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Buch: Corporal Whitey O'Thraight gehört zur Mannschaft der »Asperance«, des ersten Sternenschiffs, das vom Planeten Vespucci aus startet, um den Planeten Sca zu erforschen. Der Expedition ist kein Glück beschieden. Die »Asperance« zerschellt bei der Landung. Nur O'Thraight und ein schwerverletzter Leutnant überleben die Katastrophe. Sie werden von grausamen Wilden gefangengenommen und in einer Burg eingekerkert. Man glaubt ihnen ihre Herkunft nicht und will ihnen die »Wahrheit« durch Folter abpressen. Doch bevor es zum Schlimmsten kommt, werden sie von einer seltsamen Gruppe von Mönchen entführt, die über unglaublich wirksame Waffen verfügen. Es handelt sich offenbar um Menschen, aber sie stammen weder von Vespucci noch von Sca, denn ihre Technologie stellt alles in den Schatten, was je entwickelt und erfunden wurde, und ihre gewaltigen überlichtschnellen Sternenschiffe springen mühelos von einem Sonnensystem ins andere. Doch wo kommen diese Menschen her? Durch seinen munteren, fröhlich-frechen Stil, seine anarchistische Kaltschnäuzigkeit und ein Feuerwerk von Ideen hat Neil Smith frischen Wind in die amerikanische Science Fiction gebracht.
SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Von L. Neil Smith erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: DAS GALLATIN-UNIVERSUM: Der Durchbruch 06/4250 Der Venus-Gürtel 06/4251 Ihrer Majestäten Kübeliere 06/4252 Der Nagasaki-Vektor 06/5253 Tom Paine Maru 06/4281 Die Gallatin-Abweichung 06/4282
L. NEIL SMITH
TOM PAINE MARU Fünfter Roman aus dem Gallatin-Universum
Science Fiction
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4281
Titel der amerikanischen Originalausgabe TOM PAINE MARU Deutsche Übersetzung von Irene Holicki Das Umschlagbild schuf Roy Michael Payne
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1984 by L. Neil Smith Copyright © 1986 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1986 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31291-0
INHALT PROLOG
ERSTER TEIL – DIE STERNENMÄNNER
9
15
1. Kapitel – Kerker, Feuer und Schwert 2. Kapitel – Abschied von Eleva 3. Kapitel – Die Himmelsdämonen 4. Kapitel – Flucht in die Kreativität 5. Kapitel – Fenster zur Unendlichkeit 6. Kapitel – Little Tom 7. Kapitel – Rendezvous im Weltraum 8. Kapitel – Geheimnisvolle Fremde
16 28 37 46 59 73 88 101
ZWEITER TEIL – DIE FREIBEUTER
116
9. Kapitel – Leelalees Garten 117 10. Kapitel – Sammelbecken für Informationen 131 11. Kapitel – Die Mandarre hört niemand 145 12. Kapitel – Kokos Zorn 160 13. Kapitel – Annäherungsversuch über das Verwundetenabzeichen 171 14. Kapitel – Operation Klaatu 185 15. Kapitel – Buchhalter der Seele 198 16. Kapitel – Afdiar 213 17. Kapitel – Der Verlorengegangene Kontinent 226 DRITTER TEIL – DIE LAMVIIN
18. Kapitel – Engelsflügel 19. Kapitel – Meine lieben Freunde und Kerkermeister 20. Kapitel – Die wichtigste Leitlinie 21. Kapitel – Das Picknick der Teddybären
238
239 258 268 283
Anhang – Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums 293 ÜBER DEN AUTOR 309
Für Cathy, meine Schmetterlingsprinzessin
Prolog Ein sanfter, köstlich duftender Wind kündigte die Dunkelheit an. Er brachte fernes Donnergrollen mit. »Wiedereintrittskommando ›Asperance‹ an Rettungskapsel Vier: Seid ihr reingekommen?« Schweigen. »WKA an Rettungskapsel Vier – reingekommen?« Die flehentlichen Rufe des Funkers wurden nur mit einem leeren, statischen Rauschen belohnt. Mit tränenden Augen wich er vom Feuer zurück, als sich der Wind plötzlich drehte. Neben ihm, fröstelnd über das qualmende Feuer gebeugt, stand der Lieutenant, steckte die Hände in die Taschen seiner Uniform und fragte ungeduldig: »Gar nichts zu hören?« Immer noch hustend schaute der Funker auf, er hockte da und versuchte, dem Gerät in seiner Hand ein Signal zu entlocken und gleichzeitig eine Proviantdose aufzuwärmen. Der Koch der Expedition war – mit dem größten Teil unserer Vorräte – an Bord der vermißten Rettungskapsel Vier gewesen. »Kein Laut, Sir. Vielleicht haben die Probleme mit ihren Kommunikatoren.« »Mit beiden Geräten?« Diesmal war der Donner lauter und zwang den Lieutenant, seine Worte zu wiederholen. »Mit beiden Geräten?« »Andererseits…« – der Funker hielt sein eigenes Funkgerät hoch – »könnte es auch das hier sein. Ich hätte keine Möglichkeit, es festzustellen, Sir.« Das war nicht unrichtig; der Offizier, der am Feuer hockte, war Botaniker. Unser regulärer Kommunikationsexperte befand sich an Bord der vermißten Rettungskapsel Fünf. Wirklich interessant würde es erst werden, wenn es Zeit war, das Mikrowellenfeld für eine Nachricht nach Hause zu errichten. Die Ausrüstung dafür befand sich an Bord einer der vier Kugeln, die… nein, es war noch nicht ganz an der Zeit zu sagen
›überlebt hatten‹, ganz gleich, in welchem Sinne des Wortes. Wir wußten nicht, ob die beiden anderen untergegangen waren, und wir waren auch noch nicht sicher, ob uns das Überleben geglückt war. Der Lieutenant schüttelte den Kopf und artikulierte lautlos nicht druckfähige Wörter. Das ziemlich unklar gehaltene Regierungshandbuch hatte eine Landung im Morgengrauen vorgesehen und uns damit eine volle Tageslichtperiode Zeit gegeben, uns auf fremdem, möglicherweise feindlichem Territorium einzurichten. Der glühendheiße Primärstern des Planeten verfügte, daß wir die vervielfältigten Seiten umschrieben. Schon die paar wenigen Stunden, die wir hinter fast undurchsichtigem, fotoreaktivem Plastik im Orbit verbracht hatten, hatten auch die unempfindlichsten von uns geschwärzt und einige mit nässenden Blasen überzogen. So hatten wir einen Landeplatz hoch in den nördlichen Breiten gewählt, ein Gebet gesprochen und dann die Retrozünder ausgelöst. Die Landung war nicht so schlimm gewesen, wie es die Wissenschaftler vorhergesagt hatten. Ich brach mir einen Knochen im Fuß an zwei Stellen. Vier Rettungskapseln waren in ein paar Kilometern Abstand voneinander hart aufgekommen. Die beiden anderen hatten wir noch nicht ausfindig gemacht, aber in der Nähe war ein frischer Krater. Wo achtzehn unerschrockene Sternenmänner hätten sein sollen – die Elite des Nationalstaats, der Stolz eines ganzen Planeten – da zitterten jetzt ein Dutzend verängstigter, heimwehkranker Seelen, unterschiedlich erledigt, einmütig verwirrt. Wieder kam das dumpfe Donnergrollen vom Horizont her. Ich sah nach meiner Schiene, ehe ich mich um die anderen Verwundeten kümmerte. Der Pistolenreinigungsstab aus Aluminium rutschte ständig vom Spann weg und neben die Fußwölbung, wo er das Abbiegen meines gebrochenen Fußes nicht verhindern konnte. Es wurde jetzt schnell dunkel. Der Donner dröhnte immer regelmäßiger, bis er zu einem anhaltenden, einschüchternden Rollen zu werden drohte. Bald mußte ich das Arsenal der Expedition aufbrechen. So viele Verletzte brauchten Hilfe – unser Sanitätsoffizier und seine Ausrüstung befanden sich in Rettungskapsel Fünf – ich hatte noch keine Zeit gehabt, an meine regulären Pflichten zu denken.
So betäubt und erschüttert wir waren, die Oberfläche des Planeten kam uns vor wie das Paradies: üppig, feucht; sogar hier, auf der Winterhalbkugel, war der Boden warm, dunkel und wohlriechend. Vier kleine Monde leuchteten über uns, der Schein, den sie reflektierten, war so stark, daß man es nicht ertrug, direkt hineinzuschauen. Hier war ein Ort, wo man einen neuen Anfang machen, eine Frau lieben, eine Familie gründen konnte. Es gab keinen Quadratzentimeter, der nicht von grünem Wachstum bedeckt war. Gewöhnliche Vögel, ungewöhnlich in ihrer Anzahl, erfüllten die Bäume mit Musik. Blasse, vom Tageslicht ausgebleichte Gräser raschelten, wenn vierbeinige Pelztiere hindurchhuschten, oder funkelten von halbversteckten, vielfarbigen Schuppenwesen. Myriaden von Insekten schwärmten umher. Obwohl wir sie verfluchten, lachten wir voll Erstaunen und Dankbarkeit, während sie auf uns einstachen. Keine hundert Meter vom Landeplatz entfernt befand sich ein Bach, ein kleiner Teich staute sich hinter einer Barriere aus lehmverbackenen Ästen, die ein breitschwänziges, schwimmendes Säugetier gebaut hatte. Eine ganze Stunde lang war ich vorher an seinem Rand gesessen und hatte meinen kaputten Fuß hineinhängen lassen, und zwischen meine nackten Zehen war mehr fließendes Wasser hindurchgeströmt, als meine Familie in meinem ganzen Leben verbraucht hatte. Jetzt bekam ich bei dem Gedanken daran Angst- und Schuldgefühle. Vorsichtshalber kroch ich in Rettungskapsel Eins zurück und kramte in dem Durcheinander auf dem Boden. Ich begann, Handfeuerwaffen auszupacken – Acht-Millimeter-Darrick Automatik-Revolver – lud sie und stellte sie schußbereit in die Ständer. Sogar durch die dicken Wände hindurch konnte ich jetzt den Donner hören. Bei unserer Fernbeobachtung aus dem Orbit hatten wir spärliche Zeichen primitiver Siedlungen entdeckt. Nach dem Prinzip ›Ein Problem nach dem anderen‹ hatten wir beschlossen, so weit davon entfernt zu landen wie möglich. Trotzdem… ich fand zwei längliche Päckchen, riß die Verpackungsfolie herunter und legte ein Paar Nachlader frei, einen davon schnippte ich in die Öffnung einer Waffe und drückte mit dem Daumen die dreieckigen Plastikpatronen in das Griffmagazin. Diese Prozedur führte ich noch einmal durch, dann befestigte ich zwei Halfter an meinem Gürtel. Wenn jetzt etwas
Unerwartetes geschah, war wenigstens für jeden Einsatzleiter eine Pistole bereit. Mit einem weiteren halben Dutzend noch rostsicher verpackter Darrricks kroch ich aus der Kugel und auf den Ständer zu, den ich neben dem Feuer aufgebaut hatte. Die unverletzten Männer waren unter Aufsicht des Lieutenant schon dabei, die Mikrowellenschüssel aufzublasen und breiteten dazu einen schlaffen Plastikring aus, in sicherer Entfernung von den Funken, die von der Abendbrise in die Luft gewirbelt wurden. Wie einer dieser Funken würde unser Heimatstern heute nacht über dem Himmel schweben. Unsere Signale würden zwei Jahre brauchen, um von hier dorthin zu gelangen. Am besten fingen wir gleich an. Donner dröhnte auf. Diesesmal verstummte er nicht wieder. Plötzlich waren sie über uns, schattenhafte Schreckensgestalten. Nachträuber, die ihr blutiges Geschäft im hellen Licht der Monde verrichten wollten, sie ritten uns mit schweißbedeckten, großen, langbeinigen Tieren nieder, deren irre Schreie sich mit denen der hilflosen Männer mischten, die sie ermorden halfen. Ich sah, wie am Rand des Lagers zwei Offiziere mit einer Lanzenspitze hochgehoben, wie Abfall weggeschleudert und auf die harte Erde geschmettert wurden. Das dünne Plastik der Mikrowellenschüssel, unsere einzige Verbindung mit der Heimat, wurde unter den Hufen der Ungeheuer zerfetzt. Neben dem Feuer brach der Botaniker-Funker unter einem vernichtenden Schwertstreich zusammen. Die Sonne war noch keine Stunde untergegangen. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund rannte der Lieutenant auf mich zu. Ich kämpfte mit einer Halfterklappe, bekam die Waffe frei, streckte sie ihm entgegen. Er berührte sie nicht. Ein Reiter, dessen stumpfe Rüstung den Feuerschein blutrot widerspiegelte, ritt ihn nieder und schlug ihn mit einem einzigen, brutalen Schwertstreich zu Boden. Der Lieutenant stolperte, vor Überraschung und Schmerz ächzend. Der Reiter fegte an ihm vorbei, zielte mit seiner Waffe auf mich. Ehe ich begriff, was geschah, zielte das Visier des Darrick auf die Gitterschlitze
seines Helms. Ich zog den Abzug durch. Blutiges Fleisch quoll durch die Nähte des Helms. Das Tier lief ohne Reiter weiter. Mit einem Schritt, ohne an meinen verletzten Fuß zu denken, stand ich vor dem Lieutenant. Über das Donnern und Krachen der Rüstungen, der Hufe, der von Mordlust besessenen Männer, über den Schrecken des Sterbens hinweg hatte der Schuß aus dem Darrick die Aufmerksamkeit unserer Angreifer erregt. Jemand galoppierte auf mich zu, eine riesige Feder wippte auf seinem Helm. Er brachte sein Reittier ein halbes Dutzend Meter vor mir zum Stehen, senkte die Lanze und trat dem Tier in die Flanken. Ich schoß ihn in den Bauch. Die leere Plastikhülse fiel neben die erste vor meine Füße. Als er zusammensackte und sein Leben über den Hals des Tieres ergoß, hörte ich dicht neben mir einen Schlachtschrei. Zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß ich auch die zweite Pistole draußen hatte. Mein Korn fand selbst den Weg ins Ziel. Ein zweiter Schädel zerplatzte in seinem stählernen Gehäuse. Nun sprach wieder der Darrick in meiner rechten Hand. Ein weiterer Fremder stürzte zu Boden und wickelte sich in seine Eingeweide. Vor meinen Augen bildete sich roter Nebel, das Universum verschmolz zum Krachen meiner Revolver, zum Schatten der beiden Korne vor feuerbeleuchteten stählernen Leibern, zum Klirren geschärften Metalls, zum Aufblitzen meiner Pistolenmündungen in der Dunkelheit. Männer stürzten klirrend aus dem Sattel, vor Überraschung und Zorn aufschreiend, vor Schmerz kreischend, vor Angst schnatternd. Es kam mir vor wie Stunden, muß aber wohl innerhalb von Sekunden vorbeigewesen sein. Zehn Sternenreisende ›Helden‹ lagen verstümmelt da, alles, was sie einmal gewesen waren, tränkte jetzt den warmen, üppigen Boden. Fast ohne auf Widerstand zu stoßen hatte uns der Feind in Stücke gehauen. Ich blickte auf den Haufen weißer Plastikhülsen zwischen meinen Füßen hinunter. Der Arm des Lieutenants war fast von seinem Körper abgetrennt. Als ich mich über ihn beugte, bemerkte ich, daß ich ein Paar langsam abkühlender Pistolen mit leeren Griffen in den Händen hielt. Mit einem gnadenlosen ›Ssssst‹ traf mich die schartige Flachseite einer
Schwertklinge aus kohlenstofffreiem Eisen von hinten. Sie raubte mir nicht völlig das Bewußtsein, nur ein gewisses Quantum an Interesse. Mürrische, pockennarbige Gesichter unter verbeulten Helmen schwammen um mich herum wie zerknautschte Lampions und brabbelten Worte, die ich fast verstand. Sie rollten mich beiseite, stillten die Blutung des Lieutenants mit einem groben Dungklumpen und etwas wie zusammengedrehtem Sackleinen, teilten sich unter Gezänk unsere paar Habseligkeiten auf und montierten ab, was von den Rettungskapseln noch übrig war. Man brachte uns auf einem Karren mit Holzrädern weg, der von Tieren gezogen wurde, die anders waren, stämmiger als die, auf denen die Krieger mit den Blechanzügen geritten waren. Das letzte, was ich vom Lager erblickte, war eine Säule aus fettigem, brodelndem Rauch. Nie wieder würde ich nach Vespucci, meinem Heimatplaneten, zurückkehren. Nie mehr würde ich meine schöne Eleva wiedersehen.
ERSTER TEIL
Die Sternenmänner
1. Kapitel Kerker, Feuer und Schwert 1 Drei volle Wochen hatten meine Augen Zeit, sich anzupassen. Man möchte meinen, ich hätte inzwischen besser sehen können, sogar bei dem bißchen Fackelschein, der sich durch das winzige, vergitterte Fenster in der rostigen Eisentür in unsere Zelle hereinzwängte. Gleichviel: das schwache Licht machte es sehr viel einfacher, aus dem Topf mit halbgefrorenem Matsch zu essen, den man uns hereinschob, wenn man daran dachte. Man konnte das flaumige Zeug übersehen, das auf der Oberfläche wuchs, sich die Nase zuhalten und so tun, als ringelten sich einige der Klumpen nicht, wenn sie im Mund auftauten. Die Dunkelheit wurde zum gütigen Freund. Von da, wo ich saß, brauchte ich kein Flutlicht, um zu riechen, wie der Arm des Lieutenants abfaulte. Warum er noch nicht tot war – vielleicht hätte ich für die Immunisierungsimpfungen dankbar sein sollen, die wir vor dem Flug erhalten hatten, aber die Spritzen bewirkten lediglich, daß sich der Alptraum für ihn wie auch für mich viel länger hinzog. Eleva hätte das ›Defätismus‹ genannt. Es wäre möglich, daß ich alles aus einer ganz verdrehten Perspektive sah. Im letzten Monat war sie zusammengeschrumpft, in abrupten Schüben, von dem sonnenerfüllten Universum – vielleicht zu viel Platz, zu viele harte Sternenlichtsplitter, die auf uns hereindrückten – zu diesem unterirdischen Zwinger, hüfthoch, zwei Meter im Quadrat, beleuchtet mit den Überresten aus dem Gang eines Gefängniswärters. Der Lieutenant, mein Lieutenant, Enson Sermander im Dritten Rang, lag bewußtlos in einer Ecke und ergab sich allmählich dem Wundbrand. Vorausgesetzt, der Kältetod erwischte ihn nicht vorher. Eine besondere Augenweide war er nie gewesen, auch zu den besten Zeiten nicht: er war
so groß, daß seine Kopfhaut über die Haargrenze hinausragte, und was das Essen betraf, war er seiner Kalorienquote ungefähr ein Jahr voraus. Sein Gesicht war ein brauner Plastiksack voll abgestandenem Teig. Er kleidete sich ausnahmslos wie ein ungemachtes Armeefeldbett. Gefangenschaft in Verbindung mit Infektion verbesserte sein Aussehen keineswegs. Eine zweite Ecke war die meine. In eine dritte war ich jeden Tag ein paarmal gekrochen, zu Anfang, damals, als mir noch nicht alles egal war. Sie roch immer noch schlimmer als jeder von uns. Wenigstens half das, die Aasfresser von uns wegzulokken. Ich hätte gerne gewußt, was Eleva dazu gesagt hätte. Immer wieder ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß die vierte Ecke der ideale Platz für ein ColorCom-Tischgerät gewesen wäre, aber der Empfang war hier unten wahrscheinlich miserabel, selbst wenn sie auf dieser verwesenden, fremden Dreckkugel, die die Einheimischen ›Sca‹ nannten, schon das CC – oder überhaupt das elektrische Licht – erfunden hätten. Übrigens hätte ich mich dankbar mit meiner Mandarre zufriedengegeben, um mich damit zu Tode zu spielen, aber sie war mit allem anderen von der ›Asperance‹ verbrannt. Idioten, die die alten Zeiten für so toll halten, sollten mal eine Zeitlang versuchen, richtig da zu leben. Ein Platz für alles – und jeder an seinem Platz. Jeden Mittag, wenn das scheußliche Zeug, das in gefrorenem Zustand durch die rauhen Steinmauern herunterdrang, zu tropfen begann und damit den Sonnenhöchststand anzeigte, raffte ich all meine Energie zusammen und robbte auf dem Bauch zum Lieutenant hinüber, um zu sehen, wie es ihm ging. Abgesehen davon, daß ich die ganze Zeit zitterte, war das meine ganze, körperliche Betätigung. Ich war nicht mehr stark genug, um aufzustehen, aber dafür hatten die Scavier ohnehin gesorgt: es gab nicht genügend Platz dazu. Wenn die Fackel draußen frisch war, versuchte ich, ein paar der blinden, weißen, sich windenden Dinger aus seinem verwesungsschwarzen Arm zu picken und sie auf dem schon schleimigen Boden zu zerquetschen. Wenn ich ihm diese Aufmerksamkeit erwies, stöhnte er, aus dem Kopf, und wehrte sich schwach. Ich gab acht, daß ich nichts von meiner eigenen Ungezieferlast in die Wunde
fallen ließ. Es bedurfte eines starken Charakters, um mich hinterher wieder von ihm zu entfernen. Seine faulende Infektion war die einzige Wärmequelle in diesem Raum. Dann lag er da, stoßweise atmend, und ließ mich wieder allein mit meinen Gedanken, mit meinen Träumen von zu Hause, von der schönen Eleva, die schon alleine eine raffinierte Marter waren. Was Gedanken angeht, so war nicht viel da, ein stagnierendes, im Kreise laufendes Rinnsal des Bedauerns. Drei von Entsetzen verdünnte Wochen hatten noch immer nicht genügt, um mich mit dem Schicksal auszusöhnen, das mich wahrscheinlich erwartete. In einem Tag, in einer Woche – niemals, wenn sie uns hier unten in der Dunkelheit wirklich vergessen hatten – würden Seine Eminenz, der Bischof, und Seine Gnaden, der hiesige Baron sich endgültig darüber einigen, wer sich unserer entledigen durfte. Lieutenant Sermander hatte es gut. Er würde wahrscheinlich nicht so lange durchhalten. Mich würden sie entweder zu einem weltlichen Galgen in die ›Stadt‹ schleppen – einer Anhäufung von strohgedeckten Kotfladen, die an den dreckigen Rändern dieser Burg zusammengeschoben waren – oder zu einem geheiligteren Scheiterhaufen in dem größeren Dreckberg, der als Großstadt galt, so um die siebzig Kilometer nördlich von hier. Wie es auch ausging, zu Hause, auf dem lieben, alten Vespucci, würde man nie erfahren, was mit den achtzehn furchtlosen Sternenmännern, der Blüte der Marinereserve geschehen war. Mit genügend Ermutigung, von Ablenkung gar nicht zu reden, würden die Bürger sie einfach vergessen. Alle – bis auf Eleva. Die Bürokraten würden einen diskreten (aber kaum unerwarteten) Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Es wäre ganz schön gewesen, so würden sie sich sagen, wenn man eine Paradieswelt gefunden hätte, die reif war zur Erforschung. Trotzdem, so würden sie sich gegenseitig erinnern, jetzt brauchte man sich um siebzehn nicht mehr in die Zeit passende Helden weniger Sorgen zu machen. Was tat es, daß es pro Kopf gerechnet die teuerste Liquidierung in der Geschichte Vespuccis war, man brauchte ja nur die Steuer für Protein, auf Geburten, Todesfälle
oder Wasser zu erhöhen. Die Krieger, die vor kurzem mitgeholfen hatten, unseren ganzen, geliebten Planeten in die politische Unterwerfung hineinzuprügeln – Verzeihung, ändern Sie das um in ›Solidarität‹ –, stellten in den Köpfen der Beamten im Augenblick nichts weiter dar als die wahrscheinlichste Quelle für eine Konterrevolution, einst brauchbare, jetzt lästige Wesen, für die man einen Platz finden mußte, ein ehrenvolles Exil, Holzschwamm. Und der achtzehnte? Der war bestimmt kein Held, ob er nun in die Zeit paßte oder nicht. Nur ein Mensch, der sich gut auf bestimmte, notwendige Geräte verstand. Ich glaube, man könnte sagen, daß ich der einzige wirklich Freiwillige an Bord gewesen war, der einzige, gemeine Soldat, der einzige mit Dreck unter den Fingernägeln, also in dem ganzen Plan selbst eine Art von Maschine. Meine Gründe gehen Sie nichts an, aber – nun ja, sie wollte einen Offizier heiraten. Man hatte mir versprochen… Die einzigen anderen Individuen, die uns weder vergessen, noch erleichtert sein würden, waren die Wissenschaftler. Aber sie würden den Mund halten. Ihre Gutachten hatten uns hierhergebracht. Wenn sie ihren Zorn und ihre Neugier nicht beherrschten, würden sie die idealen Sündenböcke für unser Scheitern abgeben. Moderne, vespuccische Methoden sind technisch sicherer (sprich: beträchtlich langsamer) als jeder mittelalterliche Galgen oder Scheiterhaufen. Eleva, Geliebte, wo bist du jetzt? Denkst du an mich? Wirst du schließlich doch noch einen Offizier zum Heiraten finden?
2 Der Lieutenant stöhnte und bewegte sich unruhig. Es war eine moralische Leistung, daß es mir gelang, meinen gesunden Fuß zu heben und nach der Ratte zu treten, die an seinen rotverschmierten Fingern nagte. Natürlich verfehlte ich sie. Als mein Stiefel auf den kotbedeckten Steinen auftraf, wurde mein ganzer, steifer, wunder Körper erschüttert. Das dreckige Geschöpf
schusselte in sein Loch zurück und schnatterte seine verdrängte Frustration unter seinen weniger wagemutigen aber gleichermaßen gierigen Genossen heraus. Sie konnten es sich leisten, Geduld zu haben. Ratten waren nur eine überraschend vertraute Erscheinung, die die vespuccische Expedition auf Sca erwartete. Seit der Gründung unserer (damaligen) Republik vor ungefähr zwei Jahrhunderten hatten die Naturphilosophen Beweise dafür zusammengetragen, daß der Ursprung der Menschheit anderswo lag. Es gab nicht genügend Luft zum Atmen, außer im untersten Tiefland. Es gab nicht genügend Trinkwasser. Es gab nicht genügend Nahrungsmittel und niemals genug Licht, um deutlich sehen zu können. Die Tiergattungen auf dem Planeten waren scharf unterteilt: es gab solche wie uns, die Sauerstoff zum Leben brauchten und zweiseitig symmetrisch gebaut waren; und andere, die strahlenförmig siebenlappig gebaut waren und aus den Salzbecken im Tiefland Chlor gewannen. Die letzteren dominierten – vielleicht deshalb, weil sie nicht in jeder Generation von fünf Neugeborenen drei verloren. Jede Spezies war für die andere höchst giftig, was den Wettstreit um ökologische Nischen zu einer interessant tödlichen Angelegenheit machte. Der Nachdruck, den die Republikaner auf vernünftigere Freiheit des Individuums legten, und ein stabiler Friede, einzigartig in den 1500 Jahren schriftlich niedergelegter Planetengeschichte, hatten für die Muße gesorgt, die nötig war, um zusammen mit anderen Bodenschätzen eine erstaunliche Bestätigung von tausend uralten, bitteren Geschichten – buchstäblich – auszugraben. Wir gehörten nicht dorthin. Wie sonst hätten wir aus der fernsten, prähistorischen Vergangenheit erkennen können, daß Vespucci eine dürre Hülse von einer Welt war, die eine dunkelbernsteinfarbene Schlacke von einem Stern umkreiste, keine besondere Heimat, ganz gleich für wen, und völlig ohne Zukunft? Das behauptete die Volksweisheit. Und die Wissenschaft bestätigte es. Wäre Vespucci unsere natürliche Heimat im Kosmos gewesen, so hätten wir dorthin gepaßt, wie die siebenfüßigen Kriecher aus den Sümpfen. Vespucci hätte zu uns gepaßt.
Als man den Treibsand des Planeten durchforschte, stellte sich allmählich heraus, daß wir – wenigstens einige von uns – unser Glück anderswo versuchen könnten. Vielleicht auf jenem hellen, blauweißen, ›nur‹ zwei Lichtjahre entfernten Stern. Denn die vertrockneten Bücher, die unglaublich gut erhaltenen Artefakte, die die Forscher fanden, enthüllten, daß es ein verlassenes Sternenschiff gab, das Vespucci über unseren Köpfen umkreiste, gebaut von Menschenhand, von unseren Ahnen, die mehr gewußt hatten als wir, die aber trotzdem ihre hilflose, unglückliche Nachkommenschaft in dieser Wüstenei ausgesetzt hatten. Trotzdem hätten wir kaum erwartet, auf Sca Menschen zu finden, auch keine gewöhnlichen Ratten. Und erst recht keine mächtigen Barone, die über eine degenerierte Barbarei herrschten, und nicht die Bischöfe des ›Heiligen Ordens der Zähne Gottes‹, die in unsicherer Allianz mit der Feudalaristokratie ihre sonnengebleichte Welt mit doppelter Faust hielten: mit Glaube und mit Brutalität. Hinter meinem Hals glitt etwas zwischen den mörtellosen Steinen hervor. Ich hatte das Geräusch seiner stachligen, steifen Haare oder zahllosen Beine schon während der letzten paar Tage gehört und halb gehofft, es möge groß genug sein, um es essen zu können – die Ratten waren zu schnell für mich – oder giftig genug, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Vielleicht würde ich auch noch Zeit haben, den Lieutenant damit zu bedienen. Ich bewegte mich; es gab ein feuchtes, blubberndes Quietschen von sich, dann verschwand es, nur Stille blieb zurück.
3 Zu Hause hatte man uns mit allem Pomp verabschiedet. Eleva kommierte in der Quarantäne im Himmelshafen mit mir. Militärkapellen plärrten laut auf jedem Kanal, als eines unserer schwerfälligen Shuttles nach dem anderen brummend auf den neuen, halbfertigen, vespuccio-stationären Satelliten zusteuerte, der um die Überreste einer älteren Technologie herumgebaut war. In der Nähe lag, vollendet, die ›Asperance‹, das Produkt unserer beiden wichtigsten Wissenschaften, der Physik und der Archäologie.
Der Weltstaat (eine Republik war er nicht mehr) nannte sie einen ›Sternenklipper‹. Achtzehn Sternenmänner schnallten sich an dem leichten Rahmen fest, wo sie arbeiten, essen, schlafen und trainieren würden, verbissen, an derselben Stelle, monatelang. Auf die Reden folgte ein Feuerwerk, über ColorCom wurden Interviews zu der gegen ihren Willen vereinigten Welt hinuntergesendet. Die Reihen schwerbewaffneter Friedensstifter wurden bei den Massenszenen von den Kameras nicht erfaßt. Wir lösten uns von der Station, schalteten den Feldgenerator ein, breiteten unsere Segel aus. Zum erstenmal in der belegten Geschichte hatte die Menschheit von Vespucci abgehoben. Obwohl unsere Ahnen einen so hohen, technischen Stand erreicht hatten, sie hatten wissenschaftliche Kunststücke vollbracht, zu denen ihre Enkel längst nicht mehr fähig waren, waren sie doch, wie wir erfahren haben, durch einen schrecklichen Zufall nach Vespucci gelangt. Ihr Schiff lag leblos im Orbit, mit gähnenden Notausstiegen. Drinnen wurde außer ihren Aufzeichnungen der Thorens-Penetrator entdeckt, mit dem sie sich um die Gesetze der Physik Herumgedrückt hatten und im Hohlsaumstich durch ein unwirkliches Kontinuum gerast waren, in dem alle Punkte in bezug auf Distanz und Dauer geometrisch zusammenfallen – wo jedes Ziel unkontrollierbar zufällig ist. Ein Ziel hatten sie schon im Sinn gehabt. Erreicht hatten sie es nicht. Das elektronische Logbuch enthielt Geschichten von einem Dutzend panischer Zufallssprünge, bis sie schließlich über einen gerade noch bewohnbaren Planeten gestolpert waren. Er war immer noch nur gerade noch bewohnbar, und deshalb wollten wir ihn auch verlassen. Ich fragte mich damals, als wir die Aufzeichnungen lasen und sahen, wie sich die Geschichte auf dem ColorCom entfaltete: wovor waren sie geflohen, daß sie ein solches Risiko eingegangen waren? Welche Schrekken hatten sie freiwillig gegen den ausgedörrten Klumpen eingetauscht, dem sie den Namen ›Vespucci‹ gaben? Ich wollte es nicht wissen. Und sonst auch niemand. Wir suchten nach neuen Welten, nach einer Zukunft für uns selbst, für unsere Kinder. Verzweifeltes Rechnen über Generationen hinweg, und ein wenig Hil-
festellung von dem, was man unter vergrabenen Scherben und Schrott in der Umlaufbahn wiederentdeckt hatte, führte die ›Asperance‹ nach einem neuen Prinzip zu den Sternen, das uns das Gefühl gab, eine gewisse Überlegenheit über unsere unglücklichen Vorfahren erlangt zu haben. Der Kern der ›Asperance‹ maß einen halben Meter im Durchmesser und war eine riesige Paragravitationsantenne, sie spannte ein Feld auf, das alles innerhalb der wogenden Plastikfalten trägheitslos machte, nicht länger den normalen Gesetzen beschleunigter Massen unterworfen. Das Schiff konnte die Geschwindigkeitsgrenze nicht durchbrechen, etwas, wofür diejenigen vor uns der Sage nach ›bestraft‹ worden waren; es blieb im Normalraum und ignorierte die theoretische Geschwindigkeitsgrenze. Die Hälfte dieses Potentials hatten wir erreicht, als ich geboren wurde. Die Vespuccier – das heißt in diesem Falle, die Bürger des einzigen, fortgeschrittensten Nationalstaates, der letztlich den Namen seines Landes einem ganzen Planeten aufgezwungen hatte – wären alte Hasen im Befahren des Heimatsystems, ihr Antrieb waren einen Kilometer große Segel von der Dicke nur eines Moleküls. Wir hatten ein Dutzend lebloser, aussichtsloser Kugeln aus geröstetem oder gefrorenem Fels erforscht, hatten oft Monate gebraucht, um nicht mehr als ein paar astronomische Einheiten hinter uns zu bringen und hatten als Lohn für die Mühe nichts gefunden. Ein Sonnensystem, ein Planet, ein Nationalstaat, alle hießen sie Vespucci. Das verriet, wie ich schon als Kind fand, einen etwas engen Blickwinkel. Über eine solche Erkenntnis konnte ich nicht sprechen, nicht einmal mit Eleva. Zur Zeit der Konsolidierung gab es sogar Leute, die die Hauptstadt Volta Mellis in ›Vespucci‹ umtaufen wollten. Es war leicht zu verstehen: unsere Möglichkeiten waren ebenso beschränkt wie die Phantasie unserer Geographen. Kein besonderer Zufall. Vielleicht würde die ›Asperance‹ das alles ändern. Sie hatte weniger Substanz als die Photonenwinde, mit denen sie segelte, und so konnte sie die Entfernungen innerhalb des Systems in Sekunden überwinden. Zwei Lichtjahre zum nächsten Stern, etwas mehr als zehn Trillionen Kilometer, das würde etwas weniger als neun Wochen dauern.
4 Verbissen hielten wir aus. Wir zwangen ungenießbare Rationen hinunter. Stumpfsinnig trainierten wir Tag für Tag unsere Körper an elastischen Schlitten, damit das Nichts nicht unsere Knochen verschlang. Unter den gnadenlosen, kalten Lichtpunkten schliefen wir nur unruhig. Wir krochen kaum von den Gestellen, die man uns zugewiesen hatte, und versuchten zu vergessen – oder uns wenigstens nicht gegenseitig daran zu erinnern –, daß wir einen Hafen finden mußten, wo wir die Jahre überleben konnten, die es dauern würde, bis unsere armseligen Signale die Nachricht von dem, was immer wir gefunden hatten, nach Hause trugen. Irgendwann würden uns andere wie die ›Asperance‹ folgen, und eines Tages würden wir vielleicht selbst wieder nach Hause kommen. Nach Hause. Eleva. Wenn. So spielten die Offiziere CC-Spiele und schauten unseren mageren Vorrat an Unterhaltungsbändern an, bis das braune Oxid auf dem Plastik abgeschliffen war. Ich stimmte die Knopfbünde der Mandarre, fragte mich, was aus uns werden sollte und sah dabei blaßblaue Augen, kupferfarbenes Haar, den zarten, roten Bogen eines Mundes vor dem ebenholzschwarzen Baldachin des Raums, wo das alles gar nichts zu suchen hatte. Zweiundsechzig Tage nach unserer Abreise umkreisten wir eine vielversprechende, von Wolken umwirbelte Murmel, die vor ihrem überwältigenden Primärstern hing. Der Planet dort unten war grün, sogar mit bloßem Auge war das erkennbar, so mit Wasser gesegnet, daß es einem ans Herz ging, so einladend, daß sich in einer Gruppe, die eine weniger gütige Behandlung durch die Natur gewöhnt war, eine tiefsitzende, urtümliche Vorsicht regte. Und doch, wenn wir es ein bißchen geschickt anfingen, würde dieses Paradies vielleicht – unser sein. Wir waren bereit, den Preis zu bezahlen. Die ›Asperance‹ schaltete ihren Paragrav aus und warf die dünnen Flügel
im freien Fall ab. Wir kauerten uns alle achtzehn in sechs stabile, kugelförmige Rettungskapseln aus Kohlenstoffaser-Polyresin, die sie in ihrem Heck getragen hatte. Während der fast endlosen Reise waren diese Kapseln unsere einzige Zuflucht vor den bleichen, eisigen Sternen gewesen. Oder voreinander. Jetzt, unter dem blendend blauweißen Schein eines fremden Sterns schliff ihnen die dichte Atmosphäre von Sca die Haut ab und füllte sie mit menschlichem Schweiß. Jedes der gepanzerten Landefahrzeuge wurde eingehüllt, von den anderen in einem eigenen Vorhang qualvoller Ionisation isoliert. Wir kauerten uns im Inneren zusammen, ebenso isoliert, trotz der unmenschlichen Enge, jeder Mann alleine mit seinen Gedanken. Unsere Heimatwelt, so armselig sie auch gewesen sein mochte, war außer Reichweite, war uns, vielleicht für immer, verloren.
5 Der Baron, nach einer Krankheit so stark von Narben verunstaltet wie der geringste seiner Vasallen, erfreute sich in bezug auf die Geographie seines eigenen Planeten praktisch völliger Unkenntnis. Er wollte den ›abergläubischen Unsinn‹ nicht glauben, den ich ihm mitteilen konnte: daß wir von jenem hellen Licht am Himmel kamen, genau da, wo ich hindeutete. Wir waren Eindringlinge, entschied er, fremde Vandalen, die seinen wohltätigen Frieden brachen. Er wollte uns hängen. Der Bischof, vertreten durch eine auf der Burg des Barons ansässige Delegation, war nur zu bereit, das zu glauben, er nannte uns Hexenmeister, unmenschliche Dämonen, widernatürliche Verkäufer eines unheimlichen (aber, wie es schien, nicht sehr starken) Zaubermittels. Er wollte uns verbrennen. Der Büttel, ein gedrungener, böse dreinblickender, alter Grobian mit einer kurzen Axt im Gürtel, war nicht begeistert davon, zwischen zwei absoluten Mächten zu stecken. Ich erkannte den Typ sofort: ein ehemaliger Oberkavallerist, die Art von gebeuteltem Karriere-Unteroffizier, der alles gesehen hat, aber trotzdem kein Wort davon glaubt. Begeistert war
er jedoch von meinem täglichen Verhör. Da wurde keine Teilung der Loyalität verlangt – nein, Sir, überhaupt nicht. Er entdeckte bald meinen gebrochenen Spann und die Tatsache, daß ich recht zufriedenstellend schrie, wenn er befahl, daran zu drehen. Bei solch einem ›Ansporn‹ fiel es mir lächerlich leicht, eine neue Sprache zu erlernen. Sie schien bekannten Regeln zu folgen und wich von der meinen mehr in der Aussprache als im Wortschatz ab. Ich fragte mich allmählich, ob vielleicht Sca das Höllenloch war, vor dem meine Ahnen geflohen waren. Aber wie hätten diese Wilden auch nur den absurd unzuverlässigen Antrieb konstruieren können, den wir im Orbit über Vespucci verlassen aufgefunden hatten? Ich sprach fließender – und wurde weniger neugierig –, als sie Zangen, Beißzangen und widerlich geformte Eisen einsetzten, die in glühende Kohlen gehalten wurden. Meistens zog es der Büttel jedoch vor, meinen Fuß trainieren zu lassen. Das war viel billiger als gute Holzkohle. Ich erzählte ihnen alles, was ich wußte, und vieles, wovon ich gar nicht wußte, daß ich es wußte. Ich erinnere mich noch, daß ich einmal anbot, nach Hause zu fliegen, um noch mehr herauszufinden. Aber das alles kommt mir irgendwie nicht sehr wirklich vor, obwohl ich einige von den Narben, innerlich und äußerlich, bis ans Ende meiner Tage behalten werde. Ich verlor während dieser Sitzungen häufig das Bewußtsein. Ohne mich an die dazwischenliegende Erholungspause erinnern zu können, wachte ich dann manchmal am nächsten Tag davon auf, daß ein pokkennarbiger Häscher wieder einmal an meinem kaputten Fuß drehte. Elevas Augen, ihr Lächeln begannen sich mir zu entziehen, die Erinnerung daran ließ mich im Stich, als ich sie brauchte, um durchzuhalten. Natürlich gab das meiste, was ich ihnen erzählen mußte, keinen Sinn. Selbst wenn man bei klarem Verstand und körperlich unversehrt ist, wie soll man einem Primitiven in Unterwäsche aus gestricktem Eisen, dessen Vorstellung von Kriegskunst darin besteht, mit einem metallbeschlagenen Stock in den Eingeweiden seiner Feinde herumzustochern, erklären, was es mit Luftstreitmacht oder sich überlappenden Streufeldern beim Einsatz von Maschinengewehren auf sich hat. Endlich gaben sie auf und schleppten mich weg, bis sie zu einer Einigung gelangten, was sie mit uns anfangen wollten. Der Büttel sorgte persönlich dafür, daß ich in einem Loch in der Kerkerwand festgeschraubt wurde.
Der Lieutenant war während der ganzen Ewigkeit – vielleicht eine Woche – in der man mich verhört hatte, bewußtlos gewesen. Das hatte sie nicht gehindert, ihn zu foltern. Die Form mußte gewahrt werden. Man hatte auf Sca noch keine Schlösser erfunden. Die Tür, ein grob gehämmerter Quadratmeter Eisenblech, wurde mit weichen Metallnieten von einem Zentimeter Durchmesser an den angelähnlichen Haspen befestigt, weit außer Reichweite des handflächengrößen Gitters im Zentrum oder des Abgußschlitzes darunter. Das waren die Quartiere für die unteren Schichten, buchstäblich der Boden des Haufens. Von den Wänden tropfte, wenn sie nicht völlig eingefroren waren, ständig Sickerwasser aus den Luxuskerkern darüber. Gelegentlich bekamen wir zu essen. Jemand ersetzte auch die Fackeln im Gang. Ich schätzte drei Wochen ab, indem ich, jedesmal wenn ich aufwachte und das Tropftropftropf der verseuchten Steine rings um mich hörte, einen kleinen Riß in den Rand meiner Fliegerjacke machte. Sehr schnell wurde ich zu schwach, um einen solchen Kalender zu führen, aber meine Uniformjacke kam mir insofern entgegen, als sie sich allmählich leichter reißen ließ. Zweiundzwanzig kurze Risse in dem verrotteten Gewebe später kamen die Kapuzenleute.
2. Kapitel Abschied von Eleva 1 Die schweren Synthetikwebgurte schnitten schmerzhaft in meine Körpermitte ein. Ich merkte es kaum, nach dem großartig hohlen Abschied, nach der erdrückenden 4g-Ewigkeit von der ausgedörrten Oberfläche von Vespucci zum stationären Orbit. In dieser Position war es ständig Nacht. Nach rechts hin lag, mehrere Kilometer entfernt, die neue Raumstation, noch im Bau befindlich, ein wirres Durcheinander von Balken und Behältern, festgemacht am Rumpf des alten Kolonistenschiffes, auf dem unsere Vorfahren hierhergekommen waren. Zwischen den Fugen der neuen Konstruktion war es noch zu sehen, eine verbeulte Kugel aus mattem Metall, Dutzende von Metern im Durchmesser, tot, kalt, seit fünfzehnhundert Jahren leer – bis es vor kurzem von den Kindern seiner Schöpfer wiederentdeckt worden war. Schon jetzt wurden Kopien ihres Fusionsaggregats in vespuccischen Städten überall auf dem Planeten eingebaut. Automatisch strich ich die Knitterfalten in der Hose meiner schicken, nutzlosen Spezialuniform glatt. Sie war nur für diesen Anlaß geschneidert worden, die Hose leuchtete in einem grellen Lavendelton, das sich im CC gut fotografieren ließ, war mit Silberzöpfen verziert, ein tiefbrauner Streifen lief an den Hosenbeinen hinunter, die kurze, bis zur Taille reichende Jacke rutschte ständig hoch und legte die Stelle frei, wo das Hemd aus dem gürtellosen Hosenbund schlüpfte. Die knielangen Silberstiefel waren schwerfällig und mußten aus Gewichtsgründen vor dem Auslaufen der ›Asperance‹ über Bord geworfen werden. Wenigstens konnte ich sitzen, ohne mit dem unbequemen, zur Uniform passenden Pistolengürtel belastet zu sein. Als einziger gemeiner Soldat in der Mannschaft war ich nicht berechtigt, eine Waffe zu tragen, ich hatte nur die Aufgabe, sie alle in gutem Zustand zu halten und si-
cherzustellen, daß sich die Offiziere nicht selbst erschossen, ehe ich den Nachschub an Bord des Schiffes verstauen konnte. Meine Mandarre hatte ich in ihrer zusammenfaltbaren Stoffhülle; damit war jedes Gramm meines persönlichen Freigepäcks verbraucht – mein Bart ist nicht so stark, daß ich verzweifelt auf einen Rasierapparat angewiesen wäre – aber ich hoffte darauf, daß mich die Mandarre während der neunwöchigen Reise bei Verstand halten würde. Ich verschob die Sicherheitsgurte noch einmal, vergeblich um Bequemlichkeit bemüht, und spähte nach vorne, zum Ende des langen, zylindrischen Transferbehälters, wo die Festlichkeiten auf einem großen ColorCom-Schirm übertragen wurden. Wenigstens unterbrach man die plärrenden Militärkapellen und die posierenden Politiker lange genug, um uns ein erstes, klares Bild von der ›Asperance‹ zu übermitteln, die ein paar Kilometer von der neuen Raumstation entfernt lag. Sie hatte mit nichts in der vespuccischen Geschichte Ähnlichkeit, sah überhaupt nicht aus wie ein Fahrzeug – sicher nicht wie das kurze, mit schweren Flügeln versehene Shuttle, das uns früher am Morgen in den purpurnen Himmel über der Hauptstadt Volta Mellis gebracht hatte. Von einem Aussichtspunkt, wahrscheinlich einem anderen Shuttle aus, konnten wir sogar sehen, wie wir uns dem Sternenklipper näherten, die Luken der Fähre waren schon geöffnet und gaben den Blick auf die Röhre frei, die vorübergehend siebzehn Offizieren und ihrem einzigen Allzwecklakaien eine unbequeme Behausung war. Nein, die ›Asperance‹ ähnelte einer riesigen VHF-Antenne, einem einzelnen, langen, ausgefahrenen Titanmast, im Durchmesser nicht breiter als der Schenkel eines großen Mannes, in Abständen senkrecht durchkreuzt von komplizierten, festverzurrten Spieren. An ihrem vorderen Ende befanden sich die Schäkel für die Photonensegel, kilometergroße Schirme, die sie entfalten würde, um die Sonnenwinde einzufangen, die uns an unser Ziel fegen sollten. Achtern beulten sich ein halbes Dutzend Vielzweckkugeln heraus, stark gepanzert für die Landung, vollgestopft mit Lebensmitteln für die Reise. Die ›Asperance‹ schimmerte matt im reflektierten Sonnenlicht. Die ganze, zerbrechliche Konstruktion ähnelte einem in durchsichtige Plastikhüllen gepackten Kinderspielzeug. Am Ende jeder Querspiere hing entwe-
der ein skelettartiger Ein-Mann-Sitzständer oder eine Traube von Instrumenten. Der Titankern beherbergte die trägheitsaufhebenden Feldspulen, die Wiedereintrittskugeln verbargen das FeldgeneratorAggregat. Dreißig Meter war sie lang, die Segel nicht mitgerechnet, sie würde sich als wesentlich unbequemer erweisen als die Fähre, in der wir uns jetzt befanden. Vier weitere, genau gleiche Sternenklipper waren im Bau. Wir konnten die Schweißbrenner aufflammen sehen und die Gestalten in Raumanzügen, die links von uns auf den Schiffen herumwimmelten.
2 »Ich weiß einfach nicht, Corporal O'Thraight, drei Jahre sind eine lange Zeit…« Ich beobachtete Eleva Dethri durch die verschmierte Scheibe, voll Haß auf die Quarantänemaßnahmen auf der Basis, und wünschte, ich wäre auf der anderen Seite des Plastiks, wo ihre Stimme nicht durch einen elektronischen Filter zu mir käme, und doch war ich tief im Innern ein wenig dankbar für die Vorschriften, die mich vor einer möglichen Erniedrigung bewahrten. Ich hatte sie nie berührt; ich wußte nie, ob sie das wollte. Hinter ihr, auf der Wellblechwand des Schuppens, verkündeten schreiende Plakate den Ruhm unseres bevorstehenden Sprungs zu den Sternen, informierten Besucher über die vielen Regeln, die ihren kurzen Aufenthalt beherrschten und ermahnten sie, ihren Freunden, ihren Mitarbeitern und ihren Familien zu erzählen, wie mit ihren freiwilligen Steuerabgaben eine großartige Zukunft für noch ungeborene Generationen von Vespucciern gezimmert wurde. »Ja, Eleva, mein Liebling, ich weiß, wenn Sie nur… außerdem, wenn ich zurückkomme, werde ich Offizier sein.« Mattes, rotes Sonnenlicht sickerte durch die Fenster auf ihrer Seite der Barriere. Der Schuppen erstreckte sich über vierzig oder fünfzig Meter. An der Tür stand ein schwerbewaffneter Wächter von der Armee demonstrativ bequem und beobachtete jedes Paar, das sich unterhielt, ge-
nau. Auf einem Dutzend ähnlicher Stationen konnten wir Sternenmänner einen kurzen, unbefriedigenden Blick auf unsere Lieben werfen, auf das Leben, das wir zurückließen. Sie hatte natürlich recht. Das ist in solchen Dingen bei Frauen allgemein so. Drei Jahre sind wirklich eine lange Zeit, ein ganzes Leben, fast genauso lange liebte ich sie schon, seit einer Tanzveranstaltung im Offiziersclub, wohin sie am Arm eines geifernden Lieutenant gekommen war. Seit ich zum letztenmal öffentlich Mandarre gespielt hatte, auf einem befristeten Einsatz, der eine unerwartete Unterbrechung meiner regulären Pflichten war. Und mein Leben verändert hatte. »Offizier?« Ihre blaßblauen Augen leuchteten ein wenig auf, sie leckte sich unsicher die Lippen. »Oh, Corporal, wie großartig! Als Astronaut, einer der ersten achtzehn… aber… aber drei Jahre?« Die schöne Eleva: leichte Sommersprossen, stark gelocktes, kupferfarbenes Haar, einen Zentimeter oder so größer als ich, außer ich hielt mich sehr gerade. Ich setzte mich sehr gerade hin. Die Kampfstiefel halfen, wenn sie nicht gerade hohe Absätze trug. Als einziges Kind eines Stabsfeldwebels, schlimmer noch, als Nachkomme einer Überschichtfamilie, deren Degradierung nach einer verlorenen Schlacht der Skandal des letzten Jahrhunderts gewesen war – paßte sie vermutlich nirgends hinein, weder unter die gemeinen Soldaten meiner Anfangszeit, noch in die Offiziersklasse, in die sie um jeden Preis zurückkehren wollte. Ich rutschte unbehaglich auf dem Sattelsitz herum, der vor der Plastiktrennscheibe festgeschraubt war. Wir achtzehn und unsere Ersatzleute mußten zwei Wochen in Quarantäne verbringen, bis wir bewiesen hatten, daß wir unter keinen Krankheiten litten, die die Mission gefährden könnten. Der Luftdruck innerhalb des Gebäudes war etwas höher, um unsere Isolierung sicherzustellen. Mit der Außenwelt verständigten wir uns über Funk. Eleva machte ein unglückliches Gesicht. »Corporal…« Sie schaute sich um, ob jemand zuhörte, eine sinnlose Geste, da unsere Gespräche vom psychiatrischen Personal überwacht wurden. »… Whitey, ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich, nun ja, ich hatte meine Pläne, hatte mir mein Leben sozusagen eingerichtet. Und jetzt…«
Jetzt kam ich… hatte ich ihr eine entsicherte Granate hingeworfen, indem ich ihr versprach, der Offizier zu werden, den sie haben wollte. Was konnte ich sonst tun? Wollte ich das Patent um seiner selbst willen? Um meinetwillen? Ich wußte, daß ich Eleva wollte. Wie die meisten Angehörigen meiner Klasse hatte ich gelernt, sonst nicht allzuviel zu wollen. »Sagen Sie, daß Sie auf mich warten wollen, Eleva«, antwortete ich, sehr bemüht, den Zorn, die Frustration, die ich empfand, nicht sichtbar werden zu lassen. »Oder sagen Sie, daß Sie es nicht wollen. Entweder – oder. Sie werden nicht sagen, daß Sie mich lieben. Wir haben nie… Aber ich möchte es wissen, jetzt!« »Bitte erzwingen Sie es nicht, ich weiß nicht, was ich sagen soll! Whitey, ich weiß nicht, was ich empfinde. Drei Jahre? Oh, bis dahin bin ich…« »Drei Jahre älter. Eleva, gehen Sie hin und heiraten Sie einen Captain. Ich werde lernen, mir nichts daraus zu machen. Es ist ohnehin zu spät. Ich hänge hier in dieser Mission fest, alles wegen…« »Wagen Sie es ja nicht, mir die Schuld zu geben!« Sie schmollte. Der Türhüter schaute zu uns herüber und zog unter seinem Titanhelm die Augenbrauen hoch. »Ich habe Sie nie gebeten, sich als Freiwilliger auf die ›Asperance‹ zu melden, oder? Ich habe Sie überhaupt um nichts gebeten – außer, mich in Ruhe zu lassen.« Das lief völlig schief, überhaupt nicht so, wie ich es geplant, wie ich es erträumt hatte. Beim Abschied von der einzigen Frau, die ich je geliebt hatte, hatte ich etwas anderes von ihr erwartet, ein wenig Wärme, die ich mit zu den grausamen Sternen nehmen konnte. Jetzt hörte ich mich lauter falsche Sachen sagen, und konnte gar nichts dagegen tun. »Was, bei Harn, wollen Sie dann hier, Eleva Dethri? Warum sind Sie gekommen?« »Ich weiß es nicht!« schrie sie und sprang ruckartig vom Hocker. Sie rannte aus dem Raum, und mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. »Eleva! Ich liebe Sie! Bitte, gehen Sie nicht so!« Aber sie konnte mich nicht hören, natürlich nicht. Der ›Erst-drückendann-sprechen‹-Schalter schnellte sofort heraus, als sie ihn losließ.
3 Drei Jahre vorher stand ich vor dem verschrammten Schreibtisch meines Kommandierenden und Zugführers Colonel Gencom und gab mir alle Mühe, zu verstehen, was man mir antun wollte. An den Wänden des Büros hingen Fotos der Kapelle über zwei Generationen hinweg, ein halbes Tausend Mann in unterschiedlich veralteten Uniformen, ein halbes Dutzend unterschiedlich unerträglicher Kriege. Auf dem Fensterbrett hinter dem Schreibtisch lag ein fleckiges Trompott mit einem Einschuß in der Stürze; auf den herunterhängenden Schnüren in den Farben der Einheit waren Flecken von etwas, was die Zöpfe miteinander verkleben ließ. Etwas Dunkles, fast Schwarzes. »Whitey« – der Oberst blätterte den Stapel Papiere durch, als könne auch er die hinter diesem Befehl stehende Argumentation nicht begreifen – »Sie sind der verdammt beste Mandarrespieler in der Kapelle. Ich finde es entsetzlich; aber Sie wissen ja, wie es ist: ›Nicht an uns ist es, nach dem Grund zu fragen…‹« Es ist egal, daß in einem Orchester niemand die Mandarre hört außer den anderen Musikern, die sich bei Harmonie, Akkordfolge und Rhythmus, von dem sogar die Schlagzeuger abhängig sind, auf sie verlassen. Es war egal, daß die Papiere auf dem Schreibtisch des Obersten mich zu einer Ausbildung zum Feldzeugmeister versetzten, einer Art doofem Waffenschmied – etwas, wovon ich nicht die geringste Ahnung hatte, wofür ich keinerlei Vorkenntnisse besaß. Es herrschte Krieg; es herrschte immer Krieg; der Krieg zwingt allem seine eigenen Gründe auf, seine eigene, wahnsinnige Logik. In den Augen des Staates bestand ein größerer Bedarf für Feldzeugmeister als für Mandarrespieler – die außer den anderen Musikern sowieso niemand hören konnte. Es war egal, daß ich, durch eine Verfügung dieser selben Regierung, seit meinem siebenten Lebensjahr zum Mandarrespielen ausgebildet worden war. Außerdem war ich als Magaziner der Kompanie eingesetzt, was vor allem bedeutete, daß ich für Ersatz-Rohrblätter, Mundstückhüllen, Dämpfer und diversen Schrott wie Triangel, Ceramblöcke, Zugpfeifen, Sandpfeifen und Schiebepfeifen verantwortlich war. Zweitens bedeutete es,
daß ich mit den Dingen, für die ich verantwortlich war, auch hauste, und meine Tage – bis auf Proben und Aufführungen – zwischen endlosen Regalen mit seltsam geformten, halbmusikalischem Müll, Inventarformularen und Lagerraumstaub von hundert Militärjahren verbrachte. Drittens war ich de facto für Reparaturen zuständig: wenn die Daumentaste von einer Picconette abbrach, wenn das Baß-Saxonell eine Beule bekam, wenn das Xylotron den Xyolotronspieler mit verbranntem Isoliermaterial attackierte, dann wurde das alles zu mir gebracht, zum Löten, Hämmern, schnellen Neubespannen – sogar für ein bißchen Erste Hilfe. Ich wurde darin recht gut – zweifellos der Grund, warum man mich zur Umschulung ausgewählt hatte. »Gar so schlimm ist es nicht.« Der Colonel riß mich aus meinem Tagtraum, obwohl er mehr zu sich selbst als zu mir sprach. »Solange Sie in der Ausbildung sind, sind Sie erreichbar, falls wir Sie brauchen sollten. Ich habe den Verdacht, daß wir keinen Ersatz bekommen werden, jedenfalls nicht so schnell.« Ich nickte. Keines seiner Worte erforderte – oder rechtfertigte – eine Antwort. »Es könnte auch andere Möglichkeiten geben, selbst wenn Sie einmal im Einsatz sind. Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, wenn Ihnen das recht ist, Whitey.« »Darüber wäre ich sehr froh, Sir.« »Gut. Außerdem können Sie doch immer auf Ihre musikalische Begabung zurückgreifen, als Trost für sich selbst und Ihre Kameraden. Es könnte schlimmer sein, nicht wahr, Corporal?« Ich salutierte und knallte mit den Hacken. »Jawohl, Colonel, Sir, es könnte schlimmer sein, Sir.« Er grinste mich sehr unmilitärisch an und schüttelte wehmütig den Kopf. Wenn die Marine – oder übrigens auch die Armee – etwas einrichten konnte, dann, daß alles schlimmer war. Er wußte es. Ich wußte es auch. Ich drehte mich schneidig um und wollte sein Büro verlassen. »Whitey?«
Neugierig drehte ich mich noch einmal um. Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen, schaute wieder zu mir auf. »Da wir ja doch keinen Ersatz bekommen werden, können Sie Ihre Mandarre mitnehmen. Sie müssen doch sowieso in Übung bleiben.« »Ja, Sir. Danke, Sir.« »Danken Sie mir nicht, Sohn, ich bin nicht berechtigt, Marineeigentum zu verschenken. Ich weiß nicht, was aus Corporal O’Thraights Mandarre geworden ist, kurz bevor man ihn versetzt hat. Danken Sie der Marine, Junge. Ich tue es jeden Tag. Und die Worte, mit denen ich es tue, könnte man niemals drucken.«
4 Die Stimme draußen im Korridor sagte: »Hier ist es: YD-038.« Niemand klopfte an. Die Tür ging auf. Miß Sixte, Mutter des neunten Stocks des Kinderhorts der örtlichen Marinereserve, trat ins Zimmer. Ich stand ruckartig habacht. Es war ein grauer Raum, dreimal drei Meter, mit einer grauen Tür und sechs kleinen, grauen Kojen, YD-036 bis einschließlich YD-041, glatt und vorschriftsmäßig straffgezogen. Miß Sixte blieb ziemlich für sich. Manchmal konnte man sie in ihrem Zimmer schluchzen hören, nachdem das Licht aus war. Keines der Kinder kam je dahinter, warum. Alle anderen waren an diesem Morgen zur Gymnastik gegangen; mir hatte man gesagt, ich solle warten. Es machte mich nervös. Ich hatte bei Tag noch nie viel Zeit hier verbracht. Hinter Miß Sixte kam ein großer, dünner Mann herein, der einen sonderbar geformten Plastikkasten am Henkel trug. »Whitey, das ist Sergeant Tenner von der Dreiundzwanzigsten Luftflottenkapelle. Er wird dein Lehrer sein.« Ich hatte eine ganze Menge Lehrer. Aber Tenner sah aus, als sei er in Ordnung, wenn auch irgendwie sonderbar: ausgemergelt, angeklatschtes Haar, olivfarbene Haut und ein gutes Lächeln. Gute Hände mit langen, dünnen Fingern. »Whitey?« Er reichte mir eine Hand. »Sergeant«, antwortete ich, so ernst und erwachsen, wie ich sein konnte. »Was tragen Sie da, Sir?«
»Nicht ›Sir‹, ›Sarge‹. Sieh es dir an!« Er reichte mir den Kasten. Ich fummelte an den Schnappschlössern herum. Drinnen lag, in einem enganliegenden Bett aus hellgelbem Plüsch, der schönste Gegenstand, den ich jemals gesehen hatte. Das Ding war ungefähr so lang wie mein Unterarm und hatte einen langen, spitz zulaufenden Hals, auf dessen flacher Seite sich sechs eingelegte Reihen mit quadratischen Knöpfen in leuchtenden Farben an den Rändern berührten, wie Mosaiksteinchen, jedes etwa so groß wie ein Daumennagel. Vierundzwanzig dieser Reihen liefen den Hals hinunter, bis dorthin, wo er mit dem Körper des Instruments verschmolz: dieser war nicht viel breiter als der Hals und ganz leicht eiförmig. An seiner Unterseite befand sich eine Traube winziger Knöpfe. Sechs lange Plastikschaufeln ragten aus der Vorderseite heraus, einen Zentimeter hoch, sechs Zentimeter lang. Tenner nahm mir das schöne Ding aus den widerstrebenden Händen, legte die Finger seiner Linken auf die Halsknöpfe, genau so, und ließ seinen rechten Daumen über die an Federangeln befestigten Schaufeln nach unten flattern. Ein Akkord, schöner als alles, was ich je gehört hatte, e-Moll-Septime. »Was meinst du, Whitey?« Das hatte mich noch nie jemand gefragt. »Was ist das, Sarge?« »Eine Mandarre. Von jetzt an wird sie dein Leben sein.«
3. Kapitel Die Himmelsdämonen 1 Das Abwasser, so dachte ich, kommt heute etwas früh. Ich hatte gehört, wie den ganzen Gang entlang die vergitterten Türen krachend aufgerissen wurden. Der Schatten verdeckte das einzige Licht in meinem stark verkümmerten Universum. Zu meiner Überraschung hob sich ein schwerer Hammer, fiel herab, hob sich, fiel herab – genau wie damals, als man uns in dieses Fegefeuer eingesperrt hatte, diesmal zerschlug er wunderbarerweise die weichen Nieten in der Haspe. Die rostige Tür öffnete sich knirschend, Gestalten bewegten sich sprunghaft von einer Seite zur anderen und warfen bizarre Schatten in meine Welt. Ich schreckte zurück, teils aus Angst vor neuer Folterung, teils, weil meine Augen von dem blanken, ungefilterten Glanz einer rauchigen Fackel im Halter auf der anderen Seite des Gangs schmerzlich geblendet waren. »Ihr seid certes, daß diese sind jene, die Ihr wollt?« Diese rauhe Stimme war für immer in mein Gedächtnis gebrannt, der Büttel stand vor der Tür, sichtbar von der Taille abwärts. Ich erkannte seine Stiefel, den Saum seines Kettenhemdes über der gepolsterten Weste. Hammer und Meißel baumelten von seiner schwieligen Hand. An seinem Gürtel hing ein Beil. Andere Gestalten, in bodenlange Kapuzengewänder gehüllt, beugten sich fast bis zum Boden vor, um uns zu begutachten, dabei wandte jede ihr verborgenes Gesicht ab vor dem Anblick und vor dem Gestank zweier menschlicher Wesen, die sich langsam in verwesende Haufen verwandelten. Ratten schossen in ihre Nischen zurück. Die letzte der Erscheinungen sprach in einem scavischen Dialekt, der mir fast unverständlich war, leise zischend und knatternd, ohne eine Spur von Persönlichkeit oder Geschlecht zu verraten, man konnte nicht ein-
mal erkennen, ob es überhaupt ein Mensch war. »Seid ihr die Himmelsdämonen?« Von der Fackel draußen von hinten beleuchtet, hing die Wolke seines Atems in der kalten Zelle drohend vor meinem Gesicht. Ich versuchte, ihm gerade ins Antlitz zu blicken. Die feuererhellten Schatten vermittelten den Eindruck eines Mannes in brauner Kutte, mit in die Ärmel gesteckten Händen, gesichtslos, entsetzenerregend. »Was wollt ihr denn jetzt von mir?« krächzte ich fragend – die ersten Worte, die ich seit – mir kam es wie Jahrhunderte. vor – außer Elevas Namen gesprochen hatte, »noch ein Geständnis?« »Wenn du die richtige Wahrheit sagst, Dämon, erlebst du vielleicht noch den Aufgang der Monde.« »Ja, sehen werde ich sie schon – kurz bevor ihr das Feuer anzündet! Und jetzt raus hier!« Die vergleichsweise frische, süße Luft, die von draußen in die Zelle strömte, wurde mir plötzlich widerwärtig. Ich begann zu husten, Tränen liefen mir übers Gesicht. Fieber, gefolgt von Frostschauern, durchlief mich in Wellen. Ich schämte mich des Schmutzes, der mich bedeckte – mehr noch, der Erniedrigung vor denen, die mich gefangen hatten. Was würde sie… »Schweig!« befahl die Flüsterstimme. »Oder sag die Wahrheit! Hältst du die Zügel der Sternenmaschinen?« Es dauerte noch eine volle Minute, bis ich sprechen konnte. Bei diesem Tempo würde ich es nicht mehr sehr viel länger durchhalten. Die Gestalt, die sich nach ihrem kurzen Ausbruch vor mir niederbeugte, blieb stumm. Als ich meine Stimme wiederfand, war sie ein heiseres, schluchzendes Krächzen. »Was fragst du mich, Priester?« »Führst du die Sternenmaschinen?« Brennen, so argumentierte ich matt, ist wahrscheinlich besser, als gehängt zu werden. Sobald die Flammen einem einmal die Nervenenden versengt haben, so sagte man mir, spürt man nichts mehr. Es war sicher besser, als durch meine Impfungen zu überleben, wie ich es jetzt anscheinend tat.
»Sicher«, log ich, »natürlich, selbstverständlich, auch ›certes‹. Ich habe selbst eines hierhergesteuert.« Ich hielt inne, dann fügte ich hinzu: »Aber jetzt wird es nicht mehr in den Himmel zurückkehren. Das war nie vorgesehen. Es ist verbrannt, die Asche wurde von Kriegern verstreut. Ich habe das schon erklärt.« Sonderbarerweise erstarrte die anonyme Gestalt, die auf ihren von der Kutte verhüllten Schenkeln hockte, lange, wie in tiefer Meditation. Dann näherte sich einer ihrer Gefährten draußen im Durchgang dem Büttel. In der Stille der Steinmauern klirrten Münzen. Der Büttel blickte offenbar in beide Richtungen, dann zog er sich zurück. Fast als wäre ein Schalter umgelegt worden, wurde die verhüllte Gestalt, die sich halb in unserer Zelle befand, wieder lebendig. »Dämon«, zischte sie leiser, noch drohender als zuvor, »sagst du, wie eure Donnerwaffen gemacht sind?« Darum ging es also. Bei dem erbitterten, einseitigen Kampf auf dem Landeplatz hatte ich irgendwie eine Handvoll Reiter getötet oder verletzt. Ihre dünne Metallpanzerung war schlechter als gar kein Schutz vor meinen schnellen AchtMillimeter-Kugeln. Pistolenkämpfe mit Barbaren im Alleingang waren nicht in meiner Arbeitsbeschreibung aufgeführt, als ich mich an Bord der ›Asperance‹ gemeldet hatte; ich sollte ein Arsenal für die Offiziere bereit halten. Hätte ich das sorgsamer getan, dann hätten wir Vespuccier uns vielleicht besser gehalten. Statt dessen hatte ich meine Zehen in einen Bach gestreckt, mit Musik herumgetändelt, von meinem Mädchen geträumt und zwei Monden beim Aufgehen zugesehen, während die ganze Zeit der Feind heranrückte, um uns gnadenlos zu töten. Es wäre besser gewesen, wenn ich weiter Mandarre gespielt hätte, anstatt Feldzeugmeister zu werden. Jedenfalls hatten die mordenden Schlägertypen meine Revolver geleert und konfisziert und den Rest unserer Munition gründlich zerstört. Zu Hause, im Vespuccischen Endkrieg, hatte ich getan, was die Feldhandbücher verlangten, mit einem tollen Kasten voller Meßgeräte, Lochwerkzeuge, Schraubenzieher, selbstsicher in dem Wissen, daß die Ersatzteile nie weiter entfernt waren als das Nachschublager. Vielleicht könnte ich
bestimmte Werkzeuge herstellen: Schraubenzieher sind einfach, sogar gute. Was ich von der Herstellung des Darrick Acht-MillimeterMagazintrommelrevolvers wußte, hätte man auf die Dolchspitze des Büttels eingravieren können, mit dem gleichen, kalten Meißel, mit dem er die Tür aufgemacht hatte. Natürlich sagte ich: »Selbstverständlich kann ich das. Da ist nichts dabei. Ich kenne alle notwendigen Zaubersprüche. Wenn ihr mich aber verbrennt, kann ich euch gar nichts beibringen.« Der vermummte Sprecher erstarrte wieder, und auch seine Gefährten im Gang stellten jede Bewegung ein. Vielleicht beteten sie. Oder sie dachten über einen ›Neuen Verbesserten Heiligen Orden der Zähne Gottes‹ nach, bereichert mit ein wenig fortgeschrittenem, militärischem Material. Der Baron würde nicht sehr glücklich sein, dachte ich. Andererseits – bei dem Gedanken fing ich an zu zittern – vielleicht waren meine ›Donnerwaffen‹ aus religiösen Gründen Verboten. Vielleicht wollte sich der Bischof lediglich selbst versichern, daß er, indem er sich unser entledigte, gefährliches, verbotenes Wissen auslöschte. Nun, ganz gleich wie, ich würde beim Sterben nicht mehr frieren. Die gräßliche Feuchtigkeit steckte mir tief in den Knochen. Die Innenseiten meiner Lungen fühlten sich an, als seien sie mit dem gleichen, feinen Mehltau überzogen, mit dem das Essen garniert war. Unter diesen Bedingungen würde ich nicht mehr sehr viel länger durchhalten, was immer ich sagte. Wenn sie das wahre Ausmaß meines technischen Könnens herausfanden… Die gesichtslose Gestalt kam in die Wirklichkeit zurück. »Der andere Dämon« – sie winkte mit einem langen, leeren Ärmel – »weiß er von diesen Dingen ebenfalls, vom Herstellen von Donnerwaffen und vom Steuern von Himmelsmaschinen?« Ich hustete wieder, diesmal, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Lieutenant Enson Sermander machte in jenen späten, großen Tagen des vespuccischen Staates die beste militärische Karriere, die ihm seine Familie kaufen konnte – eine der alten Kommandantenfamilien mit einem richtigen Namen. Aber um ihm nicht Unrecht zu tun: er hatte ein weiteres, fettes halbes Dutzend Jahre damit zugebracht, sich in eigener Regie
noch mehr Prestige zu erwerben. Im Krieg hatte er (seinen eigenen Worten nach) einen Düsenjäger gegen die Drückebergerstaaten geflogen. Bei der Startzeremonie vor neun – nein, zwölf – Wochen hatte seine Brust auf jeden Fall vor lauter Bändern richtig geleuchtet. Fünf bestätigte Abschüsse, drei wahrscheinliche. Ein soldatisches Meisterstück im Kampf gegen Kleinluftschiffe und Doppeldecker. Er saß nur deshalb im Kerker, weil er nicht schnell genug umgeschwenkt war und sich in die Gunst des gegenwärtigen Regimes eingekauft hatte. In dieser Hinsicht nicht schnell genug zu reagieren brandmarkt einen eindeutig als Bedrohung der nationalen Sicherheit. So hatte man ihn als Freiwilligen für die ›Asperance‹-Expedition gemeldet. Was das Fliegen des Sternenklippers anging, so hatte der Lieutenant sogar selbst zugegeben, daß der Computer der beste Pilot an Bord war. Trotzdem war er für einen Offizier nicht so übel gewesen. Ein fröhlicher Zyniker, das einzige der siebzehn Besatzungsmitglieder, das außerhalb des Dienstwegs direkt mit mir sprach. Er war mir in gewissem Sinne sympathisch geworden. Wenn jemand wirklich wußte, was er zu tun hatte, ließ er ihm völlig freie Hand dabei. So etwas macht heutzutage einen guten Offizier aus. Der Lieutenant war ein guter Offizier. »Er ist der Urgroßvater aller Himmelsdämonen!« verkündete ich mit so viel Begeisterung, wie mein geschwächter Körper hergeben wollte. »Ich bin nur sein demütiger Lehrling – aber er ist krank. Er braucht Hilfe.« Ein Nicken unterhalb der Kapuze, dann wieder das Flüstern, bei dem einem die Haare zu Berge standen. »Das ist einzurichten. Fähig bist du zu stehen?« »Nicht hier drinnen.« Die vermummte Gestalt ging rückwärts hinaus, richtete sich auf. Ihre Gefährten streckten flink die Hände herein, packten mich unter den Achselhöhlen und zogen mich nach vorne auf die Füße. Schmerz zuckte durch mein rechtes Bein, als ich meinen schwer mißhandelten Fuß belastete. Ich biß mir auf die Unterlippe und drängte die Übelkeit zurück. Tränen quollen unter meinen fest geschlossenen Augenlidern hervor, als mich die Priester durch den schmalen Kellergang trugen, und
mich dann gegen eine Mauer lehnten. Schwer atmend klammerte ich mich an einen Wandleuchter, mein Herz hämmerte wie ein Maschinengewehr. Sie zogen den Körper des Lieutenants aus der Zelle. Er stöhnte, wehrte sich schwach, wollte sprechen. Sie hielten ihn überraschend sanft fest, und einer zog einen relativ sauberen Fetzen Sackleinen aus seinem Gewand und tupfte damit die riesige, eiternde Wunde des Lieutenant ab, bis frisches Blut durch den Schorf drang. Ein neuer Lappen wurde um den Arm gewickelt. »Nichts kann für ihn getan werden…«, flüsterte es schaurig, »… hier drinnen.« Gegen Schwindel ankämpfend krächzte ich: »Dann laßt uns dorthin gehen, wo man etwas tun kann!« Sie nickten. Der Weg nach oben durch anscheinend endlose, unterirdische Gänge war ein verschwommener Fegefeueralptraum, der mich an meine täglichen Foltersitzungen erinnerte. Mein Fuß war dreimal so dick wie normal, bis zum Knie geschwollen. Mir war übel, ich war nur halb bei Bewußtsein und völlig geschwächt. In der Burg schien es sehr lebhaft zuzugehen. Aus jedem Quergang drangen Schreie, mitleiderregendes Stöhnen, das Rasseln von Ketten in Wandringen. Die Priester schauten entschlossen geradeaus. Der endlose Marsch ging weiter. Es gelang mir, mich flüchtig zu fragen, ob es draußen Tag oder Nacht war. Das war auf Sca nicht nebensächlich, denn hier war alles Leben während der gut beleuchteten Nachtstunden aktiv, flüchtete aber vor der Dämmerung wie vor einer Horde von Feinden. Schon jetzt brannten mir in den besseren Bereichen des Kerkers die Augen von den zahlreichen, sauber beschnittenen Fackeln. Draußen würde mir die nackte, blauweiße Sonne die Sehwerkzeuge aus dem Kopf brennen und dann anfangen, mir das Gehirn anzubohren. Plötzlich gelangten wir durch einen spitzen Steinbogen hinaus ins Freie auf einen Hof, den ich von unserer Ankunft her kannte. Rings um den Hof waren eingezäunte Plätze für die Diener, die mit Schaufeln beschäftigt waren. Nahe am Tor stand noch einer dieser Karren mit Holzrädern und vier großen, angeschirrten Zugtieren.
Es war Nacht. Im milden Licht eines schon aufgegangenen Mondes lungerten gepanzerte Soldaten herum, eine ganze Menge davon. Der Büttel war auch dabei; er näherte sich uns, als wir langsam das Pflaster überquerten. Er war ein alter Mann für seine Kultur, vielleicht vierzig, weißhaarig, sein Gesicht das übliche, scavianische Schlachtfeld von Pockennarben, Flohbissen und den Spuren hart erkämpfter Duelle mit tödlichem Ausgang. Er hustete beim Sprechen und befingerte mit einer Hand nervös den Griff seines zweischneidigen Beils. »Wohin bringt ihr diese Gefangenen hier?« verlangte er laut zu wissen. »Sie müssen von Rechts wegen für meinen Herrn, den Baron, festgehalten werden!« Er trug jetzt einen Brustpanzer über seinem Kettenhemd und hatte einen Wappenhelm auf, auf beiden war das lokale Herrschaftssymbol zu sehen, ein Galgen – aufsteigend aus Wappenrot oder was immer, jedenfalls aus etwas, das wie ein blutdurchtränktes Schlammfeld aussah. Die Vermummten legten den Lieutenant sanft auf das Hofpflaster. Der Priester, auf den ich mich gestützt hatte, trat unter mir hervor; ich schwankte ein wenig, schaffte es aber, aufrecht stehenzubleiben. Überall um uns herum verloren die Soldaten etwas von ihrer undurchsichtigen künstlichen Gleichgültigkeit. »Hier unser Haftbefehl und unser Siegel!« Mein Führer hatte in einem Bühnengeflüster geantwortet, das fast so laut war wie die gebrüllte Herausforderung des Büttels. Aus dem breiten, herabhängenden Ärmel einer Kapuzenkutte kam ein Pergament hervor. Mit arthritischen Fingern löste der Büttel mühevoll das Band, entrollte das Dokument und überflog die Schrift – die er wahrscheinlich ohnehin nicht lesen konnte – bis zu dem schweren, am unteren Rand befestigten Wachssiegel. Er musterte uns, ein Rinnsal von Schweiß sickerte unter seiner verbeulten Eisenhaube hervor. Dann entschied er: »Das ist nur des Bischofs Siegel! Wo sind meines Herrn des Barons Wort und Siegel?«
Von allen Seiten des Hofs schlenderten seine Männer nun lässig auf uns zu. »Hier, verräterischer Hund, das ist Wort genug für den Baron!« sagte ein anderer Vermummter in einem leisen, drohenden Flüsterton. Metall zischte aus verstecktem Leder. Etwas Stahlblaues wurde dem Büttel in die unbewehrte Achselhöhle gestoßen, während zwei der Priester den Lieutenant aufhoben. Wir gingen an den verdutzten Wachen vorbei zum Karren mit den Tieren, der nahe am offenen Tor stand. Der Büttel schickte seine Männer mit einer Handbewegung weg, Schweißperlen zierten sein unschönes Kratergesicht. »D-das W-wort Gottes sei Gesetz…«, stammelte er. »Euer Heiliger Orden b-beugt sich zu Recht keiner zeitlichen Autorität.« »Du lernst das kanonische Gesetz schnell, Schurke«, flüsterte der Priester. »Jetzt hilf uns mit dem Ochsenkarren!« Unvermittelt trat ein junger Wächter vor, seinen feuergehärteten Holzspieß stoßbereit, als wolle er uns aufhalten. Die freie Hand des Priesters holte aus. Der Wächter machte mit zerstörtem Gesicht einen Schritt rückwärts, Blut spritzte auf das Pflaster. Er brach betäubt zusammen, die Stange fiel klappernd auf die Steine. Die Spannung im Hof schlug um in eine Welle von Wut, die die Mauern entlangfegte. Viele Wächter machten einen Schritt und senkten feuergehärtete Speerspitzen. Schwerter, Dolche und Äxte wurden in den Scheiden gelockert. »Nein!« schrie der Büttel, seine Schulter stand unter dem Druck des nach oben gestoßenen Stahls in seiner Achselhöhle mehrere Zentimeter hoch. »Bleibt stehen, wo ihr seid! Zerbrecht diesen Mann, wenn er überlebt.« Der Büttel zeigte auf den verwundeten Wächter, aber sein Gesicht hatte er dem Priester zugewandt; mörderischer Haß wütete hinter seinen kleinen Augen. Gemeinsam zogen sie am Geschirr der Tiere und drehten sie dem Tor zu. Mit einiger Mühe richteten sie die plumpen Karrenräder so aus, daß sie zwischen die hochstehenden Balkenenden der schmalen Zugbrücke paßten. Ich wäre fast auf der Stelle ohnmächtig geworden, nur der Gedanke daran, wie sehr Eleva eine solche Schwäche verachten würde, hielt mich aufrecht. Sie trugen mich zum Wagen und hoben mich hinauf, und
ich legte mich dankbar in sauberem Stroh nieder. Ganz fern spürte ich, wie sie den Lieutenant neben mich legten. Zwei Gestalten in langen Kutten faßten die Riemen an den Köpfen der Tiere und zogen sie durch das Tor auf die Brücke. Sie ächzte unter der Belastung. Der andere Priester trottete dicht hinterher und behielt den Büttel im Auge, der sich auf das rückwärtige Ende des Gefährts gehockt hatte, dann sprang er neben dem Mann auf. »Für diesmal gebe ich nach!« zischte der Büttel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, auf seiner Stirn traten die Adern heraus, seine Stimme wurde lauter, als wir unter dem verrosteten Fallgatter hindurchfuhren, »aber demnächst werden wir sehen, wer sich welcher Autorität beugt!« Die Zinnen der äußeren Mauern waren von Soldaten gesäumt, jeder trug eine Haube aus Bronzeblech, eine mit Eisenringen benähte Lederweste und einen geschärften Holzspieß, jedes Pockengesicht spähte über den Kragen einer dicken Wattierung aus Baumwollunterzeug. »Der Baron«, fuhr der Büttel fort, »wird erfahren…« Unter dem Arm des Mannes gab es eine ganz kurze Bewegung, völlig geräuschlos. Der Büttel versteifte sich kurz und verlor alles Interesse an dem, was er hatte sagen wollen, dann sackte er zusammen und fiel gegen die vermummte Gestalt neben sich, während wir unter Gepolter vom Ende der Brücke auf einen gefurchten Erdfahrweg rollten. Allmählich wurde die Burg in der Ferne wunderbarerweise klein. Ich kämpfte mich auf dem schwankenden Karren in eine aufrechte Stellung und schaute den Priester an. »Was habt ihr eigentlich mit uns vor?« fragte ich, beinahe überrascht, daß ich nun doch wieder Anteil nahm. An irgend etwas. Wir bogen um eine Ecke, und dieser verhaßte Steinhaufen verschwand hinter einer Baumgruppe. Es dauerte lange, bis der Priester antwortete. »Du lehrst uns«, sagte die Gestalt schließlich mit einem lauten, heiseren Zischen. Sie gab dem Büttel einen Stoß. Der Körper taumelte seitlich von der Straße in einen Graben und verschwand aus dem Blickfeld. »Und dann verschwindest du ebenso!«
4. Kapitel Flucht in die Kreativität 1 Noch etwas haben die Scavier anscheinend nie entdeckt, daß Räder nämlich rund sein sollten. Das mannshohe, verwitterte Paar am Karren mochte anfangs vielleicht diese Form gehabt haben. Die Räder waren aus schweren, parallelen Balken gemacht und sorgfältig mit Eisenbändern zusammengeschraubt. Aber die Faser hatte sich am Ende schneller abgenutzt als am restlichen Umfang; dem Wagner war es nie eingefallen, Bänder als Reifen auf die Ränder zu machen. Na ja, wenn vielleicht noch einmal tausend Jahre vergangen waren… Das Strohbett hob sich, senkte sich, hob sich, senkte sich mit jeder halben Drehung jedes Rades, um neunzig Grad asynchron zu seinem Gegenstück. Der Lieutenant merkte nichts. Er lag in noch tieferer Bewußtlosigkeit als zuvor, obwohl er regelmäßiger zu atmen schien. Seine Uniform war genauso zerfetzt wie die meine; zusätzlich zu seinem verletzten Arm war er von der langen Gefangenschaft her mit wunden Stellen bedeckt. Ich fragte mich, was sie wohl mit ihm gemacht hatten, welche Foltern sein bewußtloser Körper erduldet hatte. Was immer es war, zu sehen war es nicht – und das ließ mich in gräßlichen Spekulationen erschauern. Obwohl es dem Namen nach Winter war und wir uns nur ein paar hundert Kilometer vom nördlichen Pol entfernt befanden, war es hier, oberirdisch, viel wärmer. Meine Finger und Zehen begannen zu schmerzen, als sie auftauten. Es juckte mich heftig am ganzen Körper; das Ungeziefer, das ich bei mir trug, regte sich aus seiner Erstarrung. Mitflüchtlinge. Wie lange der Baron brauchen würde, bis er mitkriegte, daß sein Büttel von diesem Ausflug nicht zurückkam, konnte ich nicht schätzen. Die
Vermummten nahmen das Ganze für meinen Geschmack viel zu lässig. Meine Pistolen (Darrick), 8 mm, Magazin, Revolver, je 1, waren die ausgefeiltesten Handfeuerwaffen der vespuccianischen Geschichte, direkt nach Vorbildern hergestellt, die man auf dem verlassenen Sternenschiff der Kolonie gefunden hatte. Trotzdem konnten sie es, wie ich gesehen hatte, nicht mit so vielen Berittenen aufnehmen, die zwar urtümlich ausgerüstet waren, sich aber nicht vor dem Sterben fürchteten. Ich war beinahe darauf gefaßt, wieder in meiner Zelle aufzuwachen. Oder tot. Trotz solch grimmiger Überlegungen, und obwohl ich durch das unregelmäßige Schaukeln des Karrens gründlich durchgeschüttelt wurde, sank ich mindestens ein dutzendmal, ehe wir das erste Mal anhielten, in einen unruhigen Schlaf. Jedesmal wachte ich erschrocken auf, erinnerte mich, wo ich war, vergewisserte mich, daß es dem Lieutenant gut ging, beobachtete die vermummten Gestalten, die schweigend hinter uns her marschierten… Dann wachte ich wieder auf und wiederholte das Ganze mit rasendem Herzklopfen, bis es mir vorkam, als hätte ich dieselbe, idiotische Sache mein ganzes Leben lang gemacht. Zwei der Monde standen, – schmerzlich hell, hoch am Himmel. Scas Stern, seine Sonne, ist eine unerträgliche, blauweiße Fusionsfackel; sie hat die Farbe eines Lichtbogens. Alles Leben an der Oberfläche flieht vor dem vollen, tödlichen Licht des Tages – Tiere in ihren Bau, Pflanzen, indem sie sich in dicke, zähe, reflektierende Blätter einwickeln. Die Nacht lockt das Leben wieder hervor, sie wird allein durch die Satelliten viel heller erleuchtet als meine eigene Weltoberfläche jemals am vollen Mittag. Vögel singen, Blumen blühen. Bauern stolpern aus ihren Höhlen oder ihren dicht abgeschotteten Hütten, um die Felder ihrer Herren zu bestellen. Ist selten einmal ein verzweifeltes Wesen gezwungen, bei Tageslicht über Land zu reisen, so tut es das dicht vermummt, genau wie die mysteriösen Priester, die uns mit sich führten. Ein Gedanke drang schmerzhaft durch den Nebel in meinen Kopf: hier konnte die Menschheit nicht entstanden sein! Ebensowenig wie unter dem unwirtlichen Stern von Vespucci. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich auf diesem Planeten höheres Leben entwickelt haben sollte, der Ort war viel zu feindselig. Andererseits, vielleicht hatte sich der Stern
irgendwann in der Vergangenheit verändert. Vielleicht brannte er jetzt heißer. Der Karren kam mit einem Ruck zum Stehen. Ich wäre beinahe von dem glatten, gelben Stroh auf den Erdweg gerutscht, aber einer der Vermummten stützte mich. Der vordere schnalzte den Tieren zu und zwang sie zu einer Wendung um neunzig Grad. Wir zockelten in eine schmale Höhle zwischen zwei großen, mehrere Meter hohen Sträuchern. Während die Tiere aus Kornsäcken fraßen, die man ihnen vor den Kopf gebunden hatte, richteten die Vermummten ihre Aufmerksamkeit erst auf den Lieutenant, dann auf mich. Ihn zogen sie nackt aus, geschickt, leidenschaftslos. Sie drehten ihn um, untersuchten häßlich infizierte Verletzungen, wunde Stellen, Abschürfungen, die er sich während unseres kurzen, ereignisreichen Aufenthalts auf Sca zugezogen hatte. Sie gingen sanft mit seinem schwer verletzten Arm um, arbeiteten in einem mönchischen Schweigen, das vielleicht angebracht war, und erzeugten, während sie den primitiven Verband mit seinem Übelkeit erregenden Inhalt wegschnitten, eine Atmosphäre kalkulierter Eile. Ich hatte mich herumgerollt, um zuzusehen, als plötzlich eine Lanze von Schmerz durch meinen gebrochenen Fuß schoß. Ich starrte mit vor Qual verschleiertem Blick nach unten, wo sich eine vermummte Gestalt an meinem Hosenbein und an den Überresten meines Strumpfs zu schaffen machte. Als der böse zugerichtete Fuß freigelegt war, schaute ich weg. Er war fast so schlimm wie der Arm des Lieutenants. Ohne Frage würde ich ihn verlieren, und ich durfte mich noch glücklich preisen, wenn ich nicht mehr verlor. Auf jeden Fall würde ich niemals wieder…… unvermittelt erstarrte alles. Wie ein Mann wandten sich die drei Vermummten vom Karren ab. Zwei von ihnen überquerten die schmale Straße und kauerten sich dann hinter einen Knäuel langsam sich öffnender Sträucher nieder, um aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, nicht gesehen zu werden – der Richtung der Burg, des Barons, der mörderischen Reiter des Barons. Die zurückgebliebene Gestalt versteckte sich auf der anderen Seite. Sie warteten. Nach einiger Zeit war ein Geräusch zu hören, ein Wasserfall hohler
Laute, ganz unverwechselbar. Es war erschreckend, besonders, da ich es zum ersten Mal gehört hatte, als unser Lager bei der ›Asperance‹ überwältigt wurde. Es war das Geräusch beschlagener Tierfüße, die zu Hunderten auf den Boden schlugen und noch durch die Erde hindurch zu hören waren. Allmählich vernahm ich auch das metallische Klirren der Männer, die auf den Tieren saßen, Geschepper von Waffen und Ausrüstung, grobes Schreien und das eigentümliche, hohe Kreischen der Reittiere selbst, bei dem einem die Haare zu Berge standen. Als die berittenen Krieger donnernd in Sicht kamen, traten die Vermummten mit einer fließenden, lautlosen Bewegung lässig auf die Straße. Der Zug kam in einer Staubwolke ungeordnet zum Stehen. Bogenschützen verrenkten sich die Arme, um über den gepanzerten Rücken an die Pfeile zu kommen. Äxte wurden in den Gürtelriemen gelockert. Mit metallenem Flüstern wurden Schwerter gezogen. Nach einem kurzen, unerfreulichen Wortwechsel schaute der Offizier an der Spitze des Zuges zufällig einen Augenblick lang nach rechts – sein Blick fiel direkt auf mich. Er wollte einen Befehl schreien. Plötzlich schoß ein breiter Energiefächer aus den sackleinenen Ärmelenden der Kuttenträger, ergoß sich über den Zug und loderte zu einer Flammenwand auf, wo er auf die Berittenen traf. In einem einzigen, gräßlichen Augenblick war die ganze Truppe eingehüllt und wurde zu Asche verbrannt, Tiere und Menschen, ohne auch nur einen letzten Schreckens- oder Schmerzensschrei. Die Hitze buk sich in mein Gesicht. Als die Flammen ein paar Sekunden später erstarben, als hätte jemand ein Gasventil abgedreht, war auf der Straße nichts mehr übrig als ein paar geschwärzte, unregelmäßige, rauchende Klumpen, die einst Sättel und Rüstungen gewesen sein mochten. Alle organischen Substanzen, sogar die Knochen, waren verbrannt. So schnell es begonnen hatte, so schnell war es auch vorüber. Die drei Kuttenträger kehrten ruhig zum Karren zurück, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie gaben mir Wasser, das schal und leicht bitter schmeckte. Mit Drogen versetzt. Ich war nicht besonders überrascht, als ich, schwankend und von neuem durchgeschüttelt, erst erwachte, als Scas vier Monde am Untergehen waren. Bald würde der Tag kommen.
2 Auf Sca ist der Tag nur etwa fünfundzwanzig Stunden lang, vespuccische Stunden. Ungewöhnlich ist, daß das gleiche für die Nacht gilt. Ich war offenbar schon eine ganze Weile bewußtlos gewesen und war in eine Kutte gehüllt, wie sie die Leute trugen, die uns gefangen oder gerettet hatten, aber die Kapuze war auf meine Schultern zurückgeschlagen. Mein rechter Fuß war bis zum Knie in sauberes, grobes Gewebe eingebunden, darunter verbarg sich noch etwas, ein weiterer Verband, angenehm aber doch fest. Na gut, was fehlte? Was beunruhigte mich? Während ich da auf dem schlingernden Wagen lag, entdeckte ich ein wenig erschrocken, daß ich in den vergangenen paar alptraumhaften Wochen völlig vergessen hatte, wie es war, wenn man nicht ständig Schmerzen hatte, im Wachen und im Schlafen, und benommen zwischen diesen beiden Zuständen schwebte, wie ich es die meiste Zeit getan hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als würde man aus einem hohen Fenster geworfen. Der Schmerz war zur verborgenen Grundlage meines Seins geworden. Der Lieutenant trug ebenfalls eine Kutte. Ihr brauner Ärmel war aufgeschlitzt und ließ den gleichen Verband aus grobem Sackleinen an der Stelle erkennen, wo das plumpe, fremde Schwert ihm beinahe den Arm abgetrennt hätte. Er schnarchte. Das war ansteckend. Mir kam es vor, als sei es nur Augenblicke später, als ich wieder erwachte, die Monde waren anscheinend noch immer am Untergehen. Diesmal kam mir etwas sehr falsch vor und verwirrte mich zutiefst. Vielleicht war es eine Nachwirkung der Droge. Ich drehte mich herum und sah automatisch nach dem Lieutenant, aber der bekam, wenn man das in dem schräg einfallenden Licht beurteilen konnte, immer mehr seine normale Farbe zurück. Seine Atemzüge waren leicht, wenn auch ein wenig laut. Die Vermummten marschierten weiter, zwei waren hinter uns, unverdrossen, stumm, ihre Gesichter, wie sie auch aussehen mochten,
waren tief in den Schatten ihrer Kleidung verborgen. Ein dritter, der kaum mehr stoische Gleichgültigkeit hätte zeigen können, führte die Zugtiere. Dann hatte ich es: Die Monde gingen auf! Ich hatte eine ganze, höllische Tagesperiode durchgeschlafen. Allem Anschein nach war unsere kleine Gesellschaft einfach weitermarschiert, während ich erwartet hatte, daß wir irgendwo Unterschlupf suchen und die nächste Nacht zum Weitergehen abwarten würden. Kein Wunder, daß mir warm war; ich spürte die restliche Tageshitze. Das… Da durchfuhr mich ein anderer Gedanke: Ich hatte mich täuschen lassen, weil die Monde links von mir standen. Wenn sie aufgingen, mußten sie eigentlich rechts von mir sein. Wir waren auf dem Weg nach Süden. Nicht nach Norden zur Stadt des Bischofs – oder zum Scheiterhaufen.
3 Eine weitere Nacht verging. In einem der alten Volkslieder meiner Mutter gibt es eine Stelle über einen Ort, ›wo die Dämmerung heraufkommt wie Donnerhall‹. Auf Sca kommt sie herauf wie eine explodierende Atombombe. Bei der ersten, fürchterlich hellen Perle am teilweise verdeckten Horizont hielten die Vermummten den Wagen wieder an. Natürlich hatte schon seit einigen Stunden eine falsche Dämmerung den Horizont erhellt. Auf Sca ist es niemals völlig dunkel. Jetzt blieben die Fremden stehen, um schwere Planen über die Tiere zu ziehen und mit Schnüren zuziehbare Binden dicht vor den Augen der Geschöpfe zu befestigen. Erwartung lag in der Luft, die Insekten schwiegen plötzlich, nirgends war ein Vogel zu sehen. Sanfte, geschickte Hände zogen die verrutschte Kutte des Lieutenants fest um ihn herum, bedeckten seine Gliedmaßen sorgfältig und zogen ihm die Kapuze über die Ohren. Sie schlossen die Vorderseite mit einer Zugschnur und suchten einige Zeit tief im Innern nach etwas, bis sie zufrieden schienen. Das gleiche geschah mit mir, jeder Quadratzentimeter freiliegendes Fleisch wurde zugedeckt, und das alles vollzog sich in
völliger, unheimlicher Stille. Sobald ich die Kapuze auf dem Kopf hatte, griff einer der Kuttenträger hinein und zog ein dunkles Innennetz über meine Augen, wodurch mein Blickfeld auf einen kleinen, immer heller werdenden Kreis reduziert wurde. Bald war es, als spähe man tief aus dem Innern eines dunklen Tunnels durch die Mündung. Knirschend setzen wir uns wieder in Bewegung und zockelten unter der fast tödlichen Sonne weiter, wir trafen niemanden, sahen niemanden, kein einziges lebendes Wesen außer Bäumen, Büschen und anderen Laubgewächsen, alle Blätter waren zu festen, kleinen Knoten zusammengezogen, um dem tödlichen Schein von oben zu widerstehen. Hin und wieder bewegte ich mich, halb benommen, und wollte die erstickende Kutte lockern – ich war am ganzen Körper schweißgebadet, was das Jucken noch verschlimmerte –, aber jedesmal wurden meine Hände sanft von den Befestigungen weggezogen. Dann fiel mir wieder ein, was das Sonnenlicht anrichten konnte. Auf Sca gab es außer dem Galgen und dem Scheiterhaufen als dritte Form der Hinrichtung, die schurkischen Adeligen vorbehalten war: das Tageslicht. Innerhalb einer Stunde erschien alles verwaschen, es gab nur noch Abstufungen von Weiß und undurchdringlichem Schwarz, wie auf einer überbelichteten Fotografie. Der Lieutenant murmelte etwas, warf sich hin und her und kämpfte mit seiner erstickenden Schutzhülle. Sie hoben ihn hoch, stützten ihn und gaben ihm durch eine kleine Plastikröhre, die in die Vorderseite der Kapuze geschoben wurde, zu trinken. Daraufhin blieb er ruhig liegen. In meinem glühenden Elend begann ich mich nach einem kleinen Schluck dieses Tranks zu sehnen, wahrscheinlich derselbe, den ich tags zuvor bekommen hatte, aber man bot ihn mir nicht an. Wir zogen weiter nach Süden. Langsam bekam ich eine Ahnung, was sich wirklich abspielen könnte. Als ich heranwuchs, hatte man mich davor gewarnt, jemals ohne verläßliche Daten einen voreiligen Schluß zu ziehen. Das ist ein guter Rat. Jedoch ist der menschliche Geist – zumindest der meinige – so veranlagt, daß er automatisch auf unvollständige Informationen anspringt, ob sein Besitzer das nun will oder nicht. Genau das tat mein Geist in diesem Augenblick; da sonst niemand mit mir sprechen wollte, beschloß ich,
wenigstens ihm eine Chance zur Erklärung zu geben. Angenommen, diese mysteriösen Typen waren wirklich von der Kirche. Sie kleideten sich so. Sie hatten das Siegel des Bischofs. Ich glaube nicht, daß jemand anders als ein Mönch, der seit Jahren daran gewöhnt ist, schweigend zu leiden, die Reise so weit hätte durchhalten können wie diese Personen, ohne auch nur einmal zu niesen, einen Schluckauf, einen lahmen Witz oder auch nur einen Fluch von sich zu geben. Ich verstand von Religion noch weniger als von der Herstellung von Waffen, aber von Geschichte hatte ich ein bißchen Ahnung. Die Kirche von Vespucci, in den Schulen der Nation ein Pflichtfach, aber von fast allen Erwachsenen ignoriert, war eine durchsichtige Stütze des Staates. Das war nicht immer so gewesen; in früheren Zeiten war sie aktiv und mächtig – und in ein halbes Dutzend Sekten gespalten. Diese Vermummten waren vielleicht Abtrünnige, Schismatiker, Vertreter irgendeiner Gruppierung, die weder wollte, daß uns der Bischof tötete, noch der Baron. Vielleicht hatten sie es auf unsere Technologie abgesehen – nicht daß es so aussah, als bräuchten sie sie; vielleicht wollten sie uns selbst den Garaus machen. Das war keine angenehme Überlegung, aber es war die einzige Unterhaltung, die ich hatte. Wenn sie mir langweilig wurde, schlief ich wieder ein. Genau, wie ich es während der Gottesdienste in der Schule getan hatte. Endlich wurde es Nacht, fast widerwillig, als genieße der grausame, flammende Stern über uns, was er dem Land mit seinen Hammerschlägen antat. Der Karren wurde wieder von der Straße gezogen, die Tiere wurden gefüttert und ausgiebig getränkt. Der Lieutenant wurde losgebunden, seine Wunden sorgfältig versorgt. Einen Augenblick lang öffnete er tatsächlich die Augen. Er schaute mich an, möglicherweise erkannte er mich, vielleicht empfand er aber auch das gleiche, gelinde Erstaunen wie ich, daß er noch am Leben war, dann sank er wieder ins Vergessen zurück. Dankbar löste ich das Gesichtsnetz, ehe sie zu mir kamen, nahm die Kapuze ab und öffnete die Kutte an der Vorderseite weit. Es war immer noch atemberaubend heiß; das würde noch mehrere Stunden so bleiben, ehe die Außentemperatur merklich sank – Sca hat Glück, daß seine Atmosphäre nicht dichter ist. Es half schon viel, die ganze Isolierung los-
zuwerden. Ich lachte beinahe, als ich daran dachte, daß ich noch vorgestern in einem Kerker beinahe erfroren wäre. Jetzt durchtränkte Schweiß mein Haar, lief mir in die Augen und tropfte von meiner Nasenspitze. Irgendwann in den vergangenen Stunden hatte ich auch eine Spur von Selbstachtung zurückgewonnen. Da ich unterhalb der Gürtellinie einen schmerzhaften Druck verspürte, erhob ich mich steif von dem Strohbett und wollte vom Karrenende rutschen, um zu einem der einladender aussehenden Büsche hinüberzuhinken. Kräftige Hände hielten mich zurück. »Hör zu, Freund, ich muß mal für kleine Jungen!« Die beiden traten zurück und machten mir Platz. Ich rutschte ganz hinunter und belastete meinen verletzten Fuß. Er hielt ohne viel Schmerz stand, aber ich fühlte mich so schwach, als bestünde mein ganzer Körper aus warmer Gelatine. Ich humpelte schwindlig hinüber, um zu tun, was ein Mann tun mußte, bemüht, nicht auf drei unsichtbare Augenpaare zu achten, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Ich konnte jedoch nicht umhin, zu bemerken, wie sorgfältig sie sich von mir aus gegen den Wind hielten. Nun, das konnte ich ihnen wirklich nicht übelnehmen. Wenn ich es hätte vermeiden können, in Windrichtung von mir zu stehen, hätte ich es auch getan. Diesmal war der Karren neben einem seichten Bach mit Sandbett abgestellt. Während ich meine Kleider unter der Sackleinenkutte wieder ordnete, hatte ich noch eine Idee. Ich beschloß, sie auszuführen, so verrückt sie auch sein mochte, es war immer noch besser, als von zweitrangigen Inquisitoren am Pfahl verbrannt zu werden. Jetzt standen zwei der Vermummten mehrere Meter entfernt am Karren und machten sich an den Tieren zu schaffen. Der dritte war anscheinend abgestellt, um mich zu beobachten, er hielt sich in ein paar Armlängen Entfernung. Diese nächststehende Gestalt sprach ich an. »Sagen Sie, werden wir eine Weile hierbleiben?« Ein kaum erkennbares Nicken.
»Dürfte ich dann vielleicht einen Teil des Gefängnisdrecks aus meinen Kleidern waschen?« Keine Antwort. »Hören Sie mal, Euer Ehren, ich habe gesehen, was Sie mit den hundert gepanzerten Kavalleristen gemacht haben. Glauben Sie mir, ich bin so harmlos, wie ein Mensch nur sein kann. Ich will nirgendwo hin, wo ich nicht hin soll. Ich stecke jetzt seit einem vollen Monat in meinem eigenen Dreck. Sehen Sie es als letzte Bitte: Vielleicht wirkt es sich bei meiner Hexenverbrennung günstig auf die Einnahmen aus.« Die eingewickelte Gestalt wandte sich den anderen zu, die am Ende der Lichtung standen. Einer von denen nickte, obwohl er eindeutig viel zu weit entfernt war, als daß meine Stimme ihn hätte erreichen können. Anderseits hatten sie auch die selige, von niemandem beweinte Kompanie lange vor mir gehört. Auf jeden Fall wurde das Nicken an mich weitergegeben. »Danke, ich werde es Ihnen irgendwann einmal vergelten – im nächsten Leben.« Ich blickte mich um, erkundete meine Umgebung, wie man es mich seit frühester Kindheit gelehrt hatte. Vor allem stellte ich fest, wo sich der Lieutenant befand. Ich hatte mit Freude bemerkt, wie sich mein persönlicher, vermummter Anstandswauwau bei der Erwähnung der massakrierten Kavalleristen automatisch an die Taille gegriffen hatte. Nett, daß er mir zeigte, wo die Macht wirklich war. Ich drehte mich um und stapfte mühsam zum Bachufer hinüber, wobei ich meine Behinderung und Schwäche in übertriebener Weise zur Schau stellte. Ich ließ die geborgte Kutte auf das grasbewachsene Ufer fallen, zog die Jacke aus, schälte mir die Reste meines Uniformhemds ab und öffnete meine Hose. Der Schlüpfer darunter war in noch schlimmerer Verfassung als das Hemd, wie ich entdeckte. Beide Kleidungsstücke waren kaum von dem Dreck und dem abgegangenen Fleisch zu unterscheiden, von denen sie anscheinend allein zusammengehalten wurden. Sie lösten sich in dem blutwarmen Bach sofort auf, als ich versuchte, sie zu waschen. Ich ließ die fauligen Fetzen in der Strömung wegschwimmen und begann meinen Körper mit sauberem, gelbem Sand zu schrubben.
Und ich dachte nach. Mit der Nacktheit ist es eine sonderbare Sache. Verschiedene Leute reagieren verschieden darauf. Ich hatte einmal einen anderen Lieutenant gekannt, zu Hause auf Vespucci, als die Marinereserve ›vorübergehend‹ die routinemäßige Polizeiarbeit unter Kriegsrecht in einem der ersten ›Widerspenstigen Königreiche‹ übernahm, die wir erobert hatten. Wir waren auf den Stufen einer Polizeistation gesessen, hatten auf den Schichtwechsel gewartet und uns über Einbrecher unterhalten. Corporal, hatte er zu mir gesagt, wenn Sie in der Nacht ein Geräusch hören, dann nehmen Sie sich immer erst die Zeit, nach ihren Hosen zu greifen, ehe Sie Ihr Brecheisen, den Kerzenleuchter oder sonst etwas packen und sich dem Dieb entgegenstellen. Sonst, so sagte er, sind Sie psychologisch schwer im Nachteil. Nacktheit ist mit Hilflosigkeit gleichzusetzen. Sie werden es merken. Und der Einbrecher auch. Sie werden verlieren, er wird siegen. Oder so ähnlich. Später hatte mein CPO* ironisch bemerkt, daß ein Angriff eines splitternackten, brecheisenschwingenden Hausbesitzers vielleicht gerade die richtige Medizin gegen Einbrecher sein könnte. Zumindest würde der Eindringling zu Tode erschrecken, und dadurch gewann man vielleicht ein wenig Zeit und Spielraum. Ich war persönlich auf der Seite des CPO gewesen. Ich hatte immer gefunden, daß der Lieutenant, wie alle Lieutenants überall, ein klein wenig zimperlich war. »Collegeknäblein!« hatte der CPO verächtlich geschnaubt. Aber ich hätte wetten mögen, daß diese vermummten Typen auf diesem bedrückend religiösen Planeten eher die Partei des Lieutenant als die des CPO ergreifen würden. Ich spülte meine Hosen, spülte meine Jacke und genoß die Luft auf meiner frisch gescheuerten Haut. Wie Lieutenant Sermander war ich mit häßlichen Wunden übersät, aber sie heilten schon. Ich dachte noch über einiges andere nach, zum Beispiel, was ich mit ihm anfangen sollte, schaute mich so unauffällig um, wie ich konnte und studierte die taktische Situation. *
Chief Petty Officer, etwa Bootsmann – Anm. d. Übers.
Mein Bewacher achtete mehr auf seine Kameraden als auf mich. Er wendete mir den Rücken zu. Sein seitliches Blickfeld war, wie ich aus Erfahrung wußte, durch diese Kuttenkapuze völlig blockiert. Ich trat, verräterische Spritzer oder Wellen vermeidend, vorsichtig aufs Ufer zu, ohne die anderen Gestalten am Karren wie auch die mir nächststehende aus den Augen zu lassen. Wenn ich nur das Ding in die Hand bekommen könnte, mit dem sie diese gepanzerte Kolonne geröstet hatten. Ich verschob es auf später, mir Gedanken zu machen, woher der ›Heilige Orden der Zähne Gottes‹ so etwas bekommen haben könnte. Vielleicht hatte es hier tatsächlich einmal eine höhere Zivilisation gegeben. Bestimmt konnte ich einen kleinen Mönch überwältigen, der sich anscheinend mehr für seine Meditationen interessierte als für mich, sogar in meiner miserablen Verfassung. Ich war im Vorteil – ich war zu allem entschlossen. Sie würden sicher zögern, jemand aus ihren eigenen Reihen zu Asche zu verbrennen, wenn auch nur für die ein oder zwei Sekunden, die ich brauchte, um dahinterzukommen, wie die Waffe funktionierte. Ich mußte den Lieutenant aus der Schußlinie halten. Mein Fuß fand den Rand des Baches, wo die Grasbüschel überhingen. Ich blickte hinunter. Das durchweichte Sackleinen an meinem Bein war verrutscht. Darunter war etwas Gummiartiges, fast lebendig sah es aus, silbergrau wie die reflektierenden Unterseiten scavianischer Blätter im grellen Mondlicht. Ich stellte den Fuß vorsichtig auf das Gras, mein unverletztes Bein ruhte, gespannt unter meinem Gewicht, auf einem großen Stein knapp über der Wasserlinie. Ich duckte mich, atmete langsam und geräuschlos tief ein und verließ mich auf das Kampftraining, das ich von der Grundschule bis zum Ausbildungslager mein Leben lang erduldet hatte, Darin war ich gut gewesen, es war mein einziger Sport, der einzige, für den man keine Abzeichen bekommt… Ich sprang, hetzte über das frisch aufgestandene Gras, warf mich in die Luft zu einem fliegenden… … und knallte auf den Boden; die Luft entwich explosionsartig aus meinen Lungen. Ich schüttelte meinen ramponierten Kopf und schaute
zu meinem vermummten Bewacher auf, der tiefgeduckt, in gespannter Kampfhaltung dastand, die Hände ausgestreckt, jederzeit für weiteren Ärger bereit, sobald ich dumm genug war, damit anzufangen. Nicht länger vermummt. Ich schaute direkt in die zornfunkelnden Augen der schönsten Blondine, die ich je gesehen hatte.
5. Kapitel Fenster zur Unendlichkeit 1 »Hast du genug, du Arschloch?« Die wilde Schönheit umkreiste mich vorsichtig mit Seitwärtsschritten, eine kleine Faust ausgestreckt, die andere wie eine gespannte Feder schlagbereit an die Taille zurückgenommen. Ihr helles Haar flatterte wild, wenn sie sich bewegte, umhüllte ihr Gesicht, schlug wie bleiches Feuer auf ihre Schultern, goldene Glanzlichter und kupferroter Schimmer kämpften im mondreflektierten Schein von Scas grellem Primärstern um die Vorherrschaft. Ich saß im Gras, in der Mulde, die ich selbst gemacht hatte, und hielt den Mund. »Geh nicht zu hart mit ihm um, Cilli!« rief plötzlich einer der anderen Priester und warf seine Kapuze zurück. »Er hat wohl gedacht, wir wollten…« »Schluck's runter, Coup!« fauchte sie, ohne mich ein einziges Mal aus den Augen zu lassen. Sie waren grün, mit diesen tiefen, bläulichen Untertönen, wie man sie im Herzen eines Atomreaktors findet. »Jeder, der sich von hinten an Lucille Olson-Bear heranschleicht, muß sich auf etwas gefaßt machen. – Und nenn mich nicht Cilly!« »Was ist, du Blödmann? Willst du dich jetzt anständig benehmen?« Ich blinzelte und bemühte mich, alles mitzukriegen, was vorging. Ohne zu überlegen wappnete ich mich zum Aufstehen – als mir mit einem leichten Stoß eines kleinen Fußes die Hand unter dem Körper weggetreten wurde. Ich lag wieder flach, und es gefiel mir von Minute zu Minute weniger. Der, den sie Coup genannt hatte, mischte sich wieder ein und kam mit langen, unmönchischen Schritten auf mich zu, der scherzende Tonfall
war einem warnenden, befehlenden gewichen. »Hör auf, mit ihm zu spielen, Lucille! Wir müssen auf seiner Seite sein. Er ist ein Kunde, vergiß das nicht!« Dieser Coup war vielleicht der größte Mann, den ich je gesehen hatte. Er hatte kurzgeschnittenes, fast geschorenes Haar, sein Kopf hätte aus einem Berg herausgemeißelt sein können, seine Nase war groß und häßlich, und seine Ohren hätten bei jedem anderen wie Frachtluken gewirkt. Eine seiner Hände war so groß wie meine beiden nebeneinander. »Ja«, fügte ich, platt auf dem Hinterteil liegend hinzu, bei der Aussicht auf einen solchen Verbündeten hatte ich wieder ein wenig Selbstvertrauen gewonnen. »Der Kunde hat immer recht. Kann ich jetzt aufstehen?« Daß ich nun zum zweitenmal niedergeschlagen wurde, hatte ich nur verdient. Selbst ein Rekrut in der Grundausbildung sollte wissen… »Gib uns dein Ehrenwort!« Lucille hatte ihre Kampfhaltung keinen Augenblick verändert, nicht um den Bruchteil eines Millimeters. Sie stand über mir, schweratmend, aber eher aus Gehässigkeit als vor Anstrengung. Das konnte ich auch, wenn ich mußte. »Was, zum Teufel, hätten Sie denn davon? Sie kennen mich nicht. Vielleicht lüge ich viel.« Ich wurde allmählich richtig wütend. »Jetzt sagst du mir erst einmal, was hier gespielt wird, Goldlöckchen, dann gebe ich dir vielleicht mein Ehrenwort.« Vielleicht. Ein leichter Wind bewegte die Bäume rings um die Lichtung und hob Lucilles Haar leicht an. Ihre Wangen waren gerötet, winzige, feuchte Ringellöckchen klebten an ihrer sanft gewölbten Stirn. »Goldlöckchen, wie? Na, Kumpel, was hier vorgeht, ist eine lange, komplizierte…« »Ihr seid nicht von Sca!« unterbrach ich plötzlich. Der Akzent war anders, mehr dem meinen ähnlich. Auf ihrem hinreißenden Gesicht war kein Makel, keine Unreinheit. »Und auch nicht von Vespucci, und das bedeutet, daß es eine dritte…« »Langsam, mein Sohn!« Coup baute sich hoch vor Lucille auf. »Fangen wir erst einmal an, uns vorzustellen – am liebsten in der Senkrechten!« Er beugte sich herunter und stellte mich wie ein Kind auf die Füße.
»Whitey O'Thraight«, antwortete ich automatisch in der offiziellen Aussprache. »Feldzeugmeister-Corporal der Marinereserve von Vespucci.« Auf einmal merkte ich, daß ich habacht stand, und das nicht einmal einem Befehl zuliebe. Auch nicht einer Uniform oder überhaupt irgendwelchen Kleidern zuliebe. Nun, die auf meine Arme tätowierten Kennzeichnungen sollten für jeden wirklichen Vespuccier genug an Uniform sein. »Tja, das ist eine Formel, die wir schon einmal gehört haben«, bemerkte Lucille zu ihrem hühnenhaften Gefährten. »Name, Funktion, Rang. Kumpel, das einzige, was du ausgelassen hast, ist deine Seriennummer. Oder hat man die da, wo du herkommst, noch nicht wieder erfunden? – Sag mal, willst du dich eigentlich nie mehr anziehen?« Sie meinte mich. Peinlicherweise merkte man mir das allmählich an. Zwei Monate im Weltraum und ein weiterer Monat im Gefängnis, wenn das eine Entschuldigung ist. Ich hastete zum Ufer, wo ich meine Kleider gelassen hatte, und rief über die nackte Schulter zurück. »Stellen Sie eigentlich nie eine Frage nach der anderen? Das war meine Seriennummer.« »Was?« »Whitey O'Thraight; YD-038. Fünf Stellen. Fast ein richtiger Name.« Immerhin etwas, worauf man stolz sein konnte. Lucille erbleichte und murmelte leise und grimmig: »Beim süßen Lysander, was für ein verdrehtes, mieses…« »Nicht vor anderen Leuten, Cilly.« »Nenn mich nicht Cilly!« Er lachte gewaltig, tätschelte ihr den Kopf und zauste ihr das Haar. »Corporal, ich bin Geoffrey Couper, und diese undiplomatische, gewalttätige junge Dame hat sich, glaube ich, schon vorgestellt. Ich übernehme keine Verantwortung, und sonst auch niemand, auch sie selbst ni… hupps!« Sie war gut, aber er war um Längen besser, wie er den beabsichtigten seitlichen Tritt in den Bauch lässig mit eisernem Unterarm abblockte und dann ihren ausgestreckten Fuß erwischte. Er hielt ihn einen Augenblick
lang fest, als habe er vor, ihn abzudrehen, dann ließ er sie so plötzlich los, daß sie hüpfen mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Spannung, eine Sekunde Pause, dann lachten sie beide. Es war, als sähe man Raubtieren beim Spielen zu. Verlegen sammelte ich die Fetzen meiner Uniform ein, zusammen mit dem bißchen Würde, das noch übrig war, und zog zuerst die nassen Hosen, dann die Jacke an. Während sich Couper weiterhin auf verbaler Ebene mit Lucille kabbelte, zögerte ich mit der Kutte, die sie mir gegeben hatten, und legte sie mir dann zusammengefaltet über den Arm. Dann überlegte ich es mir anders, versteckte mich aus einem irrationalen Schamgefühl heraus hinter einem Busch und zog die durchweichte Kleidung aus. Nun hatte ich zum erstenmal richtig Gelegenheit, das Kapuzengewand zu untersuchen. Die grobgewebte Außenseite paßte ungefähr zur Technologie von Sca, aber sie war eine Täuschung. Ich hätte es gleich merken müssen: das grobe Gewebe hätte auf meiner arg strapazierten Haut weh getan. Aber die Kutte war mit dem gleichen, sonderbaren Material gefüttert, das, wie ich flüchtig gesehen hatte, auch um mein lahmes Bein gewickelt war. Es war silbergrau, zu einem samtartigen Flor aufgerauht, die Oberfläche war deutlich wärmer als die Nachtluft. Als die vordere Kante der Kutte zwischen meine prüfenden Finger rutschte, spürte ich einen kurzen, zylinderförmigen Klumpen, der in den Saum eingenäht war. Ich drückte an einem Ende und untersuchte ihn. Sofort fühlte sich das Futter kühler an. Tau begann zu kondensieren und lief in winzigen, diamantenen Tröpfchen ab. Reif bildete sich. Ich versuchte es mehrmals mit Drehen und Drücken, bis das Futter wieder warm war und zu trocknen begann. Wer waren diese Leute?
2 »Wer sind Sie eigentlich?« wollte ich wissen, als ich, die Uniform über den Arm gelegt, wieder aus der Abgeschiedenheit meines Ankleidestrauchs auftauchte. »Da sind Sie, Corporal.« Couper massierte gerade einem der Zugtiere
das Bein. »Einen Augenblick lang dachte ich schon, Sie hätten beschlossen, sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen. Mit dem Vorstellen sind wir immer noch nicht fertig, oder?« Lucille war nirgends zu sehen. Couper wandte sich dem letzten seiner Gefährten zu, einem beleibten, gnomenhaften Individuum mit breitem Gesicht und schwarzen, buschigen Koteletten, die unten an seinem Kinn zusammenliefen. »Corporal, das ist Owen Rogers, unser Waffentechniker. Roger, das ist Feldzeugmeister-Corporal Whitey O’Thraight.« Rogers zog skeptisch eine Augenbraue hoch, als er meinen Titel hörte, als habe man ihn einem richtigen, feuersteinschlagenden Wilden vorgestellt. Er nickte ziemlich höflich, dann bastelte er weiter herum – an einer der unglaublich kleinen, eindrucksvoll wirksamen Handwaffen der Gruppe. Damit sollten sie hundert Kavalleristen ausgelöscht haben? Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber Couper redete einfach weiter. »Ich muß wohl noch hinzufügen, daß er auch der Praxeologe unserer Expedition ist – wirklich ein vielbeschäftigter Bürger, unser Mr. Rogers.« »Nenn mich nicht Bürger, Coup!« antwortete Rogers mit viel höherer, nasaler Stimme, als ich erwartet hätte. »Ich bin heute abend zu müde, um mich noch zu duellieren.« Er zog ein Papierpaket aus seiner Kutte, holte etwas heraus, was wie ein dünner, brauner Zweig aussah, schnippte mit einem kleinen, mechanischen Feueranzünder, steckte den Zweig in den Mund, zündete das Ende an, zog Rauch ein und paffte ihn wieder aus. Mit kritischem Blick begutachtete er ein Teil, das er aus der Waffe entfernt hatte, polierte es an seiner Kutte und begutachtete es noch einmal. »Was ist ein Praxeologe?« fragte ich, mangels eines besseren Themas. Lucille zählte noch immer als vermißt. »Noch wichtiger, wer in Hamiltons Heiligem Namen sind Sie? Was ist das für eine Expedition?« Die beiden Männer zuckten leicht zusammen, als hätte ich etwas Falsches gesagt. »Das gleiche könnten wir dich fragen, Kumpel – ohne den ordinären Ausdruck!« Ich fuhr herum. Lucille stand direkt hinter mir, sie kam von einem an-
deren Teil des Baches, ihr nasses Haar lag angeklatscht am Kopf und war im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Sogar so sah sie gut aus. Ich wollte gerade fragen, welchen ordinären Ausdruck sie denn meine, als sich Lieutenant Sermander auf dem Karren zu regen begann. Er stöhnte und versuchte, sich auf seinem unverletzten Arm aufzustützen. Couper eilte zu ihm hinüber, drückte ihn sanft nieder und redete weiter mit mir, während er meinen Freund untersuchte. »Corporal, da, wo wir herkommen, gab es einmal ein primitives Volk, das in seiner Kosmologie Zeit und Entfernung ein wenig durcheinanderbrachte.« Er warf Rogers einen Blick zu. Der Praxeologe und Waffenschmied nickte professionell zustimmend. »Sie dachten, wenn man von weit her kam, käme man auch aus der fernen Vergangenheit. Eine sonderbare Einstellung…« »Die ihre Vorteile hat«, unterbrach Rogers, von seiner Arbeit aufblikkend. »In diesem Fall vielleicht«, gestand Couper zu. Er schälte das Sackleinen vom Arm des Lieutenant. Darunter war der gleiche, gummiartige, graue Verband, wie ihn auch ich trug. In die elastische Substanz war eine kleine, starre Tafel derselben Farbe eingelassen, zwei mal fünf Zentimeter, mit winzigen Lichtern und Miniaturschaltern verziert. Während Couper sich um meinen Freund bemühte, wechselte eine der kleinen Lampen nach der anderen von rot über gelb zu grün. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Wo Sie herkommen, Corporal, gibt es sicher Legenden.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Er sah mich abschätzend von der Seite an, sein Blick schien auszudrücken, daß er, selbst in bester Stimmung, niemand war, den man anlügen konnte. »Die gibt es immer. Haben Sie schon von einem Ort namens ›RD‹ gehört?« »›Er-de‹?« Ich rollte die beiden unbekannten Silben im Mund herum. »Kommen Sie von dort?« Couper wandte sich wieder der elektronischen Schalttafel im Verband des Lieutenant zu. Roger's Lächeln verdeckte nicht den besorgten Ausdruck, der bei seiner Verwandlung vom Handwerker in den Fachmann – Fachmann wofür? – in sein Gesicht getreten war.
»Gewissermaßen, Whitey. Sagen Sie, Ihr Vespucci, ist das ein Nationalstaat, ein Planet, ein Planetensystem oder ein…« »Jetzt wohl alle drei. Was meinen Sie mit ›gewissermaßen‹? Entweder sind Sie von einem Planeten, oder Sie sind…« »Wirklich, Corporal?« Lucille setzte sich auf den – wie nennt man das? – auf den Teil des Wagens, der ihn mit den Tieren verband, und half Rogers mit einer geistesabwesenden Zufriedenheit, wie ich sie bei anderen Frauen beobachtet habe, wenn sie strickten, bei der Waffenpflege. Ich schaute zu Boden, aus verschiedenen Gründen plötzlich verlegen. »Was wäre«, fragte sie, »wenn an Bord Ihres Schiffs, während Sie zu diesem geistverlassenen Ort hier unterwegs waren, ein Kind geboren worden wäre?« »Dann wäre es trotzdem ein vespuccianischer… äh… Bürger.« Ich blickte kurz zu Rogers hinüber und fragte mich, ob ihn das Wort immer noch kränkte. Lucille antwortete für ihn. »Ich verstehe. Rog, gib mir bitte den Öffnungsmesser, ja? Da draußen, gegen die Kavallerie hatte das Ding eine leichte Lichtstreuung, nachdem ich es für den Folterer abgeschwächt hatte. Wohl ein bißchen Spiel im Kontrollring.« Sie hätte sich ohne weiteren Kommentar wieder ihrer Arbeit zugewandt, hätte ich nicht weitergesprochen. »Danach wollte ich Sie schon fragen. Sie hatten nicht meine Gründe, den Büttel zu hassen. Ich weiß, er wollte gerade um Hilfe rufen, aber warum haben Sie…« »Ich hatte vorgehabt, ihn zu braten, ob er nun einen Pieps von sich gab oder nicht«, sagte Lucille fröhlich und zog eine Justierung am Laufende ihrer Waffe fest. »Das ist bei uns das Standardverfahren – für solche Typen.« Ich muß sie wohl angeglotzt haben. Rogers trat dazwischen. »Ihr Standardverfahren, meint sie. Trotzdem, auch dafür spricht einiges. Es ist ein verläßlicher Maßstab dafür, wie zivilisiert eine Person – oder ein ganzer Planet – wirklich ist. Barbarische Kulturen ermutigen Folterer. Lediglich primitive tolerieren sie, und foltern sie manchmal ihrerseits aus Rache. Eine wirklich fortgeschrittene Kultur…«
»Erzieht sie um?« fragte ich, weil ich glaubte, diesen Burschen allmählich zu verstehen. In der Ausbildung auf Vespucci wird man vor den wenigen wie ihn gewarnt, übervernünftig, sentimental… »Nein, wir töten sie einfach, wie Lucille sagt, genau wie jedes andere Ungeziefer, schnell und schmerzlos.« »Eine Plasmapistole unter der Achselhöhle«, fügte Lucille hinzu, »vollbringt mancherorts wahre Wunder, was den Grad des zivilisatorischen Fortschritts betrifft!« Rogers lachte leise. »Ganz zu schweigen von der desodorierenden Wirkung bei Achselnässen!« Couper unterdrückte ein Grinsen und knurrte, während er das Sackleinen wieder um den Arm des schlafenden Lieutenant wickelte. Dann spielte er an dem temperaturregelnden Klumpen im Saum von Sermanders Kutte herum. »Corporal, wenn ich zulasse, daß diese Unterhaltung fortgesetzt wird, ohne…« Er unterbrach sich, dann setzte er neu an: »Sohn, trotz aller gegensätzlichen, blutrünstigen Bemerkungen sind wir im Grunde genommen ein wissenschaftliches Forschungsteam, eingesetzt, um diesen Müllhaufen von einem Planeten zu studieren. Weitere Fragen – und Antworten, habe ich mich klar ausgedrückt, Lucille? – sollten lieber warten, bis wir dort sind, wo wir hinwollen.« Lucille streckte ihm die Zunge heraus, blieb aber stumm. »Und wo ist das?« Ich sah zu, wie das Mädchen ihre Waffe irgendwo unter die Kutte steckte. Rogers begann sein Werkzeug in eine Segeltuchrolle zu packen, nahm den Tieren die Futterbeutel ab und warf sie neben den Lieutenant in den Wagen. »Das ist ein gutes Beispiel für eine Frage, die noch warten muß«, entgegnete Couper. »Jedenfalls ist es besser, etwas zu tun, als davon erzählt zu bekommen. Aufsatteln, ihr Wissenschaftler, wir haben noch einige Meilen vor uns!«
3 So fielen wir wieder in den gleichen Reisetrott wie zuvor. Nur gab es
diesmal einige Unterschiede. Ich saß aufrecht auf dem Wagen, nachdem die kleine Kontrolltafel an meinem eigenen Verband untersucht und die Sackleinenhülle wieder darübergezogen worden war. Alle meine Lichter waren grün gewesen. Bis auf das unerhebliche Gewicht des Dings – das Sackleinen darauf wog mehr – und ein gelegentliches, tiefes Ziehen fühlte sich mein Fuß so gut wie neu an. Die – Erdianer? – rieten mir nicht davon ab, damit zu gehen. Das Thema Ehrenwort war nicht mehr angesprochen worden. Es schien ihnen jetzt gleichgültig zu sein, ob ich floh oder nicht. Sie nahmen einfach an, daß ich fügsam mit ihnen kommen würde. Und sie hatten recht: wo immer sie hin wollten, es mußte besser sein als der Ort, an dem ich gewesen war. Aber jetzt redeten sie wenigstens mit mir, auch miteinander, sie stritten, scherzten und beantworteten sogar mehr Fragen, die ich von Zeit zu Zeit dazwischenschob, fast so, als wollten sie ihr früheres, stoisches Schweigen wettmachen, dessen Zweck nicht erklärt wurde. Wir aßen Proviantriegel, die sich nicht wesentlich von denen unterschieden, die ich auf dem Weg von Vespucci hierher genossen hatte. Die ihren schmeckten tatsächlich nach etwas. Kreide, glaube ich. Meistens stellten sie mir Fragen. »Wir haben keine Unterlagen über Ihren Planeten, Whitey, obwohl der Name Vespucci ziemlich bekannt ist«, sagte Rogers, der mit Couper hinter dem Wagen herzockelte, während Lucille nun an der Reihe war, vorne die Tiere zu führen. »Das ist nicht allzu überraschend. Weiter als bis hierher sind wir bisher nicht in Ihre stellare Nachbarschaft vorgedrungen. Wie weit ist Vespucci von Sca entfernt?« War diese Frage so unschuldig, wie sie gestellt wurde? Oder lauerte Täuschung hinter diesen offenen, fragenden Augen? Ich warf einen Blick auf den bewußtlosen Lieutenant. »Ich bin nicht sicher, ob ich darauf antworten sollte, Sir. Sie müssen verstehen, ich…« »Nennen Sie mich nicht ›Sir‹, Whitey. Und ich verstehe Ihr Zögern völlig – im Interesse Ihres Heimatplaneten wollen Sie es nicht wagen, mir zu vertrauen, ganz gleich, was Sie persönlich über uns denken.« Ich beobachtete Lucille, ihre smaragdgrünen Augen blickten wachsam,
ihr goldenes Haar trocknete jetzt und flog im vierfachen Mondlicht hinter ihr her, während sie zielbewußt ausschritt. »So ungefähr, Sir… ich meine…« – Wissenschaftler gehörten für mich zur Offizierskaste. Es fiel mir schwer, ihn beim Vornamen anzureden. Ich fragte mich, was sie wohl für einen Körper unter dieser unförmigen… »Was sagten Sie… äh… Rog?« »Ich sagte, gut, dann erzählen Sie mir von der Marine, Whitey, von Ihrer vespuccianischen Marine.« »Marinereserve. Meine – und die aller anderen, außer, sie sind in der Heeresreserve.« Roger's Stirn legte sich in Falten: »Wollen Sie damit sagen, daß jeder eine bestimmte Zeit in der…« »Ich meine, daß ich in die Marine hineingeboren wurde, genau wie mein Vater vor mir. Deshalb war ja Vespucci – diesmal meine ich den Staat – so leicht in der Lage, den gesamten Planeten zusammenzuschließen. Andere Länder waren lasch, disziplinlos. Wir sind das nicht.« Einen Augenblick lang zuckte ein verdrießlicher Ausdruck über sein Gesicht, dann unterdrückte er ihn sorgsam, wenn auch nicht ohne sichtbare Anstrengung. Was haben neugierige Fremde nur an sich, daß man all die bekannten Dinge verteidigen möchte, die man selbst am meisten haßt? »Was bedeutet, daß die Züge pünktlich fahren? Nun, jedenfalls erklärt das Ihren Namen.« »Was ist gegen meinen Namen einzuwenden? Ich trage den Namen, den mir mein Vater vererbt hat. Wir waren eine Gold Nova-Familie, das möchte ich Ihnen nur sagen. Als er in der Schlacht von Kahl fiel, erwarb er uns posthum zwei zusätzliche Ziffern. Sie könnten keinen besseren Namen haben, es sei denn, Sie wären in eine der ursprünglichen Kommandofamilien hineingeboren, wie der Lieutenant hier.« Couper, der neben Roger herstolzierte, meldete sich zu Wort, seine zusammengekniffenen Augen beobachteten ununterbrochen und voll Argwohn das Gelände ringsum. »Und wie ist sein Name?« Ich stellte fest, daß ich in punkto Vorstellung ein wenig versagt hatte. »Enson Sermander, Sir. Er…«
Couper hatte die Stirn gerunzelt, dann begann er zu lachen. »Einer von der allerobersten Kruste, wie? Das ist Spitze! Corporal, Ihr Lieutenant hat genausowenig einen richtigen Namen wie Sie!« Er blieb für einen Augenblick stehen, während wir weiterzockelten, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen, dann mußte er rennen, um den Wagen einzuholen. »Beim Geist des Großen Albert, auf was man hier draußen nicht alles trifft!« »Ich verstehe das nicht.« Ich schaute Rogers an; der behielt seinen schwer erkämpften, neutralen Gesichtsausdruck bei. »Nun, mal sehen: Sie sind Corporal, richtig? In der Marine? Sohn, ›Ensign‹ war auch da, wo wir herkommen, früher einmal ein militärischer Rang – in der Marine. Ungefähr gleichbedeutend mit einem Lieutenant, kapiert? – Egal. Steht Ihr Freund hier höher als Captain des Heeres?« »Heeresreserve«, korrigierte ich automatisch. »Ja, Sir.« Ich war verblüfft. »Gleich unter einem Colonel der Marine.« »Tod und Steuern! Was für eine Welt! Trotzdem wette ich einen großen Stapel Chips, daß dieses ›Sermander‹ nichts anderes als eine korrumpierte Form des altmodischen ›Sir‹ und ›Commander‹ ist.« »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, erwiderte ich, und ich wollte auch jetzt nicht gerade darüber nachdenken. Rogers setzte sein trauriges Praxeologenlächeln auf, er hätte offensichtlich lieber wieder Waffen repariert. »Das tun die Leute selten – jedenfalls nicht über ihre eigene Kultur. Coups Name war zum Beispiel auch einmal ein Beruf – ›Faßmacher‹. Und in Cillys Familienstammbaum gibt es einen Vorfahren, der nach einem riesigen Pelztier benannt war. Was wissen Sie über die ersten Siedler, die auf Ihre Welt gekommen sind, Whitey, die Hamiltonisten?« Wer waren diese Leute? Wer waren diese Leute? Wer waren diese Leute? »Wie im Namen der Autorität wissen Sie davon? Wir haben erst vor kurzem unsere Vergangenheit entdeckt… ich habe nie erwähnt…« »Rog, weißt du, woher alle menschlichen Wesen ursprünglich kamen?« Verlegenes Schweigen ringsum. »Der Storch hat sie gebracht!« schnaubte Lucille schließlich.
Rogers schnitt eine Grimasse, beschleunigte seinen Schritt und trottete nach vorne, weil er an der Reihe war, die Tiere zu bezwingen. Er hat mir nie erklärt, was ›Praxeologie‹ ist.
4 In der Mitte dieser langen, hellen Nacht kamen wir auf eine neue Lichtung, nicht zu unterscheiden von denen, auf die wir früher gestoßen waren. Wir waren den ganzen Abend lang parallel zu dem Bach gegangen, in dem ich gebadet hatte. Seit meiner ersten, flüchtigen Wäsche fühlte sich meine Haut so locker an, als wolle sie gleich fetzenweise abfallen. Es juckte mich. Das war allein schon eine Art von Folter. »Nun«, sagte ich nebenbei, meine anscheinend herzliche Bekanntschaft mit diesen mysteriösen Leuten überstrapazierend, »wenn keine Einwände bestehen, gehe ich mich noch einmal abschrubben. Das heißt, wenn wir vorhaben, so lange hierzubleiben.« Ich glitt von dem strohglatten Karrenbett und mußte mich von neuem wundern, wie gut sich mein Bein anfühlte. Couper half Rogers, den Wagen unter einen tiefhängenden Baum zu ziehen und begann, die Tiere auszuspannen. Lucille suchte im Stroh herum und förderte eine kleine Maschine zutage, die sie auspackte und auseinanderklappte, bis sie einem kleinen, tragbaren elektrischen Ventilator glich. Rogers bat mich, ihm zu helfen, und wir begannen den Lieutenant herunterzuziehen. Wir legten den Bewußtlosen auf den Boden und lehnten ihn gegen einen Felsbrocken. Der Lieutenant murmelte etwas, seine Lider flatterten, er schlief jedoch gleich wieder ein. »Nur ein Einwand, Sohn.« Couper zog seine Plasmapistole. Mein Herz machte einen Satz, bis ich sah, daß er sich argwöhnisch auf der Lichtung umblickte. Er steckte die kleine Waffe wieder ein und begann, den Tieren die Schutzdecken für den Tag über den Rücken zu legen. Mit einem flachen Gurtstück schlug er jedem aufs Hinterteil, um sie von der Lichtung zu treiben. »Da steht irgendeinem Bauern eine gewinnträchtige Überraschung bevor«, sagte er. »Der Einwand, Corporal, ist, daß wir da sind.«
Lucille hatte das seltsame Gerät auf denselben Felsen gestellt, an dem der schlummernde Kopf des Lieutenant lehnte. Sie starrte es konzentriert an, blickte plötzlich zu mir auf und legte dann, fast als sei sie bei einer Ungezogenheit ertappt worden, am Sockel einen Schalter um. »Rapunzel, Rapunzel«, leierte sie. »Laß dein Haar herunter…« Ich hielt das für eine Art Code, wie ihn Jagdflieger benützen. »… Rapunzel, Rapunzel, hier spricht Lucy Bear!« Die Maschine meldete sich. »Prima. Seid ihr soweit, Leute? Wir sind schon spät dran.« Unwillkürlich hob ich die Augen himmelwärts und suchte nach einem supertechnischen Sternenschiff, das gekommen war, um uns aufzunehmen. Bei dem Gedanken, daß ich einmal geglaubt hatte, ich müsse an diesem elenden, dreckigen Ort sterben, begann ich fast zu weinen. Coupers Mannschaft sammelte sich. »Zwei Gäste, Ev«, erwiderte Lucille. »Mehr oder weniger nicht feindlich, und beide verletzt. Sie brauchen besondere Behandlung.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte der kleine Kommunikator, »und ein herzliches ›gut gemacht‹ – und gut durch werden sie auf euch warten und auf eure Gäste, außer, du möchtest deins roh. Ich habe jetzt die Position – dürfte nicht zu lange dauern…« Ich merkte, daß ich krampfhaft auf Raketengedröhn lauschte oder auf das trillernde Pfeifen eines unheimlichen, wundervoll fremden Antriebs. »Da ist es!« schrie Lucille. Sie zeigte hin: ein winziger, strahlender Funke, elektrisch blau, erschien vor uns, etwa einen Meter von meiner Nase entfernt. Er vergrößerte sich schnell zu einem Loch mit azurblauen Rändern, das direkt vor uns in die Luft hineinging! Dahinter konnte ich eine komplizierte Inneneinrichtung aus Metall und Plastik erkennen, das Licht dort war weicher. Nacheinander traten wir durch das Loch. Ich half Couper, den Lieutenant zu tragen. Hinter uns schrumpfte der Kreis wieder zu einem blendend hellen Punkt zusammen, heller als die Sonne von Sca, und verschwand mit einem ›Plopp!‹ Eine Bank mit Plastikpolsterung stand vor einer kreisrunden Wand. Darüber reichten Fenster bis an eine gewölbte Decke. Durch die Fenster leuchteten die Sterne,
durch keine Atmosphäre getrübt. Darunter sah man, aus dieser Höhe stark gekrümmt, die Oberfläche des Planeten Sca. Wir befanden uns im Orbit! »Willkommen an Bord der ›Little Tom‹«, sagte eine Stimme, die ich von Lucilles kleinem Funkgerät her kannte. »Das Abendessen wird sofort serviert.« Ich drehte mich um und fiel vor Überraschung beinahe in Ohnmacht – vor mir sah ich meinen ersten, waschechten Alien.
6. Kapitel Little Tom 1 Mindestens zwei Kopf kleiner als ich, von menschlicher Gestalt, aber völlig mit Fell bedeckt, sprach das Wesen trotzdem mit tiefer, polternder Befehlsstimme, die aus einem armbanduhrgroßen Plastikinstrument zu kommen schien, das es um sein haariges Handgelenk trug. Couper verstaute den Lieutenant irgendwo und murmelte etwas von ›medizinischer Stasis‹, ›Bassetspulen‹ und ähnlich unverständlichen Mysterien. Ich starrte weiter hilflos den nichtmenschlichen Piloten an, während Roger Lucilles Beispiel folgte und seine mönchischen Gewänder mit allen Anzeichen der Erleichterung abwarf. Darunter trugen beide enganliegende Overalls aus dem bekannten, silbergrauen Material, in die Ärmel war eine Kontrolltafel eingebettet, wie die auf unseren Verbänden, nur größer und mit vielleicht zehnmal so vielen winzigen Kontrollknöpfen. Williamson – war das wirklich der Name des Fremden, oder hatte er ihn nur angenommen, weil er für menschliche Zungen bequemer war? – hatte die ›Sommerversion‹ an: kürzere Ärmel, gekürzte Beine, die Apparatetafel war da angebracht, wo seine Gürtelschnalle hätte sitzen sollen. Jeder meiner neuen Bekannten war mit der allgegenwärtigen Plasmapistole bewaffnet, die auf eine höchst unmilitärische Vielfalt von verschiedenen Arten getragen wurde: unter dem Arm, an der Taille, in separaten Halftern oder in Taschen, die in den Anzug integriert waren. Als Rogers entschlossen auf die Ärmelknöpfe seines Overalls drückte, jagte ein Regenbogen über die Oberfläche, kam dann zum Stillstand und wurde zu einem grellen, grüngelben Schachbrettmuster. Aus irgendeinem Grund schien Rogers diese ästhetische Greueltat zu gefallen. Er blickte auf und fragte Williamson: »Wann essen wir?«
Der Pilot runzelte seine stoppelige Schnauze und bleckte eine Garnitur einschüchternder, langer, gelber Reißzähne. »Höchstwahrscheinlich nie, wenn du dieses brechreizerregende Schottenkaro nicht abdämpfst. Auf jeden Fall warten wir auf den Boß.« Er schnippte mit einem pelzigen Daumen in meine Richtung. »Und wer ist der Überzählige?« So sprach das fremde Monster. Ich wünschte mir dauernd, er möge sich endlich mal umdrehen, damit ich sah, ob er zu dem Fell auch einen passenden Schwanz hatte, und ob in seinem Hosenboden nicht vielleicht ein Loch dafür war, wie bei einer Witzfigur. Ich hielt es jedoch für unhöflich, danach zu fragen. »Ein gewisser Corporal Whitey O'Thraight«, antwortete Lucille, ehe Rogers oder ich mehr tun konnten, als den Mund aufzumachen. »Feldzeugmeister, wenn man ihm glauben darf, ehemaliger Angehöriger von etwas, was er die ›vespuccianische Marine‹ nennt.« »Marinereserve«, korrigierte ich steif, und dann, ehe ich mich beherrschen konnte: »Ein stehendes Heer ist von alters her das Instrument der Tyrannei, deshalb…« »Kein Witz, Corporal-Baby?« Sie gähnte; ehe mir eine passende bissige Erwiderung einfiel, fügte sie hinzu: »Nun, das Seminar war höchst interessant, Jungs, aber ich gehe jetzt unter die Dusche. Ev, diese Dreckkugel da unten ist mehr, als so ein Patentanzug bewältigen kann. Die Fernerkundung zeigt einem nicht die Hälfte. Und du würdest es einfach nicht glauben, was für einen Müllhaufen die da eine Burg nennen. Ich werde eine Woche lang Alpträume haben!« Ohne auf eine Antwort des Aliens zu warten, machte sie einen Schritt rückwärts und schien fast in den Fußboden zu versinken. Sie verschwand. Ich hörte leises Lachen. »Stehen Sie nicht da und gaffen Sie, Admiral.« Anscheinend meinte Williamson mich. »So behandelt sie jeden. Wird eines Tages noch mal ein hübscher Mensch – falls wir sie am Leben lassen. Kommen Sie, setzen Sie sich hier irgendwo! Kann ich Ihnen was zu trinken holen?« Er drehte sich ein wenig – kein Schwanz. Ich war enttäuscht. Ich suchte mir eine Stelle auf dem durchgehenden, gut gepolsterten So-
fa, das um den ganzen Raum herumlief. Es hatte einen warmen, weichen Plastiküberzug und war das einzige, sichtbare Möbelstück. Reittiere waren darauf eingeprägt, wie die, gegen die wir auf Sca gekämpft hatten, Männer mit breitrandigen Schlapphüten wirbelten irgendwelche Stricke über ihren Köpfen, während sie Geschöpfe ähnlich denen verfolgten, welche den Karren gezogen hatten. Das Plastik war dunkelbraun, ein Kontrast zu den Fensterrahmen aus poliertem Metall und zu dem tiefen, dunklen Teppich, der den ganzen, kreisrunden Fußboden von Wand zu Wand bedeckte. »Danke, äh… sagen Sie, dürfte ich eine neugierige Frage stellen?« Auf Vespucci halten wir viel von Zeremonien und Ritualen, wo die Massen in Massen auftreten, Beamte ihres Amtes walten und alle sich voll bewußt sind, daß nun etwas Wichtiges geschieht – wie zum Beispiel das Verlegen eines neuen Gehsteigabschnitts in einem Wohngebiet, Steuerdollars im Einsatz. Dieses ganze Gerede kam mir unglaublich, fast skandalös formlos vor in Anbetracht dessen, was sich wirklich ereignete. Sie schienen meine Anwesenheit für selbstverständlich zu halten, so, als träfen sie jeden Tag auf Spuren bisher unbekannter Zivilisationen. Immer wieder kam mir zu Bewußtsein, daß ich mich auf einem fremden Sternenschiff befand und eine absolut höfliche, äußerst triviale Unterhaltung mit einem Geschöpf von einem anderen Stern führte! Die Scavier zählten irgendwie nicht. Er drehte sich um und sah mich mit einem belustigten Ausdruck in den großen, braunen Augen an, während sich hinter ihm ein kleiner Abschnitt aus dem mit dickem Teppich belegten Boden hob. »Kommt darauf an, wie neugierig sie sein soll, Kilroy.« Kilroy? Gläser, Flaschen und sonstiges, allgemein übliches, alkoholisches Drum und Dran steckte in gefütterten Nischen an den Seiten der ausgefahrenen Säule. Ein kleiner, hochfloriger Teppichfleck bedeckte noch die obere Fläche. Der fellbedeckte Barkeeper fummelte mit den Drinks herum. »Nun…« (ich fummelte ebenfalls – nach einer höflichen Anredeform, und entschied mich statt dessen verlegen für einen Vornamen. ) »Geoffrey Couper sagt, er kommt von einem… ah… einem Ort namens RD.
Ich möchte gerne wissen, woher Sie kommen, und… ah… was für eine Art von… von Person Sie sind.« Wie stellt man eine solche Frage auf höfliche Weise? ›Welcher Spezies gehören Sie an, Sir?‹ Er hielt inne, etwas wie ein Grinsen auf dem Gesicht, und starrte einen Augenblick lang nachdenklich zu den Sternen hinaus. »Vermutlich könnte man sagen, daß ich von Ceres komme – auf der Erde rechts ab und dann noch hundert Megameilen weiter. Ich bin Schimpanse, und das heißt, daß meine Leute ursprünglich aus Afrika stammen. Ist Scotch recht, Kilroy?« Rogers hatte mit einem der Fenster etwas angestellt. Es war zu einem Spiegel geworden, in dem er das schreiende Muster seines Anzugs kritisch begutachtete. Er warf dem Piloten über die Schulter einen vorwurfsvollen Blick zu, tat das Ganze dann als unbegreiflichen Geschmacksunterschied ab und ließ sich, die Arme über der Brust gefaltet, ein paar Fuß von mir entfernt auf das Sofa sinken. »Schim-pan-se«, murmelte ich und versuchte, ein Gefühl für das exotische Wort zu bekommen. All diese Planeten, von denen ich nicht einmal im Traum gedacht hätte, daß sie existierten: RD, Ceres, Afrika. »Scotch ist in Ordnung – was immer das ist. Versuchen will ich alles einmal. Was ist eine Meile?« »Fünftausendmal soviel.« Williamson hielt seine sonderbar geformten Hände ungefähr zwanzig Zentimeter weit auseinander. »Eis? Wasser? Und was trinkst du, Rog?« Was hatte nun Eis damit zu tun – und noch wichtiger, wer, zum Teufel, war Kilroy? Der Waffenschmied hatte gedankenvoll die Stiefel betrachtet, die in die Beine seines – wie hatte sie gesagt? – ›Patentanzug‹ eingebaut waren, und blickte dann auf. »Irgend etwas, wenn es nur brennt, Ev. Ich verziehe mich unter die Dusche, sobald Annie Oakley fertig ist. Was sie über die planetenseitigen Verhältnisse gesagt hat, war kein Witz – nichts für ungut, Whitey.« »Hören Sie mal, das ist nicht mein Planet!« Abgesehen von einem nur teilweise psychosomatischen Anfall von heftigem Juckreiz verhalf mir diese zweite Erwähnung einer Dusche innerhalb von fünf Minuten zu folgenden Erkenntnissen:
a) Wasser fiel nach unten; b) Hinterteile blieben von selbst an Sofas haften; das mußte bedeuten, c) daß wir beschleunigten. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte das auf spektakuläre Weise – Sca glitt unaufhaltsam weg. Es brach mir nicht das Herz. Ich schaute Williamson an. Der Pilot reichte mir ein Glas mit harmlos aussehender, bernsteinfarbener Flüssigkeit. Ich fragte mich, wer wohl das Schiff steuerte. Schon die ganze Zeit, seit ich begriffen hatte, an was für einem Ort wir uns hier befanden, wollte ich eine Frage stellen und hatte schon mehrmals versucht, sie zu formulieren, war aber bisher davor zurückgescheut, in erster Linie aus Angst vor der wahrscheinlichsten Antwort. Jetzt sagte ich beklommen: »Könnten Sie mich – und den Lieutenant auch – mit dieser Maschine nach Hause bringen?« Sie schauten sich seltsam und verlegen an. Williamson zwinkerte. Rogers öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Die lange, peinliche Pause, die dann folgte, war mir nicht besonders angenehm. »Darüber wollen wir sprechen, nachdem wir etwas gegessen haben.« Mein Kopf fuhr herum: Geoffrey Couper kam durch den Teppich herauf und trat vor, ohne ein Loch zu hinterlassen. Sein Patentanzug, in mattem, nicht reflektierendem Grau, sah aus wie eine Uniform, aufgemotzt mit einer Reihe winziger, farbenfroher Feldzugsabzeichen auf der linken Brustseite. »Wie steht's, Ev? Whiteys Lieutenant ist gut weggepackt, und Lucille kommt gleich hinter mir.« Und so war es auch, sie kam, genau wie vorher Couper, durch den Fußboden geschwebt. Ich erinnerte mich an den Drink, den ich noch nicht angerührt hatte, nahm einen großen Schluck von dem Scotch, keuchte, japste und begann zu husten, dabei sah ich, wie ein ziemlich großes Stück des Fußbodens höher wurde und der Teppichflor auf der sich hebenden Oberfläche verschwand, bis statt dessen eine glatte, tischartige Fläche entstanden war. Dann stieg durch die Oberfläche Geschirr herauf, Besteck und reichliche, dampfende Essensportionen in Behältern. Wer waren diese Leute?
2 Es wurden noch mehr Drinks gemixt, während alle warteten, bis Rogers sich frischgemacht und – wie man lautstark hoffte – seinen Anzug umprogrammiert hatte. Wir waren zu fünft zum Essen – wenn es noch mehr Besatzungsmitglieder an Bord der ›Little Tom‹ gab, so versäumten sie es, in Erscheinung zu treten. Couper saß wie ein Vater am Kopfende des unregelmäßig geformten Tisches, der ceranisch-afrikanischschimpansische Pilot hatte einen Platz am mehr oder weniger gegenüberliegenden Ende inne. Mich beehrte man mit einem Sitz zur Rechten von Couper, gegenüber von Lucille. Nachdem sie sich das Haar gewaschen und mit viel Phantasie an den Druckknöpfen ihres Anzugs (der jetzt violett war mit einem einzelnen, breiten, grünen Schrägstreifen) herumgespielt hatte, sah sie genauso aus wie zuvor, ein Soldat, ganz gleich welcher Art, der zufällig auch eine bemerkenswert schöne, junge Frau war. Das heißt, wenn man die Pistole übersehen konnte, die diagonal zur Schußhand an ihrer linken Hüfte hing. Die Frauen, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte, trugen dort Babys, keine Waffen. Rogers saß neben mir. Sie häuften sich die Teller voll, als hätten sie und nicht ich wochenlang von scavianischer Großzügigkeit gelebt; es überraschte mich selbst, daß mich das Essen nicht sehr interessierte. Draußen trieben die Sterne vorbei wie weit entfernte, von einem hochfliegenden Flugzeug aus gesehene Städte. Welche Geschwindigkeit hatten wir wohl? Das war an Bord der ›Asperance‹ nie so gewesen. Ich bin nicht sicher, daß es jemals so sein soll. »Hm, müßten sich die Sterne eigentlich nicht zusammenballen und blau werden oder so etwas?« »Ganz richtig, oder so etwas.« Williamson lachte. »Was Sie da sehen, ist nicht einmal eine Computerkorrektur. Es ist ein Wandholo mit dem Titel… na, mal überlegen – etwas Historisches oder Literarisches, ich habe es vergessen – ach ja! Sternenrendezvous. Ich persönlich finde es albern, aber den Passagieren gefällt es anscheinend. Geben Sie mir doch bitte die Radieschen herüber – Entschuldigung, das sind die kleinen, runden, roten Dinger in dieser Schüssel dort.« Ich nahm wieder einen Schluck. Wein. Er war jedenfalls mehr nach meinem Geschmack als der Scotch,
obwohl auch der im Vergleich zu den Getränken, die man zu Hause als gemeiner Soldat bekommen konnte, dem Gaumen angenehm weich erschien. Ich fragte mich: war das hier fremdes Essen, oder ließ Williamson an diesem Abend aus Höflichkeit Speisen seiner Heimatwelt servieren? Oder war es ein gemischtes Sortiment? Von alledem, was vor mir auf dem Tisch stand, hatte ich noch nie gehört: jeder Bissen war ein neues Abenteuer (oder ein Risiko, wie ich entdeckte, als ich eines der kleinen, runden, roten Dinger versuchte – und hinterher auch peinlich.) Es gab dicke Stücke faserig strukturiertes Protein, die sie ›Rind‹ nannten, verwandt mit den scavianischen Zugtieren, wie ich hörte, nur züchteten die Erdianer sie als Schlachtvieh. Die am höchsten geschätzten Arten kamen, soviel ich verstand, von zwei Planeten: von Alamo und einem Ort namens Neuer Seeland. Was aus Älter Seeland geworden war, wurde nicht erwähnt. Es gab noch etwas Köstliches, in unglaublich riesigen Scheiben, rötlich orange in der Farbe – aber… Nun, sie nannten es ›Ham‹*, aber Hamster sind auf meiner Heimatwelt eigentlich eher kleine Tiere… Mehrere verschiedene Gemüsearten, keine davon erkennbar, gab es anstelle vespuccianischer Rüben, Palmettos oder Kohls. Neben einer riesigen Zuckerschale, doppelt so groß wie eine Faust, groß genug, um den Tisch eines Generals zu zieren, stand ein zweites, köstliches, pulvrigbraunes Gewürz, das einige meiner Gefährten zu ›Kaffee‹ verrührten – ein heißes, schwarzes, bitteres Getränk – und dazu soviel Milch nahmen, daß es unsere Gemeinschaftsställe eine Woche lang trockengelegt hätte.
3 Ich bin nicht sicher, worüber ich bis dahin gesprochen hatte. Ich hatte alles, was mit mir geschah, ziemlich… nun, benommen, über mich ergehen lassen. Nüchtern. Jetzt schien mich die Realität einzuholen und legte plötzlich über alles, was an diesem Tisch geschah, eine träumerische Stimmung, bei der man sich angestrengt konzentrieren mußte, um *
Schinken
sich auf jeden vorhandenen Gegenstand, auf jeden einzelnen Augenblick einzustellen. Um mich herum schwappte das Gespräch, Worte, Phrasen, ganze Sätze ergaben nicht mehr Sinn als sprudelndes Wasser. Sogar mein Gaumen war überwältigt. So viele neue Dinge, und in solcher Menge. Fabelhaft reich waren diese Leute auf alle Fälle. Dieses Festessen war für sie nicht mehr als eine herzhafte Landarbeitermahlzeit. Zu Hause bei uns wird Milch zum Beispiel gewohnheitsmäßig für Babys und zahnlose alte Leute reserviert. Die Leute hier schwammen praktisch in dem Zeug. Nachdem ich ohne allzuviel Begeisterung den Kaffee probiert hatte, frage ich ziemlich zaghaft, ob sie wohl jemals von Tee gehört hätten – die Antwort war eine Liste von dreißig oder vierzig Sorten, aufgeführt auf einem CC-Schirm, der aus der Tischplatte schwebte. »Nur Tee«, flehte ich und begann, am ganzen Leibe zu zittern. Sie gaben mir ›Liptons‹, süß und aromatisch; ich nahm die Tasse und merkte dann, daß ich wieder irgendwie weggetreten war – als ich trinken wollte, war der Tee schon kalt. Ich glaube nicht, daß ich den Nachtisch auch nur erwähnen werde. Zu Hause sperrte man Leute wegen solcher Dinge ein. Das Geschirr, feines, zartes Porzellan, auf dem der Name des Schiffes eingeprägt war, auf dem wir uns befanden, räumte sich zusammen mit dem Silberbesteck irgendwie selbst ab, als ich nicht hinsah. Couper, der immer noch in seiner pseudomilitärischen Ausstattung erstrahlte, goß sich noch ein weiteres Glas Wein ein. Weitere waren herumgereicht worden, ohne daß ich es bemerkt hatte. Dann wählte er eine kleine, weiße Papierröhre aus dem Angebot in einem Behälter auf dem Tisch, steckte sie sich in den Mund, zündete das freie Ende an und zog offensichtlich genießerisch den Rauch ein. Der Behälter wurde weitergereicht, Lucille und der Praxeologe – sein Anzug leuchtete immer noch in grellem Schottenkaro, das buschige Haar trug er streng in der Mitte gescheitelt – leisteten ihrem Kapitän bei diesem unheimlichen Ritual Gesellschaft. »Nun, mein Sohn«, begann Couper, nachdem diese Zeremonien nach Tisch erledigt waren, »Sie haben eine Menge Fragen. Ich weiß, Sie sind müde, aber – nun ja, wir haben auch Fragen.«
»Ja«, schaltete sich Lucille ein. »Was Sie, verdammt noch mal, auf dieser mittelalterlichen Schleimkugel zu suchen hatten, zum Beispiel.« Sie schnippte den Teil des Brennröhrchens, der sich in Asche verwandelt hatte, in ein kleines Glasgefäß. Der Rauch roch süß, brannte jedoch in den Augen. Ich blinzelte. »Tja, dasselbe hatte ich Sie fragen wollen!« Sie inhalierte noch eine Lunge voll und versuchte aus irgendeinem Grund, mit angehaltenem Atem zu sprechen. »Wir haben zuerst gefragt!« Couper knurrte leise, väterlich mahnend, dann grinste er, und das Knurren verstummte. »Sie hat recht. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, Sohn!« Und so erzählte ich ihnen, begleitet von leiser, fremdartiger Musik, die irgendwo von der Decke herunterschwebte, von der Reise der ›Asperance‹ und dem Massaker. Wie wir uns als einzige Überlebende in der Jauchegrube wiederfanden, in der sie uns entdeckt hatten. Es dauerte nicht lange. Zu meiner Überraschung war dies das erstemal innerhalb von ein paar Stunden, daß ich an den Lieutenant gedacht hatte. Ich fing einen Melodiefetzen aus den oben angebrachten Lautsprechern auf, der speziell für die Mandarre hätte komponiert sein können – zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie mir schien, hatte ich irgendwelche Musik gehört, mein eigenes, irres Gesumme in den Kerkern nicht mitgerechnet. Couper nippte an seinem Wein, einer dicken, klebrigen Flüssigkeit, deren Aroma wie lauwarmes Feuer über die Zunge zu kriechen schien. »Was mich überrascht, ist, daß man Sie am Leben ließ, nach allem, was Sie…« »Aber wir haben ihnen doch überhaupt nichts getan! Ich habe Ihnen doch gesagt, wir wollten vermeiden…« »Er meint…« – Rogers lachte –, »daß Sie – zweite Person Nichtplural – im Alleingang… wie viele waren es, Boß? Du hast die Feldbefragungen für mich gemacht – erledigt haben.« Couper schüttelte in scheinbar wehmütiger Bewunderung den Kopf. »Das hängt davon ab, aus welchem Dorf die Information stammte. Ich komme auf siebzehn schwergepanzerte Ritter mit Waffen, die nicht so
schrecklich viel primitiver waren als Ihre eigenen, Corporal – ja, ganz gleich, was Sie oder die Scavier denken mögen, absolut nicht so schrecklich viel primitiver. Wissen Sie, ob man Stahl von Hand oder Blei mittels expandierender, chemischer Gase verabreicht, ist hauptsächlich eine Frage des ästhetischen Geschmacks.« Er nahm – einen Schluck? – von seiner Rauchröhre und klopfte Asche vom Ende ebenfalls in Lucilles kleine Schale. »Sie sind dort unten schon zu einer Art Legende geworden, Sohn, und ich fürchte, das wird sich in Zukunft als lästig für uns erweisen.« Es trat eine Pause in der Unterhaltung ein, die mehrere Herzschläge lang anhielt. »Wieviele Projektile steckten denn eigentlich in dieser QuasiRotationskugelspritze, die Sie da hatten?« Ich fühlte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. »Äh, fünfzehn pro Stück, im Magazin«, murmelte ich, die Augen auf die Tischplatte gerichtet. »Ich hatte zwei davon, mehr konnte ich nicht laden, ehe wir angegriffen wurden. Wenn ich gleich bei der Landung gewissenhafter gewesen wäre, könnten meine Leute vielleicht…« Es fiel mir schwer, die Tränen zurückzuhalten, die mich vor diesen Fremden noch weiter zu demütigen drohten. Couper beugte sich vor und legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Diese Lackaffen mit ihren gekauften Patenten wären wahrscheinlich keine große Hilfe gewesen, selbst wenn Sie ihnen hundert Waffen geladen hätten, Sohn. Sie begreifen es immer noch nicht, oder? Beim Geist des Großen Albert, Junge – zur Hälfte haben die Scavier Sie einfach deshalb gefoltert, weil sie sich vergewissern wollten, daß Sie wirklich ein Mensch sind!« Er zerdrückte nun seine Rauchröhre achtlos in der Aschenschale. »Sie werden gleich noch einmal eine Legende werden, wenn wir zum Schiff zurückkommen!« »Zurückkommen?« Ich blickte mich um: das Raumschiff, das sie da hatten, war doppelt so groß, wie es die ›Asperance‹ gewesen war. Und ich hatte bisher nicht mehr als das Obergeschoß gesehen. »Sie wollen mir erzählen, daß das nicht…« »Das ist die ›Little Tom‹, ein privates Hilfsschiff – mit einigen erstaunlichen Fähigkeiten, aber trotz alledem ein Hilfsschiff. Bitte natürlich um Entschuldigung, Ev.«
Der pelzige Fremde hob lässig eine Pranke. »Ein kleines Ding, aber mein eigen, wie ich vor kurzem einer jungen, weiblichen Bekannten erzählte.« Er fummelte mit dem Behälter auf dem Tisch herum und zog eine sehr große, grüne Brennröhre heraus. Der Rauch, sehr viel anders als der von Couper oder von Lucille, war abscheulich. »Aber wie…?« begann ich. »Abwarten«, antwortete Couper, ohne überhaupt eine Antwort zu geben. »Also, was wir auf Sca wollten…« Er blickte rings um den Tisch; alle erwiderten den Blick. »Wir haben sozusagen – und tun es übrigens noch – eine Voruntersuchung auf dem Planeten durchgeführt, und in seinen vielen und…« »… und nicht sehr unterschiedlichen…« »Danke, Lucille, wenn ich deine Hilfe brauche, hebe ich deinen Felsen hoch und bitte dich darum. Ja, in seinen nicht sehr unterschiedlichen Kulturen.« Als ob sein eigener Rauch seine Lungen nicht genug verschmutzt hätte, nahm er auch noch Lucille die kleinere Röhre aus den Fingern, zog daran, schloß die Augen und hielt eine Weile die Luft an, ehe er sie wieder ausstieß. »Überhaupt nicht sehr verdammt unterschiedlich.« Ich dachte über diesen schuldbewußt wirkenden Blick nach, den sie alle geteilt hatten. »Voruntersuchung? Wovor, und welches Ziel strebten sie eigentlich genau an?« »Muß es denn für wissenschaftliche Untersuchungen einen bestimmten Zweck geben?« antwortete Rogers. »Ist Wissen nicht an und für sich wertvoll?« Er drückte seine Brennröhre aus und zündete sich sofort eine neue an. »So spricht der Mann, der die Rechnung nicht bezahlt!« gab Lucille zurück. »Wir sind frei vagabundierende Händler, liebster Corporal, Freibeuter, und wollen auf jede Weise einen schnellen Reibach machen, auf die wir ihn bekommen können, auf Biegen oder…« Sie klopfte bedeutungsvoll auf die Waffe an ihrer Hüfte. »Mit einem Lächeln und einer Waffe bekommt man mehr – als nur mit einem Lächeln.« »Grrrr!« stimmte der Waffenschmied mit komisch krächzender Stimme
zu. »Und ich bin der Jolly Rogers* persönlich.« Er bedeckte ein Auge, schielte ordinär und ballte die freie Hand zur Faust, bis auf den Mittelfinger, den bog er ab und krallte damit nach dem Mädchen. Sie kicherte, machte plötzlich ein erschrockenes Gesicht und betrachtete dann argwöhnisch die Papierröhre zwischen ihren Fingern. Williamson: »Komm schon, Coup! Klär ihn auf, ehe sie ihm noch einreden, daß wir ihn über die Planke gehen lassen. Für einen Kilroy ist er gar nicht so übel.« Schon wieder Kilroy – ich mußte gegen diese schwebende Schläfrigkeit ankämpfen, die mich wieder beschlich. Zusätzlich brachte mich die Tatsache, daß ich als einziger hier nicht vor kurzem gebadet hatte, allmählich in Verlegenheit. Die flüchtige Waschung im Bach zählte ich nicht mit. Was war so schlimm daran, über eine Planke zu gehen? Wenn Lucille mir einreden wollte, daß alle hier in irgendeiner Weise Briganten waren, so wurde die Geschichte durch die Tatsache verdorben, daß sie sich alle Mühe gegeben hatten, mich und den Lieutenant zu retten. »Auf Sca gibt es einen Wein«, verkündete Couper plötzlich zusammenhanglos und hielt sein Glas hoch ins Licht, »der in jeder Hinsicht bemerkenswert ekelerregend ist – außer daß er eine besonders starke, antibiotische Wirkung gegen eine Krankheit besitzt, die sich die Delphine häufig auf Ganymed zuziehen.« Das verstand ich. »Was ist ein Delphin?« Diesmal zwinkerten sie sich alle verständnislos zu. Diese Unterhaltung ergab immer weniger Sinn. Allmählich hatte ich den Wein in Verdacht. Oder möglicherweise die Brennröhren. »Eine andere Art nichtmenschlicher, intelligenter Wesen«, erklärte Rogers schließlich und nickte Williamson höflich zu. »Gute Freunde von uns, und das schon seit langer, langer Zeit.« »Ja«, sagte Lucille, »einige meiner besten Freunde sind Delphine.« Aus einer gut verborgenen Tasche nahm sie etwas, das aussah wie ein kleiner, flacher Stein, schob die letzten beiden Zentimeter ihrer Rauchröhre hinein und zog fest am anderen Ende. Ein scharfes ›Knacks‹ war zu hören, *
Die Totenkopfflagge der Piraten – Anm. d. Übers.
und Funken flogen von dem Gegenstand auf. »Schäbig!« sagten alle gleichzeitig. »Wetten, daß ihr glaubt, ich habe das absichtlich gemacht?« Sie blinzelte. Die Musik spielte weiter. Da mir nichts anderes einfiel, fragte ich: »Dieser Planet, von dem diese Delphine kommen, dieser Ganymed, von dem Sie gesprochen haben…« Couper beachtete mich nicht. »Die Sache ist die, Sohn, daß wir Latrinen wie Sca erforschen, weil wir hoffen, neue Materialien, neue Ideen, sogar gelegentlich fertige Erzeugnisse zu entdecken. Wir haben von euch zwei ›Himmelsdämonen‹ auf Marktplätzen in einem Umkreis von zweihundert Meilen von diesem Haufen ungeschickt behauener Steine gehört, wo sie euch festhielten. Zuerst dachten wir, ihr könntet welche von unseren eigenen Leuten sein, die wir irgendwie aus den Augen verloren hatten. Es gibt eine ganze Menge von uns hier draußen. Als sich später herausstellte, daß das nicht möglich war, war es noch wichtiger, euch in einem Stück herauszuholen.« »Warum das?« Wieder das verlegene Schweigen, dann sagte Rogers: »Weil…« und setzte wieder seinen grimmigen, professionellen Gesichtsausdruck auf, »ihr die erste, unabhängige, raumfahrende Zivilisation seid, die wir jemals entdeckt haben.« Williamson stand auf und entschuldigte sich, er wolle sich um eine technische Angelegenheit kümmern. Er machte drei Schritte, sank durch den Fußboden und verschwand. »Die erste?« Sie schienen alle nicht besonders entzückt von dieser Aussicht. Ich beobachtete, wie die Pseudosterne ›draußen‹ vorbeischwebten, das brachte mich auf andere Gedanken: der jetzige Zeitpunkt war so gut (oder so schlecht) wie jeder andere. »Da wir gerade von Raumfahrt sprechen, ich… ich meine, ich habe mich schon gefragt, welche Pläne Sie haben. Wissen Sie, ich…« »Er will nach Hause, Coup«, unterbrach Rogers. »Ein völlig natürliches, leicht verständliches Verlangen. Wir hätten schon früher darüber spre-
chen sollen. Ich habe dir doch gesagt…« »Sohn, ich muß zugeben, daß ich diesen Augenblick so lange aufgeschoben habe, wie ich nur konnte. Es gibt Gründe, alle höchst vernünftig, obwohl ich nicht erwarte, daß Sie es auch so sehen, warum wir nicht einfach…« »Befehle«, verkündete Lucille plötzlich ohne Umschweife. »Hm?« wiederholte der ältere Mann, Falten der Verständnislosigkeit gruben sich zwischen seine Augenbrauen. »Der Corporal ist Soldat, Coup – oder Seemann, ich bin nicht sicher, ob ich das schon so richtig mitbekommen habe. Jedenfalls versteht er, was Befehle sind. Whitey, man erwartet uns an einem Treffpunkt. Wir können einfach keine unerwarteten Abstecher unternehmen, ehe wir uns gemeldet haben.« Sie hielt inne und schaute von mir zu Couper. »Ich glaube nicht, daß es etwas schadet, Ihnen das zu sagen: Die Entdeckung einer anderen Zivilisation, die fähig ist, schneller als das Licht zu reisen, ist ein Schock für uns. Und es ist eine Angelegenheit von schwerwiegender Bedeutung. Politik muß erzeugt werden, klar?« Ich nickte, seit langem damit vertraut, in der Politik immer auf der Empfängerseite zu stehen. »Und wie ist dann mein Status, Kriegsgefangener oder so?« »Kaum!« Lucille brach in schallendes Gelächter aus. Es war ein erschreckender Anblick. »Der alte Coup hier hat recht. Sie haben den Status einer Berühmtheit. Glauben Sie, Sie können das eine Weile aushalten? Cocktailparties, Interviews, strohdumme Reporter, die ständig an Ihren Lippen hängen und Ihnen dann jedes Wort so im Munde herumdrehen, daß Sie es nicht mehr wiedererkennen? Ich bin nicht sicher, ob ich es könnte.« »Ich könnte es ja versuchen«, bot sich Rogers an. »Einfach aus Jux.« Er zwinkerte dem Mädchen auffällig zu – sie gab ihm einen argwöhnischen Blick zurück – und leckte sich die Lippen. »Groupies.« »Groupies?« Ich wiederholte das fremd klingende Wort völlig verdutzt. Gütiger Himmel, von welchem Planeten kamen die denn? »Das ist einfach ein abscheulicher Ausdruck aus der vielleicht fremdesten Zivilisation, die wir jemals…«
»Entschuldigt, Leute, ist es zu spät, noch ein Gedeck aufzulegen?« Wir alle drehten uns um und sahen den Schimpansenpiloten langsam durch den Teppichboden heraufsteigen. Neben ihm, anscheinend völlig gesund, stand grinsend mein Lieutenant, Enson Sermander.
7. Kapitel Rendezvous im Weltraum 1 »Ich bin etwas erschöpft, Corporal, da Sie so freundlich sind, sich zu erkundigen.« Er war vom Kragen bis zu den Schuhsohlen wie unsere Gastgeber (oder waren wir ihre Gefangenen?) gekleidet, nur war sein verletzter Arm in den silbergrauen Anzug eingebunden und lag vor seiner Brust. »Außerdem werde ich diesen…« – er zeigte auf den fehlenden Ärmel – »wohl noch einige Zeit nicht gebrauchen können. Abgesehen davon, nun, bedenken Sie die Alternative.« Seine Hautfarbe war gut; in seinen Augen leuchtete ein gesundes Funkeln – besonders, als er Lucille erblickt hatte. »Schön, schön! Entschuldigen Sie, Corporal – Sie wollten hier doch ohnehin nicht mehr sitzen, oder –, was haben wir denn hier? Eine Kaktusblüte zwischen Dornen?« Rosige Finger streichelten über Lucilles hübschen Hals bis zu ihren Wangen hinauf. Sie starrte offenbar aus Schüchternheit auf die Tischplatte nieder und spielte nervös mit einer Serviette. Ich mußte beim Abendessen zuviel gegessen haben; ich wollte mich am liebsten übergeben. »Eher nur ein weiterer Dorn, Lieutenant«, antwortete Geoffrey Couper, ehe das Mädchen sprechen konnte, »zugegeben, dekorativer als die meisten. Sir, gestatten Sie mir, Ihnen meine Kollegen vorzustellen. Owen Rogers; ich glaube, bei Ihnen sagt man ›Feldzeugmeister‹ dazu, außerdem Doktor der Praxeologie, Mekstrom Universität GmbH, Titan. Kapitän Williamson haben Sie schon kennengelernt. Ich bin Geoffrey Couper, der Leiter dieser Mission. Das ist Lucille Olson-Bear – Sicherheit und Verteidigung –, sogar unser Hauptdorn. Und jetzt glaube ich, daß das für den Augenblick wirklich genug Titel sind.« Lieutenant Sermander beugte sich tief über den Tisch, schnappte sich Lucilles Hand, küßte sie und schlug dabei die Hacken zusammen. »Miß
Olson-Bear, meine Herren: Ich bin Ihnen zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet. Mein Leben gehört Ihnen, denn Sie haben es angesichts der schlimmsten…« »Danken Sie lieber Whitey«, unterbrach ihn Rogers. »Er hat Sie so lange zusammengehalten, bis wir Sie fanden.« »Nun ja… äh… gut gemacht, Corporal. Ich werde es in meinem Bericht erwähnen, wenn wir nach Vespucci zurückkehren.« Er richtete sich auf und wandte sich mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck an Couper. »Wir kehren doch nach Vespucci zurück, oder nicht?« Plötzlich konnte ich all die verlegenen Pausen verstehen, die ich vorher erlebt hatte. Und es gab auch nichts, was ich hätte sagen wollen. »Hm, nicht direkt, Lieutenant«, antwortete Couper. »Hm, indirekt«, verbesserte Lucille. »Lieutenant, wir haben dem Corporal soeben erklärt, daß wir Befehl haben, uns auf unserem Mutterschiff einzufinden. Ehe das geschehen ist…« Der Lieutenant hielt die Innenfläche seiner unversehrten Hand nach außen. »Sprechen Sie nicht weiter, Gnädigste, Sie haben mein volles Verständnis – meine aufrichtigste Sympathie. Auch ich habe ungeduldige Vorgesetzte, vor denen ich mich verantworten muß. Ich möchte Ihre freundliche Gastlichkeit noch etwas mehr in Anspruch nehmen: Haben Sie eine Mikrowelle, die fähig wäre…?« »Mikrowelle!« Couper war amüsiert. »Nicht einmal zum Kochen«, antwortete Williamson, »und selbst dann würde sie nicht…« »Er spricht von Funk«, sagte Rogers. »Lieutenant, ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, daß es… wie lange, Ev?« Williams verdrehte die Augen und dachte nach. Seine Schnauze zuckte leicht. »Vier Komma dreiundzwanzig Jahre.« »Es würde vier Komma dreiundzwanzig Jahre dauern, bis eine elektromagnetische Botschaft Sca erreichen würde, ganz zu schweigen von Vespucci, selbst wenn wir dafür ausgerüstet wären, und selbst wenn – nun ja, Ihr Corporal war ziemlich wortkarg, was die Lage des Planeten angeht.« »Vier… Lichtjahre!« Es bedurfte einer übermenschlichen Anstrengung,
das nicht herauszuschreien. »So weit sind wir gekommen, in nur…« »Ruhig, mein Sohn!« sagte Couper. »Wir verständigen uns nicht mittels Funkwellen, Lieutenant, und ohne die beträchtlichen Leistungen Ihrer Zivilisation schmälern zu wollen, möchte ich bezweifeln, ob sie mit einer von uns geschickten, paratronischen Übertragung viel anfangen könnte. Auch dann würde die Zeitverzögerung nur um einen Faktor von… mal sehen: eine Haaresbreite weniger als e Quadrat mal pi…« »Sechzig Tage«, mischte sich Williamson ein, der zusätzlich zu seiner Funktion als unterforderter Pilot dieser Maschine auch noch Schnellkopfrechner zu sein schien. »Es würde zwei Monate dauern, und Sie werden lange zuvor am Treffpunkt sein. Finden Sie sich damit ab: Im bekannten Universum gibt es für Transport- oder Kommunikationszwecke nichts Schnelleres als ein Raumschiff. Tut mir leid.«
2 »Passen Sie auf!« sagte Owen Rogers ungeduldig. »Es ist ganz einfach: ich habe die Farben so eingegeben, damit Sie es verstehen, okay?« »Gar nichts ist okay«, widersprach ich wahrheitsgemäß. »Was haben Farben damit zu tun, daß man durch den Fußboden sinken kann?« Das Abendessen war lange vorüber. Couper, Williamson und der Lieutenant berieten sich. Lucille war nach unten gegangen, und dort hätte ich mich auch gerne hinbegeben, wenn ich je auf den Trichter kam. Ich war als einziger in dieser ganzen Gesellschaft noch ungeduscht, unrasiert und auch äußerst unausgeschlafen; diese Tatsache wurde mir jetzt vor Augen geführt, als ich mich verzweifelt bemühte, zu verstehen, was mein Feldzeugmeisterkollege mir ›erklärte‹. »Sehen Sie, das Schiff ist nicht auf Ihre… nennen Sie es einmal ›Gehirnwellen‹, so würde man bei Ihnen wohl sagen, eingestellt. Es hat keinen Sinn, das jetzt noch zu ändern, weil wir ziemlich bald am Treffpunkt sein werden. Deshalb habe ich diesen Abschnitt des Fußbodens – direkt über Ihrem Quartier – so eingestellt, daß er Sie durchläßt.« Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. »Sehr rücksichtsvoll von Ihnen und dem Schiff. Was bewahrt mich davor, mir beide Knöchel zu bre-
chen, wenn ich unten auf dem Boden aufkomme?« Er schnaubte. »Das versuche ich doch die ganze Zeit zu erklären! Der markierte Abschnitt ist gelb, das Deck darunter ist blau. Sie treten auf das gelbe Stück, das Schiff spürt, daß Sie es sind – es braucht Sie nicht zu kümmern, wie es das weiß, es weiß es eben.« »Prima. Und was dann?« »Nun, Sie haben gesehen, wie der Tisch fürs Abendessen heraufgekommen ist? Die Moleküle, aus denen sich der Boden zusammensetzt, haben sich einfach ausgedehnt und so wieder zusammengefügt, daß sie mehr Platz einnahmen, und, violà, ein Tisch!« »Voilà heißt das«, bemerkte Williamson von der anderen Seite des Raumes her. Der Fremde hatte ein unglaublich scharfes Gehör, dachte ich bei mir. »Egal. Wo war ich stehengeblieben? Sie treten auf diesen gelben Abschnitt, und ein Stück Fußboden im unteren Stockwerk dehnt sich so weit aus, bis es auf die Decke trifft. Die blauen Moleküle verflechten sich mit den gelben und werden grün.« »Ich werde das jetzt schon. Sie wollen tatsächlich sagen, die Moleküle der beiden Böden vermischen sich?« »Sicher. Es gibt keinen Kubikzoll auf dem ganzen Schiff, der das nicht könnte. Dann gehen Ihnen die Moleküle des oberen Stockwerks aus dem Weg, während sich die blauen wieder zusammenziehen, und Sie sanft zum…« »Halt! Für Teppiche mag das ja ganz in Ordnung sein, aber ich habe nicht die Absicht, meine Moleküle mit irgendetwas zu mischen…« »Natürlich nicht! Sie weichen Ihnen völlig aus und hinterlassen ein vollkommen Whitey-förmiges Loch – genauer gesagt, ein Loch von der Form Ihres Querschnitts – während Sie in aller Ruhe durch den Fußboden sinken.« Ich schaute die fünfeckige, gelbe Zone an, die Rogers für mich ›eingestellt‹ hatte, und bemerkte, daß sein Geschmack in bezug auf Innenausstattung zu seinem Geschmack hinsichtlich Kleidung paßte. Der übrige Teppich war rötlichbraun. »Tut mir leid, Roger, mir kommt es einfach vor wie Zauberei…«
»Richtig«, antwortete er selbstgefällig. »Jede ausreichend fortgeschrittene Technik wird…« »Fortgeschrittener Technik ähnlich sein«, ergänzte Couper und trat näher. »Und sonst nichts. Die Theorie, die du da zitierst, Rog, ist ein alter Hut. Sobald eine Kultur einmal einen Begriff von Technik an sich hat, hört sie mit der Zeit überhaupt auf, an Zauberei zu glauben…« »Aber Whitey hat gerade festgestellt…« »Ich habe es gehört. Er ist müde und hat es wahrscheinlich nicht wörtlich gemeint.« Ich öffnete den Mund und wollte ihm zustimmen – und bemerken, daß sein Gehör genauso scharf sei wie das des pelzigen Piloten – aber statt dessen gähnte ich. »Offensichtlich«, sagte Couper, »hält diese Diskussion unseren Gast von einer heißen Dusche und einem weichen Bett ab.« Ich machte den Mund zu und trat auf das Fünfeck, ohne mich viel darum zu kümmern, was geschah. »Schöne Träume«, sagte Rogers, während ich durch den Fußboden sank. »Und was immer Sie da unten machen, drücken Sie nicht auf den Knopf mit der Aufschrift S/E. Laß gut sein, Coup, ich habe doch nur Sp…!«
3 Die Decke schloß sich über meinem Kopf und verhinderte so, daß ich die Flachsereien der beiden noch weiter mitbekam. Ich schwebte in eine kleine, saubere Kajüte mit zwei Einzelbetten, an die sich ein kleines Badezimmer anschloß. Während ich meine Kutte ablegte, spähte ich in die Duschkabine, auf neue Zauberkunststücke gefaßt. Ich wurde nicht enttäuscht. Der Vorhang war eine starre, elastische Membran, durchsichtig, ohne erkennbare Öffnung. Auf eine Eingebung hin drückte ich mit der Hand dagegen. Die Hand drang durch, wie ich es erwartet hatte, mein restlicher Körper folgte nach. Sofort veränderte sich die Membran von durchsichtig auf durchscheinend und schirmte mich von außen ab. Keine Wasserhähne. Statt dessen kreuzte ein farbiger Streifen, der all-
mählich von blau in rot überging, die vordere Wand in Brusthöhe. Ich berührte ihn in der Mitte; Wasser begann zu fließen. Ich meine wirklich fließen. Anstelle des stechenden, mit Ultraschall angetriebenen Nebels, wie ich ihn von zu Hause gewöhnt war, gab es hier einen Sturzbach, der mich fast von den Beinen riß. Ich hatte das breite, farbige Band am oberen Rand berührt – du bist kein Wilder, Whitey; Couper hatte recht mit der Technik – jetzt legte ich einen Finger nahe an den unteren Rand; der Druck ließ nach. Dann fuhr ich mit dem Finger wieder nach oben und genoß das auf Vespucci angezüchtete, instinktive Schuldgefühl, während ein Liter nach dem anderen auf mich herabstürzte. Seife: die gab es nicht. Ich blickte mich in der Kabine um. Nicht einmal eine Schale dafür. Nun, ich würde mich so gut wie möglich abschrubben, wie ich es im Bach getan hatte, und das Geheimnis der fehlenden Seife morgen herausfinden. Als ich fertig war, merkte ich, daß Seife nicht die einzige Annehmlichkeit war, die fehlte. In dem Badezimmer hingen keine Handtücher, da war ich sicher. Vielleicht gab es draußen einen Schrank. Ich trat durch den Vorhang… … und kam so trocken heraus wie der Sand meines Heimatplaneten! Und auch sauber. Plötzlich fiel mir ein, wie mein Haar in der Dusche gequietscht hatte, und daß die Fetzen abschilfernder Haut erfreulicherweise nicht dagewesen waren. Die Dusche war eine Kabine, das war schon richtig. Rein zu Entspannungszwecken, vermutete ich. Alle Schmutzarbeit erledigte – buchstäblich – dieser Membranvorhang. Ich trat in das Schlafzimmer zurück… Überraschung. Auf dem rechten Bett lagen, in ihren Stoffgürtel vespuccianischer Herkunft eingerollt, ein Paar 8-mm-Darrick Pistolen. Meine eigenen beiden offenbar, in den vorschriftsmäßigen Halftern. Ich riß die Deckelklappe des einen auf und untersuchte den Griff. Leer. Nun ja, entweder hatte ihre Technik ihre Grenzen, oder man wollte mir zwar meine Waffen lassen – mir aber keine scharfe Munition anvertrauen. Trotzdem war es schön, die Pistolen wiederzuhaben. Ich fragte mich, wie man wohl daran gekommen war. Ich wäre äußerst ungern der betreffende scavianische Adelige gewesen, wenn Lucille sich darum gekümmert hatte. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich einen kahlen Fleck in dem blauen
Teppichboden. Die Kutte, die ich abgelegt hatte, war verschwunden. Ich ging alle Wände entlang, drückte mit der Hand dagegen, wie ich es beim Duschvorhang gemacht hatte, und entdeckte schließlich einen Schrank, dessen Tür verschwand, sobald ich sie durchdrang. Tatsächlich, da hing die Kutte neben den Überresten meiner Uniform – und auch die Uniform des Lieutenants. Ich ließ mich nicht täuschen. Das alles war lustig, es war interessant, aber Couper hatte recht: Zauberei war es nicht. Ich schlug die Decke zurück und stieg, den Doppelpistolengürtel in meinen Armen haltend, ins Bett. Die Lichter begannen, schwächer zu werden. Ich hatte keine Angst, weder vor der Dunkelheit, noch vor der Macht dieser Leute. Ich beneidete sie einfach um ihren Reichtum, ihr Wissen und hoffte, daß eines Tages auch mein Volk…
4 Ich erwachte aus einem traumlosen Schlaf und fühlte mich besser ausgeruht als seit Monaten. Neben mir, im anderen Bett, lag Lieutenant Sermander und schnarchte, er hatte immer noch das Ding an, das Lucille einen ›Patentanzug‹ genannt hatte. Rogers hatte einen ähnlichen Ausdruck gebraucht, als er versuchte, mir den unheimlich kooperativen Teppich der ›Little Tom‹ zu erklären. Ich befreite mich aus den Laken und stolperte leise ins Badezimmer, wo ich an den übrigen sanitären Einrichtungen keine magischen Überraschungen entdeckte, außer, daß sie eine Menge Wasser verbrauchten. Ich beschloß, diesen raffinierten Duschvorhang noch einmal auszuprobieren. In die Kabine hinein, wieder heraus. Ich fühlte mich eindeutig anders – sauber, aber nicht erfrischt. Man braucht heißes, fließendes Wasser, damit es einen aufweckt, durchrüttelt – und natürlich auch, um etwas gegen die verheerenden Auswirkungen eines guten Nachtschlafs auf die Frisur zu unternehmen. Ich fummelte an der rotblauen Temperatureinstellung herum und beschloß, mich erst später nach einer Zahnbürste zu erkundigen. (Ja, falls Sie krankhaft neu-
gierig sind, über den Toilettensitz ist wirklich eine Membran von der Art des Duschvorhangs gespannt. Vielleicht verbrauchten sie hier Wasser, als käme es aus der Mode, aber Papier verschwendeten sie bestimmt nicht.) Im Schrank hing meine zerlumpte Uniform und die Kutte mit der Sackleinenauflage, die ich gründlich satt hatte. Außerdem ein Patentanzug. Mit großen Augen nahm ich ihn vom Kleiderbügel und wollte meine Beine in die… »Versuchen Sie nicht, das ohne Hilfe zu machen, Whitey. Sie könnten sich weh tun.« Ich fuhr zusammen, als ich die Stimme über mir hörte. Der Kopf von Owen Roger ragte wie eine gräßliche Trophäe aus der Decke. Er bemerkte den erschrockenen Ausdruck in meinen Augen, verdrehte die seinen nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und ließ die Zunge aus einem Mundwinkel hängen. »Warten Sie…« – er lachte und gab die Pose auf –, »ich helfe Ihnen.« Er zog den Kopf zurück; eine Pause folgte, während ein Abschnitt des Schlafzimmerbodens nach oben wuchs, um ihn in Empfang zu nehmen. Dann erschienen seine Füße, seine abscheulich gemusterten Anzugbeine (an diesem Morgen befand sich Purpurrot in einem Kampf auf Leben und Tod mit verschiedenen Orangetönen), schließlich der übrige Körper. Ich bedeutete ihm, er solle leise sein wegen des Lieutenant. »Bei der Konstitution, Whitey«, antwortete er mit einer Stimme, die nur wenig leiser war als eine startende Raumfähre, »ich soll ihn auch aufwekken. Hören Sie mal, wenn Sie die Katheter so einsetzen, werden Sie ihn aufwecken – mit Ihrem eigenen Geschrei.« Er sprach von den inneren Einrichtungen des Anzugs, sehr persönlich, sehr peinlich. Er schob meine Hände weg und tat, geschickt und ohne Aufhebens, was getan werden mußte. »Jetzt wissen Sie, was wohin gehört. Sie brauchen nur noch mit der Hand über die Schrägnaht zu streichen, richtig, von der Hüfte zur Schulter. Sie sind fertig – Sie müssen sich nur noch ein wirklich zatziges Muster aussuchen.« »Ich glaube, da passe ich lieber.« Ich hatte bemerkt, daß die anderen ihre Anzüge einfarbig trugen oder einfach den natürlichen Ton des Patentanzugsmusters beließen. Als mir dann meine verdreckte Uniform ins Auge fiel, fragte ich: »Was könnte man damit anfangen?« »Faschistisch-modern«, sagte er prüfend, dann krauste er die Nase wie
Lucille. »Na gut, Sie fischen auf Ihrer Seite, ich fische auf meiner Seite, und in der Mitte fischt keiner. Ist die Farbe richtig so, oder ist sie verblaßt? Ich nehme an, dieser Ärmel hatte ursprünglich am Ende eine Manschette, wie der andere auch?« Er drückte Knöpfe an meinem Arm und schuf eine Kopie meiner Marinereserveuniform, komplett bis zu den Winkeln. Feldzugssterne zierten die falschen Taschen. Auf dem Kragen prangten die gekreuzten Pistolen des Feldzeugmeisters. »Großartig«, sagte Rogers und trat zurück, um sein Werk zu betrachten. »Wollen Sie wirklich keine Schaftstiefel? Keinen Sam-BrowneGürtel? Wir haben diese Woche ein Sonderprogramm. Was ist dann mit Ihren Schießprügeln? Ich habe sie gereinigt, so gut ich konnte. Tut mir leid, daß es keine Munition gibt, Dardick war ein gutes, altes Modell, und… Hups! Vergessen Sie, daß mir das rausgerutscht ist, Whitey, seien Sie gnädig mit einem Soldatenkameraden!« Ich schaute ihn scharf an, dann drehte ich mich um, holte meine Pistolen vom Bett und schnallte sie mir um die Taille, das zusätzliche Gewicht auf der linken Seite empfand ich als ungewohnt. »Wovon reden Sie, ein gutes, altes Modell? Woher kennen Sie denn die Darricks?« Ungefähr hundert äußerst seltsame Vorstellungen schossen mir durch den Kopf. »Ehrlich, Whitey, ich kann Ihnen nicht – oh, guten Morgen, Lieutenant! Freut mich zu sehen, daß Sie gut geschlafen haben. Wir docken in ungefähr neunzig Minuten an. Ich bin hier, um Sie zum Frühstück einzuladen.« Das war auch für mich neu. Sermander blinzelte dumm, hievte sich hoch und blinzelte wieder dumm. »Ich nehme Steineidechseneier auf Toast, vier Streifen knusprig gebratenen Hamster und viel Tee. Machen Sie sich nicht die Mühe, ein Gedeck für mich aufzulegen, der Corporal wird es mir auf meinem Zimmer servieren.« Er schaute zuerst nach oben, dann nach unten, schließlich blieben seine Augen auf dem Pistolengurt haften. »Darüber sprechen wir später.« Er streckte sich, warf die Beine über die Bettkante, stand auf und watschelte ins Badezimmer. Hinter ihm verschwand die Tür, eine leere Wand blieb zurück. Ich hatte nicht gewußt, daß das so war. Rogers schien tief in Gedanken versunken. Dann blinzelte auch er mich an, und sein Blick wurde wieder scharf. »Hochnäsiger Bürokratensohn, was?«
Ehe ich antworten konnte, begann der Teppich wieder sonderbare Sachen zu machen. Geoffrey Couper schwebte in unsere Mitte herunter – in der kleinen Kajüte wurde es allmählich eng. »Ihr geht jetzt rauf, Leute!« schlug er vor. »Dem Lieutenant setze ich den Kopf schon zurecht. Sein Arm muß sowieso nachgesehen werden, und hier wird niemand bedient, schon gar nicht von dem Mann, der ihm das Leben gerettet hat. Was macht das Bein, Whitey?« »Ich hatte es völlig vergessen, Sir.« »Dann ab – und sagen Sie nicht ›Sir‹ zu mir!« Wir zischten ab, und ich fragte mich, woher er erfahren hatte, daß er kommen und dem Lieutenant den Kopf zurechtsetzen sollte.
5 Fremdes Essen, fremde Getränke, fremde Unterhaltung. Nur war ich jetzt wach und voll ausgeruht. An diesem Morgen rauchte Lucille das gleiche wie alle anderen. Niemand verlor ein Wort über meine Waffen. Ich fühlte mich auffällig, obwohl alle anderen auch irgendwelche Waffen trugen. Couper kam zwanzig Minuten später mit dem Lieutenant, mein vespuccianischer Landsmann war rot im Gesicht und schien nicht sehr erfreut. Das alles änderte er jedoch um Lucilles willen. Er war sogar zu mir einigermaßen höflich. »Sie sind mit diesem windigen Kastendrachen tatsächlich zwei Lichtjahre weit zwischen Sternensystemen geflogen? Neun Wochen – wie entsetzlich!« Mir schenkte sie keinen Blick, sie lächelte nur den Lieutenant an und flirtete mit ihm, fasziniert von allem, was er zu sagen hatte. Er blickte in meine Richtung, mit deutlich warnender Miene, ehe er antwortete. »Wir hatten ein gutes Computersystem, meine Liebe, nicht wie in alten Zeiten, als man noch mit dem Hosenboden gegen einen zu allem entschlossenen Feind fliegen mußte.« »Sie sind zu bescheiden, Lieutenant. Mann, ich habe noch nie einen richtigen Flugzeugpiloten kennengelernt!« Du kennst immer noch keinen, dachte ich bei mir. Dann verdrängte
ich es: diese Welt ist eine Welt für Offiziere, dagegen kann man als Corporal nichts machen. Ich stritt gerade im Geist mit mir selbst, ob ich mich ärgern sollte – der Lieutenant hatte seinen Anzug so programmiert, daß er ein Duplikat seiner eigenen, prunkvolleren Uniform war – als sich Williamson mitten in der Zusammenfassung einer unwahrscheinlichen Geschichte über eine alte Dame, die einen ganzen Planeten in die Luft jagen wollte, um einen philosophischen Beweis zu führen, unterbrach. »Ammoniumnitrat, sagte sie mir, eingeweicht in Dieseltreibstoff Nummer Drei, und – entschuldigt mich bitte einen Augenblick.« Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck sanfter Konzentration. Das Computerwandgemälde draußen verblaßte plötzlich, und an seine Stelle trat eine genauere, starre Sternenlandschaft, in deren Mitte ein einzelnes Licht blinkte. Unvermittelt explodierte der strahlende Punkt richtig und wurde zu einem festen Gegenstand, einer feurigen Halbkugel, die vor uns im Leeren hing und das ganze Blickfeld ausfüllte. Sie rotierte, bis wir uns von der flachen Unterseite her näherten. Es gab nichts, um sich einen Maßstab zu verschaffen, aber das Ding war riesig, möglicherweise sechs- oder achtmal größer als die ›Asperance‹, dreimal größer im Durchmesser als die ›Little Tom‹, die gewölbte Oberseite war völlig glatt, von innen heraus funkelte sie in einem unheimlichen, marmorierten Schein. Unten, nahe am Rand, gähnte eine schüsselförmige Öffnung, nur eine von sieben, sechs tiefe Höhlungen umgaben eine siebente in der Mitte. Jede bis auf die leere, auf die wir zusteuerten, war sauber ausgefüllt mit kleinen Schiffen, Miniaturausgaben des Riesenraumschiffs, identisch mit der ›Little Tom‹. Die Verbindungsnähte waren fast unsichtbar, die schmäleren Konturen der kleinen Schiffe entsprachen denen des Mutterschiffs und zeigten auch das gleiche, blauweiße Leuchten. »Das letzte Küken ist im Nest!« Williamson entspannte sich wieder, als sich die große Halbkugel über uns senkte. Die Sternenansicht von vorher erschien wieder. »Falls es Sie interessiert, meine Herren von Vespucci, dieses Baby da oben ist groß, achthundertneunundsechzig Fuß im Durchmesser. Ich weiß nicht, wieviel das in Ihren Maßeinheiten wäre.« Er stand auf. »Nun, es hat Spaß gemacht, vielen Dank, daß ihr mit der ›Little Tom‹ gefahren seid. Sollte von Sca, dieser Staubkugel aus dunklen Zeiten, jemals etwas Gewinnbringendes kommen – was ich aufrichtig bezweifle –, dann laßt es mich wissen. Ich kriege drei Prozent.«
Allgemeines Gelächter am Tisch. Ich stand auf und wollte nach unten, um meine paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Hinter mir blieb der Pilot, trotz seiner abschließenden Worte, auf einer Tischecke hocken, während die Unterhaltung weiterging. »Du kannst sicher sein, Ev«, sinnierte Rogers, »daß wir, ganz gleich, für welche Politik man sich entscheidet, der Konföderation – der gesamten Galaxis übrigens – einen wirklichen Gefallen erweisen werden. Außerdem muß es da irgend etwas geben – organische Stoffe, Mineralien, Kunsthandwerk –, was wir brauchen können.« Ich war bis an die Schultern im Fußboden begraben und konnte den Piloten nicht sehen, hörte aber seine verachtungsvolle Antwort. »Leicht gesagt! Seit wann bist du Experte für die Ausbeutung oder Sterilisierung von Planeten? Rog, ich habe schon trockene Planeten gesehen. Du brauchst einem Sternenschiffer nichts vorzumachen, ich habe es nicht auf deine Hauswilden abgesehen!« Wilde? Mein Kopf sank unter den Teppich, mein Herz sank noch tiefer als der Kerker von Sca. Wir Vespuccianer waren also Wilde. Kein Wunder, dieses Herumgerede wegen unserer Heimkehr. Ich sammelte meine Uniform ein, ließ die Kutte zurück und fuhr mit der ausgefahrenen Fußbodensäule wieder nach oben, ich wußte, daß ich darüber sobald wie möglich mit dem Lieutenant sprechen mußte. Der Eßtisch war verschwunden, als ich zurückkam. Couper, Lucille und der Experte für ›Hauswilde‹ standen beieinander in der Zimmermitte, ein paar Gepäckstücke lagen zu ihren Füßen verstreut. Der Lieutenant, der mit dem Mädchen plauderte, drehte sich um, als ich näherkam. »Ah, Corporal O'Thraight. Jetzt reicht es aber – höchste Zeit, diese Spielsachen abzugeben. Ich bin schließlich und endlich der höherrangige Überlebende.« »Sir?« Ich wußte ganz genau, was er meinte, wollte ihn aber zwingen, es auszusprechen. »Die Handfeuerwaffen, Corporal, geben Sie sie mir!« Ich seufzte, legte meine zerlumpte Uniform über einen Reisekoffer und griff nach dem Schnellverschluß des Gürtels. Couper trat zwischen uns.
»Langsam, Sohn. Lieutenant, da, wo ich herkomme, gibt es eine alte Tradition: Wir lassen nicht zu, daß selbsternannte Autoritäten einem Mann so lange zusetzen, bis er auf seine Rechte verzichtet.« Ich war froh, daß dieser finstere Blick nicht mir galt. Der Lieutenant wiederum schien verwirrt. »Zulassen? Das hat nichts mit Rechten zu tun, Sir. Diese Pistolen wurden von einem Staat ausgegeben, dessen höchstrangiger Vertreter ich im Augenblick bin. O'Thraight, geben Sie mir den Gürtel!« Ich griff nach der Schließe. »Bleiben Sie, wie Sie waren, Sohn«, befahl Couper. Ich ließ die Hände sinken. »Sermander, Sie stehen jetzt unter meiner – wie war das Wort, Rog? – Zuständigkeit. Whitey hat sich diese Drehknallbüchsen verdient, indem er Ihren Leichnam am Leben erhielt. Außerdem hat kein Staat das Recht, Waffen auszugeben oder zurückzufordern – niemals. Ein Staat hat absolut kein Recht, überhaupt zu existieren! Ende der Debatte, außer, Sie wollen, daß jeder, dem Sie von jetzt an begegnen, die wahre Farbe vespuccianischer Dankbarkeit kennenlernt.« Das Gesicht des Lieutenant wurde rot, dann entspannte er sich unvermittelt mit einem Achselzucken. Ich löste die linke Scheide von den Ösen am Gürtel und streckte ihm das Halfter mit der Waffe hin. »Nehmen Sie die hier, Sir, auf diese Weise sind wir beide…« DONGDONGDONGDONGDONGDONGDONG!!!! Plötzlich schallte ein Alarmsignal durch das Schiff, das einem das Blut in den Adern stocken ließ. Der Lieutenant erstarrte. Ich blickte mich mit rasendem Herzklopfen um und fragte mich, was das wohl zu bedeuten hatte. Die Erdianer standen einsatzbereit stramm, aller Augen waren auf Ev Williamson gerichtet. Der hatte die Augen einen Augenblick lang geschlossen, hielt den Kopf schief, als lausche er auf etwas, und stand ein paar Sekunden unbeweglich. Als er die Augen öffnete, schien er eine andere Person geworden zu sein. Seine tiefe Stimme polterte: »Rendezvous abgebrochen. Nehmt eure Plätze ein. Wir werden angegriffen!«
8. Kapitel Geheimnisvolle Fremde 1 In den nächsten paar Augenblicken tat sich überraschend wenig. Lucille folgte Couper, und beide steckten die Köpfe mit Williamson zusammen, als hielten sie eine Konferenz ab. Keiner der drei sprach ein Wort, keiner schien die anderen auch nur anzusehen. Jeder stand unheimlich still da, die Augen geschlossen, das Bewußtsein nach innen gerichtet. Owen Rogers blickte zu ihnen hin, dann befahl er: »Whitey! Lieutenant! Kommen Sie – lassen Sie Ihre Sachen nur liegen, die stören hier keinen!« Er zerrte uns drei Schritte weit in die Mitte des Raumes, wobei der Lieutenant ein indigniertes »Mein lieber Mann!« hören ließ. »Hinlegen – flach auf den Boden! Es wird eine Schießerei geben, und so sind Sie aus dem Weg – ich weiß, Lieutenant, Sie sind Snoopy, Lando Calrissian und der Rote Baron, alles in einem, und wollen in dem Stück auch mitspielen. Mir geht es genauso – aber als Praxeologe wie als Feldzeugmeister bin ich auf diesem Flug überzählig, genau wie Sie.« Ohne auf uns zu warten, warf er seinen massigen Körper flach auf den Teppich. Es hätte mich nicht überraschen dürfen: er begann zu sinken, eine Höhlung bildete sich um seinen Körper, bis außer seinem gerundeten Bauch nichts mehr über die Oberfläche hinausragte. »Na, worauf warten Sie?« Wir folgten seinem Beispiel, der Lieutenant nur widerwillig. Lucille, Couper und Williamson, der Pilot, lagen ebenfalls auf dem – im – Fußboden, und an der Decke konnte man sehen, wie das Rendezvous-Schiff andere Fahrzeuge ausspuckte, die der ›Little Tom‹ ähnlich waren. Auch unser Gepäck war ein Teil des Decks geworden. Plötzlich: »Da kommen sie!« Wilde Grausamkeit klang in Lucilles Stimme mit. So weit entfernt, daß man die Augen anstrengen mußte,
zeichnete sich eine Traube von Punkten unendlich klein gegen den sternenbedeckten Hintergrund ab. Wir lösten uns vom Mutterschiff, andere Hilfsschiffe nahmen ihre jeweiligen Positionen in einer lockeren Kugel um das große Schiff herum ein. »Unsere Fahrgäste können ruhig sehen, womit wir es zu tun haben«, bemerkte Williamson, ohne daß man seiner Stimme irgendwelche Aufregung angehört hätte. Die Punkte wurden scharlachrot – es waren mehr, als man sofort erkennen hatte können. Hunderte von ›Sternen‹ waren jetzt als angreifende Flotte enttarnt, die immer größer wurden, je näher sie kam, einzelne Schiffe waren höchstens als Nadelstiche aus blutrotem Licht zu unterscheiden. »Lee, hier spricht Tom-Quadrat«, krächzte eine Stimme von der Decke. »Ich habe sie auf zwanzig auf den Instrumenten, und sie kommen näher.« »Verstanden, Tom-Tom, zwanzigtausend und näherkommend. Haltet eure Position und greift nach Belieben ein!« Die erste Stimme hatte einen Hauch männlicher Erregung, die zweite war weiblich und gelassen. Roger sagte: »Die ›Tom-Tom‹, ein weiteres Hilfsschiff. Es ist am nächsten dran – diese Banditen sind mit Radar nicht auszumachen – das macht sie so…« »Banditen?« quiekte der Lieutenant, einen Takt vor mir. Blamm. Das Schiff wurde von einem Aufprall erschüttert, unsere improvisierten Beschleunigungsnester fingen einen wohl titanischen Schlag ab. »Wo beim Staat ist der denn hergekommen?« fluchte Williamson. Die Sternenlandschaft schwankte, als die ›Little Tom‹ scharf abdrehte. Einen Augenblick später konnten wir den Feind sehen, er kam wieder geradewegs auf uns zu. Eigenartigerweise ähnelte das Objekt der ›Asperance‹, es war nicht stromlinienförmig wie die ›Little Tom‹, unterschied sich aber doch auch von unserem vespuccianischen Schiff. Man hatte keinen Anhaltspunkt für die Ausmaße, es bestand aus einem Zentralschaft mit einem rautenförmigen Klümpchen am einen Ende. Wo der Schaft auf die mutmaßliche Mannschaftskabine traf, sprossen ein halbes Dutzend hydraulisch aussehende Landevorrichtungen heraus, leicht schräg nach außen, auf das Heck zu abgewinkelt. Unser Gegner hatte einen Kollisionsschaden
erlitten, zwei seiner Beine waren verbogen, und der Rumpf schlimm verbeult. Aber er war hartnäckig. Als der Feind näherkam, zeigte sein Schaftende drohend auf uns. Welchen Schaden hatte die ›Little Tom‹ genommen? Näher… näher… Spannung erfüllte den Raum, bis es schien, als wolle der Rumpf bersten. Lieutenant Sermander knirschte mit den Zähnen. Sein Corporal unterdrückte ein Wimmern. »Nur zu, Baby!« knurrte unser Pilot aus seiner grabähnlichen Senke heraus. »Komm und hol dir deine Medizin!« Ein heller Blitz löschte das Himmelsbild aus. Der feindliche Jäger erschien wieder, noch schlimmer beschädigt, mit verkohltem Rumpf, die Beine zu Stummeln weggebrannt. »Hab' ihn erwischt, den Bürokratensohn!« Williamsons Jubel war verfrüht. Trotz der Strafe schwenkte unser Gegner herum, bis wir ihn von unten sahen, und schwoll an, als er unaufhaltsam näherkam. Am Himmel blitzte es wieder auf – eine Explosion, ein Trümmerschauer. »Und genau rechtzeitig«, bemerkte der Pilot. »Mal sehen, wieviel von diesem Ungeziefer wir verbrennen können, ehe sie uns wie ein Sieb durchlöchern.« »Rogers«, wollte der Lieutenant wissen – als er sprach, war gerade seine Nasenspitze zu sehen –, »Sie sagten, wir Vespuccianer seien die einzige, raumfahrende…« BLITZ! Er wurde von einem strahlend hellen, erschreckenden Bild unterbrochen. Rechts von uns stand ein Untertassenförmiges Schiff, ein Schwesterschiff des unseren, zwei fremden Fahrzeugen gegenüber, jedes war vom Schaftende bis zur Rautenspitze dreimal so groß wie der Aufklärer im Durchmesser. Die Unterseite des kleineren Schiffes pulsierte blendend. Energie spritzte von der ganzen Oberfläche weg, krachte gegen die fremden Gegner. Beide zogen sich schwer beschädigt zurück. Die Untertasse verfolgte sie und feuerte ihre eigentümlichen Kielbatterien ab. Ein seltsam geformter Angreifer löste sich in einer fettigen Wolke herumfliegenden Schrotts auf. Wir drehten wieder ab, schossen auf einen unsichtbaren Gegner, verloren das andere Schiff, den Ausgang seiner Schlacht aus dem Blick.
»In gewissem Sinne«, meldete sich Rogers aus seinem Unterstand, »ja – und dann auch wieder nicht.« »Was?« Diesmal war ich früher dran als der Lieutenant. BLAMMM!!!! Das Schiff schaukelte von einer Seite zur anderen, als rissen hungrige Raubtiere daran. »Ihr Burschen könnt euch wirklich nicht lange konzentrieren«, fuhr Rogers fort. »Ich wollte sagen, ja, ihr seid die einzigen Raumfahrer, auf die wir bisher gestoßen sind, aber wenn man es anders betrachtet, stimmt das nicht so genau.« »Wie informativ!« höhnte der Lieutenant. Ich achtete mehr auf den Praxeologen als auf das bevorstehende Verhängnis. Gräßliche, reißende Geräusche erschwerten mir das. »Wie meinen Sie das?« »Er ist Sozialwissenschaftler!« rief Williamson quer durch den Raum. Er hätte eigentlich vollauf beschäftigt sein müssen und unsere Unterhaltung gar nicht hören dürfen. »Das braucht gar nichts zu bedeuten!« Wieder flammte Licht auf. Ein weiterer Fremder verschwand in fliegenden Trümmern. »Erwischt, du kropfiges Ameisenei.« Eine Pause, wie zwischen Gewitterblitzen. »Owen spricht von seinen Gunjj«, seufzte Couper. »Niemand glaubt ein Wort davon, aber – Banditen, zwei Uhr tief!« Das Schiff tauchte weg, drehte ab, ein blendender Lichtblitz – »… trotzdem mutet er wehrlosen Fremden die Geschichte zu, wenn er Gelegenheit bekommt.« Ein leises Zittern durchlief die ›Little Tom‹ und drohte, meine inneren Organe aus ihren Verankerungen zu reißen. Jeder Zentimeter des Schiffs ächzte – ein Paar Glieder mit stacheligen Gelenken rasten kurz über den Sichtbereich. »Ich habe das tatsächlich so – autsch! Nicht so wild, Ev – ich habe einen empfindlichen Magen!« Einen Augenblick lang schien es, als hingen wir vom Fußboden und schauten auf die Decke hinunter. »Nicht bei deinem Geschmack in bezug auf Kleidung.« Es war Wahnsinn, da wurde von fünf Seiten geschäkert, während man einen Todfeind abwehrte. Wenigstens Lucille verhielt sich still. »Was sind sie?« steuerte der Lieutenant bei. »Oder ist das wieder eines von Ihren kostbaren Geheimnissen?«
»Oberhaupt nicht, Sir, sie sind Viren.« »Was?« »Soweit wir sagen können, haben sie sich im tiefen Raum entwickelt, aus Wolken von interstellarem… O Mann!« Wunderbarerweise behielt ich meinen Mageninhalt während eines weiteren, wilden Loopings bei mir und würgte heraus: »Warum nennt ihr sie ›Gunsch‹?« Der Praxeologe zog das Gesicht in Falten, dann schüttelte er den Kopf. Selbst aus diesem Winkel konnte ich sehen, daß sich auf seinen ziemlich grünlichen Zügen Schweißperlen bildeten. »Wir… nennen sie… nicht… die Gunjj« – er buchstabierte es –, »meine ich… sie sind eine intelligente Spezies.« »M'aidez, m'aidez!« krächzte der Kommunikator fast nicht mehr verständlich. Draußen kämpfte ein konföderiertes Schiff gegen sechs gigantische Organismen; sie bedrängten es wie Aasfresser in der Wüste. »Tom Swift Maru an alle, die zuhören! Sie haben meinen Rumpf durchbohrt – er füllt sich mit Dreck – ich habe Selbstzerstörung eingeschaltet, wir springen ab. Bereitet euch auf Aufnahme vor!« Lucille schrie: »Verstanden, TSM, geben Nachricht weiter. Wir werden…« Die ›Tom Swift Maru‹ explodierte in einem blendenden Feuerball. »Wenigstens haben sie sechs von den bürokratischen Schweinehunden mitgenommen!« sagte Lucille grimmig. Unser Schiff machte einen plötzlichen Schlenker, mit fauchenden Batterien, ein weiteres Supervirus verschwand. Der Wahnsinn ging weiter: »Die Wahrheit ist, bis vor kurzem hatten wir – die Konföderation – nie vollen Kontakt mit einer anderen Spezies –, die Gunjj rechnet niemand dazu. Wir nennen sie ›Gunjj‹, weil wir bei unseren ersten Forschungsreisen ständig über ihre Visitenkarten stolperten: sobald wir einen hübschen, sauberen, unbewohnten Planeten mit Sauerstoff und Grünzeug gefunden hatten, entdeckten wir früher oder später, in einen Baum geschnitzt oder auf einen Stein gemalt, eine charakteristische Inschrift.« Er hob einen Arm über den Boden wie ein groteskes, im Sand vergrabenes Insekt, und skizzierte mit einem gummiummantelten Finger ein Zeichen in den Teppich: der Flor färbte sich entgegenkommenderweise blau.
»Allerdings fanden wir es niemals auf besiedelten Planeten. Niemand hatte die leiseste Ahnung, was es bedeuten sollte. Manchmal erscheint das Symbol uralt, kaum noch leserlich. Ein anderesmal ist es so frisch, als wäre der Graffitimaler nur einen Augenblick zuvor weggegangen. Es wird oft mit Artefakten in Verbindung gebracht – mit leeren Plastikbehältern, anderem Abfall, gelegentlich einem zerbrochenen Werkzeug.« Wieder ächzte das Schiff laut auf, schwenkte herum, beschleunigte kurz, und drehte sich noch einmal, um einen neuerlichen Schuß anzubringen. Der Rumpf klirrte! scharf. Ich fragte mich, wie Rogers so ruhig weitersprechen konnte, nachdem vor seinen Augen ein Schwesternschiff mit seiner gesamten Besatzung vernichtet worden war. Dann sah ich, wie seine Augen bei dem Lärm rollten – das war eben seine Methode, die Nerven zu behalten. Ich hörte ihm aus dem gleichen Grund zu. »Einige Inschriften waren winzig; man könnte sie kaum lesen. Andere waren quer über ganze Kontinente gemeißelt und mit bloßem Auge aus dem Orbit sichtbar. Jedesmal waren sie genau so, kursiv stilisierte Embleme, die offenbar das Wort ›Gunjj‹ darstellten – natürlich mußte es in einer fremden Sprache etwas anderes bedeuten. Wenn es nicht auf einem Planeten nach dem anderen aufgetaucht wäre, hätte es vielleicht nicht mehr Intelligenz verraten als die getrocknete Schleimspur einer Schnecke – wissen Sie, was eine Schnecke ist?« Ein Kreischen und Reißen war zu hören; ein Abschnitt der Sichtkuppel wurde schwarz. Ich äußerte mich nicht zu den Schnecken; er hätte mich ohnehin nicht gehört. Seine Stimme wurde eine halbe Oktave höher und um fünfzig Worte pro Minute schneller, aber er sprach weiter. »Es war ein wissenschaftlich ebenso anrüchiges Rätsel wie das Ungeheuer von Loch Ness oder Luzifer, der verlorene Planet – und es hätte so bleiben können, ungelöst, wäre da nicht ein fast katastrophaler Streich gewesen. Die Gunjj ähneln Spargelbündeln – na ja, gut, einem Bündel langer, halbbiegsamer Röhren, die in der Mitte mit einem Stück Schnur zusam-
mengebunden sind. Nur sind sie vier Meter lang, von kränklich-blassem Grau, und an der Schnur hängt ein Beutel für persönliche Dinge. Sie stehen nicht doppelt mannshoch aufrecht, sondern lassen die Spitzen ihrer Stengel wie Tentakeln einer Seeanemone hängen – und wie ich sehe, haben Sie auch keine Ahnung, was das ist.« Der ausgefallene Abschnitt des Sichtschirms flackerte und wurde wieder hell. Ein schönes Bild zeigte er nicht: die feindlichen Viren waren zahlenmäßig stark reduziert; die Schiffe der Konföderierten ebenso. Die Trümmer von einem Dutzend davon flogen in der Leere umher, aus einigen flohen winzige Gestalten, aus anderen nicht. Ich schaute den Lieutenant an. Entweder war er mutiger, als ich geglaubt hatte, und hatte beschlossen, Schlaf nachzuholen, oder er war in Ohnmacht gefallen. »Es gibt eine Reihe von Theorien«, fuhr Rogers fort, ohne auf die Szene vor uns zu achten, »extrakonföderierte Lebensformen betreffend…« Er schien einen Augenblick lang den Faden zu verlieren – vielleicht infolge einer schrecklichen Explosion am Rande des Mutterschiffs, dann fuhr er fort: »Die eine sieht die Evolution als konvergent an, alle intelligenten Spezies, die wir finden, müßten danach Menschen, Affen oder Waltieren ähnlich sein, weil sie unweigerlich die gleichen Nischen in den Ökologien ihrer jeweiligen Planeten besetzen…« Wieder verklang seine Stimme. Ich fürchtete schon, er sei auch ohnmächtig geworden. Der Gedanke, daß er sich dem Lieutenant anschloß und mich angesichts dieses Alptraums allein ließ, war mir unerträglich. »Nun, Praxeologe«, ahmte ich Sermanders kommandierenden Tonfall nach, »die Gegentheorie?« »Ja… äh… die andere Position… behauptet, Evolution könne nie so konvergent sein, daß sie völlig isolierte Anfänge und Milliarden von Jahren unabhängiger Entwicklung auf einem ganz anderen Planeten wettmacht. Nach dieser Argumentation – die bisher durch die paar flüchtigen Eindrücke, die wir gewinnen konnten, bestätigt wurde – ist der niedrigste, terranische Schleimpilz wesentlich näher mit uns verwandt als jeglicher Organismus von außerhalb des Systems und weist größere Ähnlichkeiten mit uns auf.« Terranisch? Ich war also ein ›Terraner‹ – wenn Rogers mich wirklich in das ›uns‹ mit hatte einschließen wollen. Ich dachte an die offensichtlich
fremden, einheimischen Organismen von Vespucci. Unmöglich, sie für etwas zu halten, was unsere Ahnen mitgebracht hatten. Von Terra, wie es aussah. »Die meisten Praxeologen sind sich darin einig, daß Intelligenz psychologisch nicht sehr unterschiedlich sein kann, die Bedürfnisse sind einfach zu ähnlich. Wir werden in jeder Zivilisation, auf die wir jemals treffen, Schach spielen, Pferde tauschen und dreckige Witze erzählen können. Der Halbkontakt mit den Gunjj scheint beide Theorien zu bestätigen – die der physischen Verschiedenheit und die der psychologischen Ähnlichkeit. Sie sehen grotesk aus, aber in bezug auf Weltsicht sind sie uns nicht fremder als – sagen wir mal – die Japaner den Nord-Amerikanern – das war jetzt wieder zu hoch, was? Aber es ist wahr. Ich weiß es, ich war da.« »Es war eine dunkle, stürmische Nacht…«, unterbrach Williamson – und wurde seinerseits unterbrochen, als eine gigantische Virusschwadron auf die ›Little Tom‹ zuschoß und schnelles Handeln erforderlich machte. Der Angriff schien schwächer zu werden, aber vorüber war er noch nicht. Rogers schnaubte. »Manche Leute wissen eine gute Geschichte einfach nicht zu schätzen. Es war an Bord der alten ›Tom Smothers Maru‹, ein kleiner Aufklärer, dem hier ziemlich ähnlich. Der Pilot war Koko Featherstone-Haugh, ehe sie zu einer höheren Existenzebene aufstieg, und ich war gerade frisch aus der Schule gekommen. Wir erforschten die verdeckte Region zwischen zwei Nebeln, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, außer einer ausbaubaren Gewinnmöglichkeit, als die Ferntachymeter zu quäken begannen. Schwermetall voraus…«
2 Kapitän Featherstone-Haugh (Rogers sprach es »Fanshaw« aus) zog sich den Helm fest über. »Von uns ist der nicht – siehst du mal bitte nach, welche Vergrößerung der Verkehr verträgt, Rog?« Koko war ein stattliches Wesen, fast zwei Meter groß, beinahe genauso breit und mit starken Muskeln. Nicht menschlich. Sie hatte die Verantwortung. Für einen jungen Mann, auf dessen Diplom die Tinte noch nicht trocken und auf des-
sen Patent sie noch feucht war, reichte das. Er gehorchte. Auf dem Deckensichtschirm breitete sich ein anscheinend leerer Raumsektor plötzlich aus, die Abstände zwischen den Sternen vergrößerten sich, weitere Sterne wurden sichtbar. An der einen Seite überdeckten Gaswolken die Sterne und hinterließen nur undurchdringliche Schwärze. Ein winziger Lichtpunkt erschien und blähte sich zu zwei dicht verbundenen Punkten auf. Sonst war nicht viel zu erkennen; Ausläufer des Gases beschränkten die Sicht. »Frau Kapitän, wenn ich noch weitermache, haben wir die Mikroben am Dach vor der Nase, anstatt Objekte in… fünfzehn Lichtminuten Entfernung.« Der Boden weitete sich um die seltsame Gestalt eines Wesens, das weder Affe noch Mensch war. Es maß – auf allen vieren – annähernd einen halben Meter bis zur Schulter, war vielleicht einen Meter lang und besaß spitz zulaufende Ohren, eine dazu passende Nase und einen dichten, buschigen Schwanz. Es hörte auf den Namen G. Howell Nahuatl. Sehr klar und deutlich. »Mitwesen, sagt mir, warum meine Waschungen unterbrochen wurden? Bestürzt es euch nicht, daß ich nach unserem letzten Planetenausflug tatsächlich einen Floh an meinem Körper fand?« Das Tier setzte sich auf die Keulen und kratzte sich mit einem Hinterfuß an einem der vorstehenden Ohren. »Das war kein Floh«, antwortete Koko, »sondern eine andere Insektenart – eher eine Art Assel, dachte ich, und als es dein Blut schmeckte, ist es gestorben. Sieh mal, was wir hier haben.« Howells Augen waren nicht besonders gut, aber er besaß eine rasche, analytische Intelligenz, die seine Gefährten schätzten. »Wäre es denn endlich möglich?« Rogers nickte heftig. »Wie aus dem Bilderbuch – ein fremdes Raumschiff.« »Oder ein Paar zusammengeschweißte, aus der Bahn geratene Asteroiden«, erwiderte Koko. Ihr Affenherz schlug schnell, voller Hoffnung – aber schließlich war sie der Kapitän, wenn auch nur auf einem winzigen Aufklärer.
»Was immer es ist, es schwimmt tot im Wasser«, sagte Rogers. »Kein Zeichen von Energieemissionen, oder von arbeitenden, lebenserhaltenden Funktionen. Wenn wir Pech haben, liegt es seit einer halben Milliarde von Jahren hier, und an Bord sind nur Mumien.« »Keine Witze über Mutterschaft, ihr beiden!« warnte Koko. »Mumien oder nicht, faszinierend wäre es trotzdem.« »Für alle, bis auf die Mumien«, erwiderte Howell verbindlich. »Nun, so finden wir es nie heraus. Ich gehe näher ran. Wollt ihr beiden euch für alle Fälle in den Fußboden legen?« »Ich soll bis zum Nabel im Teppichflor stecken, wenn ich meiner ersten, fremden Zivilisation begegne? Das soll doch wohl ein Witz sein!« Rogers stellte seinen Patentanzug auf das seiner Meinung nach fröhlichste Muster ein. Sogar der farbenblinde Kojote schauderte. Trotzdem näherten sie sich dem Objekt mit aller Vorsicht. Bald war es unverkennbar: ein Artefakt, zwei große, zusammengeschweißte Kugeln, die genieteten Nähte deutlich sichtbar. Es waren keine Antriebsröhren zu sehen, keine Schäkel für Lichtsegel, keine große Fläche für die Erzeugung von Photonen oder Tachyonen, wie sie ihr eigenes Schiff verwendete. Kurz, es mußte in einer Weise betrieben werden, die der konföderierten Besatzung der ›Tom Smothers Maru‹ völlig unbekannt war. Bullaugen bzw. Luken waren in einer sonderbar gekrümmten Linie um den Äquator jeder Kugel herum angebracht. Aus ihnen schien Licht heraus. Koko ließ ihr Kommando in tausend Kilometern Entfernung anhalten. Ein dünner Dunstschleier von den Nebeln her verbarg nichts, verlieh der Szene aber etwas Unheimliches. Sie begann jede übliche Energieform zu senden, die im bekannten Universum zur Kommunikation benützt wurde. »Da haben wir es!« schrie Rogers. Er deutete auf das Bild des Schiffes auf dem Schirm. Dem Bild überlagert – es fiel manchmal schwer, nicht zu vergessen, daß man sah, was die Computer sahen – war eine hellrötliche Aura, pulsierend, tanzend, pulsierend, tanzend. »Ich möchte nur gerne wissen«, sagte der Kojote, »wie wir das ohne
jegliche Referenten verstehen sollen. Und komm mir nicht mit dem Unsinn von wegen bis zehn zählen – wie fragt man mit Zahlen nach Taschenlampenbatterien, Erste-Hilfe-Kästen oder einem Eisbecher?« Eine halbe Stunde später wurde Howells Frage beantwortet. Das fremde Schiff sendete wiederholt: »529, 529… 529, 529… 529, 529…« Koko kam auf die Idee, das könne bedeuten, daß sie ein Bild senden wollten, das fünfhundertneunundzwanzig Punkte hoch und genauso breit war. »Nur gut«, murmelte sie entrüstet vor sich hin, »daß sie keine dreieckigen Telekomschirme haben – dann wäre ich nie dahintergekommen.« Die Gunjj stellten sich als harmlos heraus – so harmlos, wie intelligentes Leben eben sein kann. Auch sie hatten sich Sorgen gemacht, noch mehr als die Besatzung der ›Tom Smothers Maru‹, denn mit der Zeit wurde klar, daß die Gunjj abgeschnitten waren – in einer Flaute, wäre vielleicht besser ausgedrückt – mitten im Nichts. Das alles wurde nicht sehr schnell verständlich. Die Bilder halfen. Und auch ein Ausflug hinüber zum Schiff der Fremden, um sich direkter zu unterhalten. Langsam wurde ein Rahmen aufgebaut, in dem mit kybernetischer Unterstützung eine Verständigung möglich wurde. Am besten könnte man den Namen des Gunjj-Schiffes mit ›Der Verstimmte‹ übersetzen. Es war dem Namen nach ein Kriegsschiff, aber schon lange außer Dienst gestellt, und wurde im Augenblick als Schulschiff für mehrere hundert junger Gunjj benützt, die sich mitten in ihrer Ausbildungszeit auf so etwas wie dem Gegenschiff einer Schulungsfahrt befanden. Es war ziemlich einfach, das relative Alter eines Gunjj zu bestimmen: wenn sie ›geboren‹ wurden, bestanden sie nur aus einem einzigen Stengel oder einer Strähne, genauso groß wie die älteren. Mit der Zeit spaltete sich der Stengel – allerdings trennte er sich nicht völlig vom Körper des Individuums ab – und er spaltete sich immer wieder, bis der Erwachsene in der Blüte seiner Jahre der Gemüsesammlung glich, von der Rogers gesprochen hatte. Der Streich? Kadetten sind und bleiben eben Kadetten: Die Gunjj verwendeten ein besonderes System zum Antrieb von Sternenschiffen über die Lichtgeschwindigkeit hinaus, es basierte auf dem mathematisch-metaphysischen
Prinzip der Nicht-Gleichzeitigkeit. Über interstellare Entfernungen hinweg – theoretisch gesprochen über alle Entfernungen – ist es unsinnig zu sagen, zwei Ereignisse fänden gleichzeitig statt. Es gibt keine Methode, wie man die Zeitskalen synchronisieren könnte. Es kann auch keine existieren. Na gut, argumentierten die Gunjj, warum soll das nicht auch anders herum gehen? Es gibt keine Garantie dafür, daß ein Schiff, das von der Heimatwelt der Gunjj aufbricht und sich auf den Weg zu irgendeinem Ziel macht, zu irgendeiner genau gegebenen Zeit dort eintrifft. Das würde einen Synchronismus einschließen, von dem die Physik behauptet, er sei Unsinn. Angenommen, die Reise soll hundert Jahre dauern. Von diesem abstrusen Standpunkt aus ist es genau das gleiche, ob es hunderttausend Jahre nach dem Start ankommt oder hundert Millionen Jahre. Genauso können es auch nur hundert Sekunden oder Nanosekunden sein – und damit erreicht man eine effektive Reisegeschwindigkeit, die die des Lichts gewaltig übertrifft. Gunjj-Schiffe haben in Wirklichkeit keine Geschwindigkeit, aus praktischen Gründen vollzieht sich der Übergang zwischen zwei Punkten – irgendwelchen zwei Punkten – jedoch unmittelbar. Daher die unübersehbaren, weitverbreiteten Spuren ihrer planetarischen Forschungsreisen, während gleichzeitig noch niemand eines ihrer Schiffe im Flug angetroffen hatte. Bis zur ›Tom Smothers Maru‹. Die Gunjj liebten es, nicht anders als Menschen oder Schimpansen, ihren Spaß zu haben, besonders auf Kosten nomineller Vorgesetzter. Und für einen Kadetten ist jedermann ein nomineller Vorgesetzter. So wurde ein weiteres, physikalisches Prinzip ins Spiel gebracht. Der Nichtgleichzeitigkeitsantrieb der Gunjj konnte nicht sofort beim Verlassen eines Planeten eingesetzt werden – das hatte etwas mit Schwerkraftfeldern zu tun. Und er war auch nicht wirklich unmittelbar – wie das jedoch jemand mit Sicherheit bezeugen konnte, ist fraglich. Zum Spaß machte die halbe Kadettenklasse aus, sie wollten ihre Geschwindigkeit während des Übergangs auf dreiundzwanzig Dezimalstellen genau berechnen. Sie führten alle Operationen bis auf eine durch und waren bereit, das letzte Ergebnis abzulesen, sobald ein Tentakel über die Computerta-
ste patschte. Inzwischen war die zweite Hälfte der Klasse gleichermaßen bereit, ganz präzise den Standort des Schiffes festzustellen. Unglücklicherweise sagt Heisenberg – zusammen mit seinem Gegenstück in der Kultur der Gunjj –, daß das nicht möglich ist. Man kann, mit großer Genauigkeit, entweder die Geschwindigkeit eines Teilchens (oder eines Schiffs) kennen oder seinen Standort. Nichts beides zur gleichen Zeit. Das Schiff startete, überschritt die zum Sprung durch die Galaxis notwendige Zahl von Planetendurchmessern und bereitete sich auf die Transition in den Hyperraum vor – und dann wurden zwei Knöpfe gedrückt. Das Schiff erstarrte im Raum, und dort wurde es dann gefunden, voller verängstigter Gunjj-Kadetten. Die Gunjj saßen schon zehn Jahre in der Falle, als die TSM sie entdeckte – natürlich waren sie äußerst dankbar dafür, daß man sie gefunden hatte. Koko grübelte über dem Problem und besprach sich mit Rogers und Howell. Als sie die Sprache der Gunjj lernten, entdeckten sie, daß die Fremden äußerst schüchtern waren und von sich aus nie Verbindung mit der Konföderation aufgenommen hätten. Howell, der nichts von Physik, aber eine Menge von Logik verstand, fand schließlich eine Lösung. Das Gunjj-Schiff wurde in Schlepp genommen – eine ziemliche Belastung für ein so kleines Schiff wie die TSM – und mit bewußt nicht berechneter Geschwindigkeit zu einem willkürlich ausgewählten Ziel gebracht. Die Gunjj nahmen ihre SofortReise, wohin auch immer, wieder auf und verschwanden.
3 »Und Sie erwarten, daß wir Ihnen diesen Unsinn abnehmen?« fragte der Lieutenant, als Rogers fertig zu sein schien. »Oh, Lieutenant Sermander, Sie sind auch wieder unter uns. Nein, ich erwarte nicht, daß Sie es glauben – sonst tut es auch niemand.« »Entschuldigen Sie«, sagte ich, weil ich allmählich merkte, daß das Schießen aufgehört hatte. Auf dem Schirm waren keine Superviren mehr zu sehen; die Schiffe, einschließlich des unseren, waren auf dem Weg
zurück zum Mutterschiff. »Ich verstehe nicht, wie die Idee dieses Howell eine Lösung sein konnte. Verirrten sich die Gunjj dadurch nicht noch mehr als vorher?« Rogers lachte – ich bemerkte, wie die anderen, die sich jetzt aus ihrer Kampfhaltung lösten, abwarteten und beobachteten, wie wir die Pointe aufnahmen. »Aber Whitey, sie hatten sich doch nie verirrt. Sie waren die am wenigsten verirrten Reisenden in der Geschichte, und das war natürlich das Problem. Howells Lösung funktionierte, weil sie die Heisenbergsche Unsicherheitsrelation wiederherstellte. Sie saßen nicht länger in der Falle, aufgespießt auf den Hörnern eines metaphysischen Widerspruchs. So konnten sie sich bewegen, nachdem sie zehn Jahre lang erstarrt gewesen waren.« Ich blinzelte. Dann fiel es mir ein zu fragen: »Haben Sie je herausgefunden, was dieses Symbol – das Gunjj-Zeichen -eigentlich bedeutete?« Darauf hatte der Praxeologe nur gewartet. »Sicher. Es stellte sich heraus, daß es gar kein großes Geheimnis war. Es bedeutete mehr oder weniger nichts anderes als ›Kilroy war hier‹.« Schon wieder Kilroy. Wer war dieser Kilroy? Der Lieutenant erhob sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck vom Boden und kratzte sich den Kopf, sagte aber nichts. Ich sagte auch nichts und kratzte mir den Kopf. Couper grinste. »Ich weiß bis heute nicht, ob ich die Geschichte glauben will – obwohl Howell sie bestätigt – und ich habe noch nie gehört, daß er lügt!« Er warf Rogers einen giftigen Blick zu. Dann: »Festhalten, der Lift fährt hoch!« Der Fußboden begann sich zu heben und brachte uns näher an die falschen Sterne heran. Es erforderte Mut, sich nicht in Platzangst zu ducken, als die Decke näherkam. Dann waren wir durch – vermutlich auch der Rumpf der ›Little Tom‹, und standen innerhalb des Mutterschiffs über der Andockbucht. »Willkommen an Bord der TPM3C – inoffiziell auch als ›Tom Lehrer Maru‹ bekannt!« Mir blieb der Mund offen stehen. Die weibliche Stimme, die uns so begrüßte, kam von einem Wesen, das halb Tier, halb Maschine war, eine mannsgroße, fußlose Eidechse in einem Patentanzug, ihre eigene, gum-
miartig grauschwarze Haut umgab ein Paar kluger, brauner Augen über einer verschmitzten, vorstehenden Schnauze. Das Geschöpf ruhte im glänzenden Rahmen eines mit Rädern versehenen Gefährts, mechanische Hände reagierten auf seine Wünsche, als es uns begrüßte. »Feldzeugmeister-Corporal Whitey O'Thraight, Lieutenant Enson Sermander: ich bin Leelalee Eckickeck S'reen. Bitte fühlt euch wie zu Hause, ihr Landwesen. Wir werden in ungefähr sechseinhalb Stunden an unserem Mutterschiff andocken.«
ZWEITER TEIL
Die Freibeuter
9. Kapitel Leelalees Garten 1 In den Salzsümpfen der vespuccianischen Tieflandwüste leben gewisse, seltene, winzige Wesen ohne Beine, die Wasser statt Luft atmen. Ein Tümmler ist etwas Ähnliches, nur ist er größer und hat Lungen wie ein Mensch, behauptet ausdrücklich, Verstand und ein Nervensystem zu besitzen, das feiner und komplizierter ist als das jedes Menschen – und betrachtet sich außerdem als den tollsten Piloten in der bekannten Galaxis. Ich war anfangs nicht sicher, welche dieser Schrullen für Tümmler im allgemeinen galten und welche für Leelalee Eckickeck S'reen eigentümlich waren. Sie war der erste Tümmler, dem ich je begegnet war. Es stimmte auch, daß gut sechs Stunden nicht ausreichen würden, um sie gut kennenzulernen, selbst wenn ich das gewollt hätte. Die Zeit war eigentlich zu knapp, um überhaupt etwas aufzunehmen. Um uns herum waren Leute (ich verwende den Begriff hier so weit wie sie, wobei ich die Vielfalt von Flossen- und Pelzwesen mit einbeziehe, die man sah, soweit das Auge reichte) eifrig damit beschäftigt, durch den Fußboden eines flachen, grünen Tals zu steigen oder zu versinken. Der Angriff der Viren schien einige Eile oder Aufregung ausgelöst zu haben, was nur natürlich war. Ich erinnerte mich an den Schaden, der diesem Schiff vor meinen Augen zugefügt worden war, und fragte mich, in welchem Zustand es sich wohl befände. Schwer zu sagen. Von einer nicht sichtbaren Wand zur anderen zog sich ein dichter Teppich aus Vegetation, willkürlich unterbrochen von Bäumen, manchmal spärlich, oft in dichten Gruppen, und durchwoben von einem komplizierten Netz leuchtend bunter Gummifußwege. Auch von Flossenwegen, wie ich noch entdecken sollte. Wenn der Kampf größeren Schaden angerichtet hatte, dann nicht in diesem Bereich.
Ohne auf irgend etwas oder jemanden zu achten stand der Lieutenant gedankenversunken da, wo das Deck ihn herausgeschoben hatte. Vielleicht hatte er auch einen Kulturschock. In Ermangelung anderer Möglichkeiten wurde die Aufgabe, sein Gepäck zusammen mit meinem eigenen zu tragen, an den Vertreter des vespuccianischen Staates mit dem niedrigsten Rang delegiert, der vorhanden war. Geoffrey Couper begrub meine Hand in seiner Riesenpranke. »Ich habe noch Verschiedenes zu tun. Amüsieren Sie sich gut, mein Sohn, machen Sie eine Besichtigungsrunde. Wir finden Sie schon, wenn es Zeit ist, wieder das Schiff zu wechseln, was, Rog?« Der Praxeologe zog eine Schultertasche dichter an seine Brust, schüttelte mir die Hand, als Couper sie freigegeben hatte und klopfte mir auf den Rücken. »Kippen Sie ein paar für mich! Wir sehen uns bald.« Dann wandten sich alle bis auf Lucille höflich meinem Vorgesetzten zu. Sie schaute mich an, als sähe sie mich zum erstenmal, einen erstaunten Ausdruck auf dem hübschen Gesicht. Dann zuckte sie die Achseln, warf ironisch den Kopf zurück und machte einen Schritt in meine Richtung. Ich konnte gerade noch den Reflex unterdrücken, vor der verkrampften Bösartigkeit, die immer von ihr ausging, zurückzuweichen. Sie stellte sich kurz auf die Zehenspitzen und strich mit ihren Lippen über die meinen. »Das müßte Sie ein paar Stunden beschäftigen, Corporal, bis wir das Feuer gelöscht haben.« Am Ende dieses halben Kusses stand ein kleiner, schmerzhafter Biß auf die Unterlippe. Sie pochte noch lange Zeit danach. Es war nicht das einzige, was pochte. Als sich die Gruppe von der ›Little Tom‹ zerstreute, forderte uns Leelalee, der Tümmler, auf, ihr zu folgen, und wir marschierten in flottem Tempo hinter ihrem glänzenden, mechanischen Rollwagen her. Ich kam gar nicht auf die Idee, sie zu fragen, wohin wir denn gingen, weil ich mir ein wenig Sorgen um den Lieutenant machte, der immer noch kein Wort gesprochen hatte. Man mußte ihn anstoßen, damit er sich in Bewegung setzte. »Was? O… ja… unbedingt, nur zu. Braver Bursche.« Sofort verstummte er wieder. Ich war selbst nicht wenig benommen, aber das hing mehr mit der kleinen Blutblase zusammen, die sich an meinem Mund bildete,
als mit irgendwelchen landschaftlichen Wundern, die die ›Tom Lehrer Maru‹ vielleicht zu bieten hatte. Lucille war ein Mädchen, das Brände gerne damit bekämpfte, indem sie anderswo welche legte. Trotzdem gab ich an den mir richtig scheinenden Stellen bewundernde Laute von mir. Das schien mir nur höflich. »Wie erfreulich, junges Landwesen.« Der Tümmler deutete mit seinem dürren Manipulator auf irgendein interessantes Objekt. »Ich mag das Schiff selbst gerne – und bin nicht sehr angetan davon, wenn es angegriffen wird –, obwohl es lediglich das materielle Ergebnis grober, menschlich-primatenhafter Handhabungsfertigkeiten ist, die ihnen die Evolution anscheinend anstelle von angemessenen, kognitiven Fähigkeiten verliehen hat. Jedoch mußt du, wenn es dich interessiert, offen gestanden abwarten, bis du das Schiff siehst, das wir in Kürze treffen sollen!« Ihr Räderapparat wurde am Ufer eines schmalen Kanals, der parallel zum Fußweg verlief, langsamer. Ich blieb stehen, dann mußte ich den Lieutenant am Ellbogen packen, bis auch er anhielt. Er schaute mich verständnislos an, blinzelte zu der schnellen Strömung hin, in die er fast hineingetreten wäre, und wandte sich dann wieder seinen Gedanken zu. In einer Hinsicht war ich wirklich beeindruckt: Anders als auf der ›Little Tom‹ stieg oder sank hier niemand durch die Decke; sie war vielleicht fünfzig oder auch hundert Meter hoch, in dem dunstigen, hellen Licht war das schwer zu sagen. Leelalee steuerte ihren glänzenden Apparat ins Wasser hinunter. Mit einem fröhlichen Platsch verließ sie ihn und schwamm neben uns weiter. Gelegentlich senkte sich der Pfad, oder der Kanal stieg an, dann war ihre geschmeidige Gestalt durch transparente Stützmauern hindurch zu sehen. An mehreren solchen Stellen standen gewöhnlich, umgeben von überwucherten Lauben, die vor neugierigen Blicken schützten, ein Tisch und Stühle auf den synthetischen Pflastersteinen vor den Wasserfenstern. Leute unterhielten sich durch das Glas mit Tümmlern, das Thema war unweigerlich der unmittelbar vorangegangene Kampf. Man schien sich keine großen Sorgen um die Sicherheit des Schiffes oder seiner Besatzung zu machen, die Stimmung war eher die Unterbrechung einer Routine, einer Art von Feiertag. Ich würde versuchen, mich daran zu
erinnern, wenn ich mich das nächste Mal wieder in ein Fuchsloch im Teppich kauerte. Ein Stück weiter vorne konnte ich eine komplizierte, doppelschlingige Acht erkennen, wo mehrere aufeinander zustrebende Fußwege sich über das Wasser schwangen und ein transparentes Aquädukt sich gegenläufig darüberwölbte. Inzwischen teilten sich viele Schimpansen, Menschen und andere, weniger deutlich erkennbare, zweibeinige, empfindungsfähige Wesen den Luftraum mit den Vögeln, sie hingen an stoffbezogenen Flügeln, stießen herab, segelten und stießen sich lachend von den Baumwipfeln ab. Gelegentlich begegnete ein Landbewohner, mit Plastikverlängerungen an Händen oder Füßen und einer großen Linse vor dem Gesicht Leelalee im Kanal, nickte und schwamm an ihr vorbei. Das schien nur recht und billig: nicht jedes Meereswesen, das wir sahen, hatte seine Räder zurückgelassen. Ich mußte mehreren auf dem Fußweg ausweichen und den Lieutenant beiseite ziehen, ehe er umgefahren wurde. Endlich erreichten wir den Rand des riesigen, parkartigen Raumes, und fast mußten uns die Bullaugen mit den ovalen Türen daran erinnern, daß wir uns innerhalb eines riesigen Sternenschiffs befanden und mit unvorstellbarer Geschwindigkeit dahinrasten. Ich sagte etwas Dementsprechendes zu Leelalee. »Du würdest dich schon daran erinnern, mein schöner Uferwühler, wenn wir uns nicht bewegten!« bemerkte der Kapitän, während sie in ein wartendes Rädergestell schwamm und wieder zu uns auf den Weg kam. »Jeder kostbare Tropfen Wasser, jeder Klumpen sorgfältig kultivierten Bodens würde in einem schlammigen Mahlstrom herumwirbeln. Statt dessen lassen wir eine kalkulierte Ineffizienz im trägheitslosen Feld zu, soviel unkorrigierte Beschleunigung, daß wir ein halbes Standard-g bekommen, wenn dir das etwas sagt.« Um den Rand des Gartens herum zogen sich Schaufensterfronten und Cafes mit kunstvollen, interessanten Fensterdekorationen. War das ein Raumschiff oder ein Einkaufszentrum? Ich wippte versuchsweise ein wenig auf den Ballen meiner patentanzugumhüllten Füße. »Kommt mir ungefähr normal vor, Kapitän.« Zusätzlich zu seinen anderen Vorzügen war Sca mit seinem dichten Kern ein großartiger Platz für die Entwicklung von Senkfüßen. »Was käme eurem Standard näher«, fragte ich, ohne
zu überlegen. »Sca oder Vespucci?« »Woher sollte sie das wissen?« Das plötzliche, höhnische Schnauben des Lieutenant traf mich unvorbereitet. »Sie war doch nicht einmal in der Nähe eines dieser Planeten.« Er warf dem Tümmler einen entschuldigenden, peinlich berührten Blick zu. »Gemeine Soldaten!« Leelalees Drahträder rollten näher und hinterließen diamantförmige Spuren auf den Steinen, die in der warmen Atmosphäre schnell trockneten. »Ganz im Gegenteil, du Wichtigtuer, dieses Sca, wo man euch gefunden hat, kommt auf drei Dezimalstellen an erdähnliche Schwerkraft heran. Euer – Vespucci? Nennt ihr es wirklich so? – scheint eine ziemlich kleine, müde Welt mit annähernd elf Zehntel Standard zu sein.« Er schaute sie erstaunt an. »Wie kannst du…« »Ich… äh… lasse es mir angelegen sein, so etwas zu wissen, Lieutenant.« Sie verstummte. Dann: »Schließlich und endlich bin ich ja der Kapitän.« Das war nun eine Antwort, die Lieutenant Sermander einleuchtete. Er verstummte wieder; wir gingen auf der Promenade weiter und betrachteten die Schaufenster.
2 »Wie sollen wir das alles bezahlen?« Leelalee hatte uns in ein farbenfrohes, offenes Restaurant gesetzt, das sich am Rand des Parks an eine Traube von Läden anschmiegte. Von unserem Platz aus konnten wir über die Landschaft oder in einen wogenden, blaugrünen Tunnel schauen, dank einer transparenten Kanalwand, die direkt durch das Cafe ging. Beide Durchgangsstraßen wimmelten von Passanten eines halben Dutzends verschiedener Spezies. Der Kellner, ein kleiner, drahtiger, kahlköpfiger Menschenmann, in einen dunkelgrünen, in zwei Tönen nadelgestreiften Patentanzug gewandet, bei dem vielleicht sogar Owen Rogers übel geworden wäre, rollte die Augen einen Moment lang deckenwärts, als warte er auf eine göttliche Eingebung. »Hier steht, es geht auf ein Vermessungsdienstkonto. Komisch, ihr Typen seht gar nicht aus wie die Vermesser-Rowdies. Wo habt ihr nur die irren Anzugmuster her?« Er zeigte auf unsere Abzeichen der
vespuccianischen Marinereserve. Ich machte den Mund auf, aber der Lieutenant hob die Hand. »Ich glaube, Sir, wir sind Musterexemplare. Jetzt sagen Sie mir eines: nimmt man zu dieser Mahlzeit Weißwein oder Rotwein?« Ich hatte den Kellner fragen wollen, woher er plötzlich wußte, daß zwei Fremde, die soeben erst in sein Lokal marschiert waren, überhaupt auf irgendeinem Konto waren. Außerdem, wie kam er dazu, von komischen Anzugmustern zu reden? Er glotzte den Lieutenant auf dessen Frage hin an. »Zu Hummerburgern? Wie wär's mit 'ner Cola? Das einzig Wahre. Frische Ladung, und ein sehr guter Monat. Musterexemplare, wie? Ich dachte, die hätte man auch in Flaschen.« »Bitte nicht beim Essen. Wir werden, mit gewissen, verständlichen Vorbehalten, Ihrer Empfehlung folgen. Und jetzt lassen Sie uns bitte allein.« Der Lieutenant musterte das Essen vor uns mit argwöhnischem Blick, dann schaute er, mit etwa dem gleichen Gesichtsausdruck, zu mir auf. »Corporal, es würde mich interessieren, welche Eindrücke Sie bisher gewonnen haben.« »Hm, na ja, ich kann nicht sagen, ob diese kleinen Dinger auf dem Brot da nicht irgendwelche Insekten oder Samenkörner sind. Ich glaube nicht, daß ich sie essen werde.« Draußen wogte ein riesiges, dunkles, schimpansenähnliches Tier vorbei, auf winzigen, an seinen Füßen befestigten Rollen gleitend. Einer seiner massiven Arme steckte in einer silbrigen Gummischlinge. Unvermittelt erblühte ein leuchtend rosa Ballon auf seinem Gesicht, schwoll an, bis er fast so groß war wie der Kopf des Wesens und fiel dann, unter Hinterlassung klebriger Überreste auf der ledrigen Haut, zusammen. Das Ungeheuer blinzelte, wischte sich die Augen und Nasenlöcher, schaute sich um, ob jemand den Unfall beobachtet hatte, stopfte sich die Substanz ins Maul zurück, schob den schweren Waffengürtel höher hinauf und rollte auf den kleinen Rädern weiter. »Nein, Sie Schwachkopf! Ich spreche von unserer Situation – von unseren Erlebnissen – von unseren mutmaßlichen Gastgebern, ihrer Gesellschaft, ihrer Technologie. Es ist mir klar, daß Sie als Beobachter kaum so geschult sind wie ich, aber – wie sind Ihre Reaktionen?«
Ich überlegte und nippte dabei an dem sprudelnden, braunen Wein, den uns der Kellner gebracht hatte. Bisher war ich zu sehr mit Gaffen beschäftigt gewesen, um sehr viel Datenaufbereitung zu betreiben. »Nun, Sir, die ungenierte Art und Weise, mit der man uns herumschubst, sagt mir nicht allzusehr zu. Oh, sie tun es recht höflich, aber trotzdem… noch etwas…« – allmählich wurde ich warm –, »es gefällt mir nicht, wie respektlos Couper Sie behandelt hat. Wegen der Waffen, meine ich, ich hätte…« »Unsinn, mein lieber Junge!« Er winkte lässig mit einer Hand ab. »Das habe ich völlig verstanden. Befehlskette et cetera, et cetera. Da wir gerade davon sprechen, seine scharfe, entschiedene Art hat mir recht gut gefallen. Unter der Fassade schludriger – man möchte fast sagen, zivilistischer – Lässigkeit, die wir ringsum sehen, befindet sich ein stählerner Kern, der ungeniert Macht ausübt. Selbstvertrauen, Disziplin. Kombinationen, die man bei unseren Militärs leider nicht oft genug findet, lassen Sie sich das gesagt sein!« Er nahm einen großen Bissen von seinem Sandwich und machte plötzlich ein sehr sonderbares Gesicht. »Lieutenant!« sagte ich und blickte mich wild um. »So etwas dürfen Sie nie sagen!« »Kommen Sie, Corporal!« erwiderte er, immer noch an seinem Bissen kauend. »Haben Sie selbst niemals derartige Gedanken gehabt?« Er warf mir einen wissenden, zynischen Blick zu. Ohne die Augen von der Tischplatte zu wenden, antwortete ich: »Nun, Sir, selbst wenn es so wäre, würde ich sie nicht laut aussprechen, und ganz sicher nicht in der Öffentlichkeit.« Ich machte eine Geste, die in der Gesellschaft gemeiner Soldaten auf Vespucci seit Generationen bedeutet: »Die Wände haben Ohren.« »Sehr weise und vorausschauend, Corporal – Whitey, diese Leute haben etwas zutiefst Großartiges an sich, und das geht über nichtssagende Erklärungen bezüglich wissenschaftlicher Forschungen hinaus.« Er senkte die Stimme und mit ihr den Kopf, bis er einem vespuccianischen Aasvogel glich. »Offensichtlich ist unsere Expedition – oder was noch davon übrig ist – zufällig über den scharfen Rand eines riesigen, wohlhabenden Imperiums gestolpert. Sie sind an den Grenzen übervorsichtig oder verfolgen allgemein eine Samthandschuhpolitik, aber die Macht ist da, den-
ken Sie an meine Worte. Dagegen wirkt der vespuccianische Weltstaat wie – wie sagt man bei den Mannschaften? Wie ›winzige Rüben‹.« »Lieutenant!« »Still! Ich werde der Sache auf den Grund gehen. Wenn ich…« »Ja, Sir?« »Nun, jetzt ist kaum der richtige Zeitpunkt für unwiderrufliche Entscheidungen, nicht wahr? Sind Sie auf meiner Seite, Corporal?« »Auf Ihrer Seite, Lieutenant?« »Sind Sie bereit, in dieser Hinsicht meiner Führung zu folgen?« »Sie sind der Lieutenant, ich bin nur Corporal, Sir.« Was die unverbindlichste Antwort war, die mir innerhalb einer Sekunde einfiel. Der Lieutenant war entweder ein scharfer Beurteiler politischer Realitäten, oder er stand an der Schwelle zum Verfolgungswahn. In jedem Falle hörte es sich nicht so an, als habe er es furchtbar eilig, sofort nach Hause zurückzukehren. Ich betastete meine mißhandelte Lippe und stimmte ihm im Geiste zu, daß jetzt bestimmt nicht der Zeitpunkt für unwiderrufliche Entscheidungen war. Dann dachte ich an Eleva. Plötzlich leuchtete die Tischplatte unter meinem Sandwichteller auf und sprach meinen Namen. »Whitey?« Ich fuhr zusammen und hätte beinahe das Glas des Lieutenant umgeworfen, dann schob ich das Geschirr weg. Das Bild von Owen Rogers starrte mich dreidimensional und in Farbe an. »Ich bin jetzt endlich aus dieser föderierten Einsatzbesprechung rausgekommen. Unser kleiner Minikrieg hat alle unsere Terminpläne zu Schrott gemacht. Dank sei Lysanders unnachgiebigem Schatten, daß Feldzeugmeister keine Politik betreiben, sonst säße ich noch bis zum übernächsten Rendezvous fest. Haben Sie im Augenblick irgendwas vor?« Ich schaute zum Lieutenant auf, der das Kinn in die Hand gestützt hatte. Er entließ mich mit gereiztem Blick und vertiefte sich sofort wieder in seine Gedanken. »Nein, Owen, offenbar nicht.«
»Nun, dann gehen Sie ungefähr einen Viertelumfang um den Park herum zu einem Lokal namens ›Chuck's‹ – dort treffen wir uns. Ach ja, und bringen Sie Ihren Chef mit. Ich habe eine Überraschung für euch.« Das Bild hinter den verstreuten Brotkrumen, Salzkörnern und den kleinen Samen-Insekten, die ich sorgfältig vom Brot heruntergekratzt hatte, verblaßte. Ich blickte wieder den Lieutenant an und hob fragend die Augenbrauen. »O ja, Corporal, selbstverständlich! Wollen mal sehen, was der Bursche will.« Er erhob sich. Jetzt erst merkte ich, daß Rogers nicht gesagt hatte, in welche Richtung wir uns wenden sollten, wenn wir das Restaurant verließen. Ich unterbrach den Kellner, der in offensichtlich schlechter Laune einen Tisch abräumte. Er schlug sein feuchtes Tuch aus, faltete es dann wieder zusammen und schmierte damit ein wenig auf dem Plastik herum. »Atmosphäre wollen sie, wie? Antike, elektrische Glühbirnen direkt aus dem Atomzeitalter, und stumme Geräte. Das bedeutet, daß ich so mittelalterliche Arbeiten tun muß! Ein Jammer, daß das verfluchte Virus nicht das ganze Ding aufgefressen hat. Was gäbe ich nicht für ein modernes, hygienisches, selbstreinigendes Selbstbedienungs… wie? Chuck's? Na ja, halten Sie sich nach rechts, und so ein Drittel um den Park herum.« Er klatschte mit dem Tuch auf den Boden, faltete es wieder zusammen und wollte an seine Arbeit zurückkehren, dann sah er sich meinen Waffengurt mit seiner Doppellast genauer an. »Sieht nicht so aus, als müßten Sie dort was erledigen, aber – bei der Verfassung, der Kunde hat immer recht. Das hat man mir wenigstens gesagt.« Außer, wenn er durcheinander ist. Trotzdem folgten wir der Beschreibung des Kellners, gingen hinaus auf die farbigen Gehwege, um Bäume, Kanäle, Fußgänger und Fischtypen auf Rädern herum, bis wir einen weiten Platz mit einem Brunnen in der Mitte erreichten. Imitiertes Sonnenlicht ergoß sich über die Szene, mehrere Dutzend Leute schlenderten herum, standen, redeten und ließen ihre Füße ins Wasser hängen. Der Notfall schien vorüber. Ich fragte mich, wann oder ob sie überhaupt je für ihren Lebensunterhalt arbeiteten. Sonderbar, was einem in einer fremden Umgebung alles nicht auffällt.
Als ich jetzt nach etwas Bestimmtem Ausschau hielt, merkte ich, daß in allen Läden etwas Wichtiges, allgemein Übliches fehlte – auf keinem war auch nur ein einziges, geschriebenes Wort zu sehen. Oft stand da etwas, was wie ein Zeichen, eine mehr oder weniger unmittelbar verständliche Graphik aussah. Ansonsten leere Flächen, wo ein Firmenzeichen oder der Name eines Besitzers hätte stehen sollen. Ich legte das zusammen mit anderen, sonderbaren Fakten ab – daß Leelalee alles über Sca gewußt hatte, sogar über Vespucci, ohne die von der ›Little Tom‹ zurückkehrende Mannschaft kontaktiert zu haben. Oder daß der Kellner, nach einem Augenblick auffälligen Nachdenkens, plötzlich gewußt hatte, aus wessen Schüssel wir aßen – aber weder, wer, noch was wir waren. Rogers erwartete uns am Brunnen. »Es ist dort drüben. Kommen Sie!« Auf dem Schild war das holographische Bild einer unbekannten Handfeuerwaffe zu sehen, aber ›Chuck's‹ stand nicht darauf. Das Wesen hinter der Theke war untersetzt, breitschultrig und sah kräftig aus, es hatte einen dunklen Zottelpelz und ähnelte dem, das ich eine Weile zuvor auf den winzigen Fußrädern gesehen hatte, sehr. Es trug einen seltsamen Hut, zwei Teilhalbkugeln verschiedener Größe, segeltuchbraun, die kleinere oben auf der größeren. Eine Art Sonnenhelm, vermutete ich. »Jambo, B'wana! Lange nicht ungawa! Was kann ich für dich tun?« »Spar dir das Swahui, Chuckles. Hab' hier zwei Kunden für dich. Das sind Whitey O'Thraight und Enson Sermader, beide vormals vom Planeten Vespucci. Meine Herren, Charles C. Charles, O. D. Berufskollege von mir, der haarigste, wenn nicht der riesigste Waffenschmied in der bekannten Galaxis. Er ist ein exzentrisches Genie und im Augenblick gerade in Safarilaune. Passen Sie auf, daß Sie nicht in die Usunga steigen.« Charles nahm den Darrick, den ich für ihn aus dem Halter zog, und untersuchte ihn genauestens mit riesigen, schwarzen, überraschend geschickten Fingern. »Entfernt bekannt. Sieht aus wie eine altmodische Lötkanone. Ziemlich blutarm – was hat sie, ungefähr zweiunddreißig?« »Acht Millimeter Darrick.« »Ein recht durchsichtiges Alias in jeder Beziehung. Es heißt Dardick, mit einem zweiten ›d‹.« Er warf Rogers einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ist da bei der Übersetzung was verlorengegangen?«
»Ungefähr fünfzehnhundert Jahre«, erwiderte der Praxeologe. Der Waffenschmied pfiff, dann kam er wieder zur Sache. »Mal sehen: Plastikhülsen, nehme ich an, mit dreieckigem Quer…« »Trochoidal.« »Derselbe Unterschied. Höchstwahrscheinlich mit einem polymeren Speicher zur Abdichtung und Extraktion. Wird hier mit einem Abstreifer gespeist – vierzehn, fünfzehn, sechzehn Stück. Der Rotor hebt sich, wenn man den Hahn spannt oder den Abzug dreht und bildet zwei Seiten der Kammer. Der obere Gurt bildet die dritte. Bäng! – und aus diesem kleinen Schlitz kommt die leere Hülse, keine Ablagerung, kein Rückschlag. Ein automatischer Revolver, bei Albert, oder eine Drehautomatik. Ganz handlich für Krimiautoren, die den Unterschied nicht kennen.« Ich nickte begeistert, weil ich mich über die erste Unterhaltung seit Tagen freute, die ich völlig verstanden hatte. »Aber es gibt doch bestimmt keine Munition dafür?« »Sag nicht ›Tim‹ zu mir. Ich kann sie herstellen lassen.« Er unterbrach sich, denselben Ausdruck tiefen Nachdenkens auf dem Gesicht, den auch der Kellner und viele andere gezeigt hatten. »Tja. Ich werde die Dinger ausmessen und die Maße zum Rendezvous vorausmelden, wenn wir ein wenig Glück haben, wartet die Munition auf dem Mutterschiff schon auf uns. Fünfhundert Runden, ja?« »Ich, äh…« Owen Rogers mischte sich ein. »Laß es auf mein Vermessungsdienstkonto schreiben und mach tausend draus! Der Corporal ist ein bißchen außer Übung.« »Es gibt noch einen Pulverpfropfen.« Ich schluckte, weil ich aus mehreren Gründen nicht in der Lage war, eine passende Antwort zu formulieren. »Eine Scheibe aus demselben Plastik wie die Hülsen.« »Kapiert. Macht's euch bequem, während ich draußen bin.« Er verschwand hinter einem Vorhang. Ich fragte mich, ob er davon gewaschen wurde, während er durchging. Für einen Waffenschmied sah er ziemlich sauber aus, wenn auch die Ränder seines Fells ein bißchen versengt waren. Wahrscheinlich vom Herumbasteln mit Plasmageweh-
ren. Inzwischen klopfte Rogers mit breitem Finger jovial an den durchsichtigen Ausstellungskasten, an dem er lehnte. Wieder fiel mir auf, daß es nirgends im Laden Schilder, Plakate oder Preisetiketten gab. Es war, als hätte man in dieser Kultur das Schreiben niemals erfunden. »Was würde Ihnen zusagen, Lieutenant? Sie können doch nicht so gesellschaftlich nackt herumlaufen. Suchen Sie sich ein Schießeisen aus, das geht auf Kosten des Hauses – oder des Schiffs, wenn Ihnen das lieber ist.« Enson Sermander blinzelte, auf seinem fleischigen Gesicht kämpfte Argwohn mit Erstaunen. Die Wände des Raums waren mit Gestellen voller Pistolen gesäumt; es gab noch fünf weitere Ausstellungstische mit Waffen in verwirrender Vielfalt. Nur etwa ein Viertel davon waren sofort als Feuerwaffen erkennbar, alles übrige war unbekannte Technik. Einige waren offensichtlich Projektilwerfer, aber mit welcher Energiequelle? Andere schossen anscheinend reine Energie, wie die Waffen, die ich mit so gräßlicher Wirkung auf Sca im Einsatz erlebt hatte. Keine einzige, landläufige Flinte – oder Schrotflinte – war zu sehen. Wie bei der Schrift schienen die Erdianer über dieses Konzept noch nicht gestolpert zu sein, obwohl sie selbst ein paar einmalige Ideen hatten. Der Lieutenant räusperte sich. »Ich weiß diese Geste zu schätzen, Praxeologe, wirklich. Jedoch sind Handfeuerwaffen lediglich Insignien, Autoritätskennzeichen. Sie dienen sonst keinem praktischen Zweck; mit einer Handfeuerwaffe kann niemand etwas treffen. Wenn also hier wirklich jeder ungehindert eines von den Dingern erwerben, besitzen und tatsächlich tragen kann, finde ich…« Er ließ unausgesprochen, was er meinte. Im Gegensatz zu Rogers: »Könnte man einen Offizier, einen Herren, mit einem von den Bauern verwechseln? Okay, Lieutenant, es ist Ihr Leben, und wir sind hier in einem freien System – vergessen Sie nur nicht, daß in der Solaren Konföderation die Offiziere, die wir zulassen, keine Lakaien haben, die das Töten für sie erledigen. Vielleicht wollen Sie es sich noch überlegen?« Das Gesicht des Lieutenant nahm eine erschreckende, purpurrote Tönung an. Er machte gerade den Mund auf, um Owen Rogers in irgendeine Jenseitswelt zu jagen, als Charles C. Charles gerade rechtzeitig wieder
auftauchte, um die Katastrophe zu verhindern. »Okay, Whitey, da haben Sie Ihr Eisen. Wir halten den Kammerdruck für die erste Zeit auf fünfundzwanzig K, nur zur Sicherheit, aber wenn Sie je das Gefühl haben, mehr Kraft zu brauchen, so kann die Metallstruktur der Waffe behandelt werden – und besseres Plastik ist auch zu haben.« Er klopfte mit einem breiten Nagel auf den oberen Behälter der Darrrick-Dardick, während er das sagte. Rogers wackelte mit den Augenbrauen und rollte die Augen, als müsse er sich sehr zurückhalten, um nicht zu fragen, was es für einen Sinn haben sollte, eine Kaktusblüte zu vergolden. »Hm, danke. Wo… wann kann ich…« »Genau hier, nach dem Rendezvous…« Der pelzige Riese stand einen Augenblick lang still, seine Aufmerksamkeit war anderswohin gerichtet. Dann: »… das ein wenig früher als geplant stattfinden müßte, glaube ich. Wir sind in Schwierigkeiten geraten, und da kam Mama gleich angelaufen.« Es wurde gerade dunkel, als wir den Laden verließen. Es dauerte einen Augenblick, bis mir einfiel, daß wir uns nicht draußen auf der Oberfläche eines Planeten befanden. Über uns lief ein Schauspiel ab, wie ich es an Bord der ›Little Tom‹ gesehen hatte, aber in viel größerem Maßstab. Während weiches Licht in dem waldigen Park aufleuchtete, glitzerten zum erstenmal die wirklichen Sterne auf uns herunter. Zwei von ihnen wurden größer und wuchsen sich zu vollkommenen Kopien der ›Tom Lehrer Maru‹ oder ihrer kleinen Hilfsschiffe aus: leuchtend weiße, umgekehrte Schüsseln, glatt, mit weichen Konturen, die aber doch vor aufgestauter Energie zu vibrieren schienen. »… Chuck sehen, wenn er als Nanook des Nordens auftritt«, sagte Rogers gerade, während wir den Ereignissen über unseren Köpfen zuschauten. Für ihn mußte das eine alte Geschichte sein, dachte ich, er schien es kaum zu bemerken. »Ein Gorilla mit zwei Pelzmänteln, das ist schon ein bißchen übertrieben.« »Draußen wuchsen die beiden Schiffe schon wieder! Eines davon kam näher – oder wir näherten uns ihm, so etwas war relativ. Genau wie sich
die ›Little Tom‹ in eine Nische unter der sehr viel größeren ›Tom Lehrer Maru‹ geschmiegt hatte, so wurde jetzt das Schiff, auf dem wir uns befanden, fast zur Bedeutungslosigkeit verkleinert, als es auf eine der sieben Andockbuchten auf der unteren Fläche eines ungeheuer viel größeren Schiffes zusteuerte. Ich schätzte, daß dieses ›Mutterschiff‹, von dem alle gesprochen hatten, so etwa drei- bis viertausend Meter im Durchmesser haben mußte. Drei oder vier Kilometer! Nun, ungeheuer war kaum der…« »Zwei Komma eins null metrische Jeffersonmeilen«, bemerkte Rogers, als könne er meine Gedanken lesen – eine Möglichkeit, die ich allmählich ernsthaft in Betracht zog. Das zweite Schiff, ein genaues Gegenstück des ersten, hielt sich entfernt, während wir uns an Ort und Stelle manövrierten. Ich fragte mich, warum es hier war, worauf es wartete. »Aber warten Sie nur ab«, sagte der Waffenschmied-Praxeologe. »Sie haben noch nichts gesehen.« Die Sterne verdunkelten sich kurz, wurden beim Andocken ausgelöscht, dann erschienen sie wieder, als könnten wir durch das Mutterschiff schauen – als seien wir jetzt ein Teil des Mutterschiffs und sähen alles aus seiner Sicht. Vor uns lag immer noch dieses zweite Schiff, das jeden Augenblick größer wurde, sich ausweitete, wuchs, das Universum von Rand zu Rand verschlang. Ich schluckte, als meine angeschlagene Größenvorstellung noch eine schwindelerregende Neuorientierung durchzumachen hatte. Unter dem Schiff warteten sieben riesige Andockbuchten! Das erste Schiff war nur der Vermittler gewesen. Jetzt bereiteten wir uns darauf vor, uns mit seinem Mutterschiff zu treffen, fuhren hinauf in eine riesige Schüssel, glatt, strahlend weiß; die Sterne erloschen wieder, flammten diesmal nicht mehr auf. Das Tageslicht wurde wiederhergestellt, der Garten geriet in Bewegung – der winzige Hinterhofgarten von Leelalee. »Tom Paine Maru!« rief Owen Rogers aus und grinste so heftig, daß ich glaubte, sein Gesicht würde in zwei Hälften zerspringen, wenn er noch weitermachte. »Siebeneinhalb Meilen im Durchmesser – etwas mehr als zwölf von Ihren Kilometern, wenn ich das richtig verstanden habe. Und hier steigen wir aus!«
10. Kapitel Sammelbecken für Informationen 1 G. Howell Nahuatl besuchte mich gleich am nächsten ›Morgen‹ in dem mir zugewiesenen Quartier. Ich war schon auf. Die Tür wurde durchsichtig, draußen auf dem Niedergang konnte man ein vierbeiniges, fellbedecktes Geschöpf erkennen, das sich geistesabwesend mit einem Hinterfuß in der Gegend seines vielfarbig leuchtenden Halsbands kratzte. »Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« rief ich, als ich frisch geduscht aus dem Badezimmer in die Hauptkajüte trat. Ich mußte jemanden fragen, wie man sich hier rasierte; mein Bart juckte, obwohl er gar nicht so fürchterlich aussah – etwas unmilitärisch, aber das galt auch für das Anzugmuster, das ich hastig einprogrammierte: acht oder neun feine, graubraune Schattierungen und die Illusion eines haarigen Materials, das zur natürlichen Färbung meines Besuchers paßte. Der Kojote überlegte. »Aber ja«, antwortete er über den Türkommunikator. »Es ist gerade sechs. Ach ja, für dich sechshundert, Corporal. Ich dachte, du würdest gerne die Gelegenheit nützen, ein paar deiner Fragen beantwortet zu bekommen.« Rogers hatte sich mit dringenden Geschäften entschuldigt und mich fast unmittelbar nach unserer Ankunft am Abend zuvor mit dem bemerkenswerten Geschöpf aus seiner bemerkenswerten Geschichte bekanntgemacht, das so ganz anders war als die Primaten oder Waltiere, die ich bisher kennengelernt hatte. Aber ich hatte nur gerade noch so viel Energie gehabt, daß ich mich zu meiner Unterkunft führen ließ und in erschöpfte Bewußtlosigkeit fiel. Undeutlich erinnerte ich mich auch daran, daß man sich um den Lieutenant gekümmert hatte. Und daß mir der Hund versprochen hatte, mir am nächsten Tag weitere Führerdienste zu leisten.
Er – der Hund, nicht der Lieutenant – biß sich plötzlich in die Schwanzwurzel und wandte sich dann mit gemessener Würde ab, um zu warten. Da ich glaubte, daß meine erste Frage – wann wir nach Hause kommen würden? – anscheinend niemals beantwortet werden sollte, wickelte ich mir den Pistolengurt um die Mitte und kontrollierte jedes Magazin. Als ich die letzte Anzugnaht versiegelte, fragte ich: »Können wir vorher noch Kaffee trinken? Welcher Drill steht heute morgen an, Howell?« Die Tür weitete sich. Howell saß da, genau wie zuvor, nicht schärfer oder sichtbar wirklicher als dank der raffinierten Bildvermittlungselektronik. »Welcher Drill?« Ich konnte nicht erkennen, ob er durch die Frage oder durch mein Patentanzugmuster, das eigentlich ein Witz sein sollte, verwirrt war. »Ach ja!« erwiderte er schließlich. »Du meinst ›Was wollen wir jetzt tun?‹ Nun, wir werden uns den Kaffee besorgen, an den du dich so schnell gewöhnt hast – sofort nachdem wir deinen Waffenkameraden abgeholt haben. Ich werde euch beide in die Schule führen, zu eurer ersten Lektion in Freibeuterei zum Spaß und zum Gewinn.« Er blinzelte und kratzte sich an einem Ohr. »Weißt du, entweder wird das Ungeziefer allmählich gegen meinen Duschvorhang immun, oder ich muß meine Schaltkreise nach einem völlig anderen Insekt durchsehen lassen.«
2 Wir gingen ein paar Meter weit den Korridor hinunter zu einem Transportfleck. Die lässigen Farbmischungen der Ausstattung und das Fehlen geschriebener Schilder brachten mich noch immer etwas durcheinander. Ich zog an meinem Waffengurt und machte ihn ein Loch weiter. Das Leben an Bord der Konföderationsschiffe hatte auf meine Taillenweite schon eine ebenso unmilitärische Auswirkung wie auf meine Körperpflegegewohnheiten. »Freibeuterei?« »Ein kleiner Witz. Warte einen Augenblick, ehe du mir folgst.«
Er zögerte selbst, dann trabte er auf den scharlachroten Teppich, der eine Fläche von zwei Quadratmetern bedeckte. Ein genauso großer Abschnitt bedeckte die Wand dahinter. Er ging direkt darauf zu, als ob sie gar nicht existiere, dann war er verschwunden. Ich glaubte selbst im hellen Morgenlicht nicht, daß ich mich an diesen besonderen Anblick jemals gewöhnen würde. Howells Kopf schnellte noch einmal aus der Wand. »Na, Whitey, kommst du?« »Ja«, sagte ich tapfer, aber meine Augen wurden glasig. Ich trat in die Wand, wie Howell es getan hatte. Nichts war zu spüren. Schwärze, Schweigen umgab mich, dann befanden wir uns beide auf einem senffarbenen Flecken und schauten in die entgegengesetzte Richtung, von einer Wand weg, Hamilton weiß, wie weit von unserem Ausgangspunkt entfernt. Der Kojote schaute mich mit einem Ausdruck an, den mein ungeübtes Auge für Mitgefühl hielt. »Man muß sich schon daran gewöhnen, wie ein Darminhalt befördert zu werden. Wenn es dir ein Trost ist, mich mußte man beim erstenmal durchtragen, mit Drogen vollgepumpt und halb im Koma, während der elektronische Teil meines Bewußtseins zu dem Schluß kam, daß mich die Wände nicht wirklich auffraßen.« Er seufzte. »Es sieht so aus, als seien einige meiner Hundeinstinkte schwieriger zu unterdrücken als andere. In dieser Hinsicht kannst du dich glücklich schätzen.« Er zwinkerte mir zu, wedelte einmal fröhlich mit dem Schwanz und trabte zu einer Tür, die nicht weit entfernt vom Korridor abging. »… was wollen Sie?« bellte eine vertraute Stimme, als ich ihn einholte. Auf unserer Seite blieb die Tür undurchsichtig, der Lieutenant war vor unseren Blicken geschützt. »Ach, Sie sind es nur. Warten Sie, bis ich mir etwas angezogen habe.« Sermander hatte noch nicht gelernt, bequem in seinem Patentanzug zu schlafen. Die Tür verschwand, er stand vor uns, im Muster der Marinereserve, mit seinem üblichen Vizekönigstonfall. »Haben Sie beide eigentlich eine Ahnung, wie spät es ist?« »Heute morgen hält mich jeder für ein Chronometer – glauben Sie, ich habe einen Tick?« Er blickte mich an, um zu sehen, ob ich den Witz zu
würdigen wußte, dann kratzte er sich trübsinnig. »Es ist genau sechs siebzehn, Lieutenant, eine schöne Dämmerung in der Jahreszeit Ihrer Wahl. Möchten Sie Kaffee, oder wollen Sie uns gleich hier fressen?« Der Lieutenant schoß dem kleinen Hund einen haßerfüllten Blick zu, dann beherrschte er sich. »Kaffee – ja, etwas zu essen. Wie sieht die Tagesordnung heute aus, Nahuatl, wieder eine Runde zweckloses Philosophieren?« Wir verließen die Kajüte und gingen zurück zum Transportfleck. »Zwecklos? Kaum, Lieutenant, wie ich gerade dem Corporal erklären will. Wenigstens werden Sie anfangen, die Funktionen des Schiffs…« Sermanders Augen leuchteten auf, aber er hielt den Mund, als er in die Wand trat. Schwärze, Stille. »Kaffee und Frühstück für zwei Personen«, bestellte Howell, als wir durch den Teppich auf einen anderen Fleck traten. Der Schimpanse, der uns empfing, nickte und wollte sich abwenden. Howell rief: »Und ein Paar zarte Lammkotelettes, roh, wenn du schon dabei bist, ja, mit einem Glas gekühltem Rose. Meine Herren?« Ich blinzelte. Wir waren von dschungelartigem Blätterwerk umgeben, das Verkehrsgewühl der vielen Spezies war irgendwo dahinter zu vernehmen. Der elastische, lavendelfarbige Laufsteg führte am Rand einer weiten Wiese entlang. An ihrem anderen Ende stieg eine Gruppe von Wesen, klein wie Insekten wirkend, mit Seilen untereinander verbunden eine Felswand herunter. Dazwischen leuchtete ein schwacher Schimmer in der Luft. Der Bereich war irgendwie unterteilt worden und bildete eine eigene Klimazone. Auf der anderen Seite wirbelte Staub, ein frischer Wind fächelte Sand auf der Spitze des Felsens zu lockeren Wellen zusammen. Es war fast so ähnlich wie zu Hause. Howell sah, daß ich mich dafür interessierte. »Für Sodde Lydfe«, bemerkte er. »Eine schwierige Welt. Diese Bedingungen hier kopieren die nasse Jahreszeit am Äquator. Nicht gerade meine Vorstellung von Erholung.« Wir blieben stehen und schauten zum Fuß der Klippe hinüber, wo
zwei Gestalten auf ein wütendes, orangefarbenes Vieh mit vielen Beinen schossen, das sie angriff. Seine zornigen Schreie waren auch auf dieser Seite der Barriere zu hören. Als das Plasma traf, hustete das haarige Wesen einmal, eine Kräuselwelle überlief es, und dann war es verschwunden. »Holo«, erklärte Howell. »Hält sie auf Trab. Wollen wir weitergehen?« Der Weg tauchte wieder in den Wald und führte über eine Lichtung, wo ein Dutzend Schimpansen flache Stahlmesser auf ein Ziel zwischen den Bäumen warfen. Die Messer blieben mit einem dumpfen Aufschlag stecken. Fröhlich schnatternd gingen die Primaten nach vorne, um sich ihre Eisen wiederzuholen. »Auch Sodde Lydfe«, erklärte Howell. »Eigentlich sollten sie ja in Burnussen trainieren, bei heulendem Sandsturm. Anderswo werdet ihr welche finden, die in heißem Wasser tauchen oder Ultralichter in einem Staubtornado kontrollieren. Jetzt, nachdem der Kapitän zurück ist, wird das Training in doppeltem Tempo weitergehen, fürchte ich. Nicht mein Teedeckel. Wir wollen uns in feuchtere Gefilde begeben, was meint ihr?« Der Lieutenant kratzte sich am Kopf und sagte kein Wort. Er war beeindruckt. Hier war Disziplin zu erkennen, eine zielgerichtete Ordnung, die wir beide bewundern konnten. Trotzdem machte ich mir weiterhin Sorgen wegen Howells Bemerkung über die Verdoppelung des Tempos – vielmehr über das Fehlen von Uhren, an das es mich erinnert hatte. Kein einziges Buch oder Schild, keine Etiketten, Produkte oder Artefakte. Keine Thermometer, keine Barometer. Niemand hatte, jedenfalls in meiner Gegenwart, irgend etwas Geschriebenes nachgeschlagen oder etwas niedergeschrieben. Die Leute auf dem Schiff schienen einfach alles zu wissen, ohne Anstrengung, ohne irgendeine Quelle für das Wissen. Ich fragte mich, was der Lieutenant wohl davon hielt, hatte aber noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick dafür: Howell war weitergegangen, während Sermander gedankenversunken zurückblieb. »Disziplin, sagen Sie?« Er flüsterte beinahe. »Versuchen Sie mal, jemanden danach zu fragen. Ihr Vorhandensein wird sofort geleugnet werden! Ich habe wenig Geduld mit dieser gekünstelten Führungslosig-
keit – irgendwo in diesem konföderierten Samthandschuh ist eine eiserne Herrscherfaust verborgen. Ich möchte wissen, wer sie schwingt – und wer sie für sie auf Vespucci schwingen soll!« »Lieutenant! Sie glauben doch nicht etwa…!« »Gehorchen Sie Ihren Befehlen, Corporal – wenn auch nur in Ermangelung eines solideren Kurses. Erkennen Sie meine Führung an, enthalten Sie sich jeden Kommentars und jeder Meinungsäußerung! Ich weiß, Sie sind auf dieses Sodde Lydfe genauso neugierig wie ich, bei all den sorgfältigen Vorbereitungen. Trotzdem warne ich Sie: akzeptieren Sie nur Antworten, die freiwillig gegeben werden. Fragen Sie niemals selbst. Auf diese Weise erleben wir es vielleicht noch, daß wir begreifen, was hier vorgeht.«
3 Wir holten Howell auf dem Purpurweg ein, gerade als uns sorgloses Gelächter entgegensprudelte. »Nahuatl, wenn eure Gemeinschaft hier tatsächlich so fair und aufgrund von gutem Willen funktioniert« – der Lieutenant warf einen verächtlichen Blick auf meinen Pistolengurt –, »dann sagen Sie mir, welchem Zweck all diese kriegerischen Vorbereitungen dienen sollen.« »Sie könnten sich nicht mehr täuschen, Lieutenant!« Howell lachte, ein unheimlicher Laut aus dem Mund eines Hundewesens. »Guter Wille hat nicht das Geringste damit zu tun und – wie sagten Sie, Fairness? – die ist völlig bedeutungslos. Eigennütziges Verhalten in produktiver, wohlwollender Vielfalt ist einfach besser vermarktbar als Aggressivität oder Selbstaufopferung. Oh, das funktioniert hier nur aufgrund von gesunden… aber meine Herren! Wollt ihr euch nicht setzen, damit man das Essen bringen kann?« Der Gummiweg war in einen roten Ziegelhof gemündet, der um ein gewaltiges, blaugetöntes Schwimmbecken herum angelegt war. Überall sah man, auf den Steinen liegend, an einem Dutzend Tischen sitzend, träge im Wasser treibend, eine Ansammlung vernunftbegabter Wesen.
Der Platz wirkte wie das Hauptquartier eines Revolutionskomitees in einem Zoo. Ein Orca, der erste, den ich sah, ein eindrucksvolles Wesen, lag im Becken vor Anker, großartig, schwarzweiß und behäbig. Er rollte sich majestätisch hin und her, um seine empfindliche Haut feucht zu halten und sich gleichmäßig den warmen Strahlen der Lichtquelle auszusetzen. Das Becken war ein Miniatursee; der Orca wurde nicht im mindesten von einer Horde von Tümmlern behindert, die sich mit ihm des Wassers erfreuten. Salzgeruch hing in der Luft. Menschen, Schimpansen, die großen Primaten, die, wie ich erfahren hatte, ›Gorillas‹ hießen, lungerten herum, nahmen ihr Frühstück ein (aßen zu Mittag oder zu Abend – man konnte nie sagen, in welcher ›Schicht‹ jemand gerade war), unterhielten sich leise oder machten ein Dutzend anderer Dinge, und nichts davon schien mit Schule zu tun zu haben. Auf der anderen Seite des Wassers erspähte ich Lucille. Mein Herz machte einen unerklärlichen Satz; ich bekam Atembeschwerden. Sie sah böse herüber, dann wandte sie sich wieder dem großen, braungebrannten Mann an ihrem Tisch zu und legte ihm liebevoll die Hand auf den Arm. Es war inzwischen klar geworden, daß sie mich nicht besonders mochte. Dieses Kompliment konnte ich von Herzen zurückgeben. Und das machte den Stich – von Eifersucht –, den ich angesichts des gebräunten Muskelmannes empfand, sehr unangenehm. Jedesmal, wenn wir miteinander sprachen, endete die Diskussion unweigerlich in höchster Lautstärke. Nur gut, daß wir uns im Augenblick auf entgegengesetzten Seiten des Beckens befanden; in allen anderen Dingen befanden wir uns ja auch auf entgegengesetzten Seiten. »Auf der Erde hat die Entwicklung der Sprache aus einfachen Jagdrufen innerhalb des Rudels«, begann unvermittelt eine kleine Schimpansin – sie stand neben einem weißgestrichenen Tisch unter einem knallbunten Schirm – »eine Periode katastrophaler körperlicher Evolution unter den Prähominiden eingeleitet, die uns bis heute ein widersprüchliches Erbe hinterlassen hat. Die Frage, die vor uns liegt, lautet, ob dieses Muster anderswo unvermeidlich ist.« Sie machte ein paar Schritte auf das Becken zu, blickte verächtlich ins Wasser und fingerte an ihrem Sprachsynthesizerarmband herum, dem
einzigen Kleidungsstück, das sie trug, während der Lärm im Hintergrund erstarb. »Wir sprechen hier von hyperschnellen Veränderungen, die sich zum ersten Mal unter der Kontrolle der sich entwickelnden Spezies vollzogen – aber nur zum Teil. Darin liegt die Tragödie: die Betroffenen hatten nicht die mindeste Ahnung, was da mit ihnen geschah.« Der Mörderwal kreiste um seinen Schwanz, wandte sich zu der Schimpansin und betrachtete sie mit einem sanftmütigen, braunen Auge, das die Schärfe seiner Zähne Lügen strafte. Wellen spritzten über den Rand und färbten den Ziegelboden dunkel. Die empfindliche Schimpansin hüpfte aus Angst vor nassen Füßen zurück. »Ist das möglich?« wollte der Orca mit lächerlich schriller Stimme wissen. »Kann etwas, wie du sagst, unter Kontrolle sein und dennoch außer Kontrolle?« »Mein wasserbewohnender Freund«, unterbrach ein nackter Mensch, der am Beckenrand saß und seine Zehen hineinhängen ließ. Sein ordentlich aufgerollter Pistolengurt lag neben ihm auf den Steinen. »Sie dachten, sie täten etwas anderes!« Gelächter ringsum. Ich konnte das nicht komisch finden. Unser Tisch befand sich nahe am Wasser. Mit einem Ohr auf das Gespräch lauschend hüpfte Howell auf einen Stuhl; der Lieutenant stürzte sich ohne ein Wort auf das Frühstück und ignorierte alles um sich herum. Ich setzte mich zerstreut und versuchte, aus alledem hier schlau zu werden. Ich dachte an Eleva und fragte mich, ob irgend etwas, was ich hier erfuhr, uns helfen konnte, nach Hause zu kommen. Neben uns spielte ein Gorilla mit einer unbekannten Fremden mit orangefarbenem Fell und dicken, purpurfarbenen Fettwülsten Backgammon. »Richtig«, meldete sich dieses unattraktive Wesen durch den Handgelenksprecher. »Ms. Rotknochen fand einfach, daß Mr. Feuersteinsplitter komischere Geschichten erzählte als seine Rivalen, was ihn, aus typisch menschlicher Sicht, zu besserem Partnermaterial machte. Außer natürlich, er demonstrierte vorher seine Männlichkeit, indem er sie vergewaltigte.« »Zyniker. Vielleicht hat er einfach die süßeren Nichtigkeiten geflüstert.«
Eine Frau, die in einem Anzug herumlag, der so eingestellt war, daß er bis auf ihre Haut alles verbarg, grinste. Eine riesige, getönte Brille saß auf ihrer Nase. Ihre Finger waren vor der Körpermitte ineinander verschlungen, ein Dutzend Zentimeter zu hoch, um so etwas wie Sittsamkeit zu retten. Sie bekam gerade einen leichten Sonnenbrand oder gehörte einer von Natur aus rot pigmentierten Subspezies an. »Die Tatsache, daß wir überhaupt eine Sprache entwickelt haben, widerlegt die Ansicht, daß unsere Spezies – jedenfalls unsere Männer – ihrem Wesen nach brutal seien; sie widerlegt, daß Vergewaltigungen instinktiv oder auch nur besonders verbreitet sind! Wir würden nicht hier sitzen und darüber diskutieren – keiner von uns hätte die Gene, die das ermöglichten!« Zu ihren Füßen flochten zwei schwarzhaarige Kinder farbige Schnüre mit den Fingern zu komplizierten Mustern. Ein Kind schlenkerte zweimal mit dem Handgelenk – das Muster veränderte sich völlig, das zweite Kind kicherte entzückt. Kinder sah man hier überall, menschliche und nichtmenschliche, viele lauschten in gespannter Aufmerksamkeit, andere – in dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht von den Älteren – aßen, tranken aus großen, beschlagenen Gläsern oder dösten in der immer heißer werdenden Sonne, sie strickten, reinigten Waffen, ließen sich bräunen oder spielten alleine oder mit Gefährten. Ein Individuum mit blondem Bart schliff gnadenlos ein riesiges Messer mit gekrümmter Klinge an einem besonderen Stein, hörte dabei zu und prüfte immer wieder die Schärfe an den feinen, goldenen Haaren seines muskulösen Unterarms. Totales Chaos. Schlimmer, ich konnte nicht erkennen, wer wer war: Die Schimpansin, die ich für die Dozentin gehalten hatte und die die Sitzung anscheinend in der Mitte eingeleitet hatte, war an ihren Tisch zurückgekehrt, um über einem Schachproblem zu grübeln und sprach den ganzen Vormittag kein Wort mehr. Drei Meter entfernt saß ein blondes, blauäugiges Mädchen auf dem warmen Ziegelboden, das nicht älter als neun Jahre sein konnte. In einer Hand hielt es einen Stab mit einer Schlinge am Ende, in der anderen einen Behälter mit einer schäumenden Flüssigkeit. Es befeuchtete die Schlinge, zog sie heraus, blies hindurch und setzte Dutzende von spiegelnden Blasen in Bewegung, die, in Regenbogenfarben schillernd, auf der stillen Luft über dem Becken dahingetragen wurden.
»Wichtig ist doch«, dozierte das Kind, während es den Stab erneut in die Flüssigkeit tauchte, »daß die Natur früher die Evolution durch willkürliche Mutationen vorangetrieben hatte, die durch Umweltbelastungen auf ihre Lebensfähigkeit hin gesichtet wurden – eine ziemlich langsame, aber gründliche Vorgehensweise…« Die hochgestochenen Worte hörten sich von dem weichen Gaumen durch die Anfänge der zweiten Zähne hindurch sonderbar an. Das Mädchen pustete wieder und erzeugte weitere Blasen. »Dann begannen sich die Leute plötzlich selbst zu selektieren – oder vielmehr einander – nach einer schmalen Liste von Eigenschaften, ohne eine Vorstellung zu haben, was sie da machten oder welche Folgen es wahrscheinlich zeitigen würde.« Sie erzeugte eine neue, beeindruckende Kette von Blasen und verstummte, um jemand anderen zu Wort kommen zu lassen. Dieser Jemand war ein großer, grauer Delphin, der in den schrägen Untiefen herumplanschte und an einem Ständer mit frisch gegrillten Fischen knabberte. »Genau«, pfiff er durch sein Blasloch, während er weiteraß, »aber ehe wir von den entsetzlichen Folgen übermäßig selektiver Prozesse sprechen, ist es unbedingt notwendig, zu erkennen, daß die Sprache zu dieser Zeit und auch später – Kommunikationsmittel ist sie erst in zweiter Linie – als Grundsubstanz des Denkens, als Programm des Gehirns, ungeheuer viel wichtiger war. Und das wird immer so sein, wenn wir…« »Und jetzt ist er schon wieder drin!« Hinter mir lachte ein Schimpanse. Er schwenkte eine lange Zigarrettenspitze in Richtung auf den Tümmler. »Hackt auf dem Offensichtlichen herum!« Es war nicht offensichtlich: wenn Sprache nicht in erster Linie ein Mittel zur Kommunikation ist, was ist sie dann? Ich beugte mich vor, um das Howell zuzuflüstern; ehe ich dazu kam, knurrte der Lieutenant: »Und deshalb haben Sie mich also um sechs Uhr früh aus dem Bett gezerrt – zu einer Quasselsitzung für Anfänger!« Der Bursche, der das Messer schliff, schlenderte an den Rand des Bekkens. Er war jünger, als ich gedacht hätte, und zorniger. »Norris«, brummte er, um sich vorzustellen, »gerade mit der Peter LaNague frisch von Obsidia gekommen!« Er zeigte mit der Klinge auf seinen dick silbergrau eingebundenen Knöchel. »Ich werde zwei Wochen lang behindert
sein, nur weil Sprache auf dieser verrotteten Dreckkugel weder Kommunikation noch Denken ist!« Er stand da, den riesigen, zweischneidigen Dolch in einer Hand, den sonderbar Y-förmigen Stein in der anderen, die Füße in Kampfstellung gespreizt. Ein Gorilla, den Arm in einer vertraut aussehenden Schlinge, aalte sich neben dem Becken, gegenüber dem jungen Norris. »Das habe ich mir vorgestern geholt, nur beim Training für Sodde Lydfe.« Die verletzte Primatin blickte ihn finster an. »Schon mal von einem kaktusbewachsenen Sandberg abgeseilt? Dort ist die ganze Welt so, und die geplanten Operationen sind viel komplizierter als alles, was wir vor Obsidia machen werden. Es ist ein primitiver Planet – na und? Davon gibt es eine ganze Menge – weil noch fast keiner die ›offensichtlichen‹ Tatsachen entdeckt hat, die in diesem Kurs eigentlich besprochen werden sollten.« Noris nickte widerwillig, drehte sich um und setzte sich wieder auf seinen Platz, ohne dabei aufzuhören, sein Messer zu schleifen. Jetzt, nachdem man mich darauf aufmerksam gemacht hatte, merkte ich, daß ziemlich viele der Anwesenden sich von verschiedenen Verletzungen oder Krankheiten in verschiedenen Stadien erholten. Ein dunkelbrauner Mann mit schwarzem, fest verflochtenem Haar, das ich zuerst für eine Kappe gehalten hatte, war mit grünlichen Flecken von irgendeiner exotischen Infektion bedeckt. Er lag in der ›Sonne‹ und saugte Energie auf, als sei sie ein Heilmittel. Außer Gipsverbänden und Schienen an allen möglichen Gliedmaßen, die diese höchst unterschiedlichen Wesen besaßen, trugen einige flache Verbände, Augenklappen und Rucksäcke, alles aus dem Basismaterial des Patentanzugs. Ich wunderte mich über die letzteren – verdrängte dann den Gedanken. Darin konnte man leicht ein künstliches Herz oder eine Leber tragen. Der Lieutenant schenkte alledem keine Beachtung, sondern wandte sich wieder seinem Frühstück zu, das meine wurde kalt, weil ich gaffte. Es gab viel zu gaffen. »Howell«, flüsterte ich, »ich dachte, eure konföderierten Schiffe hießen alle ›Tom‹ oder ›Bob‹ mit noch etwas und dann ›Maru‹. Jemand hat mir gesagt, daß das ›Schiff‹ bedeutet. Jetzt behauptet dieser Norris, er käme von der ›Peter LaNague‹…«
»Japanisch«, erklärte der Kojote, »eine der vielen alten Sprachen der Erde. Unser Universum ist größer, als die meisten Leute wissen, junger Freund; nicht nur der Raum ist nämlich unendlich, sondern auch die Zeit – auf mehr als eine Art. Ich kann dir nicht alles auf einmal erklären, Freund Whitey, aber wir haben insgesamt drei Flotten. Die ›Tom Paine Maru‹, ›Tom Edison Maru‹ und andere, die zur sogenannten ›Tom‹-Flotte gehören, operieren in einer Art von Weltraum. Die ›Bob Shea Maru‹ und die anderen ›Bobs‹ führen fast identische Operationen durch, sind aber von den ersteren durch die Zeit getrennt – eine andere Art von Zeit als – na ja, dir fehlt der Grundwortschatz, fürchte ich. Die ›Peter LaNague‹ gehört zu einer dritten Flotte, Streifenschiffe, die den Abstand – oder vielmehr, den Unterschied zwischen den beiden durchqueren.« »Ich verstehe«, log ich. »Nein, sicher nicht«, korrigierte Howell fröhlich, »aber das kommt noch, wenn wir uns gehörig anstrengen, das garantiere ich dir.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch im größeren Rahmen zu, das immer noch lebhaft weiterging. Überall unterhielten sich kleine Gruppen von Individuen leise miteinander, anscheinend ohne die anderen zu stören. In einer Ecke neben dem Becken, auf einem mit dichtem Gras bewachsenen Fleck, kämpften zwei Menschenmänner gegeneinander – eine Art von Karate –, sie tauschten Schläge aus, rangen und unterbrachen, wenn sie etwas zum Kursgespräch beitragen wollten. Wahnsinn. »Richtig!« ertönte Lucilles nur zu vertraute Stimme als Antwort auf die Bemerkung des verletzten Gorillas über ›offensichtliche‹ Tatsachen. »Wir kommen vom Thema ab. Ich wurde auf der Erde geboren, wo dieses Problem anfing. Meine Mutter war eine von den Heilerinnen, die sich damit beschäftigen mußten, als die Einwanderungen quer durch die Zeit begannen. Mein Vater war Immigrant, er floh vor einer Regierung, die derjenigen, die unsere vespuccianischen Gäste dort drüben vertreten, an Abscheulichkeit in nichts nachstand, er war eine Art pragmatischer Praxeologe, der, aus irgendeinem Grunde, niemals heimgesucht wurde von…« »Jetzt kommst du aber vom Thema ab, meine Liebe«, sagte Howell
höflich. »Und ich glaube, von allen hier Anwesenden kann ich zum Thema der genetischen Prädisposition als einziger mit einiger Kompetenz sprechen. Ich habe mir die Zivilisation von der menschlichen Rasse ausgeliehen, genau wie ihr Primaten auch, aber ohne den evolutionären Preis zu bezahlen. Die Ursprünge der Waltierkultur sind in den Nebeln einer so uralten Vergangenheit verborgen, daß sie unwiderruflich unauffindbar sind. Das wirkliche Rätsel ist doch dies: Wird eine andere Evolutionsgeschichte, die der Bewohner von Sodde Lydfe, eine andere Einstellung gegenüber der Obrigkeit hervorbringen? Wird eine andere Lage der Zeugungsorgane – am anderen Körperende, von den Ausscheidungsorganen aus gesehen – sich günstig auswirken? Wie beeinflußt ein größerer Geburtskanal ihre Psychologie? Ganz zu schweigen von ihrer ziemlich neuartigen Anzahl von Geschlechtern…«
4 So ging es volle sechs Stunden bis Mittag, die Leute stritten und debattierten über Punkte, die ich nicht verstehen konnte. Schließlich wurde die Sitzung allmählich aufgehoben – nun ja, vielleicht ist ›Wegschmelzen‹ ein besserer Ausdruck dafür. Immer weniger Leute saßen um das Becken und interessierten sich für das Gespräch. Plötzlich sprang das blauäugige Mädchen mit dem Blasenrohr auf und rannte auf uns zu. Es warf beide Arme um Howells Hals und küßte ihn auf die Schnauze. »Ich muß jetzt weg! Koko hat versprochen, mir ein paar amerikanische Flachvideos von Carl Sagan für das Referat über die Geschichte der Xenopsychologie zu zeigen, das ich morgen früh halten muß.« Der Kojote nickte, sobald sie ihn losgelassen hatte, und schob mit seiner rechten Vorderpfote eine goldene Locke des Mädchens zurück. »Das müßte amüsant sein. Ich glaube, die alten Bänder habe ich selbst schon gesehen. Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, daß du den Mann nicht zu ernst nehmen sollst, Mowgli?«
»Och, Daddy, du sollst mich nicht so nennen!« Sie errötete. »Jedenfalls war er ja selbst praktisch ein Kilroy, nicht wahr?« Howell ließ sein sonderbares Lachen hören. »Ein paar Jahrzehnte zu früh und in einer weit, weit entfernten Galaxis. Das ist ein Geisteszustand, Schätzchen. Wir sehen uns beim Abendessen.« Sie hob ihre Spielsachen auf, verabschiedete sich und rannte vom Bekken weg. Er wandte sich uns zu, aus seiner künstlichen Stimme klang Stolz. »Meine Tochter Elsie, meine Herren. Die einzige Studentin der Xenopsychologie in der ganzen Praxeologenmannschaft. Bis vor ganz kurzer Zeit war dies eine Disziplin, die vor allem nach einem Gegenstand suchte. Jetzt ist die Kleine auf einmal die Hausexpertin in einer Krisenzeit, fürchte ich.« Er knabberte an einem Knoten in seinem Fell. »Tja, möchtet ihr noch etwas anderes sehen, den Kreislauf ein wenig anregen oder vielleicht ans Mittagessen denken?« »So ungefähr das einzige, was ich von einem vergeudeten Vormittag gewonnen habe«, beklagte sich der Lieutenant, aber er erhob sich und folgte dem kleinen Mädchen mit verwirrtem Gesichtsausdruck den Weg hinunter. »Howell«, fragte ich, als wir die ziegelgepflasterte Lichtung wieder verließen und in den Wald gingen, »du könntest mir noch eines erklären…« »Doch wohl nicht, daß Elsie ein Adoptivkind ist?« »Nein.« Ich gestand ihm, wie wenig ich den ganzen Vormittag über verstanden hatte. Er versicherte mir wieder, daß in einiger Zeit alles kristallklar werden würde – ich hatte ihm das schon beim erstenmal nicht geglaubt. »Aber – es ist mir peinlich, es zuzugeben – ich weiß nicht einmal, wer eigentlich der Lehrer sein sollte!« Der Kojote blieb auf dem Weg stehen und schaute zu mir auf. »Whitey, das wichtigste Zentrum dieser Morgensitzung warst du, und natürlich der Lieutenant. Und du hast dich absolut großartig gehalten, das kannst du mir glauben!«
11. Kapitel Die Mandarre hört niemand 1 Es ist eine Sache, Wasser anzuschauen, zu würdigen, wie großartig es ist, an einem Ufer zu sitzen und die Füße genüßlich hineinhängen zu lassen, während es einem zwischen den Zehen hindurchschlüpft. Aber oben auf riesigen Mengen von dem Zeug zu fahren und grimmig so zu tun, als genieße man das, das ist etwas ganz anderes. In dieser Hinsicht teilte ich die Vorurteile eines Schimpansen. »Juhuuuu!« schrie eine Stimme von irgendwoher, als eine gewölbte, glitzernde Wand gegen das Boot prallte und es zu kentern drohte. Ein großer, weißer Vogel flog über uns hinweg und gab Geräusche von sich wie eine rostige Türangel. »Jippppeeee! Ich dachte mir, daß dir das gefällt, Whitey!« »Unk!« antwortete ich und schenkte der Stimme ein kränkliches Lächeln. Die Welle ging vorüber – die Wasserwelle, nicht die Welle von Übelkeit, die sie hervorgerufen hatte –, unter Ablagerung kalten Gischts auf dem Kragen meiner Jacke. Koko Featherstone-Haugh, ein strammes, großes Mädchen, das rosa Bänder im dunklen Lockenhaar trug, meine Segelgenossin für diesen Nachmittag, vollführte geheimnisvolle Dinge mit einem Bündel von Seilen und brüllte mir zu, ich solle mich ducken! Die Spiere an der Unterseite des Segels schwang herum und deutete, als sie meine Schädeldecke streifte, lediglich an, welch zerstörerische Kapazitäten sie besaß. Das Boot kippte in die entgegengesetzte Richtung. Mein Magen auch. Ich übergab mich. Irgendwo unter Deck auf diesem beweglichen Folterinstrument bewahrte Koko eine kleine, viersaitige ›Ukulele‹ in einem wasserdichten Behälter aus Anzugstoff auf. An der Taille schleppte sie eine ungeheure Kolbenpistole mit Kugelladung, eine Gabbet Fairfax, Kaliber .50 – unge-
fähr zwölf Millimeter – mit sich herum, ein Geschenk von einer ›lieben vertrauten Freundin‹, wie sie mir sagte. Ach ja, Koko war das Gorillaweibchen, das ich an jenem Morgen am Schwimmbecken kennengelernt hatte. Sie hatte den Arm in der Schlinge. Und weil sie kein Mensch war, wurde sie schnell eines der wenigen Wesen, deren ich mir an Bord des großen Sternenschiffs sicher zu sein glaubte. Da ich außer vespuccianischen Erfahrungen nichts hatte, wonach ich mich richten konnte, und noch nie Leuten wie den Menschen hier begegnet war, wußte ich nicht genau, was ich von ihnen halten sollte. Couper: Ein Mann, auf den man sich stützen konnte, groß, hart, häßlich – auf Vespucci schickten Offiziere wie er routinemäßig andere Männer in den sicheren Tod und erklärten ihnen dabei, alles sei in bester Ordnung. Owen Rogers: Handwerker wie ich, aber mit einer eindeutig konföderierten Einstellung – was immer das letztlich bedeuten mochte. Howell, der wie Koko nicht im mindesten menschlich war, mochte ich. Dieser kleinen Hexe Lucille traute ich nicht weiter, als ich sie werfen konnte. Und das war, so wie sie trainiert war, nicht sehr weit. Früher an diesem entsetzlichen Vormittag hatte ich mit dem Lieutenant gesprochen. Er war fasziniert von dem großen Schiff, von allem, was an Bord war und von der offensichtlichen Hingabe an eine Sache. Er schien begierig darauf, wie Rogers es nannte, ›in dem Stück mitzuspielen‹. Wie konnte ein kleiner Corporal darauf bestehen, daß sein Vorgesetzter sich sorgfältiger überlegte, wie wenig wir eigentlich über die Handlung des Stücks wußten?
2 »Corporal, seien Sie kein Narr!« Wir waren im Quartier des Lieutenant – eine Vierkabinen-Suite mit breiten Fenstern, die auf die Version der ›Tom Paine Maru‹ von einem Ozean hinausgingen. Ich stand schon bis zu den Knöcheln in einem sandfarbenen Teppichboden und schaute mehrere schwindelerregende Stockwerke weit hinunter auf diesen gefährlichen, schaumgefleckten Spiegel, der unter einer künstlichen Sonne glänzte. Ich wartete angstvoll
auf die neuen Erlebnisse dieses Vormittags. Obwohl es noch so früh war, hatte ich Gruppen von Leuten getroffen, die unter dem strahlenden Himmel Sprachunterricht nahmen, und hatte gesehen, wie in Räumen, an denen ich vorbeikam, spezielle Gegenstände hergestellt, angepaßt und ausprobiert wurden. Wiederholt hatte man mir gesagt: »Ach, das ist nur für Sodde Lydfe« – und dann wurde das Thema gewechselt. Ich mußte mit meinem Boß die Notizen vergleichen und herausfinden, was er entdeckt hatte. Da Sermander selbst keinerlei künstlerische Neigungen hatte – seine Begabung bestand mehr darin, andere zu irgendwelchen Dingen zu überreden – hatte er Howells kleines Mädchen dazu gebracht, ihm ein 360°Holo einer weniger tödlichen Wüste, einen Planeten namens Wyoming, aus einem ziemlich umfangreichen, konföderierten Katalog solcher Bilder auszuwählen. Drei Wände waren damit dekoriert, und so war der Eindruck von Möbeln inmitten von Sand und Gestrüpp geschaffen worden. Sie hatten die Sonne gedämpft und sichtbare Vegetation verschrumpeln lassen, bis es wirklich aussah wie die Zentraloase auf Vespucci in der Zeit, die man dort für Frühling hält. Ich kann nicht sagen, daß ich Heimweh verspürte: ich hatte dort eine Schlacht erlebt, während des Endkrieges. Zehntausend Tote. Koko war ich offiziell am Abend zuvor in einem ›DinerTheater‹ vorgestellt worden, das mein Praxeologenfreund unbedingt hatte besuchen wollen, eine TPM-Amateuraufführung des Musicals ›Lose Lippen‹, soviel ich verstand, nach einem alten Klassiker über eine junge Mutantin, den Arzt, der ihr beibrachte, ihre Besonderheiten gewinnbringend einzusetzen und die vielen Männer, deren Probleme ihre einmaligen Gaben lösen halfen. Ich wurde während der gesamten Vorstellung ständig rot. Als ich Koko erkannte, machte ich den Fehler, ihr zu sagen, wie gut es mir am Schwimmbecken gefallen habe. Ihr gebrochener Arm war inzwischen wieder in Ordnung, es hatte dank der medizinischen Technik der Konföderation nur ein paar Tage gedauert; das gedachte sie zu feiern, indem sie seine Unversehrtheit erneut aufs Spiel setzte, auf hoher See. Vom Theaterstück abgelenkt begriff ich erst später, daß sie mich als Begleiter rekrutiert hatte. Ehe ich an diesem Vormittag meine dubiose Verabredung mit dem seefahrenden Gorilla einhielt, wollte ich dem Lieute-
nant unbedingt meine Zweifel mitteilen und ihn fragen, was er davon hielt. Er sagte es mir. »Corporal, dieses Schiff mißt mehr als zwölf Kilometer – zwölf Kilometer! – im Durchmesser. Diese Leute – wenn wir sie schon so nennen müssen – gehören zu einem noch gewaltigeren… stellen Sie sich nur die Industrieeinrichtungen vor, die solche Gebilde herstellen können! Stellen Sie sich die Energiequellen vor! Die Ortsnamen, die wir hören, die Produkte, die wir zu kosten bekommen, verraten ein Imperium, das größer ist, als Vespucci es sich jemals träumen ließ!« Er trat zu einem Schrank neben der Tür, goß sich einen Drink ein, stürzte ihn hinunter und schenkte sich noch einmal ein. »Das ist größer als Ihre kleinlichen Bedenken, O'Thraight, größer als Sie selbst – aber, das versichere ich Ihnen, nicht größer als Enson Sermander!« Aus irgendeinem Grund schien er sich an der glasverkleideten Seite des Raumes unbehaglich zu fühlen. Die Aussicht war ein wenig bedrückend: weit jenseits des Wassers, in Dunst gehüllt, schien fast am Horizont eine Stadt zu sein mit schimmernden, hohen Gebäuden. Er ging vor einem Sofa nahe der klaustrophobischen Sicherheit der Tür zum Korridor auf dem Teppich auf und ab, eine Hand in die Hosentasche geschoben, die andere um sein Glas gekrampft. Er schien sein Gemurmel eher an den Fußboden als an mich zu richten. »Ja, ja, ich weiß, wie sich das anhört. Aber lassen Sie uns doch den Tatsachen ins Auge sehen, Corporal, lassen Sie uns realistisch sein.« »Ja, Sir«, antwortete ich, mein Blick wurde kurz abgelenkt. Draußen schwebten mehrere Individuen mit riesigen, vielfarbigen, dreieckigen Flügeln über den stampfenden Wogen. »Genau das versuche ich ja, Sir. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich gut Freund mit Leuten sein soll, die ich nicht verstehe. Ich möchte wissen, ob Sie glauben, daß man ihnen vertrauen kann.« »Unwichtig, Corporal – Whitey – man kann darauf vertrauen, daß sie sind, was immer sie sind, und tun, was sie schon getan haben, nämlich eine stellare Hegemonie mit unvorstellbaren Reserven im Hintergrund schaffen. Denken Sie nach, Mann: Bei einer Auseinandersetzung mit unserem mickrigen Weltstaat wird Vespucci keine Mikrosekunde lang
standhalten!« »So ungefähr dachte ich auch, Sir, aber ist das nicht skandalös, unloyal, unpatrio…?« »Aber so denken Sie doch nach!« verlangte der Lieutenant wieder. »Was fordert wahre Loyalität? Wir müssen überleben, in Erfahrung bringen, soviel wir können, und am Tag der Auseinandersetzung zurückkehren mit einem Wissen um diese Leute, mit der Fähigkeit zu verhandeln, einzuschreiten, zu…« Zu herrschen, dachte er, da war ich sicher. Der Lieutenant sah sich selbst schon als konföderierten Vizekönig auf Vespucci, wie er unsere Unabhängigkeit vernichtete, um sie zu retten. »Aber Sir!« »Aber nichts, Corporal!« Er seufzte dramatisch. »O je, wie wahr ist es doch: Die unteren Schichten verteidigen das System unweigerlich am heftigsten. Corporal, ich versuche gerade, einen Termin beim Kapitän dieses Schiffes zu bekommen, wer immer er sein mag. Ich erwarte jeden Augenblick seinen Anruf. Ich werde ihm mein Wissen über unseren Planeten anbieten, meine Weisheit zur Förderung friedlicher Kontakte zwischen beiden Zivilisationen. Vespucci braucht in diesem Augenblick seine hellsten Köpfe, seine stärksten Hände, all seine Entschlossenheit…« Und seine stärksten Mägen. Ich hatte diese Rede zum ersten Mal mit fünf gehört, als eine Kürzung der Milchration verkündet wurde. Ich sagte mir, daß er nichts dafür konnte; er war eben Offizier. »… um zu überleben! Ihnen vertrauen? Auf lange Sicht ist es eine Investition. Arbeiten Sie mit ihnen, essen Sie mit ihnen – schlafen Sie mit ihnen, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen einen Orden für überdurchschnittliche Pflichterfüllung verleiht, sobald wir nach Hause kommen.« Sobald wir nach Hause kommen. Schon jetzt klang das allmählich wie eine unerfüllbare Phantasterei. In einem hatte der Lieutenant recht: Wir waren hilflos, angewiesen auf die Konföderierten in bezug auf unsere Rückkehr nach Vespucci, auf unser tägliches Überleben, sogar auf unsere Kleidung.
»Wenn Sie meinen, Sir.« Vor einem Jahr, vor einem Monat noch hätte ich Sermanders Einstellung ganz normal gefunden. Er blickte mich finster an, dann zuckte er zusammen, als der ferne Horizont in sein Blickfeld kam, der gewaltige, Agoraphobie erzeugende Abgrund gleich vor den deckenhohen Fenstern. »Sir«, meinte ich, »Sie können diese Dinger zumachen, wenn Sie wollen. Sie brauchen nur den Knopf am Sockel zu drehen.« Ich demonstrierte es ihm: die Fenster wurden langsam undurchsichtig. Genauso schnell legte sich das Wüstenpanorama rundherum und umgab uns sicher mit einer pseudovertrauten Atmosphäre. Sermander schien leichter zu atmen. Er trank aus und goß sich noch einen Drink ein. »Verschwinden Sie, Whitey! Gehen Sie – wie sagten Sie doch? – segeln! Denken Sie darüber nach, welche Rolle Sie in einer konföderiertvespuccianischen Ordnung spielen könnten; vielleicht nimmt das die Stärke aus Ihrem übersteifen Kragen.« Ich verschwand.
3 »Seit Tagen sitz' ich hier rum und warte still und fromm. Ich hoffe nur, daß mein Gesicht versinket nicht – im Strom. Die Gänseblümchen dort im Gras, drei Meter schon sie klomm'n, und waren doch erst noch ganz klein, als sie im Frühjahr komm'n… Du, Schmetterling, so sage mir, warum ich dich nie seh'? Ich lasse doch die Freude dir; danach kommt ja das Weh. Ich hab' es satt, ich will nicht mehr verrosten an der Wand… Allein sein kann ich auch allein, das hab' ich nun erkannt…!« Koko stand auf der Brücke, fing noch einmal mit ›Du, Schmetterling…‹ an und wiederholte die letzte Zeile. Als sie fertig war, war ich mit den Akkorden klargekommen – man quetschte seine Finger zwischen den eingelegten Drähten auf die Saiten, als ob es Knöpfe wären. Ich wollte es unbedingt versuchen.
Sie reichte mir die kleine Kiste, ein bemerkenswert primitives Artefakt für eine so fortgeschrittene Kultur. Ich merkte, daß ich die Fingerpositionen für die letzten beiden Mandarre-Reihen auslassen und ganz hörbar, C, F und G7-Akkorde spielen konnte. Ich zupfte an den Saiten, wo sie über eine akustische Öffnung im Schallkörper führten, fast als wären sie Steuerschaufeln. Der Klang war primitiv, aber irgendwie ansprechend wehmütig. Koko versprach, mir ein Lied namens ›Ukulele-Lady‹ zu zeigen. Inzwischen zog die Dame, während ich mit ihrer Ukulele herumexperimentierte, eine Zigarre aus einer Tasche an ihrem Waffengurt, zündete sie an, legte sich im Sand zurück und sah zu, wie die Wellen hereinrollten. Wir saßen auf einer Düne am Rand des Wassers – ihr kleines Boot war auf den Strand gezogen, das leuchtend bunte Segel eingerollt. Im ›Westen‹ ging die künstliche Sonne unter, so spektakulär wie nur irgendeine – außer vielleicht auf Sca. Wir waren nicht allein am Strand, obwohl die Konföderierten einander viel Ellbogenfreiheit lassen, wenn man sie nicht zum Gegenteil auffordert. Auch andere Leute saßen da und beobachteten den Sonnenuntergang; mehrere sammelten Trümmer vom Wasser abgeschliffenen Holzes. Eine größere Gruppe spannte ein Netz zwischen in den Sand gesteckte Pfähle und schlug einen Ball darüber, mit den Händen, mit den Köpfen – sogar mit den Füßen. Einer dieser eindrucksvollen Kicker war, wie sich herausstellte, der verletzte Norris aus der gestrigen ›Unterrichtsstunde‹. Blond, mit Bart, untersetzt und klein – fast winzig. Trotz des Verbandes an seinem Bein machte er einen guten Eindruck, wie er sich so drehte und wand. Sein unverletzter Fuß war ein tödliches Instrument. Ich wandte mich an Koko. »Erzähl mir von Obsidia!« »Ssssss – was?« Sie wachte gerade rechtzeitig auf, um zu verhindern, daß ihr die Zigarre ein Loch in den Pelz brannte. »Wo hast du von Obsidia gehört? Ach ja… das ist noch so ein primitiver Planet, Whitey, unsere nächste Station, den Wissenschaftlertypen zufolge. Den Namen haben wir ihm einfach zugewiesen, der Tech-Ebene angemessen; es gibt ungefähr eine Zillion Stämme, Nationen, Imperien dort, und alle nennen sie in ihrer Muttersprache den Planeten ›Dreck‹. Das Leben dort ist nach
deinem Standard gräßlich, viehisch und kurz, dank weitverbreiteter Opferung vernunftbegabter Wesen und einer herrschenden Priesterschaft in dem, was wir lachend als die führende Kultur bezeichnen – den alten Azteken ähnlich – wenn dir das etwas sagt.« Das tat es nicht. »Das ist für eine Weile unser letzter Besuch dort, dann geht es weiter nach Sodde – halt mal, kommt da nicht Howell?« Koko mußte ein phantastisch empfindliches Gehör haben. Es dauerte noch eine ganze Reihe von Sekunden, bis ich ihre Stimmen von der anderen Seite der Düne hinter uns selbst hörte, und noch länger, bis sie in Sicht kamen. Zuerst hörte ich Elsie, sie plapperte fröhlich und hüpfte barfuß neben dem Kojoten her. Dann blieb es mir nicht erspart, auch Lucille zu bemerken. Ihr Kostüm war zu Anfang vielleicht ein Patentanzug gewesen; dem Materialverbrauch nach war es wirtschaftlich, wenn nicht ausgesprochen spärlich. Eine kleine Weile später fiel mir – ich ärgerte mich über mich selbst – auch das Atmen wieder ein. Sie blieben stehen, und Koko und die Frauen begrüßten sich. Elsie rannte davon, um im Wasser zu spielen. Der Gorilla kratzte den Kojoten vorsichtig hinter einem Ohr, um die dunkle Brille nicht zu verrutschen, die er trug. Er streckte mir eine Pfote hin. »Na, alter Junge, wie gefällt dir das Segelbootfahren?« Ich wurde rot. »Die Tümmler würden es mir danken, wenn ich nicht weitermachte.« Erst später fragte ich mich, woher er wußte, was wir gemacht hatten. Koko lachte, nicht ohne Mitgefühl. Howell gestand, daß er in bezug auf diesen Sport etwa dieselbe Einstellung hatte. Lucille saß graziös neben ihnen im Sand, so weit von mir entfernt wie möglich, nahm eine angezündete Zigarette aus einem kleinen Behälter und schaute über die orangefarbene Glut auf das dunkler werdende Wasser hinaus. Ein Dutzend Meter entfernt setzte jemand den mannshohen Holzhaufen in Brand. Fast sofort spürte ich die Strahlung auf meinem Gesicht. Vielleicht war es auch nur Einbildung. »Immer eine Kränkung parat, Corporal?« Lucille spähte um den eindrucksvoll massigen Körper des Gorilla und um das kleinere Hindernis
des Kojoten herum und grinste mich bösartig an. »Es mag Sie vielleicht überraschen, daß es auf diesem Schiff Leute gibt – zweibeinige und andere –, die auf Ihre Sorte instinktiv genauso reagieren wie Sie auf das Segeln.« Sie stieß den Rauch aus, als sei er eine schlechte Erinnerung. Ich wurde das allmählich leid. »Was ist denn bitte genau meine Sorte, Miß Olson-Bear?« »Lucille ist immer bereit, ins Detail zu gehen«, bemerkte Howell sanft, »aber weniger häufig, höflich zu sein.« »Ihre Sorte, Corporal, wenn Sie schon danach fragen, ist die Sorte des uniformierten, im Stechschritt marschierenden Kindersoldaten, der, in den Worten des Dichters, ›kämpfen und bluten und töten und sterben‹ will, für eine Institution, die genauso wenig Existenzberechtigung hat wie er selbst. Eine Regierung!« Sie spuckte das Wort aus, als wäre ihr ein ekliges Ungeziefer in den Mund geraten. Koko beobachtete uns mit sanften Augen, während Hitzefinger sich mein Gesicht hinauftasteten. Howell schüttelte den Kopf. »Keine Existenzberechtigung?« wiederholte ich. »Jetzt verstehe ich auch, wie Sie eine Kompanie von Männern im Namen einer albernen Abstraktion hinschlachten konnten. Auf Vespucci wären Sie damit ein großer Politiker geworden.« Lucille ging ruckartig in Kampfhaltung. »Stehen Sie auf und sagen Sie das noch einmal, Sie SA-Typ!« »Wozu? Sie würden mich nur schlagen, weil ich meine Meinung sage.« »Oho!« rief Howell aus. »Da hast du sie bei ihrer eigenen Bockigkeit gepackt! Haben wir die Redefreiheit aufgehoben, als ich nicht aufgepaßt habe, Lucille, oder ist hier jemand einfach unmoralisch und grob?« »Setz dich, Cilly!« Koko zog an ihrer Zigarre und klopfte mit einer Hand auf den Boden, die so groß war wie meine beiden nebeneinander. »Du schmeißt Sand in meine Ukulele.« Das wütende Mädchen funkelte böse, als sie ›Cilly‹ genannt wurde. »Na gut, Koko – im Augenblick! Aber jemand muß diesem Kilroy doch eine Erziehung vermitteln!« »Und ihn aversiv zu konditionieren«, entgegnete der Kojote sarka-
stisch, »ist ja ein so wirksames Mittel!« Koko bot Howell einen Zug aus der Zigarre an. Er nahm an und stieß Rauch aus. »Howell, sei nicht sauer«, sagte Lucille. »Verstehst du denn nicht – diese Vespuccier sind Militärs – sie vertreten eine Regierung!« Sie ließ sich in den Sand zurückplumpsen, diesmal nur eine Lücke entfernt, zur Linken des Kojoten. Howell grinste. »Ich bin nicht wütend, Cilly. Sag, daß es dir leid tut, dann sind wir quitt.« Er legte ihr die Schnauze in den Schoß und seufzte. Die Tränen waren mehr in ihrer Stimme als in ihren Augen. »Es tut mir leid, Howell…« »Nein, meine Liebe, zum Corporal. Er ist es doch, auf dem du rumreitest. Mein Rücken hätte es nicht so lange ausgehalten. Ich hätte etwas dagegen unternehmen müssen.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Lieber würde ich sterben!« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Vielleicht sorgt noch mal jemand dafür«, brummte ich. »Ich werde mich meines Landes nicht schämen. Wenn alle wie Howell oder wie Koko wären – rational –, könnte euer System hier vielleicht funktionieren. Aber wenn auch nur einer wie Sie ist, Lucille, dann brauchen alle Schutz!« Ich hievte meinen müden Körper hoch und blickte stirnrunzelnd auf das Mädchen hinunter. »Und jetzt bedrohen Sie mich noch einmal! Diesmal werfen Sie mich nicht unerwartet um!« Ihre Augen wurden groß, sie rutschte ein wenig zurück. Howell schüttelte den Kopf und schaute Koko an, die mir auf die Schulter klopfte. »Beruhige dich, Whitey«, beschwichtigte der Gorilla, »niemand tut dir etwas!« »Sehen Sie, Corporal, ich wuchs zusammen mit meiner Schwester EdWina an der Grenze der Konföderation auf – an einem Ort, den man den ›Venusgürtel‹ nannte. Ich…« Plötzlich verstummte Lucille. Es war ziemlich lange still, dann drangen von hinten neue Stimmen zu uns…
4 »Aber Sie können doch nicht beides haben, verstehen Sie das nicht?« Der Lieutenant sprach laut. Koko und Lucille drehten sich nach den Worten um. Howell behielt Elsie im Auge, die in der Brandung spielte. »Kindische, semantische Spiele – natürlich ist das Universum determiniert, mein lieber Doktor; der freie Wille ist eine Illusion!« »Na gut…« – die andere Stimme lachte – »Sie hätten mich täuschen können – aber andererseits ist das vermutlich der Sinn von Illusionen. Hallo, Liebling, hallo alle miteinander! Ich versuche gerade, Lieutenant Sermander in die Wunder der Praxeologie einzuführen, aber er wehrt sich dagegen.« Es stellte sich heraus, daß mit ›Liebling‹ Koko gemeint war. Sie streckte eine große Hand nach oben, einer größeren entgegen, während der Besitzer der letzteren sich herunterbeugte und ihr einen Schmatz auf die Wange gab. In der schnell heraufkommenden Dunkelheit war es schwierig, genau zu sehen, wer dieser Freund von ihr war – ein Gorilla, sicher, und der Größe nach zu urteilen männlich. Er trug eine ärmellose, blaßgrüne Kluft mit kurzen Hosen und einem großen Kreuz im roten Kreis auf der linken Schulter. Außerdem hatte er eine Brille mit Drahtgestell auf und hielt in einer Hand ein kleines, braunes Zigarillo. Er ließ sich neben Koko in den Sand fallen. »Francis«, begann sie, »du kennst hier alle außer dem Corporal: Whitey O'Thraight. Wir waren heute morgen segeln, während du Sprechstunde hattest. Whitey, das ist Francis W. Pololo, Doktor der Heilkunst, mein Mann.« Plötzlich war ich froh, daß sie Gorillas waren und keine Menschen – andererseits, in einer Zivilisation, die so etwas wie ›Lose Lippen‹ hervorbrachte, wer konnte da sagen, was für neue, unmöglich kompromittierende Situationen man da erfunden hatte? Er wechselte die Zigarre in seine linke Hand und verschluckte die meine mit seiner rechten. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Corporal. Hat Ihnen das Segeln gefallen?« Ich war auch froh, daß sie im Dunkeln nicht sehen konnten, wie ich rot wurde.
»Francis, jetzt ist er rot geworden! Er war wirklich gut für einen Anfänger. Sie haben da überhaupt kein offenes Wasser, wo er…« Woher wußte sie das? »Und auch keine Praxeologen, nehme ich an«, unterbrach ihr Mann höflich und schaute erst mich, dann den Lieutenant an. »Das ist offensichtlich!« Das schnaubte eine sarkastische Stimme auf Kokos anderer Seite. »Hallo, Lucille«, antwortete Pololo. »Hast du Corporal O’Thraight die Feinheiten beigebracht?« »Nur in bezug auf Kampf, Krach und Klamauk!« Howell kratzte sich mit einem Hinterbein. »Bis zur Praxeologie waren sie noch nicht vorgedrungen.« »Was in Harns Namen ist eigentlich Praxeologie?« wollte ich wissen und benützte damit meinen Ärger über Lucille, um eine Frage zu stellen, die ich schon seit Tagen beantwortet haben wollte. »Eigentlich«, leierte der Gorilla, »das Studium ›menschlicher Handlungen‹ – im erweiterten Sinne…« – er strich sich mit der Hand über seinen Pelz und tätschelte Howell – »der Handlungen aller Intelligenzwesen, und dazu gehört alles, von Moral und Erkenntnistheorie über Soziologie und Anthropologie bis zur Politik und Wirtschaft…« »Unterrichten Sie dieses Fach?«. »O jemine«, antwortete Pololo, »ich bin Heiler, Arzt – was keine praxeologische Disziplin ist, sondern eine physiomechanische. Ich interessiere mich einfach dafür, wie viele andere auch. Sonst würden die Seifenopern bald ihren gewinnbringenden Reiz verlieren. Ich habe Enson hier kennengelernt, als er versuchte, den Kapitän zu finden.« Er grinste seine Frau an, die in den Sand schaute und den Kopf schüttelte. »Seither versuche ich ihm zu erklären, warum das so schwierig ist.« Selbst in der Dunkelheit konnte ich spüren, wie gereizt Sermander war. »Er versichert mir, daß es einen gibt – aber niemand will mich zur Brükke, zum Kontrollraum oder auch nur zur Kapitänskajüte führen… man sagt mir, diese Persönlichkeit sei zu unvorhersehbaren Zeiten in ihrem Privatquartier zu finden – das anscheinend nicht existiert –, oder in einem bestimmten Wald. Ich bin heute morgen drei Stunden lang durch
diesen Wald gewandert, ohne etwas anderes zu sehen als mehrere Gruppen von Ausflüglern beim Picknick.« Koko lachte. »Den Wald kenne ich. Sie hätten mich dort vielleicht treffen können, an jedem anderen Morgen. Ich liebe Picknicks.«
5 Vor uns am Strand brannte das Feuer nieder und spiegelte sich nicht mehr in den glitzernden Wellen, die auf den Sand heraufrollten. Ein Feiernder nach dem anderen war aufgebrochen, zuerst die Fremden, die das Feuer angemacht, Spiele gespielt, primitiv gekochtes Essen verspeist und Lieder gesungen hatten, während wir zuhörten, dann Koko, ihr Mann, Sermander, der etwas von ›früh aufstehen morgen‹ murmelte, und schließlich die Nahuatls. Der Abend war warm, die vom Wasser hereinkommenden Winde voll Feuchtigkeit. Selbst Lucille kam mir gar nicht so unfreundlich vor, wie sie da neben mir in der Dunkelheit atmete. Eleva, Vespucci, die Pflicht, alles war weit entfernt. Gedanken an Hexerei, gefährlich, oft unerträglich – aber ach, so erregend – drängten sich in meinem Geist. »Was?« fragte ich, aus meinen Träumereien gerissen. Sie konnte es nicht lassen. »Ich sagte ›eine permanente machtlose Unterschicht‹ – warum hören Sie nicht zu? Daher stammen Sie, Corporal, ohne Hoffnung, ohne Zukunft – wie ist es, sein ganzes Leben lang, von der Wiege bis zur Bahre – zu den unteren Rängen zu gehören? Sich von anderen gängeln zu lassen, von verblödeten Beamten, von Bürokraten, Offizieren…« »Das stimmt nicht ganz, Lucille. Ich bin jetzt Corporal, doch geboren werden wir alle als gemeine Soldaten.« »Ich werde mir die schmutzige Zweideutigkeit verkneifen, die einem bei diesem Ausdruck in den Sinn kommt.« »Das ist ungewöhnlich anständig von Ihnen. Sind Sie sicher, daß Sie sich auch ganz wohl fühlen?« »Aha! Der Wurm windet sich! Sie gewöhnen sich hier bei uns schlechte Sitten an, Whitey: aufsässige Antworten, Mißachtung von Autorität. Ich
dachte vorhin eine Minute lang, Sie würden mich tatsächlich schlagen.« Ihr Ton war bei den letzten Sätzen weicher geworden und eine halbe Oktave tiefer. Es war das erste Mal, daß sie mich mit meinem Vornamen angesprochen hatte. Ich fragte mich, was sie wollte. »Ich schlage keine Frauen. Nicht einmal kleine, gehässige.« »Ich verstehe. Das wäre unhöflich, unmilitärisch – oder nicht? ›Pflicht, Ehre, Vaterland‹ – ist das alles, was Sie wirklich wollen, Corporal?« Selbst in der Dunkelheit konnte ich mir vorstellen, wie sie spöttisch die Augenbrauen hochzog. Wenn irgend jemand ein höhnisch herausforderndes Gesicht zustandebrachte, dann Lucille. Ich möchte nach Hause, zu Eleva, dachte ich. Jetzt mehr als irgendwann sonst, selbst als in den Kerkern von Sca, wollte, mußte ich nach Hause zu Eleva. »Los, Corporal, sagen Sie uns, was Sie wirklich wollen! Das ruhmreiche Vespucci – was für ein Name! – vor den bösen, abscheulichen Anarchisten retten? Wollen Sie das? Nun, ich habe Neuigkeiten für Sie, dazu braucht es einen besseren Mann – und der wird nicht wollen! Sie müssen noch viel wachsen – und in die völlig falsche Richtung, was Ihre Kultur angeht.« »Was meinen Sie damit?« fauchte ich. »Nichts Besonderes. Nur – es ist zwar ironisch, aber alles andere als überraschend – in diesem Augenblick müssen Sie, um den Interessen von Vespucci, wie Sie sie sehen, am besten dienen zu können, alles überwinden, was es – Vespucci – in Ihnen geschaffen hat: Passivität, Resignation, übermäßige Ehrfurcht vor den Hohen und Mächtigen und ihrer ›Ordnung‹. Um Ihre ›kostbare‹ Zivilisation zu retten, müssen Sie etwas werden, was diese am wenigsten will.« »Und was wäre das? Sie wollen jetzt sagen, ›ein Mann‹, nicht wahr? Nicht sehr originell und auch nicht sehr wahr – obwohl ich nicht erwarte, daß Sie das einsehen. Sie sehen überhaupt nicht viel, Lucille, außer dem durcheinandergerührten Zornmüll in Ihrem eigenen Kopf.« Klaaaatsch!!!!
Mein Mund brannte, wo ihr Handrücken mich getroffen hatte. Ich spuckte einen Tropfen Blut aus und grinste wölfisch. »Was ist los, kleines Mädchen? Austeilen kannst du, aber selbst einstecken nicht?« Sie sprang auf, drehte sich um und wollte davonstapfen. Im letzten Feuerschein packte ich sie beim Knöchel und drehte mein Handgelenk. Sie knallte auf den Boden und spuckte Sand, wie ich einen Augenblick vorher Blut gespuckt hatte. In der Hitze des Gefechts vergaß sie, was sie vom richtigen Kämpfen wußte und überschüttete meine Schultern mit wirkungslosen Schlägen, während ich neben ihr kauerte und sie unten hielt. Schließlich packte ich ihre Handgelenke und hielt sie beide mit einer Hand fest. Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging in rauhen Stößen. Dann beruhigte sie sich. »Und jetzt machen wir etwas Militärisches«, sagte sie sarkastisch. »Wie wäre es mit einer kleinen Vergewaltigung zur Abrundung des Abends…« Ich legte ihr die freie Hand auf den Mund – ihre Augen funkelten wild. »Lucille, ich habe den Verdacht, daß das bei Ihnen unmöglich wäre.« Sie hätte mich wieder geschlagen, aber inzwischen hatte ich ihr den Anzug über die Oberarme heruntergezogen und sie so gefesselt. Noch einen Augenblick, dann war sie wieder völlig frei, genau wie ich. Ich drang in sie ein, ihr Rücken bog sich durch, ihre Arme schlangen sich um mich, zogen mich näher, tiefer in sie hinein. In meinem Gehirn flammte es auf, ein strahlendes, alles verzehrendes, weißes Licht, das kleine, violette Funken zurückließ. Schließlich verblaßten auch sie. Einen Augenblick lang war es gewesen, als kennte ich alle Geheimnisse des Universums, die Antwort auf jedes Problem, vor dem die Menschen je gestanden hatten. Als sie schwer atmend in meinen Armen lag, drang ihre Stimme, sehr leise jetzt, in mein Ohr: »Warum hast du so verdammt lange gebraucht, zu kapieren, Whitey?«
12. Kapitel Kokos Zorn 1 Es war ein sonderbares Gefühl, auf einer Waldlichtung aufzuwachen. Leichte Winde bewegten die Nadelbäume in hundert Metern Entfernung und kräuselten das Gras dazwischen. Der Platz war mit hochragenden Felsbrocken übersät, die von graugelber Flechte und Auswüchsen von Feigenkakteen bedeckt waren, deren Blüten von fliegenden Insekten besucht wurden. Hoch über unserem Bett kreiste ein Raubvogel mit großen Schwingen, der vorbeiflog, als könne er uns nicht sehen – was er auch nicht konnte, denn er war eine Aufzeichnung, genau wie alles andere, was da auf den Wänden von Lucilles Wohnung dargestellt war. »Noch Kaffee, Corporal-Liebling?« Die Sitzung am Schwimmbecken und der törichte Streit des Lieutenant mit Pololo waren weder die ersten, noch die letzten erzieherischen Erlebnisse, denen ich an Bord der ›Tom Paine Maru‹ ausgesetzt wurde, aber es war immer schwierig, Lehrer und Schüler, Schule und Freizeit auseinanderzuhalten. Vielleicht kam das daher, daß es keine Bücher gab. Auch die Freizeit hatte ihre lohnenden Augenblicke. »Danke, ich glaube, ich bleibe einfach eine Weile hier liegen – und sammle neue Kraft.« Ich beugte mich hinüber und küßte Lucille in die Höhlung ihres Schlüsselbeins. Sie zog den Kopf weg – kitzelig –, grinste, dann packte sie mich um den Hals und rang mich auf den Rücken nieder. »Na, du fauler Strolch, ich schon!« »Was? Ach so – Kaffee – laß dich bitte von mir nicht stören.« Etwas blieb unverändert: das Hauptthema jeder Unterhaltung war Sodde Lydfe. Seminare über Anthropologie, die ich auf Drängen von Howell, Elsie oder Lucille besuchte, Psychologievorlesungen, Geographiekurse, wirtschaftliche Abhandlungen, alles zielte auf die Analyse von
Kulturen, die ihrerseits wieder mit anderen verglichen wurden, von denen ich noch nie gehört hatte: Nazideutschland, das stalinistische Rußland, das sozialistische England – ein ähnlicher Ort namens Dänemark – das nortonische Kalifornien, das besetzte Hawaii. »Von wem besetzt?« »Nazis sind eine regionale Ausprägung von Faschisten«, erklärte sie mit schlecht verhohlener Ungeduld. Lucille versuchte, mir zu helfen. Sie rollte sich auf die Seite und zeichnete mit dem Finger einen kleinen Kreis in die Mitte des Bettes. Die Fläche zwischen uns wurde fest. Sie stellte ihre Tasse auf die Matratze, dann griff sie hinter sich nach der angezündeten Zigarette, die durch die Tischplatte stieg. »Ich erinnere mich. Auch daran, daß du meine Uniform ›modernfaschistisch‹ genannt hast.« Ich dachte zurück an die Geschichtsstunden, die man mir während der letzten paar Tage aufgebürdet hatte. »Die Nazis waren also Vereinigte Staatler?« »Gutes Gedächtnis für einen Kilroy, Whitey, aber in dieser Epoche wurde eine ganze Welt vom Faschismus beherrscht: Nazis in einem Nationalstaat namens Deutschland, ›Fascisti‹ in Italien, Shinto in Japan, der New Deal in den Vereinigten Staaten. Anderswo war es ähnlich, obwohl die Leute gar nicht immer wußten, welche Weltanschauung am Ruder war. Sieh mal irgendwann unter Zionismus nach!« Ich ignorierte den Nadelstich. »Wird mir denn nie jemand sagen, was ein Kilroy ist?« Sie lachte. »Zufällig ein Ausdruck aus der Zeit, von der wir gerade sprechen, sowas wie ein Bruchstück eines Witzes. Millionen von Wehrpflichtigen kämpften überall auf dem Planeten, als politisch identische Nationen um die Herrschaft rangen. Wo immer die Soldaten hinkamen, sahen sie einen kleinen, mit Kreide gezeichneten Mann…« – sie hob das Laken hoch, die Finger um den Rand gelegt, die Nase dazwischen – »und die Schrift ›Kilroy war hier‹. Ich fand immer, es sei ein gutes Beispiel für schwarzen Humor des Establishments. Unzählige Männer und Frauen verbluteten in dem Glauben, sie kämpften gegen den Drachen, während die ganze Zeit…« Sie verstummte für einen Augenblick, dann: »Jedenfalls, als wir Konföderierten endlich einen verläßlichen Sternenantrieb hatten – im Gegen-
satz zu dem technischen Alptraum, der deine Ahnen in Schwierigkeiten brachte –, stürzten wir uns in den Weltraum und erwarteten ein endloses, unzivilisiertes Gebiet. Statt dessen wart ihr – die Vespuccis, die Scavier, die Obsidianer, alle anderen – schon vor uns da!« »Vespuccii«, korrigierte ich und nahm ihr die Zigarette aus der Hand. Ich zog versuchsweise daran und machte dann den Fehler, zu inhalieren. Als ich ausgehustet hatte, sagte ich: »Wir sind also alle Kilroys – ebenfalls Faschisten.« Sie nickte und ließ das Laken fallen – ich vergaß beinahe, worum sich das Gespräch drehte. »Hast du jetzt bald genug gefaulenzt, CorporalBaby?« Mein Geist war mehr als willig, aber das Fleisch brauchte noch Zeit. Sie legte sich auf einen Ellbogen und zog meinen Mund zu sich herunter. Als ich wieder atmen konnte, schüttelte ich den Kopf. Meine Schwäche wurde allmählich peinlich. »Dann erzähl mir etwas, Lucille, etwas von dir.« Sie lachte wieder, einen Hauch von Bitterkeit in der Stimme. »Also gut, ich wurde auf der Erde geboren, wenn auch nur knapp: meine Leute waren kurz vorher auf dem Venusgürtel gewesen und kehrten gleich nach meiner Geburt dorthin zurück. Ich wuchs mit meiner Schwester auf einer Heimstätte auf, und als wir erwachsen waren, studierten wie beide Praxeologie.« »EdWina Olson-Bear? Jemand hat gesagt, sie sei die ChefPraxeologin.« »Wo du hingehst.« Lucille setzte ein grimmiges Gesicht auf und antwortete wieder einmal in Rätseln. »Wie ich es vor ihr war. Sie hat an derselben Universität unterrichtet, an der wir Examen gemacht hatten. Ich entschied mich für Feldforschung an Bord der ursprünglichen ›Tom Sowell Maru‹. Irgendwie hat es uns dann beide hierher verschlagen…« Plötzlich stellte sie ihre Tasse auf den Nachttisch zurück, erweichte die Bettfläche wieder und stand mit einer graziös fließenden Bewegung auf. Die Landschaftsszene verschwand und wurde durch weiße, sterile Wände ersetzt. »Wir vergeuden Tageslicht.« »Aber Lucille, ich dachte…«
»Du hast es weggepißt. Jetzt bin ich nicht mehr in Stimmung. Typisch Mann – nichts als Getue, und kein Zug dahinter. Raus hier, ich will mich anziehen!«
2 Ich fand Howell – oder er mich – im Gang vor meiner Kabine. Seit drei Tagen war ich nicht mehr hier gewesen, seit jenem traumhaften Abend am Strand, der jetzt ein Jahrhundert zurückzuliegen schien. Ich entdeckte bekümmert, daß ich in dieser Zeit nicht an ihn gedacht hatte, auch sonst an niemand – besonders nicht an Eleva, der gegenüber ich mich nicht nur wegen meiner Handlungen schuldig fühlte, sondern vor allem wegen der Begeisterung, mit der ich sie begangen hatte. Zur Strafe schmerzte mich jeder Muskel, besonders der untere Teil meines Rückens. Es verlangte mich dringend nach einer Dusche, trotz der ständigen Reinigung durch meinen Anzug. Ich mußte auch mit jemandem sprechen: in ein paar wohlgesetzten Worten – die ich mir, während ich zornig zu meinem Zimmer zurückging, überlegt hatte – legte ich dar, welche Schwierigkeiten ich hatte, ein schwieriges Thema zu verstehen. Frauen im allgemeinen, Lucille im besonderen. Vielleicht auch anders herum. »Nun ja, ich kann dir wenigstens einen Teil ihrer Geschichte erzählen«, bot der Kojote an, als ich in einen Stuhl sank. Ich konnte mir nicht einmal die Befriedigung verschaffen, mir die Schuhe auszuziehen – die verdammten Dinger waren Teil meiner Kleidung und bequemer als barfußlaufen. Er hüpfte auf einen anderen Sitz und legte sich den buschigen Schwanz ordentlich um sein Hinterteil. »Und dir eine ihrer geheimnisvollen Bemerkungen erklären. Sie kann einen ganz schön ärgern, nicht?« Ich machte mir nicht die Mühe, mit mehr als einem müden Grunzen zu antworten, sondern saß einfach da und merkte empört, daß ich mich schlimmer fühlte als je zuvor, sogar schlimmer als in den Kerkern von Sca. »Natürlich«, fuhr Howell fort, nachdem er begriffen hatte, daß er außer Schweigen nichts zu erwarten hatte, »würde ich nichts verraten, was Lu-
cille nicht von sich aus sagen würde. Ich kenne sie schon lange, habe miterlebt, wie sie von einem reizenden Kind zu einer etwas tragischen, jungen Frau heranwuchs. Aber soviel ist allgemein bekannt: sie wurde Leiterin der praxeologischen Abteilung an Bord der ›Tom Paine Maru‹, Whitey, und der Chef ihrer Schwester, eine Konstellation, die nicht gerade in einem freundlichen, mythologischen Reich ersonnen wurde: die beiden Schwestern hatten nie das beste Verhältnis zueinander gehabt.« »Howell«, sagte ich unvermittelt, »ich will eine ehrliche Antwort. Wenn du sie mir nicht geben kannst, möchte ich wissen, wer es kann. Wann kann ich nach Hause?« »Oho, ein Themawechsel. Oder nicht? Whitey, ich…« »Spann mich nicht auf die Folter, pelziger Freund! Ich stelle diese Frage – unter anderen – seit ich an Bord der ›Little Tom‹ gekommen bin. Und ich habe noch immer keine Antwort erhalten, die mich zufriedenstellt.« Howell saß einen Augenblick lang da und dachte nach, dann erklärte er: »Du kannst nicht nach Hause, mein armer Junge. Noch nicht. Auf Obsidia spitzt sich die Lage immer mehr zu. Wir müssen auch noch auf Hoand und Afdiar Station machen. Und du weißt, daß eine größere Operation auf Sodde Lydfe geplant ist. Wir sind sehr in Zeitnot und können uns keinen Umweg leisten…« »Howell, hör auf, mich anzulügen! Diesmal lasse ich mich nicht abwimmeln, nicht von dir, und auch von niemand sonst. Dieses Schiff besteht aus kleineren Schiffen. Eines könnte doch sicher…« Er hob eine Pfote. »Also, die Wahrheit, obwohl es mir lieber gewesen wäre, du hättest bis Obsidia gewartet. Das könnte die Lage vielleicht klären. Trotzdem, niemand sollte nur in gutem Glauben handeln müssen. Mein Junge, die ›Tom Paine Maru‹ und alle, die auf ihr sind, sind das Ergebnis einer neuen, technologischen Revolution, die so gewaltig ist, daß sie die Erste Industrielle Revolution und alles, was danach im Bereich der Elektronik passiert ist, winzig erscheinen läßt.« Ich schnaubte. »Ich habe es satt, immer Philosophie anstelle von Substanz vorgesetzt zu bekommen. Lurille mit ihrer Politik, Kokos Mann mit seinem Geschwätz von Freiem Willen, Chaos oder Bestimmung, dein kleines Mädchen mit ihren anthropologischen Abhandlungen. Raus
damit!« »Elsie ist erst neun, das ist wahr, und klein für ihr Alter, aber in jeder anderen Beziehung eine typische Konföderierte.« »Howell!« »Na gut. Du weißt, wie die Situation auf Sodde Lydfe ist. Was, meinst du, würde geschehen, wenn die Leute von Groß Foddu oder die Hegemonie Podfet auch nur einen Bruchteil der Fähigkeiten der TPM in die Finger bekämen?« Das waren die Staaten, über die ich auch mit Lucille gesprochen hatte. Wenn ich an sie dachte – und die seltsamen Empfindungen spürte, die dabei ausgelöst wurden – wurde es um so dringlicher. Ich mußte nach Hause, mußte zu Eleva. Aber ich mußte Howell wahrheitsgemäß antworten wie er anscheinend mir. »Es wäre nicht sehr hübsch.« »So – und das ist der heikle Punkt – warum sollten wir von der Konföderation leichtfertiger solches Wissen der Regierung von Vespucci überlassen?« Genau das hatte ich erwartet. »Ich nehme an, deshalb bringe ich euch – genau wie Lieutenant Sermander – in ziemlich große Verlegenheit, nicht wahr?« Er lachte. »Nur, indem du verlangst, was dir moralisch gesehen zusteht. Wir spielen nicht gerne die Entführer. Wir haben in bezug auf euch keine Strategie entwickelt – wir wissen nicht, was für eine wir entwickeln sollen. Ist es möglich, daß ihr uns etwas schuldig seid – für die Rettung von Sca? Dann habt Geduld mit uns. Wenn wir eine kleine Atempause haben – nach Sodde Lydfe – werden wir eine Lösung finden, die alle zufriedenstellt. Das ist der Kern unserer Zivilisation, du wirst es im Laufe der Zeit schon noch lernen.«
3 Elsie bot sich an, die Mutter zu spielen, und servierte heißen Tee aus einem isolierten Plastiksäckchen, bis der Lieutenant, der letzte von uns, den sie erreichte, die Hand hob. Sie stellte die ›Teekanne‹ in die Mitte eines kleinen Tisches, wo sie wackelte, und kletterte auf ihren Stuhl.
»So«, meinte Koko, »vermutlich fragt ihr euch alle, wie man so sagt, warum ich euch hierherkommen ließ.« ›Hier‹ war die Wohnung des Gorilla in einer steilen Wand über einem dichten, tropischen Urwald. Francis Pololo schnitt eine Grimasse. »Spann sie nicht auf die Folter, meine Liebe! Es ist fast null Uhr. Sonst zertrampelst du am Ende noch die Pointe.« Der weibliche Gorilla zuckte die Schultern. »Lieutenant Sermander, Sie haben überall nach dem Kapitän gesucht. Soviel ich hörte, haben Sie sich heute früh sogar eine Taucherausrüstung gemietet und sind zur OrcaSiedlung in Seahunt hinunter. Nun, ich habe eine Nachricht von ihr – bemühen Sie sich nicht: sie verfügt über keinerlei Macht, die für Sie von Interesse sein könnte.« »Sie?« Sermanders Stimme war ein enttäuschtes Krächzen. »Zufrieden?« Der Lieutenant öffnete den Mund, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht, dann schloß er ihn wieder. Koko fuhr, zu mir gewandt, fort: »Ihr habt euch beide Gedanken über die Mission der ›Tom Paine Maru‹ gemacht. Ich wollte, ich könnte sagen, ich hätte alles so arrangiert, daß ich es dir zeigen kann, Whitey. Es wird ziemlich einfach aussehen. Aber was wir gleich erleben werden, ist seit achtzehn Jahren sorgfältig überlegt worden. Diese Teegesellschaft habe ich jedoch arrangiert. Reicht das?« Die Sternenlandschaft auf der Decke über uns verschwand. »Obsidia«, verkündete Howell und zeigte auf die orangegelbe Kugel über unseren Köpfen. »Wir haben die Aussicht eines Aufklärers, der sich auf dem Weg zur Oberfläche befindet. Williamsons ›Little Tom‹, wenn ich mich nicht irre.« Es war ein strahlend schöner Tag, die Sonne brannte auf den staubigen Kontinent nieder, auf den der Aufklärer zustürzte. Plötzlich raste von vorne eine Stadt auf uns zu – primitiv, aber eindrucksvoll – aus riesigen Steinpyramiden. Auf der Spitze der höchsten war eine Zeremonie im Gange, mit Zehntausenden von Zuschauern, die auf Stufen an den Seiten des Gebäudes standen und nach oben schauten. »Jetzt geht's los!« gluckste Koko. »Darauf freue ich mich schon…«
Ein einzelnes Wesen – seine menschliche Gestalt war unter kunstvollem Federschmuck fast völlig verborgen – stand neben einem bettgroßen Stein, auf dem die nackte Gestalt eines jungen Mannes reglos ausgestreckt lag. In der Hand hielt der etwas grell gekleidete Bürokrat einen riesigen, schwarzen Dolch, den er über die ungeschützte Brust des Jünglings hob. Der Dolch blitzte auf, als das Sonnenlicht sich auf seiner glasigen Facettenoberfläche fing. »Ev müßte jetzt jeden Augenblick in Reichweite sein«, sagte Pololo. Die Aufregung überwältigte sogar den sonst so beherrschten Heiler. »Wir sollten…« »… der Sonne, die die Sonne ist, nimm diese unwürdige Gabe von Deinen elenden, demütigen Dienern an!« Unverständliches Gemurmel, als die Gemeinde antwortete. Der Priester hielt das Messer hoch; das vorgesehene Opfer schien sich über die Aussicht, eine unwürdige Gabe zu werden, nicht besonders aufzuregen. Plötzlich fiel ein mehrere Dutzend Meter breiter, kreisrunder Schatten – genau passend für ein Schiff von der Größe der ›Little Tom‹ – über die abgeflachte Pyramidenspitze. »HÖRET DAS WORT GOTTES, DES HERRN!« Das war Elsies Stimme. Sie grinste mich verlegen von der anderen Seite des Raumes her an. »Sie haben es mir angeboten: ich konnte nicht widerstehen.« »IHR SOLLT DIESES ABSCHEULICHE TUN SOFORT EINSTELLEN, HEUTE UND FÜR IMMER!« Der Priester ließ sein Messer fallen – es verfehlte das verschonte Opfer knapp und fiel klappernd neben ihm auf den Altar – sank auf seine federgeschmückten Knie und streckte die gefalteten Hände himmelwärts. Alle anderen hatten nur Augen für das Aufklärerschiff. »ICH ABER SAGE EUCH HEUTE, DASS ICH EUCH VERLASSE!« Ein leises Stöhnen ging durch die Menge, wanderte die Seiten der Pyramide hinunter und zerstreute sich unten. »VON DIESEM TAGE AN SOLLT IHR EINANDER HELFEN, UND IHR SOLLT KEINEN GOTT MEHR VEREHREN. STATT DESSEN
SOLLT IHR MEIN GESETZ ACHTEN, AUF DASS IHR SELBST WERDET WIE GÖTTER. HÖRET NUN DAS GESETZ: KEIN GOTT SOLL SEIN AUSSER DEM MENSCHEN, DER MENSCH HAT DAS RECHT, NACH SEINEN EIGENEN GESETZEN ZU LEBEN. DER MENSCH HAT DAS RECHT, SO ZU LEBEN, WIE ER ES WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, SICH SO ZU KLEIDEN, WIE ER ES WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU WOHNEN, WO ER WOHNEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, AUF DIESEM PLANETEN ZU GEHEN, WOHIN ER WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU ESSEN, WAS ER ESSEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU TRINKEN, WAS ER TRINKEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU DENKEN, WAS ER DENKEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU SAGEN, WAS ER SAGEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU SCHREIBEN, WAS ER SCHREIBEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU FORMEN, WAS ER FORMEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU BEHAUEN, WAS ER BEHAUEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU ARBEITEN, WAS ER ARBEITEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU RUHEN, WANN ER RUHEN WILL.
DER MENSCH HAT DAS RECHT, ZU LIEBEN, WIE ER WILL, WO, WANN UND WEN ER LIEBEN WILL. DER MENSCH HAT DAS RECHT, JEDEN ZU TÖTEN, DER IHM DIESE RECHTE STREITIG MACHEN WILL.«
4 »Aber das ist ja Anarchie!« rief Enson Sermander empört. »Es ist eine Kriegserklärung an alles, was wir unter Zivilisation verstehen!« »Genau!« antwortete Elsie. Das Bild im Kameraauge schwankte, als der Aufklärer in die Kurve ging und himmelwärts auf ihre Nische im Bauch des Mutterschiffs zujagte. Die Obsidianer waren allein. »Frei nach Aleister Crowley«, bemerkte Howell. Er bückte sich hinunter, um an seinem Drink zu schlürfen. »Und – gegen meinen ausdrücklichen Rat – ist das Prinzip der Nichtaggression ausgelassen, mit der Begründung, daß die Obsidianer darauf selbst kommen müssen.« »Ihr Tiere!« schrie der Lieutenant. Er ließ seinen Becher fallen und sprang vom Stuhl auf. Er stand starr, die Hände zu Fäusten geballt an der Seite. »Ihr seid nichts anderes als Verbrecher! Ich habe euch beobachtet! Ich weiß, was ihr vorhabt! Ich sehe, welche Revolten ihr vorbereitet, um sie gegen die Regierungen unschuldiger Nationen zu schüren! Kein Wunder, daß ihr keinen Kapitän habt – wahrscheinlich habt ihr ihn ermordet, als er mit fester Hand Ordnung schaffen…« Howell gähnte. »Na ja, wenigstens hat er nicht ›unschuldige Regierungen‹ gesagt.« »Sie irren sich, Lieutenant. Wir haben einen Kapitän.« Koko hatte das Wort ergriffen. »Eigentlich mehr einen Manager. Schließlich und endlich ist dieses Schiff ein komplexes Unternehmen, das sie stellvertretend für seine Eigentümer leitet. In gewissem Sinne ist jedermann Eigentümer, hier wie dort, ob auf dem Schiff oder nicht. Die TPM ist eine Firma und der Besitz einer Firma und wird eigentlich vom wissenschaftlichen Personal betrieben, das ihren Kurs bestimmt und…«
»Der Kapitän – eine Frau!« Die verletzte Ungläubigkeit klang wieder deutlich aus seiner Stimme. »Und ein Gorilla – nämlich ich. Es ist eine Familienkrankheit. Der Onkel, bei dem ich aufwuchs, war der letzte Präsident, den die Konföderation von Nord-Amerika jemals hatte.«
13. Kapitel Annäherungsversuch über das Verwundetenabzeichen 1 »Nnnnngggg!« Der Tritt kam langsam von vorne und zielte auf meinen Solar Plexus. Ich drehte ein wenig die Hüften und blockte den Spann von Sermanders rechtem Fuß mit dem Ellbogen ab. Riskant, aber wirkungsvoll, wenn er funktioniert. Der Lieutenant hüpfte wütend auf dem linken Fuß herum und wiegte den mißhandelten rechten in der Hand, unter jedem Augenlid quoll eine Schmerzträne hervor. »Corporal O'Thraight! Wir sind doch nur im Training!« Er bekam so wenig Luft, daß er die Worte kaum herausbrachte. Ich schüttelte den Kopf, um die zornige Benommenheit zu vertreiben. »Entschuldigung, Sir. Habe mich wohl ein wenig zu sehr reingesteigert.« Ich atmete tief ein und versuchte mich zu entspannen, dabei merkte ich, daß ich meine Frustration an der falschen Person ausließ. Es war verrückt, sich vorzustellen, daß Lucille… Kraaaach! Scheinbar aus dem Nichts schossen Fingerknöchel auf mich zu und trafen mich seitlich über dem rechten Ohr am Kopf. Ich taumelte zurück und verlagerte meine Abwehr nach oben, als er zu einem zweiten Schlag mit dem Handrücken herumwirbelte. Er prallte harmlos schräg an meinem Unterarm ab. »Lassen Sie sich das eine Lehre sein, Corporal«, kicherte mein Vorgesetzter. Er stützte sich auf einen der hüfthohen, pilzförmigen Vorsprünge, die willkürlich ausgefahren wurden, um das Training anspruchsvoller zu machen. »Tüchtigkeit ist eine Tugend, aber man darf trotzdem nicht vergessen, wo man hingehört. Sie werden in dieser undisziplinierten Umgebung lasch – Sie werden mir dafür noch dankbar sein, wenn wir
nach Vespucci zurückkehren!« »Nein, Sir.« Jedenfalls zum Teufel mit ihr. »Was soll das heißen, Corporal?« »Ich meinte, ja, Sir.« Wir schlängelten uns um die Hindernisse herum, traten von der Matte und gingen durch die Turnhalle auf die Duschen zu. Die Halle war wie ein Flugzeughangar, Dutzende von anderen, ein Trupp für Sodde Lydfe, trainierten in schwerer Wüstenausrüstung. In unregelmäßigen Abständen blitzten Lichter aus allen möglichen Winkeln auf, um die Verwirrung im Kampf inmitten von unberechenbaren Explosionen und Knallgeräuschen vom Band zu simulieren. Einige trainierten mit Augenbinden, vielleicht für Nachteinsätze. Ich überlegte, ob es ratsam sein könnte, ihrem Beispiel zu folgen. Bei einer plötzlichen Flucht mochte dies jederzeit notwendig werden. Ich betrachtete inzwischen alles aus einem einzigen Blickwinkel: Wie kann uns das helfen, nach Hause zu kommen? Offenbar war der Lieutenant so ziemlich zu demselben Schluß gelangt. Wir traten durch eine Reihe von Reinigungsmembranen auf dem Weg zu den unnötigen, aber erfrischenden Duschen. Auf der anderen Seite der Vorhänge sahen wir hundert private Zellentüren vor uns. Den bekannten Geruch von Umkleideräumen gab es nicht. Vor den Duschkabinen blieb Sermander plötzlich stehen. »Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, wie wir vom Schiff kommen könnten«, verkündete er rundweg, fast flüsternd. »Alle Hilfsschiffe sind in Privatbesitz, wenn Sie wissen, was das heißt. Mehr noch, sie sind Wohnungen, ständig belegt, eifersüchtig verteidigt.« Ich hatte, soweit ich wußte, nichts Gegenteiliges gesehen. Das sagte ich ihm. »Hm, ja«, antwortete er mißgelaunt. »Was noch wichtiger ist, Corporal, keines ist zu einem Preis zu vermieten, den wir uns leisten könnten. Als ich nun, wie ich Ihnen schon sagte, mögliche Alternativen untersuchte, bin ich zu dem allerdings für jeden Sterblichen unverständlichen Schluß gekommen, daß es auch keinen anderen verletzlichen Punkt gibt, keinen Maschinenraum zum Beispiel, den wir besetzen und mit dessen Zerstö-
rung wir drohen könnten…« »Nicht einmal Maschinen.« Ich wiederholte etwas, was Owen Rogers mir vorher an diesem Vormittag gesagt hatte. Ich war nicht sicher, ob ich es glauben sollte. »Nicht einmal Maschinen. Corporal, wenn Sie auf eigene Faust Maßnahmen ergreifen wollen…« »Ich…« »Nein, sagen Sie es mir nicht. Wenn nötig, schlagen Sie sich mit dem, was wir wissen, allein nach Vespucci durch. Inzwischen trösten Sie sich damit, daß auch ich auf unsere Befreiung hinarbeite, letztendlich auf die Rettung unseres geliebten Planeten.« »Sir?« »Ich habe ein Treffen mit der Chefpraxeologin EdWina Olson-Bear vereinbart. Sie werden mich begleiten. Ich bin sehr zuversichtlich, daß künftige… äh… Begegnungen mir die Möglichkeit geben werden, etwas Brauchbares zu erfahren.« Er grinste lüstern-anzüglich. »Wenn das Gerücht stimmt, ist noch beträchtlich mehr zu erreichen.« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er sprach, aber er war der Lieutenant. »Ja, Sir.« Wir gingen zu unseren Kabinen und verabredeten uns, uns hinterher zu treffen. Als ich in der Dusche war, tat mir noch immer der Kopf weh.
2 8-mm-Plastikpatronen wurden aus der durchlässigen Vorderseite des Fabrikationsgerätes in den gedeckten Trichter gedrückt. »Immer ein Molekül auf einmal«, bemerkte Owen Rogers voll Besitzerstolz. »Man kann ja nicht hineinsehen, aber anfangs sind sie ein schwacher, dreieckiger – Verzeihung, trochoidaler – Streifen in der Matrix, der sich in drei Dimensionen aufbaut und bis zur Schließung am Ende der Patrone den Querschnitt vollkommen beibehält.« »Aber wie funktioniert es?« »Es gibt hundert und noch ein paar natürlich vorkommende Elemen-
te«, sagte der Waffenschmied. »Irgendwann habe ich nicht mehr mitgezählt, wie viele es genau sind. Seit den Anfängen waren denkende Wesen zur Schaffung der gesamten, materiellen Zivilisation auf Permutationen und Kombinationen dieser Elemente beschränkt.« Das war also die Physik, dachte ich bei mir, von der alle behaupteten, daß ich sie bräuchte. Nun gut, ich würde also lernen, soviel ich konnte, für den Plan, der mir unmittelbar vorschwebte und auch aus längerfristigen Überlegungen heraus. »Genau wie die Protonen, Elektronen und Neutronen die Bausteine der Atome sind, so sind die Quarks die Bausteine des Atomkerns. Die Elektronen kreisen in bestimmten Positionen um den Kern herum und bestimmen die chemische Beschaffenheit jedes gegebenen Elements.« »Ich verstehe. Und was hat das mit Ihrem Fabrikationsgerät zu tun?« »Alles. Wissen Sie, wir manipulieren Elektronenschalen, indem wir…« »Entschuldigen Sie, Rog, aber kann man mit dem Ding nur Munition herstellen, oder auch andere Sachen?« Er blinzelte, als ich das Thema wechselte. »In Grenzen. Was zum Beispiel?« Ich hatte mir das sorgfältig überlegt, es war mein erster Schritt aus der Zuständigkeit der Konföderierten heraus – und ich wollte für dieses Abenteuer auch etwas vorzuzeigen haben. Jetzt jedoch kam es mir allmählich vor wie Verrat an den großzügigen Menschen, die… Man kann kein Dorf einnehmen, ohne ein paar Köpfe zu zerschlagen. »Nun… Zeichnen, Rog. Papier zum Zeichnen, und etwas, womit man zeichnen kann. Ich habe bemerkt, daß es an Bord Künstler gibt, ihre Skizzen hängen in Versammlungsräumen und Restaurants. Ich habe zu Hause auch ein wenig gezeichnet. Ich würde gerne wieder damit anfangen.« Es gab an Bord der ›Tom Paine Maru‹ keine Fotografien und keine Schrift, aber Gemälde und andere handgefertigte Graphiken gab es. Das setzte mich in Erstaunen. Ich überlegte mir, daß der einzige Unterschied zwischen den Medien das persönliche Eingreifen des Künstlers selbst war – aber weiter war ich nicht gekommen. Anstatt mich einfach zu wundern, anstatt dumme Fragen zu stellen, hatte ich diesmal auf der
Grundlage dieser besonderen Erkenntnis einen Plan gemacht. Und dem folgte ich jetzt. Ich mußte mir Notizen machen. Noch mehr, ich mußte es geheim tun. Jede Minute war ich Informationen ausgesetzt, die für meine mit Armut geschlagene Zivilisation von unglaublichem Wert waren. Das war genau der Grund, warum man uns nicht fortlassen wollte, und das gab mir einfach einen größeren Antrieb zur Flucht. Lucille hatte recht gehabt: ich entwickelte mich rasend schnell zu einem vollendeten Soziopathen. Von jetzt an würde es ein Rennen sein: Ich mußte meine mir selbst auferlegte Mission durchführen, ehe mein Charakter vollständig verfiel. Eine lange Pause: »So ist das also, ja? Davor habe ich Couper auch gewarnt. Tut mir leid, Whitey, das kann ich nicht machen.« Ein Schock: Man hatte mich durchschaut! Auf Vespucci gab es Stellen, wohin man keine Kamera und kein Aufzeichnungsgerät mitnehmen durfte (zusätzlich zu der Tatsache, daß solche Geräte streng rationiert waren). Jetzt verbot man mir, niederzuschreiben, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Damit war zu rechnen gewesen, trotzdem war die Überraschung niederschmetternd. Rogers redete weiter, ohne auf eine Antwort zu warten: »Ich bin nicht darauf eingerichtet, veraltete, organische Chemie zu betreiben. Verdammt, jedes Fabrikationsgerät auf Industrieebene könnte herstellen, was immer Sie brauchen, mit kleinen, roten Fähnchen auf jedem siebzehnten Exemplar, wenn Sie das wollen. Da Sie aus einer Kultur mit Massenproduktion kommen, verstehen Sie nicht, was das für einen Unterschied macht. Aber es gibt Grenzen. Sie brauchten Holz oder Altpapier und, mal sehen: Graphit, Lehm, Zedernholz, Gummi – oder wollten Sie mit Tinte arbeiten?« »Was?« »Das Programm könnte ich vielleicht bestellen. Aber hören Sie mal, ginge es nicht auch mit Plastik, einer netten Matte, die einen Eindruck festhalten könnte? Und einen schicken Stift dazu, der die Molekularstruktur verändert? Wir könnten es löschbar machen, und sogar Farbe wäre hinzukriegen, alles mit dieser kleinen Maschine. Was sagen Sie dazu?«
Ich sagte nicht, daß ich völlig durcheinander war. Ich dankte ihm nur überschwenglich und erklärte mich bereit, später vorbeizuschauen, um mir abzuholen, was seine wunderbare Maschine geschaffen hatte.
3 Es sah einem richtigen Klassenzimmer ähnlicher als alles, was ich bisher gesehen hatte. Vierzig Wesen aller Gattungen saßen hinter angemessen gestalteten Pulten in einem freundlichen Raum mit Bildern, die, wie ich annahm, Landschaften darstellten – Städte, Wildnis – auf verschiedenen Planeten, die das Sternenschiff besucht hatte. Ganz vorne sprach ein Dozent zusammenhängend zu einem bestimmten Thema. Wenn man die beiden Glaswände an der Rückseite übersehen konnte, hinter denen verschiedene Meereslebewesen die Vorgänge verfolgten, fühlte man sich fast wie zu Hause. Es gab sogar so etwas Ähnliches wie eine Tafel. »Wir haben viele Namen und historische Beispiele für jedes der drei möglichen, politischen Systeme«, stellte der Dozent – menschlich, weiblich, blond, mit einer Familienähnlichkeit zu Lucille Olson-Bear – fest. »Jedes hat aufschlußreiche Eigenschaften.« Sie drehte sich um, zeichnete auf die Fläche hinter sich mit dem Finger ein Dreieck, mit der Spitze nach oben, und deutete auf die untere, rechte Ecke. »Alle Formen autoritärer Herrschaft sind dem Wesen nach paternalistisch, gewöhnlich oppressiv religiös und legen großen Wert auf Gesetz, Ordnung und schnelle, sichere Bestrafung jedes Übeltäters. Majoritätssysteme dagegen…« – sie wechselte zur unteren, linken Ecke – »sind typisch maternalistisch und um soziale Fürsorge und das Überleben vor allem der produktiv Untauglichen auf Kosten aller anderen besorgt. Jedes dieses Systeme repräsentiert eine im wesentlichen infantile ›Anpassung‹ an die kulturelle und wirtschaftliche Realität und verhindert eine Weiterentwicklung sowohl des Individuums wie der Gesellschaft – eine Hauptursache für die zyklischen Höhen und Tiefen, die wir bei den Kilroys beobachten.«
Jetzt zeigte sie auf die Spitze. »Der Individualismus ist vom Charakter her erwachsen und repräsentiert selbstauferlegte Verantwortlichkeit, stetiges Wachstum und individuelle und kulturelle Reife.« Ich beobachtete, wie der Lieutenant EdWina Olson-Bear beobachtete, dann erwischte ich G. Howell Nahuatl dabei, wie er mich beobachtete. Obwohl der Kojote uns unter dem Vorwand hierhergebracht hatte, er wolle uns der Praxeologin vorstellen, war ich sicher, daß er sich viel mehr für unsere Reaktion auf die Vorlesung interessierte als für irgendwelche beabsichtigte Vorstellungsrituale. Ich fand, daß eine ›paternalistische‹, disziplinierte Gesellschaft, oder eine ›maternalistische‹, die sich auf verantwortliche Weise ihrer Hilflosen annahm (beide wurden auf Vespucci praktiziert), von größerer Reife zeugte als der gesetzlose Hedonismus, den die Konföderierten verfochten, und der mir oft als hemmungslos kindisch erschien. Sie schritt durch den Raum und legte die Hand auf die Darstellung eines Berges, in dessen Felswand Menschengesichter gehauen waren. »Dank der ›Vier von Rushmore‹ – Thomas Paine, Albert Gallatin, Thomas Jefferson und Lysander Spooner – griff die Revolution von NordAmerika auf die ganze Welt über. Friede, Wohlstand und Fortschritt, all das erwuchs aus der Vorstellung absoluter Rechte des Individuums unter einem System einstimmiger Zustimmung. Angesichts der Tragödie der menschlichen Evolution – daß sich nämlich, als Verteidigung gegen den Geburtsschmerz, der gefährliche Mechanismus der Unterdrückung entwickelte, der bei Mutter und Kind wirkte und, wie jedes starke Schmerzmittel sabotierte, während er gleichzeitig beruhigte – wirkt diese Revolution immer mehr wie ein Wunder.« Ich rutschte unbehaglich auf meinem bequemen Sessel herum. Trotz der Vorlesung war das weder ein Seminar über Geschichte noch über Biologie. Der Lieutenant war hier, weil er Howell dazu gekriegt hatte, ihn jemandem vorzustellen, und ich zur Tarnung – aber auch aus persönlichen Gründen. Da ich die Operation auf Obsidia nur am Rande mitbekommen hatte, bis sie praktisch vorüber war, wollte ich jetzt unbedingt genau beobachten, was auf der nächsten Station geschah. Die kriegerischen Praxeologen der ›Tom Paine Maru‹ beabsichtigten auf einem Planeten mit dem unattraktiven Namen Hoand eine andere Methode als auf
der vorhergehenden Welt anzuwenden. In dieser Sitzung sollte sie erklärt werden. EdWina Olson-Bear sprach weiter über drei hoandische Nationalstaaten. Uxos war eine Massengesellschaft, wo alles im Kollektiv, für das Kollektiv, im Namen des Kollektivs geschah; Obohalu, das gewisse Ähnlichkeiten mit der alten, vespuccianischen Republik hatte, gab vor, ein freies Land zu sein und war technologisch am fortschrittlichsten und wahrscheinlich am mächtigsten, aber gegenwärtig ging es steil bergab damit; Houtty verfügte nicht über die gewaltigen, reglementierten Massen von Uxos, besaß aber ziemlich das gleiche Potential zur Massenvernichtung wie Obohalu. Alle standen an der Schwelle zur interplanetaren Raumfahrt, jeder Staat befand sich ständig im Kalten Krieg mit den beiden anderen, was den Fortschritt bremste und die Produktivität auszehrte. Der Vorlesung zufolge war in der Politik – anders als in der Geometrie oder der Architektur – das Dreieck die instabilste aller Formen. Etwas mußte nachgeben, wahrscheinlich explosiv – mit nachwirkender Strahlung. Ich hörte mir eine detaillierte Analyse aller drei Kulturen an und auch die Fragen der Dozentin an die Studenten, wie diese Situation auf Hoand entstanden war und was man tun konnte, um sie zu ändern. Die Zeit verging. »Das genügt für heute«, sagte sie schließlich. »Vergessen Sie nicht, sich Wilsons ›Ein Feind des Staates‹ und Kropotkins ›Mein Leben mit Pete‹ noch einmal anzusehen. Man wird Sie auffordern, Vergleiche zwischen Hoand, der Erde und Sodde Lydfe anzustellen, insbesondere zwischen Podfet, Nazideutschland, Rußland unter Stalin und Houtty im Gegensatz zu Groß Foddu, England, Dänemark und Obohalu. Anders als auf Hoand, wo man ein relatives Gleichgewicht des Schreckens erreicht hat, stehen die Bewohner von Sodde Lydfe nach einem langen, konventionellen Krieg nun kurz davor, Atomwaffen einzusetzen. Ich möchte, daß Sie mir, unter Verwendung der angemessenen, praxeologischen Notation erklären, warum.« Nach einigen informellen Fragen über die Hausaufgaben für den nächsten Tag strömten alle auf den Korridor hinaus. Durch die Wände konnte ich die Tümmler wegschwimmen sehen.
4 »Das hier ist eine Unterbrechung meiner Routinearbeit, Lieutenant.« EdWina nickte ihm über ihre Kaffeetasse hinweg zu. »Ich habe als Dozentin angefangen und bleibe gerne in Übung.« Höflich verbrämte Verärgerung war in EdWina Olson-Bears Stimme zu hören. Ich war verlegen, ohne genau sagen zu können, warum. Ich hatte ja nicht so dumm gefragt. Das bizarre Restaurant, nicht weit von EdWinas Seminarraum entfernt, war mit der üblichen, farbigen, verwirrenden Mischung von Spezies besetzt, viele trugen Kostüme, die ich jetzt als einheimisch hoandisch oder zu Sodde Lydfe gehörig erkannte. Eine Fläche so groß wie die Turnhalle war vom Boden bis zur Decke mit mannshohen, transparenten Plastikröhren angefüllt worden. Sie hatten alle paar Meter kleine, blasenförmige Nischen als Tische, und das Ganze wurde schwach erleuchtet von Hunderten von flackernden Kerzen, deren Licht durch das Plastik gebrochen und von den verdrehten, gewölbten Wänden reflektiert wurde. Howell nannte das Lokal ›Mr. Meep's im Bauch des Wales‹, eine Neugründung, vorher war hier ein anderes, nach Ansicht des Kojoten noch sonderbareres Restaurant gewesen. Der Besitzer, offenbar ein Freund von ihm, führte uns durch das Labyrinth. Der Unternehmer-Schimpanse trug eine knöchellange, gestreifte Robe und einen langen, falschen Bart. Howell sagte, die Sprache, in der er uns anredete, sei Jiddisch. Aus der Nähe sah EdWina eher angenehm als hübsch aus, sie hatte braune Augen, eine breite, intelligente Stirn und eine Stupsnase, die trotz der Beschreibung ganz anders war als die ihrer Schwester. Wo ihre Schwester fast unmenschlich schlank war, ohne hager oder zerbrechlich auszusehen, hatte EdWina Rundungen, ohne dick zu sein. »Nach Lucilles Unfall habe ich ihre Stelle in der Praxeologie eingenommen.« Sie schaute von mir zum Lieutenant, unterdrückte einen finsteren Blick und lächelte dann dem Kojoten zu. Kerzenlicht zu dieser Tageszeit war ein besonderes Erlebnis. Mr. Meep, der anscheinend auch Besitzer des letzten Restaurants an dieser Stelle gewesen war, schien sich auf sonderbare Erlebnisse zu spezialisieren. »Wir waren beide jeweils der
jüngste Leiter, der je…« »Unfall?« wiederholte ich. In dem Blick, den sie Howell zuwarf, war kein Lächeln mehr. »Man hat es Ihnen nicht gesagt?« Die elektronische Stimme des Kojoten wurde seltsam verzerrt von der gewölbten Plastikwand zurückgeworfen. Er wandte sich mir zu. »Bei einer ersten Planetenerforschung vor einigen Jahren wurde Lucille ›getötet‹, so schwer verletzt, daß man sie nicht sofort wiederbeleben konnte. Ja, nicht einmal mit unserer medizinischen Technologie, Whitey. Ihre Überreste wurden in Stasis aufbewahrt.« »Stasis?« Sermander unterbrach seinen bisher kontinuierlichen Feldzug gönnerhafter Blicke in Richtung auf die Praxeologin und sprach Howell an. »Ist das nicht der Zustand, in dem ich…« Der Kojote nickte, eine seltsam menschliche Bewegung. »Ein Schwebezustand, ganz anders als Tiefkühlung, Schlaf oder sonst etwas, was Sie kennen, spielt sich auf der subatomaren…« »Interessant«, unterbrach der Lieutenant gelangweilt, »ich kann mich an nichts erinnern.« Er rieb sich die Schulter, die man ihm beinahe abgetrennt hatte; so etwas hatte er früher schon gemacht – auf Vespucci, wo er bescheiden die Aufmerksamkeit auf eine Wunde aus dem Endkrieg lenkte – immer in Gegenwart von Frauen. Ich nannte das bei mir ›den Annäherungsversuch über das Verwundetenabzeichen‹. »Vom Angriff der Scavier bis zum Aufwachen an Bord der ›Little Tom‹. Nach dem, was der Corporal sagt, ist das auch ganz gut so.« »So denkt man allgemein«, sagte EdWina, »obwohl es manchmal, wie im Fall meiner Schwester – nicht immer…« »Aber sagen Sie«, unterbrach der Lieutenant zum zweitenmal. Er wurde schon so wie die Konföderierten. »Wie kommt es, daß eine attraktive, fähige Frau wie Sie ihre ganze Zeit mit trockener Praxeologie verbringt und ihre Weiblichkeit in Fortgeschrittenenseminaren vergeudet, die eher wie militärische Einsatz…« EdWina lachte. »Howell, da hast du ihnen aber eine ganze Menge nicht erzählt. Lieutenant, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, daß das ein Fortgeschrittenenseminar war – einfach wegen Ihrer erhabenen An-
wesenheit? Haben Sie nicht die visuellen Hilfen bemerkt, die…« »EdWina«, warnte Howell, »ich würde nicht…« »Entschuldigung. Ich hätte ihn wirklich gerne in einem Fortgeschrittenenseminar – als Lehrbuchbeispiel für die autoritäre Persönlichkeit!« Wieder hielt sie inne und lachte. Das Gesicht des Lieutenant wurde purpurrot. »Dieser Kurs ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung von mir, für zurückgebliebene Angehörige und kampfgeschädigtes Personal. Meistens Hirnverletzte.« Ehe noch jemandem etwas einfiel, kam das Essen.
5 »Aborigines? Nun, das sind die Ureinwohner von Australien. Die gibt es übrigens immer noch. Wie seid ihr denn in einer lockeren Unterhaltung darauf gekommen?« Owen Rogers hatte mir mehr als ›Papier‹ zum Notizenmachen gebracht. Er war an diesem Abend mit einem frisch hergestellten ›Notizbuch‹ in meinem Quartier aufgetaucht, mit dem ›Stift‹, den er mir versprochen hatte und mit einer Ladung Munition, die ich eigentlich nicht brauchte – sie war nur ein Vorwand für die anderen Dinge gewesen. Und mit einer Mandarre! Wenn es so etwas wie ein kostenloses Mittagessen wirklich nicht gab, dann brachte ich eine ganz schöne Rechnung zusammen. Ich fingerte an den Bundknöpfen herum und befummelte müßig die Schaufelregulierung. »Howell hat mir etwas von Ihnen erzählt, was ich nicht ganz verstanden habe, Sie sollen angeblich philosophisch nicht zwischen Zeit und Raum unterscheiden. Ich verstehe ja nicht viel von Physik, aber… – nun ja, auf Vespucci sagt man, daß es einen solchen Unterschied nicht gibt. Angeblich die letzte Neuigkeit.« Rogers grinste. »Das hängt gewissermaßen von dem Kontext ab, in dem man steckt. Howell meinte vermutlich, daß die Aborigines das eine mit dem anderen in einem ungeeigneten Kontext verwechselten. Sie dachten, wenn man von weit herkommt, käme man auch aus der fernen Vergangenheit. Als die ersten Forscher Australien erreichten, glaubten
die Aborigines, die Eindringlinge seien ihre eigenen Vorfahren.« »Eine fast angemessene Einstellung über interstellare Entfernungen hinweg, nicht wahr?« »Whitey, Sie verstehen die Hälfte davon nicht. Aber Howell wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. Es gibt eine Reihe verschiedener Dimensionen – Richtungen – im physikalischen Universum; es gibt vorne und hinten, es gibt oben und unten, und es gibt die eine und die andere Seite. Das sind die drei Dimensionen des Raumes. Es gibt auch in der Zeit vorne und hinten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, und die Gegenwart liegt vermutlich irgendwo mittendrin.« »Das hört sich ganz einfach an.« »Ja? Nun, es gibt auch die eine und die andere Seite – zeitlich gesehen…« »Das habe ich gehört. Etwas über verschiedene Geschichtslinien, verschiedene…« »Wahrscheinlichkeit. Sehen Sie: niemand wußte etwas von statistischer Wahrscheinlichkeit – das ist eine andere Art, diese seitliche Dimension zu betrachten – vor Blaise Pascal. Er war Mathematiker, Philosoph und Spieler, bis er damals, na, vor vielleicht vierhundert Jahren – zur Religion kam. Es dauerte noch länger, bis irgend jemand erkannte, wie wichtig die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Zeit nicht nur der Länge nach unendlich ist – in der Dimension der ›Dauer‹ – sondern auch nach der Seite hin – auch in der Dimension der Wahrscheinlichkeit.« »Was meinen Sie da mit ›unendlich‹?« »Daß es eine unendliche Zahl von Universen gibt, daß jedes Ereignis, das auf eine Reihe verschiedener Arten stattfinden kann, auch tatsächlich auf jede Weise stattfindet, in der es geschehen kann. Daß jede menschliche Entscheidung tatsächlich auf jede Weise getroffen wird, die möglich ist.« »Owen, ich muß Sie noch etwas fragen.« Der Praxeologe hielt inne und blinzelte. »Was denn, Whitey?« »Nun, wenn Wissenschaftler im Sand meines Heimatplaneten graben, treffen sie gelegentlich auf die Überreste vierbeiniger Geschöpfe, die Howell sehr ähnlich sind. Offenbar wurden sie importiert, als unsere
Ahnen auf Vespucci ankamen, als Nahrung oder zu einem anderen Zweck. Aber intelligent waren sie offensichtlich nicht. Sie waren Haustiere irgendwelcher Art, ihnen fehlte – wie es auch bei Howell sein muß – genügend Schädelkapazität für intelligente Geschöpfe. Aber Howell hat mehrmals nebenbei erwähnt, daß er ›Schaltkreise‹ besitzt, er vergißt nicht nur niemals etwas, er scheint sich auch an mehr zu erinnern als jeder andere, den ich auf diesem Schiff kennengelernt habe – ich meine, ich will Sie nicht beleidigen.« Ich wurde vor Verlegenheit rot. »Das haben Sie auch nicht. Und Sie haben recht. Als Howell geboren wurde, war er ein vierbeiniges Tier, nicht einmal ein Haustier. Er stammt von einer Gattung wilder Präriestreuner ab. Aber er unterscheidet sich auch darin, daß er für mehrere tausend Megabytes elektronische Zusatzgeräte mit sich herumträgt – Datenspeicherung und -abruf, Geschwindigkeits- und Kapazitätsverstärker – die an die Oberfläche seines Gehirns angeschlossen sind. Er ist gewissermaßen zur Hälfte ein Hund und zur anderen Hälfte ein Roboter. Er wird Ihnen gerne alles darüber erzählen, wenn Sie ihn fragen. In dieser Hinsicht ist er der Glaskatze des Patchworkmädchens ziemlich ähnlich – machen Sie sich darauf gefaßt, mehrere Stunden lang herumzustehen und zuzuhören.« »Ach so.« Das hatte ich ungefähr erwartet. Das Problem war, daß das zu einer Frage führte, die ich nicht zu stellen wagte, weder an Rogers, noch an sonst jemanden auf diesem Schiff. Über Howell war ich mir selbst klargeworden, dann hatte ich einen Sprung gemacht: niemand mußte hier jemals etwas nachsehen, alle wußten jeden Augenblick genau, wieviel Uhr es war, wann das nächste Hilfsschiff ankommen würde, welche Temperatur herrschte und was die Person im nächsten Raum gerade dachte. Waren sie alle wie Howell, hatten sie alle elektronische Gehirnimplantate, waren sie Sklaven eines riesigen Hauptcomputers? Auf jeden Fall glaubten sie alle das gleiche, handelten kooperativ, vollbrachten große Leistungen, wie die ›Tom Paine Maru‹ selbst, ohne eine sichtbare Institution, die ihre Bemühungen indoktrinierte, lenkte oder koordinierte. Alle handelten, als stünden sie unter der Leitung einer weisen, mächtigen, irgendwo angesiedelten Regierung. Das Problem war: Sie hatten keine. Unmöglich!
Die Glaskatze des Patchworkmädchens?
14. Kapitel Operation Klaatu 1 Ich hing mitten in einem verdunkelten Raum, hakte meinen linken Arm unter mein rechtes Knie ein und klappte mich in eine sitzende Stellung. Das Notizbuch stützte ich mit der linken Hand gegen meinen nackten Schenkel, und dann drehte ich so lange an Roger's Stift, bis er ein weiches Licht auf die Plastikseiten warf: »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD 038 SEITE EINS: Entlang der unendlichen Dimension der ›Wahrscheinlichkeit‹ gibt es Seite an Seite existierende Universen (›koexistent‹ ist der an Bord der ›Tom Paine Maru‹ dafür verwendete Ausdruck), in denen zum Beispiel der Große Knall nie stattgefunden hat. Oder anders stattgefunden hat. Oder wo in der erdianischen Geschichte jemand namens Albert Gallatin den Leuten den Whiskyaufstand ausredete, anstatt ihn zu dem anarchistischen Sieg zu führen, den die Konföderierten als den Beginn ihrer Ära feiern. Die drei wichtigsten Entwicklungen, die die Geschichte dieser Ära, das dritte Jahrhundert A. L. wie sie es nennen, bestimmen, waren die Vervollkommnung der Gewinnung von Fusionsenergie, Verbesserungen im Bereich der Raumfahrt und die Entdeckung paralleler Realitäten. Während Dora Jayne Thorens und ihre Partnerin Ooloorie Eckickeck P'wheet (ich gebe den letzten Namen phonetisch wieder, so gut ich kann – das Fehlen geschriebener Sprache bei den Konföderierten werde ich
später behandeln) nach einem Schneller-als-Licht-Sternenantrieb suchten, stolperten sie zufällig über eine andere Erde, wo ihr Aufstand niedergerungen worden war, wo der Staat wuchs und sich aufblähte, anstatt zu verkümmern und abzusterben. Die oben genannten Beispiele sind nicht willkürlich gewählt: Das erste, ein etwas anderer Anfang für das Universum, ermöglichte das, was man hier die ›Malaise-Katastrophe‹ nennt. Die Anspielung ist unverständlich, aber dieses Ereignis scheint, fast im gleichen Maße wie der Whiskyaufstand, für alles verantwortlich zu sein, was die Konföderation jetzt tut. Es ist der Grund, warum diese gewaltigen Schiffe die Galaxis erforschen. Es bildet die Basis für ihre Einstellung gegenüber den ›Kilroys‹. Das zweite Beispiel brachte die Welt hervor, auf der wir jetzt stehen. Man kann unmöglich vermeiden, Schlußfolgerungen zu ziehen. Es gibt andere Universen, wo ich niemals gezwungen wurde, die Musik aufzugeben, wo ich niemals Eleva begegnete, wo ich mich niemals freiwillig auf die ›Asperance‹ meldete, wo ich in jenem Kerker auf Sca aufgab, wo ich…« Ich hielt inne, drehte das Ende des Stifts, den Rogers mir gegeben hatte, auf die ›Lösch‹-Funktion und rieb den letzten Absatz, den ich geschrieben hatte, sorgfältig aus. Statt dessen schrieb ich: ›Jede Entscheidung bringt eine neue Brut von Universen hervor, die völlig komplett sind und sich vielleicht nur durch eine einzige, menschliche Entscheidung voneinander abheben. Nach Rogers (auch nach anderen, mit denen ich mich über dieses Thema unterhalten habe) ist das keine religiöse Vorstellung, sondern eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache. Ich hatte in meinem Leben viele Gründe, mich unbedeutend und unwirksam zu fühlen. Wenn jedoch jede Entscheidung, die ich treffe, ganz gleich, wie trivial sie ist, ein völlig neues Universum schafft – einen ganz neuen Satz von Universen, was bedeutet es dann für die Macht des menschlichen Geistes? Jedes menschlichen Geistes? Sogar des meinigen?‹
Ich hörte wieder auf zu schreiben. Verspätet war mir eingefallen, daß meine Tätigkeit als selbsternannter Spion gegen die Konföderierten, wenn sie Erfolg hatte, mir eine Beförderung einbringen und meine Chancen bei Eleva verbessern konnte. Jetzt war es notwendiger denn je, nach Hause zu kommen! Seltsamerweise löste dieser eigennützige Gedanke gleich gegenüber einem Dutzend Leuten Schuldgefühle aus. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr fand ich meinen Freund, meinen nominellen Vorgesetzten Enson Sermander… nun, ziemlich dumm und langweilig im Gegensatz zu den Leuten, die ich hier kennenlernte. Und doch war er mein Lieutenant, der gesetzliche Vertreter des Planeten, auf dem ich geboren war – und der mir nun selbst etwas dumm und langweilig vorkam. Was Eleva anging… Wieder überspülte mich eine Welle von Schuldgefühl, gleichzeitig drängte sich mir der Gedanke auf, daß eine Frau, die etwas wie die Beförderung brauchte, die ich anstrebte, um erregt zu werden, es nicht verdient, erregt zu werden. Ich unterdrückte den Gedanken – und fühlte mich sofort schuldig, weil ich ihn unterdrückte, da doch für meine neugefundenen Freunde Unterdrückung die Wurzel allen Übels war. Kann man sich schuldig fühlen, weil man sich schuldig fühlt? Ich hatte Howell danach gefragt. Seine Antwort war rätselhaft gewesen: »Nur in Südkalifornien.« »Schreibst du schon wieder in dein kleines Tagebuch?« Ich fuhr zusammen. Im freien Fall bewirkte das ein langsames Rotieren um mein eigenes Massezentrum. Lucilles Stimme klang scharf. Ich gewann eine angemessene Haltung zurück, dazu die Reste meiner Würde, faltete gereizt das Notizbuch zusammen, steckte den Stift durch die Schlinge und verstaute beides in dem Netz an der Wand, in das ich mich hineingestoßen hatte. Sie strich sich über ihr frischgewaschenes Haar. »Keine Angst, Corporal-Baby, ich würde nicht gucken, selbst wenn du mich dafür bezahlen würdest.« »Deshalb mache ich mir keine Sorgen, Lucille.« Ich blickte mich nach meinem Anzug um. »Ich überlege nur, ob ich meine Eindrücke so nie-
derlegen kann, daß sie einen vernünftigen Sinn ergeben.« Sie konnte nicht wissen, daß das Notizbuch eine Waffe zur Verteidigung meiner Zivilisation war. Ich würde meine Abhandlung über metaphysische Philosophie unter Dach und Fach bringen, sobald ich genügend Informationen für den vespuccianischen Geheimdienst beieinander hatte, und dann mit technischen Einzelheiten anfangen. Das könnte für unsere Wissenschaftler nützlich sein, selbst wenn ich persönlich nichts davon verstand. »Gut, dann schreib das in dein Buch!« Die Wände wurden durchsichtig. Wir befanden uns nicht länger in einer warmen Höhle, sondern im oberen Abschnitt eines Aufklärers, der genau dem ersten glich, auf dem ich je gefahren war. Draußen schienen Sterne – richtige Sterne – harte, helle Splitter. Die perlmuttschimmernde Scheibe der ›Tom Paine Maru‹ sah aus wie ein seltsam geformter Mund. Das hellste Objekt war die Sonne von Hoand, die ein halbes Dutzend Planeten, die meisten außer Sicht, und ein halbes Hundert natürliche Satelliten erleuchtete. Der Planet selbst hing vor uns, weißgrün marmorierte Wirbel, mit drei pockennarbigen Begleitern. Die ›Operation Klaatu‹ sollte beginnen. Trotz meiner Verärgerung war auch Lucille eine der Personen, denen gegenüber ich Schuldgefühle empfand, ihr gegenüber vielleicht mehr als allen anderen. Wir waren an Bord eines geliehenen Hilfsschiffs, der ›John Thomas Maru‹ und folgten dem riesigen, interstellaren Schiff, das ihm als Basis diente. Das hier sollte eigentlich ein Ferienausflug sein. Sie hatte schwer gearbeitet. Ihre Landsleute hatten meinen Kopf schwer bearbeitet. Es war Zeit für eine Pause. Irgendwie wurde wieder eine Ausbildung daraus. Ich hatte mich gefragt, wie wohl die Liebe im freien Fall sein würde. An Bord der ›Asperance‹ hatte es keine Gelegenheit (und auch keinen Platz) dafür gegeben. Jetzt erforschte ich es, so oft wir beide nur konnten. Es ist eine recht schlüpfrige Sache und erfordert mehr Energie, als ich erwartet hätte, dazu noch einiges an Ausrüstung, aber es ist interessant, entspannend, sobald man sich daran gewöhnt hat, und überaus befriedigend.
Wie üblich war Lucille verärgert über mich. Diesmal war ich, obwohl sie das nie zugegeben hätte, nicht so schnell müde geworden, wie sie erwartet hatte. Diese Züge hatte sie. Wir waren ein schwieriges Paar, und wenn wir uns liebten, dann immer gewalttätig. Jeder schien etwas zu haben, was der andere dringend brauchte. Fast gegen unseren Willen waren wir an Bord dieses kleinen Schiffs wieder zusammengekommen. Wenn alles gut ging mit uns, sah ich die Situation objektiver, bewertete sie weniger im Hinblick auf meine Pflicht, sondern mehr danach, was immer von mir verlangt worden war, ohne daß ich je eine Entlohnung dafür bekommen hätte. Ich dachte unfreundlich an den Lieutenant und ertappte mich sogar bei der Überlegung, daß Eleva vielleicht ein… – die proktologische Bezeichnung, die Lucille dafür hatte, verwenden wir in anständiger Gesellschaft auf Vespucci sehr selten. Jetzt steckte sie ihr Haar auf und schob es in die Kapuze ihres Anzugs – mehr als Sicherheitsvorkehrung, da wir auf normale Weise an das Mutterschiff andocken würden. Bei ihr erschien das jedoch wie ein Schlußpunkt, der die Arbeit vom Vergnügen abgrenzte, ihre gewöhnliche Härte von den seltenen, weichen Augenblicken, die mich mehr verwirrten als die gewohnte Kampfhaltung. »Ich muß aufs Schiff zurück. In einer Stunde findet eine Konferenz statt über Pläne, wie man die Kriegsbefürworter unter den Politikern in Groß Foddu in Mißkredit bringen kann. Wird eine heikle Sache werden. Krieg ist immer so beliebt bei…« Ich schüttelte den Kopf. Ich warf die Hände hoch. »Schon wieder politische Vorlesungen im Bett.« »Nach dem Bett; und mit der hast du jetzt angefangen; beklag dich nicht. Schau, du Dummer: Es gibt drei Grundformen von Majoritätssystemen, und auf Sodde Lydfe sind sie alle vertreten: Sozialismus, Faschismus und Demokratie. Du mußt verstehen, daß auch der Faschismus eine auf Majorität beruhende Form ist – er ist genauso stark auf öffentliche Unterstützung angewiesen wie jede Demokratie, sieh dir doch die Massenszenen an, die er so liebt – und daß die Demokratie unter dem Deckmäntelchen der sogenannten freien Willensbildung genauso verdammt diktatorisch ist wie die beiden anderen. Darf ein halbes Dutzend
Individuen einem siebten sagen, was er tun soll, nur weil sie ihn zusammenschlagen könnten, wenn sie wollten?« Das war Wahnsinn! »Ist wählen nicht besser als Leute zusammenschlagen? Jedenfalls brauchen es die Leute, daß man sich um sie kümmert. Howell sagt, euer System basiert auf Habgier.« Sie schnaubte verächtlich. »Ein freier Markt ernährt mehr Leute auf fairere Weise als jedes andere System. Er ist das einzige System, das in der Lage ist, unproduktive Schwachköpfe wie dich zu ernähren, und das ist wahrscheinlich sein Untergang – irgendwann erwartet ihr das jedenfalls, wie ein Recht. Daß das als Nebenprodukt von Habgier erreicht wird, ist unbedeutend – es sei denn, dir ist mehr an Motivationen als an Ergebnissen gelegen!« Jetzt hatte sie die Stimme erhoben, Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ihres war gerötet; auch über meine Wangen kroch Feuer herauf. Howell hatte mir, weniger heftig, etwas Ähnliches gesagt. Es war schwierig, sicher, Ergebnisse und Motivationen auseinanderzuhalten. Im Augenblick hatte ich die Schwierigkeiten in umgekehrter Richtung. »Schwachkopf?« schrie ich aus voller Kehle und wünschte dabei, sie würde einfach wieder nett sein. »Dumm?« »Schwachkopf! Dumm! Und obendrein noch ein militärischindustrieller Schmarotzer!« Noch nie zuvor hatte ich eine Frau geschlagen. Die Ohrfeige hallte durch das Schiff – draußen wurde angedockt, obwohl ich das im Augenblick nicht bewußt wahrnahm – genau wie eine Sekunde später meine Stimme, als sie mir ihre kleine Faust mit hoher Geschwindigkeit in die Magengrube rammte. Wir standen Zehe an Zehe, keuchend, sprachlos. Merkwürdigerweise strömte Verlangen nach ihr durch meinen Körper. Auch auf ihrem Gesicht konnte ich es sehen, dazu die Verlegenheit, die eine solche geistige Nacktheit im Kielwasser führte. »Na gut« – sie brach den Bann –, »damit sind wir quitt. Wenn wir uns nächstesmal über den Weg laufen, brauchst du dir gar nicht erst die Mühe zu machen, mich anzusprechen. Du wirst nie wieder ein Wort von mir hören.«
Der Boden hob sich unter uns und trug uns in die ›Tom Paine Maru‹ hinauf.
2 Sermander war nicht zu Hause, als ich nachsah. Ich hätte nicht genau sagen können, warum ich das tat, außer, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, ihn falsch beurteilt zu haben. So war es immer: wenn die Sache mit Lucille schlecht lief, bekam ich Heimweh, wurde übermäßig versöhnlich, und die Sehnsucht überwältigte mich. Ich schämte mich, mich durch das Interesse an einer Frau von meiner Loyalität zu meinen Freunden, von der Pflicht gegenüber meinem Land abbringen zu lassen. Als ich zu meiner Kajüte zurückkehrte, wartete er im Korridor auf mich. »Corporal!« Es war ein heiseres Krächzen, sollte ein schreiendes Flüstern, ein geflüsterter Schrei, alles miteinander sein. Er tänzelte nervös herum, rang die Hände, spreizte sie, schüttelte sie und rang sie wieder, während ich näher kam. »Ich habe Sie überall gesucht! Endlich habe ich die Wahrheit über dieses Schiff entdeckt, die aufregendste Information, die Sie überhaupt…« »Sir?« Sein Gesicht war bleich, obwohl die Adern auf seiner Stirn hervortraten, als stünde er kurz vor einem Schlaganfall. »Gehen wir hinein…«, sagte er und verrenkte sich den Hals, um sicherzugehen, daß wir nicht belauscht wurden, »… dort ist die Chance geringer, daß man uns bespitzelt.« Ich hätte ihm sagen können, daß die Chance größer war, aber er war schließlich der Lieutenant. Er warf sich aufs Bett und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Ich setzte mich in einen Stuhl und hörte ihm durch meine Niedergeschlagenheit hindurch zu. »Ich habe mit diesem Nahuatl… mit diesem… ah… Wesen gesprochen. Sie kennen ihn. Glauben Sie, daß er zum Lügen neigt?« »Ich glaube, er neigt weniger dazu als sonst jemand auf diesem Schiff. Warum?« »Denn wenn er die Wahrheit sagt, stecken wir zutiefst in Schwierigkeiten. Wissen Sie, daß er zur Hälfte ein Computer ist? Er besitzt ein raffi-
niertes Implantat in seinem Schädel – oder es besitzt ihn –, das den größten Teil seines Intellektes liefert. Wir sprechen mit einem Gerät, wenn wir mit ihm sprechen, nicht mit einem intelligenten Organismus.« »Nun ja, Sir, ich…« »Die Wahrheit ist, daß sie alle so sind! Nichts als wandelnde Computer, Wale, Schimpansen, Gorillas – Corporal, sogar Menschen! Von Computern gesteuert, die ihnen direkt ins Gehirn genäht sind! Wir sind verloren!« »Sir?« Plötzlich konnte ich mich nicht mehr sehr fließend ausdrücken. »Dieses Geschöpf hat mir hastig erklärt, daß jeder einen unabhängigen Multigigabyte-Computer in seinem Kopf herumträgt, daß es kein Hauptgerät gibt, kein allgemeines Programm. Lächerlich! Welche Gesellschaft würde sich eine solche Chance zur Kontrolle entgehen lassen?« »Andererseits, würden die Konföderierten mit ihrer fanatischen Begeisterung für die Freiheit des Einzelnen so etwas dulden? Für mich ist das höchst verwirrend, Sir.« »Nicht im mindesten. Ihre Sehnsucht nach Freiheit, ja, ihre Freiheit selbst, ist Illusion, die gefördert wird, um die Ruhe zu bewahren. Nachdem ich jetzt ihr Geheimnis kenne – nachdem wir es kennen – werden sie uns sicher den Garaus machen! Diese Gesellschaft muß in einer Zeit, die nicht viel weiter fortgeschritten war als unsere eigene, von einer künstlichen Intelligenz erobert worden sein – sie sind Gefangene ihrer eigenen Maschinen! Sie werden uns töten, ehe wir ihr Geheimnis preisgeben können, ich weiß es!«
3 Die Tür sagte: »Corporal O'Thraight?« Ich legte mein Notizbuch zur Seite. Der Lieutenant war zu einem ungenannten Ziel aufgebrochen. Als die Tür durchsichtig wurde, sah ich EdWina Olson-Bear draußen stehen, in einem einfarbigen, blaßgrünen Anzug. Als sie an meinen Bewegungen irgendwie merkte, daß ich beschäftigt gewesen war, begann sie: »Tut mir leid, Sie zu stören…«
»Das macht nichts, ich war gerade fertig… kommen Sie herein… äh…« Ich machte eine ungeschickte Bewegung, verlegen, weil ich nicht wußte, wie ich sie ansprechen sollte. Ich erwies mich immer mehr als lausiger Spion. Sie stützte sich gegen den Türrahmen. »EdWina. Ich bin gekommen, weil ich fragen wollte, ob Sie unsere erste Operation auf Hoand miterleben möchten. Es wird nur noch…« – sie rollte die Augen, dann sah sie mich wieder an – »… dreiundzwanzig Minuten dauern. Wir haben gerade noch Zeit, hinzukommen.« »Wohin?« »Sie werden schon sehen – ich möchte selbst dabei sein, nicht nur über Kom, weil es ein Lieblingsprojekt von mir ist. Auf Hoand wütet seit dreitausend Jahren Krieg. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu beenden – alles Organisieren und Demonstrieren auf der Welt hat noch nie auch nur das Geringste geholfen, solange Besteuerung und Wehrpflicht…« »Die Leute mögen den Krieg.« Ich verteidigte einen Zynismus, der sich in mir verhärtet hatte. »Das ist wie ein Instinkt.« »Unsinn! Krieg ist ausschließlich gesund für den Staat – und für niemanden sonst. Setzen Sie der Maschinerie des Krieges – der Regierung – ein Ende, und Sie setzen dem Krieg ein Ende. Ganz einfach, aber die meisten Kilroys sind auf diesem Auge blind, so sehr sie sich nach dem Frieden sehnen, auf den Staat wollen sie aus anderen Gründen doch nicht verzichten.« Ich schnallte meinen Waffengurt um und trat zu ihr auf den Gang hinaus. Nach einem Transportfleck durchquerten wir einen mittelgroßen Park, als der Himmel unvermittelt von Blau zu bestirntem Schwarz wechselte. EdWina hielt mich auf. »Das meinte ich nicht, aber es wird schon ein Schauspiel. Bleiben Sie einen Augenblick stehen, wir werden es beobachten.« Hoands äußerster Satellit war ein wertloser Schlackebrocken mit mehreren hundert Kilometern im Durchmesser, der einen an alles erinnerte, was die Sonne von Vespucci umkreiste. Einschließlich Vespuccis selbst.
Die Hoandianer hatten ihre anderen Monde mittels plumper Raketen erreicht, Fahnen aufgepflanzt, Reden gehalten, und waren dann nach Hause zurückgekehrt, wenn ihnen die Luft oder der Mut ausgingen. Bis hierher waren sie noch nicht vorgedrungen. Markierungen am Himmelsbild zeigten, wo Kamerasonden im Meteorstaub steckten, eine oder zwei funktionierten noch. Eine Umlaufsonde sendete Signale zu dem fünf oder sechs Lichtsekunden entfernten Planeten. Alle Bewegung im Park kam zum Stillstand. Die Konföderierten standen herum, saßen auf Bänken, waren wie wir irgendwohin unterwegs oder lagen im Gras und erstarrten zu Statuen, als Kokos Stimme über Lautsprecher überall im Schiff ertönte. »Fünf, vier, drei, zwei, eins, Feuer!« Von der breiten Unterseite des mächtigen Schiffs kam ein zwölf Kilometer breiter Feuerstoß, so intensiv, daß es aussah, als könne man Stücke davon abschneiden und daraus neue Sternenschiffe bauen. Auf der Oberfläche verlieh eine Explosion zur Beendigung von Explosionen dieser unfruchtbaren Kugel vorübergehend eine Atmosphäre. Als sich der Rauch in der luftlosen Leere verteilte, wurde ein brodelnder Lavasee, doppelt so groß wie die ›Tom Paine Maru‹ sichtbar. Der Strahl erlosch. Die Leute atmeten wieder. Eine Pause trat ein, dann kam plötzlich Jubel auf, donnerte durch das Schiff, dröhnte mir in den Ohren. »Wir lassen ihnen eine Stunde Zeit«, sagte EdWina und schritt wieder zielbewußt weiter. »Bis sie es von ihren zahmen Wissenschaftlern erfahren. Diese Stelle hier ist vom Planeten aus nicht zu sehen. Man braucht Zugang zu telemetrischen Daten.« Ich wollte sie dringend nach ihrer Schwester fragen – irgend etwas, nur um sie besser verstehen zu können, aber ich wußte nicht, wo ich anfangen sollte. Howell hatte gesagt, Lucilles Stasisperiode sei in Abschnitten verlaufen und zum Zweck von Behandlungsversuchen häufig unterbrochen worden. Eine völlige ›Regeneration‹ – was immer diese verführerische Phrase bedeutete – war jahrelang durch eine von ihrem Vater ererbte, genetische Störung verhindert worden. Als sie endlich geheilt war, ging sie aus ihrem alptraumhaften Martyrium als veränderte Persönlichkeit hervor.
Ich setzte zum Sprechen an, aber da betraten wir einen Raum am Rande des Parks. Koko, Howell und noch einige andere – schwer zu erkennen, weil der Raum zur Hälfte verdunkelt war. Lucille war auch da. In der anderen Hälfte, die durch eine Scheibe abgetrennt war, standen vier bequeme Stühle, auf einem saß Geoffrey Couper, frisch rasiert vom stumpfen Bug seines massiven Kinns bis zur polierten Kugel seines Schädels. Der Patentanzug des großen Mannes war so eingestellt, daß er wie Metall spiegelte, der Kragen war hochgeschlagen und in forscher, militärischer Weise befestigt – ich fragte mich, ob Lucille ihn jemals kritisierte – an den Füßen trug er passende, silberglänzende Stiefel. Ein Paar Silberhandschuhe ruhten in seinem Schoß. Er wandte sich der Trennwand zu, von der EdWina sagte, sie sei auf seiner Seite ein Spiegel. »Seid ihr so weit, Leute?« Eine Pause, in der ich allmählich zu begreifen glaubte, dann sagte Koko: »Noch fünfzehn Sekunden, Geoff. Sie haben Schwierigkeiten, den Premier aufzutreiben.« »Okay. Was zu rauchen hätte ich wirklich gern, aber das würde die Wirkung verderben.« Über den Raum hinweg begegnete ich Lucilles Blick. Sie funkelte ihre Schwester böse an und schaute dann wehmütig flehend zu mir herüber. Ich würde aus dieser Frau nie schlau werden. Ein warnendes Ping! Penetratoröffnungen erschienen über den leeren Stühlen, erweiterten sich und setzten drei menschliche Gestalten in verschiedenen Stadien des Erstaunens ab. Die erste war ordentlich und nüchtern gekleidet, ein großer Mann wie Couper, er hatte eine Gabel in der Hand und kaute. Er blickte auf, und seine Augen wurden groß. Er schaute die Gabel in seiner Hand an und faßte sie anders, um sie als Waffe zu benützen. Nach einem Blick auf Couper, zu dessen Ausrüstung auch eine Plasmapistole gehörte, legte er die Gabel auf die Armlehne des Stuhls. Im selben Augenblick ertönte ein Schrei, als ein dicker Mann im Schlafanzug in sitzender Stellung im nächsten Stuhl erwachte. Er rieb sich die Augen, fauchte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, und wollte aufstehen. Er konnte nicht – der Stuhl hielt ihn fest – er sack-
te zusammen und starrte um sich wie ein Tier in der Falle. Couper bemerkte er nicht. Er hatte nur Augen für den Mann im Geschäftsanzug. »Holt die Übersetzer an die Strippe, aber zack!« bellte Couper. Im rückwärtigen Teil der verdunkelten Zimmerhälfte hastete jemand davon, um seinem Wunsch zu entsprechen. Der dritte Mann – der Premier von Uxos, wie mir meine Begleiterin mitteilte – war nackt, hatte ein Rolle Toilettenpapier in der Hand und den überraschtesten Ausdruck von allen dreien auf dem Gesicht. Couper warf ihm eine Decke zu und wartete, bis alle drei ihr Erstaunen so weit überwunden hatten, daß sie ihm zuhörten. »Wir haben hier«, erläuterte Couper, während er wartete, dem unsichtbaren Publikum hinter der Trennscheibe – »die drei mächtigsten Individuen auf dem Planeten Hoand. Nicht so schrecklich einnehmend, nicht wahr?« Als der Name des Planeten erwähnt wurde, offenbar das einzige, was sie verstanden, schauten alle drei auf. EdWina flüsterte: »Jetzt werden Sie gleich etwas erleben, was wir den ›Galaktischen Polizeigag‹ nennen. Ich wünschte, er würde mit den Faxen aufhören, sonst verpfuscht er noch die ganze…« »Ich grüße Sie«, sagte Couper plötzlich, »im Namen der Galaktischen Konföderation. Wie Sie bemerkt haben, wird alles, was ich sage, in Ihre jeweilige Sprache übersetzt. Ich brauche Sie einander nicht vorzustellen, und ich brauche mich auch nicht zu entschuldigen, Sie so unvermittelt hergeholt zu haben: das Fortbestehen Ihrer Welt hängt von diesem Ereignis ab.« »Was hat dieser Skandal zu bedeuten?« wollte der in die Decke gehüllte Premier wissen. Das Oberhaupt von Obohalu – der Bursche im Schlafanzug – nickte seinem ehemaligen Feind aggressiv zustimmend zu und funkelte jetzt Couper böse an. Als die anderen fertig waren, sagte der Kanzler von Houtty ruhig: »Ich wüßte wirklich sehr gern, wie Sie das gemacht haben. Die Explosion des Mondes war spektakulär, aber verständlich. Das hier ist jedoch wunderbar. Werden Sie es mir sagen?«
»Zu gegebener Zeit, Sir. Das war nur ein ganz kleiner Bruchteil der uns zur Verfügung stehenden Fähigkeiten. Im Augenblick haben wir jedoch andere Dinge zu besprechen. Sind Sie bereit?« »Vorausgesetzt, der Premier und der Präsident sind ebenfalls bereit.« »Meine Herren? Wir sind durchaus gewillt, uns, wenn nötig, mit Mitgliedern Ihrer Opposition zu beraten. Oder uns direkt an die Öffentlichkeit zu wenden.« Mehr widerwillige Zustimmung habe ich weder vorher noch nachher je wieder in einem einzigen Raum konzentriert erlebt. Der Kanzler schien als einziger gefaßt, ein gelegentliches Zwinkern seiner kühlen, grauen Augen war das einzige Lebenszeichen von ihm. »Nun gut: Obwohl Ihr Planet durchaus innerhalb unserer Grenzen liegt, wurde erst vor kurzem entdeckt, daß er bewohnt ist. Ich heiße Sie in der Konföderation willkommen und warne Sie, daß Sie – sicher unwissentlich – bestimmte Statuten derselben verletzen.« Er deutete auf einen Stapel neben seinem Knie, drei massive, dicke, aluminiumgebundene Bücher, die ersten, die ich an Bord des Schiffes gesehen hatte. »Das muß geändert werden. Diese Schritt-für-Schritt-Anweisungen sind sorgfältig auf Ihre jeweilige Nation zugeschnitten und sagen Ihnen, wie Sie damit anfangen…«
15. Kapitel Buchhalter der Seele 1 BLAAAMMMMM!!! Der Dardick zuckte in meiner Hand. Das widerlich riechende Wesen, das mich angriff, löste sich auf, aber gleich dahinter kam noch eins, dem Speichel von den Fängen triefte. BLAM! BLAM! BLAM! Der Rotor raste; elfenbeinfarbene Hülsen lagen zu meinen Füßen auf dem Boden herum. Mit ausgestreckten Klauen trampelte das Monster näher, immer näher… »Schade, Whitey«, sagte eine körperlose Stimme. »Das hier hat Sie gefressen.« Wie war ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten?
2 Natürlich durch einen Streit mit Lucille. Ja, an diesem Abend war ich wieder mit Lucille zusammen. Wir hatten mit Couper und seinem Team zu Abend gegessen, nachdem man die Hoandianer nach Hause geschickt und ihnen versprochen hatte, man wolle, sollten sie mit der politischen Opposition auf Schwierigkeiten stoßen, diesen Leuten den ›Galaktischen Polizeigag‹ vorführen, um sich ihrer Kooperation zu versichern. Coupers metallgebundene Bücher waren nichts anderes als Checklisten, anhand derer man eine Regierung bis zu ihrer völligen Abschaffung zurückschrauben konnte. In einem Land war der erste Schritt die Übergabe der Geldherstellung an private Banken. In einem anderen die Öffnung der Arsenale. Es kam auf die örtlichen Bedingungen an, die genauen Schritte, ihre Anzahl, die Reihenfolge, in der sie durchgeführt werden
mußten, und dazu waren jahrelange Berechnungen durch die Praxeologen erforderlich. Vielleicht würden die Leute auf diesem Planeten niemals erfahren, daß wir dort gewesen waren. Das Versprechen, durchsikkern zu lassen, daß eine Invasion von Fremden stattgefunden hatte, war Coupers bester Hebel gewesen. In dieser Nacht liebten wir uns wieder, derselbe gewalttätige, zutiefst aufwühlende Vorgang, der uns beide erschreckte und jeden für den anderen unwiderstehlich machte. Gegen Morgen stritten wir wieder in höchster Lautstärke – diesmal darüber, wie schlimm die Situation auf Hoand tatsächlich gewesen war. Die Art, wie man die Würdenträger von Hoand – Herrscher über einen ganzen Planeten – wie unartige Kinder behandelt hatte, stieß mich ab. Natürlich machte ich den Fehler, das auszusprechen. Ehe ich wütend wegging, nach dem vorausgegangenen, kurzen Waffengang – diesmal schlug sie mich zuerst –, geschahen noch zwei Dinge: wir liebten uns noch einmal; und sie forderte mich heraus, selbst auf einen Planeten zu gehen und mir alles anzusehen. Und so kam es dazu, daß ich für Afdiar trainierte. Ich kam gerade rechtzeitig in meine eigene Kabine zurück, um eine Wandbotschaft von Howell in Empfang zu nehmen. Das Fell des Kojoten sträubte sich auf dem Bild. »Whitey, du mußt herkommen, so schnell du kannst. Ins Quartier des Lieutenant. Er ist zusammengebrochen – Gehirnembolie, wie man mir sagte – liegt im Koma. Wenn du nicht sofort etwas unternimmst, ist er in zwanzig Minuten tot!«
3 Da ich der nächste Angehörige innerhalb von mehreren hundert Lichtjahren war, wollten sie meine Zustimmung, ehe sie den Lieutenant behandelten. Das war das einzig Dringende gewesen. Sobald ich grünes Licht gegeben hatte, steckten sie ihn einfach in paratronische Stasis, bis sie sich über die geeignete Therapie klargeworden waren. Die Konföderierten waren großartig darin, sich Zeit zum Nachdenken zu lassen.
Sie hatten auch die Technologie dafür. Indem sie Elektronen durch Quarks ersetzten, konnten sie selektiv Milliarden von ›Elementen‹ zurechtschneidern, Trilliarden von Verbindungen für jeden Zweck, der ihrer raffinierten Phantasie in den Sinn kam. Im Grunde steckte nicht mehr hinter all den scheinbaren Wundern wie den Duschvorhängen oder den wahlweise durchlässigen Fußböden. Aber das ist ein wenig so, als wollte man sagen, hinter der menschlichen Existenz stecke nicht mehr als komplizierte Eiweißverbindungen. Die Zukunft war noch immer unvorstellbar – schon jetzt freuten sie sich darauf, was sie mit den Bausteinen der Quarks alles anstellen konnten! Inzwischen hatte sich Francis Pololo den ganzen Vormittag über besorgt mit dem Lieutenant beschäftigt. Schlechte Behandlung auf Sca hatte er diagnostiziert; erstens war mein Vorgesetzter kein junger Mann mehr. Jedenfalls nicht im physiologischen Sinn. Der Heiler gab sich alle Mühe, mich nicht zu kränken, aber er brachte doch zum Ausdruck, daß wir Vespucci so gut wie keine Ahnung von Medizin, von Ernährung, von der Verlängerung der menschlichen Lebensspanne über die Lebenserwartung von Wilden hinaus hatten. Infolgedessen war der Lieutenant viel kranker, als es notwendig gewesen wäre; jetzt war es zu spät, man konnte nur noch versuchen, den Schaden zu reparieren. Der Gorilla-Arzt wollte nicht garantieren, daß das möglich war, trotz aller phantastischen Technologie. Auch brachte man den zusammengebrochenen Offizier nicht etwa auf eine Krankenstation. Man hielt es für sehr wichtig, daß man in der Lage war, ihn in seinem eigenen Quartier zu versorgen. Ich stand im Schlafzimmer über den röhrenförmigen, durchsichtigen Sarg mit dem schlafenden Enson Sermander gebeugt, versuchte, mir über etwas völlig anderes klarzuwerden und überlegte, daß ich in bezug auf die Informationen, die ich für Vespucci sammelte, noch eine Menge weiterer Probleme hatte. Erstens war es jetzt wichtiger denn je, daß ich das richtig machte – vielleicht kam der Lieutenant nicht mehr zurück, um zu ergänzen, was ich niederschrieb. Ich mußte mir überlegen, was geschehen könnte, wenn auch ich es nicht schaffte, nach Hause zu kommen. Wahrscheinlich gar nichts, aber es kam mir dumm vor, daß ich an einen solchen Fall nicht
schon früher gedacht hatte. Offensichtlich war ich mit meinen Gedanken anderswo gewesen. Zweitens war alles, was ich niederzulegen versuchte, unentwirrbar mit Aufwiegelung verstrickt. Aber wie sollte ich feststellen, welches einsame, kleine Faktum in dem vermutlich bevorstehenden Konflikt wesentlich sein könnte? Vielleicht war ein Teil davon Schrott. Aber vielleicht konnte es unsere Generale – oder sogar unsere Kanoniere – ein klein wenig klüger machen… Selbst die Physik der Konföderierten, so behauptete Howell, konnte nur aus einem einzigen Standpunkt entstehen, den er ›uneinig‹ nannte. War ich qualifiziert, Technologie und Politik auseinanderzuhalten? Das war ich nicht. War sonst jemand verfügbar, der es versuchen konnte? Würde noch etwas Brauchbares übrigbleiben, wenn es mir gelang? Wenn Howell recht hatte, war das nicht der Fall. Wenn ich es jedoch nicht versuchte, würde ich bei meiner Rückkehr wahrscheinlich gepfählt werden – oder hingerichtet – anstatt befördert. Und – das würde Eleva nicht beeindrucken. Aber ich schob nur etwas hinaus. Das wirkliche Problem bei Pololos Diagnose war, daß Enson Sermander nach den Belastungen unter interstellarer Reise in die barbarische Gefangenschaft hauptsächlich deshalb zusammengebrochen war, weil er kein Gehirnimplantat hatte, das jeden vor der bevorstehenden Embolie hätte warnen können. Dieses Implantat mußte er jetzt bekommen, oder auf ewig ›eingefroren‹ bleiben. Und wo war der loyale Corporal O'Thraight gewesen, als all das geschehen war? Was hatte er getan, anstatt auf seinen Lieutenant aufzupassen? Er hatte sich die Seele aus dem Leib gevögelt mit einem weiblichen Dämon, dem es egal war, ob sie selbst lebendig oder tot war, ganz zu schweigen von allen anderen. Wenn wir nun jemals wieder nach Hause zurückkehren wollten, mußte ich mich entscheiden, ob ich diesen Leuten vertraute. Sermander hatte große Angst, zum hilflosen Sklaven einer solchen ›Therapie‹ zu werden, während die Konföderierten ihren wohltätigen Einfluß als selbstverständlich anzusehen schienen.
4 Pololo beendete seine Inspektion des Stasiskanisters, wischte sich die riesigen Hände an seinem grünen Chirurgengewand ab, rückte seine Drahtbrille zurecht und zog eine kleine Zigarre aus einer flachen Plastikdose. Bis sie seine Lippen erreichte, hatte sie sich selbst angezündet. »Er möge in Frieden ruhen – er wird keine Nanosekunde älter werden oder sich sonst auf irgendeine meßbare Weise verändern, solange das paratronische Feld besteht. In tausend Jahren könnte er immer noch genauso sein.« Der Gorilla suchte sich einen Stuhl, zog ihn an die Seite seines Schützlings und setzte sich rittlings darauf. Ich blieb stehen, die Hände in den Taschen, und beobachtete die unbeweglichen Züge und die regungslose Brust des Lieutenant. Keinerlei mechanische Geräte waren zu sehen, der Behälter war ein einfacher, kristalliner Zylinder. Und Sermander war auch nicht wirklich eingefroren: innerhalb des Feldes hatte ›Temperatur‹ keine Bedeutung. Sogar das Licht, in dem wir ihn sahen, war das Produkt einer ganz speziellen Manipulation auf subatomarer Ebene. Mir kam ein Gedanke. »Hat Lucille lange Zeit in diesem Schwebezustand verbracht?« Er nickte. »Immer wieder. Soviel ich hörte, war ihr Fall ziemlich heikel, aufgrund einer unerwarteten, genetischen Verwicklung. Es dauerte so lange, daß ihre kleine Schwester, als sie aufwachte, ein gutes Stück älter war als sie.« Aus irgendeinem Grund rührte mich das, die Reihenfolge von Geschwistern kann sehr wichtig sein; diese verrückte Wendung der Ereignisse mußte die Spannungen zwischen den beiden unerträglich kompliziert haben. »Können sie irgend etwas spüren, Francis? Denken sie, während sie schlafen?« Der Gorilla zuckte die Achseln. »Das würde eine Bewegung auf der molekularen und subatomaren Ebene erfordern. Ich habe mich aber immer gefragt, ob das Hineinsinken und wieder Herauskommen nicht
auch seine Auswirkungen hat, genau wie ich mich immer gefragt habe, ob sich der Augenblick des Todes – jedenfalls für den Sterbenden – nicht ins Unendliche ausdehnt. Ich bin selbst in Stasis gewesen – Teil meiner medizinischen Ausbildung, genau wie ich mindestens fünfzig Stunden in einem Krankenhausbett verbringen mußte.« Er schauderte. »Dadurch schätzt man alles, was Krankenhäuser überflüssig gemacht hat. Freiwillig würde ich keines von beiden mehr tun, außer, es ginge um Leben und Tod.« Ich schauderte ebenfalls. Wenn die vespuccianische Zivilisation nicht so nebenbei von diesen fremden, imperialistischen Zerstörern eingesackt werden sollte, mußte ich aufhören, mir um mich selbst Sorgen zu machen, durfte mich nicht mehr wegen Lucille oder sonst etwas aufregen. Alles hing von mir ab. Und deshalb fand ich es beunruhigend, daß ich tief in mir einen winzigen Wunsch entdeckte, der Hundesohn möge doch alle Probleme lösen und so anständig sein, zu sterben. Ich schüttelte schnell den Kopf, als wolle ich diese unreinen Gedanken daraus vertreiben. Irgendwie, vielleicht irrational, wußte ich, daß alles in Ordnung sein würde, wenn ich nur nach Hause gelangen konnte!
5 Ich kroch aus der Rinne, spuckte Sand und schob dann einen weiteren Lader in den Dardick. Irgendwie war ein kleiner Stein in das Fußteil meines Patentanzugs geraten. Es hatte mir nichts genützt, daß ich mich da unten versteckte; ich war schon zweimal ›getötet‹ worden. In der Nähe ließ ein fußloses Reptil mit Diamantzeichnung schwirrend seine tödliche Frustration heraus. Sollte es seinen bösen Willen haben; ich war zu müde, um mich zu fürchten. Ich blieb unten, stützte mich mit dem Rücken gegen einen geschwärzten Stamm und versuchte vergeblich, mich auszuruhen. Der ›Himmel‹ war bedeckt, und doch war es sehr heiß. Ich bekam fast keine Luft mehr. Mein Anzug hatte Mühe, mit dem Schweiß fertigzuwerden, der aus meinem Körper strömte. Bis auf ein paar geistesschwache Vögel, die in der
Nähe trillerten, bewegte sich nichts auf der versengten, grasbedeckten Prärie zwischen den spärlichen Gruppen ausgetrockneter Bäume. In der Ferne gelangen einem Staubteufel mehrere Drehungen, ehe er sich in der hitzeflimmernden Stille auflöste. Die Stimme kam wieder, aus einem Resonator, der an mein Schlüsselbein geklebt war. Es kitzelte. »Nur noch fünfzehn Meilen, Whitey. Halten Sie lieber das Tempo, sonst sind wir die ganze Nacht hier – und in der Nacht wird es gefährlich!« »Captain Couper!« keuchte ich erschöpft, »ist es auf Afdiar wirklich so?« Das waren nicht die einzigen Dinge, die ich mir erst jetzt, im Nachhinein, überlegte: ich hatte mich tatsächlich freiwillig gemeldet, den Konföderierten zu helfen, eine andere Welt unter ihre Herrschaft zu bringen… BLAM! BLAM! Etwas mit glitzernden Stacheln mit Widerhaken war blitzschnell auf mich losgestürzt und hatte mich an den Baumstumpf nageln wollen. Jetzt lag es um sich schlagend im langen Gras, ein paar Zentimeter vor meinen zitternden Zehen. In den Todeszuckungen des Geschöpfes spritzte eine gräßlich riechende Flüssigkeit aus den Stacheln – wo sie hintropfte, begann das Gras zu schmoren. »Vorsichtig, Whitey, die Dinger sind immer zu zweit unterwegs. Nein, so ist es auf Afdiar ganz und gar nicht. Dort ist es gar nicht so übel: zum Beispiel gibt es keine einheimische Religion. Afdiar ist nur vorindustriell und besitzt einen unentdeckten, unbewohnten Kontinent. Die führende Kultur ist ein Matriarchat. Es regnet ständig – Sie sollten sich glücklich schätzen, daß Sie nicht für Sodde Lydfe trainieren, dort werden wir das Wetter wirklich versauen. Wenn man einen Krieg beenden will, muß man es den Feinden schwerer machen, sich zu finden. Das hier ist nur zur Übung – Sie können es auch als Qualifikationskurs ansehen, der Kopien von allem enthält, was wir irgendwo irgendwann an Scheußlichem und Gemeinem angetroffen haben.« »Eine Simulation!« keuchte ich. »Ihre Beerdigung, wenn Sie wollen – das Gift da ist übrigens echt. Riechen Sie einmal daran! Das Ding hätte Sie paralysiert, Ihr Fleisch aufgelöst und Ihre klebrigen Überreste an seine ungeborenen Jungen verfüt-
tert, indem es Whitey-Suppe über seine osmotisch frühreifen Eier gesprüht hätte.« Meine Augen starrten müde in die schädlichen Dämpfe. »Was ist mit den Holos im Graben?« »Sie sollten nur Munition verschwenden. Was Sie auch getan haben. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen!« Ich kann bis heute nicht erklären, wie ich wieder auf die Beine kam und dumpf auf die nächste Zielmarkierung zustolperte. Zwei frisch geladene Pistolen oder nicht, an diesem Punkt hätte mich eine Abteilung unbewaffneter, vespuccianischer Junger Patrioten, Kinderabteilung, in Rollstühlen, lebendig gefangennehmen können. Der Kom-Fleck war ebenfalls eine Simulation – der Implantate, die alle anderen auf dem Schiff in ihren Köpfen trugen. Ich mußte auf diesem Friß-oder-Stirb-Kurs erst einmal zeigen, woraus ich gemacht war (aus warmer Limonengelatine, wie ich entdeckte), meinen höchst probeweisen Status im Operationsteam für Afdiar verdankte ich der Tatsache, daß ich kein Implantat besaß und auch freiwillig keines annehmen wollte. Es war paradox. Vielleicht hatte der Lieutenant recht, und die Freiheit der Konföderierten war Illusion, ihre Rhetorik ein schlechter Witz. Vielleicht sagten sie auch die Wahrheit, und es gab keinen Zentralcomputer. Aber mir war der Gedanke gekommen, daß es vielleicht das Netzwerk in seiner Gesamtheit war, das die oberste Leitung hatte, eine Art elektronischer Demokratie in höchster Vollendung. Das Ergebnis wäre ziemlich das gleiche, und die Leute würden niemals wissen, woher ›ihre‹ Ideen eigentlich kamen. Das Problem war nicht so sehr, ob man frei war, sondern zu wissen, ob man es in irgendeinem bestimmten Augenblick war oder nicht. Das erinnerte mich an Vespucci, aber ich scheute vor dem Gedanken zurück. Im Augenblick war ich anderweitig beschäftigt. Schließlich brachte ich die fünfzehn Meilen hinter mich – Meilen sind viel länger als Kilometer –, wobei ich nur weitere zwei Dutzend Mal ›getötet‹ wurde. Auf dem Schild über dem Tor stand: SIE VERLASSEN NUN
HARRISONS ÜBERLEBENSPARK FÜR DIE KLEINEN BEEHREN SIE UNS WIEDER Seit Sca war ich nicht mehr so müde, schmutzig und angeschlagen gewesen. Couper wartete am Ausgang auf mich. »Na, Sohn.« Er lehnte sich gegen den Torbogen und zog eine Zigarette aus der Tasche. Sein Anzug war so getarnt, daß er zu der Hölle paßte, durch die ich soeben gekommen war, aber er war frisch, sauber und makellos. Er war irgendwo bequem herumgesessen – wahrscheinlich mit den Eltern der anderen ›Kleinen‹ – und hatte mich über Fernbedienung dirigiert, während er sich einen großen, kühlen Drink zu Gemüte führte. »Sie neigen zum Massaker – mit sich selbst als Opfer. Zu welcher Art von Kanonenfutter hat man euch denn auf eurem jämmerlichen Planeten ausgebildet?« Sonderbarerweise hatte ich im Park keine Menschenseele gesehen. Jetzt stapften Kinder jeder Größe, jeder Gestalt, jeden Geschlechts, jeder Spezies durch das Tor, steckten ihre Pistolen ein, schoben übergroße Dolche in Scheiden, ihre Patentanzüge waren abgewetzt oder staubig, aber sie hatten alle einen grimmig zufriedenen Ausdruck auf ihren schmutzigen, kleinen Gesichtern. Der Zahl nach hätte ich wenigstens ein paar innerhalb des Parks sehen müssen. Ich fragte mich, wieviel wohl wirklich und wieviel holographische Illusion gewesen war. Ich pflanzte mein Hinterteil gegen den zweiten Torpfosten, den Rükken gebeugt, die Hände auf den Hüften, und versuchte verzweifelt, ein wenig Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen. »Ich war Musiker, Sir.« »So schießen Sie auch. Und Ihr taktisches Gefühl läßt sehr zu wünschen übrig. Eines will ich Ihnen zugestehen, Sie lernen schnell – sind genau auf der Durchschnittslinie für Anfänger gelandet, selbst unter Berücksichtigung der ersten Verluste. Gratuliere, Sohn, heute sind Sie fünf Jahre alt. Jetzt machen Sie fünfzehn Minuten Pause, dann schicken wir Sie noch einmal durch die Geisterbahn – wissen Sie, sie ist jedesmal ein bißchen anders.«
Ich starrte hilflos die mir bis zur Taille reichenden Krieger an, die uns umringten. Immer noch liefen mir Schweißbäche in die brennenden Augen und erschwerten mir das Sehen. »Gott helfe mir!« »Wäre nicht schlecht, wenn das jemand täte, sonst ragt Ihr Kopf noch einmal aus der Zimmerwand eines afdiaritischen Trophäenjägers. Ich möchte jedenfalls gerne wissen, wie Sie damals auf Sca mit diesen Kavalleristen fertiggeworden sind.« Dasselbe hatte ich auch den ganzen Tag über gedacht. »Reines Glück.« »Pferdeäppel, Sohn. Sie haben irgendwo ein natürliches Talent in sich. Wir müssen nur die richtigen Streßreize finden, um es wieder rauszukitzeln.« »Mann, wie kann ich Ihnen jemals danken?« »Schon gut, mein Sohn, war mir ein Vergnügen – sagen Sie mal, was ist eigentlich mit Ihrem Anzug los?« Er warf die Zigarette weg und überwand den Abstand zwischen uns mit einem einzigen, langen Schritt. »Sir?« fragte ich automatisch. Als ich an meinem linken Unterarm hinunterschaute, sah ich, daß an der kleinen, eingelassenen Kontrolltafel lauter Lichter flackerten. Rote Lichter. Sie waren alle von verschwommenen Lichthöfen umgeben. Die Gegenstücke auf dem rechten Arm sahen genauso aus. »Beim Geist des Großen Albert, Junge, kein Wunder, daß Sie wie etwas aussehen, was die Regierung eingeschleppt hat!« Er ergriff meinen Arm und begann, Knöpfe zu drücken. Sofort wurde mir kühler. Ich konnte wieder klar sehen. Das Atmen fiel mir leichter. Meine Erschöpfung begann abzugleiten. »Das Ding hier soll Ihnen helfen, Corporal, Sie aber nicht behindern. Wie lange ist das schon so?« »Ich weiß nicht, Sir – Coup. Es ist mir nicht aufgefallen.« »Nicht?« Er sah mich merkwürdig an. »Na ja, das verdammte Ding ist eine Antiquität, funktioniert wahrscheinlich schon den ganzen Vormittag nicht mehr.« Einen Augenblick lang stand er tief in Gedanken versunken da, eine Hand noch immer auf meinem Arm. »Muß wohl meine Einschätzung revidieren, wenn Sie sich durch diese Bahn gekämpft haben, obwohl Sie lebendig gebraten wurden und Ihr Körper sich mit Toxinen
füllte. Whitey, ein Patentanzug soll die richtige Temperatur halten, Ihr System ständig reinigen, Wunden heilen und sich um ein halbes Hundert andere Dinge kümmern – aber das kann er nicht richtig machen, wenn Sie nicht einmal auf die Anzeigen schauen, und es ist viel sicherer, wenn man den Anzug einfach direkt mit dem Körper in Verbindung treten läßt.« Meine Füße waren schon zu Anfang angeschwollen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Jetzt begann der Schmerz, das Gefühl einer bevorstehenden Explosion zu verebben. Meine Blase füllte sich, der Anzug spulte ohne Aufforderung seinen Hygienezyklus ab. Ich fühlte mich hundert Jahre jünger. »Noch eine Werbesendung für Gehirnimplantate?« »Sehen Sie, Sohn, der Anzug, den Sie da tragen, ist ein halbes Jahrhundert alt. Man hat ihn für Sie aus den Mottenkugeln gezogen, und soviel ist er ungefähr auch wert. Wie ich schon sagte, es ist Ihre Beerdigung, aber ich würde mir das mit dem Implantat doch überlegen. Denken Sie an Ihren Lieutenant. Sie brauchten sich nie mehr zu fragen, wieviel Uhr es ist, brauchten nie mehr einen Rechner benützen oder…« Ich schaute mich in dieser sonderbar wortlosen Welt um. Vor dem Parkausgang befand sich ein mit fröhlich plaudernden Wesen angefülltes Restaurant – ein Dutzend Schaufenster waren zu sehen – nirgendwo ein einziges Schild oder eine einfache Werbeanzeige. »Oder eine Reklametafel anzuschauen oder ein Buch zu lesen«, antwortete ich. Oder selbst nachzudenken. Sonst hatte ich kaum etwas berücksichtigt. Ich machte den Mund auf. »Unsinn, Junge!« unterbrach Couper. »Gerade jetzt lese ich ein Buch.« Er schloß die Augen und zitierte: »Die Nacht war schon hereingebrochen. O. saß nackt in ihrer Zelle und wartete, daß sie kamen und sie ins Refektorium brachten. Was ihren Liebhaber anging, so trug er wie üblich ein…« Er hielt inne, errötete und fing an zu husten und schließlich zu stottern. »Falsche Akten«, sagte er verlegen. »Wie zum Kurzschluß ist Pauline Réage hier reingerutscht zwischen… ach, da haben wir's ja…« »Die am besten erforschten Alternativen drehen sich um Gallatins
Entscheidungen bezüglich des Aufstandes – genauer, um Jeffersons Entscheidung, das Wort ›einstimmig‹ in die Erklärung aufzunehmen. Nach außen hin ähnlich, sind die beiden Welten bezüglich der Lebensanschauung ihrer Bewohner völlig verschieden… Die Interaktion zwischen Nord-Amerika und den Vereinigten Staaten im dritten Jahrhundert hatte bemerkenswerte Folgen. Millionen von Flüchtlingen strömten in die Konföderation, die anfing, andere Weltregierungen zu stürzen. Voltaire Malaise – unglaublicherweise ein geborener Konföderierter – konstruierte 223 A. L. eine Flotte mit 230 Schiffen, um damit zu fliehen, wobei hamiltonistische Mitverschwörer Tausende von Frauen als koloniales Zuchtvieh entführten, die sie durch primitive Gedankenprozessoren unter Kontrolle hielten…« Er hielt inne. »Aus der Einführung zu Grossbergs und Hummels ›Geschichte der Neolmperialistischen Partei‹. Kann nie schaden, die Klassiker wieder aufzufrischen.« Primitive Gedankenprozessoren. »Haben Sie das alles im Kopf?« »Nur die Einführung, die ich selbst geschrieben habe. Wissen Sie, ich habe die neoimperialistische Fraktion der gallatinistischen Partei gegründet, vor fast genau hundert Jahren. Der Grundgedanke war, daß Regierung eine Krankheit ist, die niemand aufbringen oder verbreiten darf. Wir wollten überall den Regierungen den Krieg erklären, sie vom Antlitz der Erde vertilgen. Glauben Sie ja nicht, daß selbst ich je vorhatte, das hier draußen zu tun. Nur als Beispiel: Absichten zählen gar nichts in der wirklichen Welt, nur Ergebnisse zählen. In dem anderen Universum – den Vereinigten Staaten – gab es einen Burschen, Henry Ford, der billige, massenhaft produzierte Automobile erfand und jedermann auf Räder setzte. Er bewirkte eine Menge Gutes, aber die Hauptsache war, daß er die Romantik aus dem Salon vertrieb, unter den bösen Blicken des liebsten Papis, und sie auf den rumpelnden Sitz eines Modells A verbannte, womit er dem Viktorianismus unwiderruflich das Grab schaufelte. Wahrscheinlich hatte er gar nicht die Absicht, das zu bewirken – Quatsch, vielleicht war er sogar dagegen, daß es geschah. Aber was allein zählt, sind die Ergebnisse.« »Mit anderen Worten, der Zweck heiligt die Mittel?« »Non sequitur. Absichten sind eine dritte Kategorie, völlig getrennt
von Zwecken oder Mitteln. Und gewöhnlich haben sie ohnehin nicht viel mit dem zu tun, was schließlich geschieht. Sehen Sie sich zum Beispiel den Markt an. Leute, die nach Gewinn streben, helfen anderen, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Die mit dem altruistischen Trick richten unweigerlich gewaltigen Schaden an; sie konzentrieren sich auf die Absichten statt auf die Ergebnisse, eine schwerwiegende Abkehr von der Realität, für die gewöhnlich andere Leute zu bezahlen haben. Die meisten überdenken nämlich nur den ersten Schritt; daß daraus unweigerlich ein zweiter, ein dritter, ein vierter erwächst, vermögen sie nicht zu überblicken, wollen sie oft gar nicht, weil ihnen vor allem an den Absichten gelegen ist.« Ich lachte. »Ihr seid hier draußen, um Regierungen zu heilen. Versucht, Kriege zu beenden. Ich habe Vorlesungen über Strategie besucht, habe die Pläne für Sodde Lydfe gehört – Regierungskodes und andere Geheimnisse an beide Seiten weiterzugeben, damit es keine Überraschungen mehr gibt. Warum tut ihr das alles, wenn nicht aus altruistischen Absichten?« Er zündete eine neue Zigarette an und drehte mich zu dem Bewässerungsloch jenseits der Straße hin. »Um Gewinn zu machen. Wir rechnen damit, daß sich mit privaten Individuen einfacher Geschäfte machen lassen als mit Regierungen, also befreien wir die ersteren, indem wir die letzteren eliminieren.« Der Gedanke an eine leichte Mahlzeit und etwas Kaltes zu trinken hatte plötzlich einen unwiderstehlichen Reiz. »Das ist also die wirkliche Mission der ›Tom Paine Maru‹?« Er grinste, so daß ich nicht wußte, ob ich ihn ernst nehmen sollte oder nicht. »Keine andere.« »Ich kann es nicht glauben.« Wir betraten das volle Restaurant auf der anderen Seite der Allee. Etwa hundert köstliche Gerüche stürmten gleichzeitig auf mich ein. Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Ich sah mich nach einem leeren Tisch um und achtete nur noch mit halbem Ohr auf das Gespräch mit Couper. »Dann glauben Sie mir wenigstens dies – ich habe soeben über mein Implantat eine Nachricht erhalten. Das Operationsteam plant einen Orientierungsmarsch über zwanzig Meilen durch Dschungelschlamm in
einem richtigen, typisch afdiaritischen Wolkenbruch. Sie wollen, daß Sie in fünf Minuten bei ihnen sind.«
6 »Trink lieber noch einen Kaffee, Whitey. Da, wo du hingehst, ist er noch nicht erfunden – er würde dort sowieso nicht wachsen – also deck dich lieber ein.« Ich rollte mich auf einen Ellbogen und wachte langsam auf mit dem Gefühl, daß ich an dieser Stelle ins Spiel gekommen war. »Sicher. Danke. Aber zünde dir bitte keine Zigarette an, ehe ich meinen Magen wieder voll unter Kontrolle habe, ja?« Ich kniff die Augen zu, öffnete sie, kniff sie wieder zu und schüttelte dann den Kopf. EdWina lachte. »Ich rauche nicht, du Dummer. Ich habe überhaupt keine schlechten Angewohnheiten, außer…« »Außer Kilroys. Wieviel Uhr ist es überhaupt?« »Ist das wichtig? Hier ist der Kaffee, was soll ich hineintun?« Ich hatte Lucille seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen. Jemand sagte mir, sie sei jetzt mit einem anderen Mann zusammen, vielleicht mit dem großen, gebräunten, den ich damals mit ihr am Schwimmbecken gesehen hatte. Irgendwie machte mich das gleichzeitig traurig und wütend. »Chocolatl, wenn es nicht zuviel Umstände macht.« Nicht, daß ich viel Recht dazu gehabt hätte, wütend zu sein. Erstens hatte es keine Worte zwischen uns gegeben, keine Versprechungen, keine Pläne, die über ein Abendessen hinausgingen. Nach unserem letzten, schrecklichen Streit hatte ich Lucilles Schwester kennengelernt, als ich als Teil meiner Vorbereitung für Afdiar einige ihrer Seminare besucht hatte. Ich wußte nicht, was mit ihrem Leben nicht stimmte, aber es entwickelte sich eine warme, wenn auch nicht besonders leidenschaftliche Beziehung, in der bei beiden Kummer eine Rolle spielte. Ich hatte ein wichtiges Prinzip entdeckt: wenn man die Schwester seiner Freundin küßt, ist das genauso befriedigend, wie wenn man seine eigene Schwester küßt. Ich fand allerdings nicht heraus, warum ich mich bei dieser Entdek-
kung so schuldig fühlte. EdWina reichte mir die Tasse und stieg mit ihrer eigenen wieder ins Bett. »Deine Gedanken sind anderswo, Corporal, nicht wahr? Keine Angst, ich bin nicht gekränkt. Mein Schwesterlein hat diese Wirkung auf alle. Sie hat nach ihren Erlebnissen mit der Stasis alle ihre alten Freunde vertrieben. Sie hat auch die Praxeologie endgültig aufgegeben und ist ausgerechnet zur Sicherheit gegangen – obwohl sie das gut macht und schnell vorwärtskommt.« »Wirklich?« fragte ich. »Na ja, meine blauen Flecken sind Beweis genug.« Ich schüttelte den Kopf, nippte am Kaffee und war mir dabei stark bewußt, daß wir im Bett einer Dame lagen und über eine andere sprachen. EdWina schien das nichts auszumachen, aber mir war es peinlich. »Schau, Whitey, im Innersten hat Lucille zu niemandem Vertrauen. Sie will auf niemanden hören, der ihr helfen könnte, glücklicher zu werden. Wenn du meine professionelle praxeologische Meinung hören willst, hat sie all ihre Freunde vertrieben, die nicht fähig waren, die Beherrschung – oder die Toleranz – aufzubringen, wie sie Koko und Howell zeigen, weil sie glaubt, sie verdiene es nicht, glücklich zu sein. Sie reagiert mit wilder Feindseligkeit auf jeden – einschließlich ihrer Eltern und ihrer Schwester – der droht, sie zu lieben.« Ich drehte mich um und schaute EdWina an. »Was ist mit Geoff Couper? Was bedeutet er für sie?« Sie lächelte. »Er ist ihr neuer Freund, ihr Boß. Er hat ein väterliches Auge auf sie – aber nur aus respektvoller Entfernung. Er ist zu schlau, um sich zerfleischen zu lassen.« »Verdammt, ich wünschte, ich wäre das auch gewesen.« »Ich auch, Whitey, ich auch.«
16. Kapitel Afdiar 1 »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD 038 SEITE DREIUNDDREISSIG: Historischer Abriß, Fortsetzung: Der Fluchtplan von Voltaire Malaise wurde erst im letzten Augenblick entdeckt, obwohl die Sklavensteuerungen, von denen der Plan abhängig war, um seinen menschlichen Zuchtbestand zu befrieden, nicht völlig ausfielen, wurden sie beschädigt. Der primitive Sternenantrieb arbeitete nur zum Teil erfolgreich, und zweihundertdreißig ›autoritaristische‹ Sternenschiffe strandeten in einer teilweise feministischen Revolte überall auf den Sternen, durch Zeitverschiebung wahllos über zehn Jahrhunderte verstreut…« Als der Penetrator sich weitete, sahen wir einen Wolkenbruch vor uns. Von Bord der ›Tom Paine Maru‹, aus der behaglichen, salonähnlichen Landekammer, konnten wir keinen Meter weit über die Öffnung hinaussehen, deren Rand als leuchtend azurblauer Kreis vor einem Vorhang aus stahlgrauer Flüssigkeit lag, aber eine völlig normale Brettertür befand sich – vermutlich – nicht viel mehr als diesen Meter entfernt gleich vor diesem Tunnel-durch-die-Realität. Wie eine Milliarde winziger Hämmer, die auf eine Milliarde winziger Ambosse schlugen, erfüllte ein unablässiges Klingeln die Kammer, wenn es durch einen Blitz unterbrochen wurde, war das Grollen des Donners kaum lauter. Eine bewegliche Wand aus kühler Feuchtigkeit fegte über uns herein und zog den Mief alten Mehltaus hinter sich her. Ein ungewöhnlich trockener Sommermorgen auf Afdiar: wir hatten seit drei
Stunden darauf gewartet, daß dieser Wolkenbruch nachließe. Seit einer Million Jahren regnete es ständig auf diesem Planeten. Und es würde noch eine Million Jahre lang so weiterregnen. Das hatten die Geologen behauptet, als sie das Team, zu dem ich für die nächsten paar Tage stoßen sollte, einwiesen. Die Sonne von Afdiar brannte ebenso gnadenlos herunter wie die von Sca. Aber dieser Planet besaß sehr viel mehr Wasser. Die Folge: ewige Gewitter. Eines Tages würden neun Zehntel der Oberfläche Ozean sein. Im Augenblick hing die Hälfte dieser Feuchtigkeit als Dunst in der Luft, fiel ständig als Regen und verdunstete gewöhnlich, ehe sie den Boden erreichte. »Hat keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuschieben!« schrie ich gegen das Hämmern an. Ich befreite mein Kurzschwert aus dem Gewirr meines spezialbehandelten Umhangs, lockerte es in seiner Scheide und schob es, wo mir die Schulterschlinge das Blut abschnürte, ein Stück weiter. Ich fühlte mich unbehaglich ohne den Patentanzug, den ich bis vor wenigen Wochen noch nie getragen hatte, als ich durch den Penetrator trat und blind nach der Tür tastete. Ich ließ den Klopfer auf die große, grün angelaufene Platte fallen, die auf die rohbehauenen Bretter geschraubt war. Das Gebäude, aus gleichermaßen rohbehauenem, grauem Stein, war mit einer schleimigen Moosschicht überzogen. Andere Mitglieder des Teams deckten mir den Rücken – das mußte ich jedenfalls glauben, sehen konnte ich nichts hinter mir. Wasser schoß mir über die Stirn und lief mir in die Augen. Durchweichter Stoff klebte mir am Körper und behinderte mich in meinen Bewegungen. Ich klopfte wieder, nicht mehr ganz so glücklich über meinen Status als ›Experte für Primitive‹ wie vorher. Es wäre schon nützlich gewesen, genau zu wissen, was mit dem Titel gemeint war. Es wäre hilfreich gewesen, so viele Dinge zu wissen. Während der Ausbildung hatte man mir vorgeschlagen, es mit einem der Gehirnimplantate zu versuchen, derentwegen ich mir Sorgen machte, auf der gleichen experimentellen Basis wie diese Mission, besonders, weil wir uns ohne die gewohnten Anzüge durchschlagen mußten – Afdiar war ein ›kritischer‹ Planet, wo es den Tod in einer Anzahl von besonders unangenehmen Varianten bedeutete, wenn man sich mit überlegener
Technik erwischen ließ. Ich hatte überlegt, ob ich den Vorschlag annehmen sollte: wenn ich die indoktrinierenden Einflüsse, die ich vermutete, überwinden konnte, wäre das besser als die paar flüchtigen Notizen, die ich mir bisher gemacht hatte. Allein die Kenntnis des Sternenantriebs der Konföderierten wäre unschätzbar. Aber – in Wahrheit – hatte ich Angst. Wenn ich wirklich alle Tatsachen über Implantate kannte, würde es zu spät sein. Würde ich ein Sklave sein und die Illusion von Freiheit mit den anderen Sklaven teilen? Die Umstände hatten mich kurz vor unserem Aufbruch gezwungen, die Entscheidung für den Lieutenant zu treffen. Ich konnte ihn nicht sterben lassen, nicht einmal das Risiko eingehen. Er würde sein Implantat bekommen. Es erschien mir aber klug, wenigstens einem von uns seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren. Es erschien mir auch feige. Ich fragte mich immer wieder, warum die Konföderierten so freigebig mit ihren Informationen umgingen. Hatten sie vor, uns auf ewig gefangenzuhalten? Uns umzudrehen? Zu töten? Hatten sie noch mächtigere Geheimnisse in Reserve? Ich wünschte mich nach Hause, wo alles so einfach schien. Und auch viel, viel trockener. Die Tür schwang mit kreischenden Angeln auf. Selbst in dem anhaltenden Platzregen nahm der muffige Geruch mehr Raum ein als der Sauerstoff. Eine Bärengestalt zeichnete sich in einem flackernd gelb erleuchteten Rechteck ab. Ich fragte: »Woodie Murphy?« »Sicher, und wenn das nicht die verflixte ›Tommie‹ selbst ist, die uns aus Schimmel und Fäulnis retten will! Dorrie, lauf, der Tag unserer Befreiung steht bevor!« Das geheime Wort war ›Tommie‹ gewesen. Knapp genug. Ich spürte, wie sich die anderen von hinten herandrängten, angezogen von der erbärmlichen Wärme im Innern. Carlos Woodrow Murphy – alias Uberd Ubvriez B'goverd – war zwei Handspannen kleiner als zwei Meter und hatte einen schweren, kugelförmigen Körper, der einem als untersetzt, sogar zwergenhaft in Erinne-
rung blieb. Hinten hatte er langes Haar, vorne überhaupt keines, und einen graumelierten Vollbart. Hinter der primitiven Brille sahen einen die seelenvollen Augen eines Delphins an. Er trug die geölten, handgewebten Hosen, die hohen Stiefel, das blusige Hemd und das gewachste Lederwams eines afdiaritischen Stadtbewohners. Ein weicher, fremdländischer Tonfall in seiner Stimme – unterbrochen von gelegentlichem Stottern – erinnerte mich an die Anweisungen, die ich erhalten hatte. Murphy, ein ›Ire‹ von jener anderen Erde, von der die Konföderierten sprachen, hatte in einer Revolution für die Unabhängigkeit gekämpft. Als sich die Gelegenheit bot, war er in die Konföderation ausgewandert, in der Überzeugung, daß seine Kameraden den Gedanken der Freiheit vergessen hatten und zu nihilistischen Mördern degeneriert waren. Hier draußen kämpfte er wieder in einer Revolution, aber anders. Er hatte überraschend kleine Hände, und mit einer davon ergriff er nun die meine. Von hinten kam eine weibliche Stimme: »Na, du großer Trottel, jetzt steh nicht da und gaffe, bitt sie herein! Das ist doch keine Nacht für einen Beamten!« Die Konföderierten nannten den Ort, an den wir gekommen waren, offiziell ›Dreckstadt‹. Ich hatte erwartet, daß jegliche Krume, die jemals auf dieser matschigen, regendurchweichten Welt existiert hatte, längst ins Meer gespült worden war. Jetzt hatte ich damit zu tun, ein Kilo davon abzukratzen, das sich in den zehn draußen verbrachten Sekunden auf mir abgesetzt hatte. Die Einheimischen bezeichneten die Stadt als Hobgidobolis, die Hauptstadt des Nationalstaates Udobia, oder auch als Stätte Gabelod, Residenz der Königin, das war sie für die Vorgängerin von Eleador XLIX. Jagelid XXIII. auch gewesen, deren königliche Gestalt, nach Holos zu urteilen, die zum Mutterschiff kommiert worden waren, sehr denen der Reittiere auf Sca ähnelte. Nicht, daß wir sie zu sehen bekommen würden. Unser Einsatz beschränkte sich darauf, diesen seltsam mutigen Untergrundagenten abzuholen, der zwei Jahrzehnte damit zugebracht hatte, billige, für die Massen erschwingliche Steinschloßgewehre zu ›erfinden‹, die Vorstellung des Gewehrs mit gezogenem Lauf einzuführen, eine Massenproduktion in die Wege zu leiten und daneben Almanache,
Zeitungen, politische Handzettel, solche Dinge eben, herzustellen, um damit sein Brot zu verdienen. Nach örtlichen Maßstäben war er dabei zu Wohlstand gelangt. Es war ihm auch gelungen, ein vielversprechendes Kilroy-Genie, einen gewissen Johd-Beydard Geydes zu indoktrinieren, der selbst Erfinder und sein Kollege und Rivale im Druckgewerbe war, allerdings den oberen Schichten angehörte und daher von sich aus Einfluß hatte. Schon jetzt hatte sich Geydes das Prinzip des Nichtangriffs zu eigen gemacht, das nach Ansicht der Konföderierten ein Grundelement der Moralphilosophie ist, und er hatte sogar darüber geschrieben. Nachdem der falsche B'goverd sicher sein konnte, daß andere Hände den Ball der sozialen Revolution weitertragen würden, freute er sich jetzt darauf, zu ›sterben‹ – um zu seinem nächsten Einsatz weiterziehen zu können. »Unbedingt! Wo habe ich nur meine Gedanken? Dorrie, setz einen Kessel auf, Schatz, die Jungs sind ja klatschnaß!« Murphy bat uns herein: mich, Charlie Norris von der Peter LaNague, Owen Rogers und Redhawk Gonzales, einen großen Dozenten der Kriegskunst mit lockigem Haar, der mir während der Ausbildung gezeigt hatte, daß die Konföderation von schwerer Körperverletzung mehr vergessen hatte, als auf Vespucci jemals erfunden worden war. Wir hatten uns als udobische Seeleute ausstaffiert. Im Innern flackerte eine niedrige Decke mit schweren Balken im orange-gelben Licht von riesigen, in jede Wand eingelassenen Feuerstellen. ›B-goverd‹, nach hiesigen Maßstäben reich, konnte sich die Tonnen schnellwachsenden Pflanzenmaterials, die dieses primitive Heizsystem verbrauchte, ohne Schwierigkeiten leisten. An solchen Dingen maßen die Afdiariten ihren relativen Status. Trotz allem blieb auch direkt im Brennbereich der Feuerstellen die feuchte Kälte fast unerträglich. Rogers drängte sich an mir vorbei und schob Murphy ein Paket in die Hände. »Nimm das mal lieber, Woodie! Du siehst aus wie eine aufgewärmte Leiche.« Im Licht sah ich es auch. Murphy wirkte tatsächlich alt – der erste Konföderierte, bei dem ich so etwas bemerkt hatte –, er hatte tiefe Falten im Gesicht und Silberstreifen im ebenholzschwarzen Haar. Er trat steif heran, nahm das Paket und begann es mit leicht zitternden Händen
aufzumachen. »Sicher, und zwar sind's die Schimmelsporen, die mich nach all der Zeit erwischt haben, anstatt der Black and Tans. * Noch ein Jahr, und ich drehe dem Teufel seinen Amtsbezirk um.« »Eher sechs Monate«, widersprach Rogers, »außer du kommst aufs Schiff zurück, wo man sich um dich kümmern kann.« Er deutete auf das halbgeöffnete Paket. »Das wird schon ein wenig helfen.« »Aber ja.« Ohne sich um Schamgefühl zu scheren, schälte sich Murphy aus seiner afdiaritischen Kleidung und schlüpfte, von Rogers ein wenig unterstützt, mit dankbarem Ausdruck in den gequälten Augen, in den völlig normalen *Patentanzug. »Ich glaube, ich leg' mich 'n Weilchen hin. Laßt bloß eure Sassenach-Finger** von meiner Frau!« »Diesmal bist du gestolpert«, lachte Norris. »Sassenach ist schottisches Gälisch!« »Scheiße!« antwortete Murphy, und sein Akzent verschwand auf geheimnisvolle Weise. »Hat einer von euch Jungs 'ne Zigarette? Das Rauchen haben die Pfeifen hier noch nicht erfunden.«
2 Nun war für den ›Experten‹ die Zeit gekommen, sich sein Fahrgeld zu verdienen. Neidisch blickte ich mich nach den anderen Mitgliedern des Teams um, die sich alle weniger jämmerlich, als ich es bald sein würde, neben einer von Murphys höhlenförmigen Feuerstellen zusammenkauerten. Ich biß die Zähne zusammen und wickelte mir den klatschnassen Umhang um die fröstelnden Schultern, um die Last zu verbergen, die man mir anvertraut hatte. Die Aufgabe, die vor mir lag – ein kurzer Spaziergang im Regen durch die Straßen von Hobgidobolis – schien undurchführbar. Angehörige der Königlich Irischen Polizeitruppen, die gegen die bewaffnete, irische Unabhängigkeitsbewegung eingesetzt waren – Anm. d. Übers. ** Sassenach: verächtliche Bezeichnung der Schotten für die Engländer – Anm. d. Übers. *
Der Geheimagent lag, immer noch ohne Bewußtsein, lang ausgestreckt in einem schweren, hölzernen Schaukelstuhl und schnarchte, wobei er dem Prasseln des Wolkenbruchs vor den dicken, fensterlosen Wänden beachtliche Konkurrenz machte. Seine Farbe hatte sich schon beträchtlich gebessert, die Technologie der Konföderation wirkte ihr nun schon vertrautes Wunder. »Diese Richtung die Straße hinauf«, wiederholte ich Dorrie Murphys Anweisungen und schauderte ungläubig angesichts der blassen, verschrumpelten Haut meiner dorthin zeigenden Finger. »Und dann zwei Blocks weit nach links.« Sie nickte und holte eine Schaufel voll Kohlen von einer der Feuerstellen, um den Vorrat in einem Behältnis unter dem Stuhlsitz ihres Gemahls aufzufüllen. Er murmelte etwas, rollte sich in eine dem Aussehen nach unbequeme Stellung und begann wieder zu schnarchen. Ich schauderte noch einmal und warf den anderen einen vorwurfsvollen Blick zu, dann nickte ich resigniert, hob den Riegel an und drängte mich wieder in den ewigen Sturm hinaus. Sofort war ich erneut bis auf die Haut durchnäßt. Soviel zu den Wundern der Konföderation. Ich schüttelte den Kopf, weil ich scharf überlegen mußte, bis mir wieder einfiel, in welche Richtung ich die Straße hinaufgehen sollte. Die sommerliche Atempause war vorüber; die Sichtweite betrug nur noch Zentimeter. Die Straßen von Udobia waren mit soliden Katzenköpfen gepflastert. Es gab keine Fahrzeuge: der Regen hätte jedes Zugtier in den Wahnsinn getrieben. Selbst schwer beladen balancierte ich von einem abgerundeten Stein zum nächsten, stets bemüht, einen verstauchten Knöchel zu vermeiden, unwirksam geschützt durch die breiten, überstehenden Dächer von Gebäuden, die durch wassergefüllte Rinnsteine voneinander getrennt waren. Es war unmöglich, außer dem Regen, der sich mit meinem eigenen gequälten Keuchen mischte, etwas zu hören. Plötzlich: »Was hast du eigentlich in dem Teil der Stadt verloren, Teerjacke?« Die Frage wurde mir von einem sich auftürmenden Schatten, der mir den Weg versperrte, ins Ohr geschrien. Sofort bereute ich die Wahl unserer Verkleidung. Seeleute waren offenbar nur im Hafen willkommen.
»Officer, ich…« Er trat lautlos zurück. Mit einem Zischen, das sogar den Regen übertönte, schwang der Schlagstock des Gendarmen in einem weiten Bogen seitlich auf meinen Kopf zu und prallte klirrend von meinem starken, hastig gezogenen Kurzschwert ab, dessen Spitze noch in der Scheide steckte. Meine Hüfte fing den größten Teil der Wucht ab, obwohl auch mein Handgelenk von der Heftigkeit des Schlags kribbelte. »Aha! Widerstand gegen die Staatsgewalt, wie?« Er legte grinsend beide Hände um den Stock und hob ihn zu einem zweiten Schlag. Den konnte er aber nicht mehr ausführen. Ich hob den Ellbogen, streckte das Handgelenk und grub ihm einen halben Meter quarkotopischen Stahls in die Kehle. Er ging gurgelnd in die Knie; Blut schwärzte die Ablaufrinne zwischen den Pflastersteinen. Kies knirschte hinter mir auf den Steinen. Ich machte einen Satz, und eine zweite Holzwaffe sauste durch den Luftraum, wo ich mich eben noch befunden hatte. Der Schlagstock krachte auf den Boden. Der Polizist steckte sich eine Trillerpfeife zwischen die Lippen. Ich sah, wie er Atem holte, um Hilfe herbeizurufen, hob die Klinge und schlug sie ihm übers Gesicht. Der Pfeifenstummel fiel auf das Pflaster und wurde mit dem größten Teil seiner Nase vom Sturzbach weggespült. Er blickte mich überrascht an, tastete nach seiner verschwundenen Nase und stöhnte vor Schmerz. Ich erlöste ihn davon mit einem Stoß der kurzen, starren Klinge durch den Solar Plexus. Die Minuten des Alptraums dehnten sich zu Stunden. Ich versuchte, die Leichen zwischen zwei Gebäude zu ziehen, aber sie wurden immer wieder auf die Straße zurückgespült. Ich keilte die Schlagstöcke zwischen zwei Mauern ein, knotete den beiden Toten ihre Umhänge um den Leib und ließ sie, halb schwimmend, halb hängend, liegen, die schlaffen Arme des einen Beamten winkten mir, vom strömenden Wasser bewegt, vorwurfsvoll zu. Ich taumelte auf die Straße zurück, zitternd, aber beileibe nicht nur vor Kälte. Ich steckte mein Schwert in die Scheide zurück, schaute mich um, ob es Zeugen gegeben hatte und dankte allen möglichen Wassergöttern, die es auf diesem Planeten geben mochte, daß die Gebäude keine Fen-
ster hatten, durch die irgendwelche Wichtigtuer die Köpfe herausstrekken konnten. Als ich niemand sah, orientierte ich mich und begab mich wieder auf die allmählich endlos werdende Reise zum Haus von Murphys einheimischen Freund Johd-Beydard Geydes. An der richtigen Tür angelangt, löste ich den Gurt, den Murphy mir gegeben hatte. Daran war ein Vermögen in Gold, Platin und kostbaren Steinen befestigt, praktisch alles, was der Agent hier angesammelt hatte, dazu noch eine ordentliche Portion seines ursprünglichen Operationsfonds. Das meiste davon waren Silikongel-Kristalle, eine neue ›Erfindung‹ von B'goverd, der Grundstein einer bevorstehenden, industriellen Revolution. Geydes war reich, aber er würde mehr Kapital brauchen, wenn er die Renaissance, die der kleine Ire in Gang gebracht hatte, fortsetzen wollte. Beide Männer hatten von einer Akademie gesprochen. Das hier war der Grundstock dafür, der anonym und daher steuerfrei überbracht werden mußte. So leise wie möglich hob ich die schräge, quadratmetergroße Tür des Übergabekastens auf der Rückseite, der auch von innen zugänglich war, an und legte sie nach hinten. Ich stellte das Bündel auf das in den Boden eingelassene Gitter, dann senkte ich den Deckel langsam wieder und wollte mich sofort zu Murphy – und erst recht zu seinen Feuerstellen – zurückziehen. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. »Na, na, mein lieber Junge, das wird nicht nötig sein.« Ein starker Arm drückte auf meinen Ellbogen und zwang die Klinge langsam in die Scheide zurück. »Ich habe eine Ahnung, wer Sie sind und warum Sie hier sind. Wollen wir zu Uberds Wohnung zurückkehren oder hier im Regen stehenbleiben und darüber sprechen?« Ich drehte mich um. In dem miserablen Licht erblickte ich die große, vornehme Gestalt von… »Johd-Beydard Geydes?« sagte ich. Er schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich zur Friedenspolizei Ihrer Gleichheit gehören würde, hätten Sie jetzt den Namen eines Mitverschwörers verraten. Bemühen Sie sich nicht, irgendeine Identität zusammenzustoppeln. Sie sind einer von Woodies geheimnisvollen Freunden, die ihn von Zeit zu Zeit besuchen, aber dies ist der letzte Besuch, nicht wahr?«
Ich zuckte die Achseln. »Dann wollen wir gehen. Ich möchte noch einmal mit ihm sprechen, ehe er fortgeht.« Der Rückweg war einfacher, da wir zu zweit waren und uns gegenseitig stützen konnten. Geydes blieb kurz an der Gasse stehen, aus der immer noch Blut auf die Straße lief. »Bardin-Luther Garder und Jibby RalvBudge«, schrie er mir ins Ohr. »Die waren gar nicht so übel. Schade, daß Sie sie töten mußten.« Ich spuckte aus – die Wirkung ging durch den Sturm verloren – und weigerte mich, einen weiteren Kommentar abzugeben. Wir trabten weiter zu B'goverds Tür. Drinnen saß der Agent mit den anderen bei einer Mahlzeit. »Johd-Beydard, du alter Schurke! Hast uns erwischt, was?« Der Mann nickte feierlich. »Und jetzt gehst du fort. Es wird langweilig werden hier, ohne dich, alter Freund.« »Du wirst andre Schüler finden, Johd-Beydard. Der junge Walder Boddale Bagdabara ist schon dabei, repetierende Feuerwaffen zu erfinden, und das ein Jahrhundert früher als geplant. Hedry Wallaz Keddedy spielt mit Magnetismus herum. Vergiß nur nicht, den wahrscheinlichsten Pfaden auszuweichen, denen die kommende Revolution wird folgen wollen. Jedes der größeren, politischen Systeme hat seine eigenen, miserablen Methoden der Politik. Das autoritäre System, wie ihr es hier habt, geht nach Lust und Laune, nach göttlicher Eingebung und nach den Bauchschmerzen des Monarchen vor. Alle Mehrheitssysteme wenden sich an die ›Weisheit‹ der Massen. Gewöhnlich wird dann ständig abgestimmt, zur Vernichtung aller. Wirkliche Individualisten, mein Freund, machen ›keines der obigen‹.« »Ich werde versuchen, es mir zu merken – und dahinterzukommen, was es bedeutet.« »Es bedeutet, daß jede Regierung, ganz gleich, was für schöne Versprechungen sie macht, um jemanden menschlich zu behandeln, zuerst einmal jemand anderen unmenschlich behandeln muß, indem sie schmarotzt und sich bereichert, weil sie selbst nichts hervorbringt. Denk daran – dann werdet ihr eines Tages sogar dem Regen ein Ende machen!«
»Eines Tages«, leierte Geydes wie in einem Ritual, »werden wir sogar dem Regen ein Ende machen. Leb wohl, Woodie Murphy. Auf jeden Fall werde ich dich niemals vergessen.« »Ich dich auch nicht, Junge. Ich wünsch' euch 'ne schöne Revolution.« Damit seufzte er und schlief wieder ein. Seine Frau konnte die halbvolle Suppenschale gerade noch retten, ehe sie umgeschüttet wurde.
3 »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD-038 SEITE NEUNUNDDREISSIG: SCHIFFE DER KONFÖDERIERTEN FLOTTE: TOMFLOTTE
BOBFLOTTE
TRANS-UNIVERSUM
Tom Paine Maru Tom Jefferson Maru Tom Szasz Maru Tom Edison Maru Tom Huxley Maru Tom Sowell Maru
Bob Heinlein Maru Bob Wilson Maru Bob Shea Maru Bob LeFevre Maru Bob Poole Maru Bob Walpole Maru
Ragnar Danneskold Hagbard Celine Captain Nemo Peter LaNague Star Fox Zorro
Einige der Kolonistenschiffe von Malaise setzten voll Verzweiflung ihren fast leeren Antrieb von neuem in Betrieb und gelangten zurück ins erste Universum. Deshalb existieren zwei konföderierte Flotten. Die ›Tomflotte‹ und die ›Bobflotte‹, die nach verlorenen Kolonien suchen und dazu ein dritter, kleinerer Trupp von Schiffen, die zwischen den Universen hin- und herreisen.« Diese Notizen machte ich beim Schein des Feuers, ich konnte nicht schlafen, die Geister zweier ›Friedenshüter‹ verfolgten mich. Ihre Namen: Bardin-Luther Garder und Jibby Ralv-Budge. Zwei Menschen, die ihre Pflicht taten. Und jetzt waren sie totes Fleisch in einer über-
schwemmten, engen Gasse. Und. ich hatte sie dazu gemacht. Mir die Sache selbst anzusehen, wozu mich Lucille herausgefordert hatte, hatte sich als kompliziertes, weniger zufriedenstellendes Experiment herausgestellt, als ich erwartet hatte. Ich konnte es billigen – nicht daß das irgendeinen meiner Teamkameraden gekümmert hätte –, daß die Murphys hier seit zwanzig Jahren versucht hatten, den Lebensstandard zu heben, und dabei gegen ein System kämpften, das bewußt darauf abzielte, jeglichen Fortschritt zu verhindern. Jetzt würde Murphy sterben, wenn er nicht aufs Schiff zurückkam. Ich konnte es auch billigen, daß man ihn rettete, nicht daß es, wie ich schon sagte, jemanden gekümmert hätte, ob ich es billigte oder nicht. Um mich herum schliefen Gonzales, Rogers und Norris geräuschvoll neben ihren Privatfeuerstellen, sogar im Schlaf noch wachsam, die Hände auf den Waffen. Die Murphys befanden sich in einem zweiten, kleineren Raum mit noch größeren Feuerstellen. Ich rollte mich herum, um meine andere Seite zu wärmen, steckte das Notizbuch weg und zog leise mein Kurzschwert aus der Scheide. Trotz seiner raffinierten Legierung schien sein Glanz matter geworden durch den Gebrauch, den ich davon gemacht hatte. Zum wiederholten Mal an diesem Abend versuchte ich, es sauberzuwischen. Vielleicht war die Trübung in mir, nicht auf der Klinge. Es war ein Kinderspiel gewesen, die beiden Polizisten zu ermorden. Andererseits wurde ich ja immer mehr zum Heuchler und war daher schockiert gewesen, als ich während der Unterhaltung an diesem Abend erfahren hatte, daß man anderswo – auf Sodde Lydfe – die Beziehungen zwischen den Verbündeten der Hegemonie Podfet systematisch sabotierte – mit schmutzigen Tricks, die offen diskutiert wurden, und über die man lachte – während man gleichzeitig die Verbindungskanäle zwischen verschiedenen, einander bekriegenden Staaten eröffnete. Woodie Murphy freute sich schon darauf ›ins Programm eingeschaltet‹ zu werden, wenn er seine Gesundheit schnell genug wiedererlangen konnte. Dorrie erkundigte sich nach technischen Details; sie steuerte auf Afdiar den praxeologischen Sachverstand bei. Vor langer Zeit – es schien eine Ewigkeit – hatte ich gefragt: »Wer sind diese Leute?« Je mehr Antworten ich auf diese Frage bekam, desto weni-
ger gefielen sie mir. Schlimmer, jetzt zogen sie mich in ihre Machenschaften auch noch mit hinein. Sicher, ich hatte auf Sca getötet, um mein Leben zu verteidigen, und das meiner Kameraden. Ich hatte auch schon vorher getötet, im Endkrieg. Irgendwie kam es mir heute abend anders vor. Ich sagte darüber nichts zu den anderen, die mir meine Niedergeschlagenheit einfach ausgeredet hätten. Ich wollte nicht, daß man mir den Unterschied ausredete, den ich empfand, wenigstens so lange nicht, bis ich ihn untersuchen und entscheiden konnte, ob er wirklich und bedeutsam war.
17. Kapitel Der Verlorengegangene Kontinent 1 »Bei jeder zwanglosen Transaktion ist es unmöglich, zwischen Käufer und Verkäufer zu unterscheiden, weil ›Geld‹ ein Mythos ist. Alle Transaktionen sind Tauschgeschäfte, ganz gleich, wie man die ausgetauschten Waren nennen will.« Die Rückkehr seiner Gesundheit schien auf Woodie Murphy eine unglückliche Wirkung zu haben. Während wir durch den unaufhörlichen Regen trotteten, nahm er die Gelegenheit wahr, mir eine Vorlesung über Wirtschaft zu halten. Ich konnte es kaum erwarten, bis es dem Lieutenant besser ging. Es hatte an diesem Morgen angefangen, sobald Murphy entdeckt hatte, daß ich ein Kilroy war, und war weitergegangen, als wir mit ihm etwas, was er beharrlich einen ›Bus‹ nannte, zur am Wasser gelegenen Hauptstraße von Hobgidobolis fuhren. Die Bus-›Fahrer‹, von denen jeder eine Stange des Lederbaldachins über unseren Köpfen hielt, schauten Murphy sonderbar an, wie er so dozierte, ohne zu merken, daß ich gar nicht mehr zuhörte. Ich hatte den Kopf voll mit anderen, weniger hochtrabenden Dingen. Etwas fehlte – mit EdWina erlebte ich nicht das Wunder, wie gelegentlich mit ihrer Schwester. Ich beschloß, mich ihr gegenüber aufrichtig zu zeigen und die Sache abzubrechen, sobald ich auf die TPM zurückkam. Und mich wirklich niemals mehr zu verlieben. Der Regen fiel mit dem Geräusch eines zerreißenden Lakens. Dorrie ging neben mir und sprach weiter, sobald ihr Mann verstummte. Redhawk Gonzales marschierte dahinter, sein Blick blieb nie auf einem einzelnen Gegenstand ruhen, seine Hand ließ nie den geschwungenen Griff seiner riesigen Vorderladerpistole los, die unter dem Umhang in seinem Gürtel steckte. Rogers ging mit Norris vorneweg und unterhielt sich mit
Johd-Beydard Geydes. Zwischen uns stiegen weitere Fahrgäste an Kreuzungen an den steil abfallenden Straßen ein oder aus und reichten dabei den Fahrern jeweils ein paar Münzen. »So etwas wie Geld gibt es nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie das mal dort zu sagen, wo wir jetzt hingehen!« »Im ›Esel und Elefant‹, mein Jung' – obwohl mir persönlich das ›Stachelschwein‹ lieber ist, s'ist näher an zu Hause – die sind der Hauptgrund, warum ich versuche, dieser heidnischen Kugel voll Dreck Erleuchtung zu bringen – ein freier Markt wird die Hilk-Produktion steigern und die Preise senken – so einfach ist das – oder ich will nicht Uberd Ubvriez B-goverd heißen!« Er zwinkerte Geydes zu. Hilk war das hochprozentige, einheimische Gebräu, das Murphy am liebsten trank. Dorrie deutete an, daß er sich damit den Schimmel zugezogen hätte. Die Hilkkneipe, von der er gesprochen hatte, war der Grund, warum wir als Seeleute gekleidet waren. Sie wurde von Seefahrern frequentiert, darunter Kapitän Ugeed B'garthy, halb Pirat, halb Händler, halb Forscher – Murphy bestand darauf, daß ich das so hinschrieb und fügte hinzu, daß B-garthy eineinhalbmal soviel Manns sei wie jeder andere Einheimische auf dem Planeten. Wir hatten noch eine Aufgabe vor uns, ehe wir zur ›Tom Paine Maru‹ hinaufpenetrierten; sie konnte vom Agenten oder seiner Praxeologenfrau nicht allein durchgeführt werden. Wir waren gekommen, um diesem elenden Planeten Hoffnung zu bringen. Murphy brauchte keine Verkleidung, da er dort ein vertrauter Anblick war. Seit zwanzig Jahren beschwatzte er Ozeanreisende und übte dabei jenen mikroskopisch geringen Druck aus – mehr als eine Kanne Hilk war normalerweise nicht erforderlich –, der nötig war, um Seeleute zum Geschichtenerzählen zu animieren. Und immer lauschte er auf Nachrichten über Tissathi, den Verlorengegangenen Kontinent. Immer wurde er enttäuscht. An diesem Abend sollte er nicht enttäuscht werden. »Das ›Esel und Elefant‹«, wiederholte er, als wir uns der Schenke näherten. Abgesehen von den schmutziggrauen Wogen, die an seinem Fundament leckten, sah es für mich nicht anders aus als all die anderen,
schleimigen Steinhaufen, die dieser Planet zu bieten hatte. Der Agent bezahlte den Fahrpreis für uns, wir sprangen unter dem leckenden Baldachin heraus in die tropfenden Schatten des Schenkendachs und traten ein. Der aristokratische Geydes war hier eindeutig fehl am Platz. Das Geräusch des Regens wurde plötzlich durch Geschrei, Männergelächter, das Brüllen von einem Dutzend Feuern und das Klirren von tausend (so hörte es sich jedenfalls an) Kannen mit dunklem, übelriechendem Hilk ersetzt. In einer Ecke saß ein Seemann, einen Lumpen um die Augen gewickelt, und quälte einen Musikapparat, der halb Blasebalg und halb Tastatur war. Unter unseren Füßen befand sich ein schwerer Metallgitterboden. Vermutlich ersparte das der Leitung des Etablissements die Mühe des Aufwischens, wenn Getränke verschüttet wurden oder ein Kunde ein Hilk zuviel im Hals hatte. Dem Aussehen des Lokals nach investierten die Besitzer ihre Ersparnisse anderswo. Darunter rollten Wogen von einem Ende des überfüllten Raums zum anderen. Überall saßen Männer und spielten, tranken, sangen zur Musik des Blinden oder bezeigten den Dirnen, die die Getränke brachten, ihre Mißachtung. Der Geruch nach Teer und Hilk mischte sich mit dem des Meeres. Kapitän B'garthy war nicht zu übersehen, er war groß, kräftig gebaut, hatte kurzgeschorenes graues Haar und sah aus wie ein Athlet in mittlerem Alter. Er hielt an einem Ecktisch hof, der mit Landkarten, Waffen, Hilkkannen und verstreuten Münzen bedeckt war. Auf jedem Knie hatte er eine Frau sitzen, mit hochgeschürzten Röcken, damit man die Beine sehen konnte. B'garthy richtete seine Aufmerksamkeit jedoch eigentlich auf den elenden, kleinen Burschen, der vor dem Tisch stand. »Und was hast du zu sagen, Chrissie Hockins, mein Jung?« Hockins drehte seine Strickmütze nervös in den Händen und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab' das nicht so gemeint, Käpt'n, das schwör' ich!« B'garthys Tischgenossen, eine übel aussehende Kollektion von Holzbeinen, Augenklappen und Haken anstelle von Händen, stießen ein Gebrüll aus.
»Er hat's nicht so gemeint, sagt er! Harr!Harr!Harr!« »Beruhigt euch, Jungs!« erwiderte B'garthy ungerührt, sobald sich das Gelächter ein wenig gelegt hatte. »Erst mal hören, was er zu sagen hat.« »Und dann werden wir die kleine Bilgenratte kielholen, was, Käpt'n? Harr!Harr!Harr!« Hockins' Züge erinnerten tatsächlich an ein schleichendes, kleines Nagetier. Er hatte einen verlotterten Schnurrbart, seine spitze Nase zuckte. Wieder drehte er die Mütze in den Händen, und unter jedem Augenlid quoll eine Träne hervor. »Och, Käpt'n, sind doch bloß Landratten, von denen ich geklaut hab'. Das zählt doch wohl kaum, oder?« Keine unmittelbare Antwort. B'garthys plötzliches Schweigen war ansteckend. Der blinde Akkordeonspieler hielt inne, die Unterhaltung verstummte. Es gab keinen wiehernden Chor vom Kapitänstisch. Dann: »Bei allen Heiligen, du kleine Klette, ich sollte dich von den Landleuten hängen lassen. Diebstahl ist Diebstahl, Chrissie Hockins, ganz gleich, ob bei den Landratten oder bei deinen Kameraden. Übrigens hast du gewissermaßen doch bei deinen Kameraden gestohlen – jetzt haben die Landratten wieder einen Grund mehr, uns als unzuverlässige Hunde anzusehen, und das ist ganz allein deine Schuld! Und was hast du dazu zu sagen?« Hockins stellte sich aufrechter hin, einen trotzigen Ausdruck auf seinem Wieselgesicht. »Käpt'n, ich war nicht allein, als ich die Hühner gemaust hab', die Edwardszwillinge haben mir geholfen. Wenn ich hänge, müssen die auch hängen!« B'garthy schnaubte. »Gleich und gleich gesellt sich gern. Na gut, hier hast du deine Strafe – und die gleiche für Glarg und Graid Edwards, wenn sie gestehen. Wenn nicht, können die Städter sie haben, sie können sie strecken, vierteilen, hängen, erstechen, erschießen und verbrennen, und Afdiar selbst soll ihren nichtexistierenden Seelen gnädig sein!« Der Kapitän nahm einen Schluck Hilk und räusperte sich streng: »Du gehst durch die ganze Stadt, Christopher Hockins, in jede Straße und jede Gasse. Und überall sollst du zweimal vor jedem Block schreien: ›Ich bin ein Lügner, ein Dieb und ein Verräter meiner Freunde‹, und das
sollst du tun, bis wir die Anker lichten und diesen Hafen verlassen, unterbrechen darfst du nur, um Brot und Wasser zu dir zu nehmen und jede Nacht zwei Stunden zu schlafen. Zusätzlich sollst du die Hühner zurückzahlen, die du gestohlen hast, und wenn du das so tust, wie wir in letzter Zeit Beute gemacht haben, bist du damit beschäftigt, bis du einen langen, grauen Bart hast. Ich werde dich nicht fragen, was du dazu meinst, denn die Alternative kennst du. Kannst du lesen und schreiben?« »Ja, Käpt'n – irgendwie schon.« Verwirrung zuckte über Hockins' Gesicht, vermischt mit einem ersten Anflug von Hoffnung. »Na gut: du sollst vier Stunden Schlaf haben und eine freie Stunde, in der du ›Ich werde nie wieder als erster Gewalt anwenden‹ schreibst, und zwar tausend und einmal. Die Hühner gehen auf Rechnung des Schiffs. Entlassen. Paß auf ihn auf, Sharkey!« Eine grimmig aussehende Gestalt mit so vielen fehlenden Teilen wie alle übrigen Messekameraden des Kapitäns zusammen erhob sich vom Tisch: »Ay, liebster Käpt'n, mit Vergnügen. Komm, Junge! Du weißt, was du zu tun hast.« Mitten aus seinen überschwenglichen Dankesworten an B'garthy gerissen duckte sich Hockins, wurde am Kragen gepackt und weggeführt. Die Musik setzte wieder ein. Bald herrschte der gewohnte Radau im Raum. »Uberd! Uberd B'goverd! Und Johd-Beydard Geydes mischt sich persönlich unters Volk! Kommt her, ihr alten Philosophierer! Was haltet ihr von dem ekelhaft vernünftigen Urteil, das ich grade gefällt hab'?« Wir drängten uns zu B'garthys Tisch durch. Murphy schüttelte dem Kapitän die Hand. »War 'ne schöne, rechtschaffene Sache, die du da gemacht hast, Ugeed, 'ne schöne, rechtschaffene Sache. Sieht so aus, als hättest du einem zugehört, den wir kennen.« B'garthy zwinkerte Geydes zu. »Tja, wir haben beide dein verdammtes Prinzip der Nichtaggression angenommen – niemand hat das Recht, als erster Gewalt gegen einen anderen Menschen anzuwenden, aus keinem Grund – obwohl das unsere Freibeutereinkünfte stark herabgesetzt hat. Aber es ist der einzige Kodex, der für Seevagabunden paßt, und es wird unseren Reichtum auf lange Sicht immens vergrößern – hoffe ich.«
»Das wird es, denn Tugend ist ihre eigene Strafe, trotz des Gegenteils. Und ich bin hier, weil ich noch 'n bißchen was dazutun will, wenn du nichts dagegen hast.« Murphy holte ein aufgerolltes Stück Pergament aus seinem Umhang und legte es zu dem Stapel auf dem Tisch. »Das ist 'ne Landkarte, mein Freund, von Tissathi, dem Verlorengegangenen Kontinent.« Heiseres Gelächter lief um den Tisch, B'garthy schlug mit harter Hand auf die anderen Pergamente. Krüge hüpften und verspritzten Hilk über die Rollen. »Wühl mal in denen da rum, alter Hund, dann findest du noch'n Dutzend, die dasselbe behaupten. Hilk für meine Kameraden!« schrie er in die Luft. »Hilk braucht man immer, das wird einem nie zuviel!« Eine Frau brachte Getränke an den Tisch. Murphy nahm einen langen Zug und schaute mich erwartungsvoll an. Ich schluckte, hatte aber im voraus daran gedacht, das mit einem Schluck des Gebräus zu kaschieren. »So 'ne Karte werden Sie in dem Heuhaufen da sicher nicht finden, Euer Ehren«, sagte ich, wie man es mir eingetrichtert hatte. Den Akzent hatte ich noch immer nicht raus. Jetzt mußte ich meinen Magen unter Kontrolle halten, während ich sprach: das Getränk bekam mir nicht. »Es ist eine Karte vom verlorengegangenen Kontinent – obwohl er jetzt nicht mehr verlorengegangen ist –, ich muß es wissen, ich war selbst dort.« Es gab nur zwei Landmassen von vernünftiger Größe auf dem Planeten, beide lagen an entgegengesetzten Enden des Globus auf dem Äquator. Wir hatten das alte, kugelförmige Raumschiff untersucht, das sich noch im Orbit befand und dem aufs Haar glich, das Vespucci umkreiste. Die ersten, ankommenden Kolonisten hatten die Welt kartographiert, weil sie die Absicht hatten, an der gastlicheren Stelle zu landen. Etwas war dann schiefgelaufen. Sie waren in eine Barbarei abgesunken, aus der sie erst jetzt allmählich wieder herauskletterten. Ihr Verlorengegangener Kontinent, wo es nur gelegentlich regnete, war zur phantastischen Legende geworden. B'garthy lachte. »Das Land, wo Hilk und Moneten fließen, was? Na, red schon, Jung', ich brauch' 'ne große Geschichte!«
Groß war das richtige Wort: Die Landkarte war nach einer Orbitalaufnahme der anderen Seite von Afdiar mit der Hand gezeichnet und zeigte Einzelheiten in der Nähe gelegener Inseln, die schon halb erforscht waren und von denen nur ein Seemann wissen konnte. Der Pirat war beeindruckt. »Ugeed, ich habe einen Plan«, meldete sich B'goverd. »Du sagst selbst, daß deine Freibeutertage vorbei sind: erforsche diese Küsten und nimm nur Leute mit, die das Prinzip akzeptieren. Johd-Beydard wird mitmachen. Bau eine Stadt, eine Nation, die frei ist von Königinnen, von Regeln und Vorschriften, und schlag alle zurück, die sie entern wollen.« »Ein Traum.« Ugeed B'garthy seufzte. »Ein unmöglicher Traum.« »Mehr als das, mein Freund.« Er schaute mir gerade in die Augen. »Es gibt Heilmittel, mein Jung', einzeln und anders, gegen die autoritäre Persönlichkeit. Aber leicht oder einfach ist keines.« B'garthy lächelte mich an, als sei er an solche Ausbrüche seines alten Freundes hinlänglich gewöhnt. Dieses ganze Gerede über Moral störte mich. An Bord des Schiffes hatte ich gesehen, wie Leute sich darauf vorbereiteten, auf Sodde Lydfe die Gefängnisse aufzubrechen, wie sie Attentate probten, Bomben präparierten und die Zerstörung von Geldsystemen und Wachstumsanreize für Schwarzmärkte planten. Das Ziel, so hatte man mir gesagt, war, Unordnung oder Verluste von Leben zu minimieren, und noch bestehende, wirkliche Wirtschaftsstrukturen unversehrt zu lassen, während man die Regierungen völlig zerstörte. Das sollte gut sein, sollte das Recht jedes Wesens, ganz gleich wo, garantieren. Ich fragte mich, ob B'garthy immer noch lächeln würde, wenn er das wüßte. »Wir wollen hier eines«, sagte Murphy, »nämlich jede Möglichkeit für Macht und Situationen abschaffen, in denen Leute andere zu beherrschen suchen.« Er hob einen Beutel hoch, den Rest des Vermögens, den er Geydes nicht gegeben hatte. »Das ist zur Ausrüstung der Reise, Ugeed.« Geydes erhöhte den Einsatz, indem er einen zweiten Beutel auf den Tisch plumpsen ließ. B'garthys Augen leuchteten auf. »Und du und Dorrie, kommt ihr auch mit?«
Murphy schüttelte den Kopf. »Ihr braucht neue Leute. Ich bleibe hier und unterrichte und schreibe, bis sie mich rauswerfen.« »Oder hängen, was wahrscheinlicher ist. Na gut, bei Afdiars zweirädrigem Wagen, ich werde darüber nachdenken, mein…« »Wasch schagscht du da über Afdiar und 'n Wag'n?« Ein Betrunkener in Uniform war schon mehrmals am Tisch vorbeigegangen und beim letztenmal fast darüber gestolpert. Jetzt stemmte er beide Hände in die Hüften und forderte irgend jemanden zum Sprechen heraus. Ich schaute Geydes an: »Ihre edlen Freunde, die Polizei.« Geydes schaute auf, öffnete den Mund. »Officer…« Der Polizist schlug dem Aristokraten lässig mit dem Handrücken über den Mund, dann hob er seinen Schlagstock und fuchtelte damit vor uns übrigen herum. »Dasch reicht, Widerschtand gegen die Schtaatschgewalt – ich bring' euch alle rein!« »Beamtengesocks.« Geydes knallte ihm eine Kanne in den aufgeschwollenen Bauch. Murphy riß die kostbare Landkarte an sich und das Geld dazu und stand auf, während B'garthy den Tisch umkippte. Ich wünschte, ich hätte meine Pistole dabei gehabt; meine Hand bewegte sich zum Schwertgriff. Eine zweite Hand legte sich auf die meine. »Das ist nicht nötig, Sohn«, sagte der Pirat. »Geh nur und amüsier dich gut!« Er hieb einem weiteren Polizisten seinen Krug über den Kopf, duckte sich, um einem fliegenden Stuhl auszuweichen und stürzte sich dann mit einem »Wupps!« ins Getümmel, das sich in Kreisen um uns herum ausgebreitet hatte. Der Akkordeonspieler ließ keinen Takt aus, er erhöhte nur das Tempo, als er in Stimmung geriet. Ich spürte wieder eine Hand auf meiner Schulter, drehte mich um… Boiiiiing! … fand mich auf dem Fußboden wieder und rieb mir das Kinn. Ein riesiger Zivilist stand über mir, die Fäuste erhoben. »He, steh auf und kämpfe wie ein Mann!«
Ich trat ihn gegen die Kniescheibe und hörte Knorpel knirschen. Als er auf meine Ebene herabgesunken war, verpaßte ich ihm mit meinen härtesten Knöcheln eine Gerade direkt in die Nase. Er fiel vornüber aufs Gesicht. Ich stand auf, stieg über seinen Körper und sah, wie sich ein anderer von hinten an Geydes heranschlich – der gerade den Barkeeper vermöbelte. Ich nahm mir einen Stuhl, hob ihn über meinen Kopf, zielte… »He!« … er wurde mir aus den Händen gerissen. Ich wirbelte herum. Ein zweiter Polizist stand da und hielt meinen Stuhl fest. »Unartiger, unartiger kleiner Jung'! Das ist Ratsherr G'neezovig, weißt du das nicht? Jetzt komm mal ganz ruhig mit… Nnnnnggggg!« Ich schlug auch ihm auf die Nase, so lange er noch die Hände voll hatte. Es war ein gutes Gefühl, deshalb tat ich es gleich noch einmal. Er fiel nach rückwärts über jemanden, der auf dem Boden herumkroch. Ich nahm den Stuhl wieder in Besitz, aber Geydes hatte seine Auseinandersetzung mit dem Ratsherrn mittels einer zerbrochenen Flasche schon beendet. Ich benützte den Stuhl statt dessen dazu, eine Dreiergruppe udobischer Marinesoldaten von mir abzuwehren, die sich dem Spaß angeschlossen hatten, während ich Redhawk Gonzales zuschaute. Gonzales stand, Rücken an Rücken mit Charlie Norris, mitten in einem Kreis gestürzter Körper. Die beiden – ich konnte mich nicht entscheiden, ob sie eine unwiderstehliche Kraft oder ein unbeweglicher Gegenstand waren – standen im Mittelpunkt nicht unbeträchtlicher Aufmerksamkeit. Gelegentlich traten einer oder mehrere Männer in den Kreis. Gonzales stieß mit den Füßen, Norris boxte, beide wirbelten herum; ehe man wußte, was eigentlich geschehen war, hatte sich die Mauer aus bewußtlosen Idioten um sie herum um ein paar Körper erhöht. Aber ewig konnte das nicht so weitergehen. Ein Schrei, ein Pfiff. Plötzlich strömten durch jede Tür, durch jedes Fenster Uniformierte herein. Während Norris mit einem halben Dutzend Seeleuten beschäftigt war, erwischte er einen harten Schlag auf den eben erst verheilten Arm. Ich hörte bis auf die andere Seite des Raums, wie
der Knochen brach. Norris sank in die Knie. Jemand schlug Gonzales von hinten nieder. Schielend legte er sich neben Norris auf den Fußboden. Ich nahm meinen Stuhl, da ich meine Kameraden in dem Gewühl nicht sehen konnte, und schlug ihn zwei Polizisten, die jemanden mit Fußtritten traktierten, über den Kopf. Jemand anders sprang mir auf den Rücken, ich drehte mich um und knallte denjenigen gegen die Bar, aber ein neues Paar Hände packte mich an der Kehle. Ich bekam keine Luft mehr, das Licht im Raum wurde schwächer und schwächer. Ich glaubte zu halluzinieren. An einer Wand erschien die blaue, rasiermesserscharfe, feurige Linie eines Penetrators. Lucille Olson-Bear trat heraus. In der erhobenen Hand hielt sie einen Gegenstand, der wie eine Granate aussah. Sie zielte sorgfältig und warf mir das Ding vor die Füße. Es verfing sich im Gitter und ging los.
2 »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD-038 SEITE SIEBENUNDVIERZIG: Die Konföderation entwickelte cirka A. L. 250 (ich muß die Daten noch mit unserem vespuccianischen Kalender abstimmen – man spricht nach anderer Rechnung von A. D. 2056) einen verläßlichen Sternenantrieb und begann, auf Forschungsreise zwischen den Sternen zu gehen. Man befürchtete, daß ›degenerierte‹ Kolonien von den neuen Technologien (trägheitsloser Tachyonen-Antrieb, Quarkotopie) Gebrauch machen könnten, um die Galaxis in ewige Kriege zu stürzen. Eine kleinere ›Partei‹ innerhalb der N. A. K. die NeoImperialisten, bestand darauf, die Revolution müsse vollendet werden und wollte systematisch jede Regierung nach Malaise sofort bei ihrer Entdeckung vernichten. Zwei riesige Flotten wurden gebaut, um diese Aufgabe zu erfüllen…«
Lucille war noch da, als ich wieder zu Bewußtsein kam, auf ihrem hübschen Gesicht lag ein Ausdruck überraschend echter Besorgnis. Ich lag unbequem auf dem vergitterten Fußboden, sein Muster drückte sich in meinen Rücken ein. Sie kniete nieder – was wahrscheinlich noch unbequemer war – und schlug mir mit einem schmierigen Barhandtuch ins Gesicht. »Whitey, sprich mit mir! Sag etwas Intelligentes!« »Etwas Intelligentes!« ächzte ich. Man hatte ein wenig aufgeräumt. Jemand – offenbar die Rettungsmannschaft vom Schiff – hatte die Körper sortiert. Polizisten waren wie Klafterholz aufgestapelt. Marinepersonal lag dort in einer Ecke. Es gab einen Haufen mit Zivilisten und einen weiteren mit Lokalangestellten. Irgendwie ließ man sie in der Bewußtlosigkeit, während man die Konföderierten wieder zu sich brachte. »Der da ist ein Spitzel«, höhnte Woodie Murphy aus dem Stuhl, in dem er lag. »Legt ihn rüber zur Polizei!« Gelächter, das ich erkannte. Geoff Couper sagte: »Da müßten einige Augenbrauen hochgehen, wenn die alle aufwachen.« »Ach ja? Na, der andere dort – ja, richtig, der Kleine mit all dem Gesichtsfell und dem nackten Skalp – der gehört zum Geheimdienst der Marine, wie sie ihn hier – legt ihn zu den Beamten, und den Straßengauner zur Marine. Verwirrung komme über den Feind!« Ich setzte mich auf. »Ihr Akzent verrutscht schon wieder, Woodie!« »Und was macht das schon, mein Jung'? Ich ziehe mich von dieser Dreckskugel sowieso zurück, ich werde als einziger Todesfall in einer ansonsten großartigen Wirtshausschlägerei verzeichnet werden. Meine gramgebeugte Gemahlin wird so schockiert sein, daß sie gleich nach mir stirbt. Ihr habt doch die Silikonleichen mitgebracht, oder? Das müßte sie davon abhalten, einen Gipsheiligen aus mir zu machen, wie aus jedem anderen zweckmäßig dahingeschiedenen Dissidenten in der Geschichte von Afdiar!« »Na, dann sollten wir uns aber beeilen«, meinte Couper. »Wir müssen rauf, und zwar schnell! Ihr seid alle zurückgerufen, noch innerhalb dieser Stunde, Schlägerei hin oder her. Wir haben einen Notfall.«
Ich schaute Lucille an. Sie nickte. »Nachricht von der Bobflotte, über Zorro: ein Planet auf ihrer Seite drüben ist nicht mehr zu retten – er ist jetzt schon eine Kugel aus radioaktiver Lava.« Ein Frösteln der Vorahnung lief mir das Rückgrat hinunter. »Sodde Lydfe?« Couper nickte. »Unsere eigene Mission ist vorverlegt worden. Wir kommen vielleicht gerade noch rechtzeitig, um das Gegenstück in diesem Realitätsbereich zu retten – wenn wir schnell machen.« »Gegenstück?« wiederholte ich blöde. »Und unsere ersten intelligenten Aliens«, gestand Lucille, »die Lamviin. Neun Beine, drei Geschlechter. Ziemlich verrückt. Wir wußten nicht, ob wir es dir sagen sollten oder nicht. Waren uns nicht sicher, wie du es aufnehmen würdest.« Ich kam mühsam auf die Beine, mir dämmerte die Erkenntnis, daß die Aktionen eines zwölf Kilometer großen Sternenschiffs und möglicherweise alle darin Befindlichen plötzlich in den Händen eines neunjährigen Mädchens lagen, einfach weil sie sich einmal als einzige genügend für ein bestimmtes Thema interessiert hatte, um darüber nachzudenken. Elsie würde begeistert sein. »Aliens«, wiederholte ich. »Na gut, dann aber los!« Lucille fragte: »Glaubst du wirklich, daß du soweit bist?« »Mir geht's prima!« log ich. »Gut…« Lucille trat mit voller Kraft zu und traf genau den Punkt, wo meine Beine sich zum Rumpf vereinen. Rote Schleier zogen sich vor meine Augen, ich sank sofort auf die Knie. »Das ist dafür, daß du mit jemand anderem rumgevögelt hast, Corporal, und noch dazu mit meiner kleinen Schwester! Jetzt können wir heimgehen.«
DRITTER TEIL
Die Lamviin
18. Kapitel Engelsflügel 1 »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD-038 SEITE FÜNFZIG: Von Afdiar nach Sodde Lydfe sind es ungefähr neun Stunden eine ungezählte Anzahl von Parsecs und vielleicht auch eine Lebensspanne – wenn ich mich dafür entscheide, daß sich Menschen verändern können; ich schreibe dies – obwohl ich es irgendwann sicher werde löschen müssen – , um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Notwendigkeit ergab sich, ehe wir den Planeten der Lamviin erreichten, gleich nachdem wir von der Bar in Udobia hinauf gesaugt wurden…« »Ich bin instruiert.« Lucille packte meinen Arm, als wir die Landehalle erreichten. Andere Mitglieder des Teams verzogen sich in verschiedene Teile des Schiffs. Ich wollte drei Runden mit einem Duschvorhang hinter mich bringen und dann meinen Patentanzug wieder anziehen. »Während der nächsten paar Stunden werden sich nur Rädchen drehen, und wir haben wichtige Dinge zu besprechen«, sagte sie. Ich versuchte, das Hinken zu verbergen, an dem sie schuld war. »Das hört sich bedrohlich an.« »So solltest du es auch hören.« Vernahm ich da ein Zittern in ihrer Stimme? Was immer es war, sie ging stürmisch darüber hinweg und zog mich hinter sich her. Wir verließen die Halle und quetschten uns durch eine schwindelerregende Reihe von Transportflecken, bis wir schließlich den Strand erreichten, wo wir uns zum erstenmal… ah… näher kennengelernt hatten. Diesmal war außer uns niemand da. Es war sehr heiß. Ich legte meinen
Afdiar-Umhang und den Schwertgurt ab, zog mich bis auf die Hosen aus und zerrte mir die Stiefel von den Füßen. Das ganze Schiff schien beschäftigt, fast auf Gefechtsstation. Wir hielten an, setzten uns, lehnten uns an eine mit Unkraut bewachsene Düne. Hoch über uns segelten weiße Vögel. Sie zog die Beine unter den Körper, holte eine Zigarette. hervor und inhalierte tief. Ich beneidete sie um die Angewohnheit, da ich nicht wußte, was ich mit meinen Händen anfangen sollte. Ich faltete sie um die Knie und beobachtete die Brandung. Sie fragte: »Whitey, wie alt bist du?« Sonderbarer Anfang für eine Unterhaltung. Ich löste meinen Blick nicht vom Wasser und erwiderte: »Ich bin siebenunddreißig vespuccianische…« »Das heißt, du bist« – sie hielt inne, um ihr verdammtes Implantat zu befragen – »achtundzwanzig terranische Jahre alt. Magst du ältere Frauen?« Ich fuhr herum und sah sie an. »Hör zu, wenn du jetzt wieder von EdWina anfangen willst…« »Nein, du Schwachkopf, es geht um mich.« Sie vergrub das Ende, ihrer Zigarette im Sand, ihr Gesicht verzog sich auf eine Weise, wie ich es noch nie gesehen hatte. »Ich wurde im Jahre 224 A. L. geboren. Das ist nach alter Rechnung das Jahr 2000. Jetzt hätten wir 2052.« Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Ich wischte ein paar Sandkörner vom Griff meines Kurzschwerts, das neben mir lag. »Und das heißt, du bist…« »Zweiundfünfzig, Whitey. Ich habe dreiundzwanzig Jahre in Stasis gelegen!« Plötzlich liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, ihre Schultern zuckten. Zaghaft – sonderbar, da wir doch so oft miteinander im Bett gewesen waren – berührte ich sie sanft mit der Hand. Sie drehte sich um, lehnte sich gegen mich, weinte noch ein wenig, unterdrückte dann, mit laufender Nase, ihr Schluchzen und setzte sich steif auf, als erwarte sie etwas von mir.
Ich wußte nicht genau, was. Ich hatte kein Taschentuch. Weit, weit entfernt strich ein dreieckiges, farbenfrohes Segel über den Horizont. »Bei der Verfassung, Lucille.« Das war das erste Mal, daß ich konföderiert fluchte. »Wenn ich richtig verstanden habe, was mit der Flotte von Voltaire Malaise passiert ist, dann bist du fünfzehnhundert Jahre älter als ich. Und das gilt auch für alle anderen auf diesem Schiff.« Ich legte eine Hand auf ihr silberfarbenes Knie. »Sind denn ein paar Jahrhunderte für uns wichtig?« Da fing das Weinen erst richtig an, ersticktes Lachen klemmte sich in die Lücke zwischen keuchendes Atemholen. »Whitey, wenn du das ehrlich gemeint hast, aber ich… es ist so schwer, Vertrauen zu haben…« Sie hielt inne, dann: »Ich hatte es einmal. Und was hat es mir eingebracht?« Lucille sollte Schwierigkeiten haben, mir zu vertrauen? Einen Augenblick lang war ich entrüstet, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute weg. Dann begriff ich, daß ich für sie ein Fremder war, trotz all unserer leidenschaftlichen Intimitäten, genauso wie sie für mich. Trotz des auf ihre Gehirnrinde gepappten Computers konnte sie ja meine Gedanken nicht lesen, wußte nicht, wie ich wirklich empfand, konnte nicht verstehen, wie sehr ich sie inzwischen… Aber auch sie schaute aufs Meer hinaus und fuhr fort: »Es war natürlich der ›Unfall‹, der, bei dem ich ›getötet‹ wurde.« Sie drehte sich um und sah mich an. »Weißt du, ich sehe es nun in Gedanken schon so lange als Unfall, es fällt schwer, sich zu erinnern, daß es ein Angriff von Eingeborenen aus der Steinzeit war… nicht einmal richtigen Kilroys, während einer ersten Planetenerforschung.« »Ich war damals bei der Praxeologie.« Sie holte noch eine Zigarette heraus. »Und auch mein… mein Mann, der… der durch seine Dummheit und Feigheit den Angriff auslöste. Der mich den Wilden und all den perversen Dingen überließ, die sie mit mir als Hauptobjekt anstellen wollten. Bei der Sicherheit glaubte man nicht, daß ich tot sei, aber es kam zu Verzögerungen, bis man mich fand. Coup kam nur ein paar Minuten zu spät. Ich kann mich nicht an die wirklich harten Sachen erinnern – aber die Präliminarien reichen schon, das kannst du mir glauben – man hat
mir jedenfalls erzählt, daß man mich, über einen Zeitraum von mehreren Tagen… zu Tode gefoltert hat.« Sie erzählte es nicht genauso. Es dauerte ein wenig länger. Sie rauchte, sie weinte. Wir sprachen miteinander. Wir berührten uns. Wir liebten uns nicht. Das würden wir ein anderesmal tun. Der Ehemann, sie erwähnte nie seinen Namen, nahm hinterher ihr einziges Kind, während Lucille in Stasis lag, und verließ, in Ungnade gefallen, die TPM. »Ich habe mit Mac gesprochen«, sagte sie schließlich. »Er hat darauf bestanden, daß ich dir das erzähle und gesagt, ich hätte dich miserabel behandelt. Er sagte, ich sollte…« »Einen Augenblick mal: Mac?« fragte ich, und Eifersucht schlich sich ein. »Mac wer? Bei der letzten Biegung bin ich nicht mitgekommen, Lucille.« »Du hast ihn schon gesehen, Liebling, bestimmt. Wir hatten uns erst kurz wiedergefunden, nach so vielen Jahren. Der große, blonde, braungebrannte, junge Mann.« »Ach ja, der große, blonde, braungebrannte, junge Mann.« »Du Idiot.« Sie lachte. »Er ist mein Sohn, MacDougall Bear. Er ist neunundzwanzig, genauso alt wie ich, physisch gesehen. Deshalb habe ich dich gefragt, was du von älteren Frauen…« »Mein Gott!« Erleichterung strömte durch jede Kapillare. »Sonst noch etwas?« Sie schaute mit sehr großen Augen zu mir auf. »Noch etwas. Eine Erklärung, keine Entschuldigung. Whitey, ich muß noch eine besondere Prüfung bestehen, und zwar, seit ich aus der Stasis kam. Unerledigte Sache. Ich war völlig dafür gewappnet, hatte jedes Gefühl, das ich besaß, vorsorglich abgetötet… und jetzt das… du. Ich war bereit, zurückzugehen, wirklich, zurück zu… zu dem Ort, wo das alles geschehen ist, wo man mich für tot gehalten und liegengelassen…« »Sodde Lydfe. Natürlich. Nur weil es dort eine Zivilisation gibt, heißt das noch lange nicht, daß es nicht auch Wilde geben kann. Außerdem geht ihr genauso vor, wie wir es auf Sca versucht haben – ihr wollt irgendwo abseits landen. Verzeih, Lucille, ich hätte es wissen sollen.«
»Richtig, Whitey, das hättest du. Und jetzt wollen wir über diese Frau… diese Eleva reden, ja?«
2 »Notizen von der ›Asperance‹-Expedition Protokollant: Feldzeugmeister-Corporal YD-038 SEITE NEUNUNDSECHZIG: Es wurde behauptet, daß persönliche Entscheidungen, über die man sich das Gehirn zermartert, anders ausfallen, wenn es sich ein anderes ›man‹ in einem alternativen Universum genauso zermartert. Sie würden sich aufheben; deshalb sei alles sinnlos und vergeblich. Die Konföderierten nennen das den ›Nivenschen Trugschluß‹ und weisen darauf hin, daß man selbst ja der einzige ›man‹ sei, den man habe – nur die eigenen Entscheidungen zählen, da man ja schließlich immer nur in einem Universum auf einmal leben kann. Jetzt teilt mir Howell mit, daß konföderierte Physiker mit dem Gedanken einer dritten zeitlichen Dimension spielen, um somit die Symmetrie mit den räumlichen Dimensionen zu vervollständigen. Sie wissen nicht, was das für eine Dimension ist, genausowenig, wie die Aborigines sahen, daß Zeit und Raum voneinander verschieden sind, oder wie die Leute vor Pascal etwas über statistische Wahrscheinlichkeit wußten (oder vor P'wheet/Thorens, daß sie ein grundlegender Pfeiler der Realität ist). Aber wahrscheinlich wird es etwas sein, was wir schon immer wußten, in einem völlig anderen Kontext. Schließlich haben die Leute schon vor Pascal Glücksspiele gemacht. Vielleicht ist es einfach die Art, wie die Zeit verfliegt, wenn man sich gut amüsiert!« »Whitey!« zischte mich Owen Rogers an. »Kommen Sie mal 'nen Augenblick her!« Das scharfe Krächzen in meinem Helmkopfhörer bedrohte meine Trommelfelle. Ich zuckte die Achseln und hievte mich zu dem Praxeolo-
gen herum, der wie ein gestrandeter Tümmler unter einem porösen, windigen, verwitterten Felsvorsprung lag. Die Sonne brannte mir direkt ins Gesicht. Solange ich die Augen geschlossen hielt und diese gnadenlose Scheibe aus meinem Bewußtsein aussperrte, fühlte ich mich wohl. Mein Anzug war der Aufgabe, die ihm dieser Planet stellte, mehr als gewachsen. Nur mein Geist drohte, mich zu Asche zu verbrennen. Unter uns hockte die aus dem Fels gehauene Festung in einer tiefen, sumpfigen Senke, einem seit langem erloschenen Vulkankrater oben auf dem isolierten Monolithen, den die Einheimischen die Insel Zeam nannten. Wir befanden uns gleich vor der Südküste des Nationalstaates Groß Foddu, dem Sitz des weltumspannenden, fodduanischen Imperiums. Die Festung hatte einen dreieckigen Grundriß (wie die meisten Gebäude auf diesem überhitzten Planeten) und war ein Gefängnis mit niedrigem Sicherheitsstandard, für hochrangige Kundschaft reserviert. Sie war drei Stockwerke hoch, aber so breit, daß sie niedrig, abweisend und gefährlich wirkte. Meine Gedanken eilten unwillkürlich nach Sca, ein voller Kreis, von Kerker zu Kerker. Kein angenehmes Gefühl. Ich robbte auf den Ellbogen zu Rogers hinüber, wobei ich mich so dicht wie möglich unten, hinter der mageren Deckung hielt und auf die Soldaten unter mir achtete. Zu sechst – ich, Rog, Couper, Lucille und Howell mit der kleinen Elsie – lagen wir mit dem Alien, der uns als Führer diente, hinter einem Felsvorsprung verborgen am Fuß einer schroffen, steil abfallenden Klippenwand, hinter uns der Golf von Dybod. Die sumpfige Wiese mit den darin verstreuten Wildblumen, eifersüchtig bewacht von schwerbewaffneten Wesen derselben Gattung wie unser Führer, befand sich vor uns. Alles sah verkehrt aus. Der Himmel über uns glühte senfgelb, wolkenlos klar, die Sonne am Horizont hatte die Farbe von getrocknetem Blut. Das würde sich, wenn sie aufging, zu einem matten Orange erhellen, und die Temperaturen würden noch höher steigen als die fünfundfünfzig Grad, die meine Instrumente anzeigten. Wir waren auf allen Seiten von Wasser umgeben, laut meiner Anzugkarte einem Ausläufer des Rommischen Ozeans, es
war karminrot, dank einer Algenart mit einem hohen Anteil an RotChlorophyll. So weit vom Festland entfernt schoben sich dichte Teppiche ebenfalls roter Pflanzen höherer Ordnung durch die Wasseroberfläche, ihre Stengel beruhigten die Wellen zu öliger Trägheit. Das ging mir genauso auf die Nerven wie die Farbe des Himmels, die auf meiner Heimatwelt eine Warnung vor zerstörerischen Wirbelstürmen gewesen wäre. Rosa Brandung hämmerte gegen den Fuß der weißen Sandklippe. Die Wiese selbst war ein wildes Durcheinander von Rot-, Orange- und Gelbtönen. Alles, was Deckung bot, lag als verkohlter Haufen auf einer Seite des Gebäudes, aber frisches Gras oder etwas Ähnliches und ein paar niedrige Büsche erzählten von nachlassender Wachsamkeit der Garnisonstruppen. Über uns kreiste eines der Geschöpfe, die Elsie ›Wirbelvögel‹ getauft hatte und suchte nach einem Hilflosen, auf den es niederstoßen konnte. Wie jeder andere, fortgeschrittene Organismus auf Sodde Lydfe war auch diese Vogelart dreiseitig symmetrisch aufgebaut, prunkte mit drei großen Flügeln, drei Augen, sogar drei Geschlechtern, genau wie versprochen. Das Tier wirbelte um seine eigene Achse, um an Höhe zu gewinnen, wie es sah, wohin es flog, konnten wir alle nur raten. Die Biologen der ›Tom Paine Maru‹ würden entzückt dreihundert Jahre lang über den Planeten krabbeln und sich ähnliche Fragen stellen. Vorausgesetzt, die Eingeborenen verbrannten ihn nicht vorher zu Asche. Ich ließ mich neben Rogers nieder und bemerkte, daß mein fragender Ausdruck nicht von einem Patentanzuggesicht übertragen wurde, das so getarnt war, daß es einem Felsenkaktus ähnelte. Anscheinend brauchte Rogers Hilfe bei der Regulierung einer Einstellskala auf dem faustgroßen Gerät, das er durch den Penetrator mit nach unten gebracht hatte. Es war identisch mit dem, das Lucille mir in der Bar vor die Füße geworfen hatte. Ich hielt das Ding fest, während er eine Schraube nachzog. Elsie lag auf dem Bauch und unterhielt sich gedämpft mit Couper, der den Einheimischen befragte, während Howell zuschaute. Während sie sprach, spielte sie mit einem kleinen, zweischneidigen Messer. Lucille saß etwas höher oben und hielt Wache, eine Plasmapistole in jeder Hand. Es
erstaunte mich, wie sich meine Haltung ihr gegenüber verändert hatte. Lucilles persönliche Probleme waren doch ziemlich leicht zu verstehen – aber man wurde nicht so leicht damit fertig. Irgendwie hatte es der Fremde fertiggebracht, uns genau an der richtigen Stelle zu erwarten, als wir aus dem Orbit penetrierten. Für mich war es die erste Gelegenheit, einen Lamviin aus der Nähe zu sehen. Das Wesen war einen Meter hoch, breiter als ein Mensch und mit dichtem, rauhem Fell bedeckt, ziemlich hell, das an den Extremitäten dunkler wurde. Sein Pelz riffelte sich, wenn es sprach, und ich argwöhnte, daß die Bewegung nicht auf die Brise vor der Küste zurückzuführen war. Jedes seiner Augen – es hatte drei davon, die gleichmäßig auf einem Körper von der Form einer umgedrehten Schüssel verteilt waren, war so groß wie meine Hand, mit dunkler Iris, durch einen schweren Knochenkamm geschützt. Es blickte mit ruhiger, enervierender Weisheit unter einer Reihe pelziger Wimpern hervor. Eine widerwärtig haarlose Halbkugel oben auf dem Geschöpf, in drei gezähnte Abschnitte unterteilt, bildete einen Mund. Noch störender waren seine Gliedmaßen. Am Rand seines Rückenschilds, zwischen den riesigen Augen, kamen drei kräftige ›Beine‹ hervor, sie waren von einem Tarngewebe bedeckt, das sich über die ganze Körperunterseite spannte. Etwa auf halber Höhe, an der Manschette des Kleidungsstücks, teilte sich jedes Bein in drei zartere Extremitäten, mit dichtem Fell bewachsen wie alles übrige an dem Fremden, und die endeten in starken, schmalen, dreifingrigen ›Händen‹ oder ›Füßen‹: auf sechsen davon ging es, die verbleibenden drei hielt es nach oben. Es trug einen großen Koffer aus demselben, gestrüppfarbenen Gewebe und hatte an die Unterseite seines Rückenschilds eine große Pistole im Lederhalfter geschnallt. Rogers juckte es in den Fingern, die Waffe in die Hand zu bekommen. Ich gestehe gern, daß auch ich ein wenig neugierig war, nicht nur auf die Pistole, sondern wegen der Tatsache, daß das Geschöpf keineswegs ein ›es‹ war, aber auch kein ›er‹ und keine ›sie‹, sondern ein drittes Geschlecht, das es bei den Menschen nicht gibt. Ich fragte mich, mit welchem Pronomen man es wohl bezeichnete und was seine biologische Funktion war. Es hörte auf den Namen Mymysiir Offe Woom, für seine Freunde ›Mymy‹. Wir waren hier, um ›seinen‹ (›ihren‹?/›???‹?) Gatten zu retten.
Als sich die Konferenz auflöste, glitt Couper zu uns herüber, wir wurden gerade mit dem Einregulieren des bombenartigen Gegenstands fertig. Hinter ihm untersuchte Lucille Mymys Pistole, einen dreischüssigen Revolver mit großem Zylinder, grau von langem Gebrauch und harter Beanspruchung. Es sah aus, als schieße er mit Schwarzpulverpatronen. »Die Situation ist folgende«, begann Couper. »Unser Täubchen ist da unten im obersten Stockwerk eingesperrt – V. I. P. – in einer Eckzelle. Luxusquartier unter diesen Umstände. Viel Licht, gute Aussicht, trocken und warm, wie es die Leute hier lieben. Der Haken ist, daß man die Zelle nur durch einen Wachraum erreichen kann, und wir müssen an den Wachen vorbei. Wie kommst du mit der Stasisbombe voran, Rog?« Der Waffenschmied blickte auf. »Du weißt, daß das ein Prototyp ist, Coup. Wir hatten nur zwei, eine hat Lucille auf Afdiar eingesetzt, und ich bin nicht sicher, daß die hier funktioniert. Der Heller-Effekt ist heikel.« Couper setzte den grimmigen Gesichtsausdruck auf, bei dem er sich am wohlsten fühlte. »Ich möchte es vermeiden, jemand zu verletzen, wenn es möglich ist. Wir sind hier, um dem Töten ein Ende zu machen. Mymy sagt, daß sihr Gatte da unten sowas wie eine Berühmtheit ist. Die Wachen behandeln ihn wie ein Mitglied der königlichen Familie.« »Polizistenschicksal, Berufsrisiko.« Howell trabte zu Couper. Er trug seinen eigenen, enganliegenden Patentanzug und zwei ferngesteuerte, am Helm befestigte Pistolen. »›Sihr‹?« fragte ich. »Ist das das richtige Wort für dieses Dingsda?« »Vorsichtig, alter Junge«, mahnte Howell. »Die Lamviin haben ein ausgezeichnetes Gehör, obwohl die Atmosphäre ziemlich dünn ist. Sie haben sich schließlich darin entwickelt, und ich habe den Verdacht, daß Mymy schon die ersten englischen Brocken aufschnappt. Ser ist außerordentlich intelligent.« »›Ser, sien, sihr‹, das sind die Pronomen. Mymy ist ein ›nidfemo‹, ein ›Beimann‹, das kleinste und schwächste der drei Geschlechter, obgleich ich die kommende Konfrontation fürchte, wenn das stimmt. Ser ist ein ziemlich furchteinflößendes Wesen. Ser ist auch Arzt und hat mir erklärt, wie die Biologie funktioniert.« »Ach ja?« fragte Rogers gleichzeitig mit mir.
»Keine Zeit jetzt«, erwiderte Howell mit einem boshaften Ausdruck auf dem Gesichtsschild seines Helms. Er drehte sich um und schaute Couper an. »Haben wir einen Plan?« Der große Mann erwiderte den Blick des Kojoten und entrollte die Blaupause – eigentlich ockerfarbig, mit rötlicher Tinte – die ihm der Fremde gegeben hatte. »Wenn du es so nennen willst. Der einzige Weg führt durch diesen Bogen im Erdgeschoß, der an beiden Enden des Durchgangs ein Fallgatter hat. Man hat Mymy gestattet, Mav zu besuchen. Er ist schon ein paar Jahre drin, Ortszeit, seit der Krieg in die heiße Phase getreten ist, daher kennt ser sich aus.« Die anderen kamen auch zu uns. »Ich weiß nicht, wozu ihr mich hier runtergeholt habt«, sagte die winzige Xenopsychologin und steckte ihren Dolch weg. Sie tätschelte Mymy zwischen den Augen. »Sie sehen vielleicht ein wenig sonderbar aus, aber da drin, da sind sie genauso pfiffig wie wir.« »Oh, danke, Elsie«, sagte der Fremde. Ich fuhr zusammen, erstaunt über ihre – sihre – Beherrschung der Sprache, bis ich begriff, daß nur unsere Anzüge übersetzten. Hätte ich gewagt, meinen Helm abzunehmen, so hätte ich das Geschöpf fodduanisch sprechen hören. »Du siehst ja selbst etwas sonderbar aus. Und du sagst, Howell hier ist dein Vater?« »Mehr als die meisten Väter.« Das kleine Mädchen nickte stolz. »Ich war ein Vertragsbaby und wurde genau nach Bestellung konstruiert.« »Ich glaube, das ist in Groß Foddu ungesetzlich.« Ser blickte auf die Karte und zeigte ins Zentrum. »Das ist der Hof. Eigentlich besteht das Ganze aus kaum mehr als drei Mauern, die einen Übungshof einschließen. Um die Innenseite herum ist, wie Sie vielleicht auch auf der Außenseite bemerken, auf jedem Stockwerk ein Gang vorgesehen, wobei der hervorstechende Unterschied darin besteht, daß auf der Innenseite die Gänge durch Treppen verbunden sind.« Mymys wirkliche Stimme schien aus kleinen, sich weitenden Öffnungen an beiden Seiten sihres Beines zu dringen, da, wo es in den kuppelförmigen Körper überging. Ich konnte sien zwischen den Sätzen atmen hören.
»Wir haben zwei Möglichkeiten: wir können durch die beiden Eisentore in den Durchgang eindringen und uns zwei Treppen hinauf zum zweiten Stockwerk, durch den Wachraum und in die Zelle meines Gatten durchschlagen – oder wir können die Außenmauer erklettern und dieselben Wachtposten passieren. Auf jeden Fall müssen wir mit mindestens einem Oktarium Wachen kämpfen, die eingesetzt sind, um knapp halb so viele Gefangene zu überwachen.« Ser schüttelte nachdrücklich sihre Reisetasche, legte die zweite Hand auf sihren Revolver und deutete mit der dritten wütend auf die Festung. »Skandalös, man kann nicht anders sagen.« »Was ist ein Oktarium?« fragte ich und schaute den Fremden voller Staunen an. »Einundachtzig«, antwortete Lucille. »Neunmal neun. Das sind hundert in ihrem auf der Neun basierenden System. Sonst noch dumme Fragen?« »Sicher. Wir sollen hier an einundachtzig (oder sind es hundert?) Wachen vorbei hineinkommen und drei Stockwerke gegen berufsmäßigen Widerstand hinaufsteigen, und das alles, ohne jemanden zu verletzen? Warum haben wir uns überhaupt die Mühe gemacht, herzukommen?« Couper legte mir die Hand auf die Schulter. »Tu einfach dein Bestes. Ich habe nie gesagt, daß du dich nicht verteidigen darfst. Wir haben die Stasisbombe, und die werden wir im Hof einsetzen. Auf welchen Radius hast du sie eingestellt, Rog?« Der Waffenschmied machte ein angewidertes Gesicht. »Auf den Markierungen auf dem Gehäuse steht hundert Meter. Ich habe keine Ahnung, wie genau die sind. Wie soll das Spiel denn laufen?« Couper versammelte uns alle um sich und legte sogar auf Mymys pelzigen Rückenschild brüderlich die Hand. »Nun, mein Plan ist folgender…«
3 Es hatte schließlich doch keinen Sinn gehabt, bis nach Sonnenuntergang zu warten. Drei Monde gingen fast gleichzeitig auf und überfluteten die sumpfige Wiese mit rötlichem Licht. Jeder von uns lag mit dem Gesicht nach unten am Rand des Feldes, unsere Anzüge erzählten allen Augen,
die etwa zufällig in diese Richtung wandern sollten, Lügen. Plötzlich sprang Howell auf, sein Anzug wurde – auf Mymys Anregung hin – leuchtend grün, ein Ton, der auf diesem Planeten von Natur aus nie vorkam. Mit vierzig Stundenkilometern raste er, in der Abendstille laut kläffend, auf das offene Fallgatter des Gefängnistorbogens zu. Couper folgte ihm langsamer, die Heller-Bombe in einer Hand, bereit zum Wurf. Mymy rannte mit Rogers hinter Couper her, während ich Lucille folgte, wir hatten eine andere Aufgabe und schlugen einen Haken zu einer zweiten Wand hin, in der Hoffnung, die Ablenkung würde die Aufmerksamkeit von uns abwenden. Der Sinn der Sache war, zu verhindern, daß auf Elsie geschossen wurde, nicht, weil sie erst neun Jahre alt war – die Konföderierten sehen das nicht so –, sondern weil sie körperlich klein war und nicht so schnell laufen konnte wie wir übrigen. Auch war sie, trotz ihres Dementis, der einzige Experte für Fremdenpsychologie, den wir hatten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie die andere Gruppe auf den Eingang zustrebte, Howell war schon drinnen und machte einen Lärm, der Tote aufgeweckt hätte. Die Wachen würden erschrocken sein, weil sie so etwas wie den Kojoten noch nie gesehen hatten. Niemand auf dem Planeten wußte, daß wir hier waren, bis auf Mymy und diejenigen, mit denen ser über unterirdischen Funk sprach. Diese Station – und noch etwa fünfzig ähnliche überall auf dem Planeten – hatte die Aufmerksamkeit der Konföderierten auf die gewaltige Antikriegsbewegung gelenkt, der wir nun zu Hilfe eilen wollten. Nicht einmal Agot Edmoot Mav, ihr Gatte, hatte eine Ahnung davon, daß er bald gerettet werden sollte – und noch dazu von Außersoddelydfeschen. Leben auf anderen Planeten war hier immer noch ein recht spekulativer Gedanke, das Thema von Literatur oder Märchen. Mal abwarten, bis sie einen Mörderwal sahen. Lucille erreichte die Mauer vor mir und begann, an den rauhen Steinen zu dem Laufsteg über unseren Köpfen hochzuklettern. Wahrscheinlich würde sie Mavs Zelle vor allen anderen erreichen. Da ich für Elsies Sicherheit verantwortlich war, konnte ich bestimmt nicht so klettern. Ich ließ das kleine Mädchen vor und wollte ihr gerade folgen, als eine Kugel
an uns vorbeisirrte und die Steinmauer traf. Ich blickte nach oben, drückte mich flach gegen die dreieckigen Steine und sah einen mit einer großen Automatikpistole bewaffneten Lamviin, der schon wieder von der Ecke der Wachtposten aus zielte. Ich zog meine eigene Waffe und feuerte drei Schüsse ab. Der Arm verschwand. Weitere Revolverschüsse ertönten, die meisten von oben. »Whitey!« rief Lucille. Sie war abgerutscht, ein Bein steckte zwischen den weit auseinander liegenden Stäben des Laufstegs im zweiten Stockwerk. Jetzt sah ich, welchen Zweck sie hatten: sie ließen den Wachen genügend Raum, um durchzuschießen. Für menschliche Füße waren sie fast nicht zu bewältigen. Ich war immer noch auf dem Boden, deckte Elsies Körper mit meinem eigenen und erwiderte das Feuer des Wachtpostens an der Ecke der zweiten Etage, dabei wäre ich fast ins Kreuzfeuer zweier Posten an den Ecken des Erdgeschosses geraten. »Klettere weiter!« schrie ich Lucille zu. »Ich habe eine Idee!« Ich schob unsere Xenopsychologin hinter mich, trat zur Tür der nächsten Zelle und feuerte ohne Umschweife auf das klobige Messingvorhangschloß. Das Metall verbog sich, zerbrach. Ich stieß die Tür auf und winkte dem blinzelnden Geschöpf dahinter. »Komm heraus, Freund, du bist frei!« Ich erschrak, als der Lamviin etwas aufhob, was aussah wie ein hölzerner Hocker. Noch mehr erschrak ich, als er (sie, ser) damit nach mir warf. Jetzt verstand ich, warum fodduanische Gefängnisse anders gebaut waren als vespuccianische: hier wollte offenbar niemand fliehen. Ich duckte mich, rannte zur nächsten Zelle und schoß dort das Schloß von der Tür. Ehe ich sie öffnen konnte, kam von der Ecke her heißes Blei durch die Luft gesaust. Elsie feuerte plötzlich drei oder vier Schüsse ab, ich hörte den Schrei eines Fremden – sie mußte ein unvorsichtiges Fingertrio getroffen haben – dann trat ich die Zellentür ein. Der Insasse, ein kleiner, nicht-fodduanischer Lamviin, der rötlichschwarzen Färbung seines Fells nach zu urteilen, stürzte nach draußen, wobei er mich fast umrannte, und begann, über die Wiese zu laufen.
So stimmte es schon eher! Die nächste Zelle, die ich öffnete, war leer. Die übernächste war mit zwei Individuen belegt. »Ihr seid frei!« schrie ich. »Wir sind gekommen, um euch zu retten! Raus hier – he!« »Wir mögen vielleicht Verbrecher sein«, sagte einer der Lamviin und wollte nach meinem Revolver greifen, »aber wir sind keine Verräter! Pack es, Byv!« Der zweite Lamviin griff in die Schlägerei ein. »Ich versuche es ja, Toym! Es will nicht stillhalten! Was ist das überhaupt! Auf jeden Fall ist es häßlich!« »Das seid ihr auch!« brüllte ich, ohne Rücksicht auf Höflichkeit zwischen verschiedenen Rassen. So fest ich konnte schlug ich das erste Geschöpf zwischen die Augen, nur mein Patentanzug bewahrte mich davor, daß ich mir die Hand brach. Bedrängt und in Eile drückte ich den Abzug durch, als der zweite Gefangene auf mich losstürzte. Er taumelte zurück, nur betäubt, dann ging er wieder auf mich los. Ich feuerte noch einmal – diesmal beachtete er die Kugel gar nicht, sondern begann, mit allen drei Händen nach mir zu grapschen. Ich schoß ihn in den Fuß. Der Lamviin begann herumzuhüpfen, fluchend wie ein menschliches Wesen, versuchte, seinen verletzten Fuß zu halten und brüllte seinem Zellengenossen zu, er solle etwas unternehmen. Ich schwenkte warnend meinen Dardick und richtete den Lauf auf seine Zehen. »Raus hier, alle beide! Sofort!« Ich feuerte einen Schuß in den Boden. Er prallte einmal vom Pflaster ab, dann war es still. »Wir gehen schon! Wir gehen schon!« Er half seinem Gefährten aus der Tür. Inzwischen hatten die Wächter offenbar das Interesse an der Außenseite der Festung verloren. Meine Absicht, sie mit flüchtenden Gefangenen abzulenken, verfehlte ihre Wirkung. Mit Elsie und ihrer rauchenden Pistole im Schlepptau stürzte ich um die Ecke, wo ich Couper und Rogers sah, die mit Mymy noch immer draußen standen, die Bombe lag in Coupers großer Hand. Das Fallgatter war geschlossen.
Howell war offenbar noch drin und saß in der Falle. Der Plan funktionierte nicht: die Wachen hätten zusammenlaufen sollen, damit Couper, sobald der Kojote außer Reichweite war, sie alle mit der Stasisbombe ausschalten konnte – theoretisch, ohne sie zu verletzen. Sie spielten nicht mit. Ich rannte zurück und ließ weitere, ebensowenig kooperative Gefangene auf den restlichen zwei Seiten des Gefängnisses frei. Sie rannten auf das Feld hinaus und blieben dann in einiger Entfernung stehen, um zuzusehen, was sich so tat. Auf sie machten wir auch keinen Eindruck. Ich ließ das kleine Mädchen bei Mymy und kletterte zur zweiten Ebene hinauf, dort schlich ich mich zaghaft auf Zehenspitzen über die weit auseinanderstehenden Latten des Laufstegs und öffnete weitere Zellen, wobei ich die ohne Schlösser ausließ. Wieder wurde geschossen. Ich steckte meinen ersten Revolver ins Halfter, zog den zweiten, schoß zurück und verletzte mindestens einen weiteren Wächter. Nach einer neuen Runde um das Gebäude schaute ich hinunter und sah, daß das äußere Fallgatter aufgeschweißt worden war, wahrscheinlich mit einer Plasmawaffe. Während ich hinabsah, gab es innerhalb des Torbogens eine Explosion. Elsie, Couper, dann Rogers stolperten fluchend heraus, gefolgt von dem beimännlichen Lamviin… … dann kam Howell! Sein Anzug war zerrissen, die Läufe seiner Pistolen glühten im Dämmerlicht. Couper winkelte einen Arm ab, duckte sich vor einer großkalibrigen Kugel, die auf einer Wolke von Schwarzpulverrauch auf ihn zugeflogen kam, dann warf er. Ein dumpfer Knall – dann Schweigen. Ich kletterte zur nächsten Ebene und kam gerade rechtzeitig über das Laufsteggeländer, um mir mitten in die Brust eine Bleikugel einzufangen. Einen Augenblick lang bestand meine ganze Welt aus Schmerz. Beinahe wäre ich ausgerutscht, als ich das Geländer in verkehrter Richtung überwand, aber ich packte zu, hielt mich fest und zog mich wieder hinauf. Lucille konnte ich nicht sehen, aber ein riesiger Lamviin mit einem Revolver in jeder seiner drei Hände ging genau auf mich los. Ich zielte sorg-
fältig, erinnerte mich, wie hart die Rückenschilde dieser Geschöpfe waren und schoß ihn direkt ins Auge. Revolverknall, Rückstoß. Das zerstörte Auge verspritzte grüne Schmiere. Der Lamviin kippte über die Seite und landete mit einem klatschenden Geräusch unten auf dem Zementweg. Überrascht, daß ich noch lebte, blickte ich auf meine Brust – nicht einmal ein Loch, aber meine Rippen fühlten sich an, als müsse ich sie kleben lassen. Ich hüpfte von einer Sprosse zur anderen, bis ich auf gleiche Höhe mit einer Wachtpostentür kam, aber ich wußte nicht mehr, wo ich war, oder wo dieser Mav-Typ sein sollte. Innerhalb des großen, dreieckigen Raums waren Schüsse zu hören. Als ich um die Ecke spähte, prallte ich mit einem anderen Lamviin zusammen, packte seine ausgestreckte Hand und zog ihn in die Richtung, in die er gelaufen war. Er fiel kopfüber über das Geländer. Den hörte ich nicht aufschlagen. Drinnen, auf der anderen Seite des Raums, versteckte sich Lucille hinter einem umgekippten, schweren Holztisch und wechselte Schüsse mit drei Wachen. Deren weiche Bleigeschosse blieben im Tisch stecken oder gingen über ihren Kopf hinweg, um ohne Schaden anzurichten an der Wand dahinter zu zerspritzen. Sie kriegte kaum einen Schuß dazwischen, mit ihrer kleinen Waffe gegen neun, aber wenn es ihr gelang, hielt sie hoch und überschüttete ihre Gegner mit heißen Steinsplittern, die ihre Plasmapistole von der Wand sprengte. Von mehr als einem Rückenschild stieg Rauch auf, zusammen mit dem vom Anzug übertragenen Geruch nach versengtem Fell – und weiteren Flüchen. Ich suchte mir ein Opfer und schoß es in den Fuß – das schien nach unten zu wirken. Der Lamviin kreischte etwas Unhöfliches, was mein Anzug nicht übersetzen wollte, und wandte alle drei Pistolen in meine Richtung. Ich schoß ihn in einen zweiten Fuß. Da verlor er das Interesse an mir und stürzte zu einem die Zehen massierenden Haufen zusammen. Lucille nützte diese Gelegenheit, um einen Wandbehang in Brand zu setzen. Riesige Ascheflocken schwebten in der Luft und sanken auf die zwei verbliebenen Wächter nieder. Einer von ihnen warf seine Pistolen mit einer plötzlichen Bewegung weg, drosch mit allen Gliedmaßen auf sein Fell ein und nahm dann die Hände hoch.
»Ich gebe auf! Ich gebe auf! Friede, im Namen…« »Halt's Maul, Viideto, du feiger Schwächling!« Sein Gefährte schlug ihm mit einem Pistolengriff über die Augenbrauen. »Nur weil du ein bißchen angesengt bist…« Ich schoß diesen in einen Körperteil, den ich für ein Knie hielt, und in diesem Augenblick fiel der gesamte Wandbehang auf ihn herunter. Ersticktes Geschrei war zu hören, und das Geschöpf rannte blind durch den Raum. Lucille warf sich über ihn, riß ihn zu Boden, zog die Decke herunter und schlug die Brände mit ihren behandschuhten Fingern aus. Viideto stürzte an seine Seite und tat mit bloßen Händen dasselbe. »Zimo! Zimo! Bist du in Ordnung?« »Natürlich bin ich nicht in Ordnung, du ›vesa‹! Wer seid ihr eigentlich? Was wollt ihr?« Zimo schien sich rasch an unser menschliches Aussehen gewöhnt zu haben. Ich verstand jetzt, was Howell mit ›beeindruckend‹ gemeint hatte. »Und übrigens, vielen Dank, daß ihr mir das bißchen Fell gerettet habt, das ich noch habe.« Ich trat vor. »Ich will euren Gefangenen. Ist er da drin?« Ich zeigte auf die schwere, dreieckige Metalltür in der Wand. Drei Schlösser waren daran. Das vergitterte, dreieckige Fenster darin war abgedeckt worden. Couper, Howell, Rogers, Mymy und auch Elsie stürzten durch die gegenüberliegende Tür herein. »Missur Mymy!« schrie Viideto. »Sie haben also diesen Überfall bewerkstelligt! Was für einen Fehler Sie machen! Hier ist Mav sicher, und draußen herrscht Krieg. Ich…« »Es tut mir leid, Viid«, sagte Mymy nicht unfreundlich. Sihr Fell lag flach und glatt an, was ich für einen Ausdruck der Gelassenheit hielt. Mein Herz raste. »Sie müssen meinen Gatten freilassen. Wir werden diesen abscheulichen Krieg beenden, sofort!«
Couper beugte sich hinunter und nahm Zimo, der auf dem Boden lag und von dessen Haaren immer noch ein wenig Rauch aufstieg, einen Ring mit Schlüsseln ab. »Jetzt sei brav, dann passiert dir nichts.« Und zu mir: »Die Stasisbombe hat funktioniert. Da unten liegen ungefähr siebzig bewußtlose Lamviin herum – noch mehr, wenn man die Zellen innerhalb des Bombenradius mitrechnet – und die werden in ein paar Minuten wieder wach sein und total verrückt herumhüpfen. Wir sollten uns schleunigst verziehen!« Er griff nach den Messingschlössern, um sie aufzusperren. Nur zwei waren mit den Schlüsseln am Ring zu öffnen. Er drehte sich um und schaute die beiden Wächter an. Sie erwiderten den Blick. Lucille hob ihre Pistole. Ich steckte die meine ein, lud die erste mit einem ›Klack!‹ nach und richtete sie auf die beiden. »Oh, um der Dreiheit willen«, sagte Zimo schließlich, »gib ihm den Schlüssel! Sie haben mir das Leben gerettet, sie sind Freunde von Mav – und ich bin selbst fast so weit, daß ich nachgebe und Mavist werde –, ich glaube nicht, daß ich noch eine philosophische Vorlesung ertragen kann!« Widerwillig gab der unverletzte Wächter Couper einen Extraschlüssel. Er drehte ihn im oberen Schloß. Es öffnete sich klickend. Er nahm den Bügel heraus und schob die riesige Eisentür zur Seite. Im nächsten Raum flutete Mondlicht durch Vorhänge herein. Irgendein Weihrauch brannte in einem Becken auf einem Tisch. Auf einem Sandbett in einer Ecke, dessen Holzränder mit Schnitzereien verziert waren, blickte ein älter Lamviin von der Rolle auf, die er gerade las, legte den Lesestoff beiseite und schaute von Mymy zu Howell, zu Couper, zu Lucille; zu Rogers, zu Elsie und schließlich zu mir. Dann nahm er aus einer Tasche am Bein seiner Jacke etwas, das wie ein langes Zigarettenmundstück aussah, tröpfelte aus einem Silberfläschchen ein wenig klare Flüssigkeit hinein und schob es sich in ein Nasenloch. Danach erhob er sich mit ausgestreckter Hand. »Also wirklich, endlich die Fremden von den Sternen – hallo, Mymy, mein Lieber – Agot Edmoot Mav zu Ihren Diensten.« Er nahm das Monokel aus dem Auge, das uns ansah.
»Was, zum Teufel, hat Sie so lange aufgehalten?«
19. Kapitel Meine lieben Freunde und Kerkermeister 1 »Ich verstehe nur nicht« – Agot Edmoot Mav blickte aus dem Fenster auf die davonflitzenden neunbeinigen Soldaten unten –, »warum Sie diesen wunderbaren ›Penetrator‹ nicht eingesetzt haben, um direkt in diese Gemächer zu kommen. Damit hätten wir all den Krach und das Blutvergießen vermeiden können.« Der ältliche Detektiv richtete sein drittes Auge auf Geoffrey Couper, der das Kood-Service auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Zimmers untersuchte. Das Zeug war anscheinend kein Weihrauch gewesen, sondern wurde als gesellschaftlicher Brauch verwendet, wie Tee. Diese pelztragenden Pseudo-Krustentiere nahmen niemals direkt Flüssigkeit zu sich und hielten Wasser für ein tödliches Gift, obwohl Mymy behauptete, ihr Metabolismus würde es brauchen. »Ich würde sehr gerne Ihre Wunde untersuchen, O'Thraight.« Ser schwenkte sihre Reisetasche in meine Richtung. Elsie hatte uns erklärt, daß die Fodduaner jeweils drei Namen hatten, für jeden Elternteil einen. Meiner, so dachte Mymy, sei Corporal-WhiteyO-Thraight. Da ich ein Mann war, wurde ich mit dem letzten Drittel davon angesprochen. Es hätte schlimmer sein können: Lucille nannte ser ›Olson‹. Couper schob seine behandschuhten Hände in die in seinen Anzug einprogrammierten Taschen. »Aus verschiedenen Gründen, Sir, der erste davon ist, daß das andere Ende sich im Orbit befindet. Sie verstehen, was das… natürlich. Auf jeden Fall gibt es Grenzen in bezug auf Genauigkeit. Eine kleine Verschiebung im Massendurchschnitt unter dem Schiff, und der Penetrator hätte sich vielleicht innerhalb der Mauern dieses Gebäudes geöffnet – ziemlich unangenehm. Jetzt haben wir jedoch Koordinaten und werden uns auf diesem Wege wieder entfernen.«
»Ich verstehe«, sagte der Fremde nachdenklich. »Mymy, mein Lieber, hör bitte auf, so herumzuzappeln. Ich bin sicher, der Corporal wäre in den Händen seiner eigenen Leute besser aufgehoben – was verstehst du schon von seiner Physiologie?« Seine Beigattin – Beigatte – was auch immer, trat von mir zurück, sihr Fell seltsam gerunzelt. »Gatte, ich bin mir meiner Unwissenheit voll bewußt – und ich hatte gehofft, sie zu beheben, indem ich einem Mitwesen Hilfe leistete. Du bist vielleicht schwierig für jemanden, der erst vor so kurzer Zeit gerettet wurde.« Ser wandte sich an mich: »Offensichtlich beunruhigt ihn etwas, aber er will es nicht geradeheraus eingestehen, schließlich ist er ein Mann, wenn auch ein recht vernünftiger. Lieber würde er mir die Kiefer abbeißen, und Ihren Gefährten auch.« Mavs Fell rollte sich zu festen Kringeln. »Schuldig im Sinne der Anklage, lieber Derr. Ich überlasse mich – von ganzem Herzen, wie ich hinzufügen möchte, es ist schon so lange her – der Gnade des Gerichts. Ich wünschte, Vyssu wäre mit dir gekommen. Vermutlich hat ihre ›mifkepa‹ eine solche Reise verhindert.« Mymy schnaubte. »Seit wann würde auch eine so schwere Krankheit einen von uns von deiner Seite fernhalten? Wir hätten dich selbst aus diesem abscheulichen Ort herausgebrochen, hättest du uns nicht verboten…« Er schritt mit sechs auf dem Steinfußboden klappernden Gehbeinen durch den Raum, um den beimännlichen Arzt zu umarmen. »Und ich kann mich auch nicht erinnern, dieses Verbot jetzt aufgehoben zu haben – versteh mich nicht falsch: Ich bin dankbar. Dieses Leben verlor allmählich an Reiz. Wo, sag mir bitte, ist sie?« »Ich kann es im Augenblick wirklich nicht sagen, mein Lieber.« Mymy machte noch einen halbherzigen Versuch, sihre Kunst an mir auszuüben, indem ser am Revers meines Anzugs zupfte, dann gab ser es auf, schloß sihre Tasche und warf sie aufs ›Bett‹ – die Sandkiste in der Ecke des Raumes. »Sie und ihr alter Mitverschwörer Fatpa haben sich aus dem Lande ge-
schmuggelt. Sie sagte, sie hätte eine Idee, verweigerte mir aber jede…« »Fatpa, der Steuereinnehmer? O je, was sind wir doch alle subversiv geworden! Ach ja, was man nicht weiß, kann man nicht verraten, auch nicht unter stärkstem Zwang, richtig?« Empörung war in sihrem Ton zu hören, selbst noch in der Übersetzung: »Mav, ich kann nicht glauben, daß unsere Regierung…« »Wenn das erste Opfer eines Krieges die Wahrheit ist, mein übermäßig patriotischer Kauteriseur, dann fällt als zweites, nur Augenblicke später, das anständige, zivilisierte Benehmen.« Er hielt inne. »Aber ich bin nachlässig – Kood kann ich Ihnen nicht anbieten, Ihre Umweltanzüge verhindern die Aufnahme. Und ich vermute, Sie würden auch meine Inhalierflüssigkeit nicht nach Ihrem Geschmack finden. Sie ist selbst für meine Beigattin kaum zu ertragen. Haben Sie Geschmack am Aufladen?« »Aufladen?« Owen Rogers hatte Mymys Revolver vollständig auseinandergenommen und setzte ihn jetzt wieder zusammen. Das Ding schoß mit Messingpatronen, Bleikugeln und einem nicht identifizierbaren, weißen Zündstoff. Jetzt blickte er interessiert von seiner Spielerei auf. »Was ist Aufladen?« »Tja, gleich nach dem Einatmen fauler Dämpfe aus Petroleumdestillaten«, meldete sich Mymy zu Wort, ein mißbilligendes Runzeln in sihrem Fell, »ist es die gräßlichste Angewohnheit in… in… man nimmt dabei durch die digitalen Extremitäten magnetisch erzeugten Strom auf. Diese Angewohnheit führt zu…« »Schockierend!« unterbrach Howell unter dem Stöhnen aller Anwesenden. Rogers reichte Mymy die Waffe zurück, und ser schob sie in sihr Halfter. Elsie, die neben ihrem Vater stand, hatte die beiden Fodduaner mit schweigendem Interesse beobachtet. Ihr Patentanzug war eine vollständige, kleinere Ausgabe aller anderen, komplett bis zur Pistole mit Gürtel, von der sie beim Angriff guten Gebrauch zu machen gewußt hatte. Der kleine Dolch hing auf der anderen Seite ihrer Taille. Sie sagte: »Mav, wieso versucht keiner von den Leuten da draußen, etwas gegen
uns zu unternehmen? Müßten wir uns nicht auf irgendeinen Gegenangriff gefaßt machen?« Der Philosoph trat auf den Balkon, beschattete seine Augen vor dem Mondlicht kehrte dann zurück und kramte aus seinen Habseligkeiten ein gewaltiges Messingteleskop hervor. Elsie spähte über das Geländer, um zu sehen, wonach er geschaut hatte. »Ich glaube, sie haben anderes zu tun, junger Mensch, aber was…« Ich drückte mich neben die beiden ans Fenster und aktivierte Knöpfe an meinem Arm. Vor meinem Blickfeld verschwand die nächtliche Dunkelheit, der Horizont schnellte heran – und mit ihm ein unheilverkündender Kreis, der sich näherte. »Was ist das, schwarz, in Segmente aufgeteilt, mit einem…« »Ein Rätsel!« rief Mav aus. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, alter Junge, aber wenn es aus dieser Richtung kommt, wird man es zuerst vom anderen Ende der Insel aus beobachtet und sein Nahen telefonisch gemeldet haben. Und das erklärt das Desinteresse unserer… jetzt sehe ich es… es ist… gütiger Himmel, ich würde sagen, wir werden überfallen!« Plötzlich wurde es am Fenster sehr eng. Ich zog Rogers' Ellbogen aus meiner Achselhöhle und Lucilles Pistolengriff von meinen Rippen, dann merkte ich, daß sich die Soldaten ordentlich aufgereiht hatten, die Gewehre nach oben auf den Gegenstand gerichtet, der sich weiterhin drohend näherte. »Was ist es?« »Zweifellos ein Luftschiff podfettischer Machart«, antwortete Mav, »möglicherweise die ›Onwodetsa‹ selbst – ironischerweise bedeutet das auf podfettisch ›Wort der Hoffnung‹ – vielleicht ein günstiges Vorzeichen. Ein solches Kriegsschiff ist jedoch in der Lage, Oktarien von Truppen und eine Menge Kriegsgerät zu transportieren. Ich fürchte, unsere Flucht wird gleich von genau dem Krieg unterbrochen werden, den wir zu verhindern gehofft hatten.« ›Wort der Hoffnung‹. ›Asperance‹. Von Kerker zu Kerker. Ein Frösteln lief mir den Rücken hinunter, gegen das der Patentanzug nichts ausrichten konnte. »Oder sie wird beschleunigt«, sagte Lucille grimmig und überprüfte ih-
re Pistolen. »Das wäre ein toller Zeitpunkt, den Kongreß hier rauszuholen!« Von unten ertönten Schüsse. Das Luftschiff setzte ungerührt seine Fahrt fort, jetzt war seine Gondel sichtbar und auch die Triebwerksgehäuse, die auf der anderen Seite des schwarzen Rumpfs an Stützen befestigt waren. Die an Bord Befindlichen erwiderten das Feuer nicht. Die ›Onwodetsa‹ kam näher, näher, näher… Selbst wenn man an konföderierte Maßstäbe gewöhnt war, war das Luftschiff riesig. Im dreifachen Mondlicht warf sein Schatten eine Wolke über das gesamte Gebäude. Seine Maschinen, die vielschauflige Propeller von der Größe des Raumes antrieben, in dem wir standen, erfüllten die Insel mit ihrem Gebrüll. Kugeln pfiffen darauf zu und streiften die Seiten, ohne Schaden anzurichten. Mav begann, etwas über Glasfaserharz zu sagen. Etwas klirrte, der Motorenlärm erstarb, unter dem Luftschiff senkte sich etwas herab. »Achtung, Soldaten von Groß Foddu!« schrie eine Lautsprecherstimme aus dem Luftschiff. »Diese Bombe enthält mehr hochexplosiven Sprengstoff als irgendeine andere, die je gebaut wurde. Sie ist in der Lage, dieses Ende der Insel und alles, was darauf ist, bis auf Meereshöhe wegzusprengen! Werft eure Waffen weg!« Vom einen Ende der Bombe begann Rauch aufzusteigen. Ich weiß nicht, wie die Fodduaner reagierten; ich hatte Angst. Der Fortschritt schien auf Sodde Lydfe einen etwas anderen Weg eingeschlagen zu haben. Die Kultur hier erschien in vieler Hinsicht altmodisch, aber in der Elektrowissenschaft war man viel weiter voraus, als man, nach anderen herumliegenden Artefakten zu schließen, sein sollte. Ich fragte mich, wie es wohl mit der Explosivtechnologie stand. Es gab einiges Herumgerenne. Dann hörten wir, wie ein Gewehr nach dem anderen klappernd auf hartes Pflaster fiel. Das Luftschiff näherte sich dem Gefängnis. Eine Tür ging auf, eine Gestalt machte einen Satz… … und schwang, als das Seil sich gestrafft hatte. In einem sauberen Bogen segelte eine Lamviin-Gestalt auf den Balkon, ergriff das Geländer, kletterte darüber und warf das Seil weg.
»Ich will dreifach befeuchtet sein!« rief der Detektiv aus. »Und ich bin höchst entzückt! Geehrte Wesen des Sternenschiffs ›Tom Paine Maru‹, gestatten Sie mir, Ihnen unsere Gattin Vyssu vorzustellen.«
2 Für mich sahen alle Lamviin gleich aus. »Sieben Oktarien, sagst du? Ich fürchte, das kompliziert die Sache ein wenig.« Mav hatte wieder angefangen, hin und her zu gehen. Das fodduanische… Dreigespann… hatte sich mit der für diese Leute charakteristischen, reservierten Begeisterung begrüßt. Vyssu hatte Neuigkeiten mitgebracht. Eine davon war, daß das lenkbare Kampfschiff draußen durch seine eigenen Offiziere von der podfettischen Marine gestohlen worden war. Es war voller mavistischer Flüchtlinge, unterirdischem Funkpersonal, ›bis an die Kiefer‹ bewaffnet. Eine weitere war, daß die schreckliche Bombe, die unter der ›Onwodetsa‹ hing und die fodduanischen Truppen zu bestem Benehmen zwang, ein Schwindel war. »Wir hätten die Reise mit soviel zusätzlichem Gewicht niemals machen können, mein Lieber«, bemerkte der weibliche Lamviin. Sie war größer als Mymy und kleiner als Mav. Alle anderen Unterschiede wurden von ihrer Kleidung verdeckt, im Grunde nur ein Paar – nein, Trio – ellbogenlange Hosen, deren Beine (oder Ärmel) mit einem Stück Stoff verbunden waren, das die Unterseite des Rückenschilds verbarg. Mymy war ähnlich gekleidet gewesen und Mav auch, nur die Stoffe waren unterschiedlich. »Wir brauchten zusätzlichen Auftrieb, um über die Arme Pahs – die Bergkette, die Foddu im Norden und Westen einrahmt, meine lieben Menschen – zu kommen, daher haben wir das Bombengehäuse ausgeleert und Lebensmittel darin gelagert.«
»Eigentlich«, meldete sich Rogers, »könnten wir die fodduanischen Soldaten nach oben transportieren und diese Insel den Flüchtlingen übergeben.« »Die innerhalb einer Dreinacht verhungern würden«, konterte Mav. »Das Versorgungsboot kommt jeden Tag, eine Dienstleistung, die, wie ich sehr befürchte, unter den von Ihnen beschriebenen Umständen eingestellt würde.« »Tja, das war die einzige Idee, die ich im Augenblick hatte.« »Und keine sehr gute«, schnaubte Couper. »Ich nehme an, das gilt auch für das Penetrieren von diesem Raum aus. Wir würden eine gewaltige Frachtöffnung brauchen, und dazu müßten wir auf den Hof oder das Gelände außerhalb des Gefängnisses. Sobald wir das versuchen, will bestimmt jemand da unten den Helden spielen und entdeckt, daß die Bombe Schwindel ist, und das war's dann mit der Auswanderungsstrategie.« Mav paffte an seinem Inhalator. »Sind Sie tatsächlich fähig, die gesamte ›Onwodetsa‹ so mit einem Schluck wegzubringen?« Rogers wartete ein wenig, ehe er sprach, weil er den Computer in seinem Kopf konsultierte. »Die ›Tom Paine Maru‹ hat etwas weniger als zehn ›fymon‹ im Durchmesser, sie ist eine Halbkugel, und vielleicht ein Drittel so hoch.« »Was Sie nicht sagen! Nun gut, dann werde ich meine eigene Idee ausprobieren.« Damit trat er auf den Balkon hinaus und hob drei Hände zum Gruß. Einer der Soldaten hob ein Gewehr auf und riß es an den Körperteil, der ihm als Schulter diente. Ein Knall war zu hören. Eine Kugel prallte von dem Stein über dem Kopf des Philosophen ab. Jemand anders packte die Waffe, hieb sie dem Schützen über die Kiefer und warf sie dann zu Boden. Bis auf das Pochen der leerlaufenden Luftschiffmotoren senkte sich Schweigen über die Insel. »Meine lieben Freunde und Kerkermeister«, begann Mav. Die Menge unten regte sich ein wenig und verstummte wieder.
»Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich weiß, ihr müßt das verhindern, obwohl ich keinem Lebewesen ein Leid zufügen will. Ich bin bis jetzt bei euch geblieben, weil ich mich bemühte, eine Feuersbrunst zum Stillstand zu bringen, die selbst jetzt noch auf unserem Globus wütet. Daß das im Einklang mit gleichgesinnten Podfettiern geschah, erwies sich für Ihre Majestäten als unerträglich, da sie es als ihr Vorrecht ansehen, zu bestimmen, wer unsere Feinde sind.« Er legte zwei Hände auf den Balkon und gestikulierte mit der mittleren. »Ich sage euch, wir müssen selbst bestimmen, wer unsere Feinde sind – und wer unsere Verbündeten. Die Beziehungen zu anderen müssen einzig und allein auf der Basis einstimmiger Zustimmung stattfinden. Keine Nation, kein König, keine gleich wie zusammengesetzte Gruppe hat das Recht, etwas zu tun, wogegen irgendein Individuum Einspruch erhebt. Das ist die Summe dessen, was Freunde und Feinde gleichermaßen ›Mavismus‹ nennen.« Ich war gleichzeitig entsetzt und fasziniert. Es war, als sei dieser Agot Edmoot Mav sein ganzes Leben lang ein Konföderierter gewesen. Offenbar hatte er ganz alleine alles noch einmal erfunden, was diese Konföderierten in jahrhundertelangen Erfahrungen gelernt hatten. Ich war in diesem Augenblick näher daran als je zuvor, mich zu fragen, ob nicht vielleicht wirklich etwas dahinter war. Er redete weiter. »Mehr als großartige Gesetzeswerke ist der einzige Wert, den wir alle teilen müssen, der Grundsatz, daß niemand seine Befriedigung erreichen darf, indem er als erster gegen einen anderen Gewalt anwendet. Unsere neuen Bekannten von den Sternen – denn das sind sie – haben diese Entdeckung unabhängig von uns gemacht und nennen sie ›Nichtangriff‹. Der historischen Entwicklung nach betrachtet sind sie und wir Räuber. Dieses Prinzip ist die einzige Möglichkeit, wie Räuber gefahrlos miteinander verkehren können.« Bei diesen Worten war von unten Gemurmel zu hören, aber ich konnte nicht erkennen, ob es zustimmend oder mißbilligend war. »Es wird argumentiert, daß einstimmige Zustimmung, ein positiver Ausdruck dieses Prinzips, Untätigkeit oder fade Mittelmäßigkeit erzeuge. Ich versichere euch, daß dies nur in der entgegengesetzten Situation geschehen kann, wenn kein Individuum ohne die Zustimmung der Gruppe
handeln darf – das ist die fadenscheinige ›Reform‹, die uns von der absoluten Monarchie zum absoluten Mehrheitssystem geführt hat. Das ist keine Verbesserung. Einstimmige Zustimmung heißt nicht, daß jeder zu geistloser Uniformität gezwungen wird oder daß nie etwas geschieht, sondern einfach, daß niemand gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden kann. Man kann sich kein natürlicheres, lamviinitäres System vorstellen. Im Verlauf der Geschichte war der erste Ausdruck dieses Systems ein wirtschaftlicher: der freie Markt, der Foddu zu dem mächtigen Reich machte, das es heute ist. Aber es gibt dazu parallele, gesellschaftliche Formen, deren Fehlen uns in diesem Augenblick auf die Katastrophe zutreibt. Gesellschaftliche Ordnung und Zusammenarbeit kommen weder von Prinzen noch von Politikern, nicht einmal von Fortschritten in der Kommunikationstechnik, sondern sie entstehen aus der Summe des freiwilligen Austauschs, dessen treibende Kraft in dem Bestreben jedes einzelnen besteht, seine Lage zu verbessern. Elementare Habgier, meine lieben Zuhörer. Es gibt keine ›unsichtbare Hand‹, eine unglückliche Wendung, es gibt nur Millionen äußerst sichtbarer Finger, die – um des Gewinns willen – das tun, wofür andere freiwillig etwas eintauschen wollen. Wir trotzen den Gesetzen der Natur auf eigene Gefahr. Die Besteuerung, genauso wie die Wehrpflicht, stehen beide im Gegensatz zum Prinzip und sind der eigentliche Zündstoff für den Krieg. Niemand, der sie begünstigt, ganz gleich, in welcher Absicht, kann dieser tragischen Einrichtung ein Ende setzen, wie fromm er auch seine Friedenssehnsucht beteuern mag. Sind wir uns denn unserer eigenen Tüchtigkeit so unsicher geworden, daß wir stehlen oder das, was wir schaffen, anderen mit dem Schwert aufzwingen müssen? Und doch ist das das Wesen des Gesetzes, gegen das ich jetzt, nach meiner Abreise, zu Felde ziehen will. Ich bitte euch, gebt mich frei, fügt andern keinen Schaden zu und bringt keinen Schaden über euch selbst. Der Einsatz von Vernichtungsmaschinen steht bevor, die dem Leben auf unserem Planeten ein Ende setzen werden. Helft mir, im Namen der Anständigkeit, das zu verhindern!« Lucille weinte, ohne sich zu schämen, und zu meinem Erstaunen
Geoffrey Couper ebenso. Mymys Fell hing herab, offenbar der Ausdruck der Lamviin für Tränen. Ohne Widerstand ließ die ›Onwodetsa‹ sihre Führungsseile herab und wurde von den Fodduanern zur Insel gezogen und vertäut. Jemand dachte daran, einen Eimer Sand auf die noch schwelende Zündschnur der falschen Bombe zu werfen. Ser spuckte sihre Passagiere aus, die sich kunterbunt unter ihre früheren Feinde mischten. Mav wandte sich uns zu. »Ich denke, wir sollten an die Arbeit gehen. Wir haben einen Krieg aufzuhalten. Sagen Sie mir, dieses Penetratorgerät, tut das weh?«
20. Kapitel Die wichtigste Leitlinie 1 Lieutenant Enson Sermander lag in seiner Kajüte auf dem Bett und trank Nährlösung durch eine Plastikröhre aus einer schmalen, grünen Flasche, die er in der freien Hand hielt. Die abscheulich aussehende, dunkelbraune Flüssigkeit sprudelte, wenn sie geschüttelt wurde. Ein sehr guter Monat, hatte der Kellner vor langer Zeit gesagt. »Whitey!« Sermander schrie mich fast an, als ich hereinkam. »Treten Sie ein, treten Sie ein!« Meine eigenen, kleineren Verletzungen hatten gerade Zeit gehabt, sich zu verhärten. Als ich wieder an Bord der TPM war, kümmerte ich mich sofort um verschiedene Dinge, ich wollte einen kranken Freund besuchen und selbst zum Arzt gehen, wenn er gerade bei der Hand war. Viel Zeit hatte ich nicht: ›unten‹ spitzte sich alles zu einer letzten, tödlichen Schlacht zu. Sermanders Stimme zitterte, während er rhythmisch den Plastikball drückte, den man ihm gegeben hatte. »Soviel ich gehört habe, verdanke ich Ihnen meine Genesung!« Er trug die untere Hälfte eines Patentanzugs, der Rest des Kleidungsstücks lag zusammengefaltet unten über dem Bett. Ein kleiner, runder Verband – eigentlich mehr ein Heftpflaster – war an seiner linken Schläfe zu sehen. Ich nahm meinen Waffengurt mit seiner Doppellast von meiner Taille, warf ihn auf seinen Stuhl und ließ mich auf die einhändige Geste des Lieutenant hin müde in einen zweiten fallen. Francis Pololo ließ Sermanders anderes Handgelenk los sonderbar, wenn ein Arzt jemandem mit geschlossenen Augen den Puls fühlte – und wandte sich seinem Patienten zu. Er wischte sich die großen Hände an der blaßgrünen Tunika ab. Auf der linken Schulter trug er ein rotes Kreuz in einem Kreis.
»Ihre schlimme Schulter ist nicht mehr schlimm. Sie werden noch ein paar Tage brauchen, um sich an Ihr neues Implantat zu gewöhnen, Enson, und ein paar Wochen, um es völlig zu beherrschen.« Der Affe nahm seine Drahtbrille ab, putzte sie nachdenklich und setzte sie sich wieder auf seine flache, schwarze Schnauze. »Inzwischen keine Anstrengung, nichts übertreiben und viel ruhen.« »Ihr Mediziner seid alle gleich.« Der Lieutenant grinste. »Nicht wahr, Corporal? Nun gut, Sir, ich werde Ihrem Rat die gewissenhafte Aufmerksamkeit schenken, die er verdient. Wollen Sie noch nach meinem Partner sehen, ehe Sie gehen? Er scheint mir ein wenig angeschlagen zu sein.« Der Gorilla untersuchte die Anzeigen auf meinem Anzugärmel und öffnete die Naht, um die schmerzhafte, sich langsam ausbreitende Prellung auf meiner Brust zu betasten. »Heute blau, heut' abend schwarz«, murmelte er wie eine Beschwörung, »morgen grün, gelb übermorgen. Du wirst es überleben, Whitey. Aber laß deinen Anzug nachsehen – er hat eine Menge geschluckt.« »Hm, Trillionen Dank, Doc! Ich werde mich bemühen, besser drauf aufzupassen.« »Schon gut, du kriegst die Rechnung. Schönen Tag noch.« Er lächelte uns mit den großen Reißzähnen des Gorillas an. »Und wenn das nächste Mal jemand auf dich schießt – duck dich! Ich habe schon einen Bericht von Howell bekommen, er sagt, du hast seinem kleinen Mädchen ein paarmal das Leben gerettet. Bist du ein Held, oder neigst du einfach zu Unfällen? – Sag jetzt nichts, wir brauchen auf Sodde Lydfe alle Hilfe, die wir kriegen können.« Pololo zündete sich eine seiner kleinen, braunen Zigarren an und verließ das Appartement. Der Anlaß verlangte einen Themawechsel. »Wie fühlen Sie sich, Sir?« Er sah bestimmt nicht aus wie jemand, der gerade eine Operation hinter sich hatte. Seine Farbe war ausgezeichnet, seine Bewegungen voller Energie. In seinen Augen glänzte ein Licht, das vorher nie dagewesen war. »Viel besser – praktisch von Minute zu Minute.« Er runzelte kurz die
Stirn, dann lächelte er. »Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken, wie ich mich fühle, Whitey. Es ist erstaunlich, fast eine religiöse Erfahrung. Ich wünschte, ich hätte schon früher begriffen… schauen Sie, wenn ich wissen will, wie spät es ist, sehe ich, fast ehe ich mich bewußt fragen kann, eine Anzeige im Geist, dem Sichtfeld überlagert, die es mir sagt. Wenn ich wissen will, wo das Badezimmer ist, flüstert es mir eine Stimme ins Ohr, oder es erscheinen Worte, die sich unten entrollen…« Er warf den Plastikball durch die Tür und traf genau das Waschbecken, dann lachte er. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber Sie verstehen, was ich meine, nicht wahr?« Er war voll Begeisterung – richtig fiebrig – genau wie jemand, der mit Drogen vollgepumpt ist. Meine früheren Bedenken flammten wieder voll auf. Was hatte ich meinem Lieutenant angetan? »Ja, Sir. Ich glaube schon, Sir?« »Ja, Whitey?« Er erhob sich vom Bett, stellte die Füße auf den Boden, hob das Oberteil des Patentanzugs auf und steckte die Arme in die Ärmel, seine Stimme klang wohlwollend, freundlich. »Sir, ich möchte Ihnen eine Frage stellen…« Er dichtete die Naht ab, dann erwiderte er: »Nun, fragen Sie – wenn ich eine Antwort geben kann, mein Junge, werde ich es tun.« »Hm, was halten Sie von der Konföderation, Sir, ich meine, von der Tatsache, daß sie wahrscheinlich versuchen wird, Vespucci genauso zu beeinflussen wie andere Planeten, die wir…« Er hielt inne, dann brach er in kehliges Gelächter aus. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen, Whitey, ich kenne diese Leute jetzt. Sie werden auf Vespucci keinen Unfug anrichten.« Er stand auf. »Sir?« Genau davor hatte ich Angst gehabt. Das Implantat, das man ihm auf das Gehirn gesetzt hatte, hatte ihn tatsächlich in seine Gewalt gebracht. Ich stand allein, gegen ein mächtiges, stellares Imperium. »Das ist schon richtig, Corporal, denn wir werden es nicht zulassen.« Er machte ein paar Schritte, ging in die Knie, beugte die Arme, ballte die Hände zur Faust. »Sie haben einen schweren Fehler gemacht, als sie mir dieses Gerät gaben. Jetzt steht mir jedes Geheimnis des Schiffs offen,
jede Facette ihrer Geschichte.« Er drehte sich um und schaute mich direkt an. »Ich weiß nun genug, um sie aufzuhalten, ganz gleich, was sie vorhaben.« »Sir?« Verwirrung, Verlegenheit, aufdämmernde Hoffnung, wo vorher nur Verzweiflung gewesen war. Er schob die Hände in die Taschen. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie ein sehr monotoner Gesprächspartner sind?« »Hm, nein, Sir – ich meine, ja, Sir, das heißt, ich…« »Und auch kein besonders gut verständlicher. Ich fürchte, Ihre kleine, wie soll ich sagen, Ihr kleiner Zeitvertreib hatte betrübliche Auswirkungen auf Ihre geistigen Fähigkeiten.« Mein Gesicht lief dunkelrot an. »Sir, ich…« »Schauen Sie mich nicht so an, Corporal! Das ist völlig normal – dazu gibt die Marine ja Hygienevorlesungen.« Der Waffengurt auf dem Stuhl fiel ihm ins Auge. »Übrigens, jetzt möchte ich eine von diesen Pistolen – nein, lassen Sie nur das Halfter, ich trage sie einfach in einer von mir selbst entworfenen Tasche.« Ich stand auf, öffnete die Klappe eines der Halfter und reichte ihm die Waffe, die er unter seinen Arm steckte. Ich wollte ihn fragen, ob er einen zusätzlichen Lader wünsche, aber er kam mir zuvor. »Übrigens sieht Ihr kleines Gefäß recht annehmbar aus. Ist sie gut? Keine Angst, ich gönne sie Ihnen – wir werden einfach auch so jemand für mich besorgen, ehe wir dieses Schiff verlassen. Halten Sie doch bitte die Augen offen, ja? Lieber Himmel, schon sechzehnhundert – wir müssen los, sonst sind Sie noch gezwungen, die unangenehme Aufgabe eines gemeinen Soldaten zu erfüllen. Es muß am Implantat liegen: seit langer, langer Zeit fühle ich zum erstenmal wieder animalische Regungen.«
2 Stellen Sie sich vor, wie es klingt, wenn drei Hände klatschen – und das mit einem halben Dutzend Oktarien multipliziert. Von diesem Geräusch wurde Mav eingehüllt, als er oben auf einem großen Baumstumpf stand und versuchte, Koko Featherstone-Haugh der Gruppe vorzustellen, die
er nicht seine Anhänger nennen wollte. Vor nicht allzuvielen Tagen hatte auf diesem Baumstumpf ein Wesen mit gifttriefenden Stacheln versucht, mich zu töten. Jetzt hoffte ich, daß die Klapperschlangen sich um sich selbst kümmern würden. Für die Lamviin war die künstliche Wüste ein übermäßig feuchter, vorläufiger Aufenthaltsort – der einzige Platz an Bord des Schiffes, wo sie sich wenigstens einigermaßen wohl fühlten. »Es ist nicht Brauch bei uns«, sagte Koko gerade, »jemanden im Namen der Konföderation oder irgendeines anderen Kollektivs willkommen zu heißen. Aber ich glaube, Sie sind nette Leute, jedenfalls die, die ich kennengelernt habe, und ich freue mich sehr, daß Sie hier sind.« Aus irgendeinem idiotischen Grund hatte man mich gebeten, mich neben das Paar zu stellen. Mymy wurde gerade ein neunbeiniger Patentanzug angepaßt, damit ser sich den Rest des Schiffes ansehen konnte, ohne beim Atmen zu ertrinken. Ich freute mich schon darauf, sien nach der neuesten konföderierten Mode gekleidet zu sehen.
3 Das große Schiff zögerte, dann tauchte es in die Atmosphäre. Zwölf Kilometer im Durchmesser, mehr als sieben Meilen, eine eigene Welt mit Bergen, Wüsten und Prärien, aber für einen solchen Auftrag war sie nie konstruiert worden. Schwerelos, nur vom grellen Schein der Tachyonen an der Unterseite gehalten, hüpfte, rutschte und glühte sie an ihrem Leitrand entlang, bis sie kein Sternenschiff mehr war, sondern ein unwahrscheinliches, gigantisches, fliegendes Ding hoch über dem scharlachroten Ozean von Sodde Lydfe. Koko Featherstone-Haugh saß in einem sonst bequemen Wohnzimmersessel und hielt in verbissener Konzentration die Armlehnen umfaßt. Ich fragte mich, ob Gorillas unter ihrem Fell wohl schwitzen konnten. Die ›Tom Paine Maru‹ hatte keinen Kontrollraum – beziehungsweise war der Kontrollraum im Kopf des Kapitäns, wo immer der im jeweiligen Augenblick sein mochte. Ich hörte, wie die Armlehnen unter dem Druck, den sie ausübte, brachen, ein Kontrapunkt zu einem leisen Äch-
zen der gequälten Schiffskonstruktion. Von der Decke kam sonderbarerweise Musik: eine Frau mit heiserer Stimme schrie etwas über ›Die zerbrechende Kugel‹. Hoffentlich nicht. Unter uns sah man durch einen zum Fenster gewordenen Fußboden rosa Schaum über die seichten Meere eines trockenen Planeten schwimmen. Die Kielwasser zweier mächtiger Flotten zeigten direkt aufeinander, die Schiffe dampften weiter, um eine Verabredung mit dem Tod der Rasse korrekt einzuhalten. Wir waren ja selbst bemüht, zu diesem Ereignis nicht zu spät zu kommen. »Da ist sie!« schrie Couper und deutete wie ein aufgeregtes Kind auf das riesige Flaggschiff inmitten der podfettischen Flotte. »Ser«, verbesserte Mav, »die ›Wemafe‹. Das bedeutet ›Friedensvogel‹. Ser ist das größte Kriegsschiff in der Geschichte der Zivilisation, das je gebaut wurde.« Er schaute durch ein richtiges Fenster – wenigstens hielt ich es für ein richtiges Fenster – auf einen leuchtend blauen Ozean, auf dem ich vor nicht allzulanger Zeit noch mit dem Kapitän gesegelt war. »Das heißt, unserer Zivilisation. Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit der Größe der…« »Die ›Tom Paine Maru‹ ist kein Kriegsschiff«, versicherte Pololo. Zum erstenmal öffnete Koko die Augen und blickte uns wild an. »Doch, das ist sie, mein Lieber. Wir führen jetzt Krieg gegen den Krieg persönlich!« »Die ›Lichtstrahl‹!« Mymys Stimme war lauter als die von Couper; ser war in einer dünneren Atmosphäre aufgewachsen, als ser sie jetzt atmete, außerdem hatte ser sechs Öffnungen, durch die ser sprechen konnte. Ser deutete auf die Mitte der fodduanischen Flotte. »Oh, Mav, wir müssen das verhindern!« »Ich fürchte, mein Lieber«, antwortete Vyssu, die die ruhige Gelassenheit ihres Gatten widerspiegelte, »daß dies in den Händen unserer neuen Freunde liegt, so wenige das zahlenmäßig auch sein mögen. Kann ich noch Tee haben, Francis?« »Natürlich.« Der Gorilla goß ein paar Tropfen auf ein silbriges Gum-
mipolster neben der Fremden. Es übertrug Vyssu das Gefühl, ohne die Aufnahme von Flüssigkeit notwendig zu machen. Das Riesenschiff schwebte tiefer. »Tja, ich will der Neffe eines Politikers sein – das ist die Schlacht von Midway mit Helikoptern und lenkbaren Luftschiffen«, bemerkte Couper professionell. Da die Lamviin nur die Wirbelvögel von Sodde Lydfe als Vorbild hatten, haben sie nie Flugzeuge mit starren Flügeln entwickelt. »Es wäre fast interessant, wenn die da unten nicht gerade mit Atomwaffen herumspielen würden.« »Und mit gräßlichen« – Rogers schnitt eine Grimasse –, »mit Kobaltmantel.« »Ich glaube nicht, daß das böse Absicht war«, bemerkte der fodduanische Detektiv. »Kobalt ist in unserer Zivilisation ein allgemein verwendetes Material. Ich selbst war mir nicht bewußt, welche Wirkung…« »Trotzdem war es knapp.« Lucille spielte mit einem Kood-Stäbchen herum. »Wir haben hier draußen einen bestimmten Auftrag, wir sollen unseren eigenen Schrott wegräumen. Es gab eine Menge Debatten darüber, ob wir uns in die Angelegenheiten einer völlig anderen Spezies einmischen sollten. Wenn das einfache, altmodische Atomwaffen mit niedrigem Wirkungsgrad gewesen wären…« Mav lachte. »Dann sollten wir vielleicht froh sein, daß sie das nicht waren. Tausende von Jahren, sagen Sie?« Sie nickte. »Auf Neuner- oder Zehnerbasis. In der Kultur meiner Mutter hat man sie nie erfunden, jedenfalls nicht für Kriegszwecke. Aber in der meines Vaters; wir haben hier draußen viele davon zu sehen bekommen. Oder vielmehr ihre Überreste. Millionen von denkenden Wesen, und alles andere auf dem Planeten tot, was oberhalb der Entwicklungsebene eines…« »Des«, setzten alle drei Lamviin unmittelbar fort. »Ich möchte wetten, daß das fodduanisch ist«, meinte Owen Rogers, »und ›Senator‹ heißt.« »Jetzt geht's los!« quetschte Koko zwischen den Zähnen hervor. Das mächtige Schiff legte sich in die Kurve und trug uns vom Blickpunkt der beiden Flotten aus der Sonne. Sie waren zu weit auseinander,
um sich gegenseitig sehen zu können – obwohl ihre Flugzeuge sich schon in Geplänkel einließen – aber uns konnten sie sehen. Der Schatten, den das Sternenschiff warf, hatte eine Breite von Dutzenden von Kilometern, ein riesiger, drohender Fußabdruck, genau wie der Kapitän es beabsichtigt hatte. Rauch strömte aus kochenden Stellen im Meer, wo ansonsten intelligente Wesen für ihr jeweiliges Land gestorben waren. Feuer schoß aus der Unterseite der ›Tom Paine Maru‹, eine Säule purer, alles versengender Energie, meterbreit im Querschnitt. »Sie wollten gerade die erste Kugel der Saison auswerfen«, erklärte Koko, »mit der größten Artillerie, die ich meines Wissens je gesehen habe.« Kokos podfettisches Opfer begann langsam zu sinken, sihr Bug, wo eine mit einer Atombombe geladene Kanone gewesen war, war weggebrannt. Wir waren tief genug, um sehen zu können, wie Besatzungsmitglieder ins verhaßte Wasser stolperten. Sofort kam ein zweiter Energiestoß: ein fodduanisches lenkbares Luftschiff verschwand in einem Lichtblitz. »Gasbeutel zum Absetzen von Atomwaffen?« Couper schüttelte traurig den Kopf. »Vielleicht war das der letzte«, sagte Koko. »Ich höre jetzt etwas von den Penetratormannschaften.« Die geordneten Formationen der beiden Flotten hatten begonnen, sich aufzulösen, als die Kommandanten die neue Bedrohung erkannten, der sie ausgesetzt waren. Trotz der Worte des Gorillas gab es innerhalb eines Kilometers vom Sternenschiff einen dritten Blitz. »Wau! Das war knapp. So einer hätte uns den ganzen Tag verdorben.« Persönlich konnte ich nicht umhin, den Mut der Fodduaner beziehungsweise Podfettier zu bewundern, die diese Waffe gegen einen für sie unbesiegbar erscheinenden, neuen Feind geschleudert hatten. »Achtung!« gebot Koko plötzlich. Ich blickte auf, fragte mich, was wohl vorging, sah aber nur, daß sie die Augen noch immer geschlossen hatte und sich auf die Implantatanzeigen konzentrierte. »Achtung, Schiffe der Flotte! Der Krieg ist zu Ende! Stellt unverzüglich die Feindseligkeiten ein! Hier spricht das Sternenschiff ›Tom Paine Maru‹ der Solaren Konföderation; wir befehlen euch, die Feindseligkeiten einzustellen,
sonst werdet ihr vernichtet! Der Krieg ist zu Ende! Der Krieg ist zu Ende!« Noch ein Blitz, als ein podfettischer Kreuzer seine Artillerie auf uns abschoß. Der Krieg mochte ja zu Ende sein, aber es würde ein langer, geräuschvoller Friede werden.
4 Das dekorativ emaillierte Deck wiegte sich langsam in einem trägen Seegang, mehr als das brachten die dicken, blutfarbenen Meere von Sodde Lydfe nicht zustande. Bei der Einstellung der Lamviin zum Wasser mag es den erschrockenen Seeleuten, die gezwungen waren, ihr Schiff mitten in einem Gefecht zu verlassen, das sich für sie in ein alptraumhaftes Hirngespinst verwandelt hatte, wie ein ansehnlicher Sturm erschienen sein. Ich stellte die Sohlen meiner Füße auf mittlere Haftung ein und schaute durch den Schlachtendunst nach achtern. Die Tachyonenkanone der ›Tom Paine Maru‹ hatte eine drei Meter breite, geschwärzte Grube direkt durch die ›Amybo Kiidetz‹ von sihrem reichverzierten Oberdeck bis zu sihrem spezialversteiften Kiel gebrannt. Ser war ein vergleichsweise neues Schiff, mit frischem Anstrich, wo das Feuer die schockrosa Farbe, die auf diesem Planeten als Tarnung auf See diente, nicht zu Blasen aufgezogen hatte. Rauch trieb von dem kauterisierten Loch hoch, das sihre Todeswunde gewesen war. Von Zeit zu Zeit war der gedämpfte Knall einer kleinen Explosion zu hören. Nur sihre reichgeschnitzten, wasserdichten Türen hatten sien so lange über Wasser gehalten. Lucille trat hinter mir durch den Penetrator. »Wau, art déco militaire! Wirklich schade, sie ist doch schön, was, Whitey?« »Ser«, korrigierte ich automatisch. Aber sie hatte recht, von dem nach unten gezogenen Rammbug, der mit tief aus lebendigem, rostfreiem Stahl getriebenen Schnörkeln verschönert war, bis zur hochgezogenen, mit vielen Figuren geschmückten
Haube, die den gigantischen Antriebsventilator bedeckte, war ser die Vorstellung eines dreiäugigen Architekten von harmonischer Bauweise. Sogar die Kanonenzinnen fügten sich fließend in den Schiffsaufbau ein, ohne diese anmutigen Linien zu unterbrechen. Ich wußte, daß es irgendwo weiter unten einen stark abgeschirmten Atomgenerator gab, der Ventilator, Besatzungsunterkünfte, Offizierskabinen, Kombüsen, Messeräume und Funkkajüte, alle in fremdartigem Design, aber doch erkennbar und bewunderungswürdig, mit Energie versorgte. Ich merkte allmählich, daß ich die Lamviin sympathisch fand, die Fodduaner wie die Podfettier. Vielleicht war es, wie der Lieutenant behauptete, eine unverschämte Einmischung, sie vor ihrem letzten Schicksal zu bewahren, aber ich war doch froh, daß wir es taten. Für Schuldgefühle war später noch Zeit genug. Lucille konsultierte ihr Implantat. »Durch diese Tür hinüber auf die andere Seite des Decks, drei Treppen hinunter und dann nach links. Warum glaubst du, daß sie die Bombe so fest in den Schiffsrippen verschraubt haben?« Das war natürlich der eigentliche Grund unseres Hierseins. ›Oben‹ beschlagnahmte ein Dutzend schwerbeschäftigter technischer Trupps gerade Atombomben über Penetrator – sie knallten sie in Stasis, bis jemand einen Plan ausarbeitete, was man damit anfangen sollte – außer denjenigen, die man in aller Eile vaporisiert hatte, weil sie scharf waren. Diese besondere Bombe stellte uns vor Probleme, die wieder den ›Experten für Primitive‹ verlangten. Jemanden, der zum Auseinandernehmen der Dinger ausgebildet war. Ich steckte den Lauf meines Dardick durch die in regenbogenfarben emaillierte Luke, beugte mich halb vor und folgte der Pistole in einen verlassenen Quergang mit niedriger Decke. Die Farben wurden wirklich bunt, sobald man einmal drin war. »Meine erste Theorie taugt nichts, daß ser als riesiges, bemanntes – vielmehr ›belammtes‹ – Torpedo…« »Feuerschiff«, sagte Koko.
Lucille kam gleich hinter mir, ihr Anzug streifte oben an die Decke. Ich war mir der beiden Plasmarevolver in meinem Rücken nicht mehr so ganz sicher. Sie hatten keine Schußlinie, sie hatten ein Schußfeld, und noch dazu ein breites. »Feuerschiff also«, sagte ich. »Ser ist zu neu, zu schön. Und es ist auch noch zu früh im Krieg. Später, wenn die eine oder andere Seite verzweifelt… sieh nur, wie sauber ser ist. Sihre Mannschaft war stolz auf sien, Lucille. Es ist mir schrecklich, daß ich ihnen das angetan habe. Das ist eine wirklich phantastische Maschine.« Wir durchquerten den Korridor und kamen an mehreren Türen vorbei. Als ich mich vorbeugte, konnte ich eine Hilfsbrücke erkennen: drei reichverzierte Steuerräder, ein leistungsfähiges Periskop, Kompaßhäuser zur Navigation in Form mythischer Gestalten, ein Radargerät in teuer aussehendem Rahmen, eingeätzte Verzierungen um die Telekommunikationsschirme herum. Achtern, auf der anderen Seite des Korridors, war ein Kartenraum. »Es ist eine Mordmaschine, Whitey, ganz gleich, wie schön sie vergoldet ist. Glaubst du denn, daß es ein Selbstvernichtungsmechanismus ist?« »Nicht mit diesem Ausstoß, die größte Atombombe, von der ich je gehört habe, mit der könnte man ein Dutzend Schiffe dieser Größe und zum Nachtisch noch eine größere Stadt vaporisieren. Liebling, eine solche Bombe könnte sogar die TPM in Schrott verwandeln.« »Das habe ich nicht gewußt. Ich werde mich bemühen, es nicht zu vergessen, sobald wir das Ding an Bord gebracht haben.« »Tu das – außerdem werde ich sie, für den Fall, daß du es doch vergißt, hier entschärfen.« Wir traten vorsichtig über die Türschwelle und fanden die Leiter, ein Ding mit breiten aber niedrigen Sprossen, und stiegen durch den Qualm hinunter ins Schiffsinnere. Die Sicht wurde schlechter, trotz der Kontrastverstärkung aus unseren Anzügen. Gelegentlich kamen wir an einem Videogerät vorbei, auf dessen Schirm noch immer die hellgrünen, fodduanischen Buchstaben für »Verlassen Schiff!« leuchteten. Die Lamviin verstanden wirklich etwas von Elektronik – hatten aber neben Motorfahrzeugen immer noch von Tieren gezogene Fuhrwerke
auf den Straßen ihrer Städte. Das auf Zucker basierende Gegenstück zum Schwarzpulver wurde in kleinen Waffen immer noch gerne verwendet, aber die Schiffsartillerie wurde mit Erdgas betrieben. Sie hatten noch keine Narkosemittel für Operationen erfunden. Der Fortschritt entwikkelt sich in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, dachte ich mir, je nach den Interessen der Zivilisation, die ihn hervorbringt. Als wir um die Ecke bogen, entdeckten wir die Überreste eines Besatzungsmitglieds, sein Rückenschild war durchlöchert, und kupferfarbenes Sekret tropfte auf die Planken. Wir umgingen das Wesen und begaben uns auf die nächste, unbequem proportionierte Treppe. Twännngggg! Es mußte ein Dreißig-Gramm-Projektil gewesen sein, das sich neben meiner Schulter am Schott in Stücke schmetterte. Ich trat geduckt zurück, stieg dabei Lucille auf die Füße und spähte gerade rechtzeitig hinter dem schützenden Stahl der Tür hervor, um zu sehen, wie zwei Lamviin in Kampfkleidung von der nächsten Tür aus zu uns herüberschauten. Einer davon hatte eine Waffe mit einer Mündung, so groß wie meine Faust. Der andere ebenfalls. »Ergib dich, Monster, oder stirb! Deine podfettischen Herren werden dafür bezahlen!« Ehe ich antworten konnte, brüllte neben meinem Ohr etwas auf. Eine Kugel aus Fusionsfeuer zuckte auf die Fodduaner zu. Einer stand auf und schoß auf Lucille. Ich hörte sie schreien und wandte noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie sie gegen die gegenüberliegende Wand krachte. Ich feuerte einen Schuß auf den Flintenlauf ab und traf mit einer Kugel direkt ins Zentrum der gewaltigen Bohrung. Es war ganz leicht. Die Waffe explodierte in der Hand des Schützen und tötete ihn auf der Stelle. Sein Partner trat den Rückzug an. Immer mit einem Blick nach hinten kniete ich neben Lucille nieder, die zusammengesunken an der Wand lag, keinen Meter von dem ersten, toten Fodduaner entfernt, den wir gefunden hatten.
»Das wird schon wieder, Whitey, hat mir nur die Luft rausgehauen.« Auf ihrem Anzugärmel kreischten blinkende, scharlachrote Lichter. »Ruf das Schiff, Lucille! Bombe hin oder her, wir bringen dich wieder rauf!« Eine lange Pause. »Ich kann die Arme nicht heben. Irgend etwas ist mit meinen… Whitey, paß auf!« Blam! Blam! Blam! Ich hatte inzwischen gelernt, auf die wenigen, verletzlichen Stellen zu zielen, die ein Lamviin hatte. Er ließ seine großkalibrige Waffe fallen und kippte auf die Kante seines Rückenschilds. Seine Beine knickten ein. Er rührte sich nicht mehr. Ich fühlte mich entsetzlich. Ich mochte diese Aliens, hatte nicht das geringste Bedürfnis, sie zu töten. Ich schlug auf Knöpfe an meinen eigenen Anzugärmeln und merkte, daß ich die ›Tom Paine Maru‹ auch nicht erreichen konnte. Wahrscheinlich waren wir so tief im Schiff von zuviel Metall umgeben. »Wir müssen die Bombe entschärfen, Schätzchen«, sagte ich zu dem Mädchen. Ich konnte ihr nicht einmal den Helm abnehmen. Die Atmosphäre enthielt zwar genügend Sauerstoff, aber sie würde ihr innerhalb von Minuten die Feuchtigkeit aus dem Gewebe saugen, sogar so weit draußen auf dem Meer. Statt dessen holte ich mir mit Hilfe der manuellen Schalter ihres Anzugs ein wahrheitsgetreues Abbild dessen, was unter dem silbrigen Gummi lag. Ihr Gesicht war totenbleich. »Ich muß gehen und die Bombe entschärfen, Lucille. Man beobachtet sie auf Instrumenten. Sie wissen, daß sie uns dann raufziehen können.« Sie legte schwach eine Hand auf meinen Arm. »Laß mich nicht allein… ich…« Ich nickte verständnisvoll. »Keine Sorge, ich laß dich nicht allein.« Wenn ich ihrem Anzug glauben konnte, so hatte sie keine schweren inneren Verletzungen, keine Knochenbrüche. Wie groß der Schaden auch immer war, es war unvergleichlich viel schlimmer, wenn sie wieder alleingelassen wurde. Ich sammelte ihre Pistolen ein. Sie wollte sicher nicht, daß sie hier liegen blieben. Dann steckte ich meinen Arm zwischen ihre Beine, faßte sie im Nacken, beugte mich noch weiter hinunter und hievte sie mir auf die Schultern. Nun nahm ich Knöchel und Handgelen-
ke mit meiner linken Hand. So blieb mir eine Hand frei zum Kämpfen. Ich richtete mich nur halb auf, weil die Decke zu niedrig war. Mit nach vorne gehaltener Waffe trottete ich zur Treppe und begann, eine Stufe nach der anderen zu nehmen. Am Fuß der Treppe blieb ich für einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen. »Lucille?« Keine Antwort. Noch eine Treppe, wenn ich nur den Anfang finden könnte. Ich schaute in der rauchigen Dunkelheit herum und wünschte jetzt, ich hätte mir das Implantat einsetzen lassen. So leicht Lucille auch war – nicht mehr als fünfundvierzig Kilo – die Belastung schmerzte allmählich in dieser verkrampften, gebückten Stellung. Ständig bildete ich mir ein, ich sähe neunbeinige Wesen mit Pistolen aus der Dunkelheit auf mich zukommen. Statt dessen sah ich einen Engel. Mit einem blauen Heiligenschein: der Penetratorkreis öffnete sich, seine Ränder leuchteten in dem schwachen Licht wie Neon. Heraus trat Elsie Nahuatl, in voller Montur, in einer Hand die Pistole, in der anderen den Dolch. Der Penetrator schnappte mit einem explosiven Plopp! hinter ihr zu. Sie steckte das Messer ein, hielt aber die Pistole schußbereit. »Ich dachte mir schon, daß ich euch hier finde. Wieso hast du die Bombe denn noch nicht ent… O Junge, da stecken wir aber mal wieder in einem Schlamassel.« Länger brauchte sie nicht, um zu sehen, in welchem Zustand Lucille war. »Hast du Verbindung zum Schiff, Elsie?« »Nicht so richtig, weißt du, ich…« »Dann nimm sofort Kontakt auf! Sag ihnen, sie sollen uns hier rausholen. Man hat auf Lucille geschossen!« »Whitey, die sind da oben alle beschäftigt, und keiner hört zu. Außerdem komme ich durch das ganze Metall nicht durch! Ich wollte dir nur sagen, daß sie die ganze ›Amybo Kiidetz‹ nach oben penetrieren wollen. Das einzige, was wir tun können…«
Trrrrinnnngggg! Eine großkalibrige Kugel prallte hinter uns vom Schott ab. Ich feuerte ein halbes Dutzend ungezielte Schüsse in diese Richtung, schnappte mir Elsie und fand die Treppe. An ihrem Fuß öffnete sich eine Tür zu einem großen, hangarähnlichen Laderaum, in dem ich aufrecht stehen konnte. Hier drin war der Rauch noch dichter als oben. Wummmm! Der Schlag traf mich voll ins Gesicht. Ein schwindelerregendes, richtungsloses Gefühl, als das Schiff schlingerte. Ich fiel auf Lucille – die beim Aufprall nur noch ein Stöhnen herausbrachte – und spürte, wie Elsies Hand aus der meinen gerissen wurde. Ihre Pistole fiel klappernd zu Boden. Sie schrie. Der Raum füllte sich mit dem Geräusch zerreißenden Metalls, als ein Lichtspeer über uns hereinbrach. Durch ein brandneues Loch im Rumpf konnte ich den Umriß eines behelmten Kopfes erkennen. Der Rauch zog schnell ab. »Whitey! Owen Rogers hier! Hast du Elsie gesehen? Wir dachten, sie wollte dich suchen. Hast du die Bombe schon kleingekriegt? Wo ist Lucille?« Ich machte den Mund auf und wollte etwas sagen… Blam! Blam! Blum! Es war eine Dardickpistole, das erkannte ich am Geräusch. Rogers duckte sich, als die Kugeln um seinen Kopf herum an den Metallplatten flachgedrückt wurden. Am anderen Ende des Laderaums stand Lieutenant Enson Sermander mit gespreizten Beinen über einer Wölbung im Fußboden, wo die Atombombe festgeschweißt war. Vor sich hielt er die kleine Elsie. Sie zappelte. Er schlug ihr die Pistole seitlich auf den Kopf. Sie hörte auf zu zappeln. »Stillhalten! Es dauert nicht mehr lange. Corporal, stehen Sie auf! Kommen Sie hier herüber! Wir werden dieses Sternenschiff mit allen, die an Bord sind, ins Jenseits sprengen!«
21. Kapitel Das Picknick der Teddybären 1 Ich zog langsam meine Füße unter mich und stand auf. Lucille lag immer noch bewußtlos auf dem Boden. »So ist es richtig, Corporal«, säuselte Sermander beschwichtigend. Die eine Hand fest um den Hals des kleinen Mädchens gelegt, griff er mit seiner Schußhand nach oben und zog sich die Anzugmaske zur Brust herunter. »Kommen Sie zu mir! Es gibt keine Alternative, die Sie verantworten können. Ich habe entdeckt, mit den erstaunlichen Fähigkeiten, die mir diese Leute naiverweise zuteil werden ließen, daß sie es nicht für notwendig befunden haben, den Rest ihrer Flotte über Vespucci zu informieren.« Elsie wand sich. »Laß mich los, du Mammutfladen!« Er schaute fast wohlwollend auf sie hinunter. »Sollte ein Kind so etwas sagen? Zu Hause würden wir dir bessere Manieren beibringen, nicht wahr, Whitey?« Er schüttelte den Kopf. »Disziplinlosigkeit ist bei diesen Leuten ein chronisches Übel. Sie verdient den Tod.« Er schaute wieder zu mir auf. »Wir können keine Warnung nach Hause schicken, aber wir können unserer Nation Zeit verschaffen. Was meinen Sie, Corporal?« »Ich meine, daß sie zu Hause mehr als Zeit brauchen, Sir. Sie brauchen diese Warnung – all die Informationen, die Sie allein ihnen geben können, und zwar jetzt.« Bei einem Seitenblick auf das Loch, das in den Schiffsrumpf gerissen worden war, konnte ich gerade eine Bewegung von Fingerspitzen erkennen, die sich um den gezackten, unteren Rand klammerten. Jemand hatte seinen Anzug so eingestellt, daß er optische Eindrücke von den
Enden dieser Finger bekam, eine Art Periskopeffekt. »Wir sind es, die keine Zeit zu verlieren haben, Whitey. Man verlangt von uns beiden, daß wir unser Leben hingeben, ohne daß unser gedacht wird, ohne daß man uns besingt – das letzte Opfer, für das unsere Leute geformt wurden, von An…« »Laß mich los!« Elsie nahm den Kampf wieder auf und schlug in Taillenhöhe mit den Armen um sich, während Sermander sie am Gummikragen festhielt. Fast nachlässig schlug er ihr zum zweitenmal die schwere Militärpistole über den Kopf. Und zum drittenmal. Das kleine Mädchen erschlaffte. »Endlich« – Sermander seufzte – »gesegnete Ruhe.« Ich zog meinerseits die Waffe und richtete sie direkt auf sein Gesicht. »Wenn Sie sie verletzt haben… lassen Sie sie los, Lieutenant, mit Ihrem Implantat stimmt etwas nicht. Dieser Wahnsinn ist weit genug gediehen, wenn dabei kleine Mädchen verletzt werden.« Und große auch. Ich wußte allerdings nicht, ob Lucille noch lebte. Er lachte. »Jetzt hat man Sie also doch rumgekriegt. Ich dachte es mir schon. Was meinen Sie, wie viele kleine Mädchen im Endkrieg umgekommen sind? Können Sie aber leugnen, daß dieser Krieg geführt werden mußte? Auch jetzt wird Sentimentalität nichts an dem ändern, was getan werden muß, Corporal.« Er wechselte seine Waffe in die Hand, mit der er auch das jetzt bewußtlose kleine Mädchen festhielt. Dann beugte er sich hinunter und griff nach der leuchtenden Schalttafel der Bombe zwischen seinen Knien. »Schluß der Debatte. Leben Sie wohl, Corporal, es war mir…« Ich packte den Dardick fester mit beiden Händen und schrie: »Ich mache keine Witze, Sermander, lassen Sie sie los! Gehen Sie da weg!« Lachend hob er Elsie hoch, bis ihre reglose Gestalt seinen Körper vom Kopf bis zu den Knien deckte. »Wissen Sie, wie albern Sie aussehen, wie Sie da mit nichts als einer
Pistole in der Hand einen Mann bedrohen wollen, der bereit ist, sich in die Luft zu sprengen mit… Ooooohhhh!« Elsie drehte den Dolch herum, den sie ihm unterhalb der Kniescheibe ins Bein gestoßen hatte. In einem Schmerzreflex schleuderte er sie heftig von sich. Ihr winziger Körper krachte mitten in einen Berg von Fracht. Ein Faß zerbrach durch den Anprall. Sermander zog kraftlos an dem Messergriff, der aus seinem zerstörten Gelenk hervorragte, und blickte mit einem schwächlichen Lächeln zu mir auf, dann griff er nach der Bombe hinunter. Ich zog den Abzug durch. Der Frachtraum wurde von einem kurzen Feuerblitz erhellt. Sermanders kopfloser Körper kippte nach vorne und verspritzte Blut. Owen Rogers' Schuß brüllte durch die Stelle, wo Sermander noch einen Sekundenbruchteil zuvor gewesen war. Der Plasmabolzen schlug ein weiteres Loch in die gegenüberliegende Seitenwand der ›Amybo Kiidetz‹. Ohne mich um etwas anderes zu kümmern wirbelte ich herum, kniete nieder und nahm Lucille in meine Arme. Als sie mich fanden, wiegte ich ihren reglosen Körper.
2 Die Leute von der ›Tom Paine Maru‹ füllten Lucilles Kabine mit Blumen. MacDougall Olson-Bear war, wie sich herausstellte, ein recht anständiger Bursche. Er war viel größer als ich – vielleicht zwei Meter groß – und besaß eine dichte, rotblonde Haarmähne, die meergrünen Augen seiner Mutter und Muskeln über Muskeln über Muskeln. Unter den gegebenen Umständen kam ich nicht auf die Idee, ihn sehr viel nach sich selbst zu fragen. Jagdflieger war er, hatte jemand gesagt. Was auch immer, es hatte seinem glattrasierten Gesicht den wettergegerbten, rötlich-rosa Teint gegeben, der typisch ist für Leute, die viel Zeit im Freien verbringen, aber schlecht braun werden. Es sah aus, als hätte sein Kinn nie ein Rasiermesser gesehen – und auch nie gebraucht. Ich traf ihn in Lucilles Unterkunft, wo er Kartons mit Sachen füllte. Es roch widerwärtig süß nach ermordetem Grünzeug.
»Es war nicht so, als hätte ich wirklich eine Mutter gehabt«, gab er zu, unsere mühsame Unterhaltung fortsetzend und darauf bedacht, sein Mienenspiel zu kontrollieren, als jeder Gegenstand, den er einpackte, lange vergrabene Erinnerungen heraufbeschwor. Früher, so hatte er mir erzählt, war er an Bord der ›Tom Jefferson Maru‹ aufgewachsen und mit seinem Vater, von dem er schon in jungen Jahren so etwas wie eine Scheidung angestrebt hatte, nie besonders gut zurechtgekommen. Seither hatte er ein abenteuerliches Leben geführt, immer noch unter dem Namen seines Vaters, ohne den seiner Mutter zu kennen oder auch nur zu wissen, daß sie noch immer… Sie hatten einander Jahre später gefunden, durch eine flottenweite Suchaktion nach Leuten, die dasselbe Blut hatten wie sie, eine seltene Blutgruppe, die schließlich nach ihrer Wiederbelebung benötigt worden war. Wie ironisch das Leben sein konnte. Wie blödsinnig ironisch. »Es war für mich mehr so, als hätte ich eine Schwester, die ich erst kennenlernte, als es schon fast zu spät war.« Ich hatte ebenfalls Schwierigkeiten mit meinen Gefühlen, besonders, als wir einen vergammelten Teddybären im Schrank fanden. Sonderbar, wie ähnlich sich die Bräuche zweier so lange getrennter Zivilisationen waren. Auch für mich hatte es einmal so ein Spielzeug gegeben, zu Hause… »Der hat mir gehört!« sagte er mit stockender Stimme. »Sie muß ihn all diese…« Er räusperte sich heftig und wischte sich mit seiner breiten, sommersprossigen Hand über die Augen. »Whitey, da, wo ich hingehe, brauche ich den nicht. Und Lucille auch nicht… mehr. Fällt dir jemand ein, der ihn vielleicht mag?« Elsie erholte sich bei Howell von kleineren Verletzungen. Sie war an Bord des fodduanischen Kriegsschiffes, als Sermander sie von sich geschleudert hatte, auf einem Faß mit Nägeln gelandet. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich: »Ja, Mac, wenn du dir ganz sicher bist. Ich kümmere mich darum.« »Vielen Dank, Whitey.« Er ging um das Bett herum, auf das er die Kartons gestellt hatte, und reichte mir den Bären, zögerte und sagte schließlich: »Ich bin sehr froh, daß du und Lucille euch getroffen habt…«
Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst nichts zu sagen, Mac. Ich… äh… deine Mutter… wir…« Er grinste wehmütig. »Ich verstehe und hoffe…« »Seid ihr zwei jetzt fertig mit den Männergesprächen?« Lucille wirkte zehn Jahre jünger als der Riese, dem sie das Leben geschenkt hatte, als sie aus dem zweiten Schlafzimmer hereinkam, einen weiteren Karton mit Sachen ihres Sohnes in den Armen. Auf ihrem Gesicht lag ein schmerzlicher Ausdruck. Sie stellte die Last auf das Bett – wie ich war auch Mac so klug gewesen, ihr nicht anzubieten, ihn für sie zu tragen – und rieb sich das Brustbein, wo ihr Patentanzug die Kugel des fodduanischen Seemanns abgehalten hatte. Sie schaute uns beide schuldbewußt an und schob dann den linken Arm wieder in die Schlinge, die sie auf Pololos Drängen um den Hals tragen mußte. »Mac, es tut mir schrecklich leid, daß ich dich so rausschmeiße, gerade jetzt, wo wir angefangen haben, einigermaßen ungezwungen miteinander umzugehen, aber…« Er lachte. Ich glaube nicht, daß ich schon einmal einen Menschen gesehen habe, der so entspannt, so voller Selbstvertrauen war. »Laß nur, Mutter, ich habe selbst Parsecs vor mir und muß Versprechen einlösen. Außerdem möchte ich dich nicht bei deinen… ah… Flitterwochen stören.« Sie errötete. Ich auch. »Und wenn du schon so bald wieder davonläufst«, sagte sie, »könntest du mich wenigstens fragen, ehe du das hier weggibst.« Sie nahm mir den Bären ab, schüttelte den ein wenig rieselnden Körper auf und drückte ihn mit ihrem unverletzten Arm an sich. »Was ist so brandwichtig, daß du deine arme, alte Mutter und ihren…« »Gigolo«, schlug ich vor. »Das gefällt mir irgendwie… ›Gigolo‹ verläßt und davonläufst?« »Im Untersuchungssektor der THM hat es Alarm gegeben, es geht um eines von Voltaire Malaises Kolonistenschiffen, das dank der Zeitverschiebung eben erst ankommt, und dessen Gedankenkontrollsysteme noch funktionieren. Vielleicht ist der alte Bürokratensohn selbst an
Bord. Ich möchte dabei sein, wenn der Stöpsel rausgezogen wird.« »Die ›Tom Huxley Maru‹?« Lucille fragte, zur Decke blickend, weitere Daten ab, dann blinzelte sie. »Oh, das ist ja Brion Bayards neues Kommando. Mac, ich möchte dich wirklich nicht enttäuschen, aber wir glauben allmählich, daß Voltaire Malaise auf Whiteys Welt gelandet ist, stimmt's nicht, Corporal-Liebling? Trotzdem wäre ich selbst ganz gerne dabei. Stell dir das vor – Zehntausende von frisch entführten Frauen, die mit ihren Entführern machen können, was immer sie wollen!« Sie streckte den Bären auf Armeslänge von sich, dann setzte sie ihn auf das Bett und lehnte ihn gegen einen von Macs Plastikkartons. »Tja, wenn du gehen mußt, dann mußt du gehen. Was den hier angeht…« »Ich glaube, Whitey wollte ihn Elsie Nahuatl schenken.« Sie grinste und schaute mich an. »Mein Daddy hat ihn mir gegeben, als ich mit einem entzündeten Blinddarm im Bett lag. Gute Therapie. Wahrscheinlich wirst du ihn heute nachmittag selbst brauchen, nach deiner Operation.« Das Tier starrte mich mit seinen zerkratzten Plastikaugen schwachsinnig an, weigerte sich aber, mir Trost oder Rat zu spenden.
3 Nahuatl, Elsa Lysandra: Ltr. d. xenopsych. Abt. prax. Div. Tom Paine Maru; geb. Cody, Wyoming, Solare Konföd. 23.5.267, austr. Aborig. Abstamm. (Ident. biol. Eltern unter Privatsph. Schutz, außer in nachweisb. dring. Notf. ); Adopt. Vater G. Howell Nahuatl. Oper. Div. Tom Paine Maru; Gr. 90 cm, Gew. 25 kg, Haarf. bld. Hautf. dkl. br. Augenf. blau. Weitere Inform.? (Ja/Nein) Ihr Abbild hing, in Stereo und Farbe, vor meinen Augen. Neugierig geworden nickte ich fast unmerklich. Binnen kurzem, so hatte man mir vor einer kleinen Weile gesagt, würden die unterschwelligen Muskelspuren meiner Absicht zu nicken ausreichen, um dem Implantat das richtige Stichwort zu geben. Bis dahin würden wir noch ein wenig Übung brauchen, um einander kennenzulernen.
Durch das ID-Holo sah ich eine andere Elsie, die mit ihren Freunden plauderte. Wir nahmen an so etwas wie einer Totenwache teil, nur saß der neunjährige Ehrengast aufrecht im Bett und reinigte seinen Dolch. Elsies winzige Automatikpistole lag in sauber geordneten Einzelteilen auf einem Tuch auf dem Nachttisch, bereit zum Zusammensetzen, nachdem Owen Rogers sie noch drei- oder viermal durch den Duschvorhang geschoben hatte. Sie war offenbar ein schwer zufriedenzustellender Kunde. Auf Sodde Lydfe hatte sie mir anvertraut, sie wolle einmal genauso werden wie Lucille, wenn sie erwachsen war. Gott helfe der Galaxis! Assoziativverweis: Nahuatl, G. Howell. Oper. Div. Tom Paine Maru. Weitere Inform. unter Privatsph. Schutz; nach Ermessen auf Freigabe des Subj. erhältl. Subj. wg. Freigabe kontaktieren? (Ja/Nein) Mit einem Kopfschütteln unterdrückte ich jeden weiteren Datenabruf durch das Implantat. Das war mir als erstes gezeigt worden, durch das Implantat selbst. Die mühsame ›Operation‹, vor der ich mich so lange gefürchtet hatte, hatte ganze drei Minuten gedauert, das meiste davon war, vor der Injektion ein wenig Alkohol auf die Operationsstelle zu tupfen, eine medizinisch nutzlose Prozedur, aber einige Rituale überleben alles. Anscheinend war es gut für das Wohlbefinden der Schwester. Die leuchtendgrünen Buchstaben verschwanden, zusammen mit dem Bild des Kojoten, vom unteren Rand meines Blickfeldes. Natürlich war auch Howell da, in einer Ecke des Betts zusammengerollt, sowie Francis W. Pololo – zusammen mit Mymysiir, der zuhörte, wie der Gorilla sihr einen Vortrag über das Thema der menschlichen Anatomie hielt. In der Ecke zeigte Vyssu EdWina gerade, wie man mit drei Nadeln strickt. Mein frisch eingebauter Computer wäre wahrscheinlich heißgelaufen, wenn er über all diese Leute hätte Informationen liefern müssen. »Sie sind zerbrechlich«, erzählte Pololo soeben dem Lamviin-
Kauteriseur, »anders als du und ich, aber irgendwie auch sehr zäh. Dieses wilde Individuum wollte trotz eines gebrochenen Wirbels, eines Lungenrisses und dreier gebrochener Rippen aufstehen und auf die Überreste von dem treten, was einmal Serman… – ach, hallo Whitey! Ich habe dich gar nicht reinkommen sehen. Lucille, meine Liebe, wie fühlst du dich?« Sie schluckte. »Es war viel besser, bevor ich hier reingekommen bin! Ich hatte ja keine Ahnung, daß Klein-Elsie so schwer verletzt war.« Ich auch nicht. »Klein-Elsie wird gleich dich schwer verletzen, Lucille Olson-Bear, wenn du nicht aufhörst, in der dritten Diminutiv-Person von ihr zu sprechen! Hallo, Corporal-Liebling, was hast du mir mitgebracht?« Ich hob das zerlumpte Spielzeug mit dem neuen, roten Band um den Hals hoch. »Das hier, Schätzchen, eigentlich ist es von Lucille – und auch von Mac.« »MacBear? Er hat kommiert, um sich zu verabschieden, aber ich wußte nicht, daß er mir einen… einen Teddy! Und einen alten noch dazu! Oh, Lucille, das muß deiner gewesen sein!« Meine Soldatenmaid nickte. Das kleine Mädchen schaute den Waffenschmied nachdenklich an, während sie, den Teddybären an die Brust gedrückt, das Zusammensetzen ihrer Pistole überwachte. »Willst du wissen, wie ich ihn nennen werde?« Er lächelte, schüttelte den Kopf – und fluchte, als sich ihm das Ende einer Sprungfeder unter den Daumennagel bohrte. Elsie kicherte: »Ich werde ihn Owen nennen!« Mymy untersuchte das vergammelte, ausgestopfte Tier genau. Howell beschnüffelte es. Der Gorilla-Arzt schloß seinen Kasten, zog eine Zigarre aus der Tasche und paffte Rauch, als das stinkende Ding sich selbst entzündete. »Ich gehe jetzt. Koko ruft. Sie bereitet eine Einladung für die Königlichen Dreiheiten von Podfet und Foddu vor und bittet um das Vergnügen meiner Gesellschaft. Wir werden ihnen Holos des zerstörten Sodde Lydfe auf der anderen Seite zeigen, deshalb haben sie vielleicht nicht allzuviel Appetit. Vielen Dank für das Riechsalz, Mymy. Jetzt noch eine
Protokollfrage: Wie werden sie wohl reagieren, wenn sie herausfinden, daß wir an Bord dieses Schiffes niemanden mit seinem autoritäten Titel anreden?« Mymy regte ein Greifglied und streichelte liebevoll den Teddybären. »Wie es mit den Podfettiern ist, weiß ich nicht, aber der Beiprinz wird entzückt sein. Ser hat gerade die Vorschule beendet – der erste Beimann der Königlichen Familie, der je eine besucht hat – und ser will von jedermann ›Vuffi‹ genannt werden!« Ich weiß nicht genau, wann ich mir wegen Vespucci klargeworden bin. Vielleicht im Frachtraum bei Sermander, vielleicht auch irgendwo auf Afdiar. Zu so einer Entscheidung kommt man nicht über Nacht oder in einem Stück. Ich begann einfach – noch ehe ich wußte, daß ich mich so entschieden hatte – von der Annahme auszugehen, daß ich als ›Experte für Primitive‹ der TPM auf meinem Heimatplaneten arbeiten würde, daß Afdiar oder Sodde Lydfe nur eine Vorübung für das waren, was für mich das Hauptereignis sein würde. Vielleicht traf ich meine Entscheidung in bezug auf Eleva zur selben Zeit. Für Lucille war das Hauptereignis schon vorüber. Ich hatte vor, zusammen mit ihr mit der Ausbildung zu beginnen, damit wir gemeinsam dafür sorgen konnten, daß sie nie wieder von einem Dämon heimgesucht wurde. Ich glaubte, es würde sehr viel ausmachen, daß ich von jetzt an an ihrer Seite war. Wenigstens hoffte ich das. Die Schwierigkeit mit der Freiheit ist, daß einem eine Menge Entscheidungen zugeschoben werden, von denen man vorher gewohnt war, daß sie von jemand anderem getroffen wurden. Mav hatte eine Entscheidung getroffen, von der ich erfuhr, als er sich seinen Partnern in Elsies Zimmer anschloß. »Na, alter Feldzeugmeister, das ist gar nicht schlecht so, wie?« »Wie?« Seine Atemöffnungen hatten sich keinen Zentimeter bewegt. Er ›sprach‹ über die Implantatverbindung mit mir. »Mav, du hast dir ein…«
So lautlos, wie die ›Priester‹, die mich auf Sca gerettet hatten: »Ganz richtig, mein lieber Junge. Ich haßte und verabscheute es, alt zu werden, obwohl ich mir Mühe gab, das Beste daraus zu machen. Jetzt merke ich, daß es nicht notwendig sein wird. Diese lächerliche, kleine Operation ist der erste Schritt. Das Heilpersonal hat mir mitgeteilt, daß es mit Mymys Hilfe für die Lamviin bald ein Heilmittel gegen das Altern geben wird, praktisch genauso wie für die verschiedenen Spezies der Konföderation. Ich werde das mit soviel Geduld abwarten, wie ich nur aufbringen kann.« Ich lachte laut heraus, dann meinte ich: »Daraus entnehme ich also, daß in nicht allzuferner Zukunft eines unserer Schiffe nach Sodde Lydfe zurückkehren wird.« »Da entnimmst du falsch. Ich habe tatsächlich nicht die leiseste… – weißt du, wir kommen mit euch.« »Aber Mav«, sagte ich laut, »auf deinem Planeten findet eine Revolution statt. Alles wird sich verändern. Deine Leute werden dich brauchen. Es wird Frieden geben, Freiheit, Wohlstand…« »Und keine Helden und keine Gurus, wenn ich es verhindern kann. Whitey, ich werde wieder jung sein und mehr vom Universum sehen, als ich es je für möglich gehalten habe. Meine Leute? Die brauchen nur sich selbst. Und außerdem, das hier« – er zeigte mit seiner mittleren Hand auf alle im Raum Anwesenden –, »das sind meine Leute – was man denkende Wesen nennt. Ich bin zufrieden.« Ich legte meine Arme um Lucille. Sie schaute zu mir auf. Ich zwinkerte ihr zu. Dann beobachtete sie wieder, wie Elsie mit dem Bären spielte. »Ja, Mav, und ich auch.«
Anhang
Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums* Im Jahre 1796 C.Z.** beantragte der erfinderische Thomas Jefferson einen neuen Kalender, der auf Gallatins Anregung hin 1776 als das ›Jahr Null‹ festsetzte. Daten, die vor der Unabhängigkeitserklärung liegen, werden weiterhin wie früher gezählt, gefolgt von ›C.Z.‹, wo angebracht auch von ›v. Chr.‹ 100 Erdenjahre entsprechen auf Sodde Lydfe 116, auf Vespucci 132 Jahren. Wissenschaftler seien gewarnt: Es entstehen Mehrdeutigkeiten bei der Katalogisierung von Ereignissen in alternativen Zeitlinien (es gibt offenbar nur eine Konföderation, dagegen sind einige Varianten der Vereinigten Staaten bekannt), auf verschiedenen Planeten oder in Fällen, wo der Verdacht besteht, daß Zeitreisen eine Rolle spielten. Zeit ca. 3001 v. Chr.
ca. 948 v. Chr. ca. 499 v. Chr.
Ereignisse Erfindung der sumerischen Keilschrift; Berichte von Haushunden in Ägypten überliefert; Yamaguchi W523 verläßt Hauptzeitlinie; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Sca. Salomon baut Jahve-Tempel in Jerusalem; Attika von athenischen Königen geeint; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Obsidia. Perikles geboren; Tarquinius Superbus von röm. Revolutionären besiegt; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Vespucci.
Zusammengestellt aus der Enzyklopädie von Nord-Amerika, TerraNovaCom Kanal 485-A von Edward William Bear aus Denver, mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. ** C.Z. = Christliche Zeitrechnung *
ca. 159 v. Chr.
0 345 1592 1732 1743 1757 1761 1776
A.L. 0 7
C.Z. 1776 1783
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1787
3.Periode der chinesischen Literatur; in Rom Erfindung der Wasseruhr; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Hoand; auf Sodde Lydfe beginnt mit dem Tod der Gemarterten Dreiheit die geschichtlich belegte Zivilisation. Beginn der Christlichen Zeitrechnung (C.Z.) Nach Konstantins Tod setzt Verfall des Römischen Reiches ein; auf Sodde Lydfe gründet Neoned der Aggressor Groß Foddu. Nobunaga-Periode; Japan ›gibt das Gewehr auf‹; ›OMA 789 George Herbert‹ von Zeitbanditen in Tokio entführt. George Washington in Virginia geboren. Thomas Jefferson in Virginia geboren. Alexander Hamilton auf den Westindischen Inseln geboren. Albert Gallatin in der Schweiz geboren. Beginn der neuen Zeitrechnung (A.L.*) im GallatinUniversum. Ereignisse Beginn des Unabhängigkeitskrieges (Revolution)**. Vertrag von Paris (3. September); Ende des Unabhängigkeitskrieges (Revolution). Föderalisten unter Führung von Hamilton, Jay und Madison treffen sich in Philadelphia, stimmen illegalerweise einer neuen ›Verfassung‹ zu, die eine starke Zentralregierung schafft.
A.L. = anno libertatis (Jahr [nach] der Befreiung) In den USA wird der Unabhängigkeitskrieg gegen England als ›Revolution‹ bezeichnet. – Anm. d. Hrsg.
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1803
Ratifizierung durch den neunten und letzten notwendigen Staat (New Hampshire). Verfassung in Kraft; Hamilton Finanzminister unter George Washington. Hamiltons Verbrauchssteuer bewilligt; wütende Farmer aus Pennsylvania versammeln sich in Brownsville und leiten Gegenschlag ein. In Pittsburgh Versammlung der gegen die Steuern eingestellten Kräfte; Washington verkündet Warnung; Farmer teeren und federn Steuereinnehmer. ABZWEIGUNG DES GALLATIN-UNIVERSUMS VON ›UNSEREM‹ USA-UNIVERSUM. 15.000 Mann Bundestruppen gegen Farmer eingesetzt; Albert Gallatin schließt sich der Rebellion an; Washington in Philadelphia standrechtlich erschossen; Verfassung für ungültig erklärt; Gallatin zum Präsidenten ausgerufen; Hamilton verschwindet. Geschäftsführende Regierung gebildet; Gallatin ruft allgemeine Amnestie aus; alle Steuern wieder abgeschafft; Föderalisten und Tories bekommen Eigentum und Rechte zurück. Gallatin vom Kongreß bestätigt; verlangt neutrale Haltung zwischen England und Frankreich, humane Indianerpolitik und Revision der ›Artikel‹. Neue ›Artikel‹ ratifiziert; Betonung auf bürgerlichen Rechten und Wirtschaftsrechten; Landurkunden für Nordwestgebiete tilgen Kriegsschulden; ansonsten ist es den Regierungen verboten, Geld zu prägen oder zu drucken. Gallatin wiedergewählt (zweite Amtszeit); Maße und Gewichte nach Jefferson eingeführt. Gallatin und Monroe vereinbaren Erwerb von Louisiana, borgen von privaten Geldgebern gegen Grundbesitz.
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1817
Gallatin wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hamilton in einem Duell in Preußen getötet; Stevens erfindet Dampfschiff. England versucht, Schiffsverkehr einzuschränken; Gallatin beauftragt Freibeuter, amerikanische Schiffe zu beschützen. Franzosen verteidigen Seerechte der Amerikaner; Chesapeake vertreibt britische Kriegsschiffe; Forsyth erfindet System der Aufschlagszündung für Feuerwaffen; Engländer ächten Sklavenhandel; Jefferson beginnt Kreuzzug gegen Sklaverei. Hunderte von britischen Schiffen durch amerikanische Privatmarinetruppen gekapert oder versenkt, Tausende von englischen Seeleuten desertieren; erstes hochseetüchtiges Dampfschiff ›Confederation‹ (Stevens) versenkt britisches Kriegsschiff; Gallatin wiedergewählt (vierte Amtszeit). Jefferson bei Attentatsversuch verwundet, tötet Attentäter. Gallatin verkündet seinen Rücktritt; Edmond Genêt zum Präsidenten gewählt. Klage der Freibeuterliga stürzt die Doktrin der Immunität von Souveränen. Gallatin veröffentlicht ›Prinzipien der Freiheit‹, systematische Behandlung der philosophischen Schriften von Paine und Jefferson. Freibeuteradmiral Jean Lafitte prangert öffentlich Sklaverei an. Genêt wiedergewählt (zweite Amtszeit); beantragt Abschaffung der Sklaverei; Entschädigung der Sklaven durch Landschenkungen im Westen. Sklaverei für alle nach A.L. 44 geborenen Kinder abgeschafft.
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Gallatin veröffentlicht ›Regel der Vernunft‹, tritt darin für nicht bindende, voluntaristische Gesetzgebung ein; in England glaubt man, Explosion im Parlament am Guy Fawkes Day sei durch Gallatins Werke heraufbeschworen; britische Regierung gestürzt. Collier-Shaw-Revolver mit Aufschlagzünder; Patentsystem bricht unter Gallatins Kritik an der Durchsetzung von Monopolen durch die Regierung zusammen. Jefferson zum Präsidenten gewählt; Sklaverei völlig abgeschafft; Jefferson weist öffentlich Angebot zurück, Präsident auf Lebenszeit zu werden, droht mit Rücktritt. Mexiko garantiert amerikanischen Siedlern Land in Texas. Monroe entwirft ›Jeffersondoktrin‹: politischer Isolationismus; Abschaffung von Handelsbeschränkungen; moralische Unterstützung für Kolonien, die ›Grundrecht‹ auf Abfall vom Mutterland geltend machen. Jefferson wiedergewählt (zweite Amtszeit); Verbrennungsmotor erfunden, erste mechanische Rechenmaschinen; anderswo Gründung der Republik Vespucci. Jefferson stirbt im Amt; Monroe übernimmt Präsidentschaft. Monroe gewählt. Erste Dampfeisenbahn (Philadelphia). Monroe stirbt im Amt; John C. Calhoun übernimmt Präsidentschaft. Calhoun gewählt; Nathan Turner erster schwarzer Abgeordneter im Kongreß; England experimentiert mit gallatinistischem Gesetzgebungssystem; Calhouns neue Indianerpolitik von Gallatin angeprangert.
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England schafft Sklaverei ab, Irland davon ausgenommen; englische Regierung stürzt. Colt entwickelt doppelläufigen Revolver; in Georgia Gold gefunden. Gallatin kehrt zurück und besiegt Calhoun; Texaner erklären sich unabhängig; Santa Anna bei San Antonio besiegt und getötet. Philip und Joseph Webley errichten in Birmingham, Alabama, Feuerwaffenmanufaktur. Gallatin tritt wieder zurück; Sequoyah Guess zum Präsidenten gewählt. Mexiko erklärt Alten Vereinigten Staaten sowie Republik Texas den Krieg. US-Streitkräfte in Mexiko; Sequoyahs Gallatin›Lesung‹ in Buena Vista löst massive Desertionen bei den Mexikanern aus; Mexiko City ergibt sich; Sequoyah von Heckenschützen getötet; Osceola übernimmt Präsidentschaft. Osceola gewählt; Trapper Antoine Janis steckt in ›Colona‹ am Cache la Poudre einen Claim ab. Jonathan Brownings Waffenfirma in Nauvoo, Illinois, gegründet. Revolution in Kalifornien; Hamiltonistische ›Republik‹ unter ›Kaiser‹ Joshua Norton ausgerufen. Erste geschlossene Revolverpatronen. Goldfunde in Kalifornien; in ganz Europa gallatinistische Aufstände; Jefferson Davis zum Präsidenten gewählt. Gallatinistische Revolution in Kanada. Gallatinistische Revolutionen in Mexiko und China. Nachricht von Pogromen gegen Gallatinisten in Kalifornien; Klimaanlage erfunden; Lucille Gallegos in San Antonio geboren.
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Albert Gallatin stirbt; weltweite Trauerfeiern, Gerüchte von Freudenfesten in Preußen und Kalifornien; Gifford Swansea zum Präsidenten gewählt. Erstes Dampfschiff ganz aus Stahl überquert Atlantik. Arthur Downing zum Präsidenten gewählt. Gallatinistischer Aufstand in Indien niedergeschlagen; englische Regierung stürzt. Gemeinsames Thesenpapier zur Evolution von Darwin und Wallace. Downing stirbt im Amt; Präsidentin Harriet Beecher befürwortet Alkoholverbot; John Provost, Antoine Janis, zwei Brüder und ihre indianischen Frauen gründen Stadtfirma in Colona. Lysander Spooner zum Präsidenten gewählt; gallatinistische Aufstände in italienischen Staaten; chinesische Gallatinisten stürzen Hamiltonisten in Kalifornien. Große Nordpazifische Eisenbahn nimmt transkontinentalen Betrieb auf, eröffnet Nebenstrecke in Republik Kalifornien hinein. Siedlung Colona in ›Laporte‹ umbenannt. Spooner wiedergewählt (zweite Amtszeit); automatische Pistole von Moray erfunden. Schauspieler John Wilkes Booth von unbekanntem Rechtsanwalt aus Illinois ermordet. Mexiko und Vereinigte Staaten verhandeln über Konföderation. Elisha Gray erfindet Telefon; rauchloses Schießpulver; Alaska von texanischem Konsortium erworben. Spooner wiedergewählt (dritte Amtszeit); beantragt gallatinistische Gesetzgebung in Vereinigten, Staaten;
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Fernmeldesystem von Atlanta nach Philadelphia eingerichtet. Aufgrund eines Rechtsstreits Wahlrecht für Frauen eingeführt; gallatinistische Gesetzgebung angenommen, ›Artikel‹ revidiert. Großbrand in Chicago; offizielle Erklärung in der Presse verlacht, Vorläufer von Griswoods Sicherheitsdienst gegründet. Brrr. Spooner wiedergewählt (vierte Amtszeit). Erste elektrische Straßenbahn (Chicago). Hundertjahrfeier; riesige ›Gallatinstatue‹ in Lake Michigan aufgestellt; Spooner wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Thorneycroft erfindet Luftkissenfahrzeug; A. G. Bell erfindet mechanischen Kehlkopf für Schimpansen. ›Manhattankrieg‹ zwischen privaten Schutzfirmen. Admiral/General Wm. Lendrum Mitchell in USVariante und in Konföderation geboren. Spooner tritt zurück; Jean-Baptiste Huang zum Präsidenten gewählt. ›Bewegliche Bilder‹ werden populär; Huang wird wiedergewählt (zweite Amtszeit). Kanada schließt sich Verhandlungen zwischen Vereinigten Staaten und Mexiko an. Geronimo, Nationalmexikaner, wird erster Abgeordneter im Kongreß, der andere, aber nicht sich selber vertritt; erstes drahtloses Telefon; Wahlrecht für Primaten. Großer Blizzard im Osten; erste elektrisch beheizte Straßen (Edison); Frederick Douglass zum Präsidenten gewählt.
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Erste transatlantische Funkverbindung überträgt Wetten bei amerikanischen Pferderennen; Manfred von Richthofen (J. J. Madison) in Schlesien geboren. Benjamin Tucker zum Präsidenten gewählt. Konföderation von Nord-Amerika schließt Alaska, Kalifornien, Kanada, Mexiko, Neufundland, Alte Vereinigte Staaten und Texas ein. Erster motorisierter Schwerer-als-Luft-Flug (Lilienthal); britische Gallatinisten beantragen Konföderation mit NordAmerika; britische Regierung stürzt. Tucker wiedergewählt (zweite Amtszeit); Erfindung des lenkbaren Luftschiffes. Captain Forsyth in Oklahoma City, N.A.K. geboren. Hauptstadt in die Mitte des Kontinents verlegt; Tucker wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hugh GabbetFairfax führt großkalibrige ›Mars‹-Automatik ein Bericht der königl. Marine stellt fest: »Niemand, der diese Pistole abfeuerte, wollte ein zweitesmal damit schießen.« Erstes Flugzeug überquert den Kontinent. Lenkbares Luftschiff ›City of Akron‹ fliegt nonstop der Länge nach über den Kontinent und zurück; erster Tonfilm (Ragtime Dance), Premiere in New Orleans. Tucker wiedergewählt (vierte Amtszeit); Nicaraguakanal. Erdbeben in San Francisco, Großbrand. Marion Michael (›Mike‹) Morrison, Filmstar der Konföderation, geboren. Tucker wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Erstes Flugzeug überquert Atlantik; erstes lenkbares Luftschiff überquert Pazifik; ›Teeparty von Sidney‹: alle Regierungsbeamten ins Hafenbecken geworfen.
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Geoffrey Couper, Gründer der neoimperialistischen Partei, geboren. Albert Jay Nock zum Präsidenten gewählt. Preußen greift angrenzende Länder an; Kontinentalkongreß erklärt Neutralität; konföderierte Freiwillige rüsten Flug der ›Tausend Luftschiffe‹ aus. Nock wiedergewählt (zweite Amtszeit). Goddard-Raketen dezimieren preußische Luftstreitkräfte; durch starke Verbreitung von Gallatins Werken über Funk Aufruhr ausgelöst. Grippeepidemie; Flotte von lenkbaren Luftschiffen verteilt Versuchsimpfstoff rund um die Welt. Edward Bear, Vater von Edward William Bear, am 1. April in Denver/St. Charles Auraria geboren. Nock wiedergewählt (dritte Amtszeit). Erster Atommeiler vorgeführt (Chicago). Nock wiedergewählt (vierte Amtszeit). Fernsehen; Verständigung mit Delphinen; erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernspaltung (Chicago); Edna Cloud, Mutter von Edward William Bear, am 9. August in Los Angeles geboren. Falsche Ernährung als hauptsächliche Krebsursache erkannt; H. L. Mencken zum Präsidenten gewählt; erste Laser. Erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernfusion (Detroit); Ooloorie Eckickeck P’wheet irgendwo im Pazifik geboren; Familie Meep baut Restaurantkette auf; Herz-Lungen-Maschine. Düsenflugzeug; lenkbare Luftschiffe mit Fusionsantrieb; Mencken wiedergewählt (zweite Amtszeit); Olongo Featherstone-Haugh geboren. Mencken ermordet; Kontinentalkongreß wählt F. Chodorov zum Nachfolger; Cetaceen (Wale und
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Delphine) schließen sich der Konföderation an; erste Herztransplantationen. Gallatinistische Revolution in Spanien; Chodorov gewählt. Erster künstlicher Satellit im Süden von Mexiko gestartet. Altruistische Schutz-Enklave für Primaten in Stanford gegründet. Edward William Bear in Saint Charles Town, N.A.K. und in Denver, USA, geboren. Rose Wilder zur Präsidentin gewählt. Erster Primat in der Umlaufbahn liest Werke von Gallatin, spielt Schach mit Tümmlern an der Emperor Norton Universität (verliert); hamiltonistischer Staatsstreich in Hawaii; 3D-Fernsehen. Wilder wiedergewählt (zweite Amtszeit); F. K. Bertram in Boston geboren. US-Atombombe zerstört Nagasaki; Norrit Gregamer geboren. Clarissa MacDougall Olson in Laporte geboren; T. W. Sanders in den Vereinigten Staaten geboren. Wilder wiedergewählt (dritte Amtszeit); Regeneration von Gliedmaßen demonstriert. Mondexpedition errichtet Kolonie; Dardick entwikkelt Pistole mit offenem Magazinschacht; Laservisiere für Pistolen. Jennifer Ann Noble (Vorsitzende der Partei der Eigentumsrechtler in den Vereinigten Staaten) in Ithaca, New York, geboren; Profibeschützer GmbH gegründet. A. Rand gewählt, reist als erster Präsident zum Mond.
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1966 1968
Gallatinistische und hamiltonistische Revolutionen erschüttern Afrika. Jennifer Ann Smythe in Ithaca, N.A.K. geboren (Stasisverzögerung). Eugene Guccione erfindet Energiezelle. Russen schießen auf antarktische Kolonisten; Kontinentalkongreß spricht Warnung aus; Zar erklärt Krieg; Rand wiedergewählt (zweite Amtszeit); anderswo beginnt die Kommunistische Reformation. Russen greifen Alaska an, unterstützen Hamiltonisten in Hawaii, marschieren in Japan ein; Admiral Heinlein erringt entscheidenden Sieg in der Beringstraße; Russen erleiden riesige Verluste in Antarctica, Japan und Hawaii. ›Operation Sequoyah‹: starkes Aufgebot von Funk und Fernsehen; Tonnen von schriftlicher Propaganda gegen russisches Mutterland eingesetzt. Mondkolonisten strahlen ständig Sendungen nach Rußland; Regierung bricht zusammen; Zar verschwindet. Hamiltonisten versuchen Staatsstreich auf dem Mond, Überlebende werden ›in den Weltraum gestoßen‹; Robert LeFevre zum Präsidenten gewählt; Neova Luftkissenfahrzeug entwickelt; Sicherheitstechnik GmbH gegründet. Hirnschlag von Ochskahrt in mehreren US-Varianten geboren. LeFevre wiedergewählt (zweite Amtszeit); Laporte Paratronics GmbH gegründet; Dora Jayne Thorens in San Francisco geboren. Francis W. Pololo in Pine Barrens, N.A.K. geboren. Marskolonie im Coprates Canyon; Couper gründet neoimperialistische Partei; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl.
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Penetrator bei der Suche nach Schneller-als-LichtAntrieb entdeckt. In den Vereinigten Staaten gründet D. Nolan Fraser Partei der Eigentumsrechtler. John Hospers zum Präsidenten gewählt; Kolonien auf Asteroiden errichtet; Terraformung von Ceres durch Harriman, Taggert und Hill. Gründung der Cheyenne Energieversorgung und Klimakontrolle; erster stabiler Durchbruch in Parallelwelt. Zweihundertjahrfeier; Antiparlamentarische Partei; Hospers wiedergewählt (zweite Amtszeit). Erfindung der Basset-Spulen; erste ›große Ausgabe‹ eines Durchbruchs. John Jay Madison gründet in Laporte HamiltonGesellschaft. Hamiltonisten verlieren letzten Stützpunkt in Uganda. Hospers wiedergewählt (dritte Amtszeit); Einweihung des Vergnügungsparks Pellucidar Gardens in Ceres Central; extrasolare Funksignale entdeckt; Gründung von Turner Vendicom. Koko Featherstone-Haugh geboren. Jennifer A. Smythe zur Präsidentin gewählt; in den Vereinigten Staaten organisieren Anti- AbtreibungsTerroristen das ›Aktionskommando Recht auf Leben‹; Bundessicherheitspolizei (Sipo) in aller Stille gegründet; chinesisch-russische Konfrontation führt zu sichtbarer Beschädigung des Mondes; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten. Erster Kontakt mit Menschen (V. Meiss) auf der anderen Seite des Durchbruchs; G. Howell Nahuatl geboren.
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Malaise beginnt Dokumentarfilmreihe über die Asteroiden; Agot Edmoot Mao auf Sodde Lydfe geboren; ERSTER MENSCH KOMMT DURCH DEN DURCHBRUCH AUS EINER USA-PARALLELWELT INS GALLATIN-UNIVERSUM (E. W. BEAR, DENVER); hamiltonistische Verschwörung; Siebter (und letzter?) Kontinentalkongreß zusammengetreten; systematische Unterminierung der Vereinigten Staaten durch die Konföderation beginnt. Smythe wiedergewählt (zweite Amtszeit); T. W. Sanders kommt in die Konföderation; ›Patentanzüge‹ erstmalig bei der Erkundung des Weltraums eingesetzt; durch Neuralimplantationen an Cephalopoden (Kopffüßern) bekommen die Cetaceen ›Hände‹; genetische Konstruktionen von Einhörnern; der Stützpunkt ›Navigation Rock‹ im Asteroidengürtel wird errichtet. Malaise verlegt Nachrichtenhauptquartier nach Ceres Central. D. Nolan Fraser zum Bürgermeister von Denver, USA, gewählt. In US-Variante Ermordung von Blocky Yocks; Zusammenbruch des Beil-Systems. Olongo Featherstone-Haugh wird der erste nichtmenschliche Präsident der Konföderation. Bau der Interwelt-Station Laporte begonnen; entführte ›OMA 789 George Herbert‹ gelangt durch Zufall in die Konföderation; Mastodons aus gefrorenen Gewebeteilen (aus Sibirien) geklont; Erfindung von Plasmawaffen. Featherstone-Haugh wiedergewählt (zweite Amtszeit); zum erstenmal werden Massenentführungen von Frauen aus den Vereinigten Staaten bemerkt.
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Erste nanoelektronische Gehirnrindenimplantate bei denkenden Wesen entdeckt; Tormount-MalaiseVerschwörung; geheime hamiltonistische Flotte flieht aus dem Sonnensystem. Asteroid 9656 Bester aus dem Nomadenhaufen kollidiert mit der Venus und schafft zweiten Asteroidengürtel; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl in der Konföderation; D. Nolan Fraser zum ersten Eigentumsrechtler-Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt; Lucille Olson-Bear in Laporte, N.A.K. geboren. Edwina Olson-Bear als erstes Kind (auf 1939 Chandler) im Venusgürtel, Solare Konföderation, geboren; Erfindung der Quarkotopie. ›Keiner der Obigen‹ wiedergewählt, Mymysiir Offe Woom auf Sodde Lydfe geboren. Ochskahrt (US-Variante) entdeckt Zeitreise; Ochskahrt-Gedächtnisakademie in Ziolkovsky auf Luna errichtet; in der Konföderation wird ›Keiner der Obigen« zum ›Präsidenten auf Lebenszeit‹ gewählt; Enson Sermander auf Vespucci geboren. Bau der Tom- und der Bobflotte begonnen unter der Voraussetzung, daß man den Schneller-als-LichtAntrieb entdecken wird; Einfall von Komans Viroiden in die Konföderation. MacDougall Olson-Bear auf Vermessungsschiff ›Gordon Kahl‹ geboren. YD-038 auf Vespucci geboren. Konföderation entwickelt trägheitslosen Schnellerals-Licht-Tachyonen-Antrieb; erster ›Kontakt‹ mit den Gunjj. Auf Sodde Lydfe führt der KübelierUntersuchungsbeauftragte Agot Edmoot Mav seine erste Mordermittlung durch.
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Die ›Tom Paine Maru‹ (TPM) entdeckt erste, intelligente Fremdlebewesen (die Lamviin von Sodde Lydfe); 11-D3 auf Vespucci geboren; Lucille Olson-Bear von Wilden ›getötet‹, kommt in Stasis. Entdeckung von Obsidia. Elsie Nahuatl in Cody, N. A. K. geboren. Endkrieg auf Vespucci geht zu Ende. Entwicklung von Waffen nach dem Prinzip des Heller-Effekts; die TPM entdeckt Vespucci; erste Kolonie verirrter Hamiltonisten, die den Schneller-alsLicht-Antrieb wiederentwickelte. Clarissa Olson-Bear erkrankt an Mitochondriasis und wird in Stasis versetzt. Win Bear erwacht aus Stasis; Konföderation entdeckt Zeitreise. Bernard M. Gruenblum in Oklahoma City, Texas, US-Variante geboren. Gruenblum besteht Abschlußprüfung der OchskahrtGedächtnisakademie. Ochskahrt-Gedächtnisakademie ›entdeckt‹ intelligentes Leben in der Region von Yamaguchi W 523; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten Magazinen.
ÜBER DEN AUTOR L. Neil Smith, Berater für Selbstverteidigung und früher Reservist bei der Polizei, hat auch schon als Waffenschmied und Berufsmusiker gearbeitet. Er wurde 1946 in Denver geboren, kam als Luftwaffen›göre‹ weit herum und wuchs in einem Dutzend verschiedener Gegenden der Vereinigten Staaten und Kanadas auf. 1964 kehrte er in seine Heimat zurück, um Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu studieren und erreichte schließlich – seiner Aussage nach – die vielleicht niedrigste durchschnittliche Punktzahl in der Geschichte der Universität des Staates Colorado. Neil hat vor kurzem seine zweite Amtszeit im Nationalen Wahlprogrammausschuß der ›Libertarian Party‹ hinter sich gebracht. 1978 kandidierte er als Libertarianer für einen Sitz in der Gesetzgebenden Versammlung seines Staates, wobei er gegen einen alteingesessenen Republikaner bei einem totalen Ausgabenetat von 44.000 Dollar fünfzehn Prozent der Stimmen errang. Jetzt ist er hauptberuflich SF-Schriftsteller, Mitbegründer und Vorsitzender des ›Prometheus Committee‹, und lebt mit seiner Frau Cynthia und vier Katzen in Fort Collins, Colorado.