte er Alexina mit einem Augenzwinkern. »Wenn du statt dessen mal die Tickets raussuchen würdest, Robert …« Prof. Martin griff in die Innentasche seines Jacketts. »Nichtraucher, bitte. Was dagegen?« Alexina schüttelte stumm den Kopf. »Also Nichtraucher.« Sie steckten die Bordkarten ein. »Ich möchte noch Zeitungen kaufen. Wollt ihr mit?« fragte Prof. Martin. »Ich verzichte«, sagte seine Frau. »Ich bin froh, wenn ich mir die politische Informationsfütterung in der nächsten Woche er23
spare!« Sie blickte Alexina prüfend an. »Aufgeregt? Machen Sie sich nichts draus. Das werden Sie prima hinkriegen.« »Ich fliege nicht besonders gern!« »Nicht wahr? Ich auch nicht. Ich habe mir extra Tabletten verschreiben lassen. Möchten Sie eine? Damit sieht man alles ein bißchen leichter.« Sie griff in ihre Handtasche und förderte eine blau-weiße Schachtel zutage. »Schaden tun sie jedenfalls nicht. Müde machen Sie auch nicht. Man fühlt sich einfach nur gut.« Alexina nahm zögernd zwei Kapseln entgegen. »Und Nebenwirkungen …?« »Ach was, Nebenwirkungen, lieber ein leichtes Magendrücken als Flugangst, oder?« Alexina fragte sich, ob Anneliese Martin immer so couragiert war, oder ob dies momentan mit der Wirkung der Tabletten zu tun hatte. »Kommen Sie, trinken wir einen Kaffee. Bis mein Mann seine Zeitungen zusammengerafft hat, das kann dauern. Dann schlucken Sie Ihre Pillen und nachher sind Sie ganz ruhig.« Ein komplett durchgestylter Kellner stellte ihnen je einen Cappuccino und ein Glas Wasser auf den Tisch. Alexina schluckte die Tabletten und wartete auf eine durchschlagende Wirkung. »Das dauert ein Momentchen. Bis zum Abflug merken Sie es dann schon.« Anneliese trank genüßlich ihren Cappuccino. »Was für ein herrliches Wetter. Wie lange dauert der Flug, zwei Stunden? Wenn es weiter so wolkenlos ist, werden wir unendlich viel zu sehen bekommen.« Alexina beschloß, auf die Sicherheitserläuterungen der Stewardessen nicht zu achten. Annelieses Tabletten zeigten Wirkung. Sie fühlte sich ziemlich ausgeglichen, aber auch sehr 24
schläfrig, darum hatte sie dafür plädiert, daß Anneliese mit ihrem Interesse für Landschaftsdinge am Fenster sitzen sollte. Prof. Martin thronte nun in der Mitte neben seiner Frau, wo er hinter seinen Zeitungen fast komplett verschwand, und Alexina ließ sich in die Polster ihres Sitzes am Gang drücken, als die Maschine beschleunigte und abhob, sanft und friedlich. Es gab ganz und gar keinen Grund zur Panik.
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4. Sofia, am Abend des 18.3. Juri Kolew steuerte seinen Wagen durch Sofia. Er haßte den Verkehr. Er haßte überhaupt diese ganze dumme Woche. Und daß er nun auf der Eröffnung dieser Außenhandelsveranstaltung der Universität hatte sprechen müssen, widerte ihn besonders an. Schon zuvor hatte er mitbekommen, daß es Probleme zu geben schien. Die Veranstaltung sollte ursprünglich ganz woanders stattfinden. Dann hatte eine andere Gruppe die vorgesehenen Räume benötigt und gebucht. Kolew brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was das für eine Gruppe war. Er hatte nichts gegen die Universität als Veranstaltungsort, aber dieses ganze Gestreite um die richtigen Räume führte ihm mal wieder vor Augen, daß nichts vorwärts ging. An dem neuen System gefiel ihm nicht, daß zu viele Leute sagen konnten, wo es langging. Früher hatte ein Wort der richtigen Person genügt, und schon war alles gelaufen. Die Dinge hatten funktioniert. Sicher, er persönlich hatte heute immer noch genügend Privilegien. Sein Schweizer Konto würde ihm in einigen Jahren, wenn er nicht mehr arbeiten wollte, seine bescheidenen Träume erfüllen. Dafür hatte er auch geschuftet. Schon vorher. Vor 1989. Damals hatte er seine Ersparnisse anderswo gelagert, aber es wurde ihm versprochen, daß nichts davon verloren ginge, daß sich im Gegenteil alles noch kräftig vermehren würde – er, Kolew, müßte nur ordentlich mit an den Fäden ziehen, und zwar da, wo er gebraucht wurde. Das ist mein Leben, dachte er grimmig, man gibt mir Fäden und sagt: Zieh! Wenigstens hatte er seine Begrüßungsrede gut hinter sich gebracht. Daß sie aber im Finanzministerium immer einen Deppen brauchten, der einsprang, wenn es um Selbstdarstellung ging. 26
Englisch konnte er, schließlich war er fast ein Jahr in England gewesen, um fortgebildet zu werden – in Parlamentarismus, in Demokratie und in der englischen Sprache. Sehr schnell hatte er gemerkt, wie viele Türen diese Sprachkenntnisse ihm öffneten. Fast alle Leute, die wichtig waren, sprachen Englisch. Anders als viele seiner ehemaligen Mitstreiter sprach er es sehr gut und ohne den gewaltigen bulgarischen Akzent, den etliche an den Tag legten. Er war inzwischen sogar so geübt, daß er sich beim Sprechen nicht einmal mehr sehr konzentrieren mußte. Dafür sorgten auch die vielen englischen Videofilme, die Nikolai ihm besorgte. Selbstgefällig beschleunigte Kolew und konnte in letzter Minute ausweichen, als ein alter Mann mit Stock unversehens die Straße betrat. Verdammt! Jetzt hatte er schon diesen neuen Wagen. Ausfahren konnte er ihn kaum. Alle paar Jahre bekam er einen neuen. Dieses Modell, einen Toyota Corolla, mochte er besonders gern. Der Nachteil war nur, daß er ihn in der Stadt nirgends parken konnte. In seiner eigenen Garage auf bewachtem Grundstück war er natürlich sicher, aber ansonsten konnte er damit rechnen, bei der Rückkehr den Wagen nicht mehr wiederzufinden. Deswegen war meist Nikolai bei ihm. Dann saß Nikolai im Auto, wartete auf ihn und übergab ihm dann das Auto wieder, so wie heute, oder er fuhr weg und holte ihn später ab. Das fand Kolew außerordentlich bequem. Aber er hatte wirklich geschuftet wie ein Brunnenputzer, in diesem Leben. Nichts von dem, was man ihm gegeben hatte, war gratis gewesen. In manchen Augenblicken seines Lebens fühlte er sich beschmutzt von den Dingen, die ihm abverlangt worden waren. Er, Juri Kolew als Person, wäre von selbst nicht einmal auf den Gedanken gekommen, andere Menschen zu kontrollieren, auszuspionieren oder einzuschüchtern. Er tat es eben. Er dachte nicht daran, hinter diese Tat zu blicken. Er beurteilte nur, welchen Aufwand es bedeutete, und welcher 27
Ertrag dabei für ihn heraussprang. Dann kümmerte er sich um eine todsichere Durchführung mit minimalem Risiko für ihn selbst. Ein Mal – nur ein einziges Mal – hatte er jemanden töten müssen. Er hatte das gemacht wie er alles machte, was von ihm verlangt wurde, damit er weiter vorankam auf der Straße, die ihm der einzige Weg in die Zukunft schien. Nicht wie die Nonkonformisten in diesem Dreck zu ersticken, weil sie sich zu fein waren, ein paar Kompromisse zu machen und ein wenig von ihren eigenen, egoistischen Plänen abzurücken. Er sah das Mädchen kurz vor sich, nur den Bruchteil einer Sekunde. Er haßte sich dafür. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Schließlich war es mehr als dreißig Jahre her. Er fühlte auch noch das Elektrokabel in seinen Händen. Es war ihm eisig kalt vorgekommen, damals, und zuerst hatte er gedacht, es hätte sich in seine Finger hineingeätzt, und er würde es nie wieder loswerden. Noch einmal das Mädchen. Wieder nur einen Moment, wie sie sich zu ihm umdrehte. Sie hatte gespürt, was anstand. Auch so eine Nonkonformistin, die sich besser und klüger und moralischer vorkam. Tochter von Sturköpfen, die es nicht lassen konnten, auf Durchzug zu schalten, wenn die entsprechenden Leute ein Angebot machten. »Schauen Sie mal, Genossin, das mit Ihrer Stelle an der Universität, das ließe sich regeln, wenn Sie …« Bei so einer starrköpfigen Mutter war es kein Wunder, daß das Mädchen es nicht besser wußte. Vielleicht hätte sie sich geändert, sich nach den gewünschten Richtlinien orientiert, wenn – ja, wenn sie noch eine Gelegenheit gehabt hätte. Aber der Befehl vom Dachs war eindeutig gewesen. Ausschalten. Und Juri Kolew hatte das Mädchen ausgeschaltet. Es hatte ihm leid getan um ihre schönen langen braunen Haare. Ungewöhnliche Haarfarbe, dieser Ton. Genauso wie das Mädchen heute. Die Deutsche an dem Stand von diesem Professor. Nur, daß deren 28
Haar kurz geschnitten war, und das Mädchen damals, sie hatte schulterlanges Haar gehabt, und im Laufen wehte das Haar nach hinten, das – so erinnerte er sich – hatte er wunderschön gefunden. Allerdings, genau genommen, heute, das war kein Mädchen gewesen, sondern eine sehr erwachsene Frau, mit ersten Falten und einem etwas müden Gesichtsausdruck. Kolew schätzte sie Ende zwanzig. Aber sie hatte sehr gut ausgesehen, und er hätte sich, wäre er noch jünger und in die alltäglichen Aufgaben nicht so eingespannt, sicher für sie interessiert. Er runzelte kurz die Stirn. Wann hatte er sich das letzte Mal für eine Frau interessiert? So richtig – daß er sich eine Frau, eine bestimmte Frau vorstellte, wie sie aussah und wie ihre Stimme sich anhörte. Wenn er eine Frau benötigte, dann genügte ein Griff zum Telefonhörer und eine halbe Stunde später kam eine. Die meisten Mädchen färbten ihre Haare blond. Dabei waren sie eigentlich zu dunkel, der Ton ihrer Haut paßte nicht wirklich gut zu den hellen Haaren. Und dann schien beim Färben auch einiges schiefzulaufen, die Farbe sah nicht wirklich blond, sondern eher gelb aus. Anders als die meisten Männer fand Kolew Brünette viel erotischer, neulich hatte er deshalb bei Schan angefragt, ob er nicht eine Dunkelhaarige vorbeischicken könne. Man hatte seinen Wunsch sofort erfüllt. Das lief doch viel bequemer, als wenn er sich selber daran machen mußte, eine Frau anzusprechen. Im übrigen hatte er den flüchtigen Eindruck, daß Frauen heutzutage mehr auf selbständig machten und so taten, als würden sie selber entscheiden, mit welchem Mann sie ins Bett gingen. Auch das hatte ihm am alten System besser gefallen – da nahmen sie doch gerne die Privilegien, die eine Beziehung zu einem anderen Privilegierten der Nomenklatura mit sich brachte. Nicht alle, sicher, das Mädchen, das er getötet hatte, hätte sich nicht bereit erklärt. Zu keinen Kompromissen fähig, diese Leute.
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Jedenfalls war diese Frau heute der Kleinen von damals, abgesehen von der Haarfarbe, auch nicht sehr ähnlich. Nur in den Augen vielleicht, da hatte so etwas gelegen … er war nicht gut im Formulieren, und die richtigen Worte wollten ihm nicht in den Sinn kommen. Etwas Fragendes vielleicht. Als könnte man mit einem Blick in die Augen allein direkt die Seele betreten. Er gestand es sich selten ein, aber das Mädchen zu töten hatte ihm Schmerzen bereitet. Nicht nur in den Händen. Seine Seele hatte lange Zeit gelitten, er hatte schlecht geschlafen und seine Ehe war vielleicht auch deshalb schnell in sich zusammengefallen. Er hätte sie nicht töten sollen. Es hatte ihn gedemütigt. Dieses eine Mal hätte er ›Nein‹ sagen müssen, aber dann wäre er jetzt nicht hier, mit dem Schweizer Aktienfond, dem Wagen, Nikolai, den vielen Annehmlichkeiten, und noch viel wichtiger, mit der Aussicht, einen Lebensabend zu verbringen, wie er den meisten seiner Landsleute nicht vergönnt war: Er würde eine schöne Wohnung in Sofia haben, ein Ferienhaus am Meer, genug zu essen, er würde ins Ausland reisen, wenn er dazu Lust hatte, und wenn er krank war, würde er sich einen Arzt leisten können, der die Bezeichnung verdiente. Juri Kolew nickte 1 zufrieden. Aber das Mädchen … Wenn er sich geweigert hätte, sie umzubringen, der Dachs hätte Konsequenzen gezogen. Zum Teufel, warum erinnerte er sich daran? Nur wegen dieser braunhaarigen Frau? Eigentlich sollten ihn Frauen gar nicht mehr interessieren. Dabei war der Tod für das Mädchen sicher eine Erlösung gewesen. Wenn er nur an die zwei Wochen vorher dachte … er hatte sie tyrannisiert, das hätten selbst seine eigenen hartgesottenen Nerven nicht durchgehalten. Auf Schritt und Tritt war er hinter 1
In Bulgarien nickt man, wenn man ›nein‹ meint, und man schüttelt den Kopf, wenn man ›ja‹ meint. Um die Leser nicht zu verwirren, werden ›nicken‹ und ›mit dem Kopf schütteln‹ hier den deutschen Konventionen gemäß verwendet. 30
ihr gewesen, und wenn nicht er, dann ein anderer. Im Bus hatte er ihr gegenüber gesessen. Vor ihrer Schule gestanden. Manchmal hatte sie seinen Blick erwidert, aber meist hatte sie sich abgewandt und vor sich hin gestarrt, und dann war er sich großartig vorgekommen. Psychologische Kriegsführung nannte man das. Einmal war sie aus der Wohnung gekommen, und da hatte er sie festgehalten, im Treppenhaus, und sie hatte gewimmert, leise, geschrien hatte sie nicht. Das war ja auch ein vorbildlich geführtes, sozialistisches Wohnhaus gewesen damals, und er hatte ihr ins Ohr geflüstert, sie solle den Unfall vergessen und die Namen auch, und sie solle dort und dort vorstellig werden und als Gegenleistung dafür, daß man sie großmütig davonkommen lasse, ein paar kleine Aufgaben übernehmen. Spitzeldienste bei ihrer Mutter und deren Freunden. Nicht weiter schwierig bei Mädchen in ihrem Alter. Sie hatte gewimmert, aber ›nein‹ gesagt. Na ja, nicht gesagt, gehaucht. Gut, dann konnte er ihr auch nicht helfen. Genau das hatte er ihr gesagt. Dann war eine Wohnungstür aufgegangen, er hatte sie losgelassen und sie war aus dem Haus gerannt. Ein paar Mal hatten sich solche Chancen ergeben. Immer hatte er ihr sein Angebot ins Ohr geflüstert. Immer sagte sie ›nein‹, mit fliegendem Atem, und er spürte noch, wie weich die Haut ihrer Ohrmuschel gewesen war auf seinen Lippen. Ob ihre Eltern noch lebten? Juri wollte sich eigentlich nicht damit beschäftigen, aber jetzt, wo er den Wagen in die Garage fuhr, den Zündschlüssel abzog und dem Wachmann am Tor zuwinkte, schlich sich diese Frage in seinen Kopf. Nicht zu vergessen sein einziger Zeuge … Bis in die Neunziger hatte man ihn überwacht, aber er war nie auffällig geworden. Klar, der Kerl hatte es verstanden, Prioritäten zu setzen. Und schließlich war Kolew für die Beschattung der Familie des Mädchens ja auch nicht zuständig gewesen. Dafür sorgte der Dachs. Korrekte 31
Arbeitsaufteilung hieß das. Aber der Zeuge … der lebte sicher noch, war damals ein kleines Kind von vielleicht neun oder zehn Jahren. Kolew schenkte sich ein Glas Wein ein und griff zum Hörer. Das Gefühl kannte er nicht, es war neu, aber er wollte das Foto des Mädchens noch mal sehen. Er wollte es mit der Frau von heute vergleichen. Was für ein verrückter Gedanke. »Hallo?« »Neitscho?« »Wer spricht da?« »Juri. Ich brauche eine Akte von 1967.« »Name, Aktenzeichen?« »Name: Ewa Petkowa. Aktenzeichen weißt du besser als ich. Bis morgen.« »Du weißt, daß das meine Kompetenzen deutlich überschreitet.« »Und du weißt, was ich weiß.« Kurzes Schweigen. »Ich werden sehen, was ich tun kann. Immerhin von 1967. Für die wird sich kaum mehr jemand interessieren. Wohin soll ich die Akte schicken? Ins Büro?« »Abends zu mir nach Hause.« »Kein Problem.« »Gute Nacht, Neitscho.« Kolew suchte sich eine gute Zigarre heraus. Neitscho hatte er einige Gefallen getan. Deshalb war der ihm immer zu Diensten. Neitschos Position war nicht besonders hoch. Er hatte keinen Wagen, kein Haus am Meer. Sicher auch keinen Aktienfonds. Vielleicht ein paar Ersparnisse in Dollar. Aber er arbeitete zuverlässig. Ich sollte Neitscho zurückrufen und ihm sagen, daß ich das 32
Material doch nicht brauche. Wie das Kabel in seine Hände einschnitt … Wie das Mädchen geröchelt hatte … Wie bleich sie war … Wie verzerrt das Gesicht aussah … Dabei war sie doch so hübsch. So kann es eben kommen, wenn man sturköpfig ist und nicht auf andere eingeht. Er würde Neitscho nicht wieder anrufen.
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5. Sofia, Grand Hotel, Ploštad Narodno, am Morgen des 19.3. »Von wegen Außenhandelsmesse«, schimpfte Prof. Martin beim Frühstück. Alexina hatte ihn noch sie so wütend gesehen. »Mir ist nicht so ganz klar, was das eigentlich für eine Veranstaltung ist. Offenbar wollen sich die Bulgaren, die Offiziellen, als Super-Partner in der internationalen Kooperation präsentieren.« »Bleib ruhig«, sagte Anneliese leichthin. »So ist das eben. Wir sind zu korrekt, wir tarieren alles vorher aus. Du zeigst deine Projekte. Man interessiert sich dafür. Sei doch zufrieden.« Prof. Martin brummte etwas, griff sich mit unwirscher Handbewegung seinen Teller und marschierte zum Büffet. »Typisch für ihn«, sagte Anneliese mit einer ironischen Geste. »Er muß im Vorhinein schon immer exakt wissen, was anliegt. Ich verstehe das eigentlich nicht. Ich bevorzuge das Spontane. Und Sie?« Alexina zögerte. Sie fühlte sich in Sofia außerordentlich wohl. Schon im Moment ihrer Ankunft hatte sie eine Ruhe verspürt, die sicherlich nicht Annelieses Beruhigungskapseln ausgelöst hatten. Sie schlief hervorragend, ohne Alpträume, und wenn sie von ihrem Zimmer über die Stadt blickte, empfand sie eine Vertrautheit, die sie selber erstaunte. Das einzige ihr bekannte Gebäude war die Newski-Kathedrale, und die kannte sie nur von Fotos. Aber alles zusammen, der Straßenlärm, der fremde Klang der bulgarischen Sprache, der Geruch nach Zweitaktmotoren … fast löste es ein Hochgefühl in ihr aus, eine freudige Erregung. Vielleicht ist es die Abenteuerlust, die sich endlich in mir meldet, dachte Alexina zufrieden. 34
»Ich bin auf jeden Tag ziemlich neugierig. Ich erwarte eigentlich gar nicht, daß ich weiß, was passieren wird.« »Gute Einstellung«, nickte Anneliese und trank ihren Kaffee in großen Schlucken. »So ist das Leben: Neugier. Alles, was geschieht, wird enorm spannend sein. So ist es, Robert«, wandte sie sich an ihren Mann, der sich wieder zu ihnen setzte. »Sei also nicht mißmutig. Die Sache wird ein voller Erfolg, solange du nur davon überzeugt bist.« »Meine Frau«, zwinkerte Prof. Martin, ein wenig freundlicher. »Sie sieht in allem das Positive.« »Aber nein, ich führe das Positive herbei«, widersprach Anneliese. »Wollen wir es hoffen. Dieser Typ vom Finanzministerium, wie hieß der noch gleich, der gestern diese Begrüßungsrede gehalten hat?« »Juri Kolew.« »Gutes Namensgedächtnis, Frau Hernany, jedenfalls dieser Kolew wollte mir einige Unterlagen zu Reformen im bulgarischen Bankwesen zur Verfügung stellen. Irgendwann diese Woche kommt er also noch mal an unseren Stand, und da ich wahrscheinlich kaum dort sein werde, nehmen Sie bitte die Dokumente in Empfang, ja? Und stecken Sie sie gleich weg, das sollte da nicht rumliegen.« »Klar, mache ich.« »Wie fanden Sie eigentlich seine Rede?« »Ich … ich weiß nicht.« Alexina sah den Mann noch genau vor sich. Er hatte ein gutes Englisch gesprochen, aber seine Stimme war ihr unangenehm gewesen. Vielleicht, weil er kaum Akzent hatte, denn es gefiel ihr im Grunde, wie die Bulgaren die englischen Worte aussprachen. Sie wirkten dann ein wenig klobig, ungeschliffen. Das 35
kam ihr sehr natürlich vor, natürlicher als Kolews perfektionierter Auftritt. Auch sein Anzug, seine Schuhe und die Art wie er sich bewegte waren ihr unangenehm gewesen. »Offen gesagt, er war mir unsympathisch. Aber begründen kann ich das nicht. Und inhaltlich: Auch so ein Reformer, der am liebsten wahrscheinlich keiner wäre.« Prof. Martin lachte. »Ich verbeuge mich vor der weiblichen Intuition. Ich weiß zwar nicht, was an dem Mann unsympathisch sein soll, aber mit seiner Haltung gegenüber den Reformen haben Sie sicherlich recht. Leute in diesen Positionen würden wahrscheinlich alle Arten von Inhalten als begrüßenswerte Reformen verkaufen … Die berühmte Großmutter, die auf dem Sklavenmarkt für ein paar Heller verschachert wird, Sie wissen schon.« Alexina schenkte sich mehr Kaffee ein. Unsympathisch war nicht das richtige Wort. Sie ekelte sich vor Kolew. Und da war noch etwas an ihm, das sie entfernt an etwas erinnerte … nein, nicht erinnerte, das eher etwas in ihr auslöste. Sie wußte nicht, was. Als sie seine Hand geschüttelt und Höflichkeiten ausgetauscht hatte, da war etwas Eisiges an ihm. In seinem Blick … Alexina schüttelte den Kopf. Unerheblich. »Am Mittwoch nachmittag haben Sie frei«, sagte Prof. Martin gerade. »Dann schicke ich Sie mit meiner Frau durch Sofia. Und übrigens hatte ich die Idee, daß wir unseren Flug noch mal umbuchen und einen Tag später abreisen, dann könnten wir am nächsten Sonntag noch nach Plowdiw fahren. Ein Kollege meinte, es sei die schönste Stadt Bulgariens. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben … ansonsten steht es Ihnen frei, schon sonntags zurückzufliegen.« »Nein, ich würde gerne länger bleiben«, sagte Alexina, und verwundert stellte sie fest, daß sie ›länger‹ wirklich meinte. Sehr viel länger, wenn möglich. 36
»Prima. Regeln Sie das gleich nachher, ja?« »Mache ich.« Alexina hörte schon ihre Mutter am Telefon: Warum bist du später zurückgekommen? Ich habe mir Sorgen gemacht. Die haben jetzt zwar den Brenner eingebaut, aber weißt du, wie? Zentimeterhoch der Dreck überall im Haus und dann mit meinem Knie die Putzerei … Alexina hörte sogar förmlich das Klingeln des Telefons am Sonntagabend in ihrer leeren Wohnung. »Frau Martin, würden Sie wohl ein paar Ansichtskarten für mich mitbringen?« »Natürlich. Was für Motive mögen Sie denn?« »Vielleicht – etwas richtig Sozialistisches. Wissen Sie, was ich meine? Monumente, monströse Plattenbauten, irgendwas.« »Das hat was, nicht?« lachte Anneliese. »Aber wem im Westen kann man das schon erklären? Die Schönheit realsozialistischer Baukunst. Mein Gott, die gibt es. Schön schrecklich, würde ich sagen.« »Aber nicht nur«, widersprach Alexina. »Es ist nicht – Nostalgie, was ich meine.« »Nein, sicher nicht. Aber merken wir nicht alle, das etwas verlorengegangen ist oder in diesen Jahren am Sich-SelbstVerlieren ist, am Ausklingen?« »Mein Gott, meine Gattin, was für eine Formulierungskunst«, stöhnte Prof. Martin, halb scherzend, halb ernst. »Du verstehst das eben nicht. Man muß durch diese Straßen gehen und alles einatmen, nicht nur ansehen. Wenn du das nur mal tätest, du würdest kapieren, was wir meinen.« »Leider habe ich dazu keine Zeit«, antwortete Prof. Martin, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »In einer Viertelstunde an der Rezeption, Frau Hernany, in Ordnung?« »Klar.«
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»Lassen Sie sich nicht hetzten. Es ist noch mehr als genug Zeit«, sagte Anneliese. »Außerdem werde ich heute mal ein Programm machen, was ich Ihnen am Mittwochnachmittag alles zeigen will.« »Ja, das ist eine gute Idee. Danke, Frau Martin.« »Nichts zu danken. Sie wissen, ich lese Stadtpläne wie andere Leute Kriminalromane.« Alexina verließ den Frühstücksraum. Sie wünschte sich, mehr Zeit draußen verbringen zu können, zu beobachten. Die Stunden vergingen während der Präsentationen und am Messestand so schnell, sie hatte gestern abend gar nicht geglaubt, daß der erste Tag schon vorbei war. Sie trat auf die Straße. Vom Taxi aus hatte sie erste Eindrücke von der Stadt erhascht, schnelle, fliehende Bilder. Am Stadtrand, in einiger Entfernung noch, glänzten Berge im Abendlicht, die Gipfel schneebedeckt. Eine Moschee hatte sie gesehen, verschiedene orthodoxe Kirchen mit den märchenhaften Kuppeln. Überall die ungewohnten kyrillischen Schriftzeichen. Alexina betrachtete sie mit Leidenschaft. In ihrer Aktentasche steckte ein Sprachführer, und in den kurzen Pausen, die sich am Stand für sie ergaben, nahm sie ihn zur Hand und lernte ein paar Worte, Ausdrücke für ›Guten Tag‹ und ›danke‹ und ›bitte‹. Sie würde gerne allein losziehen, ein paar Märkte abklappern. Dann mußte sie wenigstens ein kleines bißchen von dieser Sprache können. Wirklich wunderbar von Prof. Martin, ihr an einem Nachmittag freizugeben. Und mit Anneliese zusammen würde es enorm Spaß machen, durch die Stadt zu ziehen und allerlei zu entdecken. Frei fühlte sie sich, und leicht. Zart strich die Frühlingsluft über ihr Gesicht. »Fertig? Sehr gut. Haben Sie was dagegen, wenn wir die Taxis heute mal Taxis sein lassen und zu Fuß gehen? In längstens 20 38
Minuten haben wir das geschafft.« Prof. Martin deutete auf den blauen Himmel. »Liebend gern.« Sie umfaßten ihre Aktenmappen fester und liefen los. Aber Alexina lief nicht. Sie schwebte. Gerne hätte sie die Häuser gestreichelt. Die Fassaden, manche marode, andere schön hergerichtet, schienen sie anzustrahlen. Das Gefühl, das einem beim Anblick einer sehr leckeren Torte überkam, nahm überhand. »Diese Stadt ist herrlich.« »Finden Sie? Na ja, manches läßt schon sehr zu wünschen übrig.« Prof. Martin beschleunigte seine Schritte etwas. »Zum Beispiel hier; ein Wunder, daß die Leute sich auf diesem Gehsteig nicht zuhauf die Hälse brechen.« »Wahrscheinlich sind sie an die gesprungenen Platten und die aufgerissenen Stellen gewöhnt«, antwortete Alexina. Aber das war es nicht. Das war nicht das Wichtige, ob etwas schäbig oder schön restauriert war. Da gab es etwas, was sie im Innersten traf. Etwas Unbekanntes, und sie konnte nicht erfassen, was es war.
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6. Sofia, am Morgen des 19.3., Wohnung der Petkows Blaga Petkowa quälte sich an diesem Morgen aus dem Bett, schwerfällig wie sonst nie. Es mußte daran liegen, daß sie in diesem Jahr 69 wurde. Ein Leben! Das jedenfalls konnte sie nächstes Mal ihrer Freundin Marina sagen, wenn diese wieder irgendwelche Forderungen in Bezug auf Arztbesuche stellte. Apropos Ärzte, für die hatte sie kein Geld. Blaga Petkowa verstand sowieso nicht, warum man als älterer Mensch automatisch Ärzte aufsuchen sollte, von denen sie einige obendrein als Schuster bezeichnete. Konnte man nicht bis zu einem gewissen Punkt im Leben gesund sein? Einfach so? Ihre Mutter und ihr Vater waren beide Mitte 80 gewesen, als sie starben. Sie erfreuten sich bis zum Schluß bester Gesundheit. Das mag daran gelegen haben, daß sie zu zweit alt geworden sind, dachte Blaga kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Ihr Leben bestand zum Großteil aus einem – meist erfolgreichen – Kampf gegen die Bitterkeit. Sie mußte diesen Kampf unbedingt gewinnen, und sie gewann ihn jeden Tag neu, das hatte sie sich fest vorgenommen, jeder Tag, den sie ohne Wut und Bitternis beschloß, war ihr Tag, war ein Tag, an dem sie punktete. Auf alle Fälle war sie der Meinung, daß ihr genetisches Material ausreichen müßte, um noch etwa 15 Jahre zu leben. Dann konnte sie sich getrost in den Lehnstuhl setzen und auf das Ende warten. Sie empfand es sogar als angenehm zu wissen, daß sie von Geburt an eine leichte Herzschwäche hatte. Sie stellte sich vor, ihren Tod mit einer guten Tasse Tee zu zelebrieren. Eine sehr süße Tasse Tee und dann einschlafen, abheben, losfliegen, was immer. 40
Sicher, an so manchem Morgen hatte sie Schmerzen im Knie, aber das störte sie nicht besonders. In den letzten Monaten hatte sie ein wenig abgenommen – das würde ihren Gelenken gut tun. Dick war sie nie gewesen. Sie war sehr groß, so daß sich das Körpergewicht ziemlich günstig verteilte. Und ab und zu Verspannungen im Schulterbereich. Welcher Arzt sollte die beheben? Sie ging in die Küche und setzte Wasser auf. Seit ein paar Wochen rumorte etwas in ihr. Da war Ewa, die nachts in ihre Träume kam. Oft sah sie sie, aber manchmal hörte sie nur ihre Stimme. Schon seit Weihnachten ging das so, sogar noch ein wenig länger, wenn sie es recht bedachte. Solche Träume hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Genau genommen hatten sie geendet, nachdem Ewa ein Jahr tot war. Damals wollte sie wieder ein Kind, sie war erst 35, sie dachte, das ginge noch mal, noch einmal das Glück herausfordern und ein Kind bekommen. Aber es kam keines, und als Ewa fünf Jahre tot war, hatte sie sich damit abgefunden. Sie lebte dann ziemlich glücklich mit Ljuben allein. Aber auch Ljuben verließ sie, und sie war sehr haßerfüllt in jener Zeit. Die frühen Neunziger hatten so viel Hoffnung, aber auch soviel Beschwernis und Zukunftsangst in ihr Land gebracht, und nun war sie gezwungen, dies alles allein zu bestehen. Hinzu kam, daß Ljuben so entschieden für die Freiheit gekämpft und alles gegeben hatte, um sie zu erringen. Nun konnte er die Früchte nicht ernten. Das tat ihr lange Zeit weh, so weh, daß sie meinte, den Schmerz nicht ertragen zu können. Der Schmerz wurde nur noch überlagert durch ihren eklatanten Geldmangel. Alle ›normalen‹ Bulgaren waren arm. Natürlich nicht jene, die jahrelang auf der Seite jener gestritten hatten, die ihnen Auswege boten. Aber sie und Ljuben und Marina und deren Familie – sie waren arm. Deswegen hatte Blaga begonnen, privat Englischunterricht zu geben. Eine Menge Leute in Bulgarien wollten Englisch lernen, und sie hatte es an der Universität studiert. Es war natürlich ein 41
wenig trocken, verstaubt, aber sie hatte es geschafft, ihre Sprachkenntnisse mit Hilfe von Radiosendungen und durch Kontakte zu Engländern wieder aufzupolieren. Sie konnte auch Deutsch, und das sogar recht gut, da sie einige Male in der DDR gewesen war. Allerdings zu einer Zeit, als Ewa noch klein war, später hatte man sie nicht mehr reisen lassen. Nun hatte sie auch noch einen Deutschschüler, und mit diesem Geld konnte sie sich über Wasser halten. Sie lebte so sparsam wie möglich und legte jeden Groschen auf die Seite, aber wie sie ihr Alter erleben und durchstehen würde, wenn sie eines Tages keine Schüler mehr hatte oder einfach nicht mehr imstande war, zu unterrichten, dies erschien ihr als dunkler Fleck am Horizont, der sich in schlechten, mutlosen Momenten zu einem monströsen Gestirn auswuchs, das alles Licht verschluckte. Dann stellte sie sich vor Ljubens Foto im Wohnzimmer, nickte ihm zu und sagte laut: »Es geht immer weiter. Niemand braucht zu verzweifeln, weil eine Stunde seines Lebens traurig ist.« Oft sprach sie diese beiden Sätze, die sie sich früher oft gegenseitig ins Ohr geflüstert hatten, mit sicherer, fester Stimme, aber zuweilen schlich sich ein Zittern ein, und wenn sie es selber hörte, mußte sie sich sehr stark konzentrieren, um nicht zu weinen. Als Ewa klein war und an verschiedenen Ängsten litt, vor der Dunkelheit, vor der Lehrerin und so weiter, hatten Blaga und sie eine Figur gemalt, mit einem kräftigen, leuchtend grünen Körper, sechs Armen, vier Beinen, riesigen Augen und einem hellroten Mund. Diese Figur hatten sie ›Tapferkeit‹ genannt, und wenn Ewa von Angst eingeholt wurde, sahen sie sich beide die Figur an. Dann sagte Blaga etwa: »Sieh mal, wie schnell die Tapferkeit laufen kann, sie hat ja vier Beine.« Daraufhin erwiderte Ewa: »Aber sie braucht nicht weglaufen, sie hat sechs Arme, sie kann sich wehren.« Dann fühlte sich Blaga sehr stolz und glücklich.
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Heute nacht hatte sie sich selbst schreien sehen. Nicht hören, sehen, als schwebe ihr Spiegelbild in der Luft direkt vor ihr, mit weit aufgerissenem Mund und Augen, die aus den Höhlen zu springen drohten. So hatte sie geschrien, als man jemanden vorbeigeschickt hatte, der ihnen mitteilte, daß Ewa tot war. An einem Aprilabend, spät, es war schon dunkel, und sie und Ljuben waren fast vergangen vor Sorgen. Als es klingelte, lief sie zur Tür, und als der andere schon längst gegangen war, stand sie noch immer da, starrte aus dem Fenster in die Nacht, und dann erkannte sie mit einem Mal ihr Spiegelbild darin und schrie … und sah sich schreien. Keinesfalls war Ewa an Herzschwäche gestorben. Ewa hatte keine Herzschwäche gehabt. Sie war eine durchtrainierte Sportlerin, Langstreckenläuferin. So eine hatte nicht plötzlich beim Training einen Herzanfall, um flugs daran zu sterben. Man hatte die Eltern geholt, als sie schon im Sarg lag, das braune Haar sorgfältig um ihr Gesicht gebreitet, eine Decke bis zum Kinn hochgezogen. Ljuben und Blaga waren nicht alleingelassen worden. Leute gingen ein und aus im Leichenschauhaus. Dann war Ewa begraben worden, und erst ein paar Tage später waren sie mit einem Popen im Morgengrauen ans Grab geschlichen. Damals hatte Blaga sich selbst gehaßt, weil sie Angst gehabt hatte, in aller Öffentlichkeit den Segen für ihre tote Tochter zu erbitten. Aber so lagen die Dinge. Blaga trank ihren Tee und beschloß, Ewas Tagebücher wieder herauszusuchen. Darin standen merkwürdige Dinge, die sie nicht verstand. Einträge, die sie wenige Tage vor ihrem Tod vorgenommen hatte – in einer eigenartig blumigen Sprache. »Mama, kannst du mein Tagebuch bei deinen anderen Sachen verstecken?« »Warum das denn?« »Ich möchte es nicht mehr hier zu Hause haben.«
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»Aber Ewa, die Unterlagen sind bei Marina in der Datscha, und ich kann jetzt nicht einfach so da hinausfahren, bis Dragalewsi, du liebe Zeit.« »Dann gib es Marina, und sie soll es aufbewahren, bis sie selber wieder hinauffährt.« »Was ist denn mit deinem Tagebuch?« »Bitte, Mama!« Blaga nahm das Heft, das Ewa ihr hinhielt und blätterte es auf. »Da ist doch noch so viel Platz drin, Ewa!« Gut zwei Drittel leere Seiten. »Mama, bitte!« Blaga nahm das Tagebuch, steckte es in ein Sofakissen, brachte das Kissen am Nachmittag mit einigen anderen Dingen zu Marina und bat sie, die Sachen bei sich in Sofia aufzubewahren und baldmöglichst nach Dragalewsi mitzunehmen. Ewa war sehr ängstlich gewesen in jenen Aprilwochen. Blaß war sie außerdem, aber sie sagte, sie fühle sich nicht krank, und Blaga erklärte es sich so, daß Ewa wahrscheinlich gerade noch einen Wachstumsschub bekam. Aber sie spürte, daß ihre Tochter etwas auf dem Herzen hatte. Sie schrak oft zusammen, wenn eine Tür zuschlug oder es plötzlich klingelte. Blaga wunderte sich, aber sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wollte mit Ewa sprechen, aber Ewa ging nicht darauf ein. Und sie war schon zu alt für die grüne Figur mit dem roten Mund. Nachdem Ewa tot war, hatte Blaga sich beobachtet gefühlt. Sie bemerkte auch manchmal Leute, die sich seltsam benahmen, und sie wußte genau, daß sie sie sehen sollte – wir wissen, was du tust, machten sie ihr damit klar. Deswegen hielt sie sich von Marina fern und tat ansonsten so, als sei sie, was sie war: Eine gebrochene Frau. Erst einige Monate später begleitete sie Marina zu deren Datscha, und sie holten Ewas Buch hervor und lasen die 44
Eintragungen, aber Blaga wurde nicht recht schlau daraus, und es tat ihr weh, deshalb legte sie das Buch bald weg und ließ es bei Marina unter dem Holzdielenboden. Erst seit 1992 bewahrte sie all ihre Unterlagen wieder in ihrer Wohnung auf. Manche Texte besaß sie doppelt, und die befanden sich in ihrem winzigen Ferienhäuschen bei Sosopol an der Küste. Aber das Haus mußte sie inzwischen an Touristen vermieten, deswegen hatten Marina und sie kurz nach Ljubens Tod alle persönlichen Dinge von dort weggeholt. Nur im Sommer reiste Blaga noch dorthin, jedes Jahr für zwei Wochen, in denen sie ihr Häuschen nicht vermietete. Sie brauchte die Zeit, um im August dem Leben nachzuspüren, wie sie es nannte. Meist fuhr sie mit Marina. Aber Marina mochte das Meer nicht und jammerte, sie sollte das Haus ganz verkaufen und den Sommer mit ihr in den Bergen verbringen, wo es kühler war und weniger Touristen herumschwirrten. »Marina, bis an mein Lebensende. Bis an mein Lebensende Sosopol.« »Aber warum, zum Kuckuck. Es ist heiß. Die Küste ist voller häßlicher Menschen in kurzen Hosen. Nichts gegen Westtouristen, ich weiß, die Devisen. Aber … das Haus ist unbequem. Keine Dusche, kein warmes Wasser. Nichts!« »Im Gegenteil, Marina. Alles.« Das war typisch. Marina verstand sie ja. Und doch mußte sie opponieren, einem inneren Zwang gehorchend, als könne alleine sie ihre Freundin Blaga vor dem Zerfall durch Wahnsinn, durch unerklärliche Handlungen retten.
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7. Sofia, 21.3., nachmittags Todor Kanew steuerte seinen Transporter mit einem Fluch auf den Lippen von der Schnellstraße herunter und richtete sich auf eine längere Wartephase im nachmittäglichen Verkehr ein. Der Weg in die Innenstadt war wirklich ein Drama, Auto an Auto stand dort um diese Zeit. Anna hatte allen Grund, unzufrieden zu sein, denn er war so selten zu Hause, daß er seinen Job bald selber leid wurde. Dabei konnte er stolz darauf sein, daß sein ›Geschäft‹, wie er es nannte, einigermaßen funktionierte. Alles hatte mit diesem Transporter begonnen. Er bot seinen Kunden schnellen Fahr- und Lieferservice im ganzen Land an. Welche Güter er von A nach В fuhr, war ihm selbst egal, aber Anna hatte schon gewarnt – ob man ihm nicht irgendwelche verbotenen Waren in seinen Wagen packen würde, Drogen, Waffen und dergleichen. Todor Kanew hatte beschlossen, daß er sich damit nicht beschäftigen würde. Er bekam Geld dafür, und selbst wenn er einen Tiger im Käfig befördern mußte, wie neulich für einen rumänischen Wanderzirkus, dann erschütterte ihn auch das nicht. Unangenehm waren lediglich die beiden Pausen auf der Fahrt von Sofia nach Varna gewesen, in denen er dem Tiger Wasser geben mußte. Die erste Tränkaktion hatte noch gut geklappt – eine ziemlich verschlafene Katze schlabberte das Wasser aus dem bereitgestellten Pott. Beim zweiten Mal war der Tiger plötzlich ausgesprochen böse geworden. Er fauchte und gebärdete sich wie irrsinnig in seinem Käfig, sich seiner unangenehmen Lage auf einer staubigen bulgarischen Straße im Hinterland wohl bewußt, und wenn Todor die Wasserschüssel mit einem Spaten vorsichtig näher schob, raste er durch den Käfig, was er wegen der Enge nur bewerkstelligen konnte, indem er sich wie ein Derwisch ununterbrochen um sich selbst 46
drehte, und bleckte seine alptraumhaften Zähne. Todor verzweifelte fast, denn er hatte versprochen, das Tier auf alle Fälle zweimal zu tränken, und er wollte keinen Fehler machen, er brauchte das Geld. Was würde geschehen, wenn der Tiger, weil er hatte dürsten müssen, halb tot am Ziel ankäme und seinen Auftritt im Zirkus vermasselte? Dabei war ihm noch gar nicht bewußt geworden, wie leuchtend blau die Augen eines Tigers waren, fast türkis. »Woher sollte ich das auch wissen«, raunte er der Katze zu, »schließlich bist du mein erster Tiger«. Er lachte über sich selbst, und schließlich geruhte der Tiger, das Wasser auszutrinken. »Armer Kerl«, murmelte Todor, »was hast du schon für eine Zukunft. Leben im Käfig … Das kenne ich selber, und es macht keinen Spaß. Ich erinnere mich nicht gern an mein Käfigdasein – aber gut! Das ganze Land ein einziges Vivarium!« Todor zündete sich eine Zigarette an. Anna mochte es ja nicht, wenn er Zuhause rauchte – wegen Ljuben. Das Glück, spät Vater geworden zu sein, erfüllte Todor mit anhaltender Dankbarkeit. Er hatte es schon fast nicht mehr gehofft. Schließlich war ihm Anna über den Weg gelaufen. Und dann kam Ljuben. Er liebte Anna über alles, und er liebte Ljuben. Er hatte ihm diesen Namen gegeben in Erinnerung an Ljuben Petkow, seinen ehemaligen Nachbarn und ›Wahlonkel‹ aus Kindertagen. Todors Eltern, überzeugte Kommunisten – Todor knirschte immer noch mit den Zähnen vor Wut, wenn er daran dachte, daß sie ihn Todor in Anlehnung an Todor Schiwkow 2 genannt hatten – wußten mit ihrem Sohn nicht viel anzufangen. Und sein Vater war sowieso früh gestorben. 2
Todor Schiwkow war knapp 30 Jahre Staatspräsident des sozialistischen Bulgarien und Chef der kommunistischen Partei des Landes. Die Bevölkerung fürchtete ihn wegen seiner gnadenlosen Unterdrückungspolitik. Schiwkow wurde im November 1989 im Zuge der Demokratisierungsbewegung gestürzt und kurz darauf verhaftet. Er starb 1998. 47
Seine Mutter mußte hart arbeiten, in einer Fabrik, und sie hatte kaum Geduld für Todor. Ljuben Petkow war da gerade recht gekommen. Die Petkows hatten selber eine Tochter, Ewa, sie war aber älter als Todor, und er bewunderte sie nur im Stillen, weil sie so schön aussah, wie er damals fand. Ihre Mutter hatte ihn einmal im Hof aufgelesen, als es an einem frühem Herbstabend zu regnen begann, und alle Kinder in den Wohnungen verschwanden, in die sie gehörten. Aber er konnte nicht nach Hause, er wußte nicht mehr so genau warum, irgendwie war sein Wohnungsschlüssel abhanden gekommen, und Blaga Petkowa, Tante Blaga, fand ihn durchnäßt im Treppenhaus sitzen und nahm ihn mit hinauf. Es gab Kuchen, daran erinnerte er sich gut. Und Onkel Ljuben begann, ihm Geschichten zu erzählen. Später kam Todor oft in die Wohnung der Petkows. Ljuben war handwerklich sehr geschickt, er arbeitete gern mit Holz und schnitzte Figuren. Er brachte Todor ein paar Kniffe bei und schenkte ihm sogar ein Schnitzmesser, das Todor richtiggehend in Ehren hielt. Er besaß es heute noch. Schließlich, als er zehn war, brach er den Kontakt zu den Petkows ab. Er wollte das eigentlich nicht, aber er sah ein, daß er als Zehnjähriger zu schwach war, um gegen stärkere Mächte zu opponieren. Ähnlich wie mit dem Tiger. Unmißverständlich hatten sie ihm klargemacht, daß weder Blaga noch Ljuben Petkow jemals erfahren dürften, was er, Todor, gesehen hatte. Und wenn er sich unkooperativ zeigte und ihnen dennoch erzählte, was er wußte, würde dies unschöne Folgen haben, insbesondere für seine Mutter, die so hart arbeiten mußte. Was würde denn seine Mutter sagen, wenn sie wüßte, daß ihr Sohn – na, er verstünde schon. Er war doch ein braver Junge. Todor hatte sich lange dafür gehaßt. Aber als er dann zwölf oder dreizehn war, schien das Erlebte mit aller Gewalt beiseite geschoben, überlagert von anderen Dingen, die in jenen Jahren wichtig wurden. Wirklich vergessen hatte er es nie! Erst als Ljuben starb, das 48
war Anfang der Neunziger, wenn er sich recht erinnerte, fühlte er sich traurig und beschämt, weil er es nicht fertigbrachte, zu Blaga Petkowa zu gehen und ihr zu sagen, wie leid es ihm täte. Sie würde ihn vielleicht nicht wiedererkennen, er wohnte inzwischen auch woanders, aber wenn er ihr sagen würde, wer er war, würde sie sich erinnern, kein Zweifel. War es damals noch die Angst gewesen? Oder sein eigener Unwillen, das Alte aufzuwärmen, der ihn abhielt, einfach etwas zu tun, dessen Notwendigkeit er fühlte? Man konnte ihm deswegen heute sicher nicht mehr an die Wäsche. Auch, wenn Ljuben schon fast 10 Jahre tot war, er könnte heute noch zu Blaga gehen und mit ihr sprechen. Er könnte ihr auch erzählen, daß sein Sohn Ljuben hieß. Er würde nichts von Ewa sagen müssen. Er tat es nicht. Er konnte nicht. Manchmal, wenn er durch die Sofioter Straßen fuhr, Dinge abholte oder ausfuhr, dachte er daran, wie einfach es sein würde, bei den Petkows zu klingeln. Er müßte sich nur entscheiden. Er tat es nicht. Die Ampel sprang auf Grün um, und Todor gab Gas. Mit der Kupplung war irgend etwas nicht in Ordnung. Er mußte noch ins ZUM, das einzige und wahrhaft riesige Kaufhaus der Stadt. Vor ihm bildeten sich lange Schlangen. Manchmal gingen ihm die vielen Baustellen auf die Nerven. Er würde rechts abbiegen und an der Universität vorbeifahren. Überhaupt: Die Universität. Daß er gerade jetzt so intensiv an die Petkows dachte, lag auch daran, daß er ihn am vergangenen Sonntag genau dort gesehen hatte. Die 33 Jahre konnten dieses Gesicht in seinem Erinnern nicht auslöschen. Wie gewaltig auch die Wasser der Zeit dagegen anspülten – es blieb deutlich in seinem Kopf haften! Todor war sicher, daß Kolew ihn nicht wiedererkannt hatte – er war ja damals ein Kind gewesen, ein Knirps mit dickem, schwarzem Haar, das unter dieser unvermeidlichen Schirmmütze hervorwuchs wie Klee auf der Weide. Heute – Todor warf 49
einen selbstkritischen Blick in den Rückspiegel – schnitt er sein Haar so kurz es ging, damit die kahlen Stellen auf seiner Stirn nicht so auffielen. Im übrigen kümmerten Kolew ihm untergebene Personen gemeinhin nicht, und ein armseliger Spediteur war seiner Beachtung ohnedies nicht würdig. Todor schleppte seine Stellwände allein in einen der Ausstellungsräume. Dort stand Kolew, debattierend, gefällig, ganz Politiker. Er war es – eindeutig Juri Kolew, in einem italienischen Designeranzug und hochglanzpolierten Schuhen auf internationalem Parkett seinem Ego frönend, zwischen all den Messeteilnehmern parlierend, und Todor hatte auch sagen hören, Kolew habe sogar ein Referat gehalten. Todor wußte nicht, welche Funktion Kolew inzwischen ausübte, aber es sah ihm ganz so aus, als sei er immer noch oben dabei. »Als hätte jemals der Sozialismus geherrscht«, knurrte Todor wütend. »Geherrscht hast du, Juri Kolew, und mit dir andere, über politische Loyalität rekrutierte Eliten. Und heute herrscht du also immer noch. Wie bedauerlich.« Kolew, der war damals schon ein erwachsener Mann gewesen. Und er hatte sich nicht bedeutend verändert, bis auf die erwartbaren Falten und die ein bißchen tiefer in die Höhlen gesunkenen Augen. Todor hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt. Er bog nach links ab, umschiffte ein liegengebliebenes Fahrzeug, umrundete das ZUM und parkte in der Trijadiza-Straße, direkt vor dem kirchengeschichtlichen Museum. »Genug der Zufälle«, brummte er, als er den Wagen sorgfältig abschloß. Er wollte die Straße überqueren, um durch den Durchgang in die Lagerräume des ZUM zu gelangen. Hier war es doch gewesen. Genau hier. Sein Blick wurde von dem Eingang des Gebäudes gefangengehalten. Auf den Stufen standen zwei Frauen, westliche Ausländerinnen, das sah er an ihrer Lässigkeit, angeregt miteinander diskutierend. Eine von ihnen, mit kurzem, braunen 50
Haar und einem Buch in der Hand, lachte und zeigte fröhlich auf den blauen Himmel. Ja, ihr habt’s gut, sinnierte Todor. Tourist müßte man sein. Aber wenn ich Tourist sein könnte, dann an der italienischen Riviera. Nicht hier. Die beiden Frauen kamen nun auf ihn zu. Wieso starre ich die eigentlich an, dachte Todor. Ich muß ins ZUM, meine Arbeit erledigen. Er setzte einen Fuß auf die Straße und blickte angestrengt nach links, bereit, sich über die Straße zu stürzen, sobald sich auch nur die kleinste Lücke im Verkehr ergab. Er sah nach rechts. Braunes Haar. Und so ein strahlender Blick, ein Blick, wie ihre Mutter ihn auch hatte. Den kannte er. Den hatte er zuletzt anders gesehen. Gebrochen, leblos. Aber zuvor, viele Male … Die junge Frau sah Todor an, zögernd, stutzend vielleicht. Dann hakte sich die ältere bei ihr unter, und sie rannten über die Straße.
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8. Grand Hotel Sofia, 22.3., spät abends Alexina duschte. Das heiße Wasser rann ihr über den Körper. Angenehme Müdigkeit huschte durch ihre Gedanken. Sie hatte mit den Martins im Dachrestaurant des Hotels gegessen und die Berge hinter Sofia in der Abendsonne leuchten sehen. Alles so friedlich und angenehm, ruhig, fast beschaulich. So einfach waren also Auslandsreisen. Alexina drehte die Dusche aus und schlüpfte in den weißen Bademantel. Keine Pannen bisher bei den Präsentationen und am Stand. Prof. Martin ließ sie dort die meiste Zeit allein. Morgen noch ein Vortrag, bei dem sie dabeisein mußte, dann wäre das Wichtigste gelaufen. Sie wickelte ein Handtuch um ihre Haare. Wenn sie von Anfang an gewußt hätte, wie einfach alles wäre – sie hätte pro Nacht bestimmt zwei Stunden länger geschlafen. Einfach war dabei eigentlich gar nicht das richtige Wort. Sie fühlte sich sicher und gut vorbereitet. Sie hatte ihre Aufgaben im Griff. Wie zuhause auch, dachte Alexina, cremte sich das Gesicht ein und griff zum Fön. Es ist hier kein bißchen anders. Eher schöner – anregender – keine Alpträume. Nur gestern, als sie mit Anneliese nachmittags unterwegs war, da war etwas Seltsames geschehen. Sie konnte es noch nicht richtig einordnen. Sie wußte nicht einmal, was es war. Nur so ein Gefühl, Futter für Martins Lästermaul, von wegen weibliche Intuition. Sie waren durch Sofia geschlendert, Anneliese hatte darauf bestanden, daß sie sich die Nedelja-Kirche ansahen. »Herrliche Akustik, ich war schon dort, aber das muß ich mir noch mal ansehen. Und diese Fresken! Gestern hat ein Chor geprobt, ein Kinderchor, richtig süß …« 52
Sie betraten die Kirche. Alexina ließ den Blick schweifen. Herrliche Fresken, wunderbare Farben. Und die Gesichter, dunkle, strenge Blicke, als wollten sich die Figuren nicht ins Innere schauen lassen. »Die wahren ihre Geheimnisse, nicht?« lachte Anneliese, Alexinas Gedanken lesend. »Schade, daß heute hier nicht gesungen wird.« Alexina tappte weiter, den Blick nicht von den Bildern abwendend. »Zünden wir eine Kerze an«, sagte Anneliese und ließ ein paar Münzen in das bereitstehende Kästchen fallen. Die Gesichter. Alexina wollte sie gerne anfassen, aber natürlich waren die Fresken viel zu hoch. Sie verließen die Kirche. »Ich bin Kunsthistorikerin, und Sie müssen entschuldigen, wenn ich Ihnen nun ein Museum vorschlage, das für Sie sicher das langweiligste in der ganzen Stadt ist. Ikonographie, Handschriften und so weiter. Möchten Sie mitkommen?« »Warum denn nicht?« »Na ja, weil viele nichts mit Ikonen anfangen können. Aber die Bulgaren haben anscheinend ein ganz besonderes Verhältnis zu ihnen.« »Und es gibt sie an allen Ecken und Enden zu kaufen.« »Vergessen Sie’s. Schnickschnack.« Anneliese zuckte die Schultern. »Aber – entschuldigen Sie – wenn Sie sich so eine als Andenken vorgestellt haben … ich suche gerne eine mit Ihnen aus, die den Begriff Ikone wert ist.« »Ich …« Alexina überlegte. »Ja, das ist eigentlich eine sehr gute Idee. Würden Sie eine für mich finden? Ich meine, eine nicht so teure …« »Ja, sicher!« Anneliese freute sich richtig, ihre Expertise in Sachen Kunst anwenden zu können. »Vielleicht sehen wir heute 53
noch etwas Schönes. Ansonsten schaue ich mich in den nächsten Tagen für Sie um.« Sie betraten das Museum. Alexina fühlte sich müde, die vielen Ausstellungsstücke erdrückten sie fast. Wieder diese dunklen Augen und viel, viel Gold. Alles schien zu leuchten. Sie fühlte sich schwindelig. Die Augen, die sie beobachteten, machten sie unruhig. Es mußte an der schlechten Luft hier liegen. Sie kamen zu einem Raum mit riesenhaften Ikonen, wie es schien, der Raum war abgedunkelt. Unmöglich könnte sie dort noch hineingehen. Sie brauchte dringend einen Kaffee. Womöglich hatte Anneliese nichts dagegen, wenn sie sich abseilte und irgendwo auf sie wartete? »Frau Martin?« »Du liebe Zeit, ist Ihnen nicht gut?« »Ich brauche nur ein bißchen frische Luft.« »Ich sag’s ja, zu viele Ikonen. Alles so dunkel und diese abgestandene Atmosphäre, ich weiß schon. Wissen Sie was? Ich komme mit. Ich kann ja morgen wieder herkommen.« »Aber das ist nicht nötig!« »Schon gut. Wie wäre es mit einem Stück Kuchen oder Torte? Es muß hier in der Nähe eine gute Konditorei geben, steht in meinem Reiseführer.« Alexina wehrte sich halbherzig, was Anneliese nicht gelten ließ. Sie traten auf die Stufen hinaus, und Anneliese atmete tief ein. »Das ist mal ein ganz anderer Odem hier draußen. Riechen Sie den Frühling? Wenn Sie mal ein bißchen abstrahieren … von den Abgasen?« Alexina lachte. »Herrlich blauer Himmel. Man fühlt sich viel aktiver. Wie es wohl bei uns zu Hause ist?« »Interessiert mich überhaupt nicht«, grinste Anneliese. »So, überqueren wir diese Straße und gehen dann rechts hinunter,
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dann links, dann müßten wir …« Sie vertiefte sich in ihren Stadtplan. Die Straße wurde heftig befahren. Jemand stand mit ihnen am Straßenrand, auf eine Lücke im Verkehr wartend. Alexina zögerte. So kurze Haare, die schnitt er sich bestimmt nur so, damit die Geheimratsecken nicht zum Vorschein kamen. Er sah sie an. Was für schwarze Augen. Alexina spürte ihren Magen rumoren. Der Mann starrte sie an. Dunkle Augen, dunkle Gesichter. Sie hatte zu viele Ikonen gesehen. Anneliese hakte sich bei ihr ein. »Kommen Sie, ich möchte Ostern gern zu Hause sein.« Sie rannten über die Straße, wandten sich nach rechts, und Alexina drehte sich kurz um. Der Mann sah ihr nach, machte dann zwei Schritte, sah wieder zurück und ging schließlich davon. »Kannten Sie den?« Anneliese Verspeiste mit großem Appetit eine sehr fette, mit Pistazien gekrönte Torte. »Wen?« »Na, den jungen Mann, der da vorhin neben uns stand, beim Museum.« »Jung?« So jung war er Alexina gar nicht vorgekommen. Daß Anneliese ihn jung nannte, mochte daran liegen, daß sie schon um die fünfzig war. »Nein, wieso?« »Ich dachte. Er sah Sie so merkwürdig an.« Anneliese trank ihren Kaffee. »Vielleicht hoffte er auf ein Abenteuer!« »Aber ich bitte Sie!« Alexina schüttelte den Kopf. »Kein günstiger Ort für eine Anmache, so am Straßenrand.« Sie überlegte. Bekannt war er ihr eigentlich nicht vorgekommen. Und doch … »Frau Martin, kennen Sie sich mit Déjà-vuErlebnissen aus?« 55
»Oh, eine ausgesprochen interessante Sache.« Anneliese lehnte sich zurück. »Hatten Sie gerade eins?« »Wie kommen Sie darauf?« »Weil Sie ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen kommen.« »Ihnen entgeht aber auch nichts.« Alexina lachte. »Nein, ich hatte keines – kein richtiges. Nicht das Gefühl, etwas schon einmal erlebt oder wirklich gesehen zu haben. Aber so etwas ähnliches … Etwas schon einmal gefühlt zu haben.« Hoffentlich erzählte Anneliese das nicht ihrem Mann. Der würde wahrscheinlich herablassend lächeln und auf weibliche Intuition verweisen. »Man muß ja das Sehen nicht so genau nehmen. Man kann auch etwas auf einer anderen Ebene wiedererkennen …« Aber ich erkenne nichts wieder, dachte Alexina verdutzt. Ich erkenne nichts. Ich fühle mich nur … anders als zu Hause. Sie waren spät zum Hotel zurückgekommen, und morgen hatte sie der Druck der Arbeit wieder. Das frühe Aufstehen könnte ihrem Geschmack nach bald ein Ende nehmen. Sie setzte sich auf das Bett. Wenigstens ihre Tasche mußte sie noch ausräumen und die Unterlagen von heute herausnehmen, sonst würde sie sich morgen zu Tode schleppen. Sie nahm den Stapel Akten in die Hand, den der Mann vom Finanzministerium, dieser Kolew heute bei ihr vorbeigebracht hatte. Prof. Martin wollte die Unterlagen haben, sie mußte sie ihm morgen beim Frühstück geben. Desinteressiert ging sie die Kladden durch – allesamt Hochglanzprospekte auf englisch, mit vielen bunten Diagrammen und Skalen und Koordinatensystemen. Das letzte Heft sah dagegen eher graumäusig aus. Sie nahm die Akte in die Hand. Gelblichgraues Papier, zusammengehalten von einem Pappumschlag, dessen Ecken abgestoßen und schäbig aussahen. Sollte das hier dazugehören? Wohl kaum. Alexina sah 56
sich ein paar Seiten an. Alles auf bulgarisch. Und schon ziemlich alt, auf einigen Blättern stand ein Datum aus den Sechzigern. Was sollte Prof. Martin damit anfangen? Sie sah auf die vordere Umschlagseite und entzifferte die blassen kyrillischen Buchstaben: Ewa Petkowa, 18.9.1950.
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9. Sofioter Vorort Bojana, 22.3., spätabends Juri Kolew goß russischen Wodka in ein Wasserglas. Genau das mußte ihm passieren, ausgerechnet jetzt. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, außer, daß ein böser Geist aus seinem ehemaligen Leben als Kommunist aufgewacht war. Der böse Geist, der es ihm heute noch übelnahm, einmal getötet zu haben. Er hätte es nicht tun sollen, verdammt, es war einfach ein gewaltiger Fehler! Neitscho würde durchdrehen, wenn er die Akte nicht gegen Ende der Woche wiederhätte. Das war alles nicht wahr. Damals der erste Fehler. Heute der zweite. Er hatte die Akte in seine Tasche gepackt und war damit zur Universität gefahren, wo er verschiedene Leute getroffen hatte. Er war gegen Mittag in einer Konferenz mit irgendwelchen Engländern gewesen, schon jetzt hatte er vergessen, was die eigentlich von ihm gewollt hatten. Aber er hatte seine Tasche dort nicht einmal aufgemacht, denn er hatte nur seinen Notizblock benutzt, und der steckte in der Innentasche seines Jacketts. Kolew trank den Wodka in einem Schluck und schenkte sich nach. Wo war also die Akte? Präzise ging er den Tag durch. Nach der Konferenz … richtig, er war zu dem Stand des deutschen Professors gegangen, und da stand wieder diese Braunhaarige – im cremefarbenen Kostüm heute – und nahm lächelnd die Prospekte entgegen, die er ihr auf den Tresen legte, während sie bereitwillig erläuterte, daß Prof. Martin sie so bald wie möglich in die Hand bekommen würde. Die Deutsche also. Er mußte die Akte zusammen mit den Broschüren an diesem Stand gelassen haben. Juri Kolew kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach, aber es fiel ihm keine andere Lösung ein. Er hatte die Mappen alle aus der Tasche genommen und unvorsichtigerweise den Packen nicht 58
mehr nachkontrolliert. Alles zusammen hatte er dieser Frau in die Hand gedrückt, sie hatte die Sachen entgegengenommen. »So war es.« Kolew griff zum Telefon. »Nikolai?« »Ja?« Jetzt wäre es praktisch, wenn Nikolai bei ihm wohnen würde. Normalerweise brauchte er seine Abgeschiedenheit in Bojana, deswegen besaß er dieses Haus für sich allein. Nikolai wohnte aber nicht weit, und es würde ihm ein Leichtes sein, auch zu dieser späten Stunde herzukommen. »Komm vorbei.« »Jetzt?« »Jetzt.« Kolew legte auf. In zwanzig Minuten spätestens stünde Nikolai vor ihm. Er würde jetzt also von dem Handel mit Neitscho erfahren, aber natürlich hielte er den Mund. Seinem Arbeitgeber gegenüber war man loyal. Der Wachmann rief kurze Zeit später nach oben: »Nikolai ist gerade gekommen.« »Schick’ ihn hoch.« Sein Substitut betrat das Wohnzimmer. Hager, mit fettigem Haar stand er auf dem teuren, hellen Teppich. Warum hat Nikolai nur so gar keinen Stil, dachte Kolew unwillig. Er hätte das Geld. Statt dessen läuft er in so unmöglichen Hosen herum, daß man denkt, er würde gleich hinauskippen. Tatsächlich war Nikolai in den letzten Monaten sehr dünn geworden. Er behauptete, ein Problem mit der Bauchspeicheldrüse zu haben, das den Gewichtsverlust verursacht habe, aber bisher sei noch kein Arzt in der Nähe gewesen, der ihm geholfen hätte. »Nikolai, ich habe ein Problem. Persönlicher Art. Ich habe eine Akte erhalten, die ich dringend zurückgeben muß.« 59
Kolew schilderte den Fall. Er hielt sich immer so knapp wie möglich. Keine unnötigen Informationen preisgeben, das animierte die anderen zum Nachdenken. »Zuerst müssen wir herausfinden, in welchem Hotel die Leute wohnen. Das machst du heute nacht noch. Dann hast du morgen den ganzen Tag Zeit, das Zimmer dieser Frau zu durchsuchen.« Eigentlich kann sie mit der Akte nichts anfangen, dachte Kolew hoffnungsvoll, aber nicht überzeugt. Sie spricht ja nicht einmal Bulgarisch. Ein neuer Gedanke zuckte durch seinen Kopf: Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, die Akte als Fundsache abzugeben. »Nikolai, wir müssen damit rechnen, daß sie die Akte im Tagungsbüro abgibt. Das müssen wir bedenken. Vielleicht findest du heute nacht noch jemanden, der dir dabei helfen kann.« Das war unlogisch, rügte er sich selbst. Vielleicht hatte die Frau überhaupt noch nicht bemerkt, daß sich etwas unter ihren Materialien befand, das dort nicht hingehörte. »Vielleicht hat sie die Sachen auch unbesehen dem Professor gegeben. Also auch dessen Zimmer ansehen.« Nikolai nickte nur. Er trug eine gigantische Brille mit viereckigen Konvexgläsern, die bläulich getönt das Licht des Kronleuchters widerspiegelten. »Es ist wichtig.« »Ich verstehe schon«, antwortete Nikolai. »Ich gehe los und fange gleich an.« Das stellte Kolew zufrieden. Unbedingter Einsatz für die Sache. »Keine Fragen, keine Antworten«, ermahnte er Nikolai. Er wußte, daß es überflüssig war. Nikolai war eindeutig ein Profi. Vielleicht besser als er selbst. Zwei Fehler. Unverzeihlich. Kolew ärgerte sich immer noch, als Nikolai schon lange die 60
Wohnung verlassen hatte. Er schob die Gardinen vorsichtig zur Seite und spähte hinaus. Nikolai saß in seinem Wagen, rauchte und hielt sich sein Handy konzentriert ans Ohr. Er könnte beruhigt sein. Es gab keinen Grund zur Panik. Neitscho würde sich nicht so schnell melden, und morgen abend hätte er die Akte.
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10. Universität von Sofia, 23.3. Alexina rotierte unkonzentriert am Stand herum. Sie war sehr, sehr müde. Diese Nacht hatte sie einen Entschluß gefaßt und sofort in die Tat umgesetzt, den sie selber nicht verstand, jedenfalls jetzt nicht mehr. Diese Akte in dem schmutzigen Pappumschlag hatte sie die halbe Nacht wachgehalten. Sehr früh morgens holte Alexina dann einen von den dicken, wattierten Umschlägen hervor, die sie extra mitgenommen hatte. Sie malte in großen Buchstaben ihre eigene Adresse darauf, steckte die Akte hinein und klebte den Umschlag zu. Gegen sechs Uhr zog sie sich an, tappte die Treppen zur Rezeption hinunter und bat den Nachtportier, der graugesichtig hinter der Theke stand, den Brief sofort zu frankieren und ihn in die Morgenpost zu geben. Per Express und Luftpost. Kurz nach sechs lag die Akte bereits im Postsack. Alexina ging in den Frühstücksraum, bestellte sich einen Kaffee und beobachtete zehn Minuten später, wie der Nachtportier hereinkam und sich am Büffet Toast nahm und einen Tee trank. Also war seine Ablösung schon gekommen. Alexina ging zurück in ihr Zimmer und packte ihre Tasche für den Tag. Warum habe ich das jetzt gemacht, überlegte sie zweifelnd. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend meldete sich. Sie war mehr als sicher, daß dieser Kerl vom Finanzministerium die Akte unter seinen Prospekten gehabt haben mußte. Sie konnte einfach nicht für Prof. Martin bestimmt sein. Ergo hatte er beabsichtigt, sie jemandem anderen zu geben, oder er hatte sie gerade selber erst erhalten und trug sie in seiner Aktentasche herum. Unversehens hatte er sie mit den anderen Unterlagen herausgenommen. So mußte es gewesen sein. Alexina seufzte. Das war ein schlechter Start in den Tag. Sie war sicher, daß 62
Kolew sich das gleiche ausrechnen würde. Vielleicht nicht jetzt, aber später. Sie hätte die Akte kopieren sollen und nur die Kopie behalten. Dann hätte sie zum Tagungsbüro gehen und melden können, daß einige Unterlagen an ihrem Stand vergessen worden waren. Doch irgend etwas hatte sie genau davon abgehalten. So schnell entscheide ich mich sonst nie, dachte Alexina und trug sanft und verhalten dunklen Kajal auf. Und was mache ich mit dieser blöden Akte in Deutschland? Ich kann sie nicht einmal lesen. Sie nahm ihre Sachen, legte den Blazer über ihren Arm und verließ ihr Zimmer. Unten an der Rezeption stand gerade der Mann vom Postdienst, den sie jeden Morgen sah. Er griff den dicken Postsack mit einer Leichtigkeit, als wolle er ihn an seiner Uhrkette befestigen, und verließ das Hotel, als ein Lieferwagen vorfuhr und ein speckiger Typ mit immensen Brillengläsern das Hotel betrat. Er marschierte geradewegs zur Rezeption. Alexina wunderte sich, daß Leute dieser Couleur im feinen Grand Hotel überhaupt Zutritt hatten, zuckte dann die Schultern und betrat erneut den Frühstücksraum. »Heute sehen Sie aber nicht so wach aus wie sonst«, sagte Prof. Martin verschmitzt. »Robert, vielleicht beanspruchst du deine Sekretärin zu sehr«, erwiderte Anneliese mit einem leisen Zwinkern in Alexinas Richtung. »Unsinn. Das hält sie doch noch locker aus. Und morgen ist Schluß!« Er lehnte sich behäbig zurück. »Du scheinst mit dem Verlauf der Veranstaltung sehr zufrieden zu sein.« Anneliese bestellte sich mehr Kaffee. »Kann man so sagen«, entgegnete Prof. Martin. »Und Sie kommen doch am Sonntag mit auf diese Fahrt nach Plowdiw, Alexina?« 63
»Natürlich, ich habe uns alle dazu angemeldet.« »Hat er mal wieder vergessen. Vor lauter Finanzen!« Anneliese lachte grimmig. »Heute werde ich auf alle Fälle eine Ikone für Sie auftreiben, Alexina.« »Danke, das ist sehr, sehr nett.« Alexina sah aus den Augenwinkeln den Bebrillten von vorhin am Büffet vorbei in die Küche gehen. »Wer das wohl ist …« »Wer?« Anneliese drehte sich neugierig um. »So ein Typ, ziemlich schmuddelig, den habe ich vorhin schon an der Rezeption gesehen.« »Ach, auch Gäste in Grand Hotels sind heutzutage nicht unbedingt mehr im Zweireiher unterwegs«, sagte Prof. Martin. »Ein Déjà-Vu?« erkundigte sich Anneliese neugierig. »Am Ende kennen Sie noch halb Sofia, obwohl Sie sich nur sehr rudimentär erinnern.« Alexina schüttelte den Kopf. »Den kenne ich sicher nicht. Nur die Art Mann. Solche habe ich Zuhause schon wer weiß wie oft gesehen.« Prof. Martin sah sie gespielt entsetzt an. »Haben Sie was gegen die Blue-Collars?« »Das habe ich doch nicht gemeint.« »Passen Sie bloß auf, solche Aussagen münden schnell in die politische Inkorrektheit.« Alexina war sich nicht sicher, ob seine Ermahnung ernst oder scherzhaft gemeint war. »Politische Korrektheit ist auch so eine Unterdrückungsmaschinerie«, regte sich Anneliese auf. »Die Öffentlichkeit als Schönheitschirurg, was? Bloß nichts beim Namen nennen.« »Hast ja recht, Weib«, nickte Prof. Martin und tätschelte seiner Frau den Arm. »Sagt nichts über Frauen, Behinderte, Dumme, Dicke, Sozialhilfeempfänger und so weiter. Es könnte euch teuer zu stehen kommen. Gehen wir, Frau Hernany?« 64
Alexina trank ihren Kaffee aus. »Ich bin soweit.« Sie hatten nicht sofort ein Taxi bekommen, und gerade noch rechtzeitig stürmte Alexina an den Stand, bevor die ersten Besucher vorbeikamen. Heute schaffte sie es nicht einmal zu einem kurzen Mittagessen. Es schien, als wollten die Messeteilnehmer an den beiden letzten Ausstellungstagen alles nachholen, was sie bisher vor sich hergeschoben hatten. Kolew meldete sich persönlich im Tagungsbüro. Es war Dilettantismus pur, was er da tat. Aber Nikolai hatte ihn am Mittag über sein Handy erreicht und mitgeteilt, daß weder in dem Zimmer von Frau Hernany noch in dem der Martins etwas Passendes gefunden worden war. Ich kann doch nicht an ihren Stand gehen und fragen, überlegte Kolew. Aber warum eigentlich nicht. Wenn sie die Akte nicht hatte, würde sie sagen, sie hätte nichts gesehen, und wenn sie sie hatte, würde sie froh sein, daß er sie abholte. Kolew verwarf den Gedanken. Statt dessen fragte er einen blutjunge Schönheit, deren Namensschild am Revers sie als Sdrawka Lilowa auswies: »Sind Fundsachen abgegeben worden?« »Heute noch nichts, aber gestern ein Notizbuch mit silbernem Bleistift. Was suchen Sie denn?« »Papiere. Persönliche. Maschinegeschrieben. Ist nichts dabei?« Er verfluchte sich. So dämlich hatte er sich noch nie angestellt. »Tut mit furchtbar leid, aber Papiere sind überhaupt nicht abgegeben worden.« Sie wies auf einen Pappkarton, in dem neben besagtem Notizbuch und Drehbleistift auch noch ein vergessenes Adreßbuch und ein Regenschirm lagerten. »Geben 65
Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, wenn ich etwas finde, rufe ich sie an«, erbot sich Sdrawka. »Nicht nötig. Ich frage morgen noch mal nach.« Wütend auf sich selbst verließ er das Tagungsgebäude. Es blieb nur noch, daß diese deutsche Frau – wie hieß sie? Hernany? – die Akte mit sich herumtrug, in ihrer Tasche. Er selbst würde sie aber nicht durchsuchen können. Nicht hier. »Nikolai?« Er ging sofort an den Apparat. »Im Tagungsbüro ist auch nichts.« »Ich weiß, ich habe doch schon nachgefragt.« »Und ich habe eben noch mal nachgefragt«, knurrte Kolew wütend. »Hör mal, sie könnte die Akte in ihrer Tasche haben.« Nikolai schwieg einen Moment. »Ich kann selber nicht hingehen. Sie hat mich heute früh im Hotel gesehen.« Kolew stöhnte innerlich auf. Wenn Nikolai sich endlich mal eine andere, weniger auffällige Brille anschaffen würde, sich die Haare wüsche und auch ansonsten mehr Wert auf sein Äußeres legte. Dann sähe er so durchschnittlich aus, daß sich niemand an ihn erinnern würde. Er durfte sich seinen Ärger nicht anmerken lassen. Nikolai hatte dennoch gut gearbeitet. »Ich wüßte schon eine Möglichkeit.« »Und die wäre?« »Nina, meine Schwester.« »Kommt nicht in Frage.« Verwandtschaft durfte auf keinen Fall in solche Dinge verwickelt werden. Nicht mehr in diesen Zeiten. »Nina könnte das«, insistierte Nikolai. »Sie könnte an den Stand gehen, sich mit der Frau unterhalten, sie ablenken, irgendwie.« Kolew stöhnte erneut. Das mutierte allmählich zum Alptraum. »Gut. Schnell. Möglichst jetzt gleich!« 66
»Klar.« Nikolai legte auf. Kolew steckte sein Handy ein und machte sich auf den Weg ins Finanzministerium. Als Alexina um drei Uhr von der Präsentation im Vortragssaal zurückkam, ergriff sie ein geradezu unheimliches Siegesgefühl. Der letzte Vortrag lag hinter ihr. Weder technische noch andere Pannen hatten sie zur Strecke gebracht. Prof. Martin konnte sie förmlich ansehen, daß er höchst zufrieden war. Und morgen, diese paar Stunden am Stand, die würde sie ebenso wie den Abschlußempfang ohne Probleme hinkriegen. Sie schloß am Stand gerade die Türen zu dem kleinen Schränkchen auf, in dem sie ihre Unterlagen verwahrte, als eine junge Frau zu ihr trat. »Hallo.« Sie hielt einen dampfenden Styroporbecher mit Kaffee in der Hand. »Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?« »Ich habe Ihre Präsentation gesehen. Alles sehr interessant.« »Das freut mich.« »Wissen Sie … leider kam ich zu spät. Also … wäre es möglich, daß Sie mir die Diagramme und das Material mit den Zahlen schriftlich geben könnten – als Kopie?« Alexina nickte. »Natürlich. Ich habe noch genügend Kopien. Und wenn nicht – nachmachen wäre auch kein Problem.« »Danke.« Alexina bückte sich, um aus ihrer Tasche die Folien und Blätter von eben herauszufischen. Wie der Kaffeebecher plötzlich knapp neben ihrem Armel vorbeifliegen konnte, war ihr schleierhaft. Aber er tat es. Sie sprang zurück, um ihr Kostüm in Sicherheit zu bringen, ließ die Tasche los, diese purzelte vom Tresen geradewegs in die Arme der jungen Frau. 67
»Oh, oh meine Güte, verzeihen Sie! Wie … peinlich, Entschuldigung! Sind Ihre Sachen in Ordnung?« Alexina spürte etwas im Hinterkopf. Ein Summen, leise, ein vorsichtiges Heranpirschen, nur ein Gedanke … Ihre Besucherin packte einige Zettel und Blätter, die aus der Tasche gefallen waren, wieder hinein. »Lassen Sie nur«, sagte Alexina lächelnd und nahm der anderen die Tasche ab. Sie sah ihr in die Augen. »Es ist nichts passiert.« Alexina stellte die Tasche wieder auf den Tresen, griff hinein und überreichte die gewünschten Kopien. Sie war sich hundertprozentig sicher, daß sie in Kürze im Papierkorb landen würden. »Danke, vielen Dank. Wissen Sie … das ist mir aber jetzt peinlich.« Ist ja gut, dachte Alexina, und begann, in ihrer Tasche nach Taschentüchern zu kramen. Guck nur gut hier hinein. Was du suchst, ist da nicht. Sie fuhr mit einem Kleenex über die Kaffeelachen auf der Resopalplatte. Die Frau lehnte sich ein bißchen vor. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen!« Sie fixierte das Schränkchen mit den Büchern, das Alexina gerade aufgeschlossen hatte. »Das ist wirklich nicht nötig.« Alexina drehte sich um und warf die nassen Taschentücher in den Abfalleimer. Sie nahm die Bücher aus dem Schrank und legte sie feinsäuberlich auf dem Tresen aus. »Ich hoffe, Sie kommen mit den Unterlagen zurecht. Wenn Sie noch Fragen haben, ich bin gerne für Sie da.« »Danke.« Die Frau strahlte Alexina an, nahm die Papiere unter den Arm und schlenderte durch den Ausstellungsraum davon.
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Alexina sah sich um. Viele waren in die Kaffeepause gegangen. Sie könnte auch einen brauchen. Vorne beim Tagungsbüro stand ein Automat, den würde sie nun in Betrieb setzen. Sie folgte der Frau, die schnurstracks durch das Vestibül schritt. Alexina zog einen Becher Kaffee, genau so einen, wie ihr eben fast über die Jacke gekippt worden war, und stellte sich ans Fenster. Unten verließ ihre Besucherin gerade das Gebäude, überquerte die Straße und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite in einen Toyota Corolla fallen, der sofort losfuhr. Am Steuer nahm Alexina andeutungsweise dicke, spiegelnde Brillengläser wahr. Sie kehrte gedankenverloren an ihren Stand zurück. Da gab es einiges zu sortieren. Mit dieser Akte hatte es also tatsächlich etwas auf sich. Etwas sehr dunkles, unbekanntes. Wer war überhaupt diese Ewa Petkowa? Wenn sie heute morgen die Akte nicht in den Umschlag gesteckt und das ganze abgeschickt hätte, wäre sie sie nun schon wieder los. Und hundertprozentig war jemand in ihrem Zimmer gewesen, das ja den ganzen Tag leer war. Ob sie auch die Post abfangen und durchforsten konnten? Alexina seufzte. Vielleicht hatten diese Kerle keinen Zugang zu Briefen, die bereits unterwegs waren. Sie schüttelte den Kopf. Wieso interessierte sie sich für diese Akte, die sie – sofern sie überhaupt bei ihr Zuhause ankam – nicht einmal selber würde lesen können? Und warum hatte dieser Mensch vom Finanzministerium, dieser unsympathische Kolew, sie an ihrem Stand vergessen? Offenbar wollte er sie wiederhaben, und hatte den Kerl mit der Glasveranda und auch diese junge Frau von eben darauf angesetzt. Er müßte, wenn er nicht fündig würde, doch endlich zu dem Schluß kommen, daß Alexina die falsche Adresse war. Gab es da nicht noch unendlich viele andere Möglichkeiten, wo er die Papiere abgelegt, vergessen, verschusselt haben konnte?
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Sie kehrte zum Stand zurück, trank ihren Kaffee im Stehen aus und warf den Styroporbecher weg. Wie würde sie herausfinden können, wer Ewa Petkowa war? Nikolai wählte Kolews Nummer. »Ja?« »Nichts.« »Verdammt.« Nikolai setzte seine Schwester ab und fuhr zu Kolew nach Bojana. »Es muß eine andere Lösung geben«, brummte Kolew. »Ein anderer Stand?« »Ich war sonst nirgends. Nur auf dieser Konferenz mit den Engländern. Nikolai, vielleicht da. Wir gehen in meinem Terminplaner die Namen der Leute durch, die dabei waren. Dann die gleiche Prozedur mit denen.« In seine Innern glaubte Juri Kolew nicht an diese Variante. Er mußte die Akte an Alexina Hernanys Stand aus Versehen übergeben haben, zusammen mit den anderen Prospekten. Es gab keine andere Lösung. Auf der Konferenz hatte er seine Aktenmappe gar nicht geöffnet. »Noch heute nacht, Nikolai.« »Klar.« Nikolai verschwand, nachdem er den Umschlag, den Kolew ihm hinhielt, in seine Jeans gestopft hatte. Kolew stellte sich ans Fenster und beobachtete, wie Nikolai kurz mit dem Wachmann sprach, dann das Grundstück verließ und den Wagen langsam die Straße entlangrollen ließ. Dieses Extraentgelt mußte einfach sein. Er konnte Nikolai nicht zwei Nächte hintereinander mit Beschlag belegen. Und das, was er diese Nacht tun würde, war sowieso sinnlos. Ich rufe ihn an und sage, vergiß es, dachte Kolew, griff zum Handy, überlegte es sich dann aber anders. Alle Möglichkeiten mußten in Betracht 70
gezogen werden. Sollte Nikolai losziehen und tun, was er konnte. Er, Kolew, mußte Neitscho eben noch ein wenig hinhalten. Wie auch immer … Ob er seine Beziehungen zu den Sicherheitsleuten am Flughafen noch im Griff hatte? Er fühlte sich plötzlich müde. Da arbeiteten jetzt so viele junge Leute, die er nicht mehr kannte. Von einigen wußte er noch die Namen. Aber das bedeutete nichts. Er brauchte jemanden wie Nikolai. Überhaupt war es überflüssig, diesen Aufwand zu treiben. Wenn die deutsche Frau die Akte besaß, dann mußte sie sie entweder bei sich haben oder in ihrem Hotelzimmer. An beiden Orten war sie nicht gewesen. Hoffentlich hatte diese Nina, Nikolais Schwester, gut gearbeitet. »Ich werde alt und senil«, knurrte Kolew grollend. »Ich kriege diese Dinge nicht mehr in den Griff.« Warum nur hatte er Neitscho um die vermaledeite Akte gebeten? Um das Bild des Mädchens noch einmal zu sehen? Wozu, verdammt? Weil sie ihn an diese Frau erinnert hatte, die nun im Besitz der Akte war? Beziehungsweise, er korrigierte sich, die augenscheinlich nicht in ihrem Besitz war. Der zweite Fehler. Trauere nie einer Sache nach. Nie! Er schüttelte den Kopf und goß sich einen Bourbon ein. Es würde keine Probleme geben. Er würde Neitscho Geld geben, viel Geld. Und Neitscho hatte sowieso Angst. Er würde den Mund halten.
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11. München, 26.3. und später Alexina stieg aus dem Taxi. »Vielen Dank. Und bis die Tage.« »Und kommen Sie morgen bloß nicht ins Büro! Sie haben frei; wenn Sie am Donnerstag kommen, reicht das völlig.« »Ist schon klar. Erholen Sie sich gut.« »Bis bald! Und suchen Sie sich einen schönen Platz für den heiligen Andreas!« Anneliese winkte ihr aus dem Taxi. Alexina schloß ihre Wohnungstür auf. Der abgestandene Mief von einer Woche und einem Tag. Sie würde ihre Mutter anrufen müssen. Sie hatte sie schon aus Sofia angerufen. Sie hatte nicht mal gefragt, wie es ihr gefiele, wie die Vorträge liefen. Sie hat keinerlei Interesse an irgendwas, was nicht sie selbst ist, dachte Alexina, immer noch wütend und mit leerem Herzen. Ich rufe sie später an, beschloß sie, riß die Fenster auf, um die kühle Luft hereinzulassen, und ließ sich müde auf einen Stuhl fallen. Auspacken. Blumen gießen. Wäsche waschen. Sich wieder einleben. Morgen würde ihr Annelieses ironische Plauderei mit ihrem Mann fehlen. Ach, die Ikone. Sie ging an ihren Koffer, suchte nach dem Päckchen, das Anneliese ihr von einem ihrer Stadtgänge mitgebracht hatte, und wickelte das Papier ab. Golden lag sie in ihrer Hand. Der heilige Andreas, sehr ernst dreinschauend, undurchdringlich. Sie mußte wirklich einen guten Platz finden. Wann wohl die Post aus Bulgarien ankäme? Alexina fühlte sich aufgewühlt. Wie könnte sie nach all diesen aufregenden Erlebnissen wieder in ihren Alltag zurückkehren und im Büro sitzend Briefe tippen und Internetseiten programmieren? Sie seufzte und stand auf, um sich einen Kaffee zu kochen. Das war das Herrliche nach einem Hotelaufenthalt. Wieder nach dem 72
eigenen Gutdünken leben. Und sie mußte Inga alles berichten. Morgen. Alexina trank ihren Kaffee, legte Musik auf und ging ins Bad, um die Badewanne einlaufen zu lassen. Inga, ich bin zurück. Es war klasse. Ein voller Erfolg. Habe viel Spaß bei der Arbeit gehabt. Erzähle mehr, wenn ich in Stimmung bin. Alexina saß im Büro, die erste deutsche Woche hinter sich. Prof. Martin hatte am Morgen die Fotos, die er und Anneliese abwechselnd geschossen hatten, mitgebracht. »Sehen Sie sich das mal an. Professionelle Aufnahmen, nicht?« »Prima. Würden Sie mir ein paar nachmachen?« »Warum denn nachmachen, nehmen Sie doch den ganzen Packen einfach gleich mit.« »Nein, aber …« »Ach, machen Sie’s einfach, okay?« Er nickte ihr grinsend zu und rauschte wieder hinaus. Der erste Anruf von Zuhause aus bei ihrer Mutter. »Es war sehr schön. Wir hatten viel Erfolg.« »Hör mal, könntest du nicht noch mal vorbeikommen, bevor du dich in die nächste Sache stürzt? Das mit der Heizung. Die haben jetzt zwar einen neuen Brenner eingebaut, aber die Geräusche, die der macht … also ich für mein Teil kann nicht behaupten, daß das eine Verbesserung war.« Alexina fuhr nach der Arbeit zu ihrer Mutter. Sie stieg aus dem Bus, und jeder Schritt fiel ihr schwer. Schulkinder trödeln gern, hieß es. Das lag aber nur daran, daß sie Zuhause nichts erwartete, was sie anzog, so stark anzog, daß sie nach Hause 73
rannten, um, kaum hatte jemand ihnen die Haustür geöffnet, zu erzählen, mehrere Kilogramm Wörter abzuladen. Alexina hatte meistens geschwiegen. Sie kam aus der Schule, aggressiv, ohne Hunger. Sie haßte die Fragen ihrer Mutter. »Ihr habt die Mathearbeit zurück? Was hast du? Und was hat Irmela? Was Tine? Und Arend? Ist der immer noch so gut in Mathe?« Alexina seufzte, drückte den Klingelknopf und wartete. »Hallo?« rauschte es in der Sprechanlage. »Mama, ich bin’s, Alexina.« »Ach …« Der Summer ertönte, und Alexina drückte gegen die Haustür. Das Haus sagte ihr nichts, obwohl sie mit ihrer Mutter im Alter von 15 Jahren hierhergezogen war. Als gäbe es keine Erinnerungen, wunderte sie sich. Es ist einfach ein Haus. Ohne Bedeutung. Wie irgendein Haus. Es gibt eigentlich kein Haus, das mir irgendwas bedeuten würde. Alexinas Mutter saß in ihrem Salon, wie sie es nannte, wo sie Zeitung las, Backgammon mit ihrer Freundin spielte, an der Nähmaschine arbeitete. »Alexina!« »Hallo Mama!« Die Anrede war komplett verquer. Sie kam nicht zur Tür. Sie nahm Alexina nicht in die Arme. Sie blieb sitzen, die Lesebrille (Karstadt, 13 Mark) auf der Nase, eine Handarbeit auf dem Schoß. Sie wies auf das Sofa neben sich. »Na?« »Ja …« Wo anfangen? »Ich habe dir was mitgebracht. Bulgarische Holzarbeit.« Alexina packte das Salatbesteck aus. Ein Fehler. Wahrscheinlich ein Fehler. »Ach, hübsch, was?« ihre Mutter blickte über den Brillenrand hinweg auf die bunten, hölzernen Löffel. »Wie war denn das Wetter?«
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»Schön, frühlingshaft.« Sollte ich sie mal in die Arme nehmen, fragte sich Alexina. Aber ich kann es nicht. Nicht ums Verrecken. »Wenn du Tee willst, eine Kanne steht in der Küche.« »Ach ja, gerne.« Warum geht sie nicht rüber und holt mir welchen? Das Kind muß zur Selbständigkeit erzogen werden. Bitterkeit. Alexina hatte sich einmal die Schulter geprellt. Der Arzt verschrieb eine Schmerzsalbe, aber Alexinas Mutter war der Meinung, Alexina könne sich die Salbe selber auftragen. »Schließlich mußt du später auch alleine zurechtkommen.« »Warm ist es hier. Deine Heizung funktioniert also?« »Also, weißt du«, Frau Hernany legte das Handarbeitszeug weg, »was hier los war.« Sie betonte das los, als sein ein Intercity durch ihre Wohnung gebraust. »Ein Dreck! Ein Schmutz! Ein Durcheinander!« Sie holte weit aus, um die Schrecken der Handwerkertätigkeiten zu schildern. »Soll ich irgendwas für dich tun?« »Na, jetzt, jetzt ist alles gegessen, Alexina. Ich kann doch nicht wochenlang in Dreck und Speck leben, bis du Zeit hast, herzukommen! Warum nimmst du dir keinen Tee?« Weil ich möchte, daß du mir welchen bringst, dachte Alexina. »Weil ich möchte, daß du mir welchen bringst.« Ihre Mutter fixierte sie über den Brillenrand hinweg. »Na, sag mal, das müßtest du aber inzwischen alleine können.« Alexina kam spät nach Hause, öffnete den Briefkasten, und fand den wattierten braunen Umschlag. Mit klopfendem Herzen rannte sie in ihre Wohnung. Sie fischte sich eine Flasche Pils aus dem Kühlschrank, das Allheilmittel gegen heftige Aufregungen.
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Der Umschlag sah unversehrt aus. Ordentlich zugeklebt lag er auf ihrem Schoß. Das Papier war noch genauso gelblich grau wie in Sofia. Alexina grinste. Wie sollte es sich auch innerhalb von gut einer Woche verändern? Ewa Petkowa. Alexina suchte ihren Sprachführer heraus und versuchte, ein paar Sätze zu entziffern, aber es war aussichtslos. Sie blätterte ein wenig. Papiere unterschiedlichen Formats waren eingeheftet. Einige getippt auf einer Schreibmaschine, andere von Hand beschrieben, verschiedene Handschriften, auch einige kleine Notizzettel steckten darunter. Der letzte Eintrag war am 12.12.95 vorgenommen worden. Nur ein paar Sätze. Der vorletzte, ein längerer Passus, enthielt wieder einen Namen und ein Datum: Ljuben Petkow, 10.10.91. Alexina begann am Anfang und suchte systematisch nach Datumsangaben. Das Jahr 1967 schien eine wichtige Rolle zu spielen. Ein Foto, ein sehr schlechtes, schwarz-weißes, lag dabei: Ein junges Mädchen im Sportdreß, mit einem Strauß Blumen in der Hand, den sie fröhlich schwenkte, kräftige, sehr lange Beine, durchtrainierter Körper, und lange, dunkle Haare. Das Gesicht war nicht gut zu erkennen. Offenbar war das Foto 1967 gemacht worden. Wenn das Mädchen Ewa Petkowa war, der die Akte – sozusagen – gewidmet war … Alexina schüttelte den Kopf. Eine Akte war nie gewidmet. Sie war jemandem über den Kopf gestülpt worden. Aber wenn es Ewa Petkowa, wer auch immer sie sein mochte, war, die da auf dem Foto lachte, und wenn die Zahl 18.9.1950 sich auf ihr Geburtsdatum bezog, dann war sie ein junges, sportliches Mädchen von 17 Jahren. 1967, dachte Alexina. Da bin ich geboren. In die Welt hineingekippt. Eine Fuhre Mensch. Sie schaltete ihren Laptop ein und klickte sich ins Internet.
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Inga, ich habe etwas Merkwürdiges hier vor mir. Eine Akte aus Bulgarien. Über ein Mädchen namens Ewa. Was bedeutet das? Ich muß sie übersetzen lassen. Es ist natürlich alles auf bulgarisch. Frag mich nicht, wie ich an diese Akte gekommen bin. Ein Typ vom bulgarischen Finanzministerium hat sie an meinem Stand vergessen. Ich habe sie einfach an meine Adresse nach Hause geschickt, und heute ist sie angekommen. Dazu kommt noch, daß eine Frau in Sofia versucht hat, mir die Akte wieder abzuluchsen. Hat sie aber nicht geschafft. Mit Finanzen hat die Akte sicher nichts zu tun, eher mit … Geheimdienst? Wenn jemand vom Ministerium sie mit sich rumträgt, dann muß sie wohl brisant sein. Vielleicht schmeiße ich sie ins Altpapier. Ich grüße dicht Alexina Alexina trank ihr Pils aus, legte die Akte in der Küche unter die Müllbeutel, löschte das Licht und ging schlafen. Sie träumte, daß sie schwamm, in kristallinem, transparentem Wasser, und lange, dichte schwarze Haare breiteten sich um ihren Kopf aus.
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12. München, nach Ostern Sie brauchte zwei Wochen, um sich zu entscheiden, was sie mit Ewa Petkowas Unterlagen tun sollte. Abends kramte sie die Sachen heraus und blätterte durch die Papiere. Sie prägte sich die Daten ein, die sie lesen konnte. Manchmal erkannte sie die Namen Petkow oder Petkowa im Text wieder. Sie hatte auch noch ein zwei weitere Fotos entdeckt. Drei Menschen, weit weg, zwischen Gräbern. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen, man konnte nicht einmal sehen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Und das zweite zeigte eine Frau, vielleicht Anfang vierzig. Sie war sehr groß, hatte dunkles, ziemlich kurzes Haar, einen Blumenstrauß in ihrer Hand und stand vor einem Grab. Man hatte sie wahrscheinlich beim Knipsen des Bildes überrascht, sie schien erst Bruchteile von Sekunden vorher bemerkt zu haben, daß man sie fotografieren wollte. Ihr Blick in die Kamera war geradlinig, offen, einen Deut erstaunt, und Alexina fielen die sehr hellen Augen auf. Augen wie Wasser, fast durchsichtig. Auf dem Foto stand kein Name. Wenn auf den Fotos ständig Gräber zu sehen waren, überlegte Alexina, mußte es in der Akte um den Tod von jemandem gehen. Um Ewa Petkowas Tod? Ingas letzte Mail hatte vergleichsweise alarmiert geklungen. Liebe Alexi, spinnst du jetzt? Was machst du mit einer Geheimdienstakte? Schmeiß die sofort weg, verbrenne sie lieber. Der bulgarische Geheimdienst wollte sogar den Papst ermorden, vergiß das nicht. Und was willst du überhaupt damit anfangen? Gruß 78
Inga Am Tag nach Ostermontag griff Alexina im Büro nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des Slawistikvertreters der Universität. »Steinmann?« »Alexina Hernany hier. Sekretariat vom Lehrstuhl für Finanzwirtschaft. Ich rufe Sie an, weil ich Ihre slawistische Expertise benötige.« »Nimmt man uns am neuen Markt jetzt auch zur Kenntnis?« fragte die Stimme am anderen Ende mit einem hörbar ironischen, aber freundlichen Schmunzeln. »Genau so ist es. Ich habe einen bulgarischen Text hier und brauche eine Übersetzung.« Es blieb kurz still. »Bulgarisch? Da haben Sie aber mehr Glück als Verstand. Ich habe hier gerade eine Studentin sitzen, die ein Jahr in Bulgarien studiert hat. Bleiben Sie mal dran.« Alexina hörte, wie Steinmann die Hand über die Sprechmuschel legte und mit jemandem diskutierte. »Hören Sie, wie lang ist der Text?« »Genaugenommen sind es mehrere Texte. Ein – ein ganzes Konvolut.« »Können Sie das auch in Seiten sagen?« Alexina begann zu schwitzen. Sie zog die Akte aus ihrer Tasche. »Vielleicht dreißig Seiten, aber nicht sehr eng beschrieben. Manche Blätter sind gar nicht voll.« »Und was ist das für ein Text?« »Zeitungsausschnitte und Vergleichbares«, log Alexina. Wieder eine Debatte am anderen Ende. »Passen Sie auf, Frau …« 79
»Hernany.« »Frau Hernany. Ich schicke Ihnen die Studentin vorbei. Sie soll sich den Text ansehen und dann sagen, ob sie es schafft oder nicht.« »Es gibt natürlich eine Bezahlung«, sagte Alexina. »Die junge Dame heißt Marianne Henke. Sie sind jetzt gerade in Ihrem Büro?« »Genau.« »Sie kommt vorbei. In zwanzig Minuten etwa.« Sie beendeten das Gespräch. Alexina nahm den Wasserkocher und ging den Gang hinunter zur Teeküche. Sie mußte das hinkriegen. Diese Studentin mußte einfach den Text übersetzen. Sie wollte jetzt endlich wissen, um was es da ging. Wer war die Frau mit den Blumen? Wer das Mädchen? Lebten sie noch? Waren sie beide tot? Und wenn sie noch lebten – wo waren sie heute? War ihnen Unrecht angetan worden? Alexina goß sich eine ganze Kanne Tee auf und nahm zwei Tassen mit in ihr Büro. Es klopfte. Herein kam eine junge Frau mit sehr glatten und sehr blonden Haaren, Jeans und einer Lederjacke. »Guten Tag.« »Hallo, Marianne Henke?« »Genau. Professor Steinmann hat mir gesagt, Sie hätten Arbeit für mich.« »Möchten Sie Tee?« »Ach, gern!« Alexina schenkte ihr ein. »Sie haben ein Jahr in Bulgarien verbracht?« »Ja, ich interessiere mich sehr für zeitgenössische Literatur aus den Balkanländern, und da ich Slawistik studiere, hatte ich Lust auf einen Aufenthalt in Bulgarien.« 80
»Und da haben Sie Bulgarisch gelernt.« »Ja, genau. Bevor das Studienjahr losging, bekamen die ausländischen Studenten einen Intensivkurs. War ziemlich stressig.« Alexina nickte. »Aber danach kann man wahrscheinlich was.« »Das ist allerdings wahr!« Marianne Henke sprach mit einem sehr deutlichen norddeutschen Akzent, der Alexina verwirrte. Marianne kam ihr vor wie eine Maschine, der man Daten fütterte, damit sie diese dann verrechnete und ein Ergebnis ausspuckte. »Die Sachen, die ich übersetzt brauche, sind für mich privat. Sie haben nichts mit der Uni zu tun.« Marianne zuckte die Schultern. »Ich bezahle die Übersetzung natürlich. Und ich bin darauf angewiesen, daß diese Übersetzertätigkeit und der Text selber unter uns bleibt.« »Klar.« Alexina suchte aus ihrer Tasche die Akte heraus. »Das ist das … Konvolut.« Marianne nahm die Papiere entgegen und betrachtete verdutzt den Pappumschlag mit den ausgefransten Ecken. »Wo – wo haben Sie das denn her!« »Aus Sofia.« »Aber … was ist das?« »Unerheblich, was es ist. Sie werden es ja feststellen, wenn Sie sich an die Übersetzung machen. Ich möchte, daß Sie alles übersetzen. Auch die Unterschrift unter dem einen Foto, auch die Notizzettel, alles. Und ich möchte, daß niemand sonst etwas von diesen Papieren und von ihrem Inhalt erfährt.« Marianne blätterte durch die Seiten. Sie trank ihre Tasse leer und Alexina schenkte ihr nach. 81
»Das sieht mir aus wie … wie eine Geheimdienstakte.« Alexina zuckte zusammen, obwohl sie es theoretisch wußte. »Wollen Sie sie übersetzen? Sind 300 Mark in Ordnung?« »Du liebe Zeit, so teuer muß es nicht sein.« Marianne lächelte. Sie öffnete den Reißverschluß ihrer Lederjacke und atmete tief durch. »So was ist ungeheuer spannend. Aber … Sie sollten vorsichtig sein, wenn Sie mit so was herumlaufen. Es gibt in Bulgarien immer noch Menschen, die – wie soll ich sagen – die sich nicht geläutert haben. Und wenn irgend jemand weiß, daß Sie das haben …« Alexina nickte. Sie wunderte sich darüber, aber es störte sie nicht, daß Kolew wußte, wer die Akte hatte. »Ich bringe Ihnen die Sachen nächste Woche wieder vorbei.« »Klar. Danke, Marianne!« Marianne Henke nickte, stopfte die Unterlagen unter ihre Lederjacke, schloß den Reißverschluß wieder und lächelte. »Ich liebe Bulgarien, wissen Sie!« Liebe Inga, habe die Akte zum Übersetzen weggegeben. In einer Woche bekomme ich alles wieder. Bin schon aufgeregt. Alexina Abends spürte Alexina, wie ihr das Blättern in Ewa Petkowas Papieren fehlte. Am meisten fehlte ihr der Blick auf die Fotos. Sie rief sich das Gesicht der Frau mit den hellen Augen in Erinnerung. Wer seid ihr nur, dachte sie, als sie die Spaghetti ins kochende Wasser warf. Liebe Alexi,
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so dermaßen ein Rad ab hattest du noch nie. Schreibe mir sofort, wenn du weißt, was in der Akte steht. Inga Das Jagen erschöpfte sie. Dieses Rennen, wobei sie schon keinen Boden mehr unter ihren Füßen verspürte. Wo sie es doch wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, zu laufen, daß sie jetzt dran war, daß es sein mußte. Es mußte. Kein Weg mehr, keine Alternative. Das Gold um sie herum lockte sie, das eisige Gefühl um ihren Hals ließ sie erstarren, aber sie nahm es fast schon hin wie eine Notwendigkeit, während sie fiel und fiel und fiel und ein Kindergesicht hinter einem Aquarium verschwand.
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13. Sofia, April Blaga Petkowa bereitete sich auf das orthodoxe Osterfest vor, indem sie sich, wie jedes Jahr, ernsthaft fragte, ob sie religiös war. Sie war der Meinung, zu wahrer Religiosität würde die Überzeugung gehören, daß es ein Leben nach dem Tod gab. Darum feierten die Leute Ostern. Wenn es aber ein Leben nach dem Tod gab, wo steckten dann all die lebenden Toten? Blaga erinnerte sich an die Ostertage der Vergangenheit. Ewa und Petar hatten beide versucht, von dem Türkischen Honig, der an einem Faden von der Decke hing, ein Stück abzubeißen. Petar war es jedesmal geglückt, als die Kinder noch kleiner waren, denn er war kräftiger und schneller als Ewa. Aber später, mit neun, zehn Jahren, hatte Ewa ihn übertrumpft. Es hieß, das Kind, dem es gelänge, ein Stück zu ergattern, würde sehr glücklich werden. Blaga lachte, wenn sie an das Geschrei in ihrer Wohnung dachte. Heidnische Bräuche seien das, sagte man. Ihr war nicht ganz klar, wo die Trennlinie zwischen heidnisch und religiös verlaufen sollte. Weiterhin mußte Religiosität beinhalten, daß man eine Wahrheit erkannte. Blaga lief der Wahrheit seit 33 Jahren hinterher. Ohne Erfolg. Sie wollte gern und oft darüber reden, besonders jetzt, da sie so viel von Ewa träumte. Aber sie hatte niemandem außer Marina, dem sie so tief vertraute. Und Marina wollte sie nicht immer damit behelligen. Sicher, sie würde sie anhören, aber irgendwann verspürte Blaga die Ungeduld ihrer Freundin, und sie hörte die unausgesprochenen Worte: ›Das ist dein Leben, und du mußt ihm ins Auge sehen‹. Es stimmte ja.
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Wenn sie nur wüßte. Wenn sie nur wüßte, wie Ewa zu Tode gekommen war. Der Herzanfall konnte nicht die Wahrheit sein. Manchmal hatte sie auch überlegt, ob man Ewa vor dem Hintergrund des Hochleistungssport in der damaligen Zeit irgendwelche Medikamente verabreicht hatte. Oder waren diese Entsetzlichkeiten erst später üblich geworden? Blaga wußte es nicht einmal. Ewa hatte niemals etwas erzählt. Hatte sie Tabletten eingenommen oder Spritzen bekommen, und hatte das ihre Unruhe in jenen Frühlingswochen ausgelöst? Womöglich konnten Anabolika Herzprobleme verursachen. Man hatte ja soviel gehört, nach der Wende. Junge Frauen, die regelrecht zu Männern umfunktioniert worden waren. Leise, ganz sacht verspürte Blaga manchmal Erleichterung, daß Ewa so etwas erspart geblieben war. Aber sie wußte es eben nicht. Sie würde noch verrückt werden. Sie hatte sich ihr Leben eingerichtet, wie Marina es nannte, sie hatte es geschafft. Sie hatte all die Schicksalsschläge gemeistert. Gemeistert? Was war ›Meistern‹? Wie ›meisterte‹ man? Sie kam zurecht, sie empfand Freude an ihrem eigenen Leben, sie verbitterte nicht, sie haßte niemanden wirklich. Sie empfand nur sehr nebenbei Abscheu für einige Leute, die sie im Laufe ihres Lebens gedemütigt hatten, damals zum Beispiel, als sie gerade ein Studienjahr als Dozentin hinter sich gebracht hatte und jemand ihr unmißverständlich deutlich machte, daß gewisse Dienstleistungen ihrerseits erwartet wurden. Als sie aus der DDR zurückkam, mit der dreijährigen Ewa an der Hand, bestellte man sie. Erniedrigung folgte auf Erniedrigung. Nacht auf Nacht. Verblendung auf Verblendung. Sie klinkte sich nicht ein, bevorzugte den freien Fall. Alles, was ihr Leben ausgemacht hatte, ihr Interesse an der Literatur, an der Geschichte, war Stück für Stück ihrem Leben entnommen worden, und komplett ausgeweidet ließ man sie zurück. Solange Ljuben dagewesen war, bewahrten sie sich zu zweit ihre Inhalte. Sie sprachen über Bücher, sie lasen Gedichte. Sie 85
beobachteten sehr genau, was in der Sowjetunion geschah. Gemeinsam wollten sie wiederfinden, was die Jäger ihnen gestohlen hatten, deswegen bedeutete ihnen die Wende soviel, fast alles. Aber ohne Ljuben schien es ihr bald nicht mehr interessant. Sie konnte sich nicht hineinsteigern, wie andere es taten. Sie half, wenn auch nur im Kleinen, das Ende der Kommunisten herbeiführen, aber die Restauration, die sich rasch wieder einstellte, hatte sie nicht einmal entmutigt. Sie hatte sie hingenommen. Zu alt, dachte Blaga belustigt, ich bin zu alt, mir fehlt das Feuer, der Rhythmus. Erst in den letzten Jahren bemerkte sie deutliche Veränderungen in der Politik. Sie kommen eigentlich nicht wirklich zu spät für mich, dachte sie, Hauptsache, ich habe sie noch mit eigenen Augen gesehen und mit meinen Ohren gehört! Aber Ewa … Und ihre Träume. Die waren wirklich unheimlich. Wenn es noch einen Wunsch gab, dann den nach der Wahrheit. In Dragalewsi, während der Ostertage, würde sich vielleicht Gelegenheit ergeben, mit Marina zu sprechen. Sie mußte ihr zuhören! »Wir sind alt, Marina«, seufzte Blaga, »und wer weiß, wie oft wir noch miteinander sprechen werden.«
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14. München, April Alexina ging ans Telefon und wußte bereits, wer dran sein würde. »Marianne Henke hier.« »Hallo!« Alexinas Herz schlug zum Zerspringen. Bitte sag, daß du die Übersetzung fertig hast! »Ich wollte heute noch vorbeikommen und Ihnen den Text bringen.« »Das paßt mir großartig.« Eine Stunde später stand Marianne in ihrer Bürotür. Alexina nickte ihr zu. »Setzen Sie sich.« »Also. Ich bin durch. Ich habe alles gelesen. Es ist eine haarsträubende Geschichte.« Marianne packte die Akte aus, die Alexina schon kannte. Dann legte sie einen Stapel saubere Computerausdrucke daneben. Kaum zu glauben, daß beides den gleichen Inhalt haben soll, dachte Alexina. Sie griff nach ihrem Geldbeutel. »Hören Sie, 200 Mark sind mehr als genug für die Arbeit. Aber bitte, seien Sie vorsichtig. Wollen Sie damit nach Bulgarien fahren? Tun Sie es bloß nicht.« Alexina legte drei Hundertmarkscheine auf den Schreibtisch. »Gibt es etwas Besonderes dazu zu sagen?« Am liebsten hätte sie sofort eine Kurzzusammenfassung gehört, andererseits hoffte sie, den Tag in unaufgewühltem Zustand hinter sich bringen zu können, um dann Zuhause in aller Ruhe Seite für Seite von Mariannes Übersetzung lesen zu können. 87
»Es ist die Geschichte des Mordes an einer jungen Frau, jener Ewa Petkowa, deren Name hier vorne draufsteht. Sie hat einen Unfall beobachtet, bei dem ein kleines Kind, ein dreijähriger Junge, totgefahren wurde. Der Fahrer beging Fahrerflucht, aber Ewa hat ihn erkannt. Ein hoher Sportfunktionär. Deswegen kontrollierte man sie und schüchterte sie ein. Sie sollte Spitzeldienste übernehmen, ihre Mutter ausspionieren, die den Machthabern wohl auch ein Dorn im Auge war. Aber sie weigerte sich, und jemand brachte sie um.« Das war es also! »Und jemand wurde Zeuge des Mordes. Im Kirchengeschichtlichen Museum. Ein Junge wieder, zehn Jahre alt. Ein Freund und Nachbar der Familie Petkow. Man legte ihm nahe, den Kontakt mit den Petkows sofort zu beenden. Andernfalls bekäme seine Mutter Probleme. Er hatte keinen Vater«, erklärte Marianne. Alexina blickte aus dem Fenster. Das Kirchengeschichtliche Museum? Sie war mit Anneliese dort gewesen. Die vielen Ikonen, die stickige Luft. Ihr war dort richtig schlecht geworden. Und draußen auf der Straße hatte ihr jemand nachgestarrt. »Wie ist das zu verstehen«, sagte Alexina langsam. »Ewa sieht den Verursacher des Unfalls, und sie weiß, wer er ist. Dann wäre sie doch jene gewesen, die einen anderen erpressen konnte.« »War sie nicht. Aus der Akte geht hervor, daß beim geringsten Wort, daß sie verlauten ließe, ihre Mutter und ihr Vater … na, Sie wissen schon. Ihr Vater hat in einer Fabrik gearbeitet, in einer höheren Position. Und die Mutter war sowieso wohlbekannt in Geheimdienstkreisen. Man vermutete, daß sie gegen das Regime intrigierte. Deswegen sollte die Tochter sie auch ausspionieren.«
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Und wenn Ewa zum Schein auf den Handel eingegangen wäre? Alexina schüttelte selber den Kopf. Die Stricke hätten sich doch immer fester zusammengezogen. »Im April 1967 war das«, sagte Marianne gerade. »Vor ziemlich genau 34 Jahren.« Ein Mädchen von 17 Jahren war also Opfer eines politisch motivierten Mordes geworden. »In dem Jahr wurde ich gerade geboren«, seufzte Alexina. Ein paar Wolken am Frühlingshimmel. Der kurze Eindruck von glänzendem, warmen Gold. »Leben die Eltern noch?« »Die Mutter. Der Vater ist 1991 gestorben. Ljuben Petkow. Aber Blaga Petkowa lebt noch.« Blaga Petkowa. Alexina lauschte in sich hinein. »Aber das Perfide daran ist«, ergänzte Marianne und strich sich die Haare mit einer entschlossenen Geste aus dem Gesicht, »daß die Mutter anscheinend bis heute nicht weiß, wie ihre Tochter zu Tode gekommen ist. Aus den Notizen hier geht hervor, daß man den Eltern gesagt hat, sie habe einen Herzanfall gehabt. Der Zeuge, dieses Kind, lebt heute auch noch. Natürlich als Erwachsener. Er heißt …« Marianne blätterte in ihrem Ausdruck. »Er heißt Todor Kanew. Obwohl … die letzte Eintragung stammt von 1995. Kann also sein, daß er oder Blaga Petkowa schon nicht mehr leben. Wissen wir nicht.« »Wie steht das in den Unterlagen? Daß man den Eltern gesagt hat, die Tochter sei an einem Herzanfall gestorben?« »Genau so.« Marianne suchte nach einer bestimmten Seite. »Hier: Offizielle Todesursache: Herzanfall.« Alexina schwieg eine Weile. Marianne saß ebenso still auf ihrem Stuhl. Schließlich fragte sie vorsichtig: »Kennen Sie jemanden, der oder die hier erwähnt ist?«
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Alexina schüttelte den Kopf. Aber fast war ihr, als kenne sie doch jemanden. Zumindest von den Fotos. Sie nahm die Originalakte in die Hand und suchte das Bild heraus. »Meinen Sie, das dies hier die Mutter ist?« Marianne warf einen Blick darauf. »Höchstwahrscheinlich. Sie sieht schön aus, nicht wahr?« Alexina nickte. Diese hellen Augen, und dann hatte sie eine lange, schmale Nase und volle Lippen. »Nein, ich … ich kenne niemanden.« Marianne sagte nichts. »Aber ich habe den Eindruck, daß … daß mir diese Geschichte sehr nahe geht.« Alexina bot Marianne Tee an, aber die lehnte ab. »Vielen Dank. Aber bitte, behalten Sie das alles für sich und fahren Sie damit nicht nach Bulgarien.« »Aber nein, wie kommen Sie darauf!« erwiderte Alexina und wußte in diesem Moment, daß sie fahren würde. »Wenn Sie den Text lesen, dann wundern Sie sich nicht über diese merkwürdigen Namen. Die Mitarbeiter sprechen von ihresgleichen anscheinend immer mit Decknamen und Deckbezeichnungen. Das ist etwas gewöhnungsbedürftig.« Stehen Adressen dabei, wollte Alexina fragen, aber dann unterließ sie es. Sie wollte Marianne nicht noch auf die richtige Fährte lenken. »Danke.« »Und ich danke für die üppige Bezahlung.« Marianne nahm zwei von den Hundertmarkscheinen, aber Alexina drängte ihr den dritten auf. »Wenn Sie noch etwas brauchen oder etwas wissen wollen, ich schreibe Ihnen mal meine Telefonnummer auf«, sagte Marianne und kritzelte ein paar Zahlen auf einen Zettel. 90
»Danke, das ist nett.« Alexina brachte Marianne zur Tür und setzte sich dann nachdenklich an ihren Schreibtisch. Später suchte sie sich im Internet eine billige Flugmöglichkeit und reservierte einen Flug für den 6. Mai. Liebe Inga, kannst du dir vorstellen, daß deine Tochter ermordet wird, du aber wirst in dem Glauben gehalten, daß sie an einem Herzanfall gestorben ist? Ich habe die Übersetzung der Akte bekommen. Diese Geschichte bewegt mich zutiefst. Der Fall ist kompliziert, aber das Schlimmste ist diese Lüge, mit der eine Frau seit 33 Jahren lebt. Ich werde also nach Sofia fahren und ihr die Akte bringen. Halte mich von dieser Schnapsidee ab, wenn du kannst! Deine Alexina Als Alexina am Abend in ihrer Küche saß und die sauber getippten Seiten durchlas, kam der Gedanke von der Schnapsidee wieder zurück. Sie trank eine Tasse Tee und versuchte, sich zu überlegen, was sie noch davon abhalten würde, nach Bulgarien zu reisen – mit der Akte im Gepäck. Zunächst brauchte sie Urlaub. Prof. Martin würde wenig begeistert sein, wenn sie mitten im Semester weg wollte, aber er würde ›ja‹ sagen, zumindest für eine Woche bekäme sie bestimmt frei. Dann konnte es sein, daß Blaga Petkowa nicht mehr lebte. Wenn ihre Tochter 1950 geboren war, rechnete Alexina nach, war sie selbst sicher über 70. Die Wahrscheinlichkeit bestand jedenfalls, daß sie nicht mehr lebte. Und dann befürchtete Alexina schließlich, Blaga Petkowa, selbst wenn sie noch lebte, nicht ausfindig machen zu können. In der Akte stand eine 91
Adresse, aber wenn sie inzwischen umgezogen war? Sie hatte keine Ahnung, wie viele Petkows in Sofia lebten. Aber so viele Blaga Petkowas in dem Alter? Es war müßig, zu sinnieren. Ihr Laptop piepte. Ingas Antwort tickte in den Computer. Alexi, du hast den größten Knall, den je einer hafte! Seit du in Bulgarien warst, bist du wohl nicht mehr ganz frisch. Warum mischt du dich da ein? Vielleicht lebt die Frau nicht mehr. Eventuell versteht sie auch kein Deutsch oder Englisch oder irgendeine andere Sprache, derer du mächtig bist. Wie willst du dann mit ihr reden? Und am Ende wirst du verhaftet und amnesty international darf dich raushauen. Mit mir kannst du rechnen. Love, Inga Alexina lachte. Wenigstens auf Inga war Verlaß. Sie schrieb sofort zurück. Liebe Inga, wie auch immer, ich fliege am 6.5. nach Sofia. Wenn du über eine Woche nichts von mir hörst, ist was passiert. Ich schicke dir morgen alle Daten von Leuten, die ich suchen will. Ist ja eigentlich nur eine. Es wird klappen! Alexina Sie schenkte sich ein Pils ein und betrachtete Blaga Petkowas Foto. Sie mußte sie wiedererkennen, selbst wenn das Foto bestimmt 30 Jahre alt war. Aber ihr Gesicht prägte sich ein. Alexina konnte die Augen schließen und es sich genau vorstellen. Die Augen, die Nase, die Lippen. Die Art, wie die Stirn sich 92
über den Augenbrauen wölbte. Der Haaransatz. Sogar das Überraschte in ihrem Blick hielt sich in Alexinas Gedächtnis. Sie griff zum Telefon und rief die Auskunft an. »Ich brauche eine Nummer aus Bulgarien. Eine gewisse Blaga Petkowa, Sofia, Schejnowo-Straße.« »Bleiben Sie dran.« Es dauerte einen Moment, dann meldete sich die TelekomDame wieder und nannte eine Nummer. Alexina war so perplex, daß sie zuerst vergaß, sich einen Stift zu nehmen und die Nummer zu notieren. »Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht richtig verstanden«, sagte sie, und die Dame wiederholte alles geduldig. »Vielen Dank.« Alexina starrte auf die lange Reihe Zahlen vor sich. Sie trank noch einen Schluck Bier und war versucht, die Nummer zu wählen. Sie wollte Blaga Petkowas Stimme hören. Was mache ich da! Sie hielt den Hörer mit zitternden Händen an ihr Ohr. Aber es ging niemand dran. Es ist zu spät, dachte Alexina erregt, als sie nach dem fünften Klingeln auflegte. In Bulgarien ist es schon elf Uhr! Sie mußte sich vorbereiten. Morgen mit Prof. Martin sprechen. Inga diese Nummer und die Adresse geben. Ein Hotel buchen. Sie würde nicht wieder ins Grand Hotel gehen, zu deutlich stand ihr noch der Anblick der spiegelnden Brillengläser vor Augen. Außerdem entsprach das Grand Hotel auch nicht ihrem Geldbeutel als Alleinreisende. Sie blätterte in den Reiseführern, die sie für die erste Fahrt benutzt hatte. Dann schrieb sie eine Email an das Cosmos-Hotel. Schließlich gab es noch ein Problem. Sie sprach kein Bulgarisch. Und wenn Blaga Petkowa kein Englisch konnte? Sie könnte sie anrufen und auf englisch irgend etwas erzählen, und
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wenn Blaga entsprechend antwortete, würde sie wissen, was sie zu erwarten hatte. Alexina seufzte, erstaunt über sich selber. Sie würde fliegen. Ganz klar. Alle anderen Schwierigkeiten mußte sie vor Ort meistern. Wie auch immer. Es mußte sein. Sie sah eine Frau, sie stand über ihr und sprach und rief sie, aber sie konnte nicht reagieren. Sie spürte Wind in ihrem Gesicht und Nässe wie von Regen. Eine Stimme folgte ihr, weiter und weiter. Dann erlosch die Stimme. Alexina schrie gegen die Einsamkeit an.
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15. Sofia, Vorort Bojana, 6.5. Juri Kolew hatte es schon fast vergessen. Die Sache mit der Akte. Bis gerade eben. Da hatte das Telefon geklingelt, und eine Stimme hatte sich gemeldet, die er auch schon fast vergessen hatte. »Kolew, ich weiß von Neitscho, daß Sie sich eine Akte haben kommen lassen.« »Ich …« »Und die Akte wurde nicht zurückgegeben, wie erklären Sie mir das?« Juri Kolew hatte dagestanden wie ein Idiot. Er konnte es nicht einmal erklären. Er hatte es ja beinahe schon verdrängt. Das lag bestimmt auch an dem Alkohol, den er seit einigen Wochen regelmäßig in größeren Mengen konsumierte. Er bemühte sich, seinen Verbrauch einzuschränken, indem er sich beispielsweise vornahm, erst abends zu trinken, aber dann schlug er so heftig zu, daß er am nächsten Morgen oft nicht mehr wußte, wie er den Abend beendet hatte. Meist lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ein schrecklicher Geruch hing in der Wohnung, und er mußte die Fenster weit aufreißen, um wieder zu Atem zu kommen. Wie hatte Neitscho ihn beim Dachs verraten können? Und wie sollte er dem Dachs eine Antwort geben, die diesen auch befriedigte? Entweder er bekam die Akte – oder … »Neitscho?« »Ja?« »Anruf vom Dachs. Wie kommt das?«
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Der andere wand sich. »Tut mir leid, Juri, aber es gab ein Problem.« »Was für eins?« »Er wollte die Akte.« »Warum das denn?« »Weil Berow im Außenministerium einen Job bekommen soll.« »Berow? Der von damals?« »Ja, der den Wagen fuhr und den Unfall verursachte.« »Wozu braucht er die Akte? Sie ist von 1967.« »Eben nicht. Die letzte Eintragung wurde 1995 vorgenommen.« »Verstehe ich nicht.« »Man mußte herausfinden, ob wirklich niemand von Berows … Unfall damals wußte.« »Aber das Mädchen ist tot. Seit 1967.« »Karwanbassijew wollte sich vergewissern.« »Was hat er damit zu tun?« Kolew haßte es, wenn der Name vom Dachs offen ausgesprochen wurde. Dies ließ ihn in seinen Augen bedrohlicher erscheinen. »Es gab einen Zeugen damals. Als du das Mädchen … Jemand, mit dem Karwanbassijew zu tun hat, wußte das. Berow bekam Angst, daß es doch noch rauskommt.« »Ist das jetzt nicht verjährt?« Neitscho seufzte. »Der politische Schaden wäre das größere Problem.« »Aber das Mädchen ist tot«, brüllte Kolew ins Telefon. »Berow fürchtete, daß das Mädchen doch jemandem etwas erzählt hat. Die Mutter lebt noch. Oder daß der Zeuge von damals geredet hat.« 96
»Berow hat ja Verfolgungswahn!« kauzte Kolew und legte auf. Neitscho würde noch richtig Streß mit ihm bekommen. Die unteren Chargen, auf die mußte man doch mehr achten. Wenn sie nicht genügend Vergünstigungen bekamen, nahmen sie es am Ende mit der Loyalität nicht mehr so genau. Er ließ sich die Geschichte auf der Zunge zergehen: Berow sollte einen hohen Posten bekommen. Er hatte ein Kind totgefahren. Ein Mädchen hatte ihn gesehen und erkannt. Er, Kolew, hatte das Mädchen getötet. Der Zeuge dieses Mordes hatte sein Leben lang geschwiegen. Jedenfalls kam weder dem Dachs noch Kolew noch sonst irgend jemandem je zu Ohren, daß er geredet hätte. Und nun wurde plötzlich alles wieder aufgewärmt. Nach 33 Jahren! Kolew griff nach dem Bourbon. – Wer wußte noch, daß es damals einen Zeugen gegeben hatte? Wie stand Berow wohl zum Dachs? Sie waren anscheinend beste Freunde. Sonst würde der Dachs sich doch nicht persönlich in die Suche nach einer Akte einschalten. Vermutlich wollten sie sich nur über den Stand der Dinge kundig machen. Herausfinden, ob noch eine Leiche irgendwo herumlag und stank. Wie dumm! Sie hatten Neitscho angerufen, er solle die Akte heraussuchen, so wie Juri es getan hatte. Neitscho wußte aber zu gut, daß sie noch nicht zurückgegeben worden war. Er hatte nicht insistiert, als Kolew sie nicht zurückschickte. Wieso sollte irgend jemand diese Akte, ausgerechnet diese, benötigen? Dann hatte der Dachs persönlich bei Neitscho angerufen und der schob Panik. Dieser Wicht, tobte Kolew und schüttete sich das Glas Bourbon auf einmal in den Schlund. Warum hat er mich nicht angerufen und mich gefragt, was zu tun ist? Kolews Wissen über Neitscho wurden für diesen immer weniger gefährlich. Ich werde alt, knurrte Kolew. Ich bin keine Nummer mehr. Ich gerate aus der Balance. Immer mehr an den 97
Rand der Wippe. Irgendwann kippen sie mich runter. Das wird jetzt sein. Er trat zu seinem Safe und öffnete ihn behutsam, entnahm ihm sein Adreßbuch, einige andere Dokumente, seinen Diplomatenpaß, schloß ihn wieder und packte alles in seine Aktentasche. Die Beretta lag in der oberen Schublade der Kommode. Schwer wog sie in Kolews Hand. Müde ging er ins Schlafzimmer hinüber, fuhr dabei mit den Fingerspitzen an der Wand entlang, packte ein paar Sachen in einen Koffer und brachte ihn hinunter in seine Garage, verstaute ihn im Wagen und ging wieder ins Haus. Die Mutter lebte also noch. Und dieser Zeuge. Was wußte er über den? Todor Kanew, so erinnerte er sich aus der Akte. Er war sich nicht sicher, konnte sich nur noch auf sein Gedächtnis verlassen. Todor Kanews Adresse? Die Petkow-Wohnung kannte er. Ich lasse das alles zurück, triumphierte er, ich brauche euch nicht mehr. Ich lebe mein Leben wie ich es will, ohne noch irgendeine Rücksicht zu nehmen. Sollten sie Neitscho vierteilen. Ihm war es egal. Morgen würde er schon in der Schweiz sein. »Ihr lächerlichen Halunken!« rief Kolew, während er den Blick schweifen ließ. »Das alles habt ihr mir bezahlt – aber ihr habt mich nie gewonnen. Nie!« Er trank mehr Bourbon und fiel schließlich in einen tauben Schlaf, aus dem er im Morgengrauen erwachte.
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15. Sofia, Wohnung der Petkows, 7.5., früher Nachmittag Telefone sind eine abschaffenswerte Einrichtung, dachte Blaga Petkowa, als sie sich aus dem Wohnzimmer schnellen Schrittes zum Telefon in der Diele begab. »Hallo?« »Liebes, Marina hier. Wie geht es dir?« »Ach Marina!« Blaga freute sich. Sie liebte Marinas Anrufe, auch wenn sie manchmal zu ungünstigen Zeiten kamen. »Störe ich dich?« »Nein, ich hatte mich ein bißchen hingelegt, und eben bin ich aufgewacht.« »Ich habe eine ganze interessante Neuigkeit und dachte, du könntest etwas dafür übrig haben.« Blaga zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich höre.« »Sagt dir der Name Berow was?« »Berow, Berow … hilf mir mal auf die Sprünge.« »Swetan Berow. Alter Gauner. Einer von jenen, die es noch immer geschafft haben, die Antikommunisten zu spalten.« Blaga ging in Gedanken einige Jahre zurück. Die Einschüchterungsversuche einiger Universitätsfunktionäre. »Swetan Berow«, sagte sie. Marina hakte rasch ein. »Berow hat 1989 zum Beispiel dafür gesorgt, daß die Kommunistische Partei sich von einem Tag auf den anderen Sozialistische Partei nannte. Und es folgten Spielchen wie diese. Vor 1989 hat er auch ordentlich von sich reden gemacht. Du mußt ihn kennen! Er war Sportfunktionär! Und 99
man sagt, er habe mal ein Kind zu Tode gefahren, außerdem soll er am Tod eines Schwimmers schuld sein.« Blaga spürte heftige Kopfschmerzen. »Und?« »Berow soll außenpolitischer Mitarbeiter werden.« Marina genoß es, diese einschlagende Neuigkeit loszuwerden. »Marina, das ist unglaublich.« »Doch, es ist ein Gerücht, aber eins von den guten. Ich weiß es von einem von Boris’ Journalistenfreunden.« »Wie kommt denn Berow ins Außenministerium?« »Blaga, Liebes, stell doch nicht so extrem dumme Fragen. Über Beziehungen, wie denn sonst!« »Ich …« Blaga schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, über das nachzudenken, was Marina ihr eben erzählt hatte. Sie war es leid. Der Appetit auf die Politik vergeht mir immer mehr, dachte sie voller Abscheu, gegen sich selbst und gegen Machenschaften wie die, die hier offenbar wieder liefen. »Blaga, alles in Ordnung?« »Ja, natürlich, Marina.« Die Türklingel ging. »Marina, ich rufe dich bei Gelegenheit zurück. Ich bekomme gerade Besuch.« »Wiedersehen, Blaga!« Blaga hängte ein. Was für ein Nachmittag. Besuch, jetzt? Wer könnte das sein? »Wer ist da?« rief sie durch die geschlossene Tür und spähte durch den Spion. Eine junge Frau mit kurzem, braunen Haar stand dort. Sie trug eine große Umhängetasche über ihrer Schulter.
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»Mein Name ist Alexina Hernany«, sagte die junge Frau auf englisch. »Ich komme aus Deutschland. Spreche ich mit Blaga Petkowa?« »Was wollen Sie?« fragte Blaga zurück. »Ich habe etwas Wichtiges für Sie. Ich muß es Ihnen persönlich geben.« Blaga zögerte. Sie war völlig überrumpelt. Wie, hatte die Frau gesagt, hieß sie? Und aus Deutschland? Sie kannte niemanden mehr in Deutschland. Seit sie aus der DDR zurückgekehrt war, waren fast 50 Jahre vergangen. Am Anfang hatte sie noch Kontakt gehalten zu einigen Frauen, die an der Universität Leipzig gearbeitet hatten, aber diese Bekanntschaften waren schnell eingeschlafen. Die Kolleginnen von damals erfreuten sich jetzt vermutlich daran, Bürgerinnen eines Nato-Landes mit Sozialhilfe und stabilen Renten zu sein. »Blaga Petkowa?« kam es zögernd durch die Wohnungstür. Vielleicht war es dieses Zögern, das Blaga veranlaßte, die Türe zu öffnen. Vor ihr stand eine Frau mit sehr hoffnungsfrohen Augen und offensichtlich klopfendem Herzen. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, und sie blickte Blaga nervös an. »Was wollen Sie mir geben?« Blaga verspürte heftiges Mißtrauen in sich. »Können wir hineingehen?« Blaga starrte auf die Tasche der jungen Frau. Es sollte Leute geben, die bei älteren, alleinstehenden Frauen klingelten, um sie dann umzubringen und die letzten Wertsachen aus der Wohnung zu rauben. Na, da kann sie getrost rauben, dachte Blaga grimmig. Bei mir gibt es nichts Wertvolles. Ihr Blick blieb an dem Haar der jungen Frau haften. Es stand ihr gut, so kurz geschnitten. Und die Farbe … Blaga erschrak
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fast. Ewas Haarfarbe. Dieses Braun. Wie es selten ein solches Braun gab, das nicht künstlich in die Haare gebannt worden war. »Und wenn Sie aus Deutschland kommen, warum sprechen Sie dann nicht Deutsch?« fragte Blaga, vom Englischen ins Deutsche wechselnd. Es fiel ihr immer wieder schwer. Sie hatte zu wenig Übung. »Sie sprechen Deutsch?« Die Frau sah so überrascht aus, daß Blaga ein bißchen lächeln mußte. Sie trat beiseite und ließ ihren Gast herein. Sie war groß, aber nicht so groß wie Blaga. »Bitte«, sagte Blaga kurz und zeigte auf die Wohnzimmertür, ging hinein. Die junge Frau folgte ihr. »Also?« Warum bin ich so ruppig, fragte sich Blaga. Wo ist meine Gastfreundschaft? »Ich mache uns einen Tee.« Die Frau sagte artig ›danke‹, und blickte sich um, während Blaga in die Küche ging. Nicht neugierig, eher suchend. Fraugend. Ängstlich. »Ich habe keinen Wachhund oder so, falls Sie das meinen«, rief Blaga, lächelte, obwohl ihr nicht danach war, und setzte Wasser auf. »Nein.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen.« Blaga kam wieder ins Wohnzimmer. »Setzen Sie sich.« Sie wies auf den großen Eßtisch. Ob sie es schaffen würde, das Mädchen auf deutsch wieder hinaus zu komplimentieren? Wieder sagte sie ›danke‹ und setzte sich. »Ich habe Ihren Namen nicht ganz verstanden.« »Alexina Hernany.« 102
»Und woher kommen Sie? Deutschland ist ziemlich groß, wenn ich es richtig weiß.« »Aus München.« »München.« Blaga hantierte mit der Teekanne. »Dort ist alles weißblau, es gibt Bier in Strömen, Berge und das Oktoberfest.« Alexina lachte. »Ich weiß natürlich, daß das Klischees sind«, fuhr Blaga fort. »Ja, das sind wirklich Klischees.« Blaga stellte zwei Tassen auf den Tisch. Sie sollte Marina anrufen und sie herbitten. Wieder spürte sie Kopfschmerzen und ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Sie wollte … »Sicher kommt es Ihnen seltsam vor, daß ich einfach so gekommen bin«, begann Alexina da. »Aber ich mußte es einfach tun. Und ich hoffe, daß ich Ihr Leben damit nicht durcheinanderbringe. Ich … ich weiß nicht einmal, wie anfangen.« »Dann warten Sie, bis wir einen Tee getrunken haben«, schlug Blaga vor, aber schon bekam sie Angst, große Angst. Sie mußte Marina anrufen. Aber sie tat es nicht. Sie fixierte Alexinas Tasche, die das Mädchen auf den Tisch gestellt hatte. Sie goß Tee in die Tassen und setzte sich Alexina gegenüber. »Und was wollten Sie mir geben?« Alexina wollte in ihre Tasche greifen, unterließ es dann aber und sagte: »Ich erzähle Ihnen am besten die ganze Geschichte. Das ist schnell getan. Im März hatte ich beruflich in Sofia zu tun. Ich arbeite an der Münchner Universität und kam zu einer Außenhandelsmesse hierher. Jemand, ein gewisser Juri Kolew, der im Finanzministerium tätig ist, brachte mir einige Prospekte über die Bankenreform in Bulgarien an den Stand. Unter diesen Unterlagen fand ich dann – eine Akte. Über Ihre Tochter Ewa.« Blaga Petkowa trank ihren Tee. Dunkel und heiß schwappte er in der Tasse hin und her. Er war zu süß. Eindeutig zu süß. Juri Kolew … sie mußte Marina fragen. Aber der Name sagte ihr 103
etwas. Einer, der für die Restauration gekämpft hatte. Für den Erhalt des Kommunismus. Einer, der etwas zu verlieren hatte. »Ich kann nicht genau sagen, warum ich das tat, aber ich habe die Akte einfach an meine Adresse in München geschickt. Später versuchte eine Frau, mir die Akte abzunehmen, aber ich hatte sie längst nicht mehr. In München fand ich eine Studentin, die Bulgarisch kann und die mir die Akte übersetzt hat. Daraus ging hervor, daß Sie … daß Sie nicht wissen, wie Ihre Tochter zu Tode kam. Und ich habe beschlossen, daß ich Ihnen diese Akte bringen muß.« Der Tee schwappte bedrohlich näher, und eine gewaltige Flutwelle raste Blaga entgegen. Alexina suchte in ihrer Jacke nach Taschentüchern und wischte die Teeflecken ab. Blaga nahm einen schrillen Ton in ihrem Kopf wahr. Etwas heulte und toste und überrollte sie. Sie faßte sich an die Stirn. Aus weiter Ferne hörte sie Alexina sprechen. »Ich habe kein Recht, mich in Ihr Leben einzumischen. Aber – ich weiß nicht, warum – ich mußte es Ihnen unbedingt mitteilen. Hier ist die Akte.« Sie zog aus ihrer Tasche das schmutziggraue, pappgebundene Heft hervor. Blaga las den Namen auf dem Umschlag: Ewa Petkowa. Das Geburtsdatum: 18.9.1950. Meine Ewa. Sie würde diesen Packen Papier nicht berühren. Sollte die Deutsche verschwinden. Mit ihrer Tasche und dieser verdammten Akte. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Alexina ihren Tee austrank, wie sie aufstand und ihre Tasche schulterte. »Ich … ich gehe jetzt. Ich bin noch ein paar Tage in Sofia, im Cosmos-Hotel. Vielleicht …« Sie drehte sich zu Blaga um und wandte sich dann der Tür zu. »Warten Sie.« Blaga sah hoch und zeigte auf den Stuhl. Alexina setzte sich wieder. 104
»Sie haben sie … umgebracht, ja?« Alexina nickte. »Stehen Namen dabei?« »Ein paar. Aber Decknamen, ich bin nicht recht schlau daraus geworden.« Blaga nickte. Sie griff nach der Akte. Sie fühlte sich betäubt und leer. Sie würde von vorne beginnen müssen, nach all der Zeit, als eine alte Frau. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Alexina leise. Wut stritt in Blaga, Wut gegen Angst, Hoffnung gegen Abgründe, Trauer gegen Auflehnung. Sie wollte schreien und Alexina hinauswerfen. Es konnte ein Komplott sein, eine perfide Rache. Jemand trachtete danach, sie zu verunsichern. Sie hatte so hart gekämpft. Soviel war ihr gelungen. Sie hatte es geschafft, dagegen anzuleben. Bis heute. Wenn sie nun las, was sie Ewa angetan hatten, würde es wieder Jahre dauern, bis sie zu ihrem Leben zurückfände. Und wenn diese Akte eine dumme, idiotische Fälschung war? Weil jemand mit ihr noch eine Rechung offen hatte? Weil sie manchen geschadet hatte, zu Wendezeiten, von denen sie wußte, auf welcher Seite sie kämpften? Die Wahrheit gibt es nicht zum Nulltarif, Blaga. »Hören Sie«, sagte sie zu Alexina. »Ich … kann …« Sie stieß einen Fluch auf bulgarisch aus. Alexina wartete immer noch wie festgewurzelt. »Sie haben gesagt, die Akte ist von Kolew?« »Es kann nicht anders sein. Er brachte diese Broschüren an meinen Stand. Sie waren für meinen Chef bestimmt, und es war abgemacht, daß er, also Kolew, sie vorbeibringen würde.« Blaga nickte. »Es … tut mir leid. Ich … ich bin ein Niemand für Sie, und ich habe Ihr Leben manipuliert. Aber, als ich die Akte las, wußte ich, daß ich nach Sofia zurückkommen und Sie suchen würde. 105
Weil es mir so unerhört schien, was vorgefallen ist.« Alexina sah Blaga verzweifelt an. »Bitte, verzeihen Sie mir.« Blaga hörte sie, aber sie konnte nichts sagen. Was willst du von mir, deutsche Frau, dachte sie entsetzt. Skepsis und Mißtrauen rasten durch ihr Herz. Sie atmete tief ein und aus, um ruhiger zu werden. Alles habe ich überstanden, was das Leben mir hingeworfen hat, jeden Brocken. »Frau Hernany«, begann Blaga, »bitte gehen Sie. Ich muß Zeit haben. Vielleicht rufe ich Sie an, solange Sie in Sofia sind. Vielleicht auch nicht.« »Okay.« Alexina zögerte, dann streckte sie Blaga ihre Hand hin. Eine deutsche Geste, dachte Blaga. Sie ergriff Alexinas Hand und drückte sie kurz. Sie mochte diese Hand. Sie war groß und kräftig, fast wie ihre eigenen Hände. Blagas Blick zauste Alexinas Haar. »Wie haben sie sie …?« Alexina faßte sich an den Hals. Blaga meinte, sie würde stürzen und ersticken. Unweigerlich. »Bitte gehen Sie jetzt. Ich möchte allein sein.« Blaga legte die rechte Hand auf die Akte. »Auf Wiedersehen.« Blaga hörte die Tür klappen, aber sie stand nicht auf, um die Kette vorzuhängen. Sie sah Ewa, am Fenster stehend und auf die Straße blickend, mit diesen angsterfüllten Augen. Und dem braunen Haar.
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17. Sofia, 7.5., früher Abend Todor Kanew hatte sich bestimmt schon zum hundertsten Mal gefragt, warum er das tat. Besser, warum er es nicht tat. Es konnte ja jederzeit zu spät sein. Da war Sonja, Annas Tante, die etwa im Alter von Blaga Petkowa aus heiterem Himmel zusammengebrochen und gestorben war. Herzanfall. Jahrelange, vorausgegangene Herzschwäche. Todor hatte Tante Sonja nicht so besonders gern gemocht, aber ihr Tod schmerzte ihn, denn seit seine Eltern gestorben waren, hatte er nicht mehr die Wege des Todes gekreuzt. Alte Leute starben eben, hatte sein Freund Dimo gemeint. Natürlich starben sie. Und besser, sie starben als die jungen Leute, fand Todor und rückte sich in seinem Autositz zurecht. Er war fast Mitte vierzig, aber er fühlte sich jung. Kein Haarausfall konnte ihn genau daran hindern. Anna fand ihn auch jung. Das genügte. Für Ljuben mußte er erst recht noch eine Weile jung bleiben. So ein kleines Kind! Er selbst hatte ja seinen Vater früh verloren, zu früh, um sich wirklich erinnern zu können. Todor bremste und vollzog ein komplett verbotenes Wendemanöver auf der Straße. Wildes Gehupe. Jetzt, genau heute abend mußte er zu Blaga Petkowa fahren. Er reihte sich wieder in die Schlangen ein, die an Ampeln und Kreuzungen schnauften und dampften. An einem öffentlichen Telefon hielt er an und rief Anna an, er käme ein wenig später. Noch ein Auftrag, wichtiges Einkommen für sie alle drei. Schejnowo-Straße. Bis ans Ende seines irdischen Lebens würde Todor hierherfinden. Er hatte hier als Kind gelebt und die Straßen, Häuser und Innenhöfe erobert. Gemeinsam mit anderen hatten sie jeden Winkel erforscht, ihre Kindergeheimnisse 107
geteilt. Todor tastete sich mit seinem Lieferwagen an den parkenden Fahrzeugen entlang. Die Hausnummer hatte er nicht mehr im Kopf, aber das Haus lag gleich da vorne rechts. Vor ihm mitten auf der Fahrbahn hielt ein Toyota Corolla und versperrte ihm den Weg. Überholen ging nicht, zu viel Gegenverkehr. Todor hupte ärgerlich. »Affe, was soll das«, brummte er vor sich hin, als der Toyota sich behäbig in Bewegung setzte. »Kann es vielleicht etwas schneller sein? Weihnachten wäre ich gerne zu Hause!« Todor wollte gerade wieder kräftig auf die Hupe drücken, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Aus einer der Haustüren rechts kam eine Frau heraus, kurzes, braunes Haar, Jeans, helle Jacke, mit einer riesigen Tasche über der Schulter. Todor konnte in letzter Minute auf die Bremse treten, denn der Toyota stand schon wieder vor ihm wie festgenagelt. Gleichzeitig wütend werdend und sich wundernd starrte Todor der Frau nach. Sie war es, die gleiche wie vor einigen Wochen am Kirchengeschichtlichen Museum! Die mit den Augen wie Blaga. Todor schüttelte den Kopf und hieb wieder auf die Hupe. Der Toyota stand immer noch. Die Frau war aus Blagas Haus gekommen! Was hatte sie denn da zu tun? War sie am Ende eine entfernte Verwandte und sah ihr deshalb ähnlich? Eine Verwandte aus dem Ausland? Todor stöhnte. Seine Absichten kamen ins Schwanken. Er hatte es sich so fest vorgenommen, heute Blaga zu besuchen und mit ihr zu sprechen. Daß er seinen Sohn Ljuben genannt hatte, wollte er ihr sagen. Daß er Ewas Ermordung mit angesehen hatte, das mußte er ihr auch erzählen. Wieso immer noch diese Angst? Schließlich war man jetzt eine Demokratie.
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Todor blinkte links, um den Toyota zu überholen. Er fand rechts eine Parklücke und bugsierte den Transporter hinein. Feuchte Hände am Steuer. Aber kein Zurück, ermunterte er sich. Schreie. Im Rückspiegel erkannte er den Toyota, der immer noch an derselben Stelle stand. Ein Typ mit gigantischen Brillengläsern saß am Steuer, nervös nach rechts sehend. Todor drehte sich um. Ein anderer war aus dem Wagen gesprungen und packte nun die Frau mit dem braunen Haar, zerrte sie zu dem Toyota und zwang sie hinein. Die Brillengläser funkelten, als der Toyota durchstartete und an Todor vorbeiraste. Todor drehte den Zündschlüssel, lenkte wie wild, steuerte seinen Wagen aus der Parklücke und fuhr ihm nach. Was mache ich jetzt schon wieder. Ich muß die Polizei rufen. Bloß, womit. Ein Handy wäre jetzt praktisch. Natürlich besaß er eines. Aber heute hatte er es zu Hause gelassen. Typisch, dachte er. Das ist typisch. Der Toyota mußte sein Tempo drosseln. Ich mache jetzt einfach das Fenster auf und schreie, daß jemand entführt wird von den Kerlen da vorne. Ich sehe ja das Nummernschild. Er lernte die Kombination sofort auswendig. Natürlich schrie er nichts aus dem Fenster. Er würde jetzt an dem Wagen dranbleiben und ihm folgen und sehen, wohin sie die Frau brachten, und dann würde er die Polizei anrufen. Sie fuhren aus Sofia hinaus. Das war schwierig. Wenn er nun dem Toyota auffiel? Er würde zurückfallen müssen. Zum Glück wurde es schon ein wenig dämmrig. Sie landeten in einem Vorort. Nicht in einem der besten, wie Todor grimmig feststellte. Eine Menge Häuser sahen so heruntergekommen aus, daß man sie aus lauter Rücksicht am liebsten nicht ansehen wollte. Er blieb weiter zurück. Der Toyota fuhr 109
nun sehr langsam. An einer Kreuzung bogen sie links ab. Der Weg geradeaus führte ins Dickicht eines Wäldchens. Todor fuhr hinein, stellte den Wagen ab und sprang hinaus, lief zur Weggabelung zurück und blickte in die Richtung, in die sie gefahren waren. Der Toyota stand. Der Brillengläsermann stieg aus. Der zweite, ein Schrank von einem Mann, quälte sich aus der hinteren Tür und zog die junge Frau hinter sich her. Sie wehrte sich nicht, stand ganz still. Todor starrte ihnen nach. Sie verschwanden alle drei in dem letzten Haus auf der linken Seite. Was mache ich, was mache ich? Todor kehrte zu seinem Transporter zurück. Zuerst einmal würde er wenden, um in die richtige Richtung abfahrbereit zu sein. Er manövrierte geschickt auf dem engen Weg. Dann sprang er wieder aus dem Wagen und ging die wenigen Straßen dieses Vorortviertels ab. Er mußte auf alle Fälle den Weg hierher zurückfinden! Niemand war zu sehen. Er näherte sich dem Haus nicht, aber er nahm es genau in Augenschein. Ein flaches Gebäude, langgestreckt und ziemlich renovierungsbedürftig, wenn man es von der Seite sah. Ein Kiesweg führte zur Eingangstür. Alle Fenster waren geschlossen und verrammelt. Ein Wagen näherte sich. Todor sprang von der Straße und warf sich der Länge nach ins Gebüsch. Eine dunkle Limousine bog um die Ecke und fuhr genau auf das letzte Haus zu. Jemand sprang heraus, rief dem Fahrer etwas zu und schlug dann die Tür zu. Todor erstarrte und preßte sich noch fester gegen den Untergrund. Diese Stimme erkannte er unter Tausenden. Kolew. »Zu spät, Mädchen. Zu spät. Deine Mutter wird weinen.« Glatt. Unbeteiligt. Dann hatte er das Kabel um Ewas Hals gelegt.
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Todor spürte seinen Magen revoltieren. Die Limousine fuhr an ihm vorbei und verschwand elegant summend in der hereinbrechenden Nacht. Todor lauschte, wie Kolew über den Kiesweg schritt und an die Tür klopfte. Jemand schien ihm zu öffnen, denn sehr leise konnte Todor hören, wie ein paar Worte gewechselt wurden. Aber sie waren zu weit weg, und er verstand nicht, was gesagt wurde. Wenn Kolew da beteiligt ist, dachte Todor, richtete sich auf und tappte gebückt im Schutz des Dickichts zurück zu seinem Transporter, dann kann ich es auch gleich vergessen, die Polizei anzurufen. Vergessen. Voll Abscheu spuckte er auf die Straße. Entweder blieb er hier sitzen, bis sich irgend etwas tat, oder er unternahm etwas. Hilflosigkeit war es nicht allein, die ihn quälte. Ihm fehlte die zündende, rettende Idee, was zu tun war. Kolew hatte ein Mädchen entführen lassen, das Blagas Tochter Ewa – zumindest ein bißchen – ähnlich sah. Zugegeben, nicht sehr, aber die Haarfarbe, und diese Augen! Eigentlich hatte sie die gleiche Augenpartie wie Blaga. Wenn ihm, Todor, das auffiel, mußte Kolew es doch auch gemerkt haben. Am Ende gab es doch noch eine Tochter? Eine jüngere Schwester? Aber diese Frau hier war doch eine Ausländerin. Er hatte sie vor dem Museum mit einer anderen Frau sprechen hören. Sie sprachen nicht Bulgarisch. Oder war sie doch Bulgarin, hatte eine Touristin durch Sofia geführt? Blaga. Er drehte den Schlüssel im Zündschloß und ließ den Wagen ohne Motor ein Stück die Straße hinunterrollen, bis er weit genug von der Weggabelung entfernt war. Blaga wird wissen, was zu tun ist. Wie sie immer alles hinbekommen hat. Einen trockenen Pullover für Todor an einem Regentag, eine frische Limonade, wenn die Sonne herunterbrannte. Todor fühlte heftige Sehnsucht nach ihr.
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18. Sofia, Schejnowo Straße, Wohnung der Petkows. 7.5., später Abend Blaga Petkowa lief hin und her, hin und her. Ihre Wohnung war ja nicht groß. Und nun lief sie gegen die Horizonte. Vor einer Stunde hatte sie den gelblichen Pappdeckel über der Akte geschlossen. Jetzt wußte sie also. Das war die Wahrheit. Ich muß Marina anrufen, befahl sie sich selber. Ich darf das nicht noch mal alleine durchstehen. Nur, sie rief nicht an. Als sei ihr Arm zu müde, zu steif, den Telefonhörer abzuheben und Marinas Nummer zu wählen. Durst. Blaga goß sich Leitungswasser in ein Glas. Die alte Marotte. Aufregung verursachte bei ihr Höllendurst, sie könnte literweise trinken. Warum mußte ich das alles jetzt gesagt bekommen! Sie setzte sich wieder an den Küchentisch. Keine Träne, keine Schluchzen. Etwas Kaltes, Eisiges hatte ihr Herz umklammert. Die Dinge um sie mutierten zu Leblosigkeiten. Nichts besaß mehr irgendeine Bedeutung. »Verdammt, lebe weiter! Was soll Ewa von dir denken!« hatte Marina ihr in den ersten Wochen nach dem Mord gesagt. Immer wieder. Wie einer kranken Kuh hatte sie ihr zugeredet. Aber nun fühlte Blaga, daß Ewa doch schon weit weg war. 33 Jahre. 33 Jahre Lüge. 33 Jahre Vergessen. Manchmal erinnerte sie sich nicht mehr sofort an Ewas Gesicht. Als hätte man es ausradiert, verwischt. Alles andere blieb, die Art wie sie rannte oder wie sie sich auf den Küchentisch stützte, wie sie den Pferdeschwanz ein wenig ungeduldig mit einer Haarschleife befestigte. Aber das Gesicht tauchte nur verschwommen auf. Der Klang ihrer Stimme war ebenfalls 112
geblieben. Aber Blaga erinnerte sich nur an bestimmte Sätze, die für Ewa typisch gewesen waren, wie »Ach, Mama!« mit dem leicht vorwurfsvollen, aber doch amüsierten Tonfall. Es war ihr unmöglich, sich Ewas Stimme mit nicht erinnerten Sätzen vorzustellen. 33 Jahre bedeuteten, daß sie nicht mehr genau wußte, wie es war, ihre Tochter im Arm zu halten. Die Petkows waren immer eine sehr warmherzige Familie gewesen, dachte Blaga. Sie und Ljuben gingen zärtlich miteinander um, ihre Eltern, ihre Schwiegereltern – alle hatten diese großen Hände, die gerne streichelten, und Geduld im Herzen, um sich Zeit zu nehmen für eine freundliche Berührung. Blaga stöhnte auf. Sie würde diese Nacht überleben. Vom Fenster ihres Arbeitszimmers sah sie bis zum Witoscha-Gebirge. Blaue, frühsommerliche Dunkelheit trug es auf seinen Schultern. Sie hatte so viele Nächte überlebt, alleine, sorgenvoll, verzweifelt, hassend und bitterlich weinend. Der Morgen war ihr manches Mal als Gespött erschienen. Nächte haben nie ein Ende, dachte Blaga erschöpft. Bis an unser Lebensende rauben sie uns unsere Nerven. Nachts sind alle Gedanken schrecklich, schwer, zerstörerisch. Und dennoch – bauen wir nicht nachts die märchenhaftesten Schlösser? Argwohn schlich sich ein. Wer war diese Frau, Alexina wie noch gleich? Sie hatte es schon wieder vergessen. Sie sagte, Kolew hatte ihr die Akte gegeben? War Kolew der Mörder? Aus der Akte ging es nicht hervor. Sie durchschaute die Deckbezeichnungen nicht. Im Kirchengeschichtlichen Museum. Liquidiert. Ein Aktenzeichen, P wie Petkowa, Ewa. Das Entsetzen steigerte sich. Sie mußte mehr Wasser trinken und eine Herztablette nehmen. Nein, besser gleich zwei. Blaga griff zu dem Tablettendöschen im Küchenschrank und lachte
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scharf auf, da sie entdeckte, wie sie doch spürbar an ihrem Leben hing. Wenn Kolew am Ende dahintersteckte … war diese Akte eine Fälschung, um sie zu quälen? Sie traute Leuten wie Kolew jede Art von Perfidität zu. Dennoch – es kam ihr unwahrscheinlich vor. Eine vorsichtige Intuition sagte ihr, daß sie hier tatsächlich die echte Akte ihrer Tochter vor sich hatte, und daß man sie umgebracht hatte, weil sie über etwas Bescheid wußte – einen Unfall im Frühling 1967. Wie lange das her war! Ewa war Zeugin dieses Unfalls geworden. Blaga schloß die Augen und stellte sich alles genau vor. Sie hatte einen Unfall gesehen, Jemand war zu Tode gekommen, und Ewa wußte, wer daran schuld war. Blaga fuhr hoch. Unfall? Heute hatte Marina doch auch etwas von einem Unfall erzählt. Sie zermarterte sich das Gedächtnis. Komm schon, komm schon. Es fällt mir ein, ich weiß es. Sie stand auf und setzte Teewasser auf. Schloß die Augen. Versuchte, sich den Wortlaut von Marinas Neuigkeiten heute am Telefon genau vorzustellen. Sportfunktionär. Ging es nicht um einen Sportfunktionär? Blaga riß die Augen auf und nahm den Wasserkessel vom Gas. Genau. Berow. Swetan Berow. Man sagte, er habe mal ein Kind zu Tode gefahren. Blaga rannte fast in ihr Arbeitszimmer und suchte Ewas Tagebuch hervor. Darin gab es etwas. Sie wußte nicht genau was, aber sie hatte die wenigen letzten Eintragungen nie genau verstanden. Sie blätterte ein wenig. Dieses scheußliche, billige Papier! Die Tinte wurde auch schon ganz blaß. Hier. Da gab es im März 1967 eine sonderbare Eintragung, poetisch, sonst gar nicht Ewas geradliniger Stil:
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Du mußt mit Blumen sprechen, sonst welken sie dir weg. Wenn sie verwelkt sind, erinnert sich niemand. Der Tiger reißt das Schäfchen. Weil er Erbarmen doch nicht kennt. Meine Blume ist verloren. Meine Mutter liebt Blumen. Sie liebt Anemonen. Sofias Frühling vergiftet alle Anemonen. Hier blüht noch eine letzte. Blaga lehnte sich zurück. Der Tiger reißt das Schäfchen. Der Tiger, Berow, fährt ein Kind tot. Das Schäfchen. Kolew tötet Ewa. Der Tiger reißt das Schäfchen. Meine Blume ist verloren. Blaga meinte zu verstehen. Ewa versuchte in diesem Tagebuch auszudrücken, daß sie sich wehren würde, ihre Mutter auszuspionieren, wie man es augenscheinlich von ihr verlangt hatte. Die letzte Anemone in Sofias Frühling, im Jahre 1967. Blaga griff nach ihrer Brille. Immer erst dann, wenn ihre Augen brannten, setzte sie sie auf. Eitelkeit bis zuletzt, dachte sie grimmig. Sie betrachtete Ewas Zeilen. Ihre Handschrift war nie besonders schön gewesen. Das hatte oft zu Streit geführt, zwischen Mutter und Tochter. Blagas sanfte bis heftige Aufforderungen, doch endlich etwas freundschaftlicher mit den Buchstaben umzugehen, ignorierte Ewa völlig. »Man kann es doch lesen, das reicht!« sagte sie dann. Blaga fuhr mit ihrem Zeigefinger über das Papier. Kluge Ewa. Deine Mutter hat 33 Jahre gebraucht, um zu kapieren, was du hier aufgeschrieben hast. Und sinkt nicht mit zunehmendem Alter das geistige Fassungsvermögen? Der Pope am Grab. Ihr Gesicht in der Fensterscheibe. Blaga runzelte die Stirn. Die Schrift in diesem Tagebuch war verblaßt, das schon, aber was sollte dieses Gestrichel unter den Zeilen? Sie hielt das Buch näher an die Lampe. Striche. Feine, sorgfältige Bleistiftstriche. 115
Fünf Stück. Ewa hatte Buchstaben unterstrichen. B, E, R, O, W. Berow, verflucht! Blaga sprang auf, warf das Tagebuch auf das Sofa. Ich Idiotin. Warum habe ich das nie gesehen? Der Tiger reißt das Schäfchen. Und die Antwort auf die unausgesprochene Frage, wer der Tiger sei, hatte Ewa gleich mitgeliefert. Berow. Klar, Swetan Berow. Fünf Buchstaben genügten in der Familie Petkow, Verzeihung, der nicht mehr existierenden Familie Petkow, um klarzustellen, was man meinte. Einschüchterung. Schikane. Kontrolle durch snobistische, aalglatte Genossen. Ehre der Arbeit. Blaga legte die Brille ab und nahm ihren unruhigen Lauf durch den Käfig wieder auf. Wenn Wut mit Trauer streitet, Angst mit Argwohn. Sie schüttelte heftig den Kopf, als könne sie damit die Skepsis vertreiben. Es knackte im Genick. Die Akte war echt, daran gab es keinen Zweifel, nicht nach ihrer erneuten Lektüre des Tagebuchs. Aber welche Rolle spielte die deutsche Frau? Sie versuchte sich an ihre Geschichte zu erinnern. Zufällig habe sie die Akte in Händen gehalten. Zufällig. Kolew habe sie zufällig vergessen. Das sah Kolew nicht ähnlich, wenn er es mit solcher Präzision schaffte, Neuparlamentarier im Finanzministerium zu werden. Aber Kolew wurde natürlich auch älter. Blaga grinste schadenfroh. Auch euch rafft es dahin, hätte sie ihm gerne ins Gesicht gesagt. Hatte Berow am Ende auch Ewa umgebracht? Nur schade, daß es manche von uns eher erwischt hat. Berow überfährt ein Kind, und Kolew trägt Jahre danach die Akte spazieren. Warum tat er das? War am Ende Kolew Ewas Mörder? Ewa als Zeugin eines Mordes. Sie setzte sich an den Küchentisch und blätterte wieder in den Papieren. Da war ihr doch ein Name bekannt vorgekommen. Genau, Todor Kanew. Todor. Der Kleine mit dem sprießenden,
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struppigen Haar, dessen werktätige Mutter den Namen ihres Sohnes mit Bedacht gewählt hatte. Da war eines Regentages ein durchnäßtes Kind im Treppenhaus gesessen, verfroren und einsam. Todor hieß er. Sie spürte mit einem Mal die kalte Kinderhand in ihrer. Ljuben hatte ihm später das Schnitzen beigebracht, dem Kleinen, wie sie ihn nannten, der vielleicht knapp zehn Jahre jünger als Ewa war, nein, vielleicht nur fünf. Blaga erinnerte sich nicht genau. Fast jeden Tag schaute Todor vorbei. Und dann war er eines Tages verschwunden. Nicht eines Tages. Genaugenommen war er mit Ewa zusammen verschwunden. Sie haßte ihn schon. Er hatte Ewa gesehen, und ihren Mörder. Ein tödlicher Cocktail. Todor, den sie fast schon als eine Art Pflegekind angenommen hatte. Sie griff erschrocken nach der Akte und suchte zwischen den Notizzetteln nach einer Antwort auf die neue, bange Frage. Hatten sie Todor vielleicht auch umgebracht? Wie Gedanken streiten konnten. Haß auf Todor, weil er sie, Blaga, im Stich gelassen hatte, und er hatte die ganze Zeit die Wahrheit gekannt. Sei vernünftig, Mädchen, mahnte sie sich selbst. Er hätte niemals sprechen können. Man hätte ihm dasselbe angetan. Gleichzeitig Angst um Todor. Sie hatte ihn nie wieder gesehen, er war jetzt Anfang vierzig – wenn er noch lebte, und wenn er nicht ebenfalls ein Opfer Berows geworden war. Eine Kette von Morden und ihren Zeugen, dachte Blaga grimmig. Das endet nie. Nur, wenn einer schweigt. Es gibt nur diese Möglichkeiten: Entweder ist er tot, oder er hat immer geschwiegen. Sie würde das herausfinden. Sofort. Todor Kanew. Seinen Nachnamen hatte sie nie gekannt. Aber natürlich mußte es dieser Todor sein. Sonst wäre er nicht verschwunden, im April 1967. Bestimmt hatte man ihn und seine Mutter, eine Heldin der Arbeit, umziehen lassen, in ein anderes Viertel, wo er niemals
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mehr Blaga oder Ljuben Petkow über den Weg laufen würde. Selbstverständlich in eine bessere Wohnung. Wenn Todor Kanew am Leben war, dann würde er wissen, wer Ewa umgebracht hatte. Blaga überkam unsagbare Wut. Sie brauchte jemanden zum Reden. Jetzt sofort. Marina. Verdammt, Marina, ich rufe dich jetzt an, und wenn du im Tiefschlaf bist, hilf mir. Sie nahm den Hörer ab, wählte zwei Ziffern. Legte den Hörer wieder auf. An ihrer Wohnungstür war jemand. Sie hatte es deutlich gehört. Ein Kratzen. Ein Klopfen? Sie sah auf die Uhr und nahm undeutlich wahr, daß die Zeiger 23.00 Uhr zeigten.
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19. Sofia, 7.5., später Abend Juri Kolew war es gelungen, seinem Wachmann für die Nachtschicht, der eine New-York-Yankee-Mütze trug und sich Ron nannte, die Limousine unterzuschieben. Ein kluger Schachzug. Ron weigerte sich zwar gerne, Arbeiten dieser Art zu unternehmen, er wollte am liebsten den ganzen Tag in Bojana bleiben und im steten Wechsel zwischen Wachschicht und Freizeit, die er mit amerikanischen Seifenopern vor dem Fernseher verbrachte, vor sich hindümpeln. Ron haßte jede Veränderung seiner Routine. Sie schien ihn zu verunsichern, aber Kolew hatte es schließlich doch geschafft, ihn umzustimmen. Geld regiert die Welt, dachte er sorgenvoll. Das einzige Ziel, das uns noch zusammenhält. Dollars oder Schweizer Franken. Oder Deutsche Mark. Ron steuerte zielsicher über die dunklen Straßen. Kolew fühlte sich gut. Er würde sein Leben in Sofia retten können. Am Morgen war er schon auf dem Weg zum Flughafen gewesen. Und da hatte er diese Frau wiedergesehen. Sie schien Bulgarien gar nicht verlassen zu haben, so gut kannte sie sich auf Sofias Straßen aus. Kolew war ihr gefolgt. Das Cosmos-Hotel. Keine so noble Adresse wie das Grand-Hotel. Aber egal. Jetzt mußte nur noch Nikolai einspringen, und in Kürze würde er, Kolew, dem Dachs die Akte zurückbringen. Nicht persönlich. Nikolai natürlich. Nikolai machte überhaupt alles. Ron bog nach links ab und schnitt einen entgegenkommenden Wagen. »Spinnst du? Paß ein bißchen auf«, knurrte Kolew scharf. Ron murmelte irgendwas. Diese Mütze ist doch lächerlich, dachte Kolew zornig. Ein altes Kulturvolk wie wir und amerikanische Mützen tragen. Sich sogar mit einem amerikanischen Spitzna119
men anreden lassen. Er schüttelte unmerklich den Kopf. So ein Verhalten war ihm unverständlich. Sie erreichten die letzte Querstraße. Kolew fühlte nach seiner Beretta. Er würde sie nicht einsetzen heute abend, aber er könnte damit der Frau klarmachen, daß die Lage durchaus ernst war. Daß es Möglichkeiten für ihn geben würde, wenn er die Akte nicht unverzüglich erhielte. Ron bremste auf dem Kies. Hier müßte er den Weg teeren lassen, was er leicht tun könnte, sobald er die Unstimmigkeiten mit dem Dachs geklärt hatte. Ein warmes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Fast schon hatte er sich als Verlierer gesehen, der den Schleudersitz betätigen mußte. Nun ergab sich eine andere Lösung. Was für ein unverschämtes Glück. Nikolai ließ ihn ein. »Wo?« »Im Wohnzimmer.« Kolew trat ein. Die deutsche Frau saß auf dem Sofa, ihre Tasche neben sich, die Beine übereinandergeschlagen. Sie sah nicht einmal sehr nervös aus. Er wunderte sich. Da lag ein Kampfgeist in ihren Augen, den er nur zu gut wiedererkannte. Zum х-ten Mal überraschte ihn diese Ähnlichkeit. Nur in der Augenpartie, aber diese schien das ganze Gesicht der jungen Frau zu dominieren. »Guten Abend.« Sie nickte nur. »Sie hatten ein paar Unannehmlichkeiten, wofür ich mich entschuldigen will. Es wird Ihnen sicher ein Leichtes sein, uns in unserem Vorhaben zu unterstützen. Anschließend werden Sie sofort in Ihr Hotel zurückgebracht. Wir werden das bald erledigt haben.«
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Er setzte sich in einen Sessel, der Frau gegenüber. Er war begeistert über sich selber. Sein erstklassiges Englisch. Damit konnte er noch alle Probleme knacken. Nikolai trat hinter ihn. »In ihrer Tasche ist nichts.« »Und sonst?« »Sie kann sie wohl nicht am Körper tragen.« »Laß Schan das machen.« Er wandte sich Alexina zu. »Mein Mitarbeiter wird Sie nun durchsuchen.« Er freute sich ein wenig, als sie blaß wurde. »Sie können das natürlich vermeiden, wenn Sie uns die Akte gleich geben.« »Welche Akte?« Ihre Stimme klang fest. Sie mußte sich zusammennehmen, aber sie sprach mit Überzeugung. Auch hier eine Ähnlichkeit, wie damals im Treppenhaus. »Aber sehen Sie, es hat doch keinen Sinn, wenn Sie leugnen. Sie haben eine Akte, in deren Besitz Sie nicht sein sollten. Wenn Sie uns unterstützen, ist die Sache in Kürze erledigt.« Alexina zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was für eine Akte Sie meinen, und Sie können sich auf den Kopf stellen, das nützt mir auch nichts. Vielleicht erklären Sie sich etwas genauer?« Ihre Selbstsicherheit war Kolew nicht geheuer. Entweder, ich bin zu alt und ausgelaugt für dieses Geschäft, dachte er, oder sie ist ganz und gar ausgefuchst. Er schüttelte seinen Kopf. Ich bin nicht ausgelaugt, beschloß er. Tätigkeiten dieser Art hatten ihn seit eh und je erfrischt und mit neuem Tatendrang versehen. Kolew erhob sich und lächelte entschuldigend. »Schan wird sich um Sie kümmern. Wir sehen uns gleich wieder.«
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Er genoß die Angst in ihren Augen. Das leise, gehauchte »Nein« im Treppenhaus. Die weichen, langen Haare. Er ging mit Nikolai hinaus. Schan stand im Flur. »Durchsuche Sie. Aber anständig. Klar?« Schan nickte und mußte sich bücken, um unter dem Türrahmen durchzupassen. »Ron übernimmt das Hotelzimmer«, sagte Kolew zu Nikolai. Er erkannte den leisen Zweifel in Nikolais Gesicht. »Das schafft er schon«, ermunterte er sich selbst. »Es besteht die Möglichkeit, daß sie die Akte schon bei der Petkowa gelassen hat«, sagte Nikolai. »Sie kam aus ihrem Treppenhaus.« »Das müssen wir überprüfen. Fahr in die Stadt und kümmere dich darum.« Nikolai nickte, griff nach seiner Jacke und verließ das Haus. »Komm aber so bald wie möglich wieder«, rief Kolew ihm nach. Nikolai war der Verläßlichste. Er wollte ungern auf ihn verzichten. Schan trat in den Flur. »Nichts.« Kolew stampfte mit dem Fuß auf. »Ich rede jetzt mit ihr.« Alexina sah den Schrank ins Zimmer zurückkommen und spürte, wie sie zu zittern begann. Sie durfte aber keine Angst zeigen, auf keinen Fall. Wenn das geschah, würde sich ihre Furcht ins Unerträgliche steigern. Sie atmete tief ein und aus, ein und aus. Ein leichtes Schwindelgefühl. Sie mußte das schaffen. Dabei sah der riesenhafte Kerl mit dem eckigen Gesicht sogar sehr freundlich aus. Wahrscheinlich würde er selbst mit den schrecklichsten Drohungen im Mund noch aussehen wie ein Teddybär. Er winkte ihr aufzustehen, 122
nahm ihr die Jacke ab. Ein heftiges Zittern lief durch ihren Körper. Ungerührt begann der Schrank, sie abzutasten. Die Bluse, die Jeans. Schließlich wies er auf ihre Schuhe. Sie zog sie aus, er drehte sie um. Dann verließ er das Zimmer. Alexina bemerkte die Panik sofort. Sie schlich sich ein wie ein eisiger Wind. Schlucken. Schlucken und atmen. Sie zog ihre Schuhe wieder an und schlüpfte in die Jacke. Sie begann zu frieren. Etwas Kaltes füllte ihren ganzen Körper aus. Es begann im Bauch und dehnte sich aus, bis in die Füße und den Hals. Nur ihre Augen brannten. Sie mußte das Zittern bändigen, bevor irgend jemand es bemerken konnte. Kolew öffnete die Tür und kam herein. »Nun, dann wollen wir mal anfangen.« Er rückte sich in seinem Sessel zurecht. »Meine Mitarbeiter haben Ihnen etwas zu essen gegeben, nicht wahr?« Alexina nickte. Kolew betrachtete sie spöttisch. Er mochte lieber Brünette als Blonde. Vielleicht würde sie das weich machen. Aber eigentlich verspürte er keine Lust, nicht den Hauch. »Ihnen ist kalt? Schan!« Der Schrank sah herein. Kolew wies auf den Kamin und sagte etwas. Der Schrank machte sich daran, Holz einzuschichten und zündete ein Feuer an. Alexina biß sich die Lippen wund. Es gelang ihr nicht, das Zittern unter Kontrolle zu halten. Atmen. »Wo ist die Akte?« »Ich weiß nichts von einer Akte, Herr Kolew.« Er schüttelte den Kopf. »Aber Frau Hernany, wir kennen uns doch. Sie haben Materialien von mir erhalten, und darunter befand sich ein Dokument, das nicht dazugehörte. Ein Versehen, verstehen Sie? Und da das Dokument Ihnen nicht gehört, sind
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Sie verpflichtet, es zurückzugeben. Sie machen sich des Diebstahls schuldig.« Alexina zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nichts von einem Dokument. Die Mappen, die Sie brachten, waren für meinen Chef bestimmt, nicht wahr? Dann hat er vielleicht Ihre Papiere. Ich habe die Sachen nicht angesehen, und ich weiß nicht, von welchem Dokument Sie reden.« Kolew räkelte sich im Sessel und zerrte zu Alexinas Entsetzen eine Pistole aus seinem Jackett. »Sie drückt mich immer. Entschuldigung.« Er lächelte. Alexina versuchte mit aller Macht, das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken. »Sehen Sie, es ist schon erstaunlich. Sie verschwinden aus Sofia, und dann kommen Sie wieder und treiben sich in Wohnhäusern herum, in denen dubiose Subjekte wohnen. Wie können Sie mir das erklären?« Hier war sie, die Frage, vor der Alexina sich gefürchtet hatte. Sie hatte schon im Auto krampfhaft nach einer Lösung gefahndet. Was sage ich, wenn er mich fragt, woher ich Blaga Petkowa kenne? Angriff war der einzige Weg. »Dubiose Subjekte kenne ich nicht. Aber ich habe jemanden besucht, den ich sehr gut kenne. Blaga Petkowa.« Kolew erstarrte. Alexina nahm es sofort wahr, ein leichtes Zusammenziehen seiner Augenbrauen. Die Lider flatterten kurz. Sie verstand nicht, warum sie immer noch fror. Das Kaminfeuer durchflutete warm und glänzend das ganze Zimmer. »Woher kennen Sie diese Frau Petkowa?« »Durch die Universität«, antwortete Alexina fest. Sie merkte, wie sie ärgerlich wurde, weil sie es nicht schaffte, mit dem Zittern aufzuhören. »Sie ist Historikerin, ich bin Historikerin.« Kolew wartete. »Und kennen sich seit neuestem alle Historiker Europas?« 124
»Wir haben uns bei einer Münchner Tagung kennengelernt.« »Sie lügen gut und sind geschickt, Frau Hernany, aber Sie lügen.« Er machte eine Pause. Alexina atmete so ruhig sie konnte. Die Panik mußte weichen. Sie würde das hier nicht schaffen, wenn die Panik sie beherrschte. »Wann war diese Tagung?« Alexina überlegte nicht lange. »Im vergangenen Herbst.« »Und wie ist Blaga Petkowa dorthin gereist? Mit welchem Geld, Frau Hernany?« »Sie hatte ein Stipendium.« Kolew wich zurück. Die Petkowa war tatsächlich Historikerin, daran erinnerte er sich. Er hatte keinen Überblick. Er würde das überprüfen müssen. Aber wenn diese Frau Blaga kannte, dann mußte ihr die Akte um so mehr gesagt haben. Er wandte sich an Schan, der im T-Shirt am Kaminfeuer saß. »Mach uns einen Kaffee.« Schan verschwand. »Sie müssen hierbleiben, bis Sie die Akte herausgeben, Frau Hernany.« »Dann werde ich Ihnen bis an mein Lebensende auf den Geist gehen«, erwiderte Alexina, und es gelang ihr, eine Spur Wut in ihre Stimme zu legen. »Ich weiß nichts von einer Akte, und ich habe keine Akte.« Kolew blickte sinnierend auf die Waffe vor sich. »Sie können sich im Haus frei bewegen. Das Badezimmer ist gleich gegenüber. Schan wird bei Ihnen bleiben.« Er stand auf und stocherte mit einem Schürhaken im Kamin herum.
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»Ich wußte nicht, daß das bulgarische Finanzministerium stalinistische Methoden anwendet«, sagte Alexina. Diese Unverfrorenheit. Kolew erinnerte sich und fürchtete sich vor ihr. Sie animierte ihn eventuell wieder zu etwas, wodurch er sich im Nachhinein gedemütigt fühlte. Wenn das Mädchen damals nur nachgegeben hätte! »Was wissen Sie über Stalinismus?« Schan kam mit einer Kanne Kaffee und zwei Tassen herein. »Stalinismus, ja? Aber bitte, bedienen Sie sich.« Alexina nahm sich Kaffee. Die heiße Flüssigkeit verbrannte ihre Lippen. Sie hielt die Tasse in ihren Händen und spürte, wie langsam, sehr langsam, die Wärme in ihre Finger wanderte. Kolew trat wieder an den Tisch, schenkte sich ebenfalls Kaffee ein, und trank in kleinen Schlucken, ohne Alexina aus den Augen zu lassen. »Was ist Ihrer Meinung nach Stalinismus?« »Menschen festzuhalten, mit der Absicht, irgendeine Form von Selbstjustiz auszuüben, das sind stalinistische Methoden.« »Hatten Sie in der BRD in den Siebzigern nicht ziemlich viel Terrorismus?« Kolew wartete nicht auf eine Antwort. Er trank einen Schluck Kaffee und sagte: »Die haben schlimmste Verbrechen begangen. Menschen entführt. Stalinismus?« »Richtig«, antwortete Alexina. »Mit dem Unterschied, daß diese Terroristen keine Angehörigen des deutschen Finanzministeriums waren.« Kolew zog die Augenbrauen hoch. Das war alles höchst erstaunlich. Wie konnte diese Frau in einer solchen Situation so sarkastisch mit ihm reden? Wußte sie, daß er die Macht hatte, sie die nächsten Tage nackt auf dem Sofa anzubinden, sie zur Toilette gehen zu lassen oder auch nicht, sie hungern und dürsten zu lassen? Sie schließlich zu töten?
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Das Kabel in seinen Händen. Das Mädchen mit Angst in den Augen. Und dennoch bereit. Eigenartig, diese Ähnlichkeit, überlegte Kolew, und fragte sich zum ersten Mal, woher sie stammen mochte. Alle Welt sprach von Genetik. Aber Alexina Hernany war wohl nicht verwandt mit Blaga oder Ewa Petkowa? »Wissen Sie, ich bin Ihr Gastgeber. Ich bemühe mich darum, daß Sie es hier so bequem haben wie es geht. So ist das in Bulgarien, so ist das in unserer Kultur.« Er nahm die Beretta in die Hand, und begann, daran herumzuspielen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Blässe, die sich in Alexinas Gesicht breitmachte. »Kannten Sie vielleicht auch Ewa Petkowa?« Er wartete ein paar Sekunden und beobachtete Alexina scharf. »Ach nein, das ist ja nicht möglich. Sie starb, als Sie wahrscheinlich gerade geboren waren.« Mit Genugtuung stellte Kolew fest, daß Alexina wieder zu zittern begann. »Ein tragischer Unglücksfall. Schlimm für ihre Mutter. Aber«, er hantierte mit der Waffe, »solche Dinge wiederholen sich manchmal.« Alexina spürte den heftigen Drang, zu schreien. Atme, sagte sie zu sich selbst. Atme und schlucke. Gleichmäßig. Langsam und ruhig. Sie zuckte heftig zusammen, als ein Handy klingelte. Gelangweilt warf Kolew die Beretta auf den Tisch und tastete in seiner Jacke nach dem Telefon. »Nikolai?« Kolew schwieg, sagte ein paar Mal »ich verstehe«, und brach dann das Gespräch ab. »Wir sehen uns morgen wieder«, sagte er zu Alexina, lächelnd. »Schan wird Ihnen bringen, was Sie brauchen.« Er steckte die Waffe ein und verließ das Zimmer. 127
Lange Zeit später hörte Alexina, wie ein Wagen vorfuhr und der Kies unter den Reifen knirschte. Eine Autotür schlug. Wieder Knirschen und dann Stille. Schan brachte einen Teller mit Weißbrot, eine Flasche Limonade, Tomaten. Dann setzte er sich vor das Feuer, legte einige Holzscheite nach, verschwand wieder, und brachte Alexina eine Decke und ein Kissen. Alexina sah auf ihre Uhr. Fast eine Stunde nach Mitternacht.
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20. Sofia, Schejnowo Straße, 7.5., 23.00 Uhr Im Radio verstummte die Musik und ein Sprecher verkündete in ernstem Tonfall, daß es mit dem Gongschlag 23.00 Uhr sei. Todor bremste scharf. Er schloß den Wagen ab und zählte die Hauseingänge. Die Straßenbeleuchtung schien ihm sehr dunkel, aber er hätte das Haus jederzeit wiedererkannt, auch, wenn mehr als dreißig Jahre zwischen seinen Kinderabenteuern in den Höfen und dem heutigen Tag vergangen waren. Er betrat das Treppenhaus und rannte nach oben. Alle Vorsicht fahren lassen, dachte er und fluchte, als er über eine Stufe stolperte. Er suchte einen Lichtschalter. Normalerweise würde er niemanden nachts aufsuchen, um diese Zeit. Schon gar nicht Blaga Petkowa. Hatte er sich doch erst heute nachmittag durchgerungen, überhaupt mit ihr zu sprechen. Notfälle galten aber nicht. Sie schalteten die Normalität aus. Licht flammte auf. Todor versuchte, sich an das Stockwerk zu erinnern. Keine Namensschilder an den Türen. Ein unterdrückter Aufschrei eine Treppe höher. Todor blickte suchend nach oben, spähte zwischen den Treppengeländern hindurch. Ein kurzes Funkeln. Zwei Brillengläser. Der kurze Moment der Überraschung genügte dem anderen. Er stürmte nach unten, an Todor vorbei, wobei er ihn fast umrannte, und Todor mit der Stirn gegen das Treppengeländer stürzte. Todor rappelte sich auf, beugte sich hinunter, um den Flüchtigen zu packen und festzuhalten. Aber er war zu langsam. Dann wurde ihm schwindlig, und er mußte sich einen Augenblick hinsetzen, um wieder zu sich zu kommen. Sein Schädel brummte, der Aufprall auf dem Geländer war heftig gewesen. Unten hörte er einen Wagen mit quietschenden Reifen wegfahren.
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Todor stand auf, befühlte seine rechte Schläfe, zuckte zusammen. Das Licht war längst ausgegangen. Er tastete sich zu einem Lichtschalter vor und stieg die letzte Treppe nach oben. Hier mußte es sein. Er klopfte und drückte gleichzeitig auf die Klingel. Es tat sich nichts. Blaga schlief wahrscheinlich. Und was hatte der Brillenträger hier gemacht? Hatte er … Blaga? Er donnerte mit beiden Fäusten gegen die Tür und rief, schrie beinahe: »Blaga Petkowa? Hier ist Todor, Todow Kanew. Bitte, machen Sie auf. Bitte. Es ist wichtig.« Er hörte Schritte hinter der Tür und spürte, daß sie ihn durch den Spion ansah. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloß. »Sieh mal an«, sagte Blaga Petkowa. »Todor.« Er blickte ihr ins Gesicht. »Sie kennen mich noch?« Blaga winkte ihn herein und verschloß hastig die Tür. »Man nennt so etwas Telepathie.« Todor verstand nicht. »An jemanden denken, und dann steht er vor der Tür.« »Sie haben an mich gedacht?« Blaga sah ihn an und lächelte. Todors Gesicht, wie er sie von unten herauf ansah. Aber wo waren seine buschigen Haare geblieben? Statt dessen gaben sich kurze, dünne Stoppeln ein Stelldichein auf seinem Kopf. »Was hast du da gemacht?« Blaga streckte die Hand aus und berührte den violetten, fast schwarzen Fleck an seiner Schläfe. Todor zuckte zurück. »Du solltest ein bißchen Salbe draufschmieren«, sagte sie, und ging ins Badezimmer, um mit der entsprechenden Tube zurückzukehren. »Bla … Tante Blaga, ich muß unbedingt telefonieren. Und dann erkläre ich Ihnen alles. Bitte. Es ist wichtig. Ich …« 130
Blaga wies auf ihr Telefon und ging in die Küche. Kurz darauf kam ihr Todor nach. »Ich habe daraus gehört, daß du verheiratet bist? Kinder hast?« »Ja!« nickte Todor stolz. »Ein Kind. Einen Sohn. Er heißt Ljuben.« Blaga sah ihn an. »Ach.« Sie versuchte, klar zu sehen. Kühlen Kopf zu bewahren. Emotionen konnten streiten, das wußte sie aus der Literatur. Aber ihren Streit dann zu ertragen, war etwas ganz anderes. Todor war also springlebendig. Kein weiteres Opfer von Berow und Konsorten geworden. Dann war es jetzt das Wichtigste für sie, herauszufinden, wen Todor damals gesehen hatte. Alles andere konnte warten. Außerdem hatte er einen Sohn. Mit Ljuben als Vornamen. Wut und Ärger mußten sich hinten anstellen. Jetzt überwog die Erleichterung. Todor setzte sich Blaga gegenüber. Er mußte Worte finden. Schnell. Es würde nicht darauf ankommen, ob er sich geschickt ausdrückte. Nur der jungen Frau mußte geholfen werden. Unbedingt. Blaga nahm erneut die Tube mit der Wundsalbe in die Hand. Sie schraubte sie auf und drückte etwas Salbe auf ihren Zeigefinger, stand auf und ging um den Tisch herum. »Paß mal auf.« Todor runzelte die Stirn, als der Schmerz durch seinen Kopf schoß, aber er sagte nichts. »Ich habe vorhin Angst bekommen, daß du vielleicht auch eines ihrer Opfer werden könntest«, sagte Blaga nun, schraubte die Tube zu und legte sie weg. Dann zeigte sie auf den blaßgelben Aktendeckel: Petkowa, Ewa.
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Todor erstarrte. »Scheiße.« Er stützte seinen Kopf in die Hände, aber Blaga kam ihm zuvor. »Verschmiere die Salbe nicht.« »Entschuldigung.« Todor fühlte sich unfähig, etwas zu sagen. Er mußte soviel erklären, aber er verstand gar nichts. Woher kam diese Akte, und wieso hatte Blaga Angst um ihn gehabt? Statt wütend auf ihn zu sein, weil er ihre Freundlichkeit ausgenutzt hatte, als er ein Kind war, und sie dann im Stich gelassen hatte, als sie die Wahrheit dringend brauchte? Er atmete tief ein und wich Blagas Blick aus, der nachdenklich auf ihm ruhte. »Es gibt etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen muß, Tante Blaga«, begann er. »Ich wollte heute nachmittag zu Ihnen kommen und hatte schon draußen geparkt. Und dann sah ich plötzlich, wie zwei Kerle eine junge Frau, die hier aus dem Haus kam, in ihren Wagen zerrten. Diese Frau … sie sah ein bißchen aus wie du – wie Sie – und wie Ewa.« Todor schluckte. Er drückte sich wahrscheinlich wenig verständlich aus. »Ich meine, die Haarfarbe hat sie wie Ewa. Und die Augen wie Sie – na ja, Sie haben ganz helle Augen, und diese Frau hat braune, aber der Blick, wie wenn man auf den Grund sehen könnte. Und wie bei Ewa.« Blaga wandte sich zum Fenster. »Sie sieht mir ähnlich?« fragte sie leise. »Sie hat mich an Ewa erinnert. Ein wenig. Und an Sie.« Todor wartete ungeduldig. »Tante Blaga, das andere ist das größere Problem. Zwei Kerle haben sie in einen Wagen gezogen. Ich bin ihnen gefolgt. Sie halten sie in einem Haus am Stadtrand fest. Und Kolew, Juri Kolew ist in die Sache verwickelt.« Blaga erstarrte, die Erleichterung wich und Angst flutete über sie hinweg. »Bist du sicher?« 132
»Natürlich. Und – eben, als ich bei Ihnen klingeln wollte, kam mir einer von den beiden Typen entgegen. Er muß hier vor Ihrer Tür gestanden haben.« Blaga fühlte sich mit einem Mal schwindelig. Das Kratzen und Schaben an der Tür. Jemand hatte versucht, in die Wohnung einzudringen. Todor war dazugekommen und hatten diesen Jemand gestört und verjagt. Kolew. Alexina. Augen wie Ewa. Todor. Todor, der Frau und Kind hatte. Kolew, der unbarmherzig seine Ziele verfolgte. Handeln. Beim dritten Klingeln hob jemand ab. Sie hörte Marinas verschlafene Stimme. »Ja?« »Marina?« »Blaga, um des heiligen Himmels willen, was ist passiert!« Blaga konnte hören, wie Marina plötzlich hellwach wurde und mit ihrer Bettdecke raschelte. »Ich kann dir im Augenblick nichts erklären. Nur, daß wir deine Hilfe brauchen.« »Und wer ist wir?« »Todor Kanew und ich.« »Und wer ist Todor Kanew?« Marinas Stimme hörte sich mißtrauisch an. »Der kleine Todor, von früher. Egal, Marina. Wir brauchen dein Auto, deine Datscha und deine Hilfe.« »Jetzt?« »Ja. Marina. Bitte.« »Klar. Blaga, hast du getrunken?« »Du weißt, ich trinke nie über den Durst. Todor hat eine Frau und einen kleinen Sohn. Beide sind in Gefahr, von Juri Kolew auf die ein oder andere Weise tyrannisiert zu werden. Bitte hole sie ab und bring sie nach Dragalewsi. Dann komm zurück,
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verlasse deine Wohnung nicht mehr und warte ab, bis du von mir hörst.« Einen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung. »In Ordnung. Wo wohnen Frau und Sohn?« Blaga reichte Todor den Hörer, der Marina die Adresse durchgab und sich überschwenglich bedankte. Blaga holte ihre Jacke und wechselte die Schuhe. »Hast du ein Auto?« »Ja, draußen …« »Fahren wir dahin.« »Wohin.« »Zu diesem Haus.« »Gut.« Todor klapperte schon ungeduldig mit dem Zündschlüssel. Blaga packte die Akte in ihre Tasche. »Gehen wir.« Sie verließen das Haus. Wie Diebe in der Nacht, dachte Blaga, und wenn dieser Satz nicht schon so oft durch die Federkiele von Krethi und Plethi gewandert wäre, hätte sie ihn originell gefunden. Sie liefen rasch zu Todors Wagen, Todor hielt Blaga die Tür auf, was sie für einen Moment zum Lächeln brachte, ließ den Motor an, fuhr los. »Sie war heute bei mir.« »Diese Frau, ja?« »Mir ist ihr Haar aufgefallen. Haar wie Ewas. Es ist genau dieser Braunton. Sie hat mir diese Unterlagen hier gebracht.« Blaga klopfte auf ihre Tasche. »Ich weiß, was du gesehen hast, Todor. Ich weiß es seit heute nachmittag, und seit heute nachmittag habe ich gekämpft.« 134
»Ich stehe in der Akte?« »Genau. Todor Kanew. Man hat dich beobachtet. Zum Wohnungswechsel gezwungen. Ist es das?« Todor nickte, während er sich auf die Fahrspuren konzentrierte. »Heute nachmittag wolltest du zu mir kommen?« »Ich wollte es Ihnen schon lange sagen. Ich … schon bevor Ljuben – starb. Aber ich hatte Angst. Ich fühlte mich als Versager.« Todor bog ab. »Wen hast du gesehen?« »Im kirchengeschichtlichen Museum«, sagte Todor, »im letzten Ausstellungsraum war es.« »Wen?!« »Kolew.« Todor leckte sich über die Lippen, die sich trocken und spröde über seine Zähne spannten. Der blaue Fleck an der Schläfe pochte. »Kolew also. In Ordnung. Und vorhin hast du ihn mit der Entführung dieser Frau in Verbindung gebracht. Und deshalb hast du die Polizei nicht gerufen.« »Kolew kam in einer Limousine zu diesem Haus gefahren, kaum daß das Mädchen dort abgeliefert worden war. Vielleicht eine halbe Stunde später. Er stieg aus und ging hinein.« Blaga spürte Kopfschmerzen und Schwindel. Ich bin 68 und fahre mit meinem ehemaligen Ziehkind, wenn man so will, durch die Nacht, auf der Suche nach einer entführten deutschen Frau, die mir vor einigen Stunden eine Akte gebracht hat – die Akte meiner Tochter Ewa. Ewa ist von Kolew umgebracht worden und Kolew hat … Sie durchschaute es. Mit einem Mal. Das kann alles nicht wirklich sein, dachte Blaga. Ich in diesem Wagen … was ist das überhaupt für ein Auto? Ist das Traum? Wirklichkeit? 135
»Todor, kann ich dir vertrauen?« Er bejahte es, und sie glaubte ihm. Von dem Augenblick, da er vor der Tür gestanden hatte. Derselbe unschuldige Ausdruck im Blick. Den Kopf leicht gesenkt, als fühle er sich immer kleiner als die anderen, dümmer, unbedeutender. Todor blendete das Licht ab und ließ den Transporter langsam den Hügel hinaufkriechen, an dessen Ende er wendete. »Wenn man hier nach rechts sieht, dann kann man das Haus gerade noch erkennen. Es ist das letzte in der Reihe.« Blaga stieg aus und tappte zu der Abzweigung. Flach duckte sich der Bau an den Hügel. Das Gestrüpp auf beiden Seiten der schäbigen Straße lebte. Geraschel drang an ihre Ohren. Sie gruselte sich. Blaga setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. »Was machen wir hier?« Todor zuckte mit den Schultern. »Beobachten, was passiert.« Blaga suchte in ihrer Tasche. »Ich beobachte. Du kannst schlafen. Wir brauchen alle Kräfte, nicht wahr?« »Vielleicht haben sie sie auch schon weggebracht«, mutmaßte Todor. »Das glaube ich nicht«, erwiderte Blaga. Todor lehnte sich zurück und versuchte, einzuschlafen. Unruhig warf er den Kopf hin und her. Blaga betrachtete besorgt den riesigen violetten Fleck. Das sah nicht schön aus. Hoffentlich hatte Todor keine Gehirnerschütterung davongetragen, und tat nun so, als sei alles in Ordnung. Ein Motorengeräusch schreckte sie aus ihren Gedanken. Ein Wagen näherte sich, schlich leise heran. Eine Limousine strahlte Todors Transporter an und bog dann ab. Blaga saß versteinert da. »Todor, ein Wagen.« 136
Er war sofort wach, sprang auf den Weg und huschte durch das Gebüsch am Straßenrand davon. Blaga spürte ihr Herz schlagen. Wenn ich das hier überlebe, dachte sie, dann werde ich wohl an eine Kur denken müssen. Unbedingt. Wie war das? Ich will achtzig werden? Vielleicht muß ich das revidieren. Wenig später rollte die Limousine wieder an ihnen vorbei, nahm den Weg zurück in die Stadt. Blaga sah eine zweite Person neben dem Fahrer sitzen. Todor war nicht zurückgekommen. Gemeinsame Sache mit Kolew würde er doch nicht machen? Sie in eine Falle locken? Und wozu? Weil sie es jetzt wußte? Kolew hatte Todor mit Drohungen ausgeschickt, um sie, Blaga, unschädlich zu machen, nachdem sie die Akte bekommen hatte und nun wußte, was Sache war. – Berow, der angehende Berater im Außenministerium. Sie stieg aus dem Wagen, ihre Tasche an sich gepreßt. »Todor?« rief sie halblaut, »Todor?« Sie tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit dieses Wäldchens. Ich, Blaga, die Eselin. Gleich habe ich ein Messer im Rücken. Er stand hinter ihr. Blaga schrie auf und riß die Arme hoch. Verteidigen, solange es geht. Ihre Tasche fiel zu Boden. »Tante Blaga!« flüsterte Todor. Blaga lehnte sich an einen Baumstamm. »Sie trauen mir nicht, oder?« Sie atmete vorsichtig ein und aus, um den Schmerz in ihrer Brust vergehen zu lassen. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.« Er sah sie an, mit seinen Hundeaugen. Traurig. 137
»Kolew ist in die Limousine gestiegen und abgefahren. Die Frau haben sie nicht mitgenommen. Aber sicher ist jemand im Haus geblieben und paßt auf sie auf.« Todor nahm Blaga vorsichtig am Arm und führte sie zu seinem Wagen zurück. Sie lehnte sich an die Beifahrertür. Tränen konnten im Kopf steckenbleiben und den Weg nach außen nicht finden. Dann entstand ein Gefühl von Hohlheit und Entsetzen, Hände und Füße wurden kalt. Als zöge das Leben sich zurück. »Setzen Sie sich doch, Tante Blaga«, sagte Todor eindringlich, schob sie ein wenig zur Seite und öffnete die Beifahrertür. Er half Blaga, hinaufzuklettern. »Sie haben kalte Hände.« Blaga nickte. »Ich weiß. Und weißt du, was das schlimmste ist? Ich habe keinen einzigen guten Gedanken, um sie zu wärmen.« Todor betrachtete sie von der Seite. Er spürte, wie er sie vermißt hatte. Und er empfand etwas anderes, neues. Früher war Blaga die Starke gewesen, die handelte und wußte, was richtig und falsch, gut und schlecht war. Heute wirkte sie schwach. Das Alter stand ihr gut, fand Todor, aber es hatte ihrem Gesicht, ihrer ganzen Statur etwas Hilfloses gegeben. Er würde nun einspringen müssen. Er krabbelte hinter das Lenkrad und kramte hinter seinem Sitz eine Decke hervor. »Es ist eine kalte Nacht«, sagte er schüchtern. Blaga drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Du hast recht. Danke.« Sie legte sich die Decke über ihre Knie und lehnte den Kopf zurück. »Ich werde wach bleiben und aufpassen«, versicherte Todor und beobachtete, wie Blagas Kopf zurücksank und ihre Atemzüge länger und regelmäßig wurden. 138
21. Sofia, 8.5., früher Morgen Kolew raste. Er kam mit Ron nicht zurecht. Dieser Esel hatte sich doch glatt verfahren, als er ihn abholen wollte, kam viel zu spät. Nikolai hatte mehrmals angerufen, um zu erfahren, was los war. Schließlich war er doch noch in die Wohnung gekommen, nachdem Blaga Petkowa und ein junger Mann, den Nikolai zuvor im Treppenhaus getroffen hatte, das Haus verlassen hatten. Kein Zweifel, das konnte nur Kanew sein. Auch hier mußte Kolew fluchen. Nikolai hätte in diesem Fall herausfinden müssen, wohin sie fuhren. Das wäre wichtiger gewesen, als in die Wohnung einzudringen. Er hatte nicht einmal aufgepaßt, mit welchem Wagen sie aufgebrochen waren. Wahrscheinlich war er für einen Moment eingenickt. Fehler über Fehler. Ron hatte ihn schließlich abgeholt und in die SchejnowoStraße gebracht, wo er auf Nikolai stieß, der in der Wohnung natürlich nichts gefunden hatte. Dann klingelte sein Handy. »Hallo?« »Karwanbassijew.« Das war das schlimmste. Wenn der Dachs seinen Namen sagte. »Mit der Akte wird es wohl nichts mehr?« Warum, zum Teufel, gab es eigentlich keine Kopie? »Ich habe sie«, sagte Kolew. »Ich bringe sie Ihnen vorbei. Morgen früh. Oder gleich, wenn Sie wollen.« »Gleich. Das wäre mir sehr angenehm«, erwiderte Karwanbassijew in liebenswürdigem Tonfall. »Gut.«
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Kolew setzte sich neben Nikolai in den Toyota. »Paß auf. Morgen früh laßt ihr das Mädchen gehen. Sagen wir, um acht.« »Ja.« »Du beobachtest die Wohnung der Petkowa. Wechsle dich mit Ron ab. Wenn sich etwas tut, dann bleib an ihr dran. Und an diesem Kanew. Ich lasse von mir hören.« Nikolai stieg schweigend aus und verschwand in der Nacht. Kolew nickte zufrieden. Er würde gewinnen. Vorsichtig sah er sich um, nahm die Beretta heraus, kontrollierte das Magazin. Karwanbassijew, Hernany, Petkowa, Kanew. In dieser Reihenfolge. Im Laufe des morgigen Tages würde er ein Flugzeug nach Zürich nehmen, nach Bern oder nach Genf. Ganz egal. Man würde ihn schlicht nicht finden. Ron und Schan waren zu dämlich, um zu verstehen, was Sache war. Über Nikolai würde er noch nachdenken. Entweder ihn nachholen, oder … er war sich noch nicht sicher. Er steuerte den Wagen zurück in Richtung Bojana. Gegen zwei würde er bei Karwanbassijew sein, dem Fädenzieher. Chef des Marionettentheaters, dachte Kolew bitter. Er erwartete ihn, und es würde keine Probleme geben, ihn zu erschießen. Karwanbassijew war ein Einzelgänger, der sich selbst gerne als Eremiten bezeichnete. Er schickte sein Wachpersonal abends weg, weil er am liebsten nachts arbeitete und Störungen von Leuten, die in seinem Haus oder Garten auf- und abliefen, nicht ertragen konnte. Er wolle allein sein. Was für ein Unsinn. Nun, gut für Kolew. Er haßte den Dachs. Aus ganzer Seele und tiefstem Herzen. Der Dachs hatte ihn gedemütigt. Ein Mädchen zu töten. Der größte Fehler. Aber auch die Deutsche hatte ihn zum Versager gemacht – wie Ewa. Mit dieser Festigkeit. Auch sie würde bezahlen. Morgen um acht würde er in der Nähe seines Hauses warten. Dann ließe Schan das Mädchen raus. Sie würde ihn 140
geradewegs zu Petkowa führen, die, klug war sie wohl, vorausschauend ihre Wohnung verlassen hatte. Und dann Kanew. Dessen dunkle Augen er zeit seines Lebens gefürchtet hatte. Auch ihn würde er finden. Dann war endlich ein Ende. Die Akte konnte wer weiß wo auftauchen. Neitscho würde er verpfeifen. Er brauchte ihn und seine halbherzigen Gefälligkeiten sowieso nicht mehr. Hätte er doch schon vor Tagen das Land verlassen. Der Haß wollte ihn auffressen. Das war am schlimmsten. Jemanden zu hassen mündete unweigerlich in Selbsthaß. In Versagensgefühle. Griff die Gesundheit an. Jetzt würde er wieder töten, aber war es nicht zum zweiten Mal Karwanbassijews Schuld? Berow, der Schisser. Er hatte nie die schmutzige Arbeit gemacht. Sein Verhältnis zu sich und seiner Umwelt dürfte ungetrübt sein. Das Kind damals – ein Unfall. Dafür konnte niemand irgendwas. Er parkte den Wagen zwei Straßen von Karwanbassijews Anwesen entfernt und ging gemächlich die letzten Meter. Am Tor betätigte er das Rufsignal der Gegensprechanlage. Seine Stimme. »Kolew hier.« Der Summer ertönte. Karwanbassijew war wahrhaftig unvorsichtig, dachte Kolew und mahnte sich sofort selber, nicht zu sehr von oben herab zu denken. Unterschätze niemanden. Das war seine Losung. Auch nicht den Dachs, der nicht einmal Wachpersonal für die Nacht eingestellt hatte. Kolew schritt langsam auf die Haustür zu und beobachtete unmerklich die Umgebung. Nichts Auffälliges. Keine Besonderheiten. Kein Hund. Als er den Treppenabsatz an der Haustür betrat, schaltete sich ein gleißender Scheinwerfer ein, der ihm direkt ins Gesicht leuchtete. Kolew blieb ungerührt stehen. Er war angemeldet.
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Die Haustür wurde geöffnet. Der Dachs persönlich. Kolew setzte sein schönstes Lächeln auf. »Verzeihen Sie«, begann er, als der Dachs ihn hereinwinkte. »Gehen wir nach oben«, erwiderte Karwanbassijew und drehte sich um, ohne jedes Mißtrauen, ohne jede Vorsicht. Er ist seiner Sache so sicher, dachte Kolew spöttisch. Er sieht mich förmlich an der Angel zappeln. Karwanbassijew öffnete die schwere, lärmgedämmte Tür, die zu seinem Büro führte. Noch besser. Kein Geräusch würde nach außen dringen. Karwanbassijew wandte ihm noch immer den Rücken zu. »Whisky? Wodka?« Er nahm eine Flasche von der Hausbar. »Wodka«, antwortete Kolew. »Und dann wahrscheinlich Lemon, ja?« Karwanbassijew wandte sich um und lächelte. Ein Goldzahn kam zum Vorschein. Kolew spürte Argwohn. Warum lächelte der Dachs? Soweit er sich erinnerte, hatte er nie gelächelt. Ich sollte ihn jetzt erschießen. Jetzt gleich. Kolew zögerte. Er nahm das Glas mit dem Wodka Lemon entgegen und trank einen Schluck. »Sicher können Sie mir sagen, warum Sie die Akte wieder nicht dabeihaben«, begann der Dachs. Kolew erstarrte. »Ich habe sie aber bei mir«, sagte er und griff in seine Jacke. Das kalte Metall beruhigte ihn, das Gewicht der Beretta vermittelte ihm Stärke. Er war überrascht über Karwanbassijews erstauntes, immer noch lächelndes Gesicht, als er die Waffe direkt auf seinen Kopf richtete und abdrückte. Karwanbassijews Kopf flog nach hinten, Blut und Wodka spritzten an die Wände. Kolew wandte den Blick sofort ab und steckte die Waffe weg. Dann trank er seinen Wodka Lemon aus und stieg mit angehaltenem Atem über Karwanbassijews Leiche, um sich nachzuschenken. 142
Das brauchte er jetzt. Sonst würde ihm schlecht werden. Er trank direkt aus der Flasche, als er merkte, daß er es nicht fertigbrachte, sich Wodka in ein Glas einzugießen. Seine Hand zitterte. Die regelmäßigen Schießübungen taten gut. Aber sie reichten nicht aus. Er würde fortan öfter trainieren müssen. Er taumelte zurück und lehnte sich an den Schreibtisch. Es wurde Zeit, daß er verschwand. Hernany. Petkowa. Kanew. Einen kleinen Schluck Wodka konnte er sich noch gönnen. Er würde ein wenig im Auto schlafen. Die Sprechanlage summte. Kolew machte einen Satz und stolperte über Karwanbassijews rechtes Bein, trat in die Blutlache. An einem kleinen Kästchen an der Wand leuchtete ein gelber Knopf auf. »Ich nehme an, das war es, Tschawdar«, tönte eine Stimme, ölig und schwer. Kolew stellte die Wodkaflasche ab. »Ich komme dann wohl mal nach oben«, sagte Swetan Berow. Das Knistern in der Sprechanlage verstummte, und das gelbe Licht erlosch.
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22. Sofia, Kolews Haus am Stadtrand, 8.5., 7.00 Uhr Alexina schlug die Decke zurück und stand vom Sofa auf. Sofort richtete sich ihr Bewacher, Schan, in seinem Sessel bei der Tür auf. Alexina deutete in Richtung Flur. »Toilet«, sagte sie. Schan erhob sich schnaubend und hustend und positionierte sich vor der Badezimmertür. Es gab keine Möglichkeit, sie von innen zuzuschließen, aber Alexina interessierte sich gar nicht dafür. Sie richtete all ihre Sinne auf Blaga. Denn nach Kolews überstürztem Aufbruch nach Mitternacht hatte ihr geschwant, was anstand. Er würde Blaga aufsuchen, nachdem er sich denken konnte, daß sich dort die Akte befand. Sie schüttelte den Kopf und betrachtete ihr blasses Spiegelbild. Die letzten Wochen hatten vor allem darin bestanden, sich auf den Besuch bei Blaga Petkowa vorzubereiten und sich vorzustellen, wie sie reagieren würde. Alexina spürte heftige Schuldgefühle. Sie hatte sogar nach ihrer Abreise von Zuhause noch gezweifelt, ob es der richtige Weg war, nach Sofia zu reisen und eine 33 Jahre alte Geschichte aufzurühren. Wunden mochten verheilt sein. Aber gleichzeitig empfand sie dabei etwas als störend. Vielleicht heilten Wunden nicht, wenn eine große Lüge auf ihnen lastete? Alexina war durch Sofia gelaufen und gelaufen, auf der Suche nach Blagas Straße, und selbst, nachdem sie sie gefunden hatte, mußte sie noch Runde um Runde drehen, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Besser die Wahrheit.
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Kolew mußte sie durch einen dummen Zufall irgendwo gesehen haben. Sie war sich sicher, daß auch ihr Hotelzimmer bereits wieder durchsucht war. Und wenn Kolew auch dort keine Akte fand, dann mußte er Blaga verdächtigen. »Verdammt«, flüsterte sie. Schan klopfte ungeduldig an die Tür. »Moment!« Alexina betätigte die Klospülung und drehte das Wasser auf. Sie verspürte nagenden Hunger, nachdem sie von den Leckerbissen, die Schan abends gebracht hatte, kaum gekostet hatte. Wie würde sie hier herauskommen? Würde Kolew sie umbringen, wie Ewa? Ihre Träume, die Erstickungsgefühle. Sie trat auf den Flur hinaus, wo Schan unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. »Can I have coffee?« fragte sie, hoffend, daß er Englisch verstand. Schan murmelte etwas und verschwand hinter einer Tür, die am anderen Ende des Flures lag, direkt gegenüber der Eingangstür. Sie würde nicht fliehen können. Kein Lichtstrahl drang in dieses Haus, alles schien verrammelt, versperrt. Panik im Bauch. Sie atmete, so tief sie konnte, und ging Schan nach. Er sah nur kurz auf, als sie die Küche betrat. Sie setzte sich an einen Holztisch. Alles war sehr gepflegt. Schöne Holzmöbel zierten das ganze Haus, an den Wänden sah sie Teppiche, die sie an altbulgarische Wohnungen im Freilichtmuseum in Plowdiw erinnerten. Schan stellte Zucker und Milch, eine Tasse und einen Teller mit Kuchen vor sie hin und deutete auf die Kaffeemaschine, die noch fröhlich blubberte. Müdigkeit, Panik. Alexina verbot sich zu denken. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht. Zuerst hatte sie Schan beobachtet, der eine Zeitung gelesen hatte und schließlich einge145
nickt war, doch offensichtlich konnte er sich hervorragend programmieren, denn immer, wenn Alexina sich bewegte, fuhr er auf und beobachtete sie eine Weile aus zusammengekniffenen Augen. Später hatte sie immer wieder, kaum war sie eingeschlafen, Hände an ihrer Kehle gespürt, die sie würgten. Aber nicht Schans Hände, sondern andere, kältere. Schan wartet wohl auf seine Ablösung, dachte Alexina, und die kann nur aus dem Brillenfritzen bestehen. Ein heftige Welle Angst breitete sich in ihr aus. Nikolai, so hieß er wohl, war ihr sehr viel unangenehmer als Schan. Berechnender, eisig. Schan hätte sie unter anderen Umständen als nett empfinden können. Nikolai nicht. Er erschien ihr mit seiner hämischen, herablassenden Perfektion brutal. Ein Befehlsempfänger mit großer Eigenverantwortung, vermutete Alexina. Der Kaffee war fertig. Schan stellte die Kanne neben Alexina auf den Tisch und setzte sich zu ihr. Sein Handy klingelte. Er meldete sich kurz, sagte ein paarmal »Da! Da!« und steckte das Telefon wieder weg. »Eat«, sagte er, auf den Kuchen zeigend. Alexina winkte ab. Sie versuchte, den Kaffee zu trinken, ohne daß ihr Magen revoltierte. Die Anspannung saß vor allem in ihrem Magen. Als müsse er bei ihrer mühsam aufrechterhaltenen äußeren Ruhe vertretungsweise durchdrehen. Schan nahm ein Messer und schnitt ein Stück von dem Kuchen ab, das er ihr wortlos auf den Teller legte. Er tat es auf eine freundliche, fast höfliche Weise. Vielleicht spricht er nicht, weil er nicht weiß, in welcher Sprache er mit mir reden soll, dachte sie und probierte von dem Kuchen. Er schmeckte hervorragend. Alexina war hungrig. Sie wußte nicht, wie es weitergehen würde – sie brauchte Kraft. Schan trank ebenfalls Kaffee. Als die Kanne leer wahr, deutete er mit einer fragenden Geste auf die Kaffeemaschine. 146
»No«, sagte Alexina. »Thank you.« Er stand auf, spülte Tassen und Teller, putzte den Tisch und die Kaffeemaschine ordentlich sauber und fegte die Krümel auf dem Küchenboden zusammen. Alexina sah ihm ungläubig zu. Dann blickte er auf seine Armbanduhr und hielt sie Alexina unter die Nase. »You go«, sagte er, und zeigte mit einem riesigen Zeigefinger auf die 12. Alexina sah ihn erstaunt an. Es war zwanzig vor acht. »You go«, sagte Schan wiederum, lauter diesmal. Er nahm ein Blatt Papier und malte ein Zifferblatt darauf, das acht Uhr zeigte. »Okay«, sagte Alexina. »I go.« Schan nickte zufrieden, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Mülleimer. Er verließ die Küche, ging den Flur entlang, schloß die Haustür auf. Dann öffnete er die Tür zum Keller und verschwand. Wenige Minuten darauf hörte sie, wie ein Motor ansprang. Es mußte noch eine Garage geben, vermutlich hinter dem Haus. Ein Wagen fuhr vorbei, dann war alles still. Sie war allein. Alexina spürte wieder das Zittern. Wenn, wie sie vermutete, Kolew angerufen hatte und angeordnet hatte, sie gehen zu lassen, konnte das nur bedeuten, daß er die Akte gefunden hatte. Er war also bei Blaga gewesen. Alexina wollte schreien, aber es kam kein Ton. Kurz, nur einen Sekundenbruchteil, tauchten vor ihren Augen goldene Gesichter auf. Sie traute ihm zu, Blaga umgebracht zu haben. Wenn er so erpicht darauf war, die Akte wiederzubekommen … Alexina begann, hysterisch zu schluchzen. Sie griff nach ihrer Tasche. Sie würde hier verschwinden, sofort. Sie mußte – Blaga! Ich habe nur an Wahrheit gedacht. Was für eine Idiotie! Was bedeutete schon Wahrheit, wenn man jemanden damit in Gefahr 147
brachte. Nur Wahrheit, ohne Vernunft … Sie hätte nicht kommen dürfen. Vielleicht hatte Blaga deshalb so eine deutliche Skepsis an den Tag gelegt. Alexina lief zur Eingangstür. Sie holte tief Atem. Sie wußte nicht, wo sie war, aber irgendwie mußte sie zurückfinden in die Schejnowo-Straße, um nachzusehen, was Blaga geschehen war. Sie nahm die Türklinke in die Hand, ohne sich um die Uhrzeit zu kümmern. Sie gab tatsächlich nach. Helles Morgenlicht flutete in den dunklen Flur. Sie sah eine schäbige Straße, bröselige andere Häuser, Gestrüpp und ein Wäldchen gegenüber. Das konnte doch nicht Sofia sein? Wieder Panik. Wo hatte man sie hingefahren? Sie blieb stehen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Angenommen, Kolew hatte die Akte nicht gefunden, weil Blaga fortgegangen war und sich irgendwo versteckt hielt. Dann erwartete er wohl, daß sie, Alexina, ihn zu Blaga führte. Sie hängte sich ihre Tasche quer über die Schulter und lief los, die Tür fiel leise ins Schloß. Ihre Füße rutschten in dem Kies, und sie war froh, als sie die asphaltierte Straße erreichte, wo sie rennen konnte. Sie lief bis zu einer Abzweigung, wandte sich nach links und spähte in das Wäldchen. Sie mußte die andere Richtung nehmen. Vielleicht könnte sie eine Telefonzelle finden und sich ein Taxi rufen. Jemand trat aus dem Gebüsch am Straßenrand. Die Sonne blendete und Alexina fragte sich, plötzlich ganz ruhig, ob Kolew sie hier, auf offenere Straße hinrichten lassen würde, wo er doch in seinem dunklen Haus mehr als genug Gelegenheit dazu gehabt hatte. Die Person kam auf sie zu. »Alexina?« Sie schirmte die Augen mit beiden Händen ab. Die Stimme war noch neu, aber doch vertraut.
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Blagas Schatten fiel auf sie, als sie auf sie zukam, aufgelöst lachte, etwas sagte, was Alexina nicht verstand, und schließlich vor ihr stehenblieb. Alexina spürte Erleichterung in ihrem Kopf, die ihr Herz noch nicht erreichte. Blaga stand hier vor ihr, lebendig. Kolews Beretta blitzte kurz in ihrem Gedächtnis auf. Er hatte Blaga nicht erschossen. »Oh Gott!« sagte Alexina. Blaga nahm sie in die Arme. Sie fühlte große Ruhe. Eben noch hatte Todor den Transporter gestartet, um dem klapprigen VW-Golf zu folgen, der überraschend hinter dem flachen Haus hervorgekommen war. Blaga war ausgestiegen, nur für den Fall, daß sich etwas tat, wie sie Todor gesagt hatte, und sich am Rand des Wäldchens in den Schatten gesetzt. Und nun spazierte dieses Mädchen einfach so aus dem Haus heraus. Blaga spürte, daß sie weinte. »Kommen Sie, gehen wir ein bißchen beiseite.« Sie führte sie durch das Gestrüpp am Weg und zu einer lichten Stelle unter den Bäumen. Überall Müll, zertretene Zigarettenschachteln, Getränkedosen. »Setzen Sie sich.« »Wie kommen wir hier weg?« »Entweder Todor oder Marina werden uns abholen.« Alexina nickte. Blaga betrachtete sie. Sie sah blaß aus, übernächtigt. Wahrscheinlich wie ich selbst, dachte sie, die ich mit 68 die Nacht in einem Transporter durchmache. Ich habe alles falsch gemacht, sagte Alexina, aber nur zu sich selbst. Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken weiterzugeben. Statt dessen fragte sie: »Was ist passiert?« »Im Grunde nicht viel. Sie kennen doch die Geschichte besser als ich.« 149
Alexina glaubte, Ablehnung, Kritik aus ihren Worten zu hören. »Es … tut mir leid.« »Sie wissen, wer Todor Kanew ist?« »Der Zeuge?« »Genau. Bis heute nachmittag war er in meiner Erinnerung schon so blaß, daß ich zunächst nicht einmal den Namen einordnen konnte. Aber es kam doch alles bald wieder. Todor war eine Art Ziehkind von mir. Von seiner Mutter vernachlässigt. Entweder durstig oder verfroren, je nach Jahreszeit. Er wohnte in der Nachbarschaft. Aber nach … dem Mord haben sie ihm und seiner Mutter eine andere Wohnung zugewiesen. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Im Grunde habe ich ihn und Ewa gleichzeitig verloren.« Alexina bemühte sich, die Tränen wegzuschieben. Blaga sah es, aber sie sagte nichts. Ihre Gefühle gegenüber Alexina waren ihr nicht klar. ›Diese Frau … sie sah ein bißchen aus wie du – wie Sie – und wie Ewa.‹ Todors Worte hallten in ihrem Kopf. Blaga spürte Wut auf einen Eindringling, der ihr Leben erneut dem Erdboden gleichgemacht hatte. Der verursacht hatte, daß sie nun hier im Wald saß, hungrig, durstig, ungewaschen, übermüdet. Und da sagte Todor, die Frau sähe ihr ähnlich. ›Ich meine, die Haarfarbe hat sie wie Ewa. Und die Augen wie Sie.‹ Blaga sah Alexina direkt ins Gesicht. Sie konnte keine Ähnlichkeit erkennen, aber sie spürte etwas. Zuneigung, in die ihr Zorn mündete. Sehnsucht, dieses Haar zu berühren. Weil es wie Ewas war? »Sie haben die gleichen Haare wie meine Tochter«, sagte sie. »Und das wußten Sie sicher nicht.« Alexina sah sie erstaunt an. Erschrocken. Vielleicht über die Härte in ihrer Stimme? »Stimmt das?« 150
»Aber ja. Ewa trug ihr Haar allerdings lang. Eine dunkelbraune, dicke, wie sagt man das, Mähne.« Alexina wandte den Blick von Blaga ab. Sie verabscheut mich. Und sie hat allen Grund. Blaga betrachtete sie von der Seite. Da stritt Härte mit Freundlichkeit in ihr. Autarkheit mit der eigenen Sehnsucht nach Nähe. Ihr Blick fiel auf Alexinas Hände, die sie ineinander verkrampft zwischen ihre Knie geschoben hatte. Blaga legte ihre rechte Hand auf Alexinas. Sie fühlten sich an wie Eis. »Sie haben ganz kalte Hände.« »Ich … das ist nur, weil ich so einen niedrigen Blutdruck habe.« »Ich würde sagen, das ist, weil Sie frieren«, widersprach Blaga. Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und legte sie Alexina um die Schultern. »Nehmen Sie ruhig. Mir ist immer warm. Fast zu warm.« »Danke.« Ein heiseres Flüstern, mehr nicht. Alexina hörte ihre Mutter. Warum nimmst du dir auch nichts Warmes zum Anziehen mit, es kühlt sich im Frühjahr eben doch noch schnell ab. Und außerdem soll man vor Juni nicht draußen auf dem blanken Boden sitzen. Blaga sah die Träne, aber sie verbot sich, sie abzuwischen. Statt dessen stand sie auf und vertrat sich die Beine. »Blaga?« »Ja?« »Bitte, verzeihen Sie mir?« Blaga sah in die andere Richtung. Sie wußte nicht, ob sie verzeihen wollte, ob sie es konnte, und sie wußte nicht einmal, ob es etwas zu verzeihen gab. Ljubens Worte: Werde nie bitter. Er hätte diese Situation mit seiner charmanten und aufgeschlossenen Art sicher besser bewältigt. 151
Sie war immer die Spröde gewesen. Die Ruhige, die Mühe hatte, sich auszudrücken. Die die Dinge mit sich selbst ausgemacht hatte. Die sich bisher nur drei Menschen in ihrem Leben geöffnet hatte: Ewa, Ljuben und Marina. Und wenn sie es recht bedachte, doch nur Ljuben und Marina. Ewa zählte nicht richtig, sie war noch ein Kind, und es war einfach zu lange her. Schließlich, so mußte sie sich eingestehen, gab es immer Angelegenheiten, die man seinem eigenen Ehemann nicht sagte, nur der besten, einen, einzigen Freundin. Manchmal überkam Blaga rasende Angst, was geschehen würde, wenn sie Marina auch noch verlöre. In ihrem Alter konnte man mit allem rechnen. Sie verbot sich den Gedanken sofort. Tägliches Training gegen Bitternis und Panik, dachte sie. Blaga betrachtete Alexinas aufgerissene Augen. Ihr eigenes Gesicht, das sich im Fenster spiegelte. Sie sah sich schreien. »Ich glaube nicht, daß es etwas zu verzeihen gibt«, sagte sie zu Alexina. Und die Augen wie Sie. Blickte sie da in ihre eigenen Augen? Direkt auf den Grund? Alexina weinte wieder. Ganz leise, ohne einen einzige Laut. Blaga sah sie an. Ich bin zu streng, oder, fragte sie sich selbst. Alles in mir ist wund, chaotisch, verschoben und verstellt. Aber wie sollte sie das in einer fremden Sprache sagen? Wie sollte sie den Mut finden, es überhaupt zu sagen? Ihr fiel ein, wie unterschiedlich Kinder weinen konnten. Weinen, wenn sie sich selbst nicht verstanden, wenn sie hungrig waren, sich einsam fühlten, lustlos, erschöpft oder trotzig waren. »Es ist nur die Erschöpfung«, sagte sie zu Alexina und ließ sich wieder neben ihr auf dem Waldboden nieder. »Es ist nur die Erschöpfung.« Alexina preßte die Stirn auf ihre Knie und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören, aber sie schaffte es nicht. Sie fühlte, wie 152
Blagas Hand durch ihr Haar strich. Nur ganz leicht und nur kurz. Es mußte der Wind gewesen sein. Aus der Ferne näherte sich Motorengeräusch. Alexina fuhr hoch. »Wenn Kolew wiederkommt?« Blaga sah besorgt aus. Dann bog ein grüner Transporter um die Ecke. »Todor«, rief sie erleichtert. Der Wagen stoppte und ein Mann sprang heraus. Blaga rief ihm etwas zu. Alexina starrte ihn erstaunt an. Sie hatte mit Anneliese gerade das kirchengeschichtliche Museum verlassen, sie überquerten die Straße – da hatte er ihr nachgeschaut. Das war er doch. »Ich kenne Sie«, sagte Todor in holprigem Englisch. »Ich habe Sie vor dem Museum gesehen!« »Welchem Museum?« fragte Blaga scharf. »Dem kirchengeschichtlichen«, antwortete Alexina. Sie lachte ein dünnes, unsicheres Lachen. Blagas Augenbrauen wölbten sich, und ihre Mundwinkel strebten kurz auseinander, bevor sie rasch wieder zur Ordnung gerufen wurden. »Einsteigen«, sagte sie. »Wir fahren zu Marina.«
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23. Sofia, später Abend, 7.5. Swetan Berow schnaufte die Treppen hinauf. Sein Bauch pendelte schwer zwischen seinen Oberschenkeln. Die Fettleibigkeit war auch ein Resultat des westlichen Lebensstils, den Berow verachtete. In seinen jungen Jahren war er schlank gewesen und durchtrainiert, hatte sich als Sportfunktionär nicht lumpen lassen. Er war ein guter 100-Meter-Läufer gewesen. Heute schaffte er kaum Karwanbassijews Treppenaufgang. Er würde von nun an den Alkohol weglassen, weniger fettes Fleisch essen. Jetzt konnte vieles anders werden – nicht alles, vieles, Berow wurde niemals unrealistisch. Jetzt, wo Kolew endlich ausgeschaltet war, stand seiner Berufung ins Außenministerium nichts mehr im Wege. In seinem Kopf formten sich bereits die Projekte, die ihm wichtig waren. Er schuldete seinem Bruder einiges. Der hatte eine Papierfabrik und vertraute auf Aufträge aus dem Ausland. Berow verschnaufte ein paar Sekunden und hielt sich am Treppengeländer fest. Wirklich, Kolew – der glaubte doch wohl nicht, daß er mit seinen Eskapaden bei Karwanbassijew durchkam. Meinte er noch, zu den Großen zu gehören, die die Geschicke des Landes – und damit ihre eigenen – lenken konnten? Berow schenkte sich selbst und den Impressionisten an den Wänden ein aufmunternd gemeintes Lächeln. Kolew, der sich weitgehend angefreundet hatte. Dem der Kommunismus so gar nichts bedeutet hatte. Und schließlich war er der letzte der alten Garde, der ihm, Berow, noch gefährlich werden konnte. Der wußte, was damals geschehen war und der es übernommen hatte, die einzige Zeugin auszuschalten. »Auch der Jäger ist manchmal nichts anderes als ein räudiger, struppi154
ger Fuchs«, brummte Berow vor sich hin und tappte weiter die Treppen hinauf, stolz auf seine philosophischen Ausflüge. Außenministerium. Da würde er etwas bewegen können. Er freute sich darauf. Was auch immer Kolew dazu gebracht hatte, diese alten Dokumente zu verlangen … es war ihm nicht gut bekommen, denn es bedeutete wohl, daß er ihm in die Quere zu kommen beabsichtigt hatte. Sich nachinformieren und dann intervenieren, damit man nicht Berow für den Beraterposten gewann, sondern einen anderen … vielleicht sogar Juri Kolew? Berow krauste verächtlich die Lippen. Kolew mußte entweder dumm oder größenwahnsinnig gewesen sein. Das hatte er auch Karwanbassijew gesagt: ›Tschawdar, es ist in gut informierten Kreisen schon herumgegangen, daß ich diese Gelegenheit bekomme, und ich gedenke sie wahrzunehmen. Wenn Kolew sich diese Akte hat kommen lassen, dann deshalb, weil er mich ausbremsen will, und das darf nicht geschehen.‹ Karwanbassijew hatte sich zunächst stur gestellt, er vertraue Kolew und kenne ihn, könne sich nicht vorstellen, daß und so weiter. Aber Berow war es gelungen, ihn umzustimmen. Schließlich sollte Karwanbassijew auch von seinem, Berows Posten profitieren können, am Ende durch einen lukrativen Botschafterstuhl im Ausland? Berow hatte ihn nebenbei gefragt, ob er Paris oder London liebe, und Karwanbassijew hatte verstanden und Rom ins Spiel gebracht. ›Ach, Swetan, einmal war ich in Rom. Petersplatz, Villa Borghese, der Lateranpalast.‹ ›Eine plötzliche Affinität zur Religion?‹ ›Aber nein, zur Kunst, mein Lieber.‹ Berow betrat den Treppenabsatz vor Karwanbassijews Zimmer. Er wunderte sich ein wenig, daß die Tür immer noch verschlossen war, aber vermutlich mußte Karwanbassijew einen Moment warten, um wieder zu sich zu finden. Berow hatte sich 155
nie einen Fehler erlaubt. Er war gut gewesen. Immer. Dieser eine Unfall hätte um ein Haar seinem Leben eine unerwünschte Wendung geben können. Diese vermaledeite Wende, auf die er täglich fluchte, wenn er das Elend der bulgarischen Bürger auf der Fahrt von seiner Villa in Bojana zu seinem Büro und wieder zurück betrachtete. Heute mischten sich eine Menge Leute in die Entscheidungen auf Regierungsebene ein, Journalisten insbesondere, die Swetan am meisten verabscheute. Einer seiner Mitarbeiter hatte ihm doch vor kurzem zugesteckt, daß man in Sofia munkele, er hätte damals diesen Jungen umgefahren. Das ganze würde unvermeidlich eine Menge Aufregung hervorrufen, wenn auch nur das geringste Anzeichen ans Tageslicht käme, daß an diesen Gerüchten ein Quentchen Wahrheit klebte. Berow klopfte ungeduldig an die Tür. »Tschawdar?« Er drückte die Klinke hinunter und schob sich durch die Tür in das Arbeitszimmer. »Berow. Guten Abend. Oder guten Morgen!« Berow blickte in das Gesicht eines schmuddeligen, offensichtlich betrunkenen Juri Kolew, das hinter der Mündung einer Beretta aufragte. »Zum Teufel!« Berow glaubte nicht, was er sah. Karwanbassijews Beine in einer Blutlache. Seinen Oberkörper konnte er nicht sehen, er wurde durch den mächtigen Schreibtischstuhl verdeckt. »Raus, Berow. Es ist Zeit, daß wir unsere Rechungen begleichen.« Berow schritt unsicher rückwärts, einen heftigen Schmerz hinter seinem Brustbein wahrnehmend. »Das darf nicht wahr sein, also kann es nicht wahr sein, also ist es nicht wahr«, sagte er zu sich selbst. Kolew taumelte. Er hatte getrunken, sein Mund stand weit offen. Ihm entströmte ein fauliger, stechender Geruch. 156
»Was willst du, Juri!« versuchte es Berow. »Können wir nicht miteinander reden?« »Du Dreckskerl. Ein Kind töten. Und dafür andere weitertöten lassen. Dafür bist du jetzt dran, und mir tut schon der leid, der hier später aufräumen muß in dieser«, er machte eine ausholende Bewegung, »bescheidenen Behausung. Ja, geh nur weiter.« Berow fühlte, wie er der Treppe, die er eben noch hinaufgekrochen war, gefährlich nahe kam. »Hände weg von den Taschen«, bellte Kolew. Berow hob bedächtig die Hände. »Hast du Probleme? Finanzielle? Wir können das regeln.« »Ich habe keine finanziellen Probleme. Das weißt du genau.« »Kennst du Italien? Rom? Ich kann dir Möglichkeiten eröffnen. Ich kann für dich eintreten, für dich sprechen.« »Bei wem, Berow? Morgen wird alle Welt wissen, was du getan hast.« »Und du, hast du was anderes getan? Ein Mädchen mit einem Elektrokabel erdrosselt, wenn ich mich recht erinnere?« »In deinem Auftrag.« »Das wird schwerlich zu beweisen sein.« Kolew machte eine fahrige Bewegung mit seiner Waffe. Berow wich zurück und spürte, daß er an der ersten Treppenstufe angekommen war. Das durfte nicht sein! Er stand kurz vor dem Ziel! Sollte ihn diese Karikatur eines ehemaligen Genossen hier umpusten? »Hat man dich schlecht behandelt? Ich hielt dich für loyal«, keuchte er in Kolews Richtung. Er würde nicht durchhalten. Sein Puls raste wie verrückt, sein Herz war nicht das beste. »Und nun fallen dir keine Argumente ein, was? Ich habe dich übrigens lange nicht gesehen, ich wußte nicht, daß du ein wenig zugenommen hast.« 157
»Niemand weiß von dem Mord, außer … uns. Worüber regst du dich auf? Ich trete in Kürze meinen neuen Posten an. Dann finden wir etwas für dich. Du solltest dich verändern. Du brauchst eine Anregung.« Berow atmete heftig. Kolew war gekommen, um Karwanbassijew umzubringen, da war er sich nun sicher. Aber hatte er wissen können, daß sich auch er, Berow, im Haus aufhielt? Kaum. Nein, das war undenkbar. Er würde eine Chance haben. Kolew hinhalten, bis jemand vom Wachpersonal kam. Kolew steckte ja voller Haß! Warum nur? Man hatte ihm alle Chancen eingeräumt. Finanzministerium. Das war doch nicht ohne. Und nun – Berow schien es glasklar – trachtete er nach dem Job im Außenministerium, und weil Berow ihn bekommen sollte, wollte Kolew seine Person, wie man das wohl nannte, politisch untragbar machen. »Sie war so schön«, stieß Kolew hervor und preßte die Beretta an Berows Brustkorb. Berow stand starr. Kolew würde seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren können. Er schwankte und spießte Berow mit seinen blutunterlaufenen Augen auf. »Und sie sieht aus wie ihre Mutter.« Sie sieht aus? Wer ist ›sie‹? Das Mädchen von damals? Und wieso sprach Kolew im Präsens? Sie war tot. »Sie ist tot, tot du Affe, wie ihr Vater. Und es gibt zwei Leute, die ihnen hätten nachfolgen sollen: Du und der andere Zeuge. Aber ich war ja nicht darauf vorbereitet, daß deine Dankbarkeit sich eines Tages in Gewalt entladen würde«, fauchte Berow. Ein Geräusch im unteren Stockwerke drang nach oben. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Kolew unsicher. Er ließ die Waffe ein Stück sinken und drehte sich um. Berow nutzte die Zeit. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf Kolew, der zu Boden ging und rückwärts die Treppe hinunterstürzte. Ein Schuß löste sich aus der Beretta, kurz darauf ein zweiter. Berow 158
hatte seinerseits eine Waffe gezogen und auf Kolew gezielt, das Projektil peitschte durch Kolews Hüfte. »Kommen Sie herauf, schnell, ein Einbrecher!« brüllte Berow. Kolew schoß blind in alle Richtung, richtete sich auf und fiel mehr als daß er rannte die Treppe hinunter, über einen offenbar unbewaffneten Wachmann, der zur Frühschicht antrat, auf die Eingangstür zu und durch den Garten. Eine Blutspur wies den Weg. »Nun machen Sie schon«, schrie Berow von oben. »Er hat den Oberst erschossen!« Der Wachmann rannte, um sich seine Waffe zu holen, verließ das Haus, aber Kolew war bereits von der Dunkelheit verschluckt worden. Berow spürte, wie sein Körper Wellen von Schweiß absonderte. Er zwang sich, in Karwanbassijews Arbeitszimmer zurückzukehren und nahm den Hörer vom Telefon. »Michalkow? Ich brauche Ihren Einsatz. Ja, jetzt. Sofort.« Der Wachmann schnaubte die Treppe hinauf. »Es ist niemand zu sehen.« Er erblickte Karwanbassijews Leiche und wurde blaß. »Den kriege ich«, stieß Berow hervor. »Den kriege ich. Und Sie«, er wandte sich an den Wachmann, »Sie nehmen verdammt noch mal die Verfolgung auf. Er ist verletzt. Er kommt nicht weit.«
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24. Sofia, Wohnung der Minkows, am Morgen des 8.5. Marina Minkowa spürte ihr Nervenkostüm vibrieren. Dramatische Situationen vermittelten ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, handeln zu können, und das war genau das, was sie am Leben hielt. »Ich bin eine notorische Helferin«, seufzte sie, als sie die Autotür abschloß. Eine halbe Nacht mit einer verständnislosen, furchtsamen Frau und einem nörgeligen Kleinkind in der Gegend herumfahren, mochte für andere Leute Streß bedeuten. Sie selbst fühlte sich ausgeruht, als habe sie mindestens 12 Stunden wie ein Baby geschlafen. Hinter ihr bremste ein Lieferwagen. Sie sprang erschrocken zur Seite und fragte sich, ob bereits morgens um acht Verrückte unterwegs sein mußten, die unbeteiligte Passanten aufs Korn nahmen. Dann erkannte sie Blaga hinter der Frontscheibe. »Wie bitte?« fragte sie, als hintereinander, Blaga, eine dunkelhaarige junge Frau und ein beinahe kahlköpfiger Mann aus dem Führerhaus quollen. »Blaga, Liebes …« »Gleich Marina, gleich. Laß uns reingehen, schnell.« Blaga schob Marina förmlich vor sich her, in ihren Hauseingang. Marina sträubte sich. »Sag mal, was geht hier vor? Und wer sind diese Leute?« »Sei nett und bring uns nach oben.« Marina schwieg. Blaga schien etwas Außerordentliches auf dem Herzen zu haben. Sie würde ihr schon mitteilen, um was es ging. Zudem sah sie blaß und erschöpft aus. Marina begann, sich Sorgen zu machen. 160
Sie schloß die Wohnungstür auf und bat ihre Gäste herein. Sie standen in dem engen Korridor wie Wachsfiguren. »Aber bitte, kommen Sie doch herein«, sagte sie und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Sie lächelte die junge Frau an und fühlte sich, als diese zurücklächelte, undeutlich an jemanden erinnert, ohne sagen zu können, an wen. Eine andere Tür ging auf. Boris Minkow verließ sein Arbeitszimmer, nickte allen freundlich zu, nahm ein Jackett von der Garderobe, setzte einen Hut auf und sagte: »Wiedersehen, Marina. Ach, Blaga, lange nicht gesehen. Ja, dann … schönen Tag.« Er zog die Wohnungstür hinter sich zu. »Er ist vollkommen resistent gegen alles, was nicht seine mathematischen Beschäftigungen betrifft«, stöhnte Marina. »Also, setzt euch. Seid ihr hungrig? Kaffee? Tee?« »Kaffee. Und Tee. Und was zu essen. Geht das, Marina?« »Für dich immer, Blaga.« Marina wandte sich an die Dunkelhaarige: »Was möchten Sie trinken?« »Sie spricht kein Bulgarisch«, sagte Blaga. »Sie spricht kein Bulgarisch?« »Weil sie Ausländerin ist. Sie kommt aus Deutschland.« »Und jetzt kannst du mir vielleicht mal erklären – spricht sie Englisch?« Blaga nickte schwach. »Verzeihen Sie«, sagte Marina, »ich wußte nicht, ich dachte, Sie seien Bulgarin. Haben Sie Hunger? Ach was, ich mache jetzt ein Frühstück.« Sie sah auf Blaga, die sich auf das Sofa gesetzt und die Füße hochgelegt hatte. Blaga, die sich nie Müdigkeit gönnte. »Alexina ist mein Hermes, meine Götterbotin«, sagte Blaga auf englisch, als Marina schon fast in der Küche war, und 161
lächelte entschuldigend zu Alexina. »Und das ist der kleine Todor, den du wohl noch kennst.« Marina blieb mit offenem Mund stehen. »Natürlich, der kleine Todor. Hätte ich mir denken können. Meine Güte, wie hast du dich verändert, Junge.« Sie betrachtete ihn kritisch und fügte hinzu: »Und verletzt bist du auch.« »Nicht der Rede wert. Nur ein blauer Fleck.« »Ein Riesenfleck, würde ich sagen«, entgegnete Marina. »Und wenn du mir jetzt noch erklärst, wieso Hermes …« Sie blickte unsicher zwischen Blaga und Alexina hin und her. »Ich weiß jetzt alles«, sagte Blaga, »alles. Mit Ewa. Aber damit ich es überlebe, brauche ich jetzt einen Kaffee und dann einen Tee und anschließend eine Menge zu essen.« Sie griff in ihre Tasche und hielt Marina den gelben Aktendeckel entgegen. Marina Minkowa hatte nie eines dieser Schriftstücke gesehen, aber nun, da sie es vor sich hatte, erschrak sie bis in die Knochen. »Ewa?« »Bitte, Marina, mach uns schleunigst einen Kaffee, ja?« Marina hantierte zittrig und unkoordiniert mit dem heißen Wasser, dem Kaffeepulver, den Teeblättern. Kaffee und Tee gleichzeitig, das wunderte sie jetzt nicht mehr. Wir haben es die ganze Zeit gewußt, dachte sie zornig. Und niemals ist Ewa Petkowa an einem Herzschlag gestorben. Sie verschüttete die Milch und ließ das Weißbrot fallen. Sie beschloß, sich ihre tausend Fragen zu verbieten, bis ihre Gäste gefrühstückt hatten. Nachdem sie den Tisch gedeckt hatte, ging sie ins Badezimmer, kämmte sich die Haare, zog eine frische Bluse an und trug ein wenig Lippenstift auf. »Bringen wir es vornehm hinter uns«, sagte sie, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. 162
Blaga sah sie erstaunt an. Marina zuckte die Schultern und griff nach den vergilbten Papieren. Sie setzte sich damit ein wenig abseits und begann zu lesen. Todor stürzte eine Tasse Kaffee hinunter und verlangte dann, so schnell wie möglich zu Anna und Ljuben zu fahren. Marina beschrieb ihm den Weg. »Wenn Sie mich brauchen, Tante Blaga …« »Fahr nur, Todor, und … ich danke dir. Wir hören bald voneinander.« Todor nickte Marina und Alexina zu, drückte Blagas Hand und verschwand. »Möchten Sie noch Kaffee, Alexina?« fragte Blaga. Alexina versuchte krampfhaft, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Marina war anscheinend eine Freundin von Blaga. Beide schienen ganz ruhig. Die erste Aufgeregtheit und Hektik, mit der sie in Todors Lieferwagen in die Innenstadt zurückgefahren waren, wirkte verblaßt. Marina saß friedlich und las, als habe sie eine Strickzeitschrift auf den Knien. Alexina fragte sich, woran diese beiden Frauen gewöhnt waren – gewöhnt worden waren. Sie mußte unbedingt mehr darüber erfahren. »Alexina! Kaffee?« »Ja, ja bitte.« Marina sah auf. »Sie träumt. Und sie ist müde. Überfordere sie nicht, Blaga.« »Wie soll ich sie überfordern, wenn ich ihr Kaffee anbiete«, gab Blaga ungehalten zurück. Marina erlaubte sich ein Grinsen. »Alexina, wenn Sie schon die Götterbotin sind, dann brauchen Sie vielleicht ein wenig Schlaf, ein heißes Bad?« »Danke, ich … ich denke, ich werde mir dann ein Taxi nehmen und ins Hotel zurückfahren.« 163
Blaga schüttelte energisch den Kopf. »Hier fährt niemand so schnell irgendwohin, das sage ich Ihnen. Wir wissen ja noch gar nicht, was Kolew jetzt vorhat. Warum hat er Sie gehenlassen? Steht er vor Ihrem Hotelzimmer? Vor meiner Wohnung? Es kann alles möglich sein.« Alexina und Marina starrten Blaga erstaunt an. »Du mußt mich jetzt wirklich mal aufklären«, sagte Marina ärgerlich. »Lies das zuende«, riet Blaga. »Dann folgt die Fortsetzung.« Sie nickte Alexina zu. »Ich möchte Ihnen und Ihrer Freundin nicht zur Last fallen«, begann Alexina. Blaga sah sie so verständnislos an, als habe sie ein derartiges Argument noch nie gehört, als handele es sich um eine Äußerung, die nicht einmal das Etikett ›Argument‹ verdiente. »Was soll das denn heißen? Aber nein, Alexina, so etwas kennen wir nicht.« Sie zeigte Alexina das Badezimmer und wies auf einen Stapel Handtücher. »Nehmen Sie, was Sie brauchen, ja?« Alexina stieg in die Badewanne, drehte das heiße Wasser auf und ließ den Strahl über ihr Haar laufen. ›Sie haben die gleichen Haare wie meine Tochter.‹ Was hatte sie noch von Ewa? Sie dachte an ihre Träume. An Kolew. Todors Gesicht tauchte vor ihr auf, aber verschwommen, als blicke er ihr durch einen Wasserfall hindurch direkt ins Gesicht. An Blaga. An die alte Frage: Lieber die Wahrheit, lieber die Vernunft? Sie spielte mit den Wörtern. Wahrheit ohne Vernunft, Wahrheit und Vernunft. Was war schon richtig? Was hatte sie zurück nach Sofia geführt? Die goldenen Gesichter in ihren Träumen? Das Verlangen, eine Frau kennenzulernen, die das Schlimmste
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durchlitten hatte? Hatte sie sich vorher nach ihrem Recht gefragt, herzukommen und einzugreifen? Sie drehte das Wasser ab und wickelte sich in eines der Handtücher. Sie vermißte ein Gefühl, das sie die ganze Zeit begleitet hatte, ein brutales Ziehen im Bauch: die Angst. Sie war nicht mehr da. Sie fühlte sich ganz ruhig, trotz Marinas starken Kaffees. Sie verstand nicht genau, warum, aber sie beeilte sich, sich abzutrocknen und anzuziehen. Im Wohnzimmer saßen Marina und Blaga am Tisch und diskutierten. Beide blickten nicht sofort auf, als Alexina ins Zimmer trat und still stehenblieb. Dann verstummten sie, und Marina sagte: »Hallo, Götterbotin.« Sie blickte verblüfft auf Alexinas nasses Haar. »Aber sie hat ja Ewas Haare.« Alexina und Blaga zuckten beide gleichzeitig zusammen. »Ja, natürlich«, fuhr Marina fort, »so ein Braun hatte Ewa, eindeutig. Wir haben sie still beneidet, wir Muttertiere. Sie kam ganz ohne Färben aus, kein herauswachsender Haaransatz, kein verdrecktes Waschbecken und all das.« Blaga wurde ein wenig blaß. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und sagte: »Todor ist es auch aufgefallen. Das Haar.« Marina sah Alexina prüfend an. »Das ist doch Ihre Naturfarbe?« »Ja, sicher.« »Siehst du!« lachte Marina in Blagas Gesicht. »So ein Zufall!« Sie wandte sich an Alexina: »Deswegen dachte ich auch vorhin, daß ich Sie kenne, als ich Sie zum ersten Mal sah. Sie erinnerten mich an jemanden.« »Das ist nicht nur das Haar«, sagte Blaga leise. »Sie hat auch meine Augen.« Alexina erschrak. Aber Marina betrachtete interessiert ihr Gesicht und meinte: »Wirklich wahr. Ihre sind braun, deine hell. 165
Aber wenn sie so erschrocken dreinschaut, dann meine ich, ich sehe meine liebe Blaga, die ihre ersten Falten entdeckt hat.« Blaga machte eine unwirsche Handbewegung, aber dann lachte sie. »Ich kann mir das nicht erklären«, sagte sie. »Todor hat es gesagt. Haare wie Ewa, Augen wie ich.« Alexina stand immer noch in der Tür, ein Kälbchen, über dessen Masteignung diskutiert wurde. »Jetzt setzen Sie sich schon zu uns, Liebes«, sagte Marina. »Kommen Sie. Essen Sie noch etwas, trinken Sie Tee, oder vielleicht möchten Sie lieber Mineralwasser? Limonade? Ich hole etwas.« Sie stand auf und verschwand in der Küche. Alexina setzte sich. Sie wagte es nicht, Blaga anzusehen, aber sie spürte, wie deren Blick auf ihr ruhte. »Ich habe wirklich ihr Haar?« »Ja, und es ist nicht nur die Farbe. Auch, wie es in die Stirn fällt, und der Scheitel, der sich nicht entscheiden kann, ob er ein Mittel- oder Seitenscheitel sein soll.« Blaga fuhr durch die nassen Strähnen, zog die Hand rasch wieder weg. »Und es ist genauso dick und schnurgerade.« »Und wie komme ich zu Ihren Augen?« Blaga lächelte vorsichtig. Eine leichte Wölbung der Augenbrauen, ein sachtes Zucken der Mundwinkel. »Ich habe keine Ahnung. Sehen Sie mich mal an.« Alexina wandte ihr das Gesicht zu und sie sahen sich in die Augen, aber beide konnten sie diesem Blick nicht standhalten. »Trocknen Sie sich die Haare, so warm ist es noch nicht«, sagte Blaga und goß sich Tee in ihre Tasse. Marina kam mit zwei Flaschen Mineralwasser und einer Packung Kekse wieder. 166
»Wenn ich so über unsere Diskussion nachdenke, dann frage ich mich, ob Kolew die Ähnlichkeit nicht auch aufgefallen ist. Er hatte ja anscheinend genügend Gelegenheit, unsere Alexina anzustarren. Oder?« Sie sah Alexina fragend an. »Möchten Sie uns erzählen, was eigentlich passiert ist?« Alexina nahm die Anspannung der beiden Frauen wahr. »Eigentlich ist nicht viel geschehen. Er wollte die Akte haben. Und so was ist mir schon damals auf der Messe passiert. Eine junge Frau schüttete mir Kaffee über die Kleider und meine Tasche und guckte so auffällig hinein, daß ich mir sicher war, sie suchte diese Papiere. Außerdem ist am Morgen jenes Tages schon der Kerl mit der Brille in meinem Hotel aufgetaucht. Wahrscheinlich sollte er dort mein Zimmer durchsuchen.« »Und dann?« Blaga drängte auf eine Fortsetzung. »Ich hatte die Akte schon am frühen Morgen an meine Adresse zu Hause geschickt. Er konnte sie gar nicht finden.« »Ha, das ist mal ein kluges Mädchen«, rief Marina begeistert, »die kann es noch mit uns aufnehmen.« »Aber was geschah gestern, als Sie von mir weggegangen sind?« Blaga sah auf die Uhr. Es war noch keine 24 Stunden her. »Der Typ mit der Brille namens Nikolai und ein anderer, den sie Schan nannten, so ein Riese, brachten mich zu dem Haus, und später kam Kolew und …« Da war es wieder, das riesige, graue Tier. Die Angst. »Und?« Alexina versuchte, sich zu konzentrieren. »Er wollte die Akte haben, ich hätte sie unrechtmäßig in meinem Besitz. Er, oder nein, dieser Schan durchsuchte meine Tasche und mich auch, aber natürlich war sie nicht da. Später hörte ich, wie Nikolai wegfuhr. Ich bekam Angst, daß er zu Ihnen nach Hause fährt und …« 167
Marina tätschelte beruhigend Alexinas Arm. »Keine Sorge, Mädchen, Blaga ist eine ganz Kluge.« »Ich habe Kratzen und Geräusche an meiner Wohnungstür gehört, aber zum großen Glück kam Todor genau da die Treppe hinauf und verscheuchte den Kerl; dafür hat er auch einen dicken, blauen Fleck davongetragen.« Blaga schüttelte den Kopf. »Todor?« fragte Alexina ungläubig. »Ja, er hat gesehen, wie die beiden Männer Sie ins Auto zogen. Er wollte nämlich zufälligerweise an diesem Nachmittag bei mir vorbeischauen.« Alexina sah die Szene vor sich, als Kolew mit seinem Revolver spielte. »Kolew hatte eine Waffe. Er sagte irgendwas davon, daß Sie Ewa nachfolgen könnten, wenn ich nicht kooperativ wäre.« »Dreckskerl!« stöhnte Marina. »Dann klingelte sein Handy, und irgendwann verschwand er schließlich. Vorher fragte er mich aus, was ich denn in dem Haus in der Schejnowo-Straße überhaupt gewollt hatte. Ich habe ihm erzählt, ich hätte Blaga Petkowa besucht. Diese Geschichte habe ich mir zurechtgelegt. Ich behauptete, wir hätten uns auf einer Historikerkonferenz im letzten Herbst kennengelernt. Daß Sie Historikerin sind, weiß ich aus der Akte«, fügte Alexina leise hinzu. Blaga starrte Alexina mit offenen Augen an. »Sie ist ein Goldkind«, rief Marina und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Die hast du dir wirklich verdient, Blaga.« Blagas Gesicht nahm für einen kurzen Moment eine leichte Rötung an. »Jedenfalls wissen wir nun, daß das Gerücht, von dem du gesprochen hast, der Wahrheit entspricht, Marina. Berow hat 168
den Unfall verursacht. Und Ewa hat es gewußt. Es steht in ihrem Tagebuch.« Marina stand entschlossen auf, um das Telefon zu holen, das sie an einem meterlangen Kabel hinter sich herzog, setzte sich wieder und stellte den Apparat auf ihren Schoß. »Was hast du jetzt vor?« fragte Blaga. »Gib mir mal meine Brille«, sagte Marina ungehalten. »Die Zahlen auf dieser Wählscheibe sind so winzig, wie soll man die erkennen? Ah, danke.« »Wen rufst du denn an!« »Mirjana.« »Und wer ist Mirjana?« »Mirjana Iwanowa. Warte mal ab, du wirst schon sehen.«
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25. Sofia, 8.5., ca. 5.00 Uhr Oberst Michalkow haßte Einsätze wie diesen. Dabei hatte er schon gehofft, die Nacht ohne unangenehme Überraschungen hinter sich bringen zu können. Er war 72 und kriegsverletzt. Man hatte ihm das Knie durchschossen. Oberst Michalkow konnte sich an ein Leben ohne Schmerzen nicht mehr erinnern. Er löschte seine Schreibtischlampe, verständigte den Diensthabenden im Zimmer nebenan, hinkte so schnell er konnte zu seinem Wagen und fuhr los. Ein Toyota Corolla, noch dazu ein roter. Sollte nicht allzu schwer sein. Zum Glück verfügte er seit einigen Jahren über einen Wagen mit Automatik. Sein schlechtes Bein ruhte dann ganz entspannt. Kein Kuppeln, nichts. Auch eine Annehmlichkeit. Berow hatte klare Anweisungen gegeben. Kolew, gemeingefährlich, bewaffnet. Kein Aufsehen. Sowieso. Das mußte man Michalkow gegenüber nicht erwähnen. Schwierig würde nur sein, den Flüchtigen im nächtlichen Sofia zu finden. Wenn er aber verletzt war, wie Berow gesagt hatte, würden sich keine Schwierigkeiten ergeben können. Er war in wenigen Minuten in Bojana. Sein Handy klingelte. Karwanbassijews Wachmann. »Ich bin an ihm dran, er fährt nach Süden.« Juri Kolew atmete schwer. Er steuerte dennoch den Wagen mit einer gewissen Leichtigkeit. Seinen Wagen. Sein Kopf fühlte sich weich an, wie ein weiches Ei, sagte er zu sich und lachte über den Witz. Der Schmerz in der Hüfte war zu ertragen, keine Frage. Nur der Blutverlust machte ihm Sorgen. Er fühlte, wie
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naß seine Hose an Bein und Bauch schon war. Aber das wäre sicherlich auch zu bewältigen. Er griff nach dem Handy. »Nikolai? Sofort, an der Е 79, Richtung Süden. Komm im Wagen. Ohne Ron.« Er atmete ein paarmal tief durch und fügte hinzu: »Ron soll dranbleiben. Hernany, Petkowa. Und diesen Kanew. Ich will alle drei.« Dieser Tag hatte nur aus Fehlern bestanden. Die würde er ausbügeln. Erst, daß er die Frau entführt hatte. Noch früher: Daß er nicht sofort das Land verlassen hatte. Offenbar hatte Berow allen Ernstes geglaubt, er wolle sich die Akte kommen lassen, um Berow mit diesem Material in der Hand den Weg ins Außenministerium zu verbauen. Lächerlich. Er hatte die Akte haben wollen, weil er das Mädchen noch einmal sehen wollte. Er stand eben seit jeher auf Brünette. Ihn schwindelte. Nikolai mußte ihn sofort über die griechische Grenze bringen. Nicht in diesem Wagen. Sie würden den Mercedes nehmen. Es war doch nicht weit. Ab Thessaloniki könnte er dann fliegen. Allerdings würde er vorher aller Voraussicht nach einen Arzt aufsuchen müssen. Immer wieder sausten helle Nebel durch seinen Kopf. Er nahm sein Handy und wählte erneut Nikolais Nummer. Er befand sich schon im Wagen. »Warte an der Е 79«, sagte Kolew. »Und bleib mal in der Leitung.« Er warf den Apparat auf den Beifahrersitz und starrte angespannt in den Rückspiegel. Da folgte ihm ein Wagen. Ein Chrysler, wenn ihn nicht alles täuschte. Mit Autos kannte er sich aus. Juri Kolew trat auf das Gaspedal. Erst mal sollte er machen, daß er aus der Stadt herauskam. »Nikolai? Mir folgt jemand. Es kann dauern, bis ich komme. Bleib dran. Ich bin schon in Richtung auf die Е 79.« »Gut.« 171
Kolew spürte mit einem Mal heftige Übelkeit. Der Wagen, den er unaufhörlich im Rückspiegel beobachtete, war ein wenig zurückgefallen. Wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Kein Wunder, in dieser Nacht. Wenn nur die Verletzung nicht so brennen würde. Vielleicht steckte die Kugel noch drin. Ungünstig, sehr ungünstig. Aber die moderne Medizin konnte solche Dinge regeln, er hatte keinen Zweifel. Ein Wagen bog von rechts auf Kolews Spur. Er riß am Lenkrad und hatte den Eindruck, der Boden würde sich heben und ihn mitsamt seinem Toyota wegtragen.
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26. Sofia, Redaktion der Zeitung Demokrazia, am Vormittag des 8.5. »Hallo? Ach Marina. Wie geht’s dir! Neuigkeiten?« Mirjana Iwanowa zog einen Notizblock zu sich heran. »Schieß los.« Sie schwieg, während Marina erzählte, und kritzelte eifrig auf dem Papier herum. »Berow also? Tatsächlich! Und kann ich die Papiere einsehen?« Sie schwieg wieder und murmelte ab und zu etwas, um zu signalisieren, daß sie noch dran war. »Schauerlich. Das hört sich für mich absolut schauerlich an.« Mirjana Iwanowa versprach, sofort bei den Minkows vorbeizukommen, um sich die Akte zu holen und eine Kopie anzufertigen. Sie würde die Papiere dann gleich zurückgeben. »Vielleicht kann ich dir auch noch was Interessantes mitteilen«, sagte sie dann. »Heute morgen kam ein Kollege hier ganz aufgeregt rein. Im Süden Sofias, auf der Е 79, ist heute in den frühen Morgenstunden ein Unfall passiert. Ein Wagen prallte wegen überhöhter Geschwindigkeit gegen einige parkende Autos und ging in Flammen auf. Der Fahrer wurde tödlich verletzt. Und den Informationen meines Kollegen zufolge handelt es sich bei dem Fahrer des Wagens um Juri Kolew.« Mirjana Iwanowa ging ihre Notizen durch. »Ich versuche, auch etwas über diesen Nikolai in Erfahrung zu bringen.« Sie verabschiedete sich von Marina und warf einige Unterlagen in ihre Tasche, verließ die Redaktion und stieg in ihr Auto.
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27. Flughafen Sofia, 8.5., vormittags Der Reisende mit dem Aktenkoffer verstaute seinen BoardingPaß in seiner Jackettasche und ging in Richtung VIP-Lounge. Man nickte ihm zu. Er setzte sich in einen der geräumigen Sessel und verschanzte sich hinter seiner Zeitung. Die Nacht, besser der frühe Morgen an der Europastraße 79 war schon ferne Vergangenheit. Zuerst hatte er ohrenbetäubendes Krachen und Splittern am anderen Ende der Leitung gehört. Er lauschte angestrengt, vernahm quietschende Bremsen und schließlich Stimmen. Danach war die Verbindung unterbrochen. Er schaltete das Handy sofort aus und warf es aus dem Fenster, wendete und fuhr Richtung Zentrum. Am Stadtrand kam er an einem brennenden Fahrzeug vorbei; Polizeiwagen näherten sich dem Unfallort. Er fuhr langsam weiter bis Bojana, parkte ein paar Straßen von seiner Wohnung entfernt, betrat sein Haus, riß die strähnige Perücke von seinen kurzen, blonden Haaren, nahm die Brille ab, setzte sich Kontaktlinsen ein, zog einen blauen Anzug an und kehrte mit einem Aktenkoffer in der Hand zum Wagen zurück. Er repetierte in seinem Kopf die Kennwörter für die Züricher Konten. Er kannte sie alle. Er würde nie eines vergessen, dachte er lächelnd. In der Nähe der Universität stellte er den Wagen ab, ging ein paar Straßen, rief sich ein Taxi. »Passagiere des Swiss-Air-Fluges …« begann eine Stimme im Lautsprecher. Endlich. Nikolai Schelew stand auf und ließ die Zeitung auf dem Sessel zurück.
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28. Dragalewsi, Garten der Minkows, am Abend des 9.5. Marinas Blick wanderte an der Tafel entlang von einem zum anderen. Todor und Walentin hatten den großen Tisch in den Garten gestellt. Da waren nun alle: Todor und Anna und ihr süßer, kleiner Sohn Ljuben. Walentin, Blaga, Alexina und ein paar Kinder der Nachbarn. Gemeinsam waren sie am Morgen nach Dragalewsi hinausgefahren. Alexina war begeistert von der Landschaft gewesen. Marina dachte immer noch über die Todesanzeige nach, die sie zuvor in der Zeitung gelesen hatte. Oberst Tschawdar Karwanbassijew nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Der Dachs soll krank gewesen sein? Sie hatte nichts davon gehört. Sie mußte Mirjana bei Gelegenheit darauf ansprechen. Marina wandte ihren Blick wieder den Gästen zu. Alexina saß am unteren Ende, sehr blaß, schmal im Gesicht, Wein im Glas und eine Riesenportion Kawarma 3 auf dem Teller. Blaga am anderen Ende – ernst, spröde, streng dreinschauend. Die ewig Widerspenstige. Marina ärgerte sich. Da kam dieses Mädchen aus dem Ausland extra angereist, brachte sich selbst in Schwierigkeiten, entkam diesen mit knapper Not, und Blaga, anstatt stündlich, ach was, minütlich danach zu sehen, ob Alexina alles hatte, was sie brauchte, ihr mehr Fleisch, mehr Salat, mehr Kuchen auf den Teller zu legen, setzte sich so weit wie möglich von ihr weg, unnahbar wie die Madonna. Marina stand auf, griff nach ihrer Zigarettenschachtel und ging um den Tisch herum. »Alexina, Zigarette?« 3
Bulgarisches Fleischgericht. 175
»Danke, ich rauche nicht.« Alexina mochte Marinas Englisch. Die Wörter kullerten klobig und unansehnlich aus ihrem Mund, und Alexina wurde das Gefühl nicht los, daß Marina sich beim Sprechen wehtat. Marina zündete sich eine Zigarette an und zog heftig den Rauch ein. »Blaga freut sich sehr, daß Sie gekommen sind.« »Wirklich?« sagte Alexina zögernd. »Ich bin mir da eigentlich nicht so sicher.« »Aber ja, meine Liebe, aber ja!« Marina ließ sich von Todor den Aschenbecher zuschieben. »Blaga ist ein zurückhaltendes Mädchen. Aber sie ist sehr dankbar. Sehr.« Alexina blickte vorsichtig nach oben, wo Blaga saß. Sie flößte ihr beinahe Furcht ein. »Ich hatte kein Recht, in ihrem Leben herumzumachen.« »Wie bitte? Kein Recht? Meine Liebe, das ist ausgemachter Blödsinn. Blaga hat an nichts so sehr gelitten wie an dieser Unsicherheit. Sie liebte die Wahrheit ihr ganzes Leben, und so sehr sie sich auch abzufinden versuchte, sie konnte es nicht. Weil irgend etwas in ihr gesagt hat: Blaga, das mit Ewa war anders. Meine Güte, wir alle wußten es doch!« »Ich habe ihr einfach so diese Akte gegeben. Wer weiß, was ich damit angerichtet habe. Vielleicht wäre die Lüge doch besser gewesen.« »Lüge ist niemals gut. Lüge macht krank. Diese Meinung hat Blaga immer vertreten. Sehen Sie, wir haben doch in einem Lügenland gelebt. Sie im Westen werden unsere Heimat sicher als sehr sperrig empfinden. Undurchschaubar. Das ist nur deswegen, weil alles mit einem Mantel bedeckt wird. Na ja, wurde. Wird. Unwichtig. Unsere Generation ist eine angelogene Generation!« »Sie wußten also, daß Ewa umgebracht worden ist?« 176
»Na ja, wir wußten es nicht, weil es uns jemand gesagt hatte oder wir es gesehen hätten oder so etwas, sondern wir wußten es, weil es gar nicht anders sein konnte. Es handelte sich um eine logische Schlußfolgerung.« »Aber es ist doch etwas anderes, davon zu lesen, oder? Ich meine, die Geschichte zu lesen, wie sie sich wirklich abspielte.« Alexina sah wieder zu Blaga. Sie sprach mit Anna und schaukelte Ljuben auf ihren Knien. »Es ist eine Erlösung. Heute wühlt das Wissen uns auf. Aber bald werden wir es verstanden haben. Als Teil von uns selbst. So wie Ewa immer ein Teil von uns geblieben ist.« »Blaga war sehr unwirsch, als ich zu ihr kam. Ich habe so viele Probleme gemacht.« Alexina fühlte sich sehr müde, sehr traurig, eine Stimmung hatte sie ergriffen, die sie zum Versager erklärte. Sie hatte sich so sehr in diese Geschichte hineingesteigert. Sie hätte die Akte zu Hause wegwerfen sollen. Altpapier. Ganz einfach. Nun hatte sie sich selbst durcheinandergebracht und andere dazu. Sie wollte gerne glauben, was Marina sagte. Daß Blaga dankbar war. Aber es erschien ihr nicht so. Eher meinte sie, hinter Blagas Zurückhaltung einen stillen Vorwurf zu verspüren. Du hast dich eingemischt in Dinge, die dich nichts angehen. Was interessierst du dich für meine Tochter. Eine Voyeurin bist du. Alexina wollte nicht einmal Dankbarkeit. Sie wollte nur sichergehen, keinen Schaden angerichtet zu haben. »Sie ist oft so. Sie kämpft gegen die Bitterkeit. Sie hat sehr viel mehr kämpfen müssen als ich. Deswegen ist sie so ernst.« Marina lachte leise und drückte ihre Zigarette aus. »Aber sie ist sehr liebesfähig. Ich bewundere sie sehr. Ich habe von ihr so gut wie alles gelernt, was mein Leben ausgemacht hat.« »Kennen Sie sich schon lange?« »Lange? Immer. Schon immer war Blaga da. Wissen Sie, wir haben Englisch studiert und Geschichte. Wir haben uns an der 177
Universität kennengelernt, und da kamen auch unsere Kinder zur Welt, noch während unseres Studiums, kurz hintereinander haben wir uns den Männern ans Messer geliefert, können Sie sich das vorstellen? Wir waren immer füreinander da. Wir sind im Grunde ein altes Ehepaar.« Marina beobachtete Alexina aus den Augenwinkeln, während sie erzählte. In dieser Frau steckte etwas Trauriges. Vielleicht auch Furcht, aber vor allem eine Traurigkeit, die von Verlorensein zeugte, als habe sie die Hoffnung schon fast aufgegeben, etwas zu finden, wofür es sich lohnte, zu leben. »Wir hatten eine schwere Jugend, auch später, als wir junge Mütter waren, war die Zeit schwer. Die KP ging gegen die Intellektuellen mit einer Brutalität vor, die es in den anderen Ländern im Ostblock so nicht gab, wissen Sie – mal abgesehen von der Sowjetunion. Blaga hatte für kurze Zeit eine Stelle an der Uni, als Dozentin für bulgarische Geschichte, aber sie wurde nach nur einem Jahr sozusagen entfernt, weil sie nicht kooperierte. Ich habe es gar nicht erst versucht, in einer solchen Position Fuß zu fassen. In einer Fabrik habe ich gearbeitet, für einige Zeit, dann aber nicht mehr. Ich war gesundheitlich angeschlagen. Ich hatte ein Attest vom Arzt. So bin ich von heute auf morgen von dieser Bühne abgetreten. Und mein Mann verdiente ja genug. Heute, als Professor, nicht mehr. Man könnte sagen, er verdient überhaupt nichts mehr. Aber er schreibt für international renommierte Fachzeitschriften und wird ab und zu eingeladen, Vorträge im Ausland zu halten. So schwimmen wir noch an der Oberfläche, wir hungern bloß manchmal, wir frieren nur ab und zu, und nur im Winter. Mein Sohn unterstützt uns, wenn er kann. Wir haben diesen Garten hier, wir haben Obst und Gemüse bis in den Herbst. Heute müßten wir noch mal jung sein. Aber jetzt ist unser Zug schon abgefahren und wir stehen am Bahnsteig und gucken dumm. Verpaßt! Zu spät.« »Wie war Ewa?« fragte Alexina nach einer kleinen Pause. 178
»Als Baby war sie richtig süß, ein bißchen stämmig für ein Mädchen. Das wuchs sich später aus. Sie war intelligent, aber im Sport, da war sie herausragend. Sie war Dauerläuferin, Langstreckenläuferin, und sie war in der Schulmannschaft. Seit sie 14 war, heimste sie Preise ein. Blaga und Ljuben waren stolz, kann ich Ihnen sagen. Sport war ja auch eine einigermaßen unverfängliche Sache. Und Ewa hatte wirklich Spaß daran. Vielleicht hätte sie es sogar zur Olympiade geschafft? Egal – es gefiel ihr einfach.« Marina versuchte, sich an Ewa zu erinnern, wie sie in diesem Garten saß. Es fiel ihr schwer, und der Schrecken darüber fuhr ihr in die Glieder. Es kamen nur Bilder, keine Ereignisse, keine zusammenhängenden Geschichten mehr. Blaga mit Ewa auf dem Schoß, Ljuben, der Petar und Ewa abwechselnd in die Luft warf, Boris, der leicht genervt nur dann seinen Schreibtisch verließ und mit ihnen in den Garten hinauskam, wenn man ihm Sanktionen androhte. Doch, dachte Marina, manchmal ist unser Leben so leicht gewesen, leicht wie Watte. »Sie war auch ziemlich groß, mit siebzehn war sie größer als Blaga«, sagte Marina dann, »und schauen Sie sich mal Blaga an, sie ist eine Riesin, einen Meter achtzig fast. Aber Ewa überragte sie ein Stück. Das sah nett aus, Blaga vor Ewa, und deren Kopf mit den dunklen Augen und den braunen Haaren …« Marina sah Ewas Gesicht vor sich: ›Tante Marina, die haben mich in die Läuferriege der Schule aufgenommen. Ich gehe jetzt jeden Tag zum Training.‹ – ›Das ist hervorragend, Ewa, wirklich.‹ – ›Ich glaube aber, daß Mama das vielleicht nicht so mag. Weil nur die Hundertprozentigen in die Schulmannschaften kommen, und jetzt wird es aussehen, als sei ich eine Hundertprozentige.‹ – ›Quatsch, Ewa, deine Mutter wird das bestimmt nicht denken.‹ – Aber Ewa war nicht ganz überzeugt gewesen, und dieser Gedanke hatte ihre Freude ein wenig überschattet. Marina wollte Alexina gern davon erzählen, aber sie brach ab, 179
noch bevor sie ihre Gedanken gänzlich gesammelt hatte. Sie wußte nicht, wie sie es erzählen sollte. Sie fühlte sich müde davon, immer wieder die Umstände erklären zu müssen. Ich werde doch alt, dachte sie ein bißchen belustigt, jetzt ist es mir schon zu mühsam, Geschichten loszuwerden, nur, weil ich vielleicht ein Stück weiter ausholen muß. Das ist einfach wirklich nicht mehr meine Zeit. »Ich sage es Ihnen noch mal, Alexina, Blaga freut sich sehr, daß Sie gekommen sind, und das, was Sie für Blaga getan haben, das rührt sie richtiggehend. Glauben Sie einer alten Frau, die weiß, wovon sie spricht.« Marina blickte auf und sah Blaga vor sich stehen, hinter Alexinas Stuhl. »Was erzählt Ihnen meine Freundin da gerade?« fragte Blaga, die Augenbrauen ein bißchen spöttisch in die Höhe gezogen und den Blick fragend auf Marina gerichtet. »Du bist grausam«, sagte Marina auf bulgarisch. »Dieses Mädchen ist durch halb Europa gereist, um dir die Wahrheit zu bringen. Nimm sie endlich in die Arme, Vollidiotin. Du kannst froh sein, wenn sie morgen noch etwas von dir wissen will.« Alexina spürte Blagas Hand auf ihrem Nacken. Sie lag einfach dort, kühl, trocken. Dann bewegte sie sich ein bißchen, die Finger spielten mit ihren Nackenhaaren. Alexina hielt ganz still. Die Hand begann, ihre Nackenmuskeln zu massieren, sie arbeitete sich zur linken Schulter vor, dann wanderte sie zurück zur rechten, und ein Finger strich schließlich sanft die Nackenlinie entlang, vorwärts, rückwärts, vorwärts, ganz langsam. »Ich habe nur Chaos in mir«, antwortete Blaga halblaut in Marinas Richtung. »Dann reiß dich zusammen, du bist alt genug. Mit 68 solltest du gelernt haben, von dir selbst abzusehen.« »Ich weiß.« 180
Blaga langte mit der freien Hand nach Marinas Zigarettenschachtel. »Ich glaube es nicht. Wann hast du die letzte geraucht?« »Mit fünfzig.« Blaga lachte. Alexina legte ihren Kopf zurück, um Blaga anzusehen. Blagas Blick fing sich in ihren Augen. Todor fuhr sie nach Sofia zurück. Alexina schlief auf ihrem Platz zwischen Todor und Blaga ein paarmal ein, schreckte aber immer wieder auf. Sie wäre gerne geblieben, bei Marina über Nacht, weitab von dem stickigen Geruch der Stadt, aber Blaga hatte darauf bestanden, zurückzukehren. Nun schlenkerte das Auto auf der schlecht ausgebauten Straße hin und her. Blaga und Todor saßen einsilbig da. Todor drehte ein paar Runden vor Blagas Haus, aber es war nichts Verdächtiges zu sehen. Er brachte sie nach oben. Blaga schloß die Wohnung auf und schaltete alle Lichter an. Alexina wollte ins Arbeitszimmer, auf ihr Sofa tappen, wo sie schon die Nacht vorher geschlafen hatte. Sie fühlte sich müde, und dennoch hellwach, gespannt, gereizt. Wurde von ihr erwartet, daß sie schnellstmöglich verschwand? Warum hatte Blaga unbedingt nach Sofia zurückfahren wollen? Sie sprach immer noch kein Wort. Schließlich sagte Alexina: »Ich hoffe, ich falle ihnen nicht zur Last. Und wenn doch, dann sagen Sie es mir bitte. Ich kann wirklich ins Hotel zurück.« Blaga schenkte sich ein Glas Wasser ein und blieb in der Küchentür stehen. Sie lächelte. Sehr vorsichtig. Eigentlich nur andeutungsweise. Aber sie lächelte. »Ich möchte gerne, daß du bleibst«, sagte sie, und sie wechselte so selbstverständlich zum ›du‹, daß es sich anhörte, als sei es schon immer ihrer beider ureigenste Anrede gewesen. 181
»Und außerdem finde ich, daß es Zeit ist, uns ein wenig näher kennenzulernen. Ich weiß«, sie holte tief Luft, »daß ich spröde bin und meine Gefühle nicht so leicht zeige. Das gefällt mir selber nicht, denn ich würde sie gerne zeigen, aber oft weiß ich nicht, wie man das macht. Deswegen … muß ich dir einfach wörtlich sagen, daß ich froh bin, daß du gekommen bist. Danke.« Sie trank von dem Wasser. Alexina sah, daß ihre Augen feucht geworden waren. »Ich … es gibt nichts zu danken.« »Aber natürlich gibt es das. Trinkst du ein Glas Wein mit mir?« »Ja – gern.« Blaga ging wieder in die Küche, suchte nach Gläsern und der Weinflasche. »Laß uns ins Arbeitszimmer gehen. Es ist der schönste Platz in dieser Wohnung. Ich mag die Umgebung meiner Bücher und Schallplatten und den Blick aus dem Fenster, wo man die Berge sieht.« Alexina folgte ihr. Sie setzte sich auf das Sofa und nahm ihr Weinglas in Empfang, aber Blaga blieb stehen. »Ich habe noch nicht alles verstanden. Sicher, ich habe die Akte gelesen und mein Verstand hat längst alles … eingesehen, aber in meinem Herzen sind die Dinge noch nicht angekommen. Ich muß mich daran gewöhnen.« Alexina blieb still sitzen. Blaga stand am Fenster, der Wein rotfunkelnd in ihrem Glas. »Erzähle mir, wer du bist, Alexina.« Wer war sie schon? Alexina wußte es eigentlich nicht. Gab es Menschen, die einfach erzählen konnten, wer sie waren? »Ich … ich bin 33 Jahre alt. Nächste Woche werde ich 34. Ich bin Sekretärin an der Universität von München. Fachbereich 182
Finanzwirtschaft. Ich habe etwas ganz anderes studiert, Geschichte und Literatur und Musikwissenschaft, aber meine Arbeit gefällt mir.« Alexina kam ihr Leben vor wie ein Steckbrief. »Und wovon träumt Alexina Hernany? Hat sie einen Mann, der ihr etwas bedeutet?« Blaga sah sie lächelnd an. »Ich … ich träume … ich weiß nicht. Nein, keinen Mann. Ich habe keinen Freund. Ich habe eine beste Freundin. Meine Marina sozusagen, aber sie tourt um die Welt. Wir schreiben uns Mails. Und ich habe eine Mutter, aber die haßt mich.« Blaga kam um das Sofa herum, stellte ihr Glas ab und setzte sich neben Alexina. »Wie kann das sein?« »Ich habe ihr einmal Umstände gemacht, als sie mich zur Welt bringen mußte. Seitdem erwartet sie, daß ich ihr nie wieder Umstände mache. Sie braucht mich, damit sie jemanden hat, der schuld daran sein kann, daß sie unglücklich und unzufrieden ist. Dummerweise bin ich das.« »Wo ist dein Vater?« »Weggegangen. Er konnte es nicht ertragen.« »Aber er konnte ertragen, daß er dich allein zurückließ?« »Ich weiß nicht einmal, ob er sich etwas aus mir gemacht hat.« »Siehst du ihn manchmal?« »Nein. Ich weiß nicht, wo er gerade ist. Ich glaube, er arbeitete zuletzt als Jurist bei einer großen Firma. Nicht in München. Woanders.« Alexina trank einen Schluck Wein. Sie fühlte sich elend. Sie wollte sich mit Blaga unterhalten, statt dessen drückte sie ein Lamento nach dem anderen ab. »Aber … es interessiert mich eigentlich nicht, wo er ist. Ich vermisse ihn nicht. Ich kenne ihn ja kaum. Nur – manchmal ist mir, als würde ich … etwas vermissen. Als fehlte mir etwas. Ich 183
weiß nicht, was das ist.« »Ja, wir haben alle etwas in uns … ein leeres Stück Leben, nicht wahr?« Blaga lehnte sich zurück. »Aber ist es nicht so, daß wir nicht etwas vermissen, sondern doch jemanden?« »Wovon träumt Blaga Petkowa?« fragte Alexina. Leise, vorsichtig. Sie wollte die Pflanze behüten. Es blieb lange still. »Blaga Petkowa hat lange Zeit von der Freiheit geträumt. Sie ist ein bißchen spät gekommen, die Freiheit. Aber nun ist sie da. Mit ihr die Angst vor der Zukunft. Jetzt träume ich … manchmal vom Tod. Ich stelle mir den Tod vor, vielleicht sage ich es besser so. Nicht, weil ich ihn schnell herbeisehne … Ich versuche mir vorzustellen, ob das Leben in diesem Land ein würdiges Ende finden kann. Oder ob wir alle auf der Straße sterben. Aber das ist letztlich unerheblich.« Blaga trank wieder von dem Wein. Alexina betrachtete ihr Gesicht. Sie liebte es bereits. Die Falten um ihre Augen. Das kurze Haar. Die hellen Augen. Ihre Nase, die vollen Lippen. »Blaga?« »Ja?« »Wo sind wir, bevor wir geboren werden, und was geschieht, wenn wir tot sind?« Blaga sah Alexina an, hob eine Augenbraue, ihr Mund zeigte den Anflug eines Lächelns. »Wenn wir tot sind, werden wir beweint. Für lange Zeit. Und man erinnert sich an uns, bis wir vergessen werden. Manche Menschen werden aber nicht vergessen. Es bleibt ein wenig mehr von ihnen als von anderen. Zum Beispiel von Tyrannen oder Dichtern, Komponisten oder Menschen, die zum Retter von anderen geworden sind, wie zum Beispiel Mutter Theresa. Und bevor wir geboren werden, sehnt man uns herbei. Große Freude eilt uns voraus, und auch großer 184
Schmerz. Unsere Mütter sehnen sich nach uns, sie haben ein wenig Angst, aber sie sind außer sich vor Freude, wenn sie uns in den Armen halten. Der einzige Unterschied im Geborenwerden und im Sterben liegt in den Menschen, die beteiligt sind: Unsere Eltern führen uns in die Welt; unsere Kinder bleiben zurück.« Alexina seufzte. »Mich hat sicher niemand herbeigesehnt.« »Vielleicht doch.« »Nein.« Alexina war sich sicher. So sicher wie keiner anderen Sache sonst. »Wenn … wenn du meine Mutter kennen würdest, wüßtest du, warum ich so überzeugt bin.« Blaga legte den Arm um Alexina. Sie mußte sich erst dazu ermuntern, aber sie tat es, und dann zog sie Alexina zu sich und spürte, wie ihr Gesicht an ihrer Schulter lag. Das war einmal Ewas Haltung gewesen, als sie zwölf und älter war, wenn sie Probleme hatte, die sie nicht erzählen konnte. Sie drückte sich solange um ihre Mutter herum, bis Blaga merkte, daß etwas anstand. »Es geht eine Geschichte übers Land«, begann Blaga dann. Und sie fing an, eine Figur zu Ewa auszuschicken. Wenn die Figur deutlich genug zu erkennen war, übernahm Ewa, und schickte die Figur zurück. In den Augenblicken, in denen Ewa erzählte, blies Blaga ihr ins Haar oder atmete einfach ihren Duft. Manchmal kam es vor, daß Ewa sich zusammenrollte und den Kopf auf Blagas Schoß legte. Das hieß: Erzähl du zuende. Das tat Blaga dann. Blaga spielte mit den Fingern in Alexinas kurzem Haar. Sie erinnerte sich jetzt wieder – sie erinnerte sich, wie es sich anfühlte, einen Menschen zu schützen, auszurüsten für die Expedition Leben. Sie hatte das tatsächlich vergessen. All die Jahre – 33 lange, unendliche Jahre, waren Zeit genug gewesen, um zu vergessen. Natürlich, da war immer noch Ljuben, ihr 185
treuester Gefährte, der unersetzliche. Und heute gab es Marina, die ihr näher war, als irgend jemand sonst. Aber nicht so nah. Wer würde sie beweinen, wenn sie starb? Es war ein gutes Gefühl zu wissen, daß niemand sie mehr brauchen würde. Sie würde in Ruhe davongehen können, und die Lücke würde sich sofort schließen. Aber dennoch sehnte sie sich danach, etwas zurückzulassen. Eine Erinnerung zu bleiben. So wie ihre Eltern in ihrem Herzen. Golden und warm ruhten sie da, wie auch ihr Bruder, der Soldat, der vor vielen Jahren fortgeblieben war. Und wie Ljuben. Wie Ewa. Schicksal, die letzte zu sein, dachte Blaga seufzend. Etwas verlieren, das fällt uns schwer. Aber kein Verlust für andere mehr zu sein – können wir das ertragen? Sie hatte Ewa nicht schützen können. Ihr Wissen war ihr zum Verhängnis geworden. Und diese Hartnäckigkeit, die sie von ihren Eltern, wenn nicht gelernt, dann geerbt hatte. Ewa, mein Teufelskerl, dachte Blaga, und streichelte Alexinas Haar. Wie bin ich stolz auf dich. Und diese junge Frau an ihrer Seite? Welcher Mut, welche Überzeugung hatte sie angetrieben, zu ihr zu kommen und ihr die Wahrheit in Form eines Pappdeckels zu übergeben, die sie, Blaga, widerwillig, skeptisch in Empfang genommen hatte? Hatte Alexina mit ihrem Mißtrauen gerechnet? Hatte sie ihr damit wehgetan? Sie mußte sie verunsichert haben. Und schließlich hatte sie Alexina auch noch in Gefahr gebracht. Oder Alexina hatte sich selber in Gefahr gebracht, aber es spielte keine Rolle, wer es letztendlich war. Warum wollte Alexina ihr die Akte bringen? Sich Urlaub nehmen, einen Flug bezahlen, wofür? Um Blaga Petkowa einen Gefallen zu tun? Einer alten Frau, die sie überhaupt nicht kannte, in einem Land, das ihr fremd war? »Alexina?« »Ja?« »Warum bis du zu mir gekommen und hast mir Ewas Akte 186
gebracht?« »Ich hatte Sehnsucht.« »Wonach?« »Ich weiß nicht. Ich habe mich so glücklich gefühlt, als ich im März das erste Mal hier war. Es war wie … als erfüllte es mich. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Alexinas Gedanken begannen zu verschwimmen. Sie sah wieder diese goldenen, warmen Gesichter. Später streckte sie sich auf dem Sofa aus und schlief ein. Blaga deckte sie zu. Sie blieb lange im Zimmer sitzen, mit ihrem Weinglas auf den Knien. An Alexinas letztem Abend in Sofia machten Blaga und Alexina ihre Geschichten zu einer, fügten Todors Version hinzu. Todor, dessen Gesicht in ihrem Traum in einem Aquarium zu versinken schien. In Wirklichkeit hatte er sich hinter einer Vitrine geduckt. Die Nacht war so kühl, daß Alexina sich einen dicken Pullover angezogen hatte und Blaga Kerzen aufstellte, weil der Strom ausgefallen war. »Todor hat uns gekannt. Er wohnte in der Nachbarschaft, sein Vater war tot, und manchmal kam er zu uns und sprach mit Ljuben. Er suchte einen Ersatz. Und Ljuben liebte ihn sehr.« Das Kerzenlicht spiegelte sich in den blanken Augen der beiden Frauen. »Todor hatte Ewa auf der Straße gesehen an jenem Tag. Er wollte ihr ›hallo‹ sagen, aber sie bemerkte ihn gar nicht, rannte bloß, und Todor sah, wie ein Mann ihr nachhetzte, und er begann auch zu rennen. Bis zum Museum und hinein, wo er hörte, wie die Frau an der Kasse und der Mann, der hinter Ewa her war, irgend etwas schrien. An die genauen Worte kann er sich nicht mehr erinnern. Er versteckte sich dann in dem Raum mit den großen Ikonen und beobachtete …« 187
Alexina fürchtete sich noch immer vor der kommenden Feststellung. »… wie jener Mann sie tötete«, beendete Blaga den Satz ruhig. Ihr Blick versank dabei im Kerzenlicht. Alexina schwieg. Blaga hatte es erfahren. Endlich, nach all der Zeit. Sie hatte es gewußt. In ihrem Inneren hatte es keine andere Gewißheit gegeben außer dieser: Man hatte ihre Tochter umbringen lassen, weil sie Zeugin geworden war, wie ein wichtiger Mensch der Nomenklatura ein Kind totgefahren hatte, und weil sie nicht bereit war, ihre Schritte auf dem Schachbrett lenken zu lassen. »Ich bin stolz«, sagte Blaga. Alexina lauschte diesen drei einfachen, simplen Worten. Stolz. Was für ein großes Gefühl. Ihre eigene Mutter war nicht stolz auf sie. Sie würde nicht einmal sagen, daß es keinen Grund gebe, auf ihre Tochter stolz zu sein. Sie empfand nur einfach nichts. »Und ich bin sehr dankbar«, fuhr Blaga fort. »Wenn du – wenn du nicht gekommen wärest, ich hätte es nie erfahren.« Alexina schloß die Augen. Dunkle, weiche Gesichter, goldenes Schimmern. Sie lauschte Blaga, ihre Stimme begann in Alexinas Kopf zu summen, und es entstand eine Melodie. Sie nahm die Weise auf und summte mit, ganz leise. »Was singst du da?« fragte Blaga plötzlich scharf. »Ich weiß nicht – nur ein Lied.« Blaga blickte in Alexinas Augen, durch sie hindurch, wandte dann den Blick ab und schaute aus dem Fenster, auf die dunkle Stadt. »Ach sieh mal, da drüben haben sie Strom«, sagte sie. Alexina räusperte sich. »Ich hatte Angst, in deinem Leben herumzupfuschen. Ich hatte Angst, in deinem Leben Schaden anzurichten.« 188
»Kann Wahrheit ein Schaden sein? Das haben die Kommunisten geglaubt. Ach, das glauben alle. Auch deine Regierung. Unser ehemaliger Klassenfeind.« Alexina grinste. »Wir hüten uns vor den Mächtigen, nicht wahr? Ob Ost, ob West … Mißtrauisch muß man sein. Ob sie den Sozialismus propagieren oder die Freiheit des Marktes …« »Ja, aber nur Skepsis … dann wird das Leben traurig.« »Das ist richtig«, nickte Blaga. Sie trank einen Schluck Wein. »Ich weiß nicht, ob ich ihnen vergebe. Aber das ist mir jetzt egal. Ich war voll von Mißtrauen – damit getränkt wie ein Schwamm. Ich wollte niemandem mehr Glauben schenken. Jetzt lerne ich es neu.« Sie stellte ihr Glas ab und begann, leise, vorsichtig und ein bißchen unsicher eine Melodie zu summen. Es war die gleiche Musik, die Alexina eben gehört hatte. »Was ist das für ein Lied?« »Ein bulgarisches Kinderlied. Es handelt von einem Hündchen, das auszieht, um Freunde zu finden. Es hat viel Angst, vor dem Krokodil, der Gans und dem Auerhahn. Aber nachher werden die drei seine Freunde.« Alexina schenkte sich Wein nach. »Wie findet man Freunde, Blaga?« »Hast du nicht eben erst Freunde gewonnen? Todor, Marina, mich … Du bist gut im Freunde-Machen.« »Auf deutsch machen wir keine Freunde.« »Nicht? Ihr findet sie, nicht wahr? Oder ihr gewinnt sie. Das ist sehr vernünftig.« »Freunde werden eigentlich geschenkt.« »Nicht nur«, widersprach Blaga. »Nicht nur. Nur der Hut wird geschenkt. Den Rest muß man selber finden.« 189
»Warum der Hut?« »Ich weiß nicht.« Blaga zuckte die Schultern und grinste. »Weil es prosaisch wäre, wenn wir die Schuhe zuerst fänden, oder?«
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29. Sofia, Flughafen, 12.5. Ihr Flug war noch nicht aufgerufen worden, aber sie hielt den Boarding-Paß schon in der Hand. Der Tag hatte begonnen, wie all die ewigen anderen Tage in Blagas Wohnung auch. Nur drei Tage. Blaga hatte vorsichtig die Tür geöffnet und leise gefragt: »Bist du wach? Alexina?« Alexina war wach, aber sie liebte Blagas leise Schritte auf dem Teppich und die Art, wie sie ansetzte, um zu sprechen. Als wollte sie Alexina lieber doch nicht wecken und sich in letzter Sekunde umdrehen, um sachte wieder hinauszuschleichen. »Ich habe einen Tee gemacht. Gleich kommt Marina mit ihrem Wagen.« »Danke, Blaga. Ich komme sofort.« Sie würde nicht zum letzten Mal in diesem kleinen, mit Büchern vollgestopften Zimmerchen erwachen. Der Koffer stand schon gepackt in der Ecke. Alexina hatte den Schlafanzug hineingelegt, sich Jeans und Bluse angezogen, darüber den Blazer. Wir bringen es vornehm hinter uns, wie Marina gesagt hatte. Sie war ans Fenster getreten und hatte hinaus gesehen. Was für eine Stadt. Immer noch Gefühle von Fremdheit, wenn sie über die Dächer schaute, aber mit den Bergen, die von dort hinten grüßten, hatte sie sich schon angefreundet. Fremdheit bedeutete nicht mehr viel. Alexina war – einer eingeschworenen Gewohnheit folgend – in die Küche gegangen und hatte den Tee getrunken, den Blaga in gewohnter Stärke gekocht hatte. 191
»Ich kann nichts essen.« »Die Angst vor dem Flugzeug?« »Und wie!« »Macht nichts. In wenigen Stunden bist du zu Hause.« Alexina hatte den Blick abgewandt und wieder aus dem Fenster gesehen. »Weine nicht um deine Mutter. Sie verdient es nicht. Und sie braucht deine Tränen nicht.« »Wieso meine Mutter?« »Weil du leidest, daß sie ist, wie sie ist. Du wirst sie nicht ändern.« Das würde Alexina allerdings nicht. Alexina hatte Blaga um das Foto gebeten, das Ewas Akte beilag, auf dem Blaga mit dem erstaunten Blick und den Blumen zu sehen war. »Willst du mich als etwas jüngere Kopie bewahren?« hatte Blaga ironisch gefragt, das Bild aber sofort herausgesucht. Jetzt steckte es in Alexinas Tasche, gut geschützt in einer dicken Zeitung. In der unbekömmlichen, abwartenden Stimmung des Flughafens sortierte Alexina ihre Erinnerungen an die kurze Zeit in Blagas Sofia. Drei Tage. Ein Leben. Sie war mit Blaga durch die Stadt gegangen, sie hatten das kirchengeschichtliche Museum besucht … »Wir nehmen Marina mit, ja?« hatte Blaga gebeten. Alexina hatte nichts dagegen gehabt. Sie mochte Marina. Langsam waren sie im Gänsemarsch durch die Räume gegangen. Blaga vorweg, dann Alexina und schließlich Marina. Staub und stickige Luft. Alexina hatte das Gefühl gehabt, ständig mit der Hand vor ihrer Nase herumwedeln zu müssen, um atmen zu können. Sie 192
ertrug den letzten Ausstellungsraum nicht. Aber Blaga wollte bleiben, und sie wollte allein sein. Marina und Alexina waren langsam zurück zum Ausgang gewandert und hatten sich auf die Stufen gesetzt. »Ja«, hatte Marina versunken gesagt. Anders als Blaga konnte sie es nur schwer ertragen, wenn Schweigen herabsank. »Ja, meine gute Blaga.« Alexina hatte ihre Schuhspitzen betrachtet. »Sie liebt Sie wirklich sehr«, hatte Marina gesagt, als müsse sie an ihr Gespräch in Dragalewsi anknüpfen, weil noch Unmengen von Überzeugungsarbeit zu leisten waren. »Eigentlich liebt sie Sie jetzt schon wie ihre Tochter. Und irgendwie«, sie hatte eine Pause gemacht, »seid ihr beide auch wirklich … verwandt.« Alexina war der Schreck kalt in ihre Glieder gefahren. »Aber ich bin nicht Ewa. Ich bin auch nicht wie Ewa.« »Das sagt auch niemand.« Marina war sich durch die Haare gefahren. »Ich meine mit ›verwandt‹ nicht die Gene. Ich weiß, alle Wissenschaftler, Ausbeuter, loben zur Zeit die Genetik und welch gigantische Fortschritte sie in der Entschlüsselung des genetischen Codes vollziehen und all das. Als könne man den Menschen verstehen, wenn man seine Gene wie eine Rechenaufgabe, wie eine Gleichung schreibt, nach dem Motto X ist gleich irgendwas. Völliger Unfug.« Sie hatte sich zurückgelehnt und in die Sonne geblinzelt. »Als wäre nicht die Seele viel wichtiger!« Alexina hatte nur etwas gemurmelt. »Und die Seele kann man, dem Himmel sei tausendfacher Dank, nicht entschlüsseln. Kein Elektronenmikroskop wird sie einfach vergrößern und der Welt zum Fraß vorwerfen können. Finden Sie mich altmodisch?« Sie hatte keine Antwort abgewar193
tet. »Sie und Blaga – ihr seid seelenverwandt. Wie finden Sie dieses Wort? Ich kenne Blaga besser als mich selbst. Ich verstehe sie besser. Und umgekehrt ist es genauso. Ich weiß oft, was sie denkt und sagen will, noch bevor sie den Mund aufmacht. Aber ich bin anders. Ich denke nicht immer das gleiche. Blaga ist härter. Kompromißloser und strenger sich selbst gegenüber. Sie ist fleißiger. Ich bin chaotisch. Ich komme zu spät zu Verabredungen, bin gerne faul. Ich meine damit, wir beide kennen uns auswendig, aber wir sind doch auch sehr verschieden. Aber Sie sind ein wenig wie Blaga. Meine Güte, ich habe schon Angst, das so platt zu sagen. Sie verstehen mich schon richtig, oder? Sie sind ein stiller, zurückhaltender Typ. Absolut unaufdringlich. Sie machen etwas eher mit sich aus. Aber Sie sind zu großem Engagement fähig. Ja, Sie sind sich beide sehr ähnlich. Beide ein weißer Rabe. Glauben Sie mir, ich habe ein Gespür für diese Dinge.« Alexina hatte die Augen geschloßen. »Ist Ähnlichkeit schon Seelenverwandtschaft?« »Aber nein. Wenn Sie etwas sagen, wie jetzt eben, dann fangen Sie genau den Gedanken aus der Luft auf, den auch Blaga entdeckt hätte. Sagen wir mal, Sie nähren sich von den gleichen Atemzügen. Und wenn ich sehe, wie Blaga Sie ansieht und wie Sie Blaga ansehen … es ist nicht nur die Augenpartie, die ähnlich ist. Es ist der Blick. Fenster zur Seele und so. Ja, so ist es.« »Und wie kann man seelenverwandt werden?« »Ach, das wird man nicht, man ist es. Vielleicht hat der Herrgott eure beiden Seelen aus einem Stück gefertigt, wer weiß? Und dann gefiel es ihm, die eine in Bulgarien, die andere in Deutschland auszusetzen. Das werden wir nicht so einfach ergründen können. Aber ihr habt euch beide gern, nicht? Ist das nicht das schönste Indiz?«
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Blagas Schritte waren hinter ihnen zu hören gewesen. Marina und Alexina hatten sich umgedreht. Alexina hatte versucht, in Blagas Augen sich selbst zu sehen, an Marinas Worte denkend. »Setz dich hier zwischen uns, Mädchen«, sagte Marina. Wir schweigen nur, hatte Alexina da gedacht, wir schweigen nur. Sie hatte mit dem Blick Blagas Hände gesucht, die streng gefaltet auf ihren Knien lagen. Sie hatte nicht gewagt, die eigene Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Sie hatte gewußt, daß es Blaga genauso ging. Nachdem Marina es gesagt hatte, traute sie sich, daran zu glauben. Wenn sie sich jetzt überwunden und Blagas Arm gedrückt hätte … Marina hatte dann genau das in die Hand genommen. »Liebes, laß dich von uns trösten. Von dieser alten Schachtel rechts und von der schönen jungen Dame zu deiner linken.« Blaga hatte versucht zu lachen, aber es war ihr nicht gelungen. »Laßt uns noch ein Weilchen hier sitzen. Nur einen Moment.« Sie hatte nicht geweint, aber an jenem Abend, an dem Blaga ihre Ausbeute von einem der Sofioter Märkte für sie alle gekocht hatte, nachdem Marina nach Hause gegangen war und Alexina sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, hatte sie gehört, wie Blaga ins Badezimmer gegangen war und das Wasser aufgedreht hatte. Es lief lange. Sonst war es ganz still. Da waren die fröhlichen Stunden, in denen Alexina bei einem Spaziergang durch Sofia zusammen mit Blaga ein Internetcafé aufgesucht hatte, um Inga eine E-Mail zu schicken. Blagas Verständnis für die technischen Vorgänge war recht begrenzt gewesen. »Deine Freundin liest, was du in diesen Computer schreibst?« hatte sie sich gewundert.
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»Klar, es kommt auf ihrem Computer raus. Aber sie kann es auch an jedem anderen beliebigen Computer irgendwo auf der Welt lesen.« Alexina hatte sich bemüht, über Accounts, Netzzugänge, Provider, Paßwörter und E-Mail-Adressen ausreichend Auskunft zu geben, aber Blaga hatte sich schließlich entnervt und lachend auf einen Stuhl gesetzt und den Kopf geschüttelt, als trete sie aus der Dusche. »Vergiß es, Alexina, vergiß es«, hatte sie gerufen, und das Lachen war nur so aus ihr herausgepoltert. »Ich bin fast 69, ich habe keinen Computer. Ich habe ein Telefon, Man kann mich anrufen, wenn man etwas von mir will.« »Aber du könntest dir einen Account und eine Adresse einrichten und Mails verschicken«, hatte Alexina vorgeschlagen. Blaga hatte gestöhnt. »Ich habe nichts verstanden von dem, was du mir gesagt hast, aber sicher … wenn du es mir täglich mehrere Stunden erklären würdest, vielleicht hätte ich eine Chance, es zu durchschauen.« »Die Passagiere des Lufthansa-Fluges nach München …« Sie haßte es. Sie verabscheute es. »Ich will eigentlich nicht wegfahren«, sagte Alexina leise. Marina packte sie bei den Schultern. »Fahren Sie, damit Sie wiederkommen können. Ich verabschiede mich. Danke für alles, Kleines.« Sie drückte Alexina einen theatralischen Kuß auf die Wange. »Sie waren ganz großartig. Wirklich. Einfach umwerfend. Wieder jemand, auf den wir stolz sein können, nicht wahr, Blaga?« Sie betrachtete Alexina prüfend. »Unvergessen ist Alexina Hernany.« Sie nickte. 196
»Und ich gehe jetzt mal in Richtung Klo. Ich sammle dich nachher hier wieder auf, Blaga.« Sie fügte etwas auf bulgarisch hinzu, Alexina sah, wie Blaga kurz die Augenbrauen hochzog und dann leise lächelte. Marina drehte sich um, ging ein paar Schritte, wandte sich wieder um, winkte und warf Alexina eine Kußhand zu. Alexina winkte zurück. »Ich will dich nicht gehen lassen«, sagte Blaga, »aber ich muß. Das ist das Schwierigste. Und immer verlangt das Leben genau das von mir. Der Abschied ist das Beständigste in meinem ganzen Leben.« »Was hat Marina denn gerade gesagt?« Blaga lachte. »Sie hat gesagt, ich solle dich gefälligst in die Arme nehmen und fest drücken, und ich solle endlich«, sie seufzte und nahm Anlauf, »zeigen, was ich fühle.« Alexina nahm das leichte Schwanken in ihrer Stimme wahr. »Und das tue ich jetzt. Lebe wohl, mein Kind.« Alexina suchte nach ihrer Wärme. Gestern abend, als sie die Reste des Abendessens aufgeräumt und das Geschirr gespült hatten, als Blaga sich endlich bereiterklärt hatte, Alexina helfen zu lassen, hatte sie gespürt, wie Blaga etwas sagen wollte. Sie setzte mehrmals zu sprechen an, aber dann kamen nur Belanglosigkeiten heraus. Später war Alexina ins Arbeitszimmer gegangen und hatte aus dem Fenster gesehen, um den nächtlichen Bergen ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen. Blaga hatte in der Tür gestanden. »Du magst Berge, nicht?« »Ja, sehr.« »Magst du auch das Meer?« »Ja, ich mag auch das Meer.« 197
»Es ist nämlich so … ich … ich habe eine Datscha in Sosopol, das ist an der Schwarzmeerküste. Normalerweise vermiete ich sie. Aber im August fahre ich jedes Jahr selber zwei Wochen hin. Ich suche dann da mein altes Leben. Möchtest du vielleicht mit mir kommen, diesen Sommer?« Alexina hatte ihren schnell gehenden Atem bemerkt. »Ja. Ja. Sehr, sehr gern.« »Aber es ist eine klapprige Holzhütte, es gibt kein warmes Wasser und nur ein Plumpsklo im Garten. Es ist kein bißchen luxuriös.« Alexina wollte sagen, daß sie außer Blagas Gegenwart nichts brauchte. »Das macht gar nichts. Ich komme gern. Wirklich. Ich kriege auf alle Fälle Urlaub.« »Gut«, hatte Blaga geantwortet und ihr zugenickt. »Dann werden wir uns im Sommer ja wiedersehen.« Jemand sagte etwas von Lufthansa und München. Die Grausamkeit von Lautsprecherdurchsagen. Alexina würde nun wirklich gehen müssen. Es könnte abends noch einen Flug geben. Und doch hatte es keinen Sinn. Am Abend wäre es genauso schlimm wie jetzt. »Danke, Blaga, danke für alles.« »Was dankst du mir?« Alexina schüttelte den Kopf. Sie würde anfangen zu heulen, wenn Blaga jetzt noch irgend etwas sagte. Und wenn sie sie losließe, würde sie noch mehr heulen. Blagas Finger an ihrer Wange. Sie biß auf ihre Zähne, schulterte ihre Tasche, griff nach ihrem Paß und ging langsam auf die Kontrollbeamten zu. »Wiedersehen, Blaga.« Blaga hob die Hand und winkte. Alexina händigte dem Beamten ihren Paß aus. Er stempelte gleichmütig etwas hinein. 198
»Alexina?« Sie hörte ihre Stimme durch den Wind in ihren Ohren. »Alexina, bitte, rufst du an, wenn du angekommen bist?« Alexina drehte sich um. Hinter ihr stürzte ein verspäteter Passagier mit wehendem Mantel und Aktentasche auf die Paßkontrolle zu. Alexina wurde fast umgerannt, aber sie blieb dennoch stehen, versuchte das Gleichgewicht zu halten und rief zurück: »Ja, das mache ich. Bis bald!« Andere Reisende, die an den engen Kontrollstationen vorbeidrängten, schoben sie endgültig weiter. Für solche Fälle gab es Sonnenbrillen. Blaga und Marina gingen durch die Abflughalle zurück zum Parkplatz. Blaga weinte, und Marina hatte den Arm um sie gelegt. »Du hast sie nicht verloren!« »Ich weiß, sie kommt wieder.« Marina zuckte ein wenig hilflos die Schultern. »Blaga, ich kenne dich nicht wieder.« »Sie hat das Lied gekannt.« »Was für ein Lied?« »Das ich mal für Ewa geschrieben habe. Das mit dem Hündchen, dem Krokodil, der Gans und dem Auerhahn. Ich habe es gedichtet und später eine Melodie dazu gemacht.« »Was wir unseren Kindern gemeinsam vorgesungen haben?« Marina lächelte in Erinnerung. »Mein Gott, wie hat Petar die Strophe geliebt, wo das Krokodil aus dem Zoo ausbricht.« »Dieses Lied. Marina, sie kennt es.« »Was meinst du?« »Gestern abend hat sie es vor sich hin gesummt. Ein wenig unsicher, als versuche sie sich zu erinnern …« »Und?« 199
»Verstehst du denn nicht? Sie kann es nicht kennen. Es war mein Lied. Du kennst es, unsere Männer, unsere Kinder. Aber keinen von ihnen hat Alexina je getroffen.« »Außer Boris, aber der singt keine Lieder. Aber im Ernst: vielleicht hast du es gesungen während der Zeit, als sie bei dir war, und sie hat es aufgeschnappt? Es ist ein ziemlicher Ohrwurm.« »Nein Marina, ich habe es nicht mehr gesungen, seit Ewa tot ist.« Marina zuckte zusammen. Sie war es nicht gewohnt, daß Blaga so oft und so direkt von der Tochter sprach, die ihr genommen worden war. »Dann war es vielleicht nicht genau diese Melodie. Sie hat vielleicht ein anderes, ähnliches Lied irgendwo gehört, und dann hat sie es sich nicht richtig gemerkt. Sie hat es irgendwie nachgesungen …« »… und es damit praktisch ein zweites Mal komponiert? Unsinn, Marina. Es war dieses Lied.« »Kannte sie den Text auch?« »Aber nein. Sie spricht kein Wort Bulgarisch.« Marina schloß die Beifahrertür auf. »Nächstes Mal spricht sie es vielleicht schon ein bißchen.« »Sie fehlt mir«, sagte Blaga.
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Epilog Ende Mai erschien in der ›Demokrazia‹ eine Reportage aus der Feder von Mirjana Iwanowa. Darin wurde berichtet, daß die Gerüchte über Swetan Berow der Wahrheit entsprachen und mit Sicherheit gesagt werden konnte, daß es sich bei ihm um den Unfallverursacher von 1967 handelte, was die Journalistin durch die auszugsweise Veröffentlichung bislang geheimgehaltener Aufzeichnungen untermauerte. Weiterhin wurde angedeutet, daß er höchstpersönlich die Vertuschung der seinerzeitigen Vorgänge durch die Beseitigung von Zeugen angeregt habe. Berow wurde daraufhin vom Außenministerium nahegelegt, auf den Beraterposten zu verzichten. Gerichtlich konnte er wegen einer Verjährung des Geschehens nicht mehr belangt werden. Mirjana Iwanowa und ein Kollege machten sich schließlich an die Aufklärung des Unfalls auf der Е 79. Beide vermuteten, daß der plötzliche Tod von Oberst Tschawdar Karwanbassijew und der Unfall von Juri Kolew miteinander zusammenhängen könnten. Gegen Nikolai Schelew wurde ein internationaler Haftbefehl ausgestellt. Dies wurde insbesondere durch das Betreiben von Mirjana Iwanowa und einigen Freunden Boris Minkows ermöglicht sowie durch die Tatsache, daß an die Stelle von Oberst Tschawdar Karwanbassijew im Innenministerium ein neuer, sehr viel jüngerer Mann aufrückte, der den demokratischen Kräften Bulgariens nahestand. Man verhaftete Nikolai Schelew Ende Juni in Zürich und lieferte ihn nach Bulgarien aus. Die Anklage lautete auf Betrug und Menschenraub.
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Alexina und Blaga machten es sich zur Gewohnheit, einmal wöchentlich miteinander zu telefonieren. Alexina reiste im August nach Bulgarien und verbrachte zwei Wochen mit Blaga in Sosopol.
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