Charlotte Engmann
Todesmelodie Version: v1.0 Leise stöhnend setzte sich Perdita auf. Sie presste die Hände au...
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Charlotte Engmann
Todesmelodie Version: v1.0 Leise stöhnend setzte sich Perdita auf. Sie presste die Hände auf ihre Schläfen, um den hämmernden Schmerz in ihrem Kopf zu mildern. So musste es sich anfühlen, wenn man abends zuvor zu viel getrunken hatte, überlegte sie flüchtig. Doch sie hatte nicht getrunken, weder als sie noch ein sterblicher Mensch war, noch später als Vampirin. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie mit ihrem Begleiter Joscha aus dem brennenden Atelier entkommen war. Plötzlich hatte der Schwarzmagier Waidinger vor ihr gestanden. Eine Sekunde lang hatte sie ihn erschrocken angestarrt – offensichtlich eine Sekunde zu lange. Waidinger hatte die Hand an die Lippen gehoben und über die Handfläche gepustet. Ein weißes Pulver hatte sich in der Luft verteilt, war in Perditas Augen, in die Nase und den Mund gedrungen. Bleierne Müdigkeit war über die junge Vampirin gekommen, und ein magischer Schlaf hatte sie überwunden. Perditas Kopf ruckte hoch. Jetzt wusste sie wieder, was passiert
war: Waidinger hatte sie entführt! Doch was war mit Joscha geschehen? Und wo hatte Waidinger sie beide hingebracht? Teils wachsam, teils mit wachsender Angst schaute sie sich um. Durch die Ritzen eines Fensterladens sickerte ein schmaler Streifen Mondlicht. Eine weiche, süß duftende Decke war über ihren Beinen ausgebreitet. In ihrem Rücken spürte sie dicke Daunenkissen und unter ihren Händen seidige Laken. Dunkle Schatten rechts und links in ihrem Blickfeld mussten die Vorhänge eines Himmelbettes sein. Mit pochendem Herzen suchten Perditas Finger nach der Lampe, die sie auf dem rechten Nachttischchen zu erkennen glaubte. Unter dem runden Schirm mit den langen Fransen ertastete sie einen Knopf, und einen Moment später flutete Licht durch den Raum. Perdita schluckte hart. Das Zimmer um sie herum war ein Jungmädchen‐Traum aus Rosa und Weiß. Pastellfarbene Rosen zierten die Wände und die Vorhänge des Himmelbettes. Linkerhand befand sich unterhalb eines rechteckigen Spiegels ein Schminktisch, den ein rüschenbesetztes Tuch bedeckte. Auf der rechten Seite stand eine rosafarbene Kommode, daneben ein Kleiderschrank in dem gleichen Ton. »Ich glaube, mir wird schlecht«, murmelte Perdita. Ihr eigenes Zimmer in Schloss Lohrberg hatte sie – mit Lukas’ Einverständnis und Hilfe – renoviert und in strengem, schlichtem Schwarz neu eingerichtet. Sicherlich eine etwas sehr einseitige Farbwahl, doch Perdita war der Meinung, da sie jetzt eine Vampirin war, durfte sie sich ein exzentrisches Zimmer leisten. Sie sprang aus dem Rosa‐Rüschen‐Bett. Neben der Kommode lag ihre Kleidung, die sie gestern Nacht getragen hatte. Zumindest nahm sie an, dass es gestern gewesen war. Sie wusste ja nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Kaum war sie in die schwarze Jeans und das grüne Sweatshirt geschlüpft, klopfte es an der Tür. Eine junge Frau trat in das Zimmer
und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie Perdita und das gleiche braune Haar, das sie jedoch offen und schulterlang trug und nicht kurz geschnitten wie die junge Vampirin. »Beate!« Perdita eilte auf ihre ältere Schwester zu und fiel ihr um den Hals. »Oh, Beate! Ich habe dich wiedergefunden! Wie geht es dir? Geht es dir gut? Waidinger misshandelt dich doch nicht, oder?« »Wo denkst du hin, Schwesterchen.« Beate rückte von ihrer Schwester ab. Perdita fasste ihre Hände und führte sie zum Bett, auf dem sie beide Platz nahmen. Beates Augen leuchteten. »Meister Franz behandelt mich wie … wie eine Prinzessin! Aber wie ist es dir bei diesem Lukas ergangen? Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht. Man hört so viel Schreckliches über ihn.« Perditas Griff um die Hände ihrer Schwester verstärkte sich. »Das stimmt alles nicht. Er ist ein guter Mann.« Es sei denn, man steht auf der falschen Seite, höhnte eine Stimme in ihrem Kopf. Doch dieser schenkte sie keine Beachtung. Es war Waidinger, den sie zu fürchten und zu hassen gelernt hatte. Lukas war ein anständiger Kerl, auch wenn er zu Gewalt‐ und Wutausbrüchen neigte. »Du tust mir weh«, jammerte Beate auf. Ruckartig entzog sie Perdita ihre Hände. »Es stimmt also, du bist jetzt ein Vampir.« Die Jüngere blickte zur Seite, unfähig ihrer Schwester ins Gesicht zu sehen. Stumm nickte sie. »Sonst wäre ich jetzt tot.« »Ach, Schwesterchen, das tut mir ja so Leid.« Beate umarmte sie spontan. »Ich wünschte, wir hätten dich retten können.« Perdita schaute das ältere Mädchen verwirrt an. Sie verstand das Verhalten ihrer Schwester immer weniger. In den vergangenen
Wochen hatten sie und Lukas versucht, Beate aus Waidingers Gewalt zu befreien. Prüfend musterte sie sie. Äußerlich ging es ihrer Schwester gut: Beates Haare fielen sorgfältig frisiert als weiche Locken bis auf die Schultern. Ein tadelloses Makeup betonte ihre grünen Augen und kaschierte ihre Tendenz zum verwöhnten Mopsgesicht. Sie trug teure Designer‐ Klamotten, die bestimmt aus einer schicken Boutique stammten, jedoch an den falschen Stellen spannten. Perdita biss sich auf die Lippen. Waidinger behandelte Beate nicht schlechter, als sie selbst von Lukas behandelt wurde. Aber hatte Lukas nicht immer behauptet, ihre Schwester stünde unter dem Bann des Schwarzmagiers? Als sie Beate direkt darauf ansprach, schüttelte diese nachsichtig den Kopf. »Es stimmt, Meister Franz ist ein mächtiger Magier, der über die Totengeister gebietet. Aber eben nur über die Geister der Toten. Er kann keinen lebenden Menschen unter seinen Bann zwingen.« »Kann er doch«, widersprach die Jüngere heftig. »Er hat mich mit einem Bann belegt, sodass ich niemandem sagen konnte, für wen ich die Spieluhr stehlen sollte.« War das wirklich erst vor zwei Monaten geschehen? Es schien Perdita eine Ewigkeit her zu sein, dass Waidinger sie gezwungen hatte, bei Lukas einzubrechen und eine bestimmte Spieluhr zu stehlen. Als der Vampir sie erwischt hatte, hatte er versucht, von ihr den Namen ihres Auftraggebers zu erfahren, doch so sehr er das Mädchen auch in Angst und Schrecken versetzte, es war ihr nicht möglich gewesen, Waidingers Namen preiszugeben. Erst durch einen Trick hatte Lukas seine Antwort bekommen. »Das war kein richtiger Bann, nur ein kleiner Schweigezauber«, korrigierte Beate. »Denn wenn du wirklich unter seinem Bann gestanden hättest, hätte er mich nicht in den Keller sperren müssen,
damit du tust, was er will. Er war sehr ungehalten über deine Weigerung, seinem Befehl zu gehorchen. Aber ich weiß ja, du hattest fürchterliche Angst, bei einem Vampir einzubrechen. Und nicht zu Unrecht, wie wir jetzt wissen.« Sie schüttelte die Locken aus ihrem Gesicht. »Nachdem Tante Agathe von Lukas ermordet wurde, hat mich Meister Franz bei sich aufgenommen, denn wo sollte ich sonst hin? Er hat angefangen, mich in der Kunst der Magie zu unterweisen. Und ich wollte dich zu uns holen, sobald wir es mit Lukas aufnehmen konnten.« Perdita fühlte sich, als hätte Beate einen Kübel Eiswasser über sie ausgeleert. Hieß das etwa, jetzt war Waidinger mächtig genug, Lukas die Stirn zu bieten? Beherrschte er inzwischen die vier Dämonen Hunger, Krieg, Pest und Tod, mit denen er die Apokalypse beschwören konnte? Instinktiv rückte sie ein Stück von Beate ab. Von Minute zu Minute wurde ihr ihre Schwester unheimlicher. Wenn sie nicht unter einem magischen Bann stand, hatte Waidinger sie wahrlich mit seinem Charme und den Verlockungen von Reichtum und Macht verzaubert. Oder hatte Lukas ihr, Perdita, Sand in die Augen gestreut, damit sie nicht die Wahrheit erkannte, wer von den beiden Männern die blutrünstige Mörderbestie war? »Was ist mit Joscha?«, fragte sie nach dem jungen Maler, der mit ihr aus dem brennenden Atelier geflüchtet war. »Wo ist er?« »In Sicherheit. Ich denke, Mignon kümmert sich um ihn«, erklärte Beate. »Sie ist für ihn eine Art Schwester, da sie beide von dem gleichen Vampir gebissen und somit um ihr Erbe betrogen wurden.« »Wie meinst du das?« Halb mitleidig, halb bedauernd schüttelte Beate den Kopf, eine Geste, mit der sie schon früher Perdita auf die Palme gebracht hatte. »Es ist doch schrecklich, ein Vampir zu sein. Die wunderbare Sonne zu fürchten, wie ein Maulwurf immer nur nachts aus seiner Höhle zu kommen und vor allem diese ganze Bluttrinkerei.«
»Man gewöhnt sich dran«, meinte Perdita lapidar. Es gab auch einige Vorteile: Ihre Sinne waren empfindlicher geworden, sie war stärker und schneller als früher, und niemals zu altern oder krank zu werden, war ein ungeheurer Bonus. Dass das ewige Leben in ständiger Dunkelheit verlaufen würde, machte ihr wenig aus; sie war schon immer eine Nachteule gewesen. »Wer hat dir das erzählt?«, fragte Beate. »Lukas? Natürlich, er genießt seine widernatürliche Existenz. Ihm macht es nichts aus, Unschuldige zu töten und ihr Blut zu trinken.« »Ein Vampir muss nicht töten, um zu überleben«, konterte Perdita scharf. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht.« »Wovon lebst du dann? Von Ratten und Mäusen? Das ist ja ekelhaft!« Perdita ballte wütend die Fäuste. »Lukas gibt mir von seinem Blut!« »Und da behauptest du, ich würde unter einem Bann stehen!« Beate lachte abfällig. »Weißt du denn nicht, dass du dem Vampir verfällst, dessen Blut du trinkst, dummes kleines Schwesterchen?« Die Vampirin wandte den Blick ab. Erst gestern hatte sie das erfahren. Aber sie konnte nicht glauben, dass diese Tatsache ihren Blick so sehr trübte, dass sie wahr von falsch, gut von böse nicht mehr unterscheiden konnte. »Waidinger hat Raffaella getötet«, schnappte sie. »Und Clara, die nichts weiter getan hat, als sich in Lukas zu verlieben. Er hat Nkosi, Laurina und Peter ermordet, weil sie Lukas nicht verraten wollten. Und Jakob liegt seinetwegen im Koma. Und jetzt sag mir, wer von den beiden das Ungeheuer ist.« Die Freundlichkeit wich aus Beates Gesicht. Kühl starrte sie die Jüngere an. Die alte Rivalität zwischen den beiden Geschwistern brach wieder auf. Sie waren nie Freundinnen gewesen. Ihr Vater hatte die schmale, bewegliche Perdita vorgezogen und ihr alles beigebracht, was er wusste. Ihre Mutter hatte sich um Beate
gekümmert und sie zu der gleichen verwöhnten Frau gemacht, die sie selbst gewesen war. »Wer wen ermordet hat und warum, solltest du mit Meister Franz klären.« Sie stand auf. »Komm, er erwartet dich.« Zögernd folgte ihr Perdita. Sie wollte Waidinger nicht wiedersehen! Nicht, nachdem er all diese schrecklichen Nachtgeschöpfe geschickt hatte, um sie und Lukas zu töten. Nicht, nachdem sie wusste, dass er ein kaltblütiger Mörder war. Und erst recht nicht, nachdem er sie vor zwei Monaten gezwungen hatte, bei Lukas einzubrechen. Nach dem Tod ihrer Eltern waren sie und Beate zu ihrer Tante Agathe gekommen. Doch anstatt sich um die beiden Waisenliebevoll zu kümmern, hatte Agathe sie Waidinger überantwortet, dem Schwarzmagier, dem sie mit Leib und Seele verfallen war. Agathe war nun tot, doch die Saat ihrer Tat hatte schreckliche Früchte getragen. Durch einen kahlen Flur mit grob verputzten Wänden gelangten die beiden Mädchen in ein ultramodernes Wohnzimmer. Die dominierende Farbe war ein steriles Weiß, mit kühlem Chrom und Eisblau akzentuiert. Eine Reihe schlichter Unterschränke zog sich an einer Wand entlang. Davor flankierten zwei reinweiße Sofas einen silbern glänzenden Couchtisch. Eine breite Fensterfront gewährte freien Blick auf einen Wald, der im Licht der Sterne friedlich schlummerte. Perdita schauderte unwillkürlich. Das Zimmer erinnerte sie an einen Operationssaal. Und der Chirurg war auch schon anwesend. Am Fenster stand Franz Waidinger, Schwarzmagier und Nekromant. Wie üblich trug er einen eleganten grauen Anzug, der seine schlanke Gestalt kühl und distinguiert erschienen ließ. Doch Perdita war sich sicher, sein Herz war ein toter Stein, und in seinen Adern floss eiskaltes Blut. »Guten Abend, Perdita«, sagte er mit einer Stimme, in der die
Falschheit nicht zu überhören war. »Es ist mir eine Freude, dich endlich wiederzusehen. Ich bedaure, dass wir dich erst jetzt aus den Klauen dieser Bestie befreien konnten. Ich hoffe, dir ist nicht allzu viel Leid widerfahren?« »Nichts, was Sie nicht verursacht hätten, Herr Waidinger«, fauchte Perdita. Das Herz raste in ihrer Brust, doch sie war fest entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Dank Waidinger hatte sie mehr als einmal dem Tod ins Auge geblickt. Sie war nicht mehr das junge, naive Mädchen, das er vor zwei Monaten terrorisiert hatte. »Wie meinst du das, Perdita?« Waidinger winkte ihnen, auf einem Sofa Platz zu nehmen. Folgsam setzte sich Beate, doch ihre jüngere Schwester blieb trotzig stehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Mal davon abgesehen, dass Sie mich gezwungen haben, in Schloss Lohrberg einzubrechen, und mich dann Lukas überlassen haben, haben Sie uns eine Horde Ghouls und den Hungerdämon Abiku auf den Hals gehetzt«, warf sie Waidinger an den Kopf. »Und dann war da noch dieser Leichengeist, der in Clara gefahren ist, und der versucht hat, mich umzubringen. Ach ja, das Feuer in Joschas Atelier nicht zu vergessen, das geht ja wohl auch auf Ihr Konto.« »Eine kleine Ablenkung, nichts weiter. Du warst niemals in Gefahr.« »Das sagen Sie!«, schnappte Perdita wütend. Je ruhiger Waidinger blieb, desto größer wurde ihr Zorn über diesen eiskalten Widerling. Gönnerhaft erklärte Waidinger: »Mein Ghoul sollte dich aus den Flammen retten. Aber du hast es ja selbst bis zum Ausgang geschafft.« »So gerade eben«, murrte Perdita. »Was deine übrigen Vorwürfe angeht: Diese Angriffe galten allein
Lukas. Ich hätte niemals gedacht, dass er dich erst nach Wien und dann nach Tunesien verschleppt. Obwohl: Ihm ist alles zuzutrauen.« Aber nicht, dass er Leute zu Tode foltert, lag Perdita bei dem Gedanken an Laurina und Peter auf der Zunge. Doch sie verschluckte den Einwand. Denn Lukas war sehr wohl im Stande, einem anderen Wesen sehr, sehr weh zu tun. Ihr hätte er beinahe die Hand abgeschlagen, und den Gremlin in Jakobs Werkstatt hätte er fast in einem Schraubstock zerquetscht. Da Perdita schwieg, fuhr Waidinger fort. »Weder Lukas noch seine so genannten Verbündeten haben eine weiße Weste. Sie alle haben ein gerütteltes Maß an Schuld auf sich geladen, auf die eine oder andere Weise. Und es ist ihre Entscheidung, ob sie für oder gegen mich sind.« »Was ist mit dem Spieluhrenmacher Jakob? Er liegt jetzt im Koma, nur weil er für Sie gearbeitet hat, Herr Waidinger«, warf Perdita ihm vor. Für einen Moment stutzte der Nekromant, ehe er erklärte: »Wie ich schon sagte, kein Untoter ist unschuldig. Jakob wollte die richtige Spieluhr für sich behalten und mich mit einer Fälschung abspeisen. Zum Glück hat Beate den Betrug rechtzeitig bemerkt. Sein jetziger Zustand ist eine wohl verdiente Strafe, sonst nichts.« Er umrundete die Sofas und legte Perdita die Hand auf die Schulter. Sie versteifte sich. Mit sanfter Gewalt drängte der Magier sie, auf der zweiten Couch Platz zu nehmen, ehe er sich neben sie setzte. Sein stahlgrauer Blick bohrte sich in ihre Augen. »Hat Lukas dir von Heinrich erzählt?«, fragte er gefährlich ruhig. Perdita nickte stumm. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Gegen den Willen der anderen Vampire hatte Heinrich begonnen, in aller Heimlichkeit seine magischen Kräfte auszubilden. Als Lukas und die anderen herausfanden, dass der Vampir sie hinterging, lieferten sie ihn der Spinnenfrau Ariadne aus, damit diese den angehenden Vampirmagier in eines ihrer Netze einsponn.
»Was hat Heinrich mit mir zu tun?«, versuchte Perdita, das Thema zu wechseln. Die Vorstellung, bei lebendigem Leib die Beute einer Spinne zu sein, verstörte und erschreckte sie zutiefst. »Was wollen Sie von mir?« »Dich vor dem gleichen Schicksal wie Heinrich bewahren.« Verwirrt schüttelte Perdita den Kopf. Was meinte der Nekromant damit? »Jetzt überleg doch mal, Schwesterchen«, mahnte Beate. »Meister Franz hat mich als Schülerin akzeptiert, weil ich die Gabe der Magie besitze. Und du bist meine Schwester. In dir werden vermutlich ebenfalls magische Kräfte stecken. Du musst Meister Franz nur erlauben, dich zu testen.« »Nein! Ich habe keine magischen Kräfte!«, rief Perdita entsetzt. Sie wollte vom Sofa aufspringen, doch Waidinger packte ihr Handgelenk und zog sie auf das Polster zurück. Instinktiv wusste sie, dass sie als Vampir stärker war als der Nekromant und dass sie sich jederzeit von ihm losreißen konnte. Doch sein Blick hielt sie gebannt. Sie befand sich in seinem Haus, auf seinem Grund und Boden und somit in seiner Gewalt. Ein Mann wie Waidinger entführte keinen Vampir, ohne entsprechende Vorkehrungen getroffen zu. »Ich bin sicher, du verfügst über die Gabe der Magie. Vielleicht sind deine Kräfte nicht so stark wie Beates, vielleicht sind sie aber auch stärker«, sagte Waidinger eindringlich. Seine Stimme bekam einen hypnotischen Klang. »Du besitzt ein magisches Potenzial, das zu nutzen dir die anderen Vampire verbieten wollen. Sie wollen dich so klein halten, wie sie es selbst sind. Aber du kannst es spüren, den Drang deiner Gabe, sich zu entfalten. Nicht wahr? Die Magie, die in dir schlummert, will erweckt und genutzt werden. Dir war vorherbestimmt, eine der Mächtigen dieser Erde zu werden, doch deine neidischen Artgenossen haben dich um deine Zukunft gebracht. Niemals wärst du Krankheit und Alter ausgesetzt
gewesen, auch ohne für immer der Sonne zu entsagen. Bis in alle Ewigkeit hättest du die Freuden des Lebens genießen können. Aber Lukas hat dich betrogen, dich ermordet und das Blut aus deinem Leib gesaugt. Und da willst du dich an seine kleingeistigen Gesetze halten? Zerreiß die Ketten, in die sie dich legen wollen, und nimm dir, was dir zusteht!« Perdita starrte ihn an, reglos wie ein Reh, das auf der Straße vom Scheinwerferlicht eines Autos erfasst wird. Wahrscheinlich sagte Waidinger die Wahrheit, und sie verfügte tatsächlich über magische Kräfte. Aber sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen, diese zu verwenden, um Macht über die Menschen oder die Untoten und Unsterblichen zu erlangen. Doch das war nur ein Gedanke am Rande einer grauenhaften Vorstellung, die ihr ganzes Denken beherrschte. Sie stellte sich vor, wie Lukas erfuhr, dass sie ihre Zauberkräfte schulte. Mit fürchterlicher Gewalt würde er über sie herfallen, ihr sämtliche Knochen im Leib brechen und sie schließlich an Ariadne ausliefern. Die Spinnenfrau wiederum würde sie in einen Kokon einspinnen und sich für alle Zeit von ihrer nie versiegenden Lebenskraft ernähren. »Nein«, flüsterte sie. »Selbst wenn ich über die Gabe der Magie verfügen sollte, ich werde niemals meine Kräfte schulen und zur Magierin werden. Niemals!« Waidingers Griff verstärkte sich. Er presste ihr Handgelenk so fest zusammen, dass der aufflammende Schmerz Perdita aus ihrer Angststarre weckte. Sie riss ihre Hände weg und sprang auf. Entschlossen fauchte sie: »Ich werde niemals Ihre Schülerin. Auf keinen Fall. Lieber sterbe ich!« »Das wird wohl die Alternative sein«, murmelte Waidinger. Seine Augen blitzten wie zwei stählerne Klingen. »Doch um Beates Willen gebe ich dir Zeit, deinen Entschluss zu überdenken.« Er rief nach seinen untoten Dienern und ließ Perdita in den Kerker
werfen …
* »Lukas? Lukas, wo bist du?«, schallte Ariadnes Stimme durch Schloss Lohrberg. Die hohen Absätze ihrer Schuhe klackerten laut auf den hölzernen Stufen, ehe das Geräusch von dem Läufer im Flur gedämpft wurde. Ihre Schritte und ihre Rufe hätten einem interessierten Lauscher verraten, wie sie erst die unteren Wohnräume und dann die Zimmer der oberen Etagen absuchte. Doch Lukas war nicht interessiert. Mit dem Rücken an der Wand saß er auf dem Boden, die Knie leicht angewinkelt. Starr ruhte sein Blick auf dem schmalen Bett mit den schwarzseidenen Bezügen. Daneben stand – aus den Augenwinkeln gerade noch erkennbar – ein eckiges Nachttischchen mit einer Halogenlampe und einem abgegriffenen Buch: »Über den Dächern von Nizza« von David Dodge. Ein Lesezeichen steckte zwischen den Seiten, ein nutzloses Objekt, jetzt, da die Besitzerin das Buch nicht wieder aufnehmen würde. Nie wieder … »Ach, hier bist du.« Ariadne schaltete das Deckenlicht an. Strahlende Helligkeit flutete über die schwarzen Möbel und die holzvertäfelten Wände. Lukas blinzelte. Langsam, wie in Zeitlupe, wandte er den Kopf, bis die Spinnenfrau in seinem Sichtfeld erschien. Wie sie über ihm stand, in einer langen, weißen Hose und einem kurzen Jäckchen, erschien sie ihm wie ein Lichtstrahl, der die Finsternis seines Herzens durchdringen wollte. Doch er wollte kein Licht, sondern sehnte sich nach dem Dunkel des Vergessens.
»Besser, du verschwindest«, sagte er tonlos. »Ich bringe Frauen nur Unglück. Nein, kein Unglück – Tod.« Ariadne kniete sich neben ihn. »Sag das nicht! Du bist nicht schuld an dem Brand in Joschas Atelier. Friedrich hat die Überreste der Fabrik begutachtet und denkt, das Feuer sei durch einen Teufelssalamander ausgelöst worden.« Lukas schnaubte abfällig. »Wie kommt er denn auf diese Idee?« »Weil das Atelier innerhalb kürzester Zeit in Flammen stand und dabei eine unglaubliche Hitze entwickelt hat. Falls du dich erinnerst: die Feuerwehr hat mich sogar gefragt, ob ich heimlich Benzin horten würde.« Lukas erinnerte sich nicht daran. Nachdem das Dach der ehemaligen Fabrikhalle eingestürzt war, hatte er nur fassungslos auf die Trümmer starren können. Mignon hatte auf ihn eingeredet, doch er wusste nicht mehr, was er geantwortet hatte, wenn er überhaupt etwas gesagt hatte. Später war die Feuerwehr angerückt und hatte mit dem Löschen der letzten Brandherde begonnen. In den frühen Morgenstunden hatte ihn Mignon schließlich in ihr Auto gepackt und nach Hause gefahren. Seitdem saß er hier in dem Zimmer seiner Bluttochter Perdita, die in den Flammen umgekommen war. »Friedrich glaubt, auf dem Boden Spuren eines Salamanders entdeckt zu haben«, fuhr Ariadne fort. »Und da du dich derzeit im offenen Krieg gegen Waidinger befindest, einem Nekromant und Schwarzmagier … Waidinger wird wissen, wie man solch eine Kreatur beschwört und kontrolliert.« Lukas sah die Spinnenfrau verständnislos an. Nur langsam sickerten die Worte in sein Bewusstsein. Waidinger hatte einen Teufelssalamander geschickt, damit dieser ein Flammenmeer auslöste, in dem Perdita den Tod fand. »Nein!«, gellte Lukas’ Stimme. Zum dritten Mal hatte Waidinger eine Frau ermordet, die ihm am
Herzen lag. Blind vor Wut sprang der Vampir auf. Aus seinem Oberkiefer schossen die Fänge hervor, die Hände verwandelten sich in Klauen. Sein Gesicht verzerrte sich und verlor die menschlichen Züge. Die Bestie Vampir ergriff von Lukas Besitz. In ohnmächtigem Zorn fegte er die Bilder von der Kommode. Die Rahmen zersplitterten auf dem Boden, die Glasscheiben zersprangen. Mit dem Gebrüll eines verwundeten Stiers packte Lukas die Kommode und stürzte sie um. Innerhalb eines Augenblickes stand er vor Perditas Bett. Seine Klauen zerfetzten die Decke und die Kissen. Daunenfedern stoben auf. Er packte die Nachttischlampe und schleuderte sie gegen die nächste Wand. Das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte beinahe Ariadnes Stimme. »Lukas! Beruhige dich doch!« Sie fasste nach seinem Arm und zerrte daran. »Hör mir zu!« Doch Lukas wollte nicht hören. Er packte Ariadne und warf sie auf das zerstörte Bett. Wie ein Schraubstock legten sich seine Hände um ihren Hals. »Halt’s Maul, du falsche Schlange«, zischte er. »Wenn du nicht wegen Friedrich beleidigt abgehauen wärst, wäre ich bei Perdita geblieben. Ich hätte sie aus den Flammen retten können!« Kalt funkelte die Mordlust in seinen Augen, als er fester zudrückte. Ariadne keuchte gequält auf. Mit den Fäusten schlug sie auf seinen Rücken ein, doch mehr als eine flüchtige Berührung konnte Lukas nicht spüren. In seinem Herz loderte flammender Schmerz über Perditas Verlust und verdrängte jedes andere Gefühl. Ariadne riss den Mund auf. Wie bei einer Schlange weiteten sich ihre Kiefer zu einer unnatürlichen Größe. Dornenartige Drüsen schoben sich aus den Tiefen des Rachens hervor und spuckten Spinnenfäden aus. Ein weißes Gespinst flog Lukas entgegen, legte
sich auf sein Gesicht, verklebte die Augen, die Nase, den Mund. Er zuckte zurück. Ariadne versprühte weitere Netzfäden. Lukas riss die Hände hoch, versuchte, sein Gesicht zu schützen und gleichzeitig das weiße Gespinst aus den Augen zu wischen. Einen Moment lang war er geblendet. »Lukas!«, rief eine zweite Frauenstimme. Schüsse donnerten durch den Raum. Ariadne schrie auf. Lukas wischte die Fäden aus seinem Gesicht. Er sah, wie der Körper der Spinnenfrau leblos auf das Bett zurücksank. Blut strömte aus Schusswunden in Kopf und Brust. Sein Kopf ruckte herum. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er sich einem Angreifer hilflos ausgeliefert. Dann erkannte er Mignon. Wie üblich trug sie einen dunklen Hosenanzug, der ihre weiblichen Rundungen versteckte und ihr eine androgyne Erscheinung verlieh. Mit ihrem kantigen Gesicht und den kurz geschnittenen Haaren verwischte sie die Grenzen der Geschlechter. »Lukas? Alles in Ordnung?« Sie steckte ihren Revolver zurück in den Bund ihrer Hose und eilte an seine Seite. Er nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. Er war unverletzt, aber nichts war in Ordnung. Seine Fänge und Klauen bildeten sich zurück, er wurde wieder menschlich. »Was hast du getan?«, flüsterte er heiser. »Dich vor Ariadne gerettet. Sie wollte dich einspinnen!« »Nein«, wisperte er. Fassungslos starrte er auf die tote Spinnenfrau, deren Hals die Male seiner Hände trug. »Sie hat sich nur verteidigt. Ich hätte sie beinahe erwürgt.« »Und das zu Recht«, eröffnete ihm Mignon. »Sie hat dich an Waidinger verraten. Sie hat gewusst, wann und wo wir uns treffen würden. Und während wir uns mit Friedrich gestritten haben, hat sie ihm Bescheid gegeben, dass er seinen Teufelssalamander losschicken sollte.«
»Aber was ist mit Joscha? Warum sollte Ariadne seinen Tod wünschen?«, wandte Lukas ein. Perditas Tod hatte den Gedanken an den jungen Maler, der sein Leben ebenfalls in den Flammen verloren hatte, bisher verdrängt. »Soweit ich weiß, mag sie junge Männer wie ihn ganz besonders.« »Vielleicht hat er ein Bild von Ariadnes Verrat gemalt. Oder er wollte sich um Heinrichs Freilassung bemühen, und du weißt, wie sehr Ariadne an ihrem Opfer hängt. Gehangen hat.« Mignon legte die Hand auf seine Schulter. »Ich weiß, du und Ariadne, ihr seid alte Freunde gewesen. Aber du musst dich damit abfinden, dass sie die Seiten gewechselt hat. Was immer Waidinger ihr geboten hat – es war genug, damit sie zur Verräterin wurde.« Lukas biss die Zähne zusammen. Er wollte Mignon nicht glauben, doch ihre Worte machten Sinn. Schrecklichen Sinn. Von dem verabredeten Treffen in Ariadnes Club konnte Waidinger nur durch Verrat erfahren haben. Und naiv wie eine Jungfrau hatte er Perdita mitten in die Höhle des Löwen – nein, in das Nest einer falschen Schlange – gebracht, wo sie ihren Tod gefunden hatte. Er hatte Waidinger unterschätzt, und dafür hatte seine unschuldige Tochter sterben müssen. Lukas zog Mignon in seine Arme und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Ungeweinte Tränen lösten sich endlich und strömten über seine Wangen …
* Perdita schlang die Arme fester um sich. Waidingers untote Diener hatten sie überwältigt und in den Kerker geworfen. Ihr Gefängnis war ein echtes mittelalterliches Verlies: ein vier Meter tiefes Erdloch, dessen einziger Zugang eine runde Öffnung in der Decke war. Unsanft, aber zum Glück unverletzt, war sie auf dem lehmigen Boden gelandet.
Wie sie unterwegs vom Wohnzimmer in den Kerker bemerkt hatte, befand sich Waidingers derzeitiges Domizil in einer alten Burgruine. Durch die Fenster hatte sie einen wuchtigen Bergfried und halb verfallene Mauern erkennen können. Es mochte traumhaft sein, in einer Burg zu wohnen – eine Nacht im Verlies zu schmoren war jedoch der reinste Albtraum. Perdita glaubte zu hören, wie die Schreie der einstigen Gefangenen durch ihre Zelle gellten. Irgendwo tropfte Wasser. Es roch muffig nach feuchter Erde und leicht beißend nach einem verstopften Abflussrohr. Von dem festgestampften Lehmboden stieg Kälte auf und kroch ihre Beine empor. Als einzige Lichtquelle diente das runde Loch in der Decke, das von einem Eisengitter versperrt wurde. Perdita rieb sich die Hände. Immer noch brannten ihre Fingerkuppen von ihrem ersten und bisher einzigen Fluchtversuch. Mit dem Geschick eines Vampirs war sie die unverputzte Wand hochgeklettert und hatte versucht, das Gitter zur Seite zu schieben. Doch als sie die Eisenstäbe berührt hatte, war ein Stromstoß durch ihren Körper gefahren. Sie hatte das Gitter losgelassen und war zu Boden gestürzt. Kein Zweifel, Waidinger hatte vorgesorgt, damit sie ihm nicht entwischen konnte. Perdita biss die Zähne zusammen, sie wollte nicht aufgeben. Sie durfte nicht aufgeben! Je länger sie über ihr Gespräch mit Waidinger nachdachte, desto sicherer wurde sie sich, dass er sie die ganze Zeit über belogen hatte. Und selbst wenn sie über magische Kräfte verfügen sollte: Lukas hatte sie eindringlich davor gewarnt, diese zu schulen, und daran würde sie sich halten. Die Angst, dass gleiche Schicksal wie Heinrich zu erleiden, saß viel zu tief. Aber was wird aus Beate?, überlegte Perdita voller Sorge um ihre Schwester. Offensichtlich hatte sie sich Waidinger freiwillig angeschlossen.
Was würde mit ihr geschehen, sobald Lukas den Nekromanten vernichtet hatte? An einen anderen Ausgang der Auseinandersetzung wagte die junge Vampirin erst gar nicht zu denken. Lukas würde sie retten und Waidinger töten, dessen war sie sich sicher. Und hatte der Vampir nicht den weißen Magier Bashar zum Verbündeten? Bashar! Die Erinnerung ließ Perdita über ihre eigene Dummheit lachen. Wie hatte sie nur den Ring vergessen können? Der Wüstenmagier hatte ihr das Schmuckstück geschenkt, damit sie es in der Not verwenden konnte. Und jetzt war sie eindeutig in Not. Sie nahm den Ring mit dem Smaragd, der an ihrem linken Ringfinger steckte, und drehte ihn einmal im Uhrzeigersinn. Der grüne Stein löste sich in Rauch auf. Die Wolke dehnte sich aus, verdichtete sich und nahm Gestalt an. Wie aus grünem Glas gefertigt, stand schließlich eine kleine Gestalt mit weiten Hosen und großem Turban vor Perdita, die sie an den Mohr auf der Sarotti‐ Schokolade erinnerte. Der Junge verneigte sich artig und sagte etwas in einer fremden Sprache. »W … wie bitte?«, stotterte Perdita. »Es tut mir Leid, ich verstehe dich nicht.« »Seid gegrüßt, junge Herrin«, wechselte der Dschinn ins Deutsche. »Mein Name ist Rahim. Verwundert sehe ich, dass Ihr nicht mein Herr Bashar seid.« »Ich bin Perdita. Bashar hat mir den Ring geschenkt«, erklärte sie etwas verunsichert. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus?« Nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, sich in einer unwirklichen Situation zu befinden. Hier stand sie – gefangen in Waidingers Kerker – und tauschte Höflichkeiten mit einem Märchenwesen aus 1001 Nacht aus. Ein erfreutes Lächeln huschte über Rahims Gesicht. »Ich diene, wem immer der Ring gehört. Nun denn, junge Herrin Perdita, nennt
mir Euren Wunsch, und er soll erfüllt werden!« »Ich …« Sie biss sich auf die Lippen. Hieß es nicht immer, dass man seine Wünsche sorgfältig formulieren musste, sonst würde der dienstbare Geist versuchen, einen übers Ohr zu hauen? Langsam sagte sie: »Ich werde von einem Schwarzmagier gefangen gehalten. Kannst du mir bitte helfen, aus diesem Kerker und seiner Burg zu entkommen?« »Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Was leider nicht sehr viel ist. Ich kann Euch nicht heraustragen, dafür reichen meine Kräfte nicht, vor allem nicht, da dieser Kerker durch Magie gesichert wird.« »Könntest du denn den Strom abschalten, der durch das Gitter fließt? Und den Riegel öffnen?« »Ich höre und gehorche.« Der kleine »Mohr« verwandelte sich in eine Rauchschwade und flog durch das Gitter davon. Unruhig lief Perdita auf und ab. Wie lange Rahim wohl brauchen würde? Sie wollte nicht die Wände erklimmen, ehe er zurück war. Sie wusste ja nicht, wie lange sie dort oben ausharren musste. Nicht sehr lange, wie sie kurz darauf erfreut feststellte. Ein hellgrünes Leuchten verriet, dass der Dschinn über dem Gitter stand, und ein leises Scharren verkündete, dass der Riegel zurückgeschoben wurde. Das Gitter öffnete sich. Der Weg war frei. Perdita zog ihre Turnschuhe aus und verknotete sie in den Gürtelschlaufen ihrer Jeans, ehe sie mit dem Aufstieg begann. Ihre Finger und Zehen fanden Halt an winzigen Vorsprüngen und Einkerbungen in der Wand. Mühelos arbeitete sie sich bis zur Decke hoch. Mit den Füßen und einer Hand krallte sie sich fest, während sie nach dem Rand des Ausstiegs griff. Sie holte Schwung, fand Halt und zog sich aus dem Kerkerloch. Ein triumphierendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Aufstieg war so einfach gewesen. Lag es an ihrer vampirischen
Stärke, oder würde sie irgendwann fliegen können? Flüchtig runzelte sie die Stirn. Lukas hatte diese Fähigkeit niemals erwähnt. Vermutlich war es reine Erfindung in der Fantasie der Menschen. Wie Supermann durch die Nacht zu brausen – eine lächerliche Vorstellung. »So weit, so gut«, sagte sie zu Rahim, der neben ihr auf weitere Anweisungen wartete, während sie in ihre Turnschuhe schlüpfte. Ein trübes Notlicht an der Decke versorgte sie mit scheinbar blendender Helligkeit. Wachsam schaute sie sich um. Sie standen am Ende eines Ganges, der zu einer steilen Treppe führte. Links in der Wand befand sich eine Tür, die mit schweren Riegeln verschlossen war. Als sie daran vorbeischlich, drang ein schmerzerfülltes Stöhnen an ihr Ohr. Perdita zuckte zusammen. Joscha! schoss es ihr durch den Kopf. Beate hatte zwar behauptet, er wäre in Sicherheit, aber das war bestimmt nur eine weitere Lüge. Wahrscheinlich war Joscha ebenfalls von Waidinger entführt worden und verrottete nun in diesem Gefängnis. Hastig begann sie, die Riegel zurückzuschieben. »Ich glaube nicht, dass Ihr dort den Ausgang aus der Burg findet werdet, junge Herrin Perdita«, meinte Rahim spitz. »Ich auch nicht. Aber Joscha ist dort drinnen. Oder eine andere arme Kreatur, die Waidinger gefangen hält.« Sie schob den letzten Riegel zurück und öffnete die Tür. Ein vertrauter scharfer Geruch attackierte ihre Nase. Noch bevor ihre Augen die auf dem Boden zusammengekrümmte Gestalt erblickten, erkannte sie überrascht, wer der Gefangene war. »Wolf?« Mit zwei Schritten erreichte sie den Werwolf, den sie im Wiener Prater kennen gelernt hatte. Sie kniete neben ihm nieder und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. »Wolf, ich bin es. Perdita. Erkennst du mich nicht?«
Der Mann blinzelte überrascht. Dunkle Flecken überzogen sein Gesicht und den nackten Oberkörper. Seine Hose war zerrissen, seine Schuhe fehlten. Perdita nahm einen feinen Blutgeruch wahr, der von frisch verheilten Wunden und Kratzern aufstieg. Keine Frage, jemand hatte Wolf grausam misshandelt. »Perdita.« Seine Stimme klang rau von Schmerzensschreien. Plötzlich zuckte er zurück. »Was willst du von mir?« »Ich will dich befreien. Waidinger hält mich ebenfalls gefangen. Aber was machst du hier? Ich dachte, Mignon hat dich zu Freunden in der Bretagne gebracht.« Wolf schnaubte verächtlich. »Nicht in die Bretagne, sondern in die Bredouille hat sie mich gebracht. Diese Verräterin steckt mit Waidinger unter einer Decke. Kaum hat Lukas ihr den Rücken zugedreht, hat sie mich hierher verschleppt, um ihrem Meister eine Freude zu machen. Immerhin habe ich Lukas sein Versteck in Wien verraten. Und wie du dir vorstellen kannst, war Waidinger überglücklich über unser Wiedersehen.« »Mignon hat einen Pakt mit Waidinger?« In Perditas Kopf drehte sich alles. Sie hatte die Vampirin nur flüchtig kennen gelernt, aber sie wusste, dass Lukas ihr vertraute. Sie war eine gefährliche Schlange an seiner Brust. Perdita musste Lukas warnen! »Verschwinden wir von hier.« Sie streckte Wolf die Hand entgegen und zog ihn auf die Füße. Zwar heilten seine Wunden nicht so schnell wie die eines Vampirs, aber die Hoffnung zu entkommen verlieh ihm neue Kräfte. Gemeinsam verließen sie die Zelle. »Das ist Rahim, ein Dschinn«, stellte Perdita ihren geisterhaften Helfer vor. Kurz überlegte sie, ob sie noch nach Joscha suchen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wusste ja nicht, ob er ebenfalls
gefangen gehalten wurde. Vielleicht war er Waidingers Lügen aufgesessen oder bei dem Brand in seinem Atelier umgekommen. Besser, sie verlor keine Zeit mehr. Je schneller sie Lukas erreichte, desto eher konnte sie Joscha helfen. Sie wandte sich an Rahim. »Weißt du, wie wir hier am schnellsten herauskommen?« »Folgt mir!« Der Dschinn schwebte voran, die Treppe hinauf. Am Ende der Stufen befand sich eine Tür und dahinter ein ebenerdiger, runder Raum. Ein Türbogen führte ins Freie. Perdita trat an den Durchlass, um über den Hof zu spähen, da fluteten die ersten Strahlen der Morgensonne über die Burgmauer. Perdita sprang zurück und prallte gegen Wolf. »Wir müssen über den Hof, um zum Eingangstor zu gelangen«, sagte Rahim. Wolf legte Perdita beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es ist noch früh am Morgen. Die Schatten sind lang. Wenn du dich eng an die Mauern hältst, können wir es vielleicht schaffen.« Perdita starrte hinaus auf den tödlich hellen Burghof. Im Zuge von Renovierungsarbeiten war er mit Kopfsteinen gepflastert worden. Staub und Kiessplitter bedeckten die quadratischen Steine. Am Ende des Hofs konnte sie das Eingangstor erkennen, das von zwei Türmen flankiert wurde. Es war nicht mehr weit bis in die Freiheit. »Versuchen wir es«, flüsterte sie heiser. Sie hatte keine Wahl. Sie musste Waidinger entkommen, um ihretwillen, aber auch, um Joscha und Beate zu retten. Tief atmete sie durch. Nun würde sich zeigen, wie stark Lukas’ Blut in ihren Adern floss. Er vertrug ein gewisses Maß an Sonnenlicht – aber reichte ihr Erbe aus, damit sie im Schatten überleben konnte? Sie rannte los. Blitzschnell schoss sie aus dem runden Raum und über den Hof. Im Schatten der Mauer jagte sie auf das Eingangstor zu. Glühende Hitze erfasste ihren Körper. Ihre Haut prickelte und
kribbelte, als hätte sie Stunden in der Wüstensonne verbracht. Plötzlich glaubte sie, Rauch zu riechen und den beißenden Gestank von verbranntem Fleisch. Aus dem leichten Kribbeln wurde brennender Schmerz. In ihren Augen standen Tränen. Sie biss die Zähne zusammen und lief schneller. Durst sprang sie an wie ein wildes Tier. Ihre Haut schien in Flammen zu stehen. Höllenqualen erfassten ihren Leib, saugten die Kraft aus ihren Gliedern. Sie verlor die Kontrolle über ihre Füße, stolperte! Da wurde sie von Rahim am Kragen gepackt und vorwärts gestoßen. Hart schrammte sie gegen eine Mauer. Neben ihr wurde eine Tür aufgerissen, sie wurde durch die Öffnung geschubst und die Tür hinter ihr zugeschlagen. Wohltuendes Zwielicht umfing sie. Aufschluchzend brach sie zusammen, während Schreck und Schmerz über ihr zusammenschlugen. Am Rande einer Ohnmacht nahm sie wahr, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde. Der wilde Geruch von Wolf wurde intensiver. »Perdita?«, drang seine raue Stimme besorgt an ihr Ohr. »Bleib ganz ruhig, und gib deinem Körper Zeit zu heilen. Rahim, kannst du ihr etwas zu trinken besorgen? Wenn Waidinger einen Vampir gefangen hält, wird er über entsprechende Vorräte verfügen, in Form von Blutkonserven oder Haustieren.« »Es geht leider nicht«, antwortete der Dschinn. »Erst muss sie aus der Burg entkommen sein, ehe ich ihr den nächsten Wunsch erfüllen kann.« Perdita kniff die Augen zusammen. Tief in ihrem Innern erwachte die Bestie Vampir und verlangte nach der Herrschaft über ihr Denken und ihre Taten. Sie konnte Wolfs Herz schlagen hören, wie es das süße, nahrhafte Blut durch seinen Körper pumpte. Trotz seines unangenehm starken Körpergeruchs und der Schlieren aus Schmutz, die seine Haut bedeckten, wollte sie ihre Fänge in sein Fleisch schlagen, um ihren Durst zu stillen. Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich. Mühsam
presste sie hervor: »Rahim, ich hatte dir aufgetragen, mir bei meiner Flucht zu helfen. So kann ich nicht entkommen, also besorg mir verdammt noch mal etwas zu trinken!« Tief atmete sie durch. »Und danke, dass du mich aus der Sonne gerettet hast.« »Ich lebe, um Euch zu dienen, junge Herrin Perdita.« Der Dschinn verneigte sich und verwandelte sich in eine Wolke aus grünem Rauch. »Warte!«, rief Wolf ihn zurück. »Im Hof parkt ein Maybach. Bring uns die Autoschlüssel mit!« Die grüne Rauchwolke hüpfte bestätigend auf und ab, ehe sie durch das Schlüsselloch entwich. Leise stöhnend setzte sich Perdita auf. Sie befanden sich in einer ehemaligen Wachkammer, rechts vom Eingangstor. Eine Wendeltreppe führte in die oberen Stockwerke des Wachturms. Wolf trat an eine schmale Schießscharte und sondierte das Gelände vor dem Tor. »Wozu die Autoschlüssel?«, erkundigte sich Perdita. »Draußen ist die Sonne aufgegangen. Du würdest im Nu verbrennen.« Wolf setzte sich auf die Wendeltreppe. »Also werde ich mit dem Wagen vorfahren, du springst in den Kofferraum, und weg sind wir.« Perdita nickte langsam. Konnte sie Wolf eigentlich trauen? Prüfend musterte sie ihn. Er wirkte noch ungepflegter als bei ihrem ersten Treffen, was jedoch an seiner Gefangenschaft liegen musste. Da zur Zeit der Neumond am Himmel stand, war sein dunkles Haar kurz, sein Gesicht bartlos. Seine nackte, glatte Brust war schmächtig wie bei einem Heranwachsenden, und die zerlumpte Hose schlotterte um seine mageren Beine. »Wer sagt mir, dass du nicht ohne mich abhaust?«, fragte sie misstrauisch. »Ich sage es dir. Du kannst mir vertrauen. Du hast mich aus dem
Kerker befreit, dafür schulde ich dir etwas. Und obwohl ich Lukas nicht sonderlich mag, kann ich Waidinger noch weniger leiden.« Er bleckte die Zähne. »Lukas schlägt dich nur so lange, bis du ihm sagst, was er wissen will. Waidinger dagegen quält Leute zu seinem Vergnügen.« »Ich möchte mich für Lukas entschuldigen. Wenn er aufgebracht ist, verliert er leicht die Kontrolle über sich.« »Schon gut.« Wolf rieb sein Gesicht mit beiden Händen. »Ich bin nicht der Typ, der anderen fehlende Selbstkontrolle vorwerfen kann. Du weißt ja, wie ich zu Vollmond bin, Rotkäppchen.« Ehe Perdita darauf eingehen konnte, kehrte Rahim zurück. Er reichte ihr eine braune Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit, und Wolf warf er einen Satz Autoschlüssel zu. Hastig schraubte Perdita den Verschluss ab und trank in gierigen Schlucken das ekelhaft kalte Blut. »Dann wollen wir mal.« Wolf stand auf und ging zur Tür. »Ich werde zuerst das Tor öffnen und dann den Wagen holen.« Perdita riss sich die Flasche vom Mund, doch ehe sie sprechen konnte, war der Werwolf aus dem Wachraum verschwunden. Voller Furcht starrte sie auf die geschlossene Tür. Zu Recht! Alarmsirenen heulten los und riefen Waidinger und seine Schergen herbei. Sie rannte zur Tür und schrie nach Wolf, er sollte sofort verschwinden. Ihre Blicke trafen sich. Er nickte kurz und rannte aus der Burg. Mit einem lauten Donnern fiel das Tor hinter ihm zu. Perdita schloss die Tür zum Wachraum und rannte die Wendeltreppe hinauf. Vielleicht konnte sie sich verstecken, bis es dunkel wurde. Waidinger musste doch annehmen, sie säße noch in ihrem Verlies, denn welcher Vampir wagte sich schon ans
Sonnenlicht? Doch ihre Hoffnung auf ein Versteck wurde enttäuscht. Der Zahn der Zeit hatte schwerer an dem Turm genagt, als sie gehofft hatte. Der einzige sichere Raum war die Wachkammer im Erdgeschoss. Perdita drückte sich in die Ecke unter der Wendeltreppe, zog die Beine an und machte sich so klein wie möglich. Die braune Flasche mit dem Blut hielt sie fest an ihre Brust gedrückt. Nachdenklich blickte sie Rahim an, der ihr wie ein treuer Hund gefolgt war. Durch seine grünlich schimmernde Gestalt hindurch konnte sie die groben Steine des Mauerwerks erkennen. »Bevor die Sonne untergeht, komme ich nicht weiter«, flüsterte sie, nachdem das Heulen der Alarmsirenen endlich verstummtwar. »Ich hoffe wirklich, dass Wolf durchkommt und Hilfe holt.« »Könnt Ihr ihm denn vertrauen?« »Mir bleibt nichts anderes übrig.« Perdita ballte die Fäuste. Tief atmete sie durch und zwang ihre Muskeln, sich zu entspannen. Obwohl ihr Herz vor Angst raste, arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren. Die Wachkammer würde sie vor der mörderischen Sonne beschützen. Aber was würde passieren, wenn Waidinger sie hier entdeckte? »Kannst du dich in einen Smaragd zurückverwandeln, Rahim?«, bat sie den Dschinn. »Falls Waidinger mich hier findet, soll er nichts von dir wissen.« »Ich höre und gehorche.« Rahims Gestalt zerfloss zu einer grünen Wolke. Sie schrumpfte, bis sie die Größe eines Schmucksteins erreicht hatte. Doch gerade, als Rahim zurück in den Ring schweben wollte, schwang die Tür auf, und Waidinger erschien im Türrahmen. Wie der mahnende Finger des Todes fiel sein Schatten in den Raum, der plötzlich von Sonnenlicht durchflutet wurde. Perdita blieb das Herz stehen. Instinktiv presste sie sich tiefer in
den Schutz der Wendeltreppe. Mit tödlicher Präzision fiel der Blick des Schwarzmagiers auf den Dschinn, der in diesem Moment wieder zu dem Smaragd auf Perditas Ring wurde. Ein hämisches Lächeln erschien auf Waidingers Lippen, doch seine grauen Augen schauten kalt wie Stahl. »Ahnte ich doch, dass du Hilfe hattest«, sagte er mit eisiger Stimme. »Doch das wird kein zweites Mal geschehen.« Mit drei Schritten hatte er die schreckensstarre Perdita erreicht. Blitzschnell bückte er sich und riss den Ring von ihrem Finger …
* Lukas drehte sich auf die Seite und stützte sein Gesicht auf die Rechte. Zärtlich betrachtete er Mignons Gesicht, die klaren Linien der kleinen, geraden Nase und der fein geschwungenen Lippen. Vor den Fenstern seines Schlafzimmers erhob sich der Mond über den Bäumen – Zeit, aufzustehen und Waidingers Vernichtung zu planen. Lukas seufzte innerlich. In Mignons Armen hatte er einige Stunden der Ruhe und des Vergessens gefunden. Sie hatte das Messer aus seinem Herzen gezogen. Doch die Wunde würde sich erst mit Waidingers Tod schließen. Mignon schlug die Augen auf. Kurz flackerte ihr Blick, bis sie sich erinnerte, wo sie sich befand und unter welchen Umständen sie eingeschlafen war. Lächelnd wandte sie sich Lukas zu. Er neigte den Kopf und küsste ihre weichen Lippen. Minuten verstrichen, ehe sich Lukas von der geliebten Freundin löste. »Ich möchte, dass du das Land verlässt. Dich in Sicherheit vor Waidinger bringst«, bat er.
Innerhalb von zwei Monaten hatte er mit Perdita die Tochter, mit Raffaella eine schwesterliche Freundin verloren. Außerdem hatte das Wiedersehen mit Claras Geist alte Wunden aufgerissen. Er wusste allerdings nicht, wie er das alles ohne Mignon ertragen sollte, nicht, nachdem ihn auch noch Ariadne verraten hatte; eine Tat, die er bis jetzt nicht fassen konnte. »Du kannst nicht allein gegen Waidinger antreten«, wandte Mignon ein. »Lass mich bei dir bleiben.« Er nahm ihre Hände in seine. »Bitte. Ich will dich nicht verlieren.« Ihre saphirblauen Augen verfinsterten sich. Sie entzog ihm ihre Hände, drehte sich ebenfalls auf die Seite und sah ihn eindringlich an. »Darf ich dir eine Frage stellen, Lukas?«, bat sie. »Die Sache mit Heinrich vor einem Jahr: Warum hast du es übernommen, ihn aus dem Verkehr zu ziehen? Weil du generell keine Magier leiden kannst, oder weil er eine Ausgeburt an Schlechtigkeit und Gemeinheit ist?« »Er hat gegen ein Gesetz verstoßen, über das wir uns alle einig waren«, antwortete Lukas angespannt. Er war es leid, über das Thema zu diskutieren. Er hatte getan, was getan werden musste, nicht mehr und nicht weniger. Und Mignon hatte ihm mehr als einmal signalisiert, dass sie mit seinem Vorgehen einverstanden war. »Es heißt, du wärst die treibende Kraft hinter diesen Gesetzen gewesen, damals zur Zeit der Hexenverfolgung«, meinte sie. »Sie waren notwendig, um unser Überleben zu sichern.« »Aber die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen glauben die wenigsten Sterblichen an Magie, dafür immer mehr an die Spurensuche und die Aufklärungsarbeit der Polizei. Es wäre hilfreich, wenn wir uns hinter der Magie verstecken könnten.« »Nicht jeder Vampir ist magisch begabt«, erklärte Lukas schroff.
»So oder so müssen wir Wege finden, ohne Magie zu Recht zu kommen.« Mignon seufzte leise. »Das klingt so einfach. Aber die Magie ist keine Gabe, die man einfach ein‐ und ausschalten kann. Wenn sie in dir erwacht, drängt sie danach, sich zu entfalten und genutzt zu werden. Es ist wie bei Joscha, der seine Visionen auch nicht kontrollieren oder unterdrücken kann.« »Konnte«, korrigierte Lukas tonlos. »Heinrich ist ein fürchterlicher Prinzipal, der sein Schicksal wahrlich verdient hat«, sagte sie sanft. »Aber was würdest du tun, wenn so ein nettes, freundliches Mädchen wie Perdita zur Magierin heranreifen würde?« Lukas presste die Kiefer zusammen. Die Frage beschäftigte ihn, seit sein Freund Bashar Perditas magisches Potenzial entdeckt hatte. Für seine Bluttochter hatte er schon einmal ein Gesetz gebrochen – hätte er es ein zweites Mal getan? Doch dieses Thema war nur noch schmerzhaft und sinnlos. Perdita war tot, verbrannt in dem Flammenmeer eines Teufelssalamanders. Mignon streckte die Hand aus und strich eine rotblonde Strähne aus Lukas’ Stirn. »Oder stell dir vor, ich besäße die Gabe der Magie. Soll auch ich im Netz einer Spinnenfrau enden?« Ruckartig setzte sich Lukas auf. Mignon war Heinrichs Bluttochter. Und ein Vampir wählte seinen Nachwuchs üblicherweise nach den eigenen Neigungen und Begabungen aus. Doch ehe er nachfragen konnte, ob Mignon über die Gabe der Magie verfügte, klingelte es an der Haustür. »Wir reden später weiter«, sagte er. Aufgewühlt sprang er aus dem Bett. Innerhalb von Sekunden war er angekleidet und aus dem Schlafzimmer geeilt. Er hastete den langen Flur entlang, über die breite Freitreppe ins Erdgeschoss und
durch die Empfangshalle. Mit einem Ruck öffnete er die Eingangstür. Ein kräftiger Mann mit zerrissenen Hosen und struppigen Haaren stand vor Lukas. Streifen aus Blut und Schmutz zogen sich über sein Gesicht und seinen nackten Oberkörper. Er verströmte den köstlichen Geruch von Jagdlust und Blutgier, gepaart mit dem scharfen Aroma der Angst. »Waidinger hält Perdita auf Burg Hohenstein gefangen«, sagte Wolf anstatt einer Begrüßung. »Was?«, keuchte Lukas vollkommen überrascht. »Perdita. Sie ist auf Burg Hohenstein und wird dort von Waidinger gefangen gehalten. Du weißt schon, dieser Schwarzmagier aus Wien, dessen Unterschlupf du niedergebrannt hast.« »Lügner!« Lukas packte Wolf, zerrte ihn in die Eingangshalle und donnerte ihn gegen die nächste Wand. »Du elender Mistkerl. Perdita ist tot, zu einem Häufchen Asche verbrannt. Waidinger hat uns einen Teufelssalamander geschickt, und sie ist in den Flammen umgekommen.« »Nein. Sie lebt. Sie hat mich befreit.« Mit beiden Händen stieß Wolf den Vampir von sich. »Hör zu, Blutsauger, von mir aus kannst du zur Hölle fahren, aber ich schulde unserem Rotkäppchen mein Leben, und deshalb wirst du mir gefälligst zuhören. Perdita ist Waidingers Gefangene auf Burg Hohenstein. Und du tätest gut daran, sie aus diesem Drecksloch herauszuholen, ehe Waidinger ihr etwas antut.« Er stockte. »Ich meine, ihr bleibenden Schaden zufügt.« Lukas trat einen Schritt zurück. Schreck, Unglauben und Hoffnung durchzuckten ihn wie Blitze in einem Gewittersturm. Perdita lebte! Der Gedanke ließ den Boden unter seinen Füßen schwanken. Aber: »Wie kannst du das wissen? Solltest du nicht in der Bretagne sein?«
Wolf lachte bitter. »Da hast du wohl den falschen Reisedienst beauftragt. Mignon hat mich direkt nach Hohenstein ins Gefängnis gebracht. Wir gingen nicht über Los und haben auch keine 2000 Euro eingezogen. Wie du dir vorstellen kannst, war Waidinger überglücklich, mich für den Brand seiner Kapelle bezahlen zu lassen.« Lukas wandte den Kopf, bis er die Galerie am oberen Ende der Freitreppe sehen konnte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er fühlte sich, als habe er einen Stein verschluckt. Laut Wolf gab es eine Verräterin. Doch es war nicht Ariadne – sondern Mignon! Der Vampir trat noch einen Schritt zurück. Konnte er dem Werwolf glauben? Welchen Grund hatte Wolf, ihn anzulügen? Und Mignon? Paktierte sie wirklich mit seinem Erzfeind? Er erinnerte sich an ihr Gespräch über Vampire mit magischen Kräften. Hatte sie einen guten Grund, sich der Gegenseite anzuschließen? »Warte hier!« Er schickte Wolf in einen angrenzenden Salon. »Ich muss etwas klären.« Steifbeinig stieg er die Treppe hinauf. Der lange Flur schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Sein Kopf war leer, seine Gefühle und Gedanken weggefegt von einem Sturm aus Zweifel, aus Hoffen und Bangen. Er stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, so heftig, dass sie gegen die Wand schlug. Verwundert schaute Mignon zu ihm auf. Sie hatte sich inzwischen angekleidet und schnürte gerade ihre Schuhe zu. »Wolf ist hier«, sagte Lukas kalt. »Warum bist du zu Waidinger übergelaufen? Was hat er dir versprochen?« Seine Worte waren ein Bluff, doch Mignons Reaktion bestätigte seine Angst und seine Zweifel. »Schließ dich uns an«, bat Mignon, während sie sich langsam aufrichtete. Sie hatte sich sofort gefasst. »Du und Waidinger, gemeinsam könntet ihr die Welt beherrschen, die Sterblichen ebenso wie die Untoten und die Unsterblichen. Niemand würde sich euch
widersetzen, niemand könnte euch widerstehen.« »Was ist mit Perdita?« »Ihr geht es gut. Waidinger hat sie zu sich genommen, um sie vor jenen zu beschützen, die ihren Tod wollen, weil in ihr die Gabe der Magie erwacht.« »Wie bei dir.« Mignon nickte. Ihre Augen suchten seinen Blick. Leise sagte sie: »Ich liebe dich, Lukas. Bitte, lass es nicht so enden.« »Verschwinde!« Er trat zur Seite. Er wusste, er würde es eines Tages bitter bereuen. Eines baldigen Tages. Doch er konnte nicht anders. »Geh zu deinem Meister und sage ihm, wenn er Perdita auch nur ein Haar krümmt, werde ich ihn bis in alle Ewigkeit leiden lassen. Er wird die Nacht verfluchen, in der er meinen Weg gekreuzt hat!«
* Perdita schlang die Arme um ihre Beine und versteckte das Gesicht zwischen ihren Knien. Sie machte sich so klein wie möglich, in der Hoffnung, von ihren Gefängniswärtern übersehen zu werden. Denn so schrecklich ihre Gefangenschaft auch war, jenseits des Kerkers erwartete sie ein schlimmeres Schicksal: Eines Nachts würde sich Waidinger ihrer erinnern und sie seinen Ghouls oder seinen Zombies zum Fraß vorwerfen. Das permanente Summen des Generators verstummte. Mit einem metallischen Schaben wurde der Riegel zurückgeschoben, das Gitter hoch über ihrem Kopf geöffnet. Blendendes Licht flutete in das Kerkerloch. Eine Alu‐Leiter schepperte und landete mit einem Rums auf dem Lehmboden. »Perdita!«, rief Beate. »Komm herauf!« Die junge Vampirin wimmerte leise. Stetes Dämmerlicht und
absolute Einsamkeit hatten ihre Gefühle betäubt, doch jetzt schwemmte die Angst wie eine Flutwelle über sie hinweg. Instinktiv presste sie sich gegen die raue Wand und verbarg das Gesicht tiefer in ihren Armen, in dem kindlichen Glauben, dass man sie übersehen würde, wenn sie selbst nichts sah. »Perdita!«, wiederholte sich voller Ungeduld der Ruf. »Komm endlich! Sonst muss ich dich holen kommen, und das wird Joscha nicht gut bekommen.« Der Kopf der Vampirin ruckte hoch. Hatte Beate nicht behauptet, der Maler sei in Sicherheit? Und zwar in dem gleichen Satz, in dem sie gesagt hatte, Mignon würde sich um Joscha kümmern, erkannte sie. Die Verräterin Mignon! Gequält zog Perdita Luft in die Lungen. Sie musste die Drohung ernst nehmen, um des Malers willen, zu dem ihr Herz das erste zärtliche Band geknüpft hatte. Tränen der Angst brannten in ihren Augen, während sie langsam aufstand und sich die Leiter hochquälte. Am Rand des Kerkerlochs wurde sie von Beate und Waidingers untoten Dienern in Empfang genommen. Zwei Meter groß und breit wie Schränke waren die beiden Zombies zu Lebzeiten wahrscheinlich Preis‐Boxer auf Jahrmärkten gewesen. Unter den zerlumpten Fetzen ihrer Kleidung schimmerten schwarze Mumienhaut, weißer Schimmel und rote Entzündungsherde hervor. Ein widerlicher Geruch ließ Perdita würgen und brach ihren Widerstand. Die Zombies packten sie an den Armen und schleppten Sie aus den Kellergewölben. Über den nächtlichen Burghof führte Beate die drei in eine ehemalige Scheune, die man zu einer großen Halle umgebaut hatte. Die Zwischendecken waren herausgebrochen, sämtliche Fenster zugemauert. Dunkelheit lauerte in den Ecken, während die Mitte der Halle von mehreren Kerzenständern erleuchtet wurde.
Am Kopfende einer vielleicht zwei Meter langen Tafel stand Waidinger, gekleidet in eine schwarze Robe. Auf dem Tisch vor ihm lagen ein funkelnder Dolch und eine geladene Armbrust. »Nein!« Perditas Widerstand erwachte von Neuem. Verzweifelt wehrte sie sich gegen den Griff der Zombies, versuchte voller Panik, ihre Arme zu befreien. Doch obwohl sie sich schier die Schultern ausrenkte, wurde sie gnadenlos tiefer in die Halle geführt. Geschwächt durch Hunger und Gefangenschaft war sie keine Gegnerin für die beiden. »Das reicht!« Befehlend hob Waidinger die Hand, und die Macht seiner Stimme ließ Perditas Gegenwehr versiegen. Mit wachsendem Entsetzen bemerkte sie die Kreidezeichen auf dem Böden – die Kreise und Pentagramme, die Symbole des Tierkreises und der Planeten. Am Kopf‐ und Fußende der massiven Tafel befanden sich eiserne Ketten und harrten ihres Opfers für ein magisches Ritual. Waidingers Stimme war weich und eiskalt wie Wasser, das aus einem Gletscher rann. »Da du dich uns nicht freiwillig anschließen willst, Perdita, muss ich mich deiner Mitarbeit auf eine andere Art versichern.« »Ich werde niemals mit Ihnen zusammenarbeiten!«, fauchte Perdita. »Niemals!« »Sag niemals nie, wenn du die Konsequenzen nicht kennst.« Waidinger hob die Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Hinter ihm wurde es heller, die Rückwand der Halle wurde sichtbar. Auf halber Höhe hing Joscha. Sie hatten ihn mit langen Zimmermannsnägeln an die Wand genagelt. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, das dunkle Haar verdeckte sein Gesicht. Perdita schlug die Hände vor den Mund. Ihr war, als habe jemand ein Messer in ihr Herz gestoßen. Doch mit dem letzten Funken Hoffnung klammerte sie sich an den Gedanken, dass der Maler
wenigstens noch lebte. Wäre er tot, wäre er zu Staub zerfallen. »Wenn du kooperierst, holen wir Joscha dort runter. Wenn nicht, stirbt er.« Bedeutungsvoll legte Waidinger die Hand auf die Armbrust, die mit einem hölzernen Pfahl geladen war. »Was soll ich tun?«, flüsterte Perdita geschlagen. »Sei still und tu, was man dir sagt«, meldete sich Beate zu Wort. Sie winkte den beiden Zombies, Perdita aus ihrem Griff zu entlassen. »Bald ist Halloween und damit die Zeit, den Tod selbst zu bannen. Doch bis dahin will Meister Franz keine Kraft an ein störrisches, dummes Mädchen verschwenden.« Obwohl sie nur einen Fingerbreit größer als Perdita war, schien sie ihre jüngere Schwester um Haupteslänge zu überragen. Der kalte Ausdruck in ihren Augen ließ ihr weiches, rundes Gesicht hart und um Jahre älter erscheinen. Grob zerrte sie den Pullover über Perditas Kopf. Auffordernd klopfte Waidinger auf die leere Tischplatte, und Beate drängte, schubste und schob ihre Schwester, bis diese mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem harten Holz lag. Mit leuchtenden Augen schloss das Mädchen die Eisenmanschetten um Perditas Hand‐ und Fußgelenke. »Beate«, flehte Perdita heiser. »Bitte, tu mir das nicht an. Wir sind doch Schwestern!« Waidinger stützte die Hände rechts und links von ihrem Kopf auf den Tisch. »Sie ist die Ältere, und du hättest auf sie hören sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest. Aber jetzt ist es zu spät.« Perdita kniff die Augen zusammen und presste die Zähne aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen. Tränen rannen über ihre Wangen, hilflos ballte sie die Fäuste. Sie hörte, wie Waidinger die Zombies aus der Halle schickte und Beate auf ihren Platz am unteren Ende des Tisches verwies. Danach begann er das magische Ritual.
Unverständliche Worte aus einer fremden Sprache quollen aus seinem Mund. Mit jeder Zeile wurde seine Stimme dunkler und eindringlicher. Perdita spürte eine Berührung auf ihrer Brust und riss die Augen auf. Keine Handbreit entfernt blitzte das Messer. Waidinger senkte die Klinge und schnitt verwobene Muster in ihre nackte Haut. Die Vampirin schluchzte gequält auf. Die Wunden verheilten so schnell, dass sie die Schmerzen kaum spürte, doch sie hinterließen eine rote Spur aus Blut. Ein Albdruck legte sich auf ihre Brust. Ihr war, als würde Nebel sie umfangen, schwere, graue Schleier, die ihre Sinne dämpften. Müdigkeit erfasste sie. Ihre Gedanken wurden träge, ihre Empfindungen verblassten. Schließlich drang nur noch Waidingers Stimme zu ihr durch. Seine Worte wurden ihr einziger Halt, waren strahlende Leuchtfeuer in einem Meer aus grauem Nebel. Das unwiderstehliche Bedürfnis, der Stimme zu folgen, erwachte in ihr. Seine Anweisungen wurden zu einem roten Faden, der sie durch die Dunkelheit führte. Den Befehlen zu gehorchen war der einzige Weg, den sie beschreiten wollte. Von der Magie gebannt wurde Perdita zur willenlosen Dienerin des Nekromanten … Fortsetzung folgt