Mark Twain
Tom Sawyer im Ausland
Tom und Huck werden von einem verrückten Wissenschaftler in einem Luftschiff entführt...
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Mark Twain
Tom Sawyer im Ausland
Tom und Huck werden von einem verrückten Wissenschaftler in einem Luftschiff entführt. Beim Versuch die Welt zu umkreisen, stürzt - während eines Sturmes - der Wissenschafter über dem Atlantik aus dem Ballon, und die beiden Jungen sind auf sich alleine gestellt..
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1 Denkt ihr, daß Tom Sawyer nach all seinen Abenteuern zufrieden war? Ich meine die Abenteuer auf dem Fluß, als wir den Neger Jim befreiten und Tom ins Bein geschossen wurde. Nein, er war nicht zufrieden! Es hatte ihn gepackt, so daß er nach mehr dürstete. Das war das ganze Ergebnis. Seht ihr, als wir drei von unserer langen Reise den Fluß herauf zurückkamen, ruhmgekrönt, wie man wohl sagen kann, und die Gemeinde uns mit einem Fackelzug und Ansprachen empfing, allgemeinem Hurragebrüll und Jubelgeschrei, und einige waren schon betrunken - da machte man aus uns Helden, und das war etwas, wonach sich Tom Sawyer immer gesehnt hatte. Eine Weile war er denn auch wirklich befriedigt. Alle machten viel Aufsehen mit ihm, und er ging hochnäsig in der Stadt herum, als ob sie ihm ganz allein gehöre. Einige nannten ihn »Tom Sawyer den Reisenden«, und das machte ihn so aufgeblasen, daß er fast geplatzt wäre. Ihr seht, er stand ganz anders da als ich und Jim, denn wir waren nur auf einem Floß den Strom hinuntergefahren und waren dann mit dem Dampfer zurückgekommen, aber Tom hatte beide Fahrten mit dem Dampfer gemacht. Die Jungens beneideten mich und Jim ganz schön, aber vor Tom krochen sie geradezu im Staube. Na gut - aber vielleicht wäre Tom doch zufrieden gewesen, wenn es nicht den alten Nat Parsons gegeben hätte. Der war Postmeister und mächtig lang und dürr und gutmütig und beschränkt und glatzköpfig, ein Zeichen seines Alters, und er war der schwatzhafteste alte Esel, den ich je gesehen habe. Für mehr als dreißig Jahre war er der einzige Mann in der Gemeinde gewesen, der berühmt war, ich meine berühmt als Reisender, und er war tatsächlich furchtbar stolz darauf, und man hat te nachgerechnet, daß er im Laufe dieser dreißig Jahre mehr als -2-
eine Million Mal von seiner Reise erzählt hatte und jedesmal darüber entzückt war. Und nun kam da ein Junge, der noch nicht fünfzehn war, und setzte alle in Erstaunen und Bewunderung mit seinen Reisen, und das schlug dem Faß den Boden aus. Es machte ihn krank, Tom zuzuhören und zu hören, wie die Leute sagten: »Ach du liebe Güte! Das ist aber gelungen! Himmelherrgottnochmal!« und lauter solche Sachen. Aber er konnte sich nicht davon losreißen, ge nausowenig wie eine Fliege, die mit ihren Hinterbeinen im Sirup festsitzt. Und immer, wenn Tom eine Pause machte, dann wollte dieses arme alte Geschöpf wieder von seiner Reise anfangen und bemühte sich, sie so recht zur Geltung zu bringen, aber sie war so abgedroschen und zog überhaupt nicht mehr, daß es geradezu mitleiderregend war. Dann war Tom wieder an der Reihe und dann wieder der alte Mann - und so fort und so fort, für eine Stunde oder länger, und jeder versuchte den anderen fertigzumachen. Paßt auf, mit Parsons Reise verhielt es sich so! Als er gerade Postmeister geworden und noch grün in der Branche war, da kam ein Brief für irgend jemand, den er nicht kannte, denn in der Gemeinde gab es eine solche Person überhaupt nicht. Er wußte absolut nicht, was er tun sollte, und so lag der Brief da, von Woche zu Woche, bis dem Postmeister bei seinem bloßen Anblick schlecht wurde. Die Postgebühren für den Brief waren nicht bezahlt, und das war ein weiterer Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Er sah keine Möglichkeit, die zehn Cents einzutreiben, und er fürchtete, daß die Regierung ihn dafür verantwortlich machen würde und ihn vielleicht absetzte, wenn sie herausbekam, daß er den Betrag nicht kassiert hatte. Also, er konnte das nicht länger ertragen. Er konnte nachts nicht schlafen, er konnte nicht essen, er magerte zu einem Schatten ab, doch wagte er nicht, jemanden um Rat zu fragen. Womöglich konnte derjenige, den er um Rat fragte, hinter seinem Rücken der Regierung etwas über diesen Brief mitteilen. -3-
Er hatte den Brief unter dem Fußboden verborgen, aber das war auch nicht das Rechte. Wenn er jemanden auf dieser Stelle stehen sah, dann überrann ihn ein kalter Schauer, und Argwohn bedrückte ihn, und er blieb die Nacht über auf, bis es in der Stadt still und dunkel war. Dann schlich er sich zum Brief, holte ihn hervor und verbarg ihn an einem anderen Platz. Tatsächlich begannen die Leute ihn zu meiden, schüttelten ihre Köpfe und flüsterten so manches, denn aus der Art, wie er sich verhielt und wie er aussah, vermuteten sie, er hätte jemanden ermordet oder irgend etwas getan, man wußte nicht was - und wäre er ein Fremder gewesen, dann würden sie ihn gelyncht haben. Also, wie ich schon sagte, es war so, daß er es nicht länger ertragen konnte, und so faßte er den Entschluß, nach Washington zu fahren und zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu gehen und reinen Tisch mit der ganzen Sache zu machen und auch nicht ein Atom davon zu verschweigen. Er wollte den Brief herausholen und ihn vor der ganzen Regierung offen hinlegen und sagen: »Also, hier ist er! Machen Sie mit mir, was Sie für richtig halten, wenn auch der Himmel mein Zeuge ist, daß ich ein unschuldiger Mann bin und nicht die volle gesetzliche Strafe verdiene. Ich lasse eine Familie zurück, die nun hungern muß und die überhaupt nichts mit der Angelegenheit zu tun gehabt hat. Das ist die reine Wahrheit, die ich jederzeit beeiden kann.« So geschah es. Er fuhr ein Stück mit dem Dampfer und ein Stück mit der Postkutsche, aber den ganzen Rest des Weges ritt er, und er brauchte drei Wochen, um nach Washington zu gelangen. Er sah viel Land, viele Dörfer und vier Städte. Er war mehr als acht Wochen unterwegs, und es gab niemals einen solchen stolzen Mann in unserer Gemeinde, wie er es war, als er zurückkehrte. Seine Reisen machten ihn zu dem größten Mann in der ganzen Gegend, von keinem war jemals so viel gesprochen worden. Die Leute kamen mehr als dreißig Meilen weit hergereist, ja sie kamen sogar aus Illinois, bloß um ihn zu -4-
sehen - und sie standen herum und glotzten, und er schwatzte. So was habt ihr noch nicht gesehen! Na gut, aber jetzt wußte man nicht, wie man feststellen sollte, wer denn nun der größere Reisende sei. Einige meinten, das sei Nat, andere sagten, das sei Tom. Alle gaben zu, daß Nat die längere Reise gemacht habe, aber dafür hatte Tom doch ganz andere Gegenden mit einem anderen Klima gesehen. Also, die Sache stand unentschieden. Deshalb mußte jeder von ihnen mit seinen gefährlichsten Abenteuern prahlen und auf diese Weise versuchen, den anderen auszusteche n. Die Schußwunde in Toms Bein war eine harte Sache für Nat Parsons, gegen die schwer aufzukommen war, aber er versuchte sein Bestes. Er versuchte es, obwohl er im Nachteil war, denn Tom saß nicht still, was er eigentlich hätte tun müssen, um fair zu sein. Doch er lief fortwährend herum und hinkte dabei, während Nat das Abenteuer ausmalte, das er eines Tages in Washington gehabt hatte. Tom unterließ es niemals, zu hinken, auch nachdem sein Bein längst wieder geheilt war, er übte es sogar des Nachts zu Hause und konnte es so gut, daß es außerordentlich echt aussah. Nats Abenteuer aber war folgendermaßen - ich will es an seiner Stelle erzählen, so wie er es immer berichtete. Ich muß schon sagen, er verstand es, einem einen Schauer über den Rücken zu jagen, so daß man blaß wurde und seinen Atem anhielt, wenn er davon erzählte. Und manchmal wurden die Frauen und Mädchen dabei so schwach, daß sie gar nicht mehr wußten, wo sie hin sollten. Also, es war folgendermaßen, soweitich mich an alles erinnern kann: Er kommt nach Washington und stellt sein Pferd unter, nimmt seinen Brief und erkundigt sich nach dem Haus des Präsidenten. Man sagt ihm, der Präsident wäre oben im Kapitol, aber er sei gerade dabei, sich für eine Reise nach Philadelphia fertigzumachen, es sei nicht eine Minute zu verlieren, wenn er ihn noch erreichen wolle. Nat fiel beinahe in Ohnmacht, so schlecht wurde ihm. Sein Pferd war bereits abgesattelt, und er -5-
wußte nicht, was er tun sollte. Aber gerade in diesem Augenblick kommt ein Neger mit einer alten wackligen Droschke vorbeigefahren, und Nat erfaßte sofort die Situation. Er stürzt aus dem Haus und schreit: »Einen halben Dollar, wenn du mich in einer halben Stunde nach dem Kapitol fährst, und einen viertel extra, wenn du es in zwanzig Minuten machst!« »Gemacht«, sagt der Neger. Nat springt in den Wagen und schmeißt die Tür zu, und los fuhren sie rüttelnd und schüttelnd über das holprigste Pflaster, das man sich denken kann, und der Lärm, den sie dabei machten, war geradezu schrecklich. Nat steckte seine Arme durch die Halteschlaufen und hing in ihnen, komme was da wolle, aber bald darauf prallt die Droschke gegen einen großen Stein, springt in die Luft empor, und der Boden fällt raus, und als sie wieder landet, sind Nats Füße auf der Straße, und er bemerkt, daß er in der verzweifeltsten Lage ist, wenn er nicht so schnell sein kann wie die Droschke. Er war fürchterlich erschrocken, aber er setzte alles daran, was in seinen Kräften stand, hing fest in den Armschlaufen und ließ seine Beine geradezu fliegen. Er schrie und brüllte dem Kutscher zu, er solle halten, und die Menschen auf der Straße schrien ebenfalls, denn sie konnten seine Beine unter der Kutsche wirbeln sehen und sahen durch die Fenster seinen Kopf und seine Schultern aufund niederfahren und merkten, daß er in schrecklicher Gefahr war. Aber je mehr sie alle schrien, desto mehr johlte und brüllte der Neger und peitschte die Pferde und rief: »Keine Angst, mein Herr, ich bringe Sie schon zur Zeit hin, lassen Sie mich nur machen!« Ihr seht also, er dachte, daß sie ihn alle antreiben wollten, und tatsächlich konnte er auch nichts verstehen bei dem entsetzlichen Lärm, den er machte. Und so rasten sie weiter, und allen, die es sahen, standen die Haare zu Berge. Und als sie dann beim Kapitol ankamen, da war es die schnellste Fahrt, die jemals gemacht worden war, und alle bestätigten das. Die Pferde -6-
legten sich nieder, und Nat war dabei, alles auszuschwitzen, was möglich war. Man holte ihn aus der Kutsche, er war ganz voll Staub und abgerissen und barfuß. Aber er war zur Zeit da und gerade noch im letzten Augenblick, und der Präsident vergab ihm auf der Stelle seine Verfehlungen, und Nat gab dem Neger zwei Vierteldollar extra anstatt nur einen, denn er sah ein, daß er niemals auch nur annähernd zur rechten Zeit gekommen wäre, wenn er nicht diese Droschke gehabt hätte. Das war tatsächlich ein großes Abenteuer, und Tom mußte sich alle Mühe geben, um mit seiner Schußwunde dagegen bestehen zu können. Doch bald darauf begann Toms Ruhm mehr und mehr zu verblassen, denn es gab andere Sachen, über die die Leute schwatzen konnten - zuerst ein Pferderennen und dann eine Feuersbrunst und dann den Zirkus und darauf die Sonnenfinsternis; und diese rief dann, wie es meistens der Fall ist, eine Wiederbelebung der Frömmigkeit hervor, und so war denn von Tom nicht mehr viel die Rede, und das machte ihn ganz krank und verdrießlich. Schon sehr bald lief er ärgerlich und gereizt herum, tagein und tagaus, und wenn man ihn fragte, warum er denn in einer solchen Stimmung sei, sagte er, daß es ihm fast das Herz bräche, wenn er daran dächte, wie die Zeit verginge und er älter und älter werde, ohne daß er für sich auch nur die geringste Möglichkeit sähe, sich einen Namen zu machen. Das ist die Art, wie heutzutage Jungens immer denken, aber er war der erste, von dem ich hörte, daß er es aussprach. So versuchte er also einen Plan zu machen, wie er berühmt werden könne, und sehr bald schon hatte er einen entworfen und bot mir und Jim an, daran teilzuhaben. In dieser Hinsicht war Tom Sawyer immer offenherzig und großmütig. Es gibt viele Jungens, die gut und freundlich sind, wenn ihr ihnen mit einer guten Sache kommt, aber wenn sie selbst einmal an eine gute Sache herankommen, dann sagen sie euch kein Wort davon und versuchen alles für sich allein zu haben. So war Tom Sawyer -7-
niemals, das kann ich ihm wohl nachsagen. Es gibt viele Jungens, die sich an einen heranmachen, wenn man einen Apfel bekommen hat, und bitten einen um den Griebs. Aber wenn sie selbst einen bekommen haben, und ihr bittet sie um den Griebs und erinnert sie daran, daß man ihnen auch mal einen gegeben hat, dann schneiden sie ein Gesicht und sagen höhnisch Dankeschön, doch sie denken nicht daran, euch den Griebs zu geben. Aber eines Tages werden sie mal wieder zu euch kommen, ihr braucht nur darauf zuwarten. Also, wir gingen in den Wald auf den Hügel, und Tom erzählte uns, was er plante. Es war ein Kreuzzug. »Was ist ein Kreuzzug?« fragte ich. Er sah mich geringschätzig an, wie er es immer macht, wenn ihm jemand leid tut, und sagte: »Huck Finn, willst du mir etwa erzählen, daß du nicht weißt, was ein Kreuzzug ist?« »Nein«, sagte ich, »ich weiß es nicht. Und ich mache mir auch weiter keine Sorgen darüber. Ich habe so lange gelebt, ohne es zu wissen, und ich bin dabei auch völlig gesund gewesen. Aber sobald du es mir erzählst, werde ich es wissen, und das ist früh genug. Ich sehe nicht ein, warum ich meinen Kopf mit Dingen belasten soll, von denen ich vielleicht doch niemals Gebrauch machen werde. Na also, was ist ein Kreuzzug? Aber ich kann dir da eine Sache erzählen, bevor du anfängst: Wenn es etwas zum Patentieren ist, da habe ich kein Geld, um mitzumachen. Bill Thompson...« »Patentieren«, sagte er, »solch einen Idioten habe ich noch nie gesehen. Ein Kreuzzug ist eine Art von Krieg.« Ich dachte, er hätte seinen Verstand verloren. Aber nein, er war vollkommen ernst und fuhr ganz ruhig fort: »Ein Kreuzzug ist ein Krieg, um das Heilige Land den Heiden wieder abzunehmen.« »Welches Heilige Land?« -8-
»Na, das Heilige Land, es gibt doch bloß eins.« »Und was sollen wir damit anfangen?« »Kannst du denn nicht begreifen, warum? Es ist in den Händen der Heiden, und es ist unsere Pflicht, es ihnen wegzunehmen.« »Warum haben wir es ihnen denn überlassen?« »Wir haben es ihnen nicht überlassen. Sie haben es schon immer gehabt.« »Aber Tom, dann muß es ihnen doch gehören, oder nicht?« »Natürlich, so ist es, wer hat denn etwas anderes gesagt?« Ich dachte darüber nach, aber es schien mir keinerlei rechtliche Grundlage für so etwas zu geben. Ich sagte: »Das ist zu hoch für mich, Tom Sawyer. Wenn ich eine Farm habe, die mir gehört, und jemand anders will sie haben, würde er dann recht haben, wenn...« »Blödsinn! Du weißt ja nicht einmal so viel, um dich unterzustellen, wenn es regnet, Huck Finn. Es handelt sich um keine Farm, das ist etwas ganz anderes. Paß auf, die Sache ist so. Ihnen gehört das Land, aber nur das Land, und das ist auch alles, was sie ihr eigen nennen, aber es waren unsere Leute, unsere Juden und Christen, die es heilig gemacht haben, und deshalb haben die Heiden kein Recht, dort zu sein und es zu schänden. Das ist eine Schmach, und darum sollten wir es keine Minute länger dulden. Wir sollten gegen sie marschieren und es ihnen wegnehmen.« »Warum? Es scheint mir die verwickeltste Sache zu sein, die ich je gehört habe. Wenn ich eine Farm habe und ein anderer...« »Habe ich dir nicht gesagt, daß dies aber auch gar nichts mit einer Farm zu tun hat? Eine Farm, das ist ein Lebensunterhalt, eine ganz gewöhnliche niedrige weltliche Beschäftigung, das ist alles - alles, was ich dir darüber sagen kann, aber dies ist etwas Höheres - dies ist Religion und etwas vollkommen anderes.« -9-
»Ist das Religion, wenn man hingeht und den Leuten das Land wegnimmt, denen es gehört?« »Gewiß! So hat man es schon immer gemacht!« Jim schüttelte seinen Kopf und sagte: »Massa Tom, ich nehme an, es handelt sich hier um einen Irrtum, wie mir scheint - bestimmt wird es so sein. Ich bin selbst religiös und kenne viele Leute, die religiös sind, aber ich habe noch nirgendwo jemanden gesehen, der so etwas tut.« Tom wurde hitzig, und sagte: »Also jetzt ist es genug. Solche hirnverbrannte Dummheit kann einen ja ganz krank machen. Wenn einer von euch auch nur etwas von Geschichte verstehen würde, dann würde er wissen, daß Richard Löwenherz und der Papst und Gottfried von Bulljong und eine Menge der hochherzigsten und frömmsten Leute der Welt mehr als zweihundert Jahre lang auf die Heiden losgeschlagen und losgedroschen haben, um ihnen ihr Land wegzunehmen, und die ganze Zeit bis zum Halse im Blut gewatet sind. Und jetzt gibt es hier ein paar hohlköpfige Bauerntrottel aus den Hinterwäldern von Missouri, die sich anmaßen, mehr von Recht und Unrecht zu verstehen als jene. Was soll man über eine solche Unverschämtheit sagen!« Na gut, das warf tatsächlich ein ganz anderes Licht auf die Sache, und ich und Jim fühlten uns ganz schön unbedeutend und dumm und wünschten uns, daß wir doch etwas mehr davon wüßten. Ich konnte nichts dazu sagen, und Jim konnte es für eine Weile auch nicht, aber dann sagte er: »Also, ich nehme an, es hat alles seine Richtigkeit, denn wenn sie nichts wußten, dann ist kein Grund vorhanden, daß wir arme und unwissende Leute versuchen, es zu verstehen. Und wenn es unsere Pflicht ist, dann werden wir gehen und es zu machen versuchen, so gut wie wir können. Aber zugleich tun mir auch die Heiden leid. Es ist schon eine harte Sache, Leute umzubringen, die einem nichts getan haben. Seht ihr, das ist -10-
doch so: Wenn wir mal zu ihnen kommen, gerade wir drei, und sagen, daß wir hungrig sind und sie um etwas Essen bitten, vielleicht sind sie dann geradeso wie andere Leute oder Neger oder glaubt ihr nicht, daß sie so sind? Warum sollten sie uns nichts geben, ich denke, sie würden es tun, und deshalb...« »Deshalb was?« »Also, Massa Tom, ich denke so. Ich kann mir nicht helfen, aber wir können die armen Fremden nicht umbringen, denn wir haben darin keine Übung. Ich weiß das sehr gut, Massa Tom, ganz bestimmt, ich weiß das sehr gut. Wenn wir eine Axt nehmen würden oder zwei, du und ich und Huck, und des Nachts über den Fluß gehen, wenn der Mond untergegangen ist, und die kranke Familie drüben auf dem Hügel umbringen und ihr Haus niederbrennen und...« »Ach, halt deine Klappe! Jetzt habe ich genug. Ich rede nicht mehr mit Leuten wie du und Huck Finn, die immer von der Hauptsache ablenken und kein Verständnis für eine Sache haben, welche reine Theologie ist und die genauso fest begründet ist wie die Gesetze, die das Eigentum schützen.« Das war jetzt aber nicht mehr anständig von Tom Sawyer. Jim hatte es nicht so gemeint, und ich hatte es auch nicht so gemeint. Wir wußten jetzt gut genug, daß er recht hatte und wir im Unrecht waren, und alles was wir noch wissen wollten, war das Warum - das war alles. Und der einzige Grund war, daß er es nicht so zu erklä ren wußte, daß wir es verstehen konnten, weil wir doch so unwissend waren und auch dumm, ich leugne das gar nicht; aber - heiliges Kanonenrohr! - das ist doch kein Verbrechen, denke ich. Aber er wollte nun nichts mehr davon hören. Er sagte nur noch, wenn wir mit dem richtigen Geiste an die Sache herangegangen wären, dann würde er ein paar tausend Ritter aufgetrieben und sie von Kopf bis Fuß in stählerne Rüstung gekleidet haben und hätte mich zum Leutnant und Jim zum -11-
Marketender gemacht. Er selbst hätte das Kommando übernommen und die ganze Heidenwirtschaft wie Fliegen in das Meer gefegt und wäre in einem Ruhmesglänze wie die Abendsonne durch die Welt zurückgekommen. Aber wir hätten ja nicht einmal genug Verstand, um eine solche Gelegenheit zu ergreifen, sagte er, und er würde uns deshalb keine wieder anbieten. Und er tat es auch nicht. Wenn er mal etwas beschlossen hatte, dann war nichts mehrzumachen. Aber ich machte mir nicht viel Sorgen darüber. Ich bin friedfertig und schlage mich nicht mit Leuten herum, die mir nichts getan haben. Ich dachte mir, wenn die Heiden zufrieden sind, bin ich es auch, und so wollen wir es lassen. Tom Sawyer hatte diese wilde Sache den Büchern von Walter Scott entnommen, in denen er ständig las. Und es war eine wilde Sache, denn meiner Meinung nach hätte er niemals die Männer dafür aufgebracht, und wenn er es getan hätte, dann wäre er wahrscheinlich verdroschen worden. Ich nahm mir die Bücher und las alles, was ich darüber finden konnte, und soweit ich daraus schlau wurde, erlebten die meisten Leute, die aufhörten, ihr Land zu bestellen, um Kreuzfahrer zu werden, eine mächtig harte Zeit.
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2 Also Tom dachte sich eine Sache nach der anderen aus, aber alle hatten sie irgendwo ihre wunden Stellen, und er mußte sie daher wieder beiseite schieben. So verzweifelte er schließlich fast darüber. Aber dann begannen die Zeitungen von St. Louis lange Berichte über den Luftballon, der nach Europa segeln sollte, zu veröffentlichen, und Tom dachte auch bereits daran, hinzufahren, um zu sehen, was an der Sache wäre, doch er konnte sich noch nicht so recht dazu entschließen. Aber die Zeitungen fuhren fort, darüber zu berichten, und so überlegte er sich, wenn er nicht hinginge, würde er vielleicht nie wieder solche Gelegenheit haben, einen Ballon zu sehen, und außerdem bekam er heraus, daß Nat Parsons hinfahren wollte, um ihn zu sehen, und das bestimmte natürlich seinen Entschluß. Es ging nicht an, daß Nat Parsons nach seiner Rückkehr davon prahlte, daß er den Ballon gesehen hatte, und er hätte dabei zuhören und den Mund halten müssen. So bat er mich und Jim mitzukommen, und wir reisten ab. Es war ein prächtiger großer Ballon mit Steuerflügeln, Luftschrauben und vielen anderen Dingen, und er war ganz anders als die Ballons, die man abgebildet sieht. Das Luftschiff befand sich weit draußen am Rande der Stadt auf einem leeren Bauplatz an der Zwölften Straße, und eine große Menschenmenge stand herum und machte ihre Witze darüber und machte Witze über den Mann, einen mageren blassen Burschen mit jenem ge wissen Mondscheinblick in den Augen, und sie sagten ihm fortwährend, das Ding würde nicht gehen. Es machte ihn ganz wild, sie anzuhören, und er drehte sich zu ihnen um, schüttelte seine Faust und schrie, daß sie blinde Tiere seien, aber eines Tages würden sie merken, daß sie einem von den Männern gegenübergestanden hätten, die Nationen zum -13-
Wohlstand führten und Zivilisationen begründeten, und daß sie zu dumm gewesen seien, um dies zu erkennen, und hier auf diesem Fleck würden ihre eigenen Kinder und Kindeskinder ihm einmal ein Denkmal errichten, das ein Jahrtausend überdauern würde, aber sein Name würde sogar dieses Denkmal überdauern. Und dann brüllte die Menge wieder vor Lachen und schrie ihm zu und fragte, wie er denn vor seiner Heirat geheißen habe und was er haben wolle, wenn er es bleiben ließe, und wie der Name der Großmutter von der Katze seiner Schwester gewesen sei und ähnliche Sachen, welche die Leute sagen, wenn sie jemanden vor sich haben, den sie quälen können. Na ja, einige Dinge, die sie sagten, waren lustig und sehr witzig, das kann ich nicht leugnen, aber alles das war weder anständig noch tapfer, alle diese zungenfertigen und bissigen Leute trampelten auf dem einen herum, der nicht die Gabe besaß, ihnen auf die gleiche Weise zu antworten. Aber, du heiliger Strohsack, warum antwortete er ihnen denn überhaupt? Das nützte ihm gar nichts, wie ihr seht, und für die anderen war das ein gefundenes Fressen. Sie hatten ihn nun mal in der Mache. Aber es war eben seine Art, und er konnte nichts dafür, wie ich vermute. Sicher war er ein ganz gutes Geschöpf, eine harmlose Natur, und war solch ein Genie, wie die Zeitungen berichteten, aber das war sein Fehler. Wir können doch nicht alle vernünftig sein, und so wie wir sind, müssen wir verbraucht werden. So wie ich die Sache verstehe, glauben Genies, daß sie alles wissen, und nehmen von den Leuten keine Ratschläge an, sondern gehen immer ihren eigenen Weg. Deshalb wenden sich alle von ihnen ab und verachten sie, und das ist ganz natürlich. Wenn sie bescheidener wären und immer zuhörten und zu lernen versuchten, würde das besser für sie sein. Der Teil, in dem sich der Professor befand, sah aus wie ein Boot und war groß und geräumig und hatte auf der Innenseite rundherum wasserdichte Behälter, um allerlei Sachen aufzubewahren, und man konnte auf ihnen sitzen und sie auch -14-
als Ruhebetten benutzen. Wir gingen an Bord, es waren etwa zwanzig Leute drin, die überall herumschnüffelten und alles untersuchten, und der alte Nat Parsons war auch dabei. Der Professor war eifrig beschäftigt, alles fertigzumachen, und die Leute stiegen deshalb wieder aus, einer nach dem anderen, und Nat Parsons war der letzte. Selbstverständlich konnten wir nicht dulden, daß er nach uns ausstieg. Wir mußten uns verstecken, bis er gegangen war, damit wir selbst die letzten sein konnten. Aber dann war er endlich draußen, und es wurde Zeit für uns, ihm zu folgen. Ich hörte ein lautes Geschrei und drehte mich um - und da sank die Stadt unter uns weg, wie aus der Kanone geschossen! Ich wurde fast krank davon, so erschreckte ich mich. Jim wurde ganz grau und konnte nicht ein Wort sagen, und Tom sagte auch nichts, sah aber sehr interessiert aus. Die Stadt sank immer tiefer und tiefer, aber wir schienen nichts anderes zu tun, als in der Luft zu hängen und stillzustehen. Die Häuser wurden kleiner und kleiner und die Stadt schob sich immer dichter und dichter zusammen, und die Menschen und die Wagen sahen aus wie herumkrabbelnde Ameisen und Käfer, und die Straßen waren wie Risse und Fäden. Und dann schmolz alles zusammen, und es war überhaupt keine Stadt mehr da: Es war nur noch ein großer Schorf auf der Erde, und es schien mir, als könnte man tausend Meilen stromaufwärts und stromabwärts sehen, obwohl es tatsächlich nicht soviel war. Nach und nach wurde die Erde eine Kugel - so eine richtige runde Kugel von düsterer Farbe, mit glänzenden Streifen, die sie kreuz und quer bedeckten - das waren die Flüsse. Die Witwe Douglas hatte mir immer erzählt, daß die Erde rund wie eine Kugel sei, aber ich mochte ihre abergläubischen Geschichten nie hören und habe natürlich auch niemals was darauf gegeben, weil ich ja selbst sehen konnte, daß die Welt flach wie ein Teller war. Ich bin sogar auf einen Hügel gegangen und habe mich nach allen Seiten umgesehen, um es selbst zu überprüfen, denn ich bin der Ansicht, daß es der beste Weg ist, wenn man einer Sache sicher -15-
sein will, sich selbst zu überzeugen und nicht das zu übernehmen, was irgendein anderer sagt. Aber jetzt mußte ich zugeben, daß die Witwe recht gehabt hatte. Das he ißt, sie hatte recht, was den Rest der Welt betrifft, aber sie hatte nicht recht bei dem Teil, auf dem unsere Gemeinde liegt: Dieser Teil ist flach wie ein Teller, das kann ich beeiden. Der Professor hatte die ganze Zeit über still dagestanden, als ob er schliefe, aber plötzlich brach er los, und er schien dabei mächtig verbittert zu sein. Er sagte etwa so: »Diese Idioten! Sie sagten, es würde nicht gehen. Und sie wollten das untersuchen und spionierten herum, um mir das Geheimnis zu entlocken. Aber ich habe sie angeführt. Niemand kennt das Geheimnis außer mir. Niemand weiß, warum es sich bewegt, außer mir: Und das ist eine neue Kraft. Eine neue Kraft, die tausendmal stärker ist als alles andere auf der Erde. Dampf ist albern dagegen. Sie sagten, ich könnte nicht nach Europa fahren. Nach Europa! Für fünf Jahre habe ich Kraft an Bord und Lebensmittel für drei Monate. Sie sind Narren! Was wissen sie denn schon darüber? Ja, und sie sagten, mein Luftschiff wäre zerbrechlich. Warum? Es wird fünfzig Jahre lang halten. Ich kann mein ganzes Leben lang in den Lüften herumfahren, wenn ich das will, und kann es steuern, wohin es mir einfällt. Aber sie haben darüber gelacht und haben gesagt, ich könnte es nicht. Könnte nicht steuern! Komm her, mein Junge, das wollen wir mal sehen. Du drückst bloß auf die Knöpfe, so wie ich es dir sage.« Er zeigte nun Tom, wie man das Luftschiff nach allen Richtungen hin steuern konnte, und lehrte ihn alles, was nötig war, beinahe im Handumdrehen, und Tom sagte, es sei ganz leicht. Er ließ ihn das Luftschiff nahe zur Erde hinunterbringen und ließ es so dicht über die Felder von Illinois hingleiten, daß man sich mit den Farmern hätte unterhalten können, denn wir konnten sie ganz deutlich sprechen hören. Er warf ihnen Flugblätter hinunter, die ihnen alles über den Ballon berichteten -16-
und bekanntgaben, daß er nach Europa segelte. Tom lenkte den Ballon, sobald er das Steuern erlernt hatte, geradewegs auf einen Baum zu, bis er fast an diesen anstieß, und dann ließ er ihn in die Höhe schießen, wobei er über die Spitze des Baumes hinwegfuhr. Ja, und der Professor lehrte Tom, wie er zu landen hatte, und auch das lernte er ohne Schwierigkeiten und setzte uns ganz sanft in der Prärie nieder, aber in dem Augenblick, als wir aussteigen wollten, sagte der Professor: »Nein, das gibt's nicht!« und ließ den Ballon wieder in die Luft emporschießen. Es war schrecklich! Ich begann zu flehen und Jim ebenfalls, aber das feuerte nur sein Temperament an, und er begann herumzutoben und warf wilde Blicke umher, und ich fing an, mich vor ihm zu fürchten. Dann begann er wieder von seinem Ärger zu reden und seufzte und brummelte über die Art, wie man ihn behandelt hatte, als könne er das nicht überwinden, ganz besonders aber darüber, daß die Leute gesagt hatten, sein Luftschiff wäre zerbrechlich. Er spottete darüber und auch darüber, daß sie gesagt hatten, sein Luftschiff sei nicht einfach genug gebaut und würde in Unordnung geraten. In Unordnung geraten - das ärgerte ihn fürchterlich. Er sagte, es könne nicht mehr in Unordnung geraten als das Sonnensystem! Es wurde schlimmer und schlimmer mit ihm, und ich habe niemals einen Menschen gesehen, der so aus der Fassung geraten war. Kalte Schauer überrannen mich, wenn ich ihn so reden hörte, und Jim erging es genauso. Nach und nach begann er zu schreien und zu kreischen, und dann schwor er, die Welt solle niemals sein Geheimnis kennenlernen, denn man hätte ihn zu gemein behandelt. Er rief, daß er mit dem Ballon rund um die Erdkugel segeln wolle, um zu zeigen, was er leisten könne, und dann würde er ihn im Meere versenken, und wir alle würden auch mit versenkt werden. Also, das war eine schreckliche Lage, in der wir uns befanden, und dazu brach auch noch die Nacht herein. Er gab uns etwas zu essen und schickte uns nach dem anderen -17-
Ende der Gondel, dann legte er sich auf einen der Behälter nieder, von wo aus er den Mechanismus bedienen konnte, steckte sich seinen Schießprügel - einen Revolver - unter den Kopf und sagte, wenn irgend jemand so verrückt wäre und versuchen würde zu landen, dann würde er ihn umbringen. Wir setzten uns dicht zusammen und machten uns eine Menge Gedanken, aber wir sagten nichts, nur ganz selten entschlüpfte einem von uns mal ein Wort, denn wir waren in Angst und Sorge. Langsam und unheimlich kam die Nacht herbei. Wir segelten ziemlich niedrig, und im Mondschein schien alles sanft und lieblich zu sein. Die Häuser der Farmer sahen so hübsch und behaglich aus, und wir konnten die Geräusche hören, die von den Gehöften kamen, und wir wünschten uns, wir könnten dort unten sein. Aber wir schwebten wie ein Geist über sie hinweg, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Spät in der Nacht, als man kaum noch Geräusche hörte und es dem Geruch der Luft nach schon zwei Uhr sein mußte, wie ich feststellte, da sagte Tom, daß der Professor schon seit einer längeren Zeit so ruhig wäre, er müßte wohl eingeschlafen sein, und deshalb sollten wir... »Sollten wir - was?« fragte ich flüsternd und fühlte mich dabei ganz krank werden, denn ich wußte, woran Tom dachte. »Wir sollten uns nach hinten schleichen und ihn fesseln und mit dem Luftschiff landen«, sagte er. Ich sagte: »Nein, mein Herr! Keine Bewegung, Tom Sawyer.« Und Jim - ja, Jim schnappte nach Luft, so sehr fürchtete ersieh, und sagte: »O Massa Tom, tu's bloß nicht! Wenn du ihn berührst, dann ist es aus mit uns - ganz sicher, dann ist es aus mit uns! Ich würde ihm nicht zu nahe kommen, für nichts auf dieser Welt. Er ist völlig verrückt, Massa Tom.« Tom sagte flüsternd: »Gerade darum müssen wir etwas unternehmen. Wenn er nicht verrückt wäre, dann würde ich alles dafür hergeben, um hier sein zu können, und keine zehn Pferde -18-
sollten mich von hier wegbekommen, jetzt wo ich es gelernt habe, mit diesem Ballon umzugehen, und die Angst, daß man den festen Boden verlassen hat, überwunden ist. Wenn er nur seinen richtigen Verstand hätte! Aber mit einer Person herumzusegeln, die ihren Kopf verloren hat und sagt, daß sie um die Welt fahren und dann uns alle ersäufen will, das ist keine gute Politik. Wir müssen etwas unternehmen, sage ich euch, und müssen es auch tun, bevor er aufwacht, oder wir werden vielleicht nie wieder eine andere Gelegenheit haben. Kommt!« Aber uns wurde kalt und kribblig, wenn wir nur daran dachten, und wir sagten, wir würden uns nicht von der Stelle bewegen. So blieb Tom nichts anderes übrig, als selbst nach hinten zu schleichen und zu sehen, wie er an den Steuerapparat herankommen und das Luftschiff landen könnte. Wir baten und flehten ihn an, es nicht zu tun, aber es hatte keinen Zweck. So begann er, auf Händen und Knien Zoll für Zoll vorwärts zu kriechen, und wir hielten unseren Atem an und sahen ihm zu. Nachdem er die Mitte der Gondel erreicht hatte, fing er an noch langsamer zu kriechen, und es schien mir, als würden dabei Jahre vergehen. Schließlich sahen wir ihn, wie er bei dem Kopf des Professors angekommen war und sich leise aufrichtete, einen Augenblick sein Gesicht ansah und lauschte. Dann sahen wir ihn, wie er ganz langsam zu den Füßen des Professors zu kriechen begann, wo die Steuerknöpfe waren. Also, er kam auc h ohne Zwischenfall an und langte langsam und bedächtig nach den Knöpfen, aber dabei stieß er irgend etwas um, was Lärm verursachte, und wir sahen, wie er sich flach und ganz leise auf den Boden warf und still lag. Der Professor fuhr auf und rief: »Was ist los?« Aber wir verhielten uns alle totenstill und ruhig, und er begann zu brummein und zu knurren und zu gähnen wie jemand, der gerade dabei ist aufzuwachen, und ich dachte, ich würde sterben, so sehr fürchtete ich mich. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond, und ich hätte vor -19-
Freude beinahe aufgeschrien. Der Mond versank tiefer und tiefer in der Wolke, und es wurde so dunkel, daß wir Tom nicht mehr sehen konnten. Dann fing es an zu regnen, und wir konnten hören, wie der Professor an seinen Stricken und dem anderen Kram hantierte und über das Wetter fluchte. Wir fürchteten jede Minute, er könnte Tom entdecken, und es würde mit uns aus sein. Aber Tom war bereits auf dem Rückweg, als wir seine Hände auf unseren Knien fühlten, da ging mir die Luft aus, und das Herz fiel mir in die Hosen, denn ich konnte nicht wissen, ob es nicht der Professor war, und dachte schon, er sei es. Ich war so froh, als wir ihn zurück hatten, wie gerade nur jemand glücklich sein konnte, der mit einem Verrückten in der Luft herumfährt. Man kann mit einem Luftballon in der Dunkelheit nicht landen, und so hoffte ich, es möchte weiterregnen, denn ich wünschte nicht, daß Tom sich noch einmal da einmischte und uns in so schreckliche Angst versetzte. Also, mein Wunsch ging in Erfüllung. Es nieselte und nieselte in einem fort für den Rest der Nacht, die nicht mehr lang war, obgleich es uns so schien. Aber bei Tagesanbruch klärte es sich auf, und die Welt sah mächtig sanft und grau und hübsch aus, und die Wälder und Felder waren so schön, wie ich sie nie gesehen habe, und die Pferde und das Vieh standen so sauber und nachdenklich da. Dann kam die feurige Sonne herauf, heiter und prächtig, und wir begannen verdrießlich und müde zu werden, und ehe wir es bemerkten, waren wir eingeschlafen.
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3 Als wir einschliefen, war es bereits vier Uhr vorbei, und gegen acht Uhr wachten wir auf. Der Professor saß hinten in seiner Ecke und machte ein finsteres Gesicht. Er warf uns etwas Frühstück zu und sagte uns, daß wir nicht weiter als bis zum Kompaß gehen dürften, der sich in der Mitte der Gondel befand. Wenn ihr mal so richtig Hunger verspürt habt und ihr könnt euch wieder ordentlich satt essen, dann sieht alles ganz anders aus, als es vorher war. Man fühlt sich wieder behaglich und zufrieden, selbst wenn man sich mit einem Genie in einem Ballon hoch oben in der Luft befindet. Wir begannen wieder miteinander zu sprechen. Da war besonders eine Sache, die mich ständig quälte, und endlich fragte ich: »Tom, fahren wir nach dem Osten?« »Ja.« »Wie schnell sind wir denn gesegelt?« »Na, du hörtest doch selbst, was der Professor sagte, als er herumtobte. Manchmal, so sagte er, machen wir fünfzig Meilen in der Stunde, manchmal neunzig, manchmal hundert. Er sagte, wenn ein Sturm uns unterstützen würde, dann könnte er jederzeit dreihundert machen, und er erklärte, wenn er einen Sturm haben wolle und eine bestimmte Richtung wünsche, dann brauche er den Ballon nur höher steigen oder tiefer sinken zu lassen, um das Richtige zu finden.« »Na, das ist gerade das, was ich mir gedacht habe: Der Professor lügt!« »Warum?« »Wenn wir so schnell gefahren wären, dann müßten wir doch längst Illinois verlassen haben, oder nicht?« »Sicher.« -21-
»Aber wir haben es nicht verlassen.« »Aus welchem Grunde denn?« »Ich merke es an der Farbe. Wir sind immer noch über Illinois. Und du kannst selbst sehen, daß Indiana noch nicht in Sicht ist.« »Ich wundere mich, was mit dir los ist, Huck. Du erkennst es an der Farbe?« »Ja - selbstverständlich.« »Was hat denn die Farbe damit zu tun?« »Alles hat sie damit zu tun. Illinois ist grün, Indiana ist hellrot. Nun zeig mir mal da unten irgend etwas Hellrotes, wenn du kannst. Nein, mein Herr, es ist alles grün!« »Indiana hellrot? Warum? Was für ein Schwindel!« »Es ist kein Schwindel. Ich habe es auf der Landkarte gesehen, und es ist hellrot!« Ihr habt niemals jemand gesehen, der so ein gereiztes und verächtliches Gesicht machte. Er sagte: »Na gut! Wenn ich ein solcher Blödian wäre wie du, Huck Finn, dann würde ich über Bord springen. Hat es auf der Landkarte gesehen! Glaubst du wirklich, die Oberfläche jedes Staates hätte dieselbe Farbe, wie sie auf der Landkarte dargestellt ist?« »Tom Sawyer, wozu haben wir denn Landkarten? Wir haben sie doch, um die Tatsachen daraus ersehen zu können?« »Selbstverständlich!« »Na also! Wie kann man das aber, wenn die Karte lügt? Das möchte ich gern mal wissen!« »Schweig, du Quatschkopf, sie lügt nicht!« »Wirklich nicht? Sie lügt nicht?« »Nein, sie lügt nicht.« »In Ordnung! Aber wenn sie nicht lügt, dann gibt's auch keine -22-
zwei Staaten von derselben Farbe. Erklär mir das, wenn du kannst, Tom Sawyer.« Er sah, ich hatte ihn, und Jim sah es auch, und ich muß sagen, ich fühlte mich mächtig wohl dabei, denn Tom Sawyer war immer ein harter Kerl, mit dem man nicht so leicht fertig wurde. Jim schlug sich auf die Schenkel und rief: »Ich sag's ja! Das ist wunderbar, das ist geradezu wunderbar! Und es nützt dir nichts, Massa Tom, jetzt hat er dich - jetzt hat er dich geschafft, das ist sicher.« Er schlug sich wieder auf seine Schenkel und brüllte: »Du grüne Neune! Das ist ja wunderbar!« Niemals in meinem Leben habe ich mich so wohl gefühlt. Dabei wußte ich gar nicht, daß ich so etwas Bedeutendes sagte, bis es heraus war. Ich redete eigentlich nur so vor mich hin, ohne weiter zu überlegen, und erwartete nicht, daß es solch eine Wirkung haben würde, aber plötzlich war es da. Ja, das war eine größere Überraschung für mich als für die anderen. Es war genauso, als wenn jemand, der andauernd Maiskörner kaut und dabei an nichts denkt, plötzlich auf einen Diamanten beißt. Das erste, was er dabei denkt, ist: das wird wohl irgendein Stein sein. Aber dann findet er heraus, es ist ein Diamant, wenn er ihn aus dem Munde genommen und den Sand und die Krümel abgebürstet hat und ihn angesehen hat, und er ist überrascht und glücklich. Ja, und er ist auch stolz darauf, denn wenn ihr kommt und euch die Sache ansehen wollt, dann wird er euch die Geschichte mit Überzeugung so berichten, als ob er Diamanten gesucht hätte. Das ist leicht zu verstehen. Seht ihr, ein Zufall, der zu einer großen Sache wird, ist später immer eine Sache, die mit voller Absicht getan worden sein soll. Ein jeder von uns kann diesen Diamanten zwischen Maiskörnern finden, aber, achtet einmal darauf, es wird immer jemand sein, der es sich als ein besonderes Verdienst anrechnet. Das ist die Art, wie die Burschen zu ihren Erfolgen kommen, und so kam ich auch zu meinem. Ich bin immer ein sehr ruhiger Mensch gewesen, und es gibt kaum jemanden, der friedfertiger ist als ich, und das, was -23-
ich gesagt hatte, war nur plötzlich aus mir herausgeschossen. Ich habe oft noch über diese ganze Geschichte nachgedacht, und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie damals alles ausgesehen hat, und es scheint mir, als ob es erst in der vergangenen Woche gewesen sei. Ich sehe alles noch ganz genau: die unter uns dahingleitende wunderschöne Landschaft, mit Wäldern, Feldern und Seen, die man für Hunderte und Hunderte von Meilen überblicken konnte, und die Städte und Dörfer, die überall unter uns hier und dort verstreut lagen. Der Professor studierte eine Karte, die er auf seinem kleinen Tisch ausgebreitet hatte, und Toms Mütze fiel herunter aus dem Takelwerk, wo er sie zum Trocknen aufgehängt hatte, und eine besondere Sache war noch ein Vogel, der kaum zehn Fuß von uns entfernt in unsere Richtung zu fliegen versuchte und der sich bemühte, mit uns Schritt zu halten, aber der dann doch zurückbleiben mußte. Tief unten versuchte ein Eisenbahnzug das gleiche, der zwischen Wäldern und Gehöften dahin jagte und eine lange schwarze Rauchfahne von sich gab und ab und zu auch eine kleine weiße Dampfwolke, und solange er die weiße Wolke ausstieß , hörte man ein leises, helles Pfeifen - und das war die Sirene. Aber wir hängten beide ab, den Vogel und den Zug, und es war für uns ganz leicht. Aber Tom war zornig, und er sagte, daß ich und Jim ein paar aufgeblasene Dummköpfe seien, und dann sagte er: »Nehmen wir mal an, da wäre ein braunes Kalb und ein großer brauner Hund, und ein Künstler malte ein Bild von den beiden. Was hat denn nun der Künstler dabei in erster Linie zu machen? Er hat sie so zu malen, daß ihr sie im Bruchteil einer Minute unterscheiden könnt, wenn ihr sie anseht! Oder nicht? Also, werdet ihr euch nun von ihm wünschen, daß er sie alle beide braun malt? Das werdet ihr sicher nicht tun. Er malt eins von beiden blau, und dann könnt ihr sie nicht mehr verwechseln. Und genau das gleiche ist es mit den Landkarten. Darum zeichnen sie jeden Staat mit einer anderen Farbe ein - damit ihr -24-
sie unterscheiden könnt und ihr keiner Täuschung unterliegt.« Aber das schien mir kein Beweis zu sein, und Jim dachte genauso. Jim schüttelte seinen Kopf und sagte: »Wieso, Massa Tom, wenn du wüßtest, was für Querköpfe die Maler sind, dann würdest du es dir lange überlegen, bevor du dir einen von ihnen holen würdest, um so etwas zu machen. Da kann ich dir was von erzählen, und dann wirst du selbst schon sehen. Ich sah einen von ihnen eines schönen Tages, wie er gerade malte, da unten hinter dem Grundstück von dem alten Hank Wilson, und ich ging hin, um es mir anzuschauen. Er malte gerade die alte scheckige Kuh, die nur ein Hörn hat - du weißt schon, welche ich meine. Und ich fragte ihn, warum er die Kuh malt, und er sagte mir, wenn er sie gemalt hätte, dann würde das Bild hundert Dollar wert sein. Massa Tom, die ganze Kuh war nur fünfzehn Dollar wert, und ich sagte ihm das auch. Aber er schüttelte den Kopf und machte ruhig weiter. Glaube mir, Massa Tom, die Maler haben keine Ahnung.« Tom verlor die Beherrschung. Ich habe niemals jemanden gesehen, der über ein Argument so aus dem Häuschen geriet. Er schrie uns an, daß wir still sein sollten und in dem Schlamm, der sich in unseren Köpfen befände, nicht noch mehr herumrühren sollten. Wenn wir ganz ruhig wären und der Schlamm sich setzen könnte, dann würde es uns vielleicht besser gehen. Als er dann auf eine Stadt tief unter uns hinunterblickte, sah er plötzlich eine Turmuhr. Er nahm das Fernglas und sah nach der Zeit, und dann sah er auf seine silberne Taschenzwiebel und dann wieder auf die Turmuhr und nochmals auf die Zwiebel und sagte: »Das ist aber sehr komisch - die Uhr geht ja nahezu eine Stunde vor.« Er zog seine Taschenzwiebel auf. Dann erblickte er eine andere Turmuhr und sah wieder hin, und sie ging ebenfalls eine Stunde vor. Das brachte ihn durcheinander. -25-
»Das ist eine ungeheuer komische Sache«, sagte er. »Ich verstehe das Ganze nicht.« Dann nahm er das Glas und suchte sich eine andere Uhr, und richtig - sie ging auch eine Stunde vor. Er machte große Augen, schnappte ein paarmal nach Luft und sagte: »Grrroooßer Scott, das ist der Längengrad!?« Ich sagte mächtig erschrocken: »Was ist denn das? Was ist passiert?« »Ganz einfach: Diese alte Blase ist über Illinois, Indiana und Ohio hinweggeschliddert, als wäre es nichts, und befindet sich jetzt an der Ostseite von Pennsylvania oder New York oder in einer ähnlichen Gegend.« »Tom Sawyer, ist das dein Ernst?« »Ja, so ist es - ganz sicher ist es so! Wir haben mehr als fünfzehn Längengrade überquert, seitdem wir St. Louis gestern nachmittag verlassen haben. Die Uhren da unten gehen richtig. Wir haben an die achthundert Meilen hinter uns gebracht!« Ich konnte es nicht glauben, aber trotzdem lief mir eine kalte Gänsehaut über den Rücken. Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß man für die gleiche Strecke auf einem Floß den Mississippi hinunter nicht weniger als zwei Wochen brauchte. Jim strengte seinen Geist an und dachte nach. Dann sagte er: »Massa Tom, hast du gesagt, die Uhren gehen richtig?« »Natürlich gehen sie richtig!« »Und deine Uhr geht auch richtig?« »In St. Louis habe ich sie gestellt, aber jetzt zeigt sie eine Stunde weniger an als die anderen Uhren.« »Weißt du genau, daß die Zeit nicht überall die gleiche ist?« »Sie ist nicht überall die gleiche, wenn es sich um große Entfernungen handelt.« Jim blickte gequält drein und sagte: -26-
»Es betrübt mich zu hören, daß du so etwas sagst, Massa Tom. Ich schäme mich geradezu, wenn du so redest. Ist das die Art, wie man dich aufgezogen hat? Tante Pollys Herz würde brechen, wenn sie dich hören könnte.« Tom war erstaunt. Er sah Jim an, wunderte sich, sagte aber nichts. Und Jim fuhr fort: »Massa Tom, wer brachte die Leute da unten nach St. Louis? Das hat Gott getan! Und wer brachte die Leute hierher, wo wir sind? Das hat Gott getan! Sind sie nicht alle seine Kinder? Gewiß sind sie es! Na also! Warum sollte er denn solche Unterschiede zwischen ihnen machen?« »Unterschiede! Ich habe noch niemals so einen Blödsinn gehört. Sie unterscheiden sich deshalb doch nicht. Wenn Gott dich und noch viele andere seiner Kinder schwarz macht, und er macht den Rest von uns weiß, wie würdest du denn das nennen?« Jim sah den Haken. Er schwieg, denn er wußte keine Antwort. Und Tom sagte: »Gott macht schon die Unterschiede, wie du siehst, wenn er es gerade wünscht. Aber in diesem Falle hier hat er keine Unterschiede gemacht zwischen seinen Leuten. Gott macht den Tag, und er macht die Nacht. Aber er hat nicht die Stunden erfunden, und er hat auch nicht die Leute in der Gegend verteilt, das haben die Menschen selbst getan.« »Massa Tom, ist das so? Das haben die Menschen getan?« »Gewiß.« »Wer hat ihnen denn gesagt, daß sie das könnten?« »Niemand. Sie haben nicht danach gefragt.« Jim überlegte eine Minute und sagte dann: »Na gut, da geb' ich mich geschlagen. Ich würde mir nicht erlauben, so etwas zu riskieren. Aber manche Leute fürchten sich vor nichts. Sie wirtschaften immer drauflos und kümmern -27-
sich um nichts anderes. So haben sie denn wohl auch überall eine Stunde Unterschied gemacht, nicht wahr, Massa Tom?« »Eine Stunde? Nein! Es sind vier Minuten Unterschied bei jedem Längengrad. Fünfzehn Längengrade machen eine Stunde, dreißig von ihnen zwei Stunden und so weiter. Wenn'es in England schon ein Uhr Dienstag morgens ist, ist es erst acht Uhr abends in New York.« Jim rückte auf der Sitzbank ein Stückchen weiter, und man konnte sehen, daß er beleidigt war. Er schüttelte andauernd seinen Kopf und brummelte vor sich hin, und so rutschte ich zu ihm heran und klopfte ihm auf die Schenkel und munterte ihn auf und brachte ihn dazu, daß er seinen Gefühlen Luft machte und sagte: »Massa Tom, erzähle uns doch nicht solche Geschichten. An einer Stelle ist es Dienstag und an einer anderen Montag und beides am gleichen Tage! Hier oben, wo wir sind, ist wirklich kein Platz, um zu spaßen, nicht wahr, Huck? Zwei Tage an einem Tag! Hast du schon mal gesehen, daß man zwei Tage in einem Tage unterbringen kann - oder zwei Stunden in einer Stunde. Kannst du das? Kannst du zwei Menschen in eines Menschen Haut stecken? Kannst du zwei Gallonen Whisky in einen Krug gießen, der nur eine Gallone faßt? Kannst du das? Nein, mein Herr, der Krug würde überlaufen. Ja, das kannst du nicht, und deshalb glaube ich es auch nicht. Sieh mal an, Huck, wenn nun dieser Dienstag ein Neujahrstag ist, was wäre dann? Willst du mir erzählen, daß dann an einer Stelle Neujahr wäre und an einer anderen hätte man noch das alte Jahr? Und beides in der gleichen Minute? Das ist der größte Kohl, den ich je gehört habe. So etwas kann ich gar nicht mit anhören.« (Gallone = 4 1/2 Liter) Dann begann er zu zittern und wurde ganz grau, und Tom fragte: »Na, was ist denn? Hast du Kummer?« -28-
Jim konnte kaum sprechen, aber er sagte: »Massa Tom? du hast doch bloß gespaßt, nicht wahr?« »Nein, das habe ich nicht. Es ist wirklich so!« Jim zitterte von neuem und sagte: »Dann könnte ja Montag der Jüngste Tag sein, und dann würden sie keinen Jüngsten Tag in England haben, und die Toten würden nicht gerufen werden. Wir müssen doch nicht da hinübergehen, Massa Tom. Bitte, bring ihn doch dazu, daß er umkehrt. Ich möchte doch dabeisein, wenn...« Plötzlich sahen wir etwas und sprangen alle auf und vergaßen alles und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Tom sagte: »Ist das der...?« Er holte tief Luft, dann sagte er: »Er ist es so wahr ihr lebt - es ist der Ozean!« Da mußten auch ich und Jim mal tief Luft holen. Da standen wir alle erschüttert, aber glücklich, denn keiner von uns hatte jemals den Ozean gesehen oder hatte es auch nur erwartet. Tom murmelte vor sich hin: »Der Atlantische Ozean - der Atlantik. 0 du heiliges Kanonenrohr! Klingt das nicht großartig? Und das da ist er - und wir sehen ihn - wir! Es ist beinahe zu herrlich, um es zu glauben!« Dann sahen wir eine große schwarze Rauchfahne, und als wir näher kamen, da war es eine Stadt, und sie war wie ein Ungeheuer, mit einem dichten Kranz von Schiffen auf der einen Seite, und wir glaubten, daß es New York wäre, und wir begannen uns darüber zu streiten und zu diskutieren, und ehe wir es genau feststellen konnten, war sie unter uns weggeglitten und flog hinter uns fort, und da waren wir draußen über dem Ozean selbst und fuhren dahin wie ein Wirbelstunn. Aber dann wurden wir mit einem Male hellwach, das kann ich euch erzählen! Wir stürzten nach hinten und erhoben ein Jammergeschrei -29-
und begannen den Professor zu bitten, doch mit uns Mitleid zu haben und uns an Land zurückzubringen und uns zu unseren Angehörigen zurückkehren zu lassen, welche sich um uns grämen würden und besorgt seien und vielleicht sterben würden, wenn uns etwas passierte. Aber er riß seinen Revolver heraus und jagte uns zurück. Und wir kehrten um, aber wie jämmerlich uns dabei zumute war, das wird sich niemand vorstellen können. Das Land war verschwunden, nur ein schmaler Streifen schlängelte sich noch an der Seite des Wassers dahin, und in der Tiefe unter uns war der Ozean - Millionen Meilen weit nur der Ozean, der sich hob und senkte und wirbelte, und weißer Gischt sprühte von den Wogenkämmen, und nur ein paar Schiffe waren zu sehen, die herumschaukelten und sich von einer Seite auf die andere legten und bald mit dem Bug und bald mit dem Heck hinabfuhren. Doch es dauerte nicht lange, da sah man überhaupt keine Schiffe mehr, und wir hatten nur den Himmel und den weiten Ozean um uns, und es war der geräumigste Ort, den ich je gesehen habe und auch der einsamste.
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4 Und es wurde einsamer und einsamer. Nur ein ungeheurer Himmel war über uns, leer und furchtbar tief, und unter uns auf dem Ozean war außer den Wogen nichts anderes zu sehen. Um uns herum war ein Ring - ein richtiger runder Ring - dort wo der Himmel und das Wasser zusammenliefen. Ja, ein gewaltig großer Ring war es, und wir befanden uns gerade in der Mitte. Genau im Zentrum. Wir rasten dahin wie ein Feuer in der Prärie, aber das machte niemals einen Unterschied - es schien uns, als könnten wir niemals das Zentrum verlassen. Ich konnte nicht bemerken, daß wir dem Ringe auch nur um einen Zoll näher kamen. Es machte einen ganz kribblig, und es war seltsam und unerklärlich. Dabei war alles so furchtbar still, daß wir nur ganz leise zu sprechen wagten, und es wurde immer unheimlicher und einsamer, und wir sprachen immer weniger, bis wir zuletzt ganz aufhörten zu reden und nur noch dasaßen und »spannen«, wie Jim es nannte, und eine lange Zeit kein Wort mehr herausbrachten. Der Professor regte sich nicht, bis die Sonne über uns stand. Dann stand er auf und hielt eine Art Dreieck vor seine Augen, und Tom sagte, daß das ein Sextant wäre, mit dem er die Stellung der Sonne berechne, um festzustellen, wo der Ballon wäre. Dann rechnete er etwas und sah in ein Buch, und dann fing er an, wieder stark aufzudrehen. Er redete eine Menge wilder Sachen und sagte unter anderem, daß er dieses Hundertmeilentempo bis zum nächsten Nachmittag beibehalten wolle und dann in London landen würde. Wir sagten, wir wären ihm dafür aus tiefster Seele dankbar. Er wandte sich gerade ab, aber als wir dies sagten, da drehte er sich ruckartig um und warf uns einen langen Blick der finstersten Art -31-
zu, einen der boshaftesten und argwöhnischsten Blickke, die ich je gesehen habe, und sagte dann: »Ihr wollt mich verlassen. Versucht nicht, das zu leugnen.« Wir wußten nicht, was wir antworten sollten. Deshalb waren wir still und sagten gar nichts. Er ging nach hinten und setzte sich, aber es schien uns, daß ihm diese Sache nicht aus dem Kopf ging. Ab und zu stieß er etwas hervor, was damit zusammenhing, und versuchte uns zu einer Antwort zu reizen, aber wir waren still. Es wurde einsamer und einsamer um uns, und es schien mir, als könnte ich es bald nicht mehr aushallen. Und es wurde noch schlimmer, als die Nacht hereinbrach. Aber dann kniff mich Tom und flüsterte: »Sieh mal!« Ich warf einen Blick nach hinten und sah den Professor, wie er einen Schluck Schnaps aus der Flasche nahm. Das wollte mir gar nicht gefallen. Ab und zu nahm er wieder einen Zug, und bald begann er zu singen. Es war jetzt dunkel, und es wurde immer schwärzer und stürmischer. Er sang in einem fort, immer wilder und wilder, und der Donner begann zu grollen und der Wind zu brausen und heulte im Takelwerk - und das alles zusammen war schrecklich. Es wurde so finster, daß wir nichts mehr sehen konnten, und wir wünschten uns, wir hätten ihn auch nicht hören können - aber das mußten wir. Aber dann wurde er ruhig. Aber als er etwa zehn Minuten lang still war, da wurde uns unheimlich, und wir wünschten uns, daß er doch wieder mit seinem Lärm beginnen solle, damit wir hören könnten, wo er wäre. Auf einmal zuckte ein Blitz auf, und wir sahen ihn, wie er aufzustehen versuchte, aber er war betrunken und stolperte und fiel lang hin. Wir hörten ihn in die Dunkelheit schreien: »Sie wollen nicht nach England fahren. Auch recht! Dann werde ich den Kurs ändern. Sie wollen mich verlassen. Gut, sie sollen es tun - und zwar jetzt!« -32-
Ich starb beinahe, als er das sagte. Dann war er wieder still, so lange still, daß ich es kaum ertragen konnte, und es schien mir, als wolle der Blitz niemals wieder kommen. Aber schließlich kam doch solch ein gesegneter Blitz, und da sahen wir ihn, wie er auf den Händen und den Knien kroch und keine vier Fuß mehr von uns entfernt war. Seine Augen blickten grauenhaft. Er sprang auf Tom zu und schrie: »Über Bord mit dir!« Aber es war bereits wieder pechschwarze Nacht, und ich konnte nicht sehen, ob er ihn gefaßt hatte oder nicht, und Tom gab keinen Laut von sich. Dann kam wieder ein langes fürchterliches Warten. Dann wieder ein Blitz, und ich konnte Toms Kopf außerhalb der Bordwand sehen, wie er sich duckte und verschwand. Er war auf der Strickleiter, die von der Gondel hinab hing. Der Professor stieß einen Schrei aus und sprang ihm nach. Aber im gleichen Augenblick war es wieder pechdunkel. Jim stöhnte: »Armer Massa Tom. Nun ist er hin!« Und er stürzte sich auf den Professor. Aber der Professor war nicht mehr da. Dann hörten wir zwei schreckliche Schreie - und dann noch einen, aber nicht mehr so laut, und dann noch einen, aber der war ganz weit weg, so daß man ihn gerade noch hören konnte. Ich hörte, wie Jim sagte: »Armer Massa Tom!« Dann war es grauenhaft ruhig, und ich glaubte, man hätte bis vierhunderttausend zählen können, ehe der nächste Blitz kam. Als es blitzte, sah ich Jim auf den Knien, seine Arme hatte er auf dem Behälter liegen und sein Gesicht darin vergraben, und er weinte. Ehe ich alles übersehen konnte, war es wieder dunkel, und ich war darüber froh, denn ich wollte nichts sehen. Aber als der nächste Blitz kam, da paßte ich wieder auf, und unter mir konnte ich jemanden auf der Leiter im Winde baumeln sehen, und das war Tom! »Komm rauf«, brüllte ich, »komm rauf, Tom!« -33-
Seine Stimme war so schwach, und der Sturm heulte dermaßen, daß ich nicht verstehen konnte, was er sagte. Aber ich nahm an, er fragte, ob der Professor noch oben wäre. Ich brüllte: »Nein! Er ist unten im Ozean! Komm herauf! Können wir dir helfen?« Alles dies ging in der Dunkelheit vor sich. »Huck, wen rufst du denn da?« stöhnte Jim. »Ich rufe Tom.« »Oh Huck, wie kannst du mir so etwas sagen, wo du doch weißt, daß der arme Massa Tom...« Dann stieß er einen schrecklichen Schrei aus und warf seinen Kopf und seine Arme empor, weil es gerade stark blitzte, und in diesem Augenblick erschien über dem Rande der Gondel Toms Gesicht, ganz schneeweiß, und sah ihm gerade in die Augen. Er dachte natürlich, es sei Toms Geist. Tom kletterte an Bord, und als Jim erkannte, daß er es wirklich war und nicht sein Geist, da umarmte er ihn und schmatzte ihn ab und gab ihm alle möglichen Kosenamen und benahm sich, als sei er verrückt geworden, so glücklich war er. Ich fragte: »Worauf hast du denn gewartet, Tom? Warum bist du denn nicht sofort wieder heraufgekommen?« »Ich durfte nicht, Huck. Ich bemerkte, wie jemand an mir vorbei hinunterfiel, und ich wußte in der Dunkelheit nicht, wer es war. Das hättest du gewesen sein können, oder es konnte Jim gewesen sein.« So war Tom Sawyer - immer unerschrocken und bedacht. Er kam nicht eher nach oben, bis er wußte, wo der Professor war. Der Sturm tobte währenddessen in voller Stärke weiter, und es war furchtbar, wie der Donner dröhnte und grollte und die Blitze aufflammten und der Wind pfiff und jaulte im Takelwerk, und der Regen strömte hernieder. In der einen Sekunde konnte -34-
man nicht die Hand vor Augen sehen, und in der nächsten konnte man die Fäden an seinem Rockärmel zählen, und man sah durch den Regenschleier hindurch die ganze weite Wasserwüste, wie sie wogte und schäumte. Ein solcher Sturm ist die herrlichste Sache, die es gibt, aber nicht, wenn man sich hoch oben und allein unter dem Himmel befindet, wo es naß und einsam ist, und man gerade erst einen Todesfall in der Familie gehabt hat. Wir saßen zusammen im Bug der Gondel und sprachen leise über den armen Professor, und jedem tat er leid, und wir waren auch betrübt darüber, daß die Leute ihn verspottet und ihm so hart zugesetzt hatten, während er doch sein Bestes tat. Und er hatte keinen Freund gehabt und niemanden, der ihn ermutigte und aus seinen trüben Gedanken riß und ihn aufheiterte, so daß er schließlich völlig durcheinandergeriet. Am anderen Ende der Gondel lagen eine Menge Kleidungsstücke und Decken und andere Sachen auf einem Haufen, aber wir wollten lieber den Regen ertragen, als daß wir jetzt etwas davon genommen hätten. Seht ihr, es wäre uns jetzt unangenehm gewesen, es warm zu haben, weil man sich gesagt hätte, daß es die Sachen von einem Toten seien. Jim sagte, daß er sich lieber vom Regen durchweichen ließe, bis er naß wie ein Schwamm wäre, ehe er nach hinten gehen würde und vielleicht dabei noch gegen den Geist rennen würde, der sich dort zwischen den Blitzen herumtreibe. Er sagte, es mache ihn immer ganz krank, wenn er einen Geist sehe, und er würde lieber sterben, als daß er mit einem zusammenstoße.
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5 Wir versuchten einige Pläne aufzustellen, konnten aber nicht einig werden. Ich und Jim waren dafür, umzukehren und wieder nach Hause zurückzufahren. Aber Tom meinte, daß wir bei Tagesanbruch unsere Position besser übersehen könnten. Wir würden bereits so nahe an England heran sein, daß wir ebensogut nach dort fahren könnten. Wir könnten dann mit einem Schiff zurückkehren und würden Ruhm erwerben, wenn wir sagen könnten, daß wir so etwas getan hätten. Nach Mitternacht legte sich der Sturm etwas, und der Mond kam hervor und beleuchtete den Ozean. Da begannen wir uns ganz behaglich zu fühlen und wurden schläfrig. Wir legten uns auf den Behälter nieder und schliefen ein und wachten nicht eher auf, als bis die Sonne aufging. Die See funkelte wie Diamanten, und es war ein herrliches Wetter, und sehr bald waren auch alle unsere Sachen wieder trocken. Wir gingen nach hinten, um uns etwas Frühstück zu suchen, und das erste, was wir bemerkten, war ein mattes Licht, das dort hinter einem Kompaß in einer Schutzhaube brannte. Tom machte sich sofort darüber Gedanken und sagte: »Ihr könnt euch wohl nicht vorstellen, was das bedeutet! Das heißt, daß jemand hier auf Wache stehen, das Ding beobachten und steuern muß, genauso wie auf einem Schiff. Denn wenn man herumläuft und den Ballon nicht steuert, dann segelt er dorthin, wohin ihn der Wind treibt.« »Klar«, sagte ich, »und was hat denn nun der Ballon gemacht seit - seit wir den Unfall hatten?« »Er hat sich herumgetrieben«, sagte Tom etwas verstört, »hat sich herumgetrieben, ohne Zweifel. Jetzt befindet er sich in einem Wind, der uns nach Südosten treibt. Wir wissen nicht -36-
einmal, wie lange das schon vor sich geht.« Dann steuerte er das Luftschiff wieder nach Osten und sagte, er würde den Kurs so lange halten, bis wir das Frühstück zubereitet hätten. Der Professor hatte an alles gedacht, was man sich nur wünschen konnte, es konnte nicht besser zusammengestellt sein. Es gab allerdings keine Milch für den Kaffee, aber es gab Wasser und alles, was notwendig war. Da war ein öfchen mit Holzkohle und anderem Zubehör und Pfeifen und Zigarren und Streichhölzer und Wein und Likör, die aber nicht unser Geschmack waren. Es gab Bücher und Land- und Seekarten und ein Akkordeon und Pelze und Decken und unglaublich viel Schund, wie Glasperlen und Messingschmuck. Tom sagte, das sei ein sicheres Anzeichen, daß er sich mit dem Gedanken getragen habe, überall die wilden Volksstämme zu besuchen. Und auch Geld war da. Ja, der Professor war gut ausgerüstet. Nach dem Frühstück zeigte Tom mir und Jim, wie man steuern mußte, und dann teilte er uns zu einer vierstündigen Wachablösung ein. Als er mit seiner Wache fertig war, da löste ich ihn ab, und er holte des Professors Papier und Federhalter hervor und schrieb einen Brief nach Hause an seine Tante Polly und berichtete ihr alles, was mit uns geschehen war, und datierte das Schreiben mit: »Im Weltenraum, nahe bei England« und faltete es zusammen und klebte es zu mit einer roten Oblate. Dann adressierte Tom den Brief und schrieb über die Anschrift in großen Buchstaben »VON TOM SAWYER, DEM AERONAUTEN« und sagte, das würde den alten Nat Parsons, den Postmeister, zum Schwitzen bringen, wenn der Brief mit der Post einträfe. Ich fragte: »Tom Sawyer, was ist ein Aeronaut?« Er sagte, ein Aeronaut wäre jemand, der in Ballons in der Luft herumsegelt, und er sagte auch, es wäre bedeutend feiner, wenn er sich »Tom Sawyer, der Aeronaut« nennen würde, als »Tom -37-
Sawyer, der Reisende«. Man würde in der ganzen Welt von uns hören, wenn wir die Sache gut machten, und er würde jetzt darauf husten, noch »Tom Sawyer, der Reisende« genannt zu werden. Um die Mitte des Nachmittags machten wir alles zum Landen fertig, und wir fühlten uns auch sehr wohl und waren stolz und blickten fortwährend durch unsere Ferngläser, wie Kolumbus, als er Amerika entdecken wollte. Aber wir konnten nichts weiter sehen als den Ozean. Der Nachmittag ging vorüber, und die Sonne sank, und immer noch war kein Land zu sehen. Wir wunderten uns darüber, aber wir dachten, es würde schon alles seine Richtigkeit haben. So steuerten wir weiter nach Osten, aber wir stiegen in eine höhere Lage auf, da wir nicht mit einigen Kirchtürmen oder Gebirgen in der Dunkelheit zusammenstoßen wollten. Bis Mitternacht hatte ich Wache, und dann war Jim an der Reihe. Aber Tom blieb auf, weil das die Schiffskapitäne auch immer täten, sagte er, wenn sie in die Nähe des Festlandes kämen. Als der Tag anbrach, stieß Jim einen Schrei aus, und wir sprangen auf und blickten hinaus und - ganz gewiß - da war das Land! Land, rund um uns her, so weit man sehen konnte, und ganz flach und gelb. Wir wußten nicht, wie lange wir schon über dem Lande waren. Hier gab es keine Bäume, keine Berge, keine Felsen und keine Städte, und Tom und Jim dachten zuerst, es sei das Meer. Sie dachten, es sei das Meer in völlig ruhigem Zustand, denn wir waren hoch in der Luft, und irgendwie hätte es doch das Meer sein können, das im Laufe der Nacht spiegelglatt geworden war. Wir waren jetzt alle mächtig aufgeregt und griffen nach den Ferngläsern und suchten überall London, aber wir konnten es nirgendwo entdecken, noch irgendeine andere menschliche Ansiedlung finden. Es war auch nichts von einem See oder einem Fluß zu erblicken. Tom war ganz niedergeschlagen. Er -38-
sagte, das sei nicht der Begriff, den er sich von England gemacht habe, er habe immer geglaubt, England sei so wie Amerika. Dann sagte er, es sei besser, wenn wir jetzt frühstücken und dann landen und uns nach dem schnellsten Wege nach London erkundigen würden. Wir waren bald mit dem Frühstück fertig, denn wir waren sehr ungeduldig. Als wir dabei waren niederzugehen, begann es wärmer zu werden, und bald zogen wir unsere Pelze aus. Aber es wurde immer noch wärmer, und bald wurde es sogar zu warm. Der Schweiß begann uns auszubrechen. Wir waren jetzt dicht über dem Erdboden, und wir bekamen fast Blasen vor Hitze. Wir hielten etwa dreißig Fuß über der Erde. Ich sage Erde, aber es war Sand. Nichts weiter war da als reiner Sand. Tom und ich kletterten die Leiter hinunter und rannten ein Stück, um unsere Beine wieder mal richtig zu strecken, und das tat enorm gut. Das heißt, daß wir die Beine bewegen konnten, tat uns gut, aber der Sand verbrannte uns die Füße wie heiße Asche. Das nächste, was wir bemerkten, war, daß jemand auf uns zukam, und wir gingen ebenfalls auf ihn los, um ihn zu treffen. Aber da hörten wir Jim schreien und sahen uns um. Er tanzte herum und machte Zeichen und brüllte. Wir konnten nicht verstehen, was er rief, aber wir waren doch irgendwie erschrocken und eilten nach dem Ballon zurück. Als wir nahe genug herangekommen waren, verstanden wir seine Worte, und uns wurde ganz schwach dabei: »Rennt, rennt um euer Leben! Das ist ein Löwe. Ich kann ihn durch das Fernglas sehen. Rennt Jungens! Beeilt euch, bitte, so gut ihr könnt. Er ist sicher aus dem zoologischen Garten ausgebrochen, und niemand ist da, der ihn wieder fangen kann.« Tom sauste dahin, aber mir war es, als hätte man die Knochen aus meinen Beinen genommen. Ich konnte nur mühsam dahinkeuchen, wie man es im Traume tut, wenn einem ein Gespenst auf den Fersen ist. -39-
Tom erreichte die Leiter, kletterte ein Stück hinauf und wartete dann auf mich. Sobald ich auch auf der Leiter war, rief er Jim zu, er solle abschweben. Aber Jim hatte völlig den Kopf verloren und rief, er hätte vergessen, wie es gemacht würde. So kletterte Tom hinauf und sagte, ich solle ihm folgen. Aber da kam auch schon der Löwe an, der bei jedem Sprung ein schauerliches Gebrüll ausstieß. Meine Beine zitterten so, daß ich keines von ihnen hochzuheben wagte, aus Furcht, das andere allein könne mich nicht mehr tragen. Aber Tom war inzwischen schon an Bord geklettert, und er ließ den Ballon ein Stück in die Höhe schießen und stoppte ihn sofort wieder, sobald das Ende der Leiter sich zehn oder zwölf Fuß über dem Erdboden befand. Und da war auch schon der Löwe und tobte unter mir herum und brüllte und sprang nach der Leiter und verfehlte sie höchstens um einen viertel Zoll, so schien es mir. Es war köstlich, aus seiner Reichweite heraus zu sein - wirklich köstlich -, und ich fühlte mich einerseits wohl dabei und war herzlich dankbar, aber ich hing dort hilflos und konnte nicht klettern, und so fühlte ich mich andererseits entsetzlich elend und niedergeschlagen. Es ist wohl sehr selten, daß jemand solche gemischten Gefühle empfindet, und es ist außerdem auch nicht empfehlenswert. Tom fragte mich, was er machen solle, aber ich wußte es nicht. Er fragte mich, ob ich mich noch eine Weile halten könne, währenddessen würde er an einen sicheren Platz segeln, wohin der Löwe nicht folgen könne. Ich sagte, ich könnte schon, wenn er nur nicht noch höher hinaufginge, als wir es jetzt seien, denn wenn er noch höher stiege, dann würde ich ganz gewiß die Beherrschung verlieren und hinunterfallen. Da sagte er: »Halte dich gut fest«, und wir starteten. »Nicht so schnell«, schrie ich. »Mir wird ganz schwummerig.« -40-
Er war wie ein Blitzexpress gestartet. Aber dann mäßigte er das Tempo, und wir glitten langsam über den Sand dahin, aber es war doch eine unangenehme Sache, denn es ist recht ungemütlich, wenn man alles ganz lautlos unter sich hinweggleiten sieht. Aber bald war es mit der Lautlosigkeit vorbei, denn der Löwe kam uns nachgejagt. Sein Gebrüll rief andere herbei. Man konnte sie aus allen Richtungen herbeikommen sehen, und sehr bald waren ein paar Dutzend unter mir. Sie sprangen nach der Leiter, fauchten sich an und schnappten nacheinander. So brausten wir über die Sandfläche hin, und diese Burschen versuchten alles, was sie konnten, um uns das Erlebnis unvergeßlich zu machen. Dann kamen noch einige Leoparden, ohne Einladung, und alle machten einen regelrechten Aufruhr dort unten. Wir sahen ein, daß es nicht so weitergehen konnte. Mit unserer jetzigen Geschwindigkeit konnten wir ihnen nicht entkommen, und ich konnte mich doch nicht ewig an der Leiter festhalten. Tom dachte kurz nach und kam dann auf eine andere Idee. Einer von den Löwen mußte mit dem Schießprügel - dem Revolver - getötet werden, und während die anderen sich dann um den Kadaver stritten, konnten wir weitersegeln. So hielt er den Ballon an und tat es, und während der Spektakel dort unten losging, verschwanden wir und hielten eine viertel Meile weiter an. Tom und Jim halfen mir an Bord, aber währenddessen war die Bande auch schon wieder da. Doch als sie sahen, daß wir nun wirklich das Weite suchten und sie uns nicht mehr verspeisen konnten, da setzten sie sich auf ihre Schinken und blickten so völlig enttäuscht zu uns herauf, daß es einem wirklich ans Herz griff, wenn man sich in ihre Lage versetzte.
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6 Ich war so schwach, daß ich an nichts anderes dachte, als mich hinzulegen. Ich ging deshalb sofort zu dem Behälter, der mir als Lager diente, und streckte mich aus. Aber man konnte in solcher Backofenhitze nicht wieder zu Kräften kommen. Deshalb gab Tom den Befehl zum Aufsteigen, und Jim ließ den Ballon in die Höhe. Wie ihr euch vorstellen könnt, war es auch eine besondere Mühe, in diesem Luftschiff die Flöhe loszuwerden. Tom erinnerte sich dabei an Mary, die ein kleines Lamm gehabt hatte, dessen Flöhe so weiß wie Schnee waren. Aber unsere hier waren nicht so, sie waren von einer dunkelfarbigen Art jene Sorte, die immer hungrig ist. Überall wo Sand ist, könnt ihr diese Tierchen finden, und je mehr Sand da ist, desto größer sind ihre Scharen. Hier gab es nur Sand, und das Ergebnis war dementsprechend. Ich habe noch niemals solch eine Menge gesehen. Wir mußten eine Meile aufsteigen, ehe wir in ein angenehmeres Klima kamen, und wir mußten noch höher gehen, um uns von den lästigen Geschöpfen zu befreien. Erst als sie zu frieren begannen, sprangen sie über Bord. Dann gingen wir wieder tiefer, wo eine erfrischende Brise wehte und es angenehm und gerade richtig war, und bald fühlte ich mich wieder wohl. Tom hatte währenddessen nachdenklich dagesessen, aber nun sprang er auf und sagte: »Ich will tausend gegen eins wetten, daß ich weiß, wo wir sind. Wir sind in der großen Sahara, das ist bombenklar.« Er war so aufgeregt, daß er nicht still stehen konnte. Aber ich war nicht aufgeregt und sagte: »Na also, wo ist denn die große Sahara? In England oder in Schottland?« »Weder noch: Sie ist in Afrika.« Jim riß die Augen auf und begann mit nicht endendem Interesse hinunterzustarren, denn dies war das Land, von wo seine -42-
Vorfahren hergekommen waren. Aber ich glaubte ihm das nur zur Hälfte. Denn es schien mir, solch eine schreckliche weite Reise hätten sie doch unmöglich machen können. Aber Tom war voll und ganz mit seiner Entdeckung beschäftigt, wie er es nannte, und er sagte, die Löwen und der Sand wären ein untrügliches Zeichen dafür, daß es die große Wüste sei. Er sagte, er hätte schon bemerkt, daß wir uns irgendwo über dem Land befinden mußten, noch ehe wir das Land sichteten, denn er hätte an etwas ganz Bestimmtes gedacht. Und als wir ihn fragten, was das wäre, da sagte er: »Diese Uhren. Das sind doch Chronometer. Ihr habt doch sicher schon darüber in Büchern von Seereisen gelesen. Die eine von ihnen zeigt an, wie spät es in Greenwich ist, und die andere zeigt uns die Zeit von St. Louis an, so, wie das auch meine Uhr tut. Als wir St. Louis verließen, war es auf dieser und auf meiner Uhr vier Uhr nachmittags, und es war zehn Uhr nachts auf der Uhr, die die Zeit von Greenwich anzeigt. Also, zu dieser Jahreszeit geht die Sonne um sieben Uhr unter. Gestern abend habe ich mir nun die Zeit notiert, als die Sonne unterging, und es war fünf Uhr dreißig nach der Zeit von Greenwich, und es war elf Uhr dreißig vormittags auf der anderen Uhr und auf meiner Uhr. Ihr seht nun, ich hatte bisher nach meiner Uhr beobachtet, wie die Sonne auf- und unterging, und die Uhr, die die Zeit von Greenwich anzeigt, war sechs Stunden voraus. Aber nun waren wir so weit nach Osten gekommen, daß die Uhr, die die Greenwich-Zeit anzeigt, sich dem Sonnenuntergange jetzt auf weniger als eineinhalb Stunden genähert hatte. Das hieß doch, daß wir uns dem Längengrad von Irland näherten und dieses Land bald erreichen würden, wenn wir den richtigen Kurs hätten, aber wir hatten ihn nicht. Nein, meine Herren, wir sind abgetrieben worden - abgetrieben weit nach Südosten -, und deshalb bin ich der Meinung, daß wir jetzt in Afrika sind. Schaut auf diese Karte. Da seht ihr, wie die Schulter von Afrika nach Westen herausragt. Nun denkt mal darüber nach, wie hoch -43-
unsere Geschwindigkeit war. Wenn wir geradewegs auf England zugeflogen wären, dann würde es jetzt bereits längst hinter uns liegen. Heute mittag werden wir alle genau aufpassen, und wenn wir sehen, daß kaum noch ein Schatten zu bemerken ist, dann wird auch die Uhr, die die Zeit von Greenwich anzeigt, mächtig nahe an die Zwölf herangekommen sein. Ja, meine Herren, ich meine, wir sind in Afrika, und ich finde das erstklassig.« Jim starrte durch das Fernglas hinunter. Er schüttelte seinen Kopf und sagte: »Massa Tom, ich denke mir, das ist alles ein Mißverständnis. Ich habe noch gar keine Neger gesehen!« »Das will nichts sagen. Sie leben nicht in der Wüste. Aber was ist das, dort hinten? Gebt mir ein Fernglas!« Er sah lange hindurch und sagte dann, da wäre etwas, das sich wie ein langes Band über den Sand hinzöge, aber er könne nicht feststellen, was es sei. »Na«, sagte ich, »ich nehme an, daß du vielleicht jetzt die Möglichkeit hast, festzustellen, wo sich der Ballon befindet, denn das wird doch wahrscheinlich eine der Linien sein, die man auf den Karten findet und die von dir Längengrade genannt werden, und wir brauchen bloß etwas tiefer hinunterzugehen und uns seine Nummer anzusehen und...« »Hör auf, Huck Finn! Ich habe noch niemals solch einen Blödian gesehen wie dich. Glaubst du denn, daß die Längengrade auf der Erde verzeichnet sind?« »Tom Sawyer, sie sind doch auf der Karte abgebildet, du weißt das ganz gut. Und hier kannst du jetzt einen mit eigenen Augen sehen.« »Natürlich sind sie auf der Landkarte abgebildet, aber das heißt doch nichts. Sie sind doch aber deshalb nicht auf der Erde vorhanden.« »Weißt du das ganz genau, Tom?« »Selbstverständlich.« -44-
»Also, dann hat die Landkarte wieder gelogen. Ich habe noch niemals solch einen Lügner wie die Landkarte erlebt!« Tom regte sich sehr darüber auf, und ich trug mein Bestes dazu bei, und auch Jim stand dabei nicht zurück, und in der nächsten Minute hätten wir uns vielleicht schon mit anderen Argumenten bedient, wenn Tom nicht das Fernglas hingeworfen und in die Hände geklatscht und geschrien hätte wie ein Wahnsinniger: »Kamele - Kamele!« Da griff ich nach dem Glas und Jim auch, und wir sahen hin, aber ich war enttäuscht und sagte: »Kamele, du Wurzelzwerg - das sind Spinnen!« »Spinnen in der Wüste, du Schwachkopf? Spinnen, die in einer langen Reihe marschieren? Du solltest mal ein bißchen nachdenken, Huck Finn, aber es scheint mir, daß du kein Organ zum Nachdenken hast. Weißt du denn nicht, daß wir über eine Meile hoch in der Luft sind und daß diese Schlange von Krabbeltieren zwei oder drei Meilen von uns entfernt ist? Spinnen - ach, du heiliger Strohsack! Spinnen, so groß wie Kühe! Vielleicht willst du hinuntergehen und eine von ihnen melken? Aber es sind Kamele und es bleiben Kamele! Es ist eine Karawane, und sie ist eine Meile lang.« »Na, dann wollen wir doch hinunter und sie uns ansehen. Ich glaube es nicht, und das wird so lange dauern, bis ich sie gesehen und mich überzeugt habe.« »In Ordnung«, sagte er und gab uns den Befehl: »Tiefer gehen!« Als wir dann in das heißere Klima hinunterkamen, da konnten wir sehen, daß es wirklich Kamele waren, eine endlose Reihe, die dort entlangschritten und mit großen Ballen beladen waren, und einige hundert Männer waren dabei, die lange weiße Gewänder trugen und so etwas wie einen Schal um ihre Köpfe gewickelt hatten, mit Troddeln und Fransen daran. Einige der -45-
Männer hatten lange Gewehre, und andere hatten keine, einige ritten, und andere gingen zu Fuß. Und das Klima - na, ich schmorte geradezu. Und wie langsam sie dort entlangkrochen. Wir stoppten plötzlich, etwa hundert Meter über ihren Köpfen. Die Männer stießen ein Geschrei aus, und einige von ihnen warfen sich platt auf den Bauch, andere aber begannen mit ihren Gewehren auf uns zu feuern, und der Rest stob in alle Richtungen auseinander und ebenfalls auch die Kamele. Wir sahen, daß wir sie in große Aufregung versetzt hatten, und so stiegen wir wieder etwa eine Meile auf, in das kühlere Klima, und beobachteten sie von dort aus. Es dauerte etwa eine Stunde, bis sie sich wieder zusammengefunden hatten und von neuem in der Marschordnung formierten. Dann brachen sie wieder auf, aber wir konnten durch unsere Ferngläser sehen, daß sie nichts anderem größere Aufmerksamkeit zollten als unserem Ballon. Wir folgten ihnen und betrachteten sie durch unsere Ferngläser. Plötzlich sahen wir einen großen Sandhügel und dahinter etwas, das so aussah wie Menschen, und irgend etwas, das wie ein Mann aussah, lag oben auf dem Hügel. Ab und zu hob er den Kopf und beobachtete die Karawane oder auch uns, das konnten wir nicht feststellen. Als die Karawane näher gekommen war, rutschte er auf der anderen Seite hinunter und lief schnell zu den anderen Männern und den Pferden - wie wir jetzt erkennen konnten -, und wir sahen sie in Eile aufsitzen, und da kamen sie auch schon herangesprengt wie die Feuerwehr, einige von ihnen waren mit Lanzen, andere mit Gewehren bewaffnet, und alle schrien so laut, wie sie nur konnten. Sie griffen die Karawane an, und in der nächsten Minute prallten die beiden Seiten aufeinander. Es gab ein wüstes Durcheinander, und es folgte ein solches Gewehrgeknatter, wie ihr es sicher noch nie gehört habt. Die Luft war voll Rauch, so daß wir nur wenig auf dem Kampfplatz erkennen konnten. Es waren wohl sicher sechshundert Männer, die in dieses Gefecht verwickelt waren, -46-
und es war furchtbar anzusehen. Dann lösten sie sich in einzelne Abteilungen und Gruppen auf, die einander bis auf das Messer bekämpften und immer wieder aufeinander losgingen. Wenn der Rauch sich etwas verzog, dann konnte man Tote und Verwundete und Kamele überall verstreut herumliegen sehen, und die vielen Kamele liefen wie toll in alle Richtungen davon. Endlich sahen die Räuber ein, daß sie nicht siegen würden, und so gab ihr Anführer ein Signal, und alle, die noch übrig waren, brachen den Kampf ab und sprengten in die Ebene hinaus davon. Der letzte von ihnen riß noch ein Kind an sich und warf es vor sich auf das Pferd, und eine Frau rannte ihm schreiend und flehend nach und folgte ihm weit in die Wüste hinaus, bis sie schon eine weite Strecke von ihren Leuten entfernt war. Aber es hatte alles keinen Zweck, und sie mußte aufgeben, und wir sahen sie im Sand zusammensinken und das Gesicht in den Händen verbergen. Da übernahm Tom das Steuer und jagte diesem Halunken nach, und wir schössen wie der Sturmwind auf ihn los und stießen ihn samt dem Kinde mit der Gondel aus dem Sattel. Er hatte einen ordentlichen Knuff abbekommen, aber das Kind war unverletzt und lag da und strampelte mit Händen und Beinen in der Luft wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und sich nicht mehr umdrehen kann. Der Mann lief humpelnd davon, um wieder sein Pferd zu ergattern, und wußte nicht, was ihn so umgestoßen hatte, denn wir waren bereits wieder drei- oder vierhundert Meter hoch in der Luft. Wir dachten uns, daß die Frau nun ihr Kind holen würde, aber sie tat es nicht. Wir konnten durch das Fernglas sehen, wie sie noch immer dort saß und den Kopf auf ihre Knie gesenkt hatte. So hatte sie natürlich nichts von dem Ereignis bemerkt und dachte nun, sie wäre ihr Kind für immer los. Sie war fast eine halbe Meile von ihren Leuten fort, und wir beschlossen daher, bei dem Kind zu landen, das etwa eine viertel Meile von ihr entfernt lag, und es ihr zu bringen, bevor die Leute von der -47-
Karawane uns erreichten und uns etwas antun konnten. Wir dachten, daß die Gelegenheit günstig sei, und so gingen wir ans Werk. Wir sausten nach unten und stoppten, und Jim kletterte die Leiter hinunter und packte den Jungen, der ein netter kleiner Kerl war und auch in einer prächtigen Stimmung zu sein schien, obwohl er gerade erst einem Kampf entronnen und vom Pferde gefallen war. Dann starteten wir wieder zur Mutter und hielten dicht bei ihr, und Jim kletterte hinunter und ging leise zu ihr, und als er mit dem Kinde dicht hinter ihr war, da kreischte das Kind, und sie hörte es, wendete sich um und stieß einen Freudenschrei aus. Sie sprang auf das Kind zu und nahm es und küßte es und ließ es fallen und küßte Jim, und dann nahm sie eine goldene Kette ab und hing sie Jim um den Hals und küßte ihn wieder und hob das Kind auf und drückte es gegen ihre Brust und schluchzte und jauchzte die ganze Zeit über. Und Jim eilte nach der Leiter und stieg herauf, und in einer Minute waren wir wieder hoch oben am Himmel, und die Frau starrte herauf, den Kopf ganz tief in den Nacken zurückgeworfen, und das Kind hatte ihr seine Arme um den Hals geschlungen. Und da stand sie und blickte uns so lange nach, bis wir am Himmel verschwunden waren.
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7 »Mittag«, sagte Tom, und so war es auch. Sein Schatten war gerade nur noch ein kleiner Fleck um seine Füße herum. Wir sahen auf die Uhr, welche die Zeit von Greenwich anzeigt, und es war kurz vor zwölf. Tom sagte, London wäre jetzt direkt nördlich oder südlich von uns, aber er nehme an aufgrund des Klimas, des Sandes und der Kamele, daß es nördlich sei und außerdem viele hübsche Meilchen von uns entfernt, so viele wie von New York nach der Stadt Mexiko, vermutete er. Jim sagte, er glaube, daß ein Luftschiff die schnellste Sache auf der Welt wäre, mit Ausnahme gewisser Arten von Vögeln, so zum Beispiel der wilden Taube, oder einer Eisenbahn. Aber Tom sagte, er hätte gelesen, daß in England die Eisenbahnen auf kurzen Strecken beinahe schon eine Geschwindigkeit von hundert Meilen in der Stunde erzielt hätten und daß es auf der ganzen Welt keinen Vogel gäbe, der das gleiche vollbringen könnte, mit einer Ausnahme - und das sei ein Floh. »Ein Floh? Aber Massa Tom, er ist genau gesagt erstens kein Vogel...« »Er ist kein Vogel? Na, was ist er denn?« »Ich weiß das nicht genau, Massa Tom, aber ich denke, er ist so eine Art von Tier. Nein, ich glaube, das wird er auch nicht richtig sein - denn für ein Tier ist er wohl nicht groß genug. Er muß wohl ein Käfer sein. Jawoll, das ist er, er ist ein Käfer.« »Ich wette, er ist keiner, aber laß man. Was ist denn nun zweitens?« »Also zweitens sind Vögel Geschöpfe, die sehr lange Wege machen können. Aber ein Floh kann das nicht.« »Er kann das nicht? Also komm, was ist denn nun eine weite -49-
Entfernung? Was glaubst du?« »Na, das sind Meilen, viele Meilen - das weiß doch jedes Kind.« »Kann ein Mensch meilenweit gehen?« »Jawoll, das kann er.« »So viele wie eine Eisenbahn?« »Jawoll, wenn man ihm Zeit läßt.« »Kann das ein Floh auch?« »Also, ich denke doch - wenn man ihm sehr viel Zeit gibt.« »Nun beginnst du endlich zu begreifen, daß die Entfernung nicht das Entscheidende ist, sondern die Zeit, die man braucht, um die Entfernung zurückzulegen, nicht wahr?« »Na gut, das scheint mir auch so, Massa Tom. Aber ich hätte es nicht geglaubt.« »Es kommt immer auf das Verhältnis an, das ist das Entscheidende. Wenn du die Schnelligkeit eines Wesens mit seiner Größe vergleichst, wo bleiben dann dein Vogel und dein Mensch und deine Eisenbahn verglichen mit einem Floh? Der schnellste Mensch kann laufend nicht mehr als zehn Meilen in einer Stunde zurücklegen, nicht mehr als das Zehntausendfache seiner eigenen Länge. Aber alle Bücher berichten, daß ein ganz gemeiner und ganz gewöhnlicher drittklassiger Floh hundertfünfzigmal so weit springen kann, wie er selbst groß ist. Und in einer Sekunde kann er fünf Sprünge machen - das ist das Siebenhundertfünfzigfache seiner eigenen Länge in einer einzigen kleinen Sekunde, denn er verliert keine Zeit damit, daß er anhält und wartet. Das macht er beides zur gleichen Zeit. Ihr könnt das selbst sehen, wenn ihr versucht, einen Floh unter eure Finger zu bekommen. Also das leistet ein ganz gemeiner drittklassiger Floh. Aber wenn ihr mal einen erstklassigen italienischen nehmt, der sein Leben lang der Schrecken der Aristokratie gewesen ist und der niemals Not, Krankheit oder -50-
Hunger kennengelernt hat, der kann mehr als dreihundertmal seine eigene Länge überspringen und hält fünf Sprünge in der Sekunde - fünfzehnhundertmal seine eigene Länge, den ganzen Tag lang aus. Also, angenommen ein Mann könnte fünfzehnhundertmal seine eigene Länge in der Sekunde zurücklegen - das wären ja eineinhalb Meilen. Das sind neunzig Meilen in einer Minute, das sind bedeutend mehr als fünftausend Meilen in einer Stunde. Na, wo bleibt dein Mensch da? Und dein Vogel und deine Eisenbahn und dein Luftschiff? Verglichen mit einem Floh leisten sie nichts. Ein Floh ist dagegen geradezu ein Komet im Kleinen.« Jim war mächtig erstaunt und ebenso auch ich. Jim sagte: »Sind diese Angaben auch wirklich genau und kein Spaß und kein Schwindel, Massa Tom?« »Ja, sie sind wirklich genau!« »Also dann, mein Lieber, allen Respekt vor einem Floh. Ich habe früher nie Respekt vor Flöhen gehabt - aber sie verdienen es, ganz bestimmt!« »Natürlich verdienen sie es. Flöhe haben mehr Verstand, Gehirn und Vernunft, im Vergleich zu ihrer Größe, als irgendein anderes Geschöpf auf der Welt. Man kann sie viele Dinge lehren, und sie lernen es auch schneller als jedes andere Wesen. Sie lernen im Geschirr kleine Wagen ziehen und dahin und dorthin marschieren, genau wie man es ihnen befiehlt. Ja, sie marschieren und exerzieren wie Soldaten, und sie machen das ganz exakt und folgen den Befehlen, so wie es die Soldaten tun. Sie können alle Arten von anstrengenden und schwierigen Sachen lernen. Angenommen, man könnte einen Floh züchten, der die Größe eines Menschen hätte, und seine ihm eigene Intelligenz und sein Scharfsinn wüchsen und wüchsen in dem gleichen Verhältnis, wo würde da die Menschheit bleiben, was meint ihr? Dieser Floh würde Präsident der Vereinigten Staaten sein, und ihr würdet es nicht verhindern können, genausowenig -51-
wie ihr verhindern könnt, daß es blitzt.« »Du grüne Neune, Massa Tom! Ich hatte ja keine Ahnung, daß der Floh so ein bedeutendes Tier ist. Das ist mir tatsächlich niemals in den Sinn gekommen.« »Im Verhältnis zu seiner Größe überragt er bei weitem jedes andere Geschöpf, Mensch oder Tier. Von allen ist er der Interessanteste. Die Leute reden viel über die Stärke der Ameise und des Elefanten und einer Lokomotive. Aber sie denken dabei nie an den Floh. Er kann das Zwei- oder Dreihundertfache seines eigenen Gewichtes heben, und kein anderer kann das auch nur annähernd. Aber noch mehr! Er macht sich sogar seine eigenen Gedanken und ist sehr wählerisch, und man kann ihn nicht zum Narren halten. Sein Instinkt und sein Urteilsvermögen, oder was es sonst noch ist, sind vollkommen gesund und unbefangen, und er macht niemals einen Fehler. Die Leute denken, dem Floh sind alle Menschen gleich. Aber so ist das nicht. Da gibt es Leute, denen kommt er niemals nahe, ganz gleich, ob er hungrig oder nicht hungrig ist, und ich bin einer von diesen. Ich habe in meinem ganzen Leben niemals einen Floh gehabt.« »MassaTom!« »Es ist so. Ich spaße nicht.« »Na so etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch niemals gehört.« Jim wollte es nicht glauben, und ich konnte es auch nicht. So mußten wir denn den Ballon auf den Sand hinunterlassen und uns einen Vorrat von Flöhen besorgen, um es zu überprüfen. Tom hatte recht. Auf mich und Jim stürzten sie sich zu Tausenden, aber nicht einer von ihnen ging zu Tom. Es gab keine Erklärung dafür, aber es war so, darum konnte man nicht herumkommen. Tom sagte, es wäre schon immer so gewesen, und er würde sich, ohne zu zögern, sofort unter eine Million Flöhe begeben, denn sie würden ihn nicht anrühren noch sonst -52-
belästigen. Wir stiegen wieder in das kältere Klima zu einer Frostkur hinauf und blieben dort eine Weile und gingen dann wieder in das behaglichere Wetter hinab. Mit zwanzig oder fünfundzwanzig Meilen Stundengeschwindigkeit bummelten wir dann herum, so wie wir es schon in den letzten Stunden gemacht hatten. Der Grund dafür war folgender: Je länger wir in dieser feierlichen friedlichen Wüste uns aufhielten, desto mehr verwandelte sich unsere innere Unruhe und Hast in eine Art glücklichen und zufriedenen Gefühls, die Wüste gefiel uns immer besser, und dann fingen wir an, sie zu lieben. So hatten wir, wie ich schon sagte, die Geschwindigkeit stark herabgesetzt und konnten wunderbar faulenzen. Manchmal schauten wir durch die Ferngläser, manchmal legten wir uns auf die Behälterund lasen, und manchmal machten wir ein Schläfchen. Es war seltsam, denn kurz vorher hatten wir es noch sehr eilig gehabt, Land zu finden, wo wir niedergehen und das Luftschiff verlassen konnten. Aber das war nun vorbei - voll und ganz vorbei. Wir verstanden nun, mit dem Ballon umzugehen, und fürchteten uns nicht mehr und wünschten uns nun nicht mehr, woanders zu sein. Warum? Wir fühlten uns ganz wie zu Hause. Mir schien es geradezu so, als sei ich hier geboren und auf gewachsen, und Jim und Tom sagten das gleiche. Und ich hatte ja immer gehässige Menschen um mich gehabt, die ständig an mir herumnörgelten, die mich quälten und zankten und Fehler suchten und herumbrüllten und herzlos waren und mich schlugen. Und die mir alles nachtrugen und die bald dieses und jenes gemacht haben wollten und die von mir immer gerade die Dinge verlangten, die ich nicht gerne tat. Wenn ich mich dann drückte, wurde ich geprügelt, so daß ich mir oft wünschte, nicht mehr am Leben zu sein. Aber hier oben unter dem Himmel war es so ruhig und sonnig und lieblich, und es gab viel zu essen, und man konnte schlafen, soviel man wollte, und konnte fremdartige Dinge sehen, und niemand nörgelte und zankte, und -53-
keine braven Leute waren da, und man hatte die ganze Zeit Ferien. Du heiliger Bimbam! Ich hatte es nicht eilig auszusteigen und wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Eine der übelsten Sachen in der Zivilisation ist es, daß ein jeder, der einen ärgerlichen Brief bekommen hat, damit zu einem kommt, um alles darüber zu erzählen, daß einem ganz elend wird. Und die Zeitungen berichten euch alle Widerwärtigkeiten, die irgendwo auf der Welt passieren, so daß ihr niedergeschlagen und trübsinnig werdet, und das ist eine schwere Belastung für einen Menschen. Ich hasse diese Zeitungen, und ich hasse Briefe! Wenn es nach mir ginge, würde ich es niemandem erlauben, seinen Ärger auf andere Leute abzuladen, die er nicht kennt und die ganz woanders wohnen. Na gut, in einem Luftballon gibt es so etwas nicht, und deshalb ist er die beste Sache, die ich kenne. Wir aßen Abendbrot, und die Nacht war eine der schönsten Nächte, die ich je erlebt habe. Der Mond schien beinahe taghell, nur etwas sanfter, und einmal sahen wir einen Löwen, der ganz einsam dastand, und es schien, als ob er ganz allein auf der Erde wäre, und sein Schatten fiel auf den Sand wie ein schwarzer Tintenfleck. Es war ein herrliches Mondlicht. Meistens lagen wir auf dem Rücken und erzählten uns was, denn zum Schlafen hatten wir keine Lust. Tom sagte, daß wir jetzt mitten in Tausendundeiner Nacht seien. Es sei gerade hier gewesen, erzählte er, wo sich eine der durchtriebensten Geschichten aus diesem Buch abgespielt habe. Da blickten wir hinunter und paßten genau auf, während er davon erzählte, weil es nichts Interessanteres gibt, als eine Gegend zu sehen, über die in einem Buche berichtet wird. Es war eine Geschichte über einen Kameltreiber, der sein Kamel verloren hatte und der nun durch die Wüste lief und einen Mann traf und fragte: »Hast du heute ein umherstreunendes Kamel getroffen?« -54-
Und der Mann fragte: »War es auf seinem linken Auge blind?« »Ja.« »Hatte es einen von seinen oberen Vorderzähnen verloren?« »Ja.« »Lahmte es auf seinem rechten Hinterbein?« »Ja.« »War es auf der einen Seite mit Hirse und auf der anderen mit Honig beladen?« »Ja, aber du brauchst mir keine weiteren Einzelheiten mehr anzugeben. Es ist meins, und ich habe es eilig. Wo hast du es gesehen?« »Ich habe es gar nicht gesehen«, sagte der Mann. »Du hast es gar nicht gesehen? Wie kannst du es denn so genau beschreiben?« »Wenn jemand seine Augen zu benutzen weiß, dann hat alles eine sinnvolle Bedeutung für ihn. Aber die meisten Leute wissen mit ihren Augen nichts anzufangen. Ich erkannte, daß ein Kamel dort gelaufen war, weil ich seine Spur sah. Ich wußte, daß es auf dem rechten Hinterbein lahm war, weil es diesen Fuß geschont hatte und mit ihm nur leicht auf getreten war, wie man es an der Spur erkennen konnte. Ich erkannte, daß es auf seinem linken Auge blind war, weil es nur das Gras an der rechten Seite seines Weges abgefressen hatte. Ich sah, daß es einen seiner oberen Vorderzähne verloren hatte, weil man dort, wo es in das dichte Gras gebissen hatte, diese Zahnlücke erkannte. Die Hirse war an der einen Seite herabgerieselt, die Ameisen erzählten es mir, und der Honig war an der anderen Seite herabgetropft, die Fliegen sagten mir das. Ich weiß alles über dein Kamel, aber ich habe es nicht gesehen.« Jim sagte: »Weiter, Massa Tom. Das ist eine kolossal gute Geschichte -55-
und mächtig interessant.« »Das ist alles«, sagte Tom. »Alles«, fragte Jim erstaunt. »Was passierte denn mit dem Kamel?« »Ich weiß es nicht.« »Massa Tom, wird das nicht in der Geschichte gesagt?« »Nein.« Jim war eine Minute ganz verwirrt, dann sagte er: »Wahrhaftig! Das ist eine der verflixtesten Geschichten, die ich je gehört habe. Gerade an der Stelle, wo das Interesse so recht warm wird, da bricht sie ab. Warum, Massa Tom, hat man denn in eine Geschichte, die von so etwas handelt, keinen Sinn hineingelegt. Hat man denn nicht daran gedacht, wie der Mann das Kamel nun zurückbekommt oder nicht?« »Ich weiß es nicht.« Ich sah selbst ein, daß kein Sinn in der Geschichte war. Diese Art, plötzlich abzubrechen, bevor es zu etwas gekommen war, gefiel mir nicht. Aber ich wollte das lieber nicht sagen, weil ich Tom sehen konnte, der schon sauer wurde, weil Jim wieder auf die weiche Stelle in der Geschichte getippt hatte, und ich bin der Meinung, daß es nicht fair ist, wenn sich alle auf einen Burschen stürzen, der am Verlieren ist. Aber Tom drehte sich nach mir um und fragte: »Was denkst du über die Geschichte?« Da mußte ich tatsächlich damit herauskommen und machte auch wirklich reinen Tisch und sagte, daß es mir auch so schiene, genauso wie Jim, daß die Geschichte gerade in der Mitte abbräche und gar kein Ende hätte, und es wäre wirklich nicht der Mühe wert, sie zu erzählen. Tom ließ das Kinn auf seine Brust sinken, aber anstatt daß er verrückt spielte, wie ich erwartet hatte, als er mich auf diese Weise seine Geschichte tadeln hörte, schien er nur traurig zu -56-
werden und sagte: »Manche Leute können erkennen und manche können es nicht - gerade das hat der Mann gesagt. Laßt das Kamel! Aber selbst wenn ein Wirbelsturm hier vorbei käme, ihr Trottel würdet keine Spur davon bemerken.« Ich weiß nicht, was er damit meinte, und er sagte es auch nicht. Es war wieder eine seiner Sonderbarkeiten, glaube ich und er ist voll davon, besonders, wenn er in die Enge getrieben ist und keinen Weg mehr sieht, um wieder herauszukommen. Aber ich mache mir nichts daraus. Wir hatten ihn mit dieser Geschichte scharf genug in die Klemme gebracht, und an dieser Tatsache konnte er nichts ändern. Das brachte ihn in Verlegenheit, denke ich mir, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
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8 Wir frühstückten schon sehr früh am Morgen und schauten dann wieder in die Wüste hinunter, und das Wetter blieb immer so angenehm und schön, obwohl wir nicht sehr hoch oben waren. In der Wüste muß man nach Sonnenuntergang immer tiefer und tiefer hinabgehen, weil es sich oft schnell abkühlt, und so segelt man denn um die Zeit der Morgendämmerung knapp über dem Sande hinweg. Wir beobachteten den Schatten des Ballons, wie er über den Erdboden hinwegglitt, und ab und zu suchten wir auch die Wüste ab, um zu sehen, ob sich da irgend etwas regte, und dann blickten wir wieder auf den Schatten. Aber plötzlich sahen wir gerade unter uns eine Menge Männer und Kamele, die überall verstreut herumlagen und ganz ruhig waren, als ob sie schliefen. Wir hielten in unserer Fahrt inne, glitten etwas zurück und blieben gerade über ihnen stehen, und da sahen wir, daß sie alle tot waren. Kalte Schauer überliefen uns. Wir wurden auch sehr kleinlaut und sprachen leise, wie die Leute bei einer Beerdigung. Wir gingen langsam hinunter und hielten an, und ich und Tom kletterten runter und gingen zu ihnen. Da lagen Männer und Frauen und Kinder. Die Sonne hatte sie gedörrt, und sie sahen dunkel und eingeschrumpft und ledern aus wie Mumien, die ihr von Bildern aus Büchern kennt. Und trotzdem sahen sie ganz menschlich aus - ihr werdet es nicht glauben - geradeso als ob sie schliefen. Einige lagen auf dem Rücken im Sand, die Arme gespreizt, einige lagen auf der Seite, einige auf den Gesichtern und sahen ganz natürlich aus, obgleich manche etwas ungewöhnlich mit den Zähnen bleckten. Zwei oder drei saßen aufrecht. Ein Toter war eine Frau, die ihren Kopf vornübergeneigt hielt und die ein Kind auf ihrem Schoß liegen hatte. Ein Mann saß dort und hatte die Arme um seine Knie -58-
gelegt und starrte mit seinen toten Augen auf ein junges Mädchen, welches ausgestreckt vor ihm lag. Er sah so traurig aus, und es war ein mitleiderregender Anblick. Ihr werdet noch niemals einen solchen stillen Ort gesehen haben wie diesen. Der Tote hatte langes schwarzes Haar, das ihm an den Wangen hinabhing, und wenn eine leichte Brise kam, dann bewegte es sich und wehte im Wind. Es schauderte mich, wenn ich dies sah, denn es schien mir, als ob der Tote seinen Kopf bewegte. Einige von den Menschen und Tieren waren teilweise mit Sand bedeckt, die meisten von ihnen aber nicht, denn es gab nur eine dünne Sandschicht hier, und der Untergrund war steinig und hart. Die Kleidung war zum größten Teil schon verrottet, und die Körper waren teilweise nackt. Wenn man einen Fetzen der Lumpen anzufassen versuchte, zerfiel er bei der Berührung wie ein Spinnengewebe. Tom meinte, sie müßten wohl schon seit Jahren hier liegen. Einige der Männer hatten verrostete Gewehre bei sich, einige hatten Schwerter bei sich und Schals umgebunden, in denen lange silberbeschlagene Pistolen steckten. Alle Kamele trugen noch ihre Lasten, aber die Ballen waren geplatzt oder verrottet und ihr Inhalt lag auf dem Boden. Wir glaubten nicht, daß die Toten ihre Schwerter jemals wieder gebrauchen könnten, und so nahm sich jeder von uns eins und auch einige Pistolen. Wir nahmen auch ein kleines Kästchen, weil es so hübsch und gut gearbeitet war. Und dann wollten wir die Leute begraben, aber wir wußten nicht, wie wir es tun sollten, und uns fiel auch nichts ein, und mit Sand allein war es nicht zu machen, denn er wäre vom Wind gleich wieder fortgeblasen worden. Wir versuchten das arme Mädchen zu bedecken und legten als erstes einige Schals aus einem der geplatzten Ballen über sie. Aber als wir damit begannen, Sand darauf zu tun, wehte das Haar des Mannes wieder im Winde, und das erschreckte uns, und wir hörten auf. Es sah so aus, als ob er versuchen wollte, uns zu sagen, daß er es nicht wünsche, daß sie zugedeckt würde, weil er -59-
sie dann nicht mehr sehen könnte. Ich glaube, sie war seine Liebste und ohne sie würde er einsam gewesen sein. Dann stiegen wir wieder hoch in die Luft und segelten weiter, und schon bald war der schwarze Fleck auf dem Sand außer Sicht, und wir würden die armen Leute in dieser Welt wohl niemals wiedersehen. Wir dachten über sie nach und wunderten uns und stellten Vermutungen an und versuchten zu erraten, auf welche Weise sie dorthin gekommen waren und wie wohl alles geschehen war, aber wir konnten es nicht herauskriegen. Zuerst dachten wir, daß sie sich vielleicht verirrt hätten und herumgewandert seien, bis sie keine Nahrung und kein Wasser mehr hatten und sie verhungern und verdursten mußten. Aber Tom sagte, die Geier hätten sie nicht angerührt und deshalb wäre die Vermutung wohl falsch. So gaben wir es schließlich auf und beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, weil wir dadurch sehr niedergeschla gen waren. Dann öffneten wir das Kästchen, und es waren Edelsteine und Juwelen darin, ein ganzer Haufen, und einige kleine Schleier von der Art, wie sie die tote Frau getragen hatte, mit Fransen, an denen seltsame Goldmünzen hingen, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Wir überlegten uns, ob wir nicht lieber umkehren und alles zurückgeben sollten, aber Tom dachte darüber nach und sagte nein. Dies sei ein Land, das voller Räuber wäre, und sie würden eines Tages kommen und alles stehlen, und dann würden wir mit der Sünde beladen sein, daß wir sie in Versuchung geführt hätten. So setzten wir unseren Weg fort. Aber ich dachte mir, wenn wir ihnen doch lieber alles abgenommen hätten, dann hätte überhaupt niemand mehr in Versuchung kommen können. Wir waren nun scho n zwei Stunden dort unten in dem heißen Klima und waren schrecklich durstig, als wir wieder an Bord gingen. Wir stürzten uns sofort auf das Wasser, aber es war -60-
schlecht und bitter und außerdem so heiß, daß man sich damit beinahe den Mund verbrennen konnte. Wir konnten es nicht trinken. Es war Flußwasser aus dem Mississippi, das beste Wasser der Welt, und wir rührten den Bodensatz auf, um zu sehen, ob das helfen würde. Aber nein, der Schlamm war auch nicht besser als das Wasser. Also, so fürchterlich durstig waren wir vorher nicht gewesen, als uns jene verirrten Menschen interessierten. Aber jetzt waren wir es, und in dem Augenblick, als wir sahen, daß wir nichts zu trinken hatten, da waren wir mehr als durstig - fünfmal so durstig, als wir eine viertel Minute vorher gewesen waren. Es dauerte nicht lange, da hätten wir am liebsten unsere Mäuler offengehalten und wie die Hunde gehechelt. Tom sagte: »Seht euch mal scharf nach allen Seiten um, möglicherweise können wir eine Oase finden, oder unser Schicksal wird ungewiß sein.« Das machten wir dann auch. Wir suchten alles mit unseren Ferngläsern ab, bis unsere Arme so müde waren, daß wir sie nicht mehr halten konnten. Zwei Stunden - drei Stunden - wir starrten und starrten, aber nichts als Sand, Sand, Sand, und man konnte den flimmernden heißen Dunst darüber zittern sehen. Ja, meine Lieben, man weiß noch nicht, was wirklich Elend ist, bis man einmal so durstig gewesen ist, wie man nur sein kann, und sich dessen sicher ist, daß man niemals mehr irgendwelches Wasser zu sehen bekommen wird. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushallen, auf die glühendheiße Ebene hinauszusehen. Ich gab es auf und legte mich auf einen Behälter nieder. Aber plötzlich stieß Tom einen Schrei aus - und da sahen wir es: Ein großer und glänzender See, von Palmen umsäumt, die sich im Schlafe wiegten und die sich so zart und wunderbar im Wasser spiegelten, wie ihr es noch niemals gesehen habt. Das war ein herrlicher Anblick. Es war noch recht weit bis dorthin, aber was machte uns das aus? Wir gingen einfach auf eine -61-
Hundertmeilengeschwindigkeit und berechneten, daß wir etwa in sieben Minuten dort sein müßten. Aber der See blieb die ganze Zeit über immer in derselben Entfernung, und wir konnten ihn nicht erreichen. Tatsächlich blieb er immer weit weg, und er glänzte und sah aus wie ein Traumgebilde. Aber näher kamen wir nicht, und schließlich - ganz plötzlich war der See verschwunden. Tom machte große Augen und sagte: »Jungens, das war eine Fata Morgana.« Er sagte das so, als ob es ihn freute. Ich sah aber nichts, worüber man sich freuen konnte, und sagte: »Kann sein. Aber es ist mir ganz gleichgültig, wie der See heißt. Aber eins möchte ich wissen: Wo ist er geblieben?« Jim zitterte an allen Gliedern und war so erschrocken, daß er nicht sprechen konnte. Aber ich sah ihm an, daß er dieselbe Frage gestellt hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Tom sagte: »Wo er geblieben ist? Ihr seht doch selbst, daß er verschwunden ist.« »Ja, das weiß ich, aber wohin ist er verschwunden?« Er maß mich von oben bis unten und sagte: »Also denn, Huck Finn, wo wird er wohl geblieben sein? Weißt du denn nicht, was eine Fata Morgana ist?« »Nein, das weiß ich nicht. Was ist das denn?« »Es ist nichts anderes als eine Einbildung. Da ist überhaupt nichts dahinter.« Es ärgerte mich ein bißchen, ihn so reden zu hören, und ich sagte: »Was soll uns das nützen, daß du solch einen Blödsinn erzählst, Tom Sawyer. Habe ich denn nicht den See gesehen?« »Ja, du dachtest, daß du ihn siehst!« »Ich habe ganz und gar nichts gedacht. Ich habe ihn gesehen.« -62-
»Ich sage dir, du hast ihn nicht gesehen, weil dort überhaupt nichts da war.« Jim war sehr verwundert, ihn so reden zu hören. Er konnte nicht länger schweigen und sagte gequält und zurechtweisend: »Massa Tom, bitte sage nicht solche Sachen in dieser schrecklichen Lage. Du riskierst doch nicht nur deine eigene Haut, sondern auch unsere wird zu Markte getragen, genauso wie es Anna Nias und Suffira erging. Der See war doch da - ich habe ihn doch genauso gesehen, so wie ich dich und Huck in diesem Augenblick sehe.« Ich sagte: »Na, was denn? Tom hat ihn doch selbst gesehen. Er war doch derjenige, der ihn entdeckte. Na also!« »Ja, Massa Tom, so ist es. Du kannst das nicht abstreiten. Wir haben ihn alle gesehen, und das beweist, daß er da war.« »Beweist! Wieso beweist es das?« »Auf dieselbe Art, wie man das überall vor Gericht tut, Massa Tom. Irgend jemand könnte betrunken sein oder träumen oder sonstwie im Tran sein, und er könnte sich irren, und auch zwei könnten es vielleicht. Aber ich sage dir, wenn drei etwas sehen, betrunken oder nüchtern, dann hat das seine Richtigkeit. Dagegen kannst du nichts sagen, und du weißt das, Massa Tom.« »Ich weiß nichts davon. Da hat es mal vierzigtausend Millionen Menschen gegeben, die haben alle gesehen, daß Tag für Tag die Sonne von der einen Seite des Himmels zur anderen Seite wanderte. Beweist denn das nun, daß die Sonne dies wirklich tut?« »Natürlich beweist es das. Und außerdem gibt es doch da nichts zu beweisen. Wenn jemand auch nur ein bißchen Verstand hat, wie kann er dann daran zweifeln? Da, seht sie euch an - da segelt sie doch über den Himmel, so wie sie das jeden Tag tut.« -63-
Tom wandte sich zu mir und sagte: »Was sagst du denn dazu? Steht die Sonne still?« »Tom Sawyer, was hat das für einen Zweck, solch eine dumme Frage zu stellen? Jeder, der nicht blind ist, kann doch sehen, daß sie nicht stillsteht.« »Na gut«, sagte er. »Da ist man nun allein hoch oben im Himmel ohne Gesellschaft, außer einem Paar schwachköpfiger Esel, die nicht mehr wissen, als ein Universitätsrektor vor drei oder vierhundert Jahren. Ja, es hat sogar Päpste gegeben, Huck Finn, die dasselbe geglaubt haben wie ihr.« Das war nicht mehr fair, und ich gab ihm das zu verstehen und sagte: »Dreckschleudern ist kein Argument, Tom Sawyer.« »Wer schleudert Dreck?« »Du tust es!« »Niemals. Ich glaube, es ist keine Schande, wenn ich so einen Hohlkopf aus den Hinterwäldern von Missouri, wie du es bist, mit einem Papst vergleiche, mit einem der am meisten verehrten Menschen, die jemals auf einem Thron gesessen haben. Das ist eine Ehre für dich, du Kaulquappe! Die Päpste sind Leute, die hart zuschlagen können, und du kannst sie nicht einmal dafür tadeln, wenn sie ihren Bannfluch über diese Frage ausgesprochen haben, höchstens, wenn sie es nicht gemacht hätten. Allerdings haben sie es nicht erst jetzt getan, meine ich.« »Haben sie das denn schon immer getan, Tom?« »Im Mittelalter war das ihre tägliche Beschäftigung.« »Nein, du meinst doch wirklich nicht, daß sie geflucht haben?« Das war wieder Wasser auf seine Mühle, und er setzte zu einer ordentlichen Ansprache an, denn das war seine Art, wenn er spürte, daß sein Hafer zu wachsen begann. Es war recht schwierig, ihm zu folgen, denn es war eine richtige -64-
Büchersprache, in der er redete, und er gebrauchte Wörter, die ich noch niemals benutzt hatte. »Ja, das taten sie. Ich meine damit natürlich nicht, daß sie so herumgingen und alle beschuldigten, wie Ben Miller es immer getan hat, und die Flüche in derselben Weise benutzten, wie er es tat. Nein! Sie gebrauchten zwar die gleichen Wörter, aber sie drückten sich anders aus, denn sie hatten dies bei den besten Lehrern gelernt und sie wußten, wie man es machen mußte; was Ben Miller nicht wußte, weil er nur hier und da etwas aufgeschnappt hatte, aber niemals einen dafür zuständigen Menschen kannte, von dem er es hätte lernen können. Aber sie wußten es. Das war kein leichtfertiges Fluchen, wie Ben Miller es machte, der mit irgend etwas begann und wobei nichts herauskam - das war ein wissenschaftliches und systematisches Verfluchen. Das war sehr ernst und feierlich und schrecklich nicht so eine Sache, wo du einfach aufstehen und darüber lachen kannst, wie die Leute es immer machen, wenn der arme unwissende Ben Miller in Fahrt ist. Und warum tun sie es? Weil Ben Miller einer ist, der ununterbrochen über jemanden eine Woche lang fluchen kann, und es kommt nicht mehr dabei heraus, als wenn eine Gans schnattert. Aber es war eine kolossal andere Sache, wenn im Mittelalter ein Papst, der es gelernt hatte, Bannflüche auszusprechen, damit anfing, einen König zu verfluchen oder ein Königreich oder einen Ketzer oder einen Juden oder jedermann, der sich unbefriedigend verhalten hatte und wieder geradegebogen werden mußte. Der Papst ging da nicht einfach ohne Umschweife an die Geschichte heran, nein, er nahm sich den König oder die andere Person vor und begann von oben an und verfluchte ihn der Länge nach an allen Gliedern. Er verfluchte die Haare auf seinem Kopf und die Knochen seines Schädels und das Hörvermögen seiner Ohren und die Sehkraft seiner Augen und die Atmung seiner Nasenlöcher und seine Lebenskraft und seine Adern und seine Glieder und seine Füße und seine Hände und das Blut und das -65-
Fleisch und die Knochen und den ganzen Körper. Und er verfluchte seine Liebschaften und seine Freundschaften, und er ließ überall in der Welt über ihn nachforschen und verfluchte jeden, der ihm einmal zu essen gegeben oder Unterkunft und Nachtlager geboten hatte oder Trinkwasser oder Lumpen, um sich zu bedecken, wenn er fror. Du heiliges Kanone nrohr! Das war ein Fluchen, über das es wert ist zu reden. Es war das einzige wirkliche Verfluchen, das es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Für den Mann, den es traf, wäre es vierzigmal besser gewesen, tot zu sein. Ben Miller! Schon der Gedanke daran, daß er verfluchen könnte, ist lächerlich! Der ärmste Bischof im Lande, der kaum ein Pferd besaß, konnte im Mittelalter alles um sich herum verfluchen. Heutzutage kennen wir solch ein wirkliches Fluchen gar nicht mehr.« »Na schön«, sagte ich, »du brauchst darüber nicht traurig zu sein, wir können es verschmerzen. Kann ein Bischof denn jetzt nicht mehr auf die Art fluchen, wie sie es früher getan haben?« »Doch, sie lernen es, weil es ein Teil der Lehren ist, die zu ihrem Beruf gehören, aber trotzdem können sie nicht mehr Gebrauch davon machen als ein Mädchen aus Missouri von der französischen Sprache. Sie lernen es zwar, denn ein MissouriMädchen, das nicht französisch kann, und ein Bischof, der nicht verfluchen kann, sind für ihre Gesellschaftskreise nicht brauchbar.« »Fluchen sie denn jetzt gar nicht mehr, Tom?« »Das nicht, aber doch sehr selten. Vielleicht machen sie es noch in Peru, bei Leuten, die noch nichts davon wissen, daß sie ausgespielt haben, aber sie erreichen damit nicht viel mehr als Ben Miller auf seine Art. Das ist so, weil die Menschen heute so weit vorangekommen sind, daß sie jetzt schon soviel wissen wie die Heuschrecken im Mittelalter.« »Die Heuschrecken?« »Ja, im Mittelalter haben die Heuschrecken in Frankreich die -66-
Ernte aufgefressen, und der Bischof eilte auf die Felder und setzte ein feierliches Gesicht auf und sprach seinen besten und massivsten Bannfluch über sie aus. Genauso wie sie es mit einem Juden oder einem Ketzer oder einem König machten, wie ich dir schon erzählt habe.« »Und was machten da die Heuschrecken, Tom?« »Sie husteten darauf, kümmerten sich nicht drum und fraßen die ganze Ernte auf, auf die gleiche Weise, wie sie es vorher getan hatten. Der Unterschied zwischen einem Menschen und einer Heuschrecke im Mittelalter war, daß die Heuschrecke nicht so hirnverbrannt war.« »Ach, du meine Güte! Ach du meine Güte! Da ist der See wieder«, schrie Jim in diesem Augenblick. »Nun, Massa Tom, was hast du nun zu sagen?« Ja Leute, da war der See wieder, ganz hinten am Rande der Wüste, vollkommen klar, mit Bäumen und allem anderen, so, wie wir ihn schon vorher gesehen hatten. Ich sagte: »Ich nehme an, du bist nun überzeugt, Tom Sawyer!« Aber er sagte völlig ruhig: »Ja, ich bin überzeugt, daß es dort gar keinen See gibt.« Jim sagte: »Rede nicht so was, Massa Tom. Es schaudert mich, wenn ich so etwas höre. Es ist so heiß, und du bist so durstig, und dir ist wahrscheinlich nicht ganz wohl, Massa Tom. Ach, sieht der See schön aus! Ich kann es gar nicht mehr abwarten, bis wir da sind. Ich bin doch so durstig.« »Aber du wirst warten müssen, und du wirst auch nicht viel Freude daran haben, denn es ist gar kein See, das kann ich dir versichern.« Ich sagte: »Jim, laß den See nicht mehr aus dem Auge, und ich werde es auch nicht tun.« »Ich lasse ihn nicht aus dem Auge. Und wenn ich es auch wollte, ich könnte es gar nicht.« -67-
Wir rasten geradewegs auf den See zu und ließen die Meilen hinter uns, als bedeuteten sie nichts, aber wir kamen ihm nicht einen Zoll näher - und plötzlich, da war er wieder weg. Jim schwankte und wäre beinahe hingefallen. Als er wieder zu Atem kam, schnappte er wie ein Fisch nach Luft und sagte: »Massa Tom, es ist eine Geistererscheinung. So ist es! Ich hoffe zu Gott, daß wir ihn nie wieder sehen. Da war ein See, und irgend etwas geschah mit ihm, und der See war tot, und wir haben seinen Geist gesehen. Wir haben ihn zweimal gesehen, und das ist ein Beweis. Die Wüste ist behext - sie ist sicher behext. Oh, Massa Tom, laß uns fort von hier, ich würde lieber sterben, als daß uns die Nacht hie r wieder überfällt und der Geist von dem See kommt und gespenstert um uns herum, wenn wir schlafen und gar nicht wissen, in was für einer Gefahr wir sind.« »Ein Geist, du komiseher Vogel! Es gibt hier nichts anderes als Luft und Hitze und Durst, die zusammen mit unserer Einbildungskraft so etwas erzeugen. Wenn ich... gib mir das Fernglas!« Er nahm es und beobachtete den Horizont rechts von uns. »Es ist ein Vogelschwarm«, sagte er. »Er bewegt sich nach Sonnenuntergang zu und wird irgendwo unseren Kurs kreuze n. Sie haben es eilig - vielleicht suchen sie Nahrung oder Wasser oder beides zugleich. Etwas mehr Steuerbord! Werft das Steuer herum! Und etwas tiefer gehen. So, da bleiben wir, nun geradeaus.« Wir setzten die Fluggeschwindigkeit etwas herunter, um nicht mit den Vögeln zusammenzutreffen, und jagten ihnen dann nach. Wir flogen immer etwa eine viertel Meile hinter ihnen, und als wir ihnen eineinhalb Stunden gefolgt waren, waren wir doch recht mutlos geworden und so durstig, daß es geradezu unerträglich war, und Tom sagte: -68-
»Einer von euch kann mal das Fernglas nehmen und sich ansehen, was gerade vor den Vögeln ist.« Jim riskierte den ersten Blick und sank völlig erschöpft auf einen der Behälter nieder. Er weinte fast, als er sagte: »Da ist er wieder, Massa Tom - da ist er wieder, und nun weiß ich, daß ich sterben muß, denn wenn jemand dreimal einen Geist sieht, dann ist es aus mit ihm. Ich wünschte, ich wäre nie in diesen Ballon gekommen, aber ich hab' es nun mal getan.« Er wollte nichts weiter sehen, und auch ich fürchtete mich bei dem, was er sagte, weil ich wußte, daß er etwas Wahres gesagt hatte, denn mit Geistern war es seit jeher so. So wollte ich denn auch nichts mehr sehen. Wir beide flehten Tom an, doch umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen, aber er sagte, wir wären unwissende und abergläubische Hohlköpfe. Jawohl! Aber das wird ihm noch eines Tages sauer aufstoßen, dachte ich bei mir selbst, wenn er die Geister auf solche Weise beleidigt. Vielleicht werden sie es sich eine Zeitlang mit ansehen, aber sie werden es sich nicht immer gefallen lassen, denn jeder, der etwas mit Geistern Bescheid weiß, weiß auch, wie empfindlich und wie rachsüchtig sie sind. So waren wir alle ruhig. Jim und ich waren verängstigt, und Tom hatte zu tun. Nach einer Weile hielt er den Ballon an und sagte: »Na, nun mal hoch mit euch und schaut hinaus, ihr Schlauköpfe!« Wir taten es, und da war das Wasser ganz richtig gerade unter uns! Klar und blau und kühl und tief und von einer Brise gekräuselt, der schönste Anblick, den wir jemals genossen hatten. Und rundherum waren die Ufer mit Gras bewachsen und Blumen, und in schattigen Hainen von großen Bäumen rankten Weinreben. Und alles sah so friedlich und so gemütlich aus, daß man weinen konnte, so herrlich war es. Jim weinte wirklich und sprang dann auf und tanzte und weinte dann wieder, so dankbar und so außer sich vor Freude -69-
war er. Ich hatte die Wache und mußte daher an Bord bleiben, aber Tom und Jim kletterten hinunter und tranken jeder ein ganzes Faß und ließen auch mir ein Maß voll zukommen. Ich habe in meinem Leben von mancher guten Sache gekostet, aber nichts, was jemals mit diesem Wasser vergleichbar wäre. Dann gingen beide schwimmen, und anschließend kam Tom herauf und löste mich ab, und ich und Jim konnten nun schwimmen, und dann löste Jim Tom ab, und ich und Tom veranstalteten ein Wettrennen und einen Boxkampf, und ich glaube, ich habe mich noch niemals in meinem Leben so wohl gefühlt. Es war gar nicht so sehr heiß, weil es schon beinahe Abend war, und wir hatten uns auch völlig ausgezogen. Kleidung ist ganz gut in der Schule und in den Städten und auch auf Bällen, aber hier hatte sie gar keinen Sinn, weil es hier rundherum keine Zivilisation oder andere Art von Menschenschinderei gab. »Löwen kommen - Löwen«, schrie Jim plötzlich. »Schnell, Massa Tom. Lauf um dein Leben, Huck!« Oh, und wie wir liefen! Wir dachten nicht an unsere Kleider, sondern kletterten die Strickleiter hoch, so wie wir waren. Jim hatte völlig den Kopf verloren - das geht ihm immer so, wenn er aufgeregt wird und sich fürchtet. Und so war es jetzt! Anstatt die Leiter vom Erdboden hochzuziehen, so daß die Bestien sie nicht mehr erreichen konnten, vollführte er einen Gewaltakt und sauste mit uns hoch empor, und da baumelten wir dann oben am Himmel, ehe er wieder seinen Verstand beisammen hatte und sah, was für ein verrücktes Ding er da wieder gedreht hatte. Er stoppte ab, aber er hatte völlig vergessen, was er nun als nächstes zu tun hatte. Da hingen wir nun so hoch in der Luft, daß die Löwen wie Schoßhündche n aussahen, und wir wurden vom Winde geschaukelt. Aber Tom klomm hinauf und machte sich daran, wieder etwas tiefer zu gehen und nach dem See zurückzufahren, wo die Bestien sich versammelt hatten, als fände dort ein Treffen der Naturfreunde statt. Ich nahm an, Tom hätte auch seinen Kopf -70-
verloren, denn er mußte doch wissen, daß ich mich viel zu sehr fürchtete, um hochzuklettern. Wollte er mich denn mitten unter die Löwen fallen lassen? Aber nein - sein Kopf war noch in Ordnung - er wußte ganz genau, was er tat. Er ging tiefer, so etwa dreißig bis vierzig Fuß über den See und hielt gerade über seiner Mitte und rief: »Los, laß dich fallen!« Das tat ich und sauste mit den Füßen zuerst hinunter, und es kam mir vor, als ob ich eine Meile tief tauchte, ehe ich den Grund fühlte, und als ich wieder hoch kam, sagte Tom: »Nun lege dich auf den Rücken und laß dich treiben, bis du dich erholt und deinen Mut wiedergefunden hast. Dann werde ich die Leiter ins Wasser runterlassen, und du kannst an Bord klettern.« Das machte ich dann auch. Das Ganze war von Tom wieder sehr schlau ausgedacht, denn wenn er irgendwo anders hingesegelt und über dem Sand hinuntergegangen wäre, wäre die ganze Menagerie auch dorthin gelaufen und hätte uns von neuem gezwungen, nach einem sicheren Plätzchen zu suchen, bis mir schwindelig geworden und ich hinuntergefallen wäre. Während dieser ganzen Zeit sortierten die Löwen und Leoparden unsere Kleider und versuchten sie aufzuteilen, so daß jeder etwas davon bekäme. Aber es gab ständig Meinungsverschiedenheiten zwischen einigen von ihnen, weil manche versuchten, sich mehr davon anzueignen als ihnen zustand, und die Empörung bei den anderen war darüber groß. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen! Es müssen mindestens fünfzig gewesen sein, alle in einem wilden Durcheinander, fauchend und brüllend und schnappend und beißend und um sich schlagend. Beine und Schwänze ragten in die Luft, und man konnte nicht mehr unterscheiden, was zu wem gehörte, und der Sand und die Haare flogen herum. Und als sie endlich fertig waren, da waren einige tot und andere humpelten -71-
verletzt davon, und der Rest saß auf dem Schlachtfeld herum. Manche leckten ihre Wunden, und die anderen sahen zu uns herauf, als ob sie uns einladen wollten, herunterzukommen, um mit uns etwas zu spaßen. Aber dafür hatten wir kein Verständnis. Von den Kleidungsstücken war nichts, aber auch gar nichts mehr übriggeblieben. Sogar das letzte Stückchen Lumpen befand sich im Magen der Bestien. Aber sie werden ihnen wohl nicht sehr gut bekommen sein, glaube ich, denn es waren sehr viele Messingknöpfe daran, und in den Taschen waren Messer und Rauchtabak und Nägel und Kreide und Murmeln und Angelhaken und anderes. Aber meine Sorge sollte das nicht sein. Das einzige, was mich bedrückte, war, daß wir jetzt nur noch des Professors Kleidung hatten. Die Auswahl war groß genug, aber es war nichts Passendes da, um sich damit in Gesellschaft zu begeben, falls wir einer begegnet wären. Die Hosen waren so lang wie Tunnels, und die Röcke und anderen Sachen waren dementsprechend. Auf jeden Fall wurde da ein Schneider gebraucht, und Jim verstand etwas von dem Schneiderhandwerk, und er eröffnete uns, daß er wohl bald einen oder zwei Anzüge für uns passend zurechtstutzen könnte, mit denen wir vorerst auskämen.
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9 Doch wir hatten noch einen anderen Grund, um dort, wo wir waren, noch eine Weile zu bleiben. Das meiste von des Professors Vorrat an Lebensmitteln bestand aus einer neuen Art von Büchsenkonserven, die gerade jemand erfunden hatte, der Rest war frisches Fleisch. Wenn man ein Beefsteak aus Missouri nach der großen Sahara mitnimmt, so muß man sich ganz besonders danach richten und in dem kühleren Klima bleiben. Unser Fleisch war ganz in Ordnung bis zu der Zeit, wo wir so lange bei den toten Leuten unten am Boden blieben. Die Hitze hatte gewirkt, und das Beefsteak war so anrüchig geworden, daß es wohl gerade das Richtige für einen Engländer wäre, sagte Tom, aber für einen Amerikaner sei es doch wohl zu streng im Geschmack. So dachten wir, daß wir noch einmal die Löwenversammlung besuchen sollten, um zu sehen, was da zu machen wäre. Wir zogen die Leiter ein und gingen tiefer hinunter, bis wir dicht über den Tieren waren. Dann ließen wir ein Seil mit einer Schlinge runter und hievten einen toten Löwen herauf, einen von den kleineren zarten, und dann holten wir uns noch einen jungen Leoparden nach oben. Wir mußten die Versammlung mit dem Revolver in Schach halten, sonst hätten sie wohl an unseren Arbeiten teilgenommen und uns geholfen. Wir schnitten uns von beiden Tieren einen Vorrat ab, zogen ihnen die Felle ab und warfen den Rest über Bord. Dann beköderten wir einige von des Professors Angelhaken mit frischem Fleisch und begannen zu fischen. Wir standen gerade in der richtigen Entfernung über dem Wasser und fingen eine Menge der besten Fische, die man sich denken kann. Es war ein ganz herrliches Abendessen, das wir nachher hatten, Löwenund Leopardensteak, gebratener Fisch und heiße Maiskuchen. -73-
Was Besseres kann man sich gar nicht wünschen. Einige Früchte beendeten unser Mahl! Wir holten sie uns aus der Krone eines ungeheuer großen Baumes. Es war ein sehr schlanker Baum, der vom Fuß bis zur Spitze nicht einen einzigen Zweig hatte, aber oben ging er auseinander wie ein Staubwedel aus Federn. Es war natürlich eine Palme. Von den Abbildungen her erkennt jeder eine Palme schon in der ersten Minute, wenn er sie sieht. Wir suchten auf dieser nach Kokosnüssen, aber sie hatte keine. Es gab da nur große lockere Bündel von Früchten, die wie übergroße Weintrauben aussahen, und Tom erklärte, das seien Datteln, weil, so sagte er, die Beschreibungen aus Tausendundeine Nacht und anderen Büchern genau auf sie paßten. Natürlich konnten es welche sein, aber sie konnten auch giftig sein, und so warteten wir denn eine Weile und beobachteten, ob die Vögel von diesen Früchten äßen. Sie taten es, und so machten wir es auch, und die Früchte schmeckten außerordentlich gut. Währenddessen kamen ungeheuer große Vögel angeflogen und ließen sich auf die toten Tiere nieder. Sie waren freche Geschöpfe und zerrten an dem einen Ende eines Löwenkadavers, während an dem anderen noch ein Löwe nagte. Wenn der Löwe den Vogel wegjagte, half das auch wenig, denn er war in dem Augenblick schon zurück, in dem der Löwe wieder zu fressen anfing. Die großen Vögel kamen aus allen Himmelsrichtungen. Man konnte sie schon mit dem Fernglas erkennen, während sie noch so weit weg waren, daß man sie nicht mit dem bloßen Auge sehen konnte. Das Fleisch der toten Tiere war zu frisch, um bereits irgendeinen Geruch auszuströmen, aber trotzdem mußte irgend etwas die Vögel auf fünf Meilen hin anlocken. Tom sagte, es wäre nicht der Geruch, der die Vögel das Fleisch finden ließe, sondern sie würden es mit ihren scharfen Augen sehen. Na, das waren Augen, die hättet ihr haben müssen! Tom sagte, daß diese Stelle mit den toten Löwen auf die Entfernung -74-
von fünf Meilen nicht größer aussehen könnte als ein Fingernagel, und er könnte sich nicht vorstellen, wie die Vögel solch eine kleine Sache aus einer so großen Entfernung bemerken könnten. Es war seltsam und unnatürlich anzusehen, wie ein Löwe den anderen fraß, und wir dachten uns, vielleicht seien sie nicht miteinander verwandt. Aber Jim sagte, das mache keinen Unterschied. Er sagte, ein Schwein fräße auch seine eigenen Kinder, und eine Spinne mache es ebenso, und er glaube, daß ein Löwe möglicherweise beinahe ebensowenig Grundsätze habe, wenn auch vielleicht nicht ganz so arg. Er denke, wahrscheinlich würde ein Löwe nicht seinen eigenen Vater verspeisen - wenn er wüßte, daß er es sei, aber er glaube doch, daß er wohl seinen Schwager verzehren würde, wenn er gerade besonders hungrig sei, und seine Schwiegermutter würde er jederzeit fressen. Aber das waren nur Vermutungen. Du glaubst, die Kuh kommt zu einer bestimmten Zeit nach Hause, aber ob sie es wirklich tut, bleibt noch dahingestellt. So gaben wir die Sache auf und beschäftigten uns nicht mehr damit. Im allgemeinen war es recht still in den Wüstennächten, aber dieses Mal hatten wir Musik. Eine Menge anderer Tiere kam noch zum Abendessen. Schleichend e Kläffer, die, wie Tom erklärte, Schakale waren, und bucklige, von denen er sagte, daß es Hyänen seien. Und die ganze Gesellschaft machte einen unaufhörlichen Lärm. Das war ein seltsames Bild im Mondschein, so wie ich es noch nie gesehen habe. Wir hatten eine Leine ausgeworfen und in der Krone eines Baumes befestigt und brauchten deshalb keine Wache zu halten, sondern legten uns schlafen. Aber zwei- oder dreimal stand ich auf, um mir die Tiere da unten anzusehen und um ihre Musik zu hören. Es war, als ob ich ganz umsonst einen Platz auf dem ersten Rang in einer Menagerie bekommen hätte. Solch einen habe ich noch nie gehabt, und so erschien es mir geradezu närrisch, jetzt zu schlafen und nicht die Zeit auszunutzen, denn ich würde -75-
vielleicht nie wieder solch eine Gelegenheit haben. In der Morgendämmerung begannen wir wieder zu fischen, und dann faulenzten wir den ganzen Tag über im Schatten einer Insel. Wir hielten abwechselnd Wache und paßten auf, daß nicht eine der Bestien käme und sich einen der Aeronauten zum Mittagessen holte. Wir wollten eigentlich am nächsten Tag weiterfahren, aber wir konnten nicht - es war hier zu schön. Am Tage darauf, als wir uns wieder in die Lüfte erhoben und ostwärts weitersegelten, da blickten wir zurück und wandten unsere Augen nicht von diesem Ort, bis er nur noch ein kleiner Fleck in der Wüste war. Es war, als ob wir einem guten Freunde Lebewohl sagten, den wir niemals wiedersehen würden. Jim war damit beschäftigt nachzudenken, und schließlich sagte er: »Massa Tom, wir müssen doch nun bald am Ende der Wüste sein, denke ich mir.« »Warum?« »Nun, das sagt einem doch die Vernunft. Du weißt doch, wie lange wir schon über sie hinweggefahren sind. Der Sand muß doch bald zu Ende sein. Es wundert mich, daß er immer noch kein Ende hat.« »Unsinn! Es gibt genug Sand. Darum brauchst du dich nicht zu sorgen.« »Oh, ich sorge mich nicht, Massa Tom, ich wundere mich nur, das ist alles. Gott hat vielen Sand, daran zweifle ich nicht, aber er wird den Sand doch nicht gerade verschwenden. Ich sage mir, die Wüste ist jetzt groß genug, so wie wir sie gesehen haben, und man kann sie ganz ohne Zweifel nicht noch größer machen, wenn man den Sand nicht verschwenden will.« »Ach, hör auf. Wir haben ja gerade erst begonnen, über diese Wüste hinwegzufliegen. Die Vereinigten Staaten sind doch ein ganz hübsch großes Land, nicht wahr. Huck?« »Ja«, sagte ich, »es gibt wohl kein größeres, glaube ich.« -76-
»Na«, sagte er, »diese Wüste hat etwa die Größe der Vereinigten Staaten, und wenn du sie von oben auf die Vereinigten Staaten legst, dann würde sie das Land ganz bedecken, und es wäre nichts mehr davon zu sehen, gerade als ob du eine Bettdecke darüber gelegt hättest. Eine kleine Ecke würde da oben bei Maine hervorschauen und auch im Nordwesten, und Florida würde wie ein Schildkrötenschwanz herausragen - das ist alles. Vor zwei oder drei Jahren haben wir Kalifornien den Mexikanern abgenommen, so daß dieser Teil der Küste des Pazifik jetzt uns gehört, und wenn ihr die große Sahara so hinlegtet, daß ihr Rand am Pazifik entla ngliefe, dann würde sie die Vereinigten Staaten bedecken und sich noch bis sechshundert Meilen hinter New York in den Atlantik hinein ausdehnen.« Ich sagte: »Ach du meine Güte! Hast du denn auch Beweise dafür gesehen, Tom Sawyer?« »Ja, das hat alles seine Richtigkeit, ich habe es genau studiert. Du kannst dich selbst davon überzeugen. Von New York bis zum Pazifik sind es 2600 Meilen und von einem Ende der großen Wüste bis zu dem anderen sind es 3200. Die Vereinigten Staaten sind 3600000 Quadratmeilen groß, und die Wüste ist 4162000 Quadratmeilen groß. Mit der Oberfläche der Wüste könntest du jeden Zoll der Vereinigten Staaten bedecken, und unter die überhängenden Ecken könntest du noch England, Schottland, Irland, Frankreich, Dänemark und ganz Deutschland stopfen. Ja, mein Herr, die ganze Heimat der braven Leute und alle die anderen Länder würden unter der großen Sahara verschwinden, und du würdest noch 2000 Quadratmeilen Sand übrig haben.« »Gut«, sagte ich, »da geb' ich mich geschlagen, Tom. Aber das beweist doch, daß Gott, als er diese Wüste schuf, sich mehr anstrengte als bei der Schaffung der Vereinigten Staaten und all der anderen Länder. Ich nehme an, er muß an dieser Wüste -77-
mindestens zwei oder drei Tage gearbeitet haben, ehe er sie fertig hatte.« Jim sagte: »Huck, dafür besteht kein Grund. Ich glaube, diese Wüste ist gar nicht gemacht worden. Wenn du dir die Sache einmal genau betrachtest, dann ist es doch folgendes: Du siehst dir etwas an und fragst dich, ob es in Ordnung ist. Aber wofür soll denn die Wüste gut sein? Sie ist zu nichts gut. Auf keine Art ist sie zu gebrauchen. Ist es nicht so. Huck?« »Ja, ich denke schon.« »Ist es nicht so, Massa Tom?« »Ich nehme an, aber sprich weiter.« »Wenn eine Sache zu nichts gut ist, dann ist sie vergebens gemacht worden, nicht wahr?« »Ja.« »Na also! Wird denn Gott irgend etwas vergebens machen? Beantwortet mir dies!« »Na, nein, das tut er nicht.« »Wie kann er dann eine Wüste machen?« »In Ordnung, erzähl weiter. Wie kommt er denn dazu, es zu tun?« »Massa Tom, meine Meinung ist, er hat es überhaupt niemals gemacht. So ist die Sache. Er hat nie eine Wüste geplant und er hat auch niemals eine gemacht. Ich werde es dir beweisen, und dann wirst du es sehen. Ich glaube, die Sache ist genauso, als wenn man ein Haus baut. Dazu braucht man eine Menge Materialien, und der Abfall bleibt übrig. Was tut man nun damit? Man ladet ihn auf einen Karren und schüttet ihn auf irgendein abseits liegendes freies Stück Land. So macht man es! Und meine Meinung ist, daß es genauso gewesen ist. Als Gott damit anfing, die Welt zu schaffen, da machte er eine große Menge Felsen und packte sie auf einen Haufen, und dann machte er eine große Menge Erde und schüttete sie auch auf -78-
einen großen Haufen griffbereit bei den Felsen und dann eine Menge Sand, den er auch griffbereit auf einen Haufen schüttete. Und dann fing er an. Er wählte sich einige Felsen aus und Erde und Sand und backte sie zusammen und sagte: Das ist Deutschland und klebte einen Zettel darauf und ließ es dann trocknen. Dann wählte er ein paar Felsen mehr aus Erde und Sand, backte sie zusammen und sagte: Das sind die Vereinigten Staaten und klebte einen Zettel darauf und ließ es trocknen und so weiter und so weiter und machte das bis zur Abendbrotzeit am Sonnabend. Dann blickte er um sich und sah, daß alles getan war und daß er eine außerordentlich gute Welt geschaffen hatte, seinerzeit. Dann bemerkte er, daß er, was die Erde und die Felsen anbetraf, richtig gerechnet hatte und gerade ausgekommen war, aber eine schreckliche Menge Sand war übriggeblieben, und er konnte sich nicht mehr erinnern, wie das geschah. So schaute er um sich, ob da nicht irgendwo ein altes abseits liegendes Stück Land sei, das noch frei war, und er sah diesen Ort und war mächtig glücklich und sagte den Engeln, daß sie den Sand hierher schaffen sollten. Nun also, das sind meine Gedanken darüber: Die große Sahara ist überhaupt nicht geschaffen worden - es ist einfach so passiert.« Ich sagte, daß das ein wirklich gutes Argument wäre, und ich glaube, es war das Beste, das Jim jemals von sich gegeben hatte. Tom sagte das gleiche, aber er sagte auch, man hätte mit solchen Argumenten viel Kummer, denn sie wären schließlich doch nur Theorien, und Theorien bewiesen noch nichts. Sie seien nur dafür gut, um sich für eine Weile aus zuruhen, wenn man nach etwas forscht und es nicht sofort herausbekommen kann. Und er sagte: »Da gibt es auch noch einen anderen Kummer mit Theorien, denn es ist immer irgendwo ganz bestimmt ein Loch darin, wenn man sie sich aus der Nähe ansieht. Und genauso ist es mit der Theorie von Jim. Seht euch einmal um, wie viele Billionen und Billionen Sterne es gibt. Wie kommt es denn, daß es mit dem Material für die Sterne genau -79-
gepaßt hat und nichts übriggeblieben ist? Wie kommt es denn, daß es da oben keinen Sand haufen gibt?« Aber Jim sah ihn fest an und sagte: »Und was ist die Milchstraße? Das möchte ich mal wissen. Was ist mit der Milchstraße, beantworte mir das!« Das gab Tom Sawyer den Rest. Er konnte nicht ein Wort sagen. Er hatte den verdutzten Blick von jema ndem, dem man eine Ladung Schrot in den Hintern geschossen hat. Alles, was er sagte, war, was Leute wie mich und Jim beträfe, so könne er auch ebensogut geistigen Umgang mit einem Zwergwels haben. Aber so etwas kann jeder sagen - und viele machen das immer, wenn jemand sie in die Enge getrieben hat. Tom Sawyer war der ganzen Geschichte müde geworden. So sprachen wir wieder über die Größe der Wüste, und je mehr wir sie mit diesem oder jenem anderen Gegenstand verglichen, desto stattlicher und größer und erhabener kam sie uns vor. Und so fand Tom mit einem Male, als er in seinen Zahlen herumsuchte, daß die Sahara genau dieselbe Größe hat wie China. Dann zeigte er uns auf der Landkarte den Umfang Chinas und was für einen großen Raum es auf der Welt einnahm. In weiter Ferne sahen wir jetzt einen kleinen Hügel, der gerade am Rande der Welt zu stehen schien. Tom unterbrach seine Rede und griffsehr aufgeregt nach dem Fernglas, sah hindurch und rief: »Das ist er - das ist er ganz gewiß, nach dem ich schon so lange ge sucht habe. Wenn ich mich nicht irre, dann ist das der Berg, in den der Derwisch den Mann hineinführte und ihm alle Schätze der Welt zeigte.« Da starrten wir den Berg an, und Tom fing an, uns die Geschichte aus Tausendundeine Nacht zu erzählen.
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10 Tom sagte, es sei folgendermaßen geschehen: Ein Derwisch zog an einem sengend heißen Tage zu Fuß durch die Wüste und hatte schon tausend Meilen hinter sich gebracht. Er war sehr arm und hungrig und abgerissen und müde. Hier in der Gegend, wo wir jetzt waren, begegnete er einem Kameltreiber mit hundert Kamelen, und er bat ihn um eine kleine Gabe. Aber der Kameltreiber sagte, er könne ihm leider nichts geben. Der Derwisch fragte: »Gehören dir diese Kamele?« »Ja, es sind meine.« »Hast du Schulden?« »Werich? Nein!« »Also - ein Mann, der hundert Kamele besitzt und keine Schulden hat, ist reich - und nicht nur reich, er ist sehr reich. Ist es so?« Der Kameltreiber gab zu, daß es so sei. Da sagte der Derwisch: »Gott hat dich reich gemacht und er hat mich arm gemacht. Er hat seine Gründe dafür, und sie sind weise gesegnet sei sein Name! Aber er hat befohlen, daß seine Reichen seinen Armen helfen sollen, und du hast dich von mir, deinem Bruder, der in Not ist, abgewandt. Er wird sich einmal daran erinnern, und dann wirst du dafür büßen.« Da wurde der Kameltreiber unruhig, aber er war von Natur aus geldgierig und mochte nicht einen Cent verlieren. So begann er denn zu winseln und zu erklären, was es für harte Zeiten seien, und obgleich er Fracht hinunter nach Balsora bringe und auch eine gute Bezahlung dafür erhalten habe, so könne er doch nicht wieder mit einer Fracht für den Rückweg rechnen, und -82-
daher wäre diese Reise kein großes Geschäft für ihn. So machte sich der Derwisch wieder auf seinen Weg und sagte: »In Ordnung, wenn du dieses Risiko auf dich nehmen willst. Aber ich glaube, diesmal hast du einen Fehler gemacht und die Gelegenheit verpaßt.« Natürlich wollte der Kameltreiber nun wissen, was für eine Gelegenheit er verpaßt habe, weil dabei vielleicht Geld zu verdienen gewesen wäre, und er rannte hinter dem Derwisch her und flehte ihn so heftig und so lange an, doch Mitleid mit ihm zu haben, daß der Derwisch schließlich nachgab und sagte: »Siehst du jenen Berg dort hinten? Nun, in diesem Berge sind alle Schätze der Erde, und ich sah mich gerade nach einem Mann um mit einem einzigartig guten Herzen und einem edlen, großzügigen Wesen. Denn wenn ich einen solchen Mann finden könnte, so habe ich hier eine Salbe bei mir, die ich auf seine Augen streichen würde, und dann könnte er alle Schätze der Erde sehen und sie bergen.« Da kam dann der Kameltreiber ins Schwitzen, und er weinte und flehte ununterbrochen und fiel auf seine Knie nieder und beteuerte, daß er gerade solch ein Mensch wäre, und sagte, er könne tausend Leute herbeibringen, die alle bezeugen würden, daß das, was er sage, auch zutreffe. »Also, dann meinetwegen«, sagte der Derwisch. »Wenn die hundert Kamele beladen sind, kann ich dann die Hälfte davon haben?« Der Kameltreiber war so glücklich, daß er sich kaum zu bezähmen wußte, und sagte: »Abgemacht!« Sie schüttelten sich die Hände zur Bekräftigung, und der Derwisch holte seine Büchse heraus und rieb das rechte Auge des Kameltreibers mit der Salbe ein, und der Berg öffnete sich, -83-
und er ging hinein, und dort lagen ganz gewiß Haufen neben Haufen von Gold und Juwelen, die so funkelten, als ob die Sterne vom Himmel heruntergefallen wären. Da machten er und der Derwisch sich an die Arbeit, und auf jedes Kamel luden sie so viel, wie es gerade noch zu tragen vermochte. Dann nahmen sie Abschied voneinander, und jeder zog mit seinen fünfzig Kamelen von dannen. Aber schon sehr bald kam der Kameltreiber dem Derwisch nachgelaufen, holte ihn ein und sagte: »Du lebst doch in der Einsamkeit, und deshalb brauchst du doch nicht alles das, was du bekommen hast. Willst du nicht so gut sein und mir zehn von deinen Kamelen ablassen?« »Gut«, sagte der Derwisch. »Dagegen kann ich nichts einwenden, denn was du sagst, ist nicht unbegründet.« Er machte es. Dann trennten sie sich, und der Derwisch zog mit vierzig Kamelen wieder weiter. Aber schon bald kam der Kameltreiber wieder rufend hinter ihm her und winselte und schluchzte und flehte ihn an, ihm weitere zehn zu geben, und sagte, daß dreißig Kamele, die mit Schätzen beladen seien, doch genug für einen Derwisch wären, um sich durchzuschlagen. Das Leben eines Derwischs sei doch sehr einfach, und er brauche nicht einmal ein Haus, sondern könne sich mal hier und mal dort einquartieren. Aber das war noch nicht alles. Der gemeine Hund kam und kam immer wieder, bis er sich alle hundert Kamele wieder zurückerbettelt hatte. Dann war er zufrieden und sogar mächtig dankbar und sagte, daß er es dem Derwisch niemals vergessen würde, solange er lebe, und niemand sei jemals so gütig und freigebig gegen ihn gewesen. Sie schüttelten sich zum Abschied die Hände und trennten sich und zogen wieder von dannen. Aber, wißt ihr, es dauerte noch keine zehn Minuten, da warder Kameltreiber wieder unzufrieden - er war das allergemeinste Reptil in sieben Landkreisen -, und er kam dem Derwisch -84-
wieder nachgerannt. Und dieses Mal wünschte er sich, daß der Derwisch auch auf sein anderes Auge etwas von der Salbe streichen solle. »Warum?« fragte der Derwisch. »Oh, du weißt schon«, sagte der Kameltreiber. »Was weiß ich?« fragte der Derwisch. »Also halte mich doch nicht für dumm«, sagte der Kameltreiber. »Du versuchst mir etwas zu verheimlichen, das weißt du sehr gut. Ich denke mir nämlich, wenn ich die Salbe auch auf dem anderen Auge hätte, dann könnte ich noch viel mehr von den wertvollen Sachen sehen. Also komm und streich sie mir bitte auf.« Der Derwisch sagte: »Ich habe dir nichts verheimlicht. Aber ich werde dir sagen, was mit dir geschehen würde, wenn ich es so mache, wie du es wünscht. Du wirst niemals wieder etwas sehen können. Du wirst stockblind bis an das Ende deiner Tage sein.« Aber das Biest wollte es ihm nicht glauben. Nein, er bettelte und bettelte und winselte und schrie, bis der Derwisch schließlich seine Büchse öffnete und ihm sagte, er könne sich die Salbe selbst aufstreichen, wenn er das wünsche. Der Mann machte es, und richtig, er wurde in einer Minute so blind wie eine Fledermaus. Da lachte der Derwisch ihn aus und verspottete ihn und sagte: »Lebe wohl - ein blinder Mann hat keine Verwendung mehr für die Juwelen.« Und er machte sich mit den hundert Kamelen davon und verließ diesen Mann, der arm und elend und hilflos für den Rest seiner Tage in der Wüste umherirrte. Jim sagte, er möchte wetten, das wäre eine gute Lehre für ihn gewesen. -85-
»Ja«, sagte Tom, »aber sie ist so, wie viele andere wichtige Lehren. Sie nützen einem gar nichts, weil dieselbe Sache doch niemals wieder passiert und gar nicht passieren kann. Seinerzeit, als Hen Scovil vom Schornstein herunterfiel, so daß er sich das Kreuz brach und er sein Leben lang ein Krüppel blieb, sagten alle, das würde eine Lehre für ihn sein. Was soll das für eine Lehre sein? Und was soll er denn mit ihr anfangen? Er konnte doch nie wieder auf Schornsteine hinaufklettern, und er hatte auch kein heiles Kreuz mehr, das er sich noch brechen konnte.« »Einerlei, Massa Tom, man kann doch ohne Zweifel durch die Erfahrung lernen. In der Bibel steht, daß ein gebranntes Kind das Feuer scheut.« »Gut, ich will es ja gar nicht leugnen, daß etwas eine Lehre sein kann, wenn es etwas ist, das auf die gleiche Weise zweimal passieren kann. Es gibt eine Menge solcher Dinge, und sie erziehen einen Menschen, wie Onkel Abner immer gesagt hat. Aber es gibt vierzigmillionenmal mehr Dinge von der anderen Sorte, von der Sorte, die nicht zweimal auf die gleiche Weise geschehen - und davon kann man wirklich keinen Gebrauch machen, und man lernt dadurch genausowenig, als wenn man die Pocken kriegt. Wenn man sie erst einmal bekommen hat, dann nützt es einem gar nichts, daß einem klar wird, man hätte sich impfen lassen sollen. Und sich hinterher impfen zu lassen, hilft auch nichts, weil man die Pocken bloß einmal bekommt. Aber andererseits sagte Onkel Abner, daß jemand, der einem Bullen einmal an den Schwanz gefaßt hat, sechzig- bis siebzigmal soviel gelernt hat wie jemand, der das noch nicht getan hat. Und er sagte, daß auch jemand, der eine Katze am Schwanz nach Hause bringen wolle, dadurch allerlei lernen würde, was ihm immer nützlich sein könnte, und es wäre etwas, was er nie vergessen würde und worüber er nie mehr im Zweifel zu sein brauchte. Aber ich sage dir, Jim, Onkel Abner hatte diejenigen nicht gern, die immer aus allem, was geschieht, eine -86-
Lehre zu machen versuchen, ganz gleich ob...« Aber Jim war eingeschlafen. Tom sah ein bißchen beschämt aus, denn wie ihr wißt, ist es immer ein unangenehmes Gefühl, wenn man gerade etwas besonders Schönes erzählt und denkt, daß der andere bewundernd zuhört, und dieser dabei einschläft. Natürlich hätte er nicht einschlafen dürfen, denn das ist schäbig, aber je schöner jemand redet, desto sicherer macht er einen schläfrig, und wenn man sich die Sache genau ansieht, so ist das nicht der Fehler des einen - sondern beide sind daran schuld. Jim begann zu schnarchen - zuerst sanft und leise blubbernd, dann fing er an kräftig zu sägen, immer stärker, und dann kam ein halbes Dutzend furchtbarer Schnarcher, als wenn aus einer Badewanne das letzte Wasser in das Abflußloch hineingesaugt wird, und dann dasselbe noch einmal mit mehr Kraft dahinter, und dann kamen ein heiseres Röhren und einige Schnaufer, als wenn eine Kuh in den letzten Zügen liegt. Wenn jemand so zu schnarchen beginnt, dann leistet er sein Bestes und kann einen Mann damit aufwecken, der eine Straße weiter mit einem Eimer Opium im Leibe schläft. Aber er selbst wacht nicht davon auf, obgleich dieser schreckliche Lärm nur drei Zoll von seinen eigenen Ohren entfernt vor sich geht. Und das ist, wie mir scheint, das seltsamste dabei. Aber wenn du ein Streichholz anreißt, um eine Kerze anzuzünden, dann wird er von diesem leisen Geräusch aufwachen. Ich möchte gern mal wissen, was der Grund dafür ist, aber wie mir scheint, kann man es nicht herausfinden. Jims Schnarchen alarmierte die ganze Wüste und jagte die Tiere meilenweit im Umkreis hoch, die alle sehen wollten, was denn in ihrem Lande vor sich ginge. Es gab nichts, was dem Lärm so nahe war wie Jim selbst, aber gerade er war das einzige Geschöpf, das sich nicht dadurch stören ließ. Wir schrien ihn an - aber es nützte nichts. Aber als dann ein kaum vernehmbares Geräusch von ungewohnter Art gemacht wurde, da wachte er auf. Wahrhaftig, ich habe lange darüber nachgedacht, und auch -87-
Tom hat es getan, aber wir haben es nicht herausbekommen können, warum ein Schnarcher sich nicht selbst schnarchen hört. Jim sagte, er habe nicht geschlafen, er habe nur seine Augen zugemacht, um besser zuhören zu können. Tom antwortete, niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht. Da machte Jim ein Gesicht, als wenn er wünschte, daß er lieber nichts gesagt hätte. Und um davon abzulenken, begann er den Kameltreiber zu schmähen. So macht es mancher, wenn er bei etwas ertappt wird und möchte, daß die Aufmerksamkeit auf ein anderes Gebiet gelenkt wird. Er ließ kein gutes Haar an dem Kameltreiber und ich war mit ihm einer Meinung, und er pries den Derwisch sosehr er konnte, und ich war auch hierin mit ihm der gleichen Meinung. Aber Tom sagte: »Ich bin mir dessen nicht sicher. Ihr lobt den Derwisch als so fürchterlich freigebig und gut und selbstlos, aber ich sehe die Sache nicht ganz so. Er suchte doch nicht einen anderen armen Derwisch auf, oder tat er es? Nein, er machte es nicht! Wenn er so selbstlos war, warum ging er nicht einfach selbst in den Berg und füllte sich die Taschen mit Juwelen und ging zufrieden seines Weges? Nein, meine Herren, dieser Mann suchte nach jemandem, der hundert Kamele besaß. Er wollte alle Schätze fortschleppen, die er nur bekommen konnte.« »Aber warum, Massa Tom? Er wollte doch teilen, ganz anständig und redlich. Er verlangte doch nur fünfzig Kamele.« »Weil er wußte, daß er sie nach und nach doch alle bekommen würde.« »Massa Tom, er sagte dem Mann auch, daß die Salbe ihn blind machen würde.« »Ja, weil er den Charakter des Mannes kannte. Er war gerade die Sorte eines Menschen, wie er ihn gesucht hatte - ein Mensch, der niemals an das Wort eines anderen glaubt und der auch nicht an die Ehrenhaftigkeit eines anderen glaubt, weil er sich selbst am besten kennt. Ich glaube, es gibt eine Menge Leute wie -88-
diesen Derwisch. Sie beschwindeln alle Welt, aber sie machen es immer so, daß es scheint, als ob der andere ein Schwindler wäre. Sie bewegen sich immer innerhalb der Buchstaben des Gesetzes, und man kann sie auf keine Weise erwischen. Sie streichen nicht die Salbe auf - o nein, das wäre ja Sünde. Aber sie wissen, wie man jemanden darauf versessen machen kann, daß er sich selbst damit beschmiert. Und dann hat er sich eben selbst blind gemacht. Ich glaube, der Derwisch und der Kameltreiber waren geradeso ein Paar - ein sauberer, schlauer, gerissener Schurke und ein beschränkter und gemeiner Dummkopf. Aber beide waren Schurken, einer wie der andere!« »Massa Tom, glaubst du eigentlich, daß es noch jetzt irgend so eine Salbe auf der Welt gibt?« »Ja, Onkel Abner sagte, es gibt welche. Er sagte, man kann sie in New York bekommen, und sie schmieren sie den Landleuten auf die Augen und zeigen ihnen alle Eisenbahnen der Welt, und sie fallen darauf 'rein und kaufen sie; und dann, wenn sie sich auch das zweite Auge mit der Salbe eingerieben haben, sagt der andere Mann ihnen Lebewohl und zieht mit ihren Eisenbahnen ab. - Jetzt sind wir bei dem Schatzberge angekommen. Geht etwas tiefer hinunter!« Wir landeten, aber es war nicht so interessant, wie ich angenommen hatte, als wir noch in der Luft waren, denn wir konnten nicht die Stelle finden, wo sie hineingegangen waren, um die Schätze zu holen. Aber es war noch interessant genug, den Berg selbst zu sehen, wo diese wunderbare Geschichte geschehen war. Jim sagte, er hätte dieses Erlebnis nicht für drei Dollar missen wollen, und ich pflichtete ihm bei. Für mich und Jim war es eine wundervolle Sache, wie Tom es fertiggebracht hatte, in diesem fremden und großen Land geradewegs einen solchen kleinen Hügel zu rinden und ihn innerhalb einer Minute aus einer Million anderer Hügel -89-
herauszufinden, und niemand hatte ihm dabei geholfen, nur sein eigenes Wissen und seine eigene Klugheit. Wir redeten und redeten lange darüber, aber wir konnten nicht herausbekommen, wie er es gemacht hatte. Er war der klügste Kopf, den ich je gesehen hatte, und alles, was ihm fehlte, war das richtige Alter, um sich einen Namen zu machen wie Kapitän Kidd oder George Washington. Ich wette, sie wären beide, bei all ihren Gaben, in großer Verlegenheit gewesen, wenn sie diesen Hügel hätten finden sollen. Aber für Tom Sawyer war das nichts: Er durchquerte die Sahara und zeigte mit dem Finger darauf, genauso leicht, als ob er einen Neger aus einem Haufen von Engeln heraussuchen sollte. Nahebei fanden wir einen Salzwasserteich, von dessen Rändern wir einen Vorrat Salz zusammenkratzten. Damit rieben wir das Löwen- und das Leopardenfell ein, so daß sie sich halten würden, bis Jim sie gerben konnte.
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11 Wir bummelten noch einen oder zwei Tage herum und dann, gerade als der Vollmond den Horizont auf der anderen Seite der Wüste berührte, sahen wir eine Reihe von kleinen schwarzen Gestalten, die sich quer über sein großes silberglänzendes Gesicht bewegten. Man konnte sie so deutlich sehen, als wenn man sie mit Tinte auf den Mond gemalt hätte. Es war wieder eine Karawane. Wir setzten unsere Geschwindigkeit herab und folgten ihr, nur um etwas Gesellschaft zu haben, obgleich wir dadurch von unserem Wege abkamen. Sie war sehr imposant, diese Karawane, und am nächsten Morgen war es ein wunderbarer Anblick, als die Sonne heraufkam und ihr Licht über die Wüste ergoß und die Kamele hochbeinig und gravitätisch in langer Prozession über den gelben Sand marschierten. Wir kamen der Karawane niemals sehr nahe, weil wir jetzt besser Bescheid wußten und den Leuten nicht die Kamele verängstigen und ihre Karawane auseinanderjagen wollten. Es war der prächtigste Aufzug, den ich je gesehen habe, alles in reicher Kleidung und in vornehmem Stil. Einige der Häuptlinge ritten auf Dromedaren - es waren die ersten, die wir jemals sahen, und sie waren enorm groß, und sie bewegten sich schwankend vorwärts, als ob sie auf Stelzen gingen, und sie schaukelten den Mann, der auf ihnen saß, so stark, daß ihm sein Mittagessen hochkommen konnte. Aber sie machten ein ganz anständiges Tempo, und ein Kamel kann es an Schnelligkeit auch nicht annä hernd mit ihnen aufnehmen. Während der mittleren Tagesstunden lagerte die Karawane, und am Nachmittag zog sie wieder weiter. Es dauerte nicht lange, da begann die Sonne ganz seltsam auszusehen. Zuerst beinahe wie Messing und dann wie Kupfer, und danach sah sie aus wie eine blutrote Kugel, und die Luft wurde heiß und -91-
beklemmend, und schon bald war der ganze Himmel im Westen verdunkelt und sah dunstig und undurchdringlich aus, aber feurig und furchtbar, als wenn man ihn durch ein Stück roten Glases sähe. Wir blickten hinunter und sahen ein großes Durcheinander bei der Karawane, und die Leute rannten herum, als ob sie sich fürchteten, und dann warfen sie sich alle flach auf den Sand nieder und blieben dort völlig still liegen. Bald sahen wir etwas herankommen, das war hoch wie eine unglaublich große Wand und reichte von der Wüste bis in den Himmel und verdeckte die Sonne und kam heran wie eine Großmacht persönlich. Dann streifte uns eine kleine schwache Brise, und dann wurde sie stärker, und plötzlich flogen Sandkörner in unsere Gesichter und schmerzten wie Feuer, und Tom rief aus: »Das ist ein Sandsturm - dreht ihm den Rücken zu!« Wir machten das, und eine Minute später blies uns ein Orkan an und peitschte den Sand schaufelweise auf uns, und die Luft war so dick, daß wir gar nichts mehr sehen konnten. In fünf Minuten war unsere Gondel bis an den Rand voll Sand, und wir saßen auf den Behältern bis zum Kinn im Sande vergraben, und nur unsere Köpfe sahen noch hinaus, und wir konnten kaum atmen. Dann ließ der Sturm nach, und wir sahen, daß die ungeheure Wand quer über die Wüste davonsegelte. Es war schrecklich anzusehen; das kann ich euch sagen. Wir wühlten uns aus dem Sand und sahen hinunter, und wo zuvor die Karawane gewesen war, da war jetzt nichts mehr als nur der Ozean des Sandes, und alles war still und ruhig. Alle die Leute und Kamele waren erstickt und tot und begraben - begraben unter einer Sandschicht, die zehn Fuß tief sein mußte. Tom meinte, es könne Jahre dauern, ehe der Wind sie wieder bloßlegt, und die ganze Zeit über würde keiner ihrer Freunde wissen, wo die Karawane geblieben sei. -92-
Tom sagte: »Jetzt wissen wir, was mit den Leuten geschah, denen wir die Schwerter und die Pistolen abgenommen haben.« Ja, meine Herren, so war das. Jetzt war es uns klar wie der Tag selbst. Sie waren von einem Sandsturm begraben worden, und die wilden Tiere konnten nicht an sie heran, und der Wind wehte sie nicht eher frei, als bis sie trocken waren wie Leder und nicht mehr gefressen werden konnten. Es schien mir, als sei uns das Los dieser armen Menschen so sehr zu Herzen gegangen, wie es sich nur denken läßt, und es war auch sehr traurig, aber ich irrte mich, denn das Ende dieser zweiten Karawane ging uns näher - noch viel näher. Seht ihr, die anderen, das waren doch völlig fremde Leute, und wir haben niemals das Gefühl gehabt, als seien wir mit ihnen bekannt gewesen, ausgenommen vielleicht ein bißchen mit dem Mann, der das Mädchen bewachte, aber es war doch ein Unterschied, wenn man es mit dieser zweiten Karawane vergleicht. Wir waren eine ganze Nacht und noch fast einen ganzen Tag um sie herumgeschwebt, und es war ein wirklich freundschaftliches Gefühl für sie entstanden, und sie waren für uns gute Bekannte. Ich habe beobachtet, daß es kein besseres Mittel gibt, um zu erkennen, ob man Leute liebt oder haßt, als mit ihnen zusammen eine Reise zu machen. Genauso war es hier. Sie gefielen uns von Anfang an, und im Laufe der Zeit gefielen sie uns immer besser. Je länger wir mit ihnen reisten und je mehr wir ihre Art kennenlernten, desto besser und besser gefielen sie uns und desto mehr freuten wir uns, daß wir sie getroffen hatten. Wir hatten einige von ihnen bald so gut kennengelernt, daß wir sie mit Namen nannten, wenn wir über sie sprachen, und wir waren bald so gut bekannt und ve rtraut mit ihnen geworden, daß wir sogar »Fräulein« und »Herr« wegließen und ohne weitere Umstände einfach ihren Namen nannten, und das war nicht einmal unhöflich, sondern im Gegenteil ganz natürlich. Selbstverständlich waren es nicht ihre richtigen Namen, sondern Namen, die wir ihnen gegeben hatten. Da waren Herr Alexander -93-
Robinson und Fräulein Adaline Robinson und Oberst Jacob McDougal und Fräulein Harriet McDougal und Richter Jeremiah Butler - das waren in erster Linie die Großkopfeten. Sie trugen prächt ige große Turbane und Krummschwerter und waren gekleidet wie der Großmogul, einschließlich ihrer Familien. Aber sobald wir sie gut kannten und sie auch ins Herz geschlossen hatten, da waren sie für uns nicht mehr »Herr« oder »Richter« oder irgend etwas ähnliches, sondern nur Alex und Addy und Jake und Hattie und Jerry und Buck und so weiter. Und ihr wißt, je mehr ihr euch mit Menschen und ihren Freuden und ihren Sorgen verbindet, desto lieber werden und desto näher stehen sie euch. Nun standen wir ihnen nicht mehr kühl und gleichgültig gegenüber, wie es die Art der meisten Reisenden ist - sondern wir waren ihnen freundlich und nachbarlich gesinnt und nahmen an allem teil, was vor sich ging. Die Karawane konnte sich darauf verlassen, daß wir jederzeit dabei waren, ganz gleich, was es auch war. Als sie lagerten, hielten auch wir über ihnen, zehn- oder zwölfhundert Fuß hoch in der Luft, um uns auszuruhen. Wenn sie ihre Mahlzeit verzehrten, aßen wir auch, und das machte die Sache viel gemütlicher, wenn man dabei ihre Gesellschaft hatte. In der Nacht, in der sie eine Hochzeit feierten, weil Buck und Addy heirateten, da putzten wir uns für die Feier mit den festlichsten Kleidungsstücken des Professors heraus, und als sie zu tanzen begannen, da machten auch wir mit und strapazierten da oben in der Luft unsere Füße. Aber erst durch Leid und Kummer wird man so recht einander nahegebracht, und so erging es auch uns, als wir eine Beerdigung miterlebten. Es war am nächsten Morgen in der ersten Dämmerung. Wir kannten den Verstorbenen nicht, und er war auch nicht mit uns verwandt, aber das machte uns nichts aus - er gehörte zur Karawane, und das genügte. Es gab keine aufrichtigeren Tränen, die auf sein Grab fielen, als diejenigen, die aus elfhundert Fuß Höhe herabtropften. -94-
Ja, und sich von dieser Karawane trennen zu müssen, das war noch viel bitterer als der Abschied von den anderen Toten, welche damit verglichen doch nur Fremde waren, die schon lange vorher tot gewesen waren. Diese hatten wir noch gekannt, als sie lebten, und wir hatten sie außerdem noch gern gehabt, und nun hatte der Tod sie direkt vor unseren Augen weggeschnappt, während wir dabei waren und nun einsam und ohne Freunde mitten in der großen Wüste zurückblieben. Das schmerzte uns sehr, und wir wünschten, daß wir auf dieser Reise doch lieber keine Freunde mehr finden möchten, wenn wir sie wieder auf solche Weise verlieren sollten. Wir konnten nicht aufhören, von ihnen zu sprechen, und immer wieder tauchten sie in unserer Erinnerung auf, und wir sahen sie wieder so vor uns, wie sie ausgesehen hatten, als sie alle zusammen noch lebten und glücklich waren. Wir sahen sie wieder in einer langen Reihe marschieren und ihre Lanzenspitzen in der Sonne glänzen, und wir sahen die Dromedare ihres Weges schwanken, und wir sahe n die Hochzeit und das Begräbnis, und noch häufiger als dies alles sahen wir sie wieder vor uns, wie sie beteten, weil es nichts anderes gab, was sie dermaßen gewissenhaft taten. Immer wenn der Ruf zum Gebet erscholl, und das war mehrmals am Tage, dann hielten sie an, wo sie gerade waren, und stellten sich auf mit dem Gesicht nach Osten und warfen ihre Köpfe zurück und breiteten die Arme aus und begannen mit dem Gebet, wobei sie vier- oder fünfmal auf ihre Knie niedergingen und sich dann vornüber neigten, um mit ihrer Stirn den Boden zu berühren. Aber es war nicht gut, daß wir andauernd über sie sprachen, wie nett sie doch gewesen waren, als sie noch lebten, und wie lieb sie uns im Leben und im Tode geworden seien. Das war nicht gut für uns, denn es machte uns viel zu traurig. Jim erklärte, er wolle von nun an in seinem Leben ein so guter Mensch sein, wie er nur sein könnte, damit er sie in einer besseren Welt wiedersehen würde. Aber Tom schwieg und sagte -95-
ihm nicht, daß sie doch nur Mohammedaner waren - denn er wollte ihn nicht enttäuschen, und er selbst fühlte sich elend genug bei dem, was geschehen war. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, da fühlten wir uns ein bißchen fröhlicher, denn wir hatten mächtig gut geschlafen, weil Sand das bequemste Bett ist, das es gibt, und ich sehe nicht ein, warum Leute, die es sich leisten können, davon keinen Gebrauch machen. Und außerdem ist Sand auch ein furchtbar guter Ballast, noch niemals zuvor hatte sich der Ballon so ruhig gehalten. Tom sagte, wir hätten wohl zwanzig Tonnen Sand an Bord, und überlegte sich, was wir wohl damit tun könnten. Es war guter Sand, und es schien uns unvernünftig zu sein, ihn einfach wieder fortzuschütten. Jim sagte: »Massa Tom, können wir ihn nicht mit nach Hause nehmen und ihn dort verkaufen? Wie lange würden wir dazu brauchen?« »Das hängt von dem Weg ab, den wir einschlagen.« »Also, der Sand ist mindestens einen Vierteldollar der Wagenladung wert, und ich schätze, wir haben mehr als zwanzig Ladungen an Bord, nicht wahr? Wieviel würde das denn machen?« »Fünf Dollar.« »Bei Jingo, Massa Tom, das wollen wir sofort nach Hause schaffen! Das ist ja mehr als eineinhalb Dollar pro Kopf, nicht wahr?« »Ja.« »Also, das ist die leichteste Art, Geld zu verdienen, die ich je erlebt habe! Der Sand ist ja direkt hereingeregnet und hat uns nicht ein bißchen Arbeit gemacht. Wollen wir doch gleich losfahren, Massa Tom.« Aber Tom dachte nach und rechnete so eifrig und war so -96-
aufgeregt, wie ich ihn nie gesehen habe. Und bald sagte er: »Fünf Dollar - das ist nichts! Seht her: Dieser Sand ist wert... wert... er ist enorm viel Geld wert.« »Wieviel ist denn das, Massa Tom? Erzähl, mein Lieber, erzähl doch!« »Na also, in dem Augenblick, wo die Leute wissen, daß es echter Sand ist, aus der echten Wüste Sahara, dann werden sie gleich dazu entschlossen sein, sich etwas davon zu erwerben, um ihn in ein Fläschchen zu tun und mit einem Zettel daran als Kuriosität in die Vitrine zu stellen. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als ihn in Fläschchen zu füllen und damit überall die Vereinigten Staaten zu überschwemmen und das Stück mit zehn Cent auszuzeichnen. Auf diese Weise haben wir in unserer Gondel für mindestens zehntausend Dollar Sand.« Ich und Jim sprangen vor Freude fast in Stücke und begannen vor Vergnügen zu schreien, und Tom sagte: »Und wir brauchen ja nur immer wieder zurückzufahren und Sand zu holen, und das können wir so lange machen, bis wir die ganze Wüste hinübergeschafft und verkauft haben. Wir brauchen auch keine Konkurrenz zu fürchten, denn wir werden uns ein Patent dafür erwerben.« »Du meine Güte«, sagte ich. »Da werden wir ja so reich wie Kreosot. Nicht wahr, Tom?« »Ja, Krösus meinst du. Der Derwisch hat in dem kleinen Berge nach den Schätzen der ganzen Welt gesucht, und er wußte nicht, daß er tausend Meilen weit über die wirklichen Schätze hinweggewandert war. Er war noch blinder, als er den Kameltreiber gemacht hat.« »Massa Tom, wie reich werden wir denn nun werden?« »Das weiß ich jetzt noch nicht. Das muß ich erst ausrechnen, und das ist gar keine so leichte Sache, denn es sind mehr als vier Millionen Quadratmeilen Sand zu zehn Cent das Fläschchen.« -97-
Jim war schrecklich aufgeregt, aber dies dämpfte ihn doch beträchtlich, und er schüttelte seinen Kopf und sagte: »Massa Tom, wir können diese Fläschchen doch gar nicht alle beschaffen - kein König könnte das. Es ist doch wohl besser, wenn wir nicht die ganze Wüste nehmen, Massa Tom. Die Fläschchen werden uns noch zugrunde richten - tatsächlich.« Toms Erregung verlosch jetzt ebenfalls, und ich glaubte, es wäre wegen der Fläschchen, aber das war es nicht. Er saß da und dachte nach und wurde saurer und saurer und sagte schließlich: »Jungens, es wird nicht gehen. Wir müssen die Sache aufgeben.« »Warum, Tom?« »Wegen der Zollgebühren.« Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, und Jim konnte es auch nicht. Ich sagte daher: »Was sind denn Zollgebühren, Tom?« »Immer, wenn ihr eine Grenze überschreitet - das ist der Rand von einem Land, wie ihr wohl wißt -, werdet ihr dort eine Zollstation finden, und die Zollbeamten kommen dann und wühlen in euren Sachen und nehmen eine hohe Gebühr dafür, das ist das, was sie Zoll nennen. Und wenn ihr das nicht bezahlt, dann werden sie euch den Sand klauen. Sie nennen das konfiszieren, aber damit können sie niemandem etwas vormachen, es ist ga nz einfach klauen. So ist es. Also, wenn wir versuchen wollten, diesen Sand mit nach Hause zu nehmen auf dem Wege, den wir jetzt eingeschlagen haben, dann müßten wir über so viele Grenzen hinweg, daß wir bald müde würden. Da ist Grenze hinter Grenze: Ägypten, Arabien, Indien und so weiter, und sie alle würden eine Zollgebühr haben wollen. Ihr seht also sofort, daß wir diesen Weg nicht nehmen können.« »Warum, Tom«, fragte ich, »wir können doch einfach über ihre dämlichen Grenzen hinwegsegeln? Wie sollen die uns denn aufhalten?« -98-
Er sah mich besorgt an und sagte sehr ernst: »Huck Finn, meinst du, daß das ehrenhaft sein würde?« Ich hasse derartige Unterbrechungen und antwortete nichts darauf, und Tom fuhr fort: »Aber der andere Weg ist uns ebenfalls verschlossen. Wenn wir wieder auf dem Wege zurückkehren, auf dem wir gekommen sind, so haben wir dort das New Yorker Zollamt, und das ist schlimmer als alle anderen zusammen, wegen der Fracht, die wir mit uns führen.« »Warum?« »Weil sie Saharasand in Amerika selbstverständlich nicht herstellen können, und wenn sie irgendeine Sache nicht selbst herstellen können, dann erheben sie einen Zoll von vierzehntausend Prozent darauf, wenn du versuchst, eine Sache von dorther einzuführen, wo sie hergestellt ist.« »Aber da ist doch kein Sinn drin, Tom Sawyer.« »Wer hat denn das gesagt? Wie kannst du so zu mir reden, Huck Finn? Warte doch ab, bis ich gesagt habe, da sei Sinn drin, bevor du mich beschuldigst, daß ich so etwas behaupte.« »In Ordnung. Nimm an, ich weine darüber, aber erzähl weiter.« Jim sagte: »Massa Tom, nehmen sie diesen Zoll auf alle Sachen, die nicht in Amerika hergestellt werden, oder gibt es da nicht auch irgendwelche Unterschiede?« »Ja, sie nehmen ihn für alles.« »Massa Tom, ist nicht Gottes Segen die wertvollste Sache, die es gibt?« »Ja, das ist er.« »Steht nicht der Prediger auf der Kanzel und fleht den Segen hernieder auf das Volk?« »Ja.« »Wo kommt der Segen denn her?« -99-
»Vom Himmel.« »Jawoll, das stimmt! So ist es, mein Lieber, er kommt vom Himmel, und das ist ein fremdes Land. Nun denn! Nehmen sie auch Gebühren für den Segen?« »Nein, das tun sie nicht.« »Natürlich tun sie's nicht! Und so ist es klar, daß sie auch Fehler machen, Massa Tom. Sie wollen eine Gebühr für eine so armselige Sache wie Sand haben, zu der niemand verpflichtet ist, und sie lassen die beste Sache, die es gibt, ohne Gebühr.« Tom Sawyer war verblüfft. Er sah, Jim hatte ihn in die Enge getrieben. Er versuchte sich herauszuwinden, indem er sagte, daß sie es wohl vergessen hätten, darauf eine Gebühr zu nehmen, aber daß sie sich sicher in der nächsten Kongreßsitzung daran erinnerten und die Gebühr dann darauf erheben würden. Aber das waren armselige, lahme Ausflüchte, und das wußte er selbst. Er sagte, es gäbe nichts Ausländisches, außer dieser einen Sache, auf das nicht eine Gebühr erhoben würde, und deshalb müßten sie auch in diesem Falle konsequent sein und eine Gebühr darauf erheben, denn konsequent zu sein, das sei oberstes Gesetz in der Politik. So blieb er dabei, daß sie es wohl vergessen hätten und daß sie sicher ihr Bestes tun würden, um diese Sache ins reine zu bringen, bevor sie dabei ertappt würden und man sie auslachte. Aber ich hatte kein Interesse mehr für solche Dinge, da wir mit unserem Sand doch nichts mehr anfangen konnten, und es machte mich ganz niedergeschlagen, und mit Jim war es das gleiche. Tom versuchte uns beide aufzuheitern, indem er sagte, er würde sich ein anderes Geschärt für uns ausdenken, das ebensogut wie dieses sei und vielleicht noch besser - aber das half uns auch nichts. Wir glaubten nicht daran, daß irgendein anderes genauso bedeutend sein könnte wie dieses. Es war wirklich schwer für uns. Vor einem Augenblick waren wir noch so reich gewesen und hätten uns ein ganzes Land kaufen können -100-
und wären gefeiert worden und wären glücklich gewesen, und jetzt waren wir wieder so arm und ganz gewöhnlich wie früher und wußten nicht, was wir mit unserem Sand anfangen sollten. Der Sand hatte vorher so herrlich ausgesehen, so wie Gold und Diamanten, und er fühlte sich so weich an und so seidig und angenehm. Aber jetzt konnte ich nicht mehr seinen Anblick ertragen - es machte mich ganz krank, ihn nur zu sehen, und ich wußte, ich würde mich nicht eher wieder wohl fühlen, als bis wir ihn los waren. Erst dann würden wir nicht mehr daran erinnert werden, was wir hätten sein können und wie sehr wir nun wieder ganz unten waren. Die anderen empfanden wohl dasselbe wie ich. Ich merkte es daran, weil sie in dem Augenblick wieder munterer wurden, als ich zu ihnen sagte: »Laßt uns dieses Zeug über Bord befördern.« Na, das war eine ganze Menge Arbeit, wie ihr euch denken könnt, und es war auch eine harte Arbeit. Tom teilte uns im Verhältnis zu unserem Körperbau und zu unserer Stärke ein. Er sagte, daß ich und er jeder ein Fünftel des Sandes hina usschütten sollten und Jim drei Fünftel. Jim gefiel diese Einteilung jedoch nicht, und er sagte: »Natürlich bin ich am stärksten von euch und will auch den größten Teil übernehmen, aber bei Jingo, du lädst da doch dem alten Jim ein bißchen zuviel auf, Massa Tom, nicht wahr?« »Na, das glaube ich nicht, Jim. Aber du kannst ja selbst die Sache einteilen, und dann werden wir schon sehen.« So sagte denn Jim, er meine, daß es wohl durchaus in der Ordnung sein würde, wenn ich und Tom jeder den zehnten Teil übernähmen. Tom wendete ihm den Rücken zu, damit er nicht sein Gesicht sehen konnte, und dann verzog er den Mund zu einem Grinsen, das sich nach Westen hin über die ganze Sahara bis hinten an den. Atlantischen Ozean erstreckte, von wo wir hergekommen waren. Dann drehte er sich wieder um und sagte, die Einteilung wäre ganz gut, und wir wären damit -101-
einverstanden, wenn Jim es auch wäre. Jim sagte, er wäre es. So maß denn Tom zwei Zehntel im Bug der Gondel ab und überließ Jim den Rest. Es überraschte Jim jedoch mächtig, als er sah, wie groß der Unterschied war und was für eine entsetzliche Menge Sand auf seinen Anteil kam, aber er sagte, daß er nun doch ungeheuer glücklich wäre, daß er noch zur rechten Zeit darüber gesprochen habe und die erste Einteilung geändert worden sei. Dann sagte er, so wie es jetzt wäre, würde auf seinen Teil wohl immer noch mehr Sand als Vergnügen kommen. Dann begannen wir. Es war eine mächtig heiße Arbeit und auch sehr mühevoll. Es war so heiß, daß wir uns höher hinauf in ein kühleres Klima begeben mußten, oder wir hätten das nicht durchgehalten. Ich und Tom lösten einander ab, und während der eine arbeitete, ruhte sich der andere aus. Aber es war niemand da, der den armen alten Jim ablöste, und er machte diesen ganzen Teil Afrikas feucht, so sehr schwitzte er. Wir konnten nicht recht arbeiten, so oft mußten wir lachen, und Jim war ärgerlich und wollte wissen, was uns so amüsierte. Und wir mußten dann irgend etwas erfinden, was wir ihm erzählten, aber unsere Einfälle waren recht ärmlich, doch waren sie gut genug Jim durchschaute sie nicht. Als wir schließlich fertig waren, da waren wir halbtot, aber nicht von der Arbeit, sondern vom Lachen. Jim war auch halbtot, aber er war es von der Arbeit. Da lösten wir ihn denn ab, und er war uns mächtig dankbar dafür. Er setzte sich auf den Boden der Gondel und trocknete sich den Schweiß ab und schnaufte und stöhnte und sagte, wie gut wir doch zu einem armen alten Neger wären, und er würde es uns nie vergessen. Er war immer der dankbarste Mensch, den ich je gesehen habe, für jede kleine Gefälligkeit, die man ihm erwies. Äußerlich war er schwarz - aber innerlich war er ein Mensch wie du und ich.
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12 Die nächsten Mahlzeiten waren ganz schön sandig, aber das macht einem wenig aus, wenn man hungrig ist. Und wenn man nicht hungrig ist, hat man beim Essen sowieso keinen Genuß, und ich bin der Meinung, daß so ein bißchen Sand im Essen überhaupt nicht schadet. Indem wir nach Nordosten segelten, kamen wir endlich an das östliche Ende der Wüste. Fern am Ende des Landes in einem weichen blaßroten Licht sahen wir drei kleine spitze Dächer, die wie Zelte aussahen, und Tom sagte: »Das sind die Pyramiden von Ägypten.« Da begann mein Herz kolossal zu klopfen. Seht ihr, ich hatte doch schon viele, viele Bilder von ihnen gesehen und hatte schon hundertmal von ihnen erzählen gehört, und jetzt kam ich plötzlich bei ihnen an und sah, daß sie wirklich da waren und nicht nur in der Einbildung existierten, und da blieb mir vor Überraschung beinahe der Atem aus. Es ist doch seltsam, je mehr man über eine große und gewaltige und imposante Sache oder Person hört, desto mehr haben wir eine gewisse Vorstellung von ihr, und sie wird dann zu einem großen, aber unklaren, geheimnisvollen Traumbild. Geradeso ist es mit George Washington, und genauso ist es mit den Pyramiden. Aber außerdem schien es mir immer, als ob die Sachen, die sie über die Pyramiden erzählten, doch übertrieben seien. Da kam eines Tages mal einer zu uns in die Sonntagsschule, der hatte ein Bild von ihnen und hielt eine Rede und sagte, daß die größte Pyramide eine Fläche von dreizehn Morgen bedecke und daß sie fast fünfhundert Fuß hoch sei. Ein richtiger steiler Berg, der aus Steinblöcken gebaut wäre, die so groß wie ein Schreibtisch seien und die in völlig regelmäßigen Re ihen wie Treppenstufen aufgeschichtet worden wären. Dreizehn Morgen -104-
für ein einziges Gebäude - das ist ja wie eine Farm! Wenn ich nicht selbst in der Sonntagsschule gewesen wäre, so würde ich das für eine Lüge gehalten haben, und als ich draußen war, da dachte ich mir auch so etwas. Und der Mann sagte, in der Pyramide wäre eine Höhle, und in die könnte man mit Kerzen hineingehen und dann immer einen langen, ansteigenden Tunnel hinauf, bis man in einen großen Raum im Bauche des steinernen Berges käme, und da würde man eine große Steinkiste finden, in der ein König läge, und der sei viertausend Jahre alt. Ich sagte mir, das wird eine Lüge sein. Diesen König will ich fressen, wenn es ihn gibt, denn so alt war ja nicht einmal Methusalem, und niemand verlangt das auch. Als wir etwas näher herankamen, sahen wir, wie der gelbe Sand auf einmal aufhörte, abgeschnitten wie ein Tuch, und Rand an Rand mit einem weiten hellgrünen Land zusammentraf, durch das sich ein heller Streifen schlängelte, und Tom sagte, das wäre der Nil. Da begann mein Herz wieder zu klopfen, denn der Nil war auch so eine Sache, die ich nie für Wirklichkeit gehalten hatte. Nun kann ich euch eins erzählen, was todsicher ist: Wenn ihr mal dreitausend Meilen über gelben Sand hinweggegondelt seid und der Sand von der Hitze flimmert, daß euch die Augen tränen, und wenn ihr das fast eine ganze Woche lang getan habt, dann scheint euch das grüne Land die Heimat und der Himmel zu sein, und das Wasser wird euch von neuem aus den Augen laufen. So erging es mir, und mit Jim war es das gleiche. Und als Jim erkannte, daß dies auch tatsächlich Ägypten war, was er sah, da wollte er nicht stehend in dieses Land gelangen, sondern ließ sich auf die Knie nieder und nahm den Hut ab, denn er sagte, es schicke sich nicht für einen alten gottesfürchtigen Menschen, auf andere Weise in ein Land zu kommen, in dem Moses und Joseph und Pharao und die anderen Propheten gelebt hätten. Jim war Presbyterianer, und er hatte großen Respekt vor Moses, der auch ein Presbyterianer gewesen sei, wie er sagte. Er war ganz aufgeregt und rief: -105-
»Das ist Ägypten - das Land Ägypten! Und ich darf es mit meinen eigenen Augen sehen. Und da ist der Fluß, der sich in Blut verwandelte, und ich sehe auf dasselbe Land hinunter, über das die zehn Plagen kamen und die Läuse und die Frösche und die Heuschrecken und der Hagel und wo sie die Türpfosten mit Blut bemalten und die Engel des Herrn in der Dunkelheit der Nacht kamen und die Erstgeborenen im Lande Ägypten erwürgten. Der alte Jim ist nicht wert, solch einen Tag zu erleben.« Und dann sank er zusammen und weinte vor Dankbarkeit. Zwischen ihm und Tom gab es dann ein langes Gespräch. Jim war mächtig aufgeregt, weil dieses Land so voller Geschichten steckte: von Joseph und seinen Brüdern, von Moses in den Binsen, von Jakob, der nach Ägypten kam, um Köm zu kaufen, von dem silbernen Becher in dem Sack und allen diesen interessanten Sachen. Und Tom war ebenso aufgeregt, weil das Land auch so voll von Geschichten nach seinem Geschmack war: über Nurreddin und Bedreddin und ähnliche ungeheure Riesen, bei deren Beschreibung sich Jims krauses Haar sträubte, und eine Menge andere Leute aus Tausendundeine Nacht, die sicher niemals die Hälfte von all dem getan haben, was sie getan haben sollen, so glaube ich. Dann erlebten wir eine Enttäuschung, denn ein Morgennebel kam auf, und wir wollten nicht über ihn hinwegsegeln, weil wir sonst sicherlich über ganz Ägypten hinweggebraust wären. So hielten wir es für das beste, nach unserem Kompaß geradewegs auf die Stelle hinzusteuern, wo sich die Pyramiden befanden, die mehr und mehr im Nebel verschwanden. Wir gingen etwas tiefer und glitten dicht über dem Erdboden hinweg und hielten dabei scharf Ausschau. Tom übernahm das Steuer, und ich stand neben ihm und hielt den Anker bereit, und Jim saß auf dem Bug und bohrte seine Augen durch den Nebel, um mögliche Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Wir fuhren immer im gleichen Tempo, aber nicht sehr schnell, und der Nebel wurde -106-
dichter und dichter. Er wurde so dicht, daß Jim nur noch ganz schwach und verschwommen durch ihn zu erkennen war. Es war schrecklich ruhig, und wir sprachen leise und fürchteten uns. Ab und zu rief Jim: »Einen Strich höher, Massa Tom, noch etwas höher!« und dann ließ Tom den Ballon ein oder zwei Fuß höher steigen, und wir glitten gerade über das flache Dach einer Lehmhütte hinweg, in der sich Leute befanden, die eben ausgeschlafen hatten und nun herauskamen und noch gähnten und sich streckten. Einmal hatte ein Bursche sich beim Gähnen und Strecken auf seinen Hinterbeinen so hoch aufgerichtet, daß er von uns einen Stoß in den Rücken bekam und es ihn hinhaute. So verging allmählich mehr als eine Stunde, und alles war totenstill, und wir lauschten und hielten den Atem an, damit uns kein Geräusch entginge. Dann wurde der Nebel ganz plötzlich dünner, und Jim brüllte in schrecklicher Angst: »Um des Heilands willen, fahre rückwärts, Massa Tom. Hier ist der größte Riese aus Tausendundeine Nacht, und er kommt gerade auf uns los.« Und dann fiel er rückwärts in die Gondel. Tom schaltete den Rückwärtsgang ein, und als wir dadurch stillstanden, da sah ein Menschengesicht, so groß wie unser Haus daheim, über den Rand der Gondel, und ich fiel um und war tot. Ich muß wohl über eine Minute lang tot gewesen sein oder noch länger. Dann kam ich wieder zu mir, und da hatte Tom einen Bootshaken in die Unterlippe des Riesen eingehakt und hielt damit den Ballon fest und hatte dabei seinen Kopf hintenübergelegt und sah sich mit einem langen prüfenden Blick dieses schreckliche Gesicht an. Jim lag auf seinen Knien und hatte die Hände gefaltet, er starrte das Ding an und versuchte zu beten, aber er konnte keinen Laut über seine Lippen bringen. Ich warf nur einen Blick auf diese Szene und wollte wieder ohnmächtig werden, aber -107-
Tom sagte: »Er ist doch gar nicht lebendig, ihr Narren! Es ist die Sphinx!« Ich hatte Tom noch niemals so klein gesehen, wie eine Fliege sah er aus neben dem Kopf des Riesen, der so groß und so schrecklich anzusehen war. Schrecklich! Ja, das war er, aber ich fürchtete mich nicht mehr so, weil ich sah, daß es ein edles und beinahe trauriges Gesicht war und daß der Riese auch gar nicht an uns dachte, sondern an andere bedeutendere Dinge. Er war aus Stein, aus rötlichem Stein, und seine Nase und seine Ohren waren abgeschlagen, und es sah so aus, als ob man ihn mißhandelt hätte, und das konnte einem wirklich leid tun. Wir blieben ein Stück abseits und segelten rundherum und dann darüber hinweg, und es war einfach gewaltig. Es war der Kopf eines Mannes oder möglicherweise auch einer Frau auf einem Tigerkörper, der hundertfünfundzwanzig Fuß lang war. Und da war auch ein hübscher kleiner Tempel zwischen seinen Vordertatzen. Das ganze, ausgenommen der Kopf, war für Hunderte, ja vielleicht sogar für Tausende von Jahren unter dem Sande vergraben gewesen, aber gerade vor kurzer Zeit hatten sie den Sand weggeräumt und den kleinen Tempel gefunden. Es muß eine ungeheure Masse Sand nötig gewesen sein, um dieses Geschöpf zu begraben, wohl beinahe soviel, um ein Dampfschiff zu begraben, glaube ich. Wir setzten Jim oben auf dem Kopf ab, wo er eine amerikanische Flagge hißte, und dann segelten wir wieder weiter und betrachteten die Sphinx mal aus dieser und mal aus jener Richtung. Um die richtigen Eindrücke und Perspektiven und Proportionen zu bekommen, wie Tom es nannte. Und Jim tat auch sein Bestes, als er auf dem Kopf der Sphinx stand, indem er die verschiedensten Stellungen und Haltungen einnahm, die er sich nur ausdenken konnte. Je weiter wir fortflogen, desto kleiner wurde Jim und desto großartiger wirkte die Sphinx. Bis Jim schließlich nur noch wie eine Stecknadelspitze auf einem Dom aussah. Auf diese Art könne -108-
man durch die Perspektive die richtigen Proportionen erkennen, sagte Tom. Und er sagte, Julius Cäsars Männer hätten auch nicht gewußt, wie groß die Sphinx sei, weil sie zu nahe bei ihr gewesen wären. Dann segelten wir weiter, bis wir Jim überhaupt nicht mehr sehen konnten, und da machte die große Figur den edelsten Eindruck. Sie blickte so ruhig und so feierlich und einsam über das Niltal hinaus, und all die kleinen armseligen Hütten und ähnlichen Dinge, die über das Land verstreut waren, waren einfach verschwunden, und nichts anderes war um sie herum als ein weiches und ungeheures Tuch von gelbem Samt, und das war der Sand. Das war der richtige Platz, um anzuhalten, und das machten wir auch. Wir saßen eine halbe Stunde lang da und beobachteten und dachten nach, und keiner sagte etwas, denn uns überkam solch ein ruhiges und feierliches Gefühl, wenn wir daran dachten, daß die Sphinx schon immer auf diese gleiche Art über das Tal hinwegblickte und daß sie die gleichen schrecklichen Gedanken schon Tausende von Jahren bei sich behielt, so daß niemand bis auf den heutigen Tag herausbekommen hat, was sie dachte. Schließlich nahm ich das Fernglas, und da sah ich einige kleine schwarze Dinger auf dem Samtteppich herumspringen, und einige andere kletterten der Figur auf den Rücken, und dann sah ich zwei oder drei kleine Rauchwölkchen puffen und sagte Tom, er möchte auch mal hinsehen. Er machte das und sagte: »Das sind Käfer. Nein - halt mal - das sind - ich glaube, das sind Menschen und Pferde. Sie ziehen jetzt gerade eine lange Leiter auf den Rücken der Sphinx - ist das nicht merkwürdig? Und jetzt versuchen sie die Leiter aufzustellen... und da sind noch einige Rauchwolken - das sind Gewehre! Huck, sie sind hinter Jim her!« -109-
Wir schalteten auf Volle Kraft voraus und sausten dahin wie ein Orkan. Fast im gleichen Augenblick brausten wir schon mitten unter sie, und sie stoben auseinander und flüchteten nach allen Richtungen, und einige, die auf die Leiter geklettert waren, um Jim zu holen, verloren den Halt und fielen hinunter. Wir schwebten zu Jim hinauf und fanden ihn, wie er oben auf dem Kopf der Sphinx lag und keuchte und am ganzen Leibe zitterte, teilweise vor Angst und teilweise vor Anstrengung, weil er so laut um Hilfe gebrüllt hatte. Er hatte eine lange Belagerung aushallen müssen - eine Woche, sagte er, aber das stimmte nicht, und es kam ihm nur so vor, weil sie ihn so sehr bedrängt hatten. Sie hatten auf ihn geschossen, und die Kugeln waren um ihn herumgepfiffen, aber keine hatte ihn getroffen, und als sie merkten, daß er nicht mehr aufstand und die Kugeln ihn nicht erreichen konnten, weil er flach auf dem Kopf der Sphinx lag, da holten sie die Leiter, und nun wußte er, daß es mit ihm aus war, wenn wir nicht schnell zu Hilfe kämen. Tom war sehr entrüstet und fragte ihn, warum er ihnen denn nicht die Flagge gezeigt und im Namen der Vereinigten Staaten befohlen hätte, sofort damit aufzuhören. Jim sagte, er hätte es getan, aber es hätte keinen Eindruck auf sie gemacht. Tom sagte, er würde diese Sache nach Washington berichten, und meinte: »Ihr werdet sehen, daß sie sich für die Beleidigung der Flagge entschuldigen und auch eine Entschädigung zahlen müssen.« Jim fragte: »Was ist eine Entschädigung, Massa Tom?« »Das ist bares Geld!« »Und wer bekommt es, Massa Tom?« »Natürlich wir.« »Und wer bekommt die Entschuldigung?« »Die Vereinigten Staaten. Oder wir können sie auch nehmen. Wir können die Entschuldigung nehmen, wenn wir das wollen, und der Regierung das Geld überlassen.« -110-
»Wieviel Geld wird denn das sein, Massa Tom?« »Na, in einem so ernsten Falle, wie dieser es war, werden das mindestens drei Dollar pro Kopf sein und vielleicht sogar mehr.« »Also, dann will ich lieber das Geld nehmen, Massa Tom ich pfeife auf die Entschuldigung! Bist du nicht auch der Meinung? Und was denkst du, Huck?« Wir sprachen noch eine Weile darüber und stellten dann fest, daß es wohl das beste wäre, und waren uns einig, daß wir das Geld nehmen wollten. Das war eine ganz neue Sache für mich, und ich fragte Tom, ob sich die Länder immer entschuldigen, wenn sie etwas Unrechtes getan haben, und er sagte: »Ja, die kleinen tun das schon.« Wir segelten nun herum und sahen uns die Pyramiden an, und dann schwebten wir höher und landeten auf der abgeplatteten Spitze der größten von ihnen, und wir fanden, daß alles genauso war, wie es uns der Mann in der Sonntagsschule erzählt hatte. Eine Pyramide sah aus wie vier Treppenfluchten, die unten ganz breit anfingen und, während sie aufstiegen, immer enger wurden und dann oben bei der Spitze in einem Punkt zusammenliefen. Nur konnte man diese Treppenstufen nicht so hinaufsteigen wie andere Stufen, nein jede dieser Stufen war so hoch, daß sie einem ans Kinn reichte, und man mußte sich auf jede von unten hinaufheben lassen. Die zwei anderen Pyramiden waren nicht weit entfernt, und die Leute, die sich zwischen ihnen auf dem Sande bewegten, sahen wie krabbelnde Käfer aus, so hoch waren wir über ihnen. Tom konnte sich gar nicht mehr bezähmen, so sehr war er von Staunen und Freude erfüllt, daß er an einem solchen berühmten Ort war, und er triefte geradezu aus allen Poren von Geschichten, so schien es mir. Er sagte, er könne es beinahe nicht glauben , daß er nun auf der gleichen Stelle stünde, von der der Prinz auf dem bronzenen Pferd davongeflogen wäre. Das -111-
stünde in Tausendundeine Nacht, sagte er. Irgend jemand hätte dem Prinzen ein bronzenes Pferd gegeben mit einem Stift in der Schulter, und er konnte sich daraufsetzen und wie ein Vogel durch die Luft fliegen und durch alle Welt reisen, wohin er wollte, und er konnte das Pferd steuern, wenn er an dem Stift drehte, und er konnte damit hoch oder niedrig fliegen und landen, wo er es wünschte. Als er die Sache zu Ende erzählt hatte, da gab es ein unbehagliches Schweigen, welches immer entsteht, wenn jemand einen Unsinn erzählt hat und er euch leid tut und ihr das Gespräch auf ein anderes Thema bringen möchtet, aber nicht wißt, wie ihr das anfangen sollt, und bevor ihr euc h etwas ausgedacht und etwas unternommen habt, ist das Schweigen da und breitet sich aus und mordet die Stimmung. Ich war verlegen, und Jim war verlegen, und keiner von uns konnte ein Wort sagen. Tom glotzte mich eine Minute lang an und sagte dann: »Na komm, nun heraus damit. Was denkst du darüber?« Ich sagte: »Tom Sawyer, du glaubst das doch selbst nicht!« »Aus welchem Grunde denn nicht? Was hindert mich daran?« »Da ist eine Sache, die mich hindert: So etwas kann gar nicht passieren - das ist alles.« »Aus welchem Grunde kann es denn nicht passieren?« »Dann sage du mir, aus welchem Grunde es passieren kann.« »Dieses Luftschiff ist wohl Grund genug, daß es so etwas gibt, denke ich.« »Wieso?« »Wieso? Ich habe noch niemals solch einen Idioten gesehen. Sind denn nicht dieses Luftschiff und das Bronzepferd die gleichen Dinge, nur unter verschiedenen Namen?« -112-
»Nein, das sind sie nicht. Das eine ist ein Ballon, und das andere ist ein Pferd. Das ist ein großer Unterschied. Nächstens wirst du noch sagen, ein Haus und eine Kuh seien dieselbe Sache.« »Bei Jackson, Huck hat ihn wieder fest! Da kannst du dich nicht mehr herauswinden!« »Halt deine Klappe, Jim. Du weißt ja gar nicht, worüber du sprichst. Und Huck weiß es auch nicht. Paß mal auf. Huck, ich werde dir das klarmachen, so daß du es verstehen kannst. Sieh mal, es ist doch nicht allein die Form, auf die es ankommt, ob irgendwelche Dinge gleichartig oder nicht gleichartig sind, sondern das Prinzip ist das Entscheidende, und das Prinzip ist bei beiden das gleiche. Siehst du das jetzt ein?« Ich dachte darüber nach und sagte: »Tom, es hat keinen Zweck! Prinzip ist ganz gut und schön, aber damit kommen wir doch nicht um die große Tatsache herum, daß das, was ein Ballon vollbringen kann, noch lange kein Beweis dafür ist, daß ein Pferd das auch machen kann.« »Blödsinn, Huck! Du hast das Wesen der Sache noch nicht begriffen. Jetzt hör mir mal eine Minute zu - die Sache ist ganz klar. Fliegen wir nicht durch die Luft?« »Ja.« »Richtig. Fliegen wir nicht hoch oder niedrig, gerade wie wir wollen?« »Ja.« »Können wir in jede Richtung steuern, in die wir wollen?« »Ja.« »Und können wir landen, wann und wo wir wollen?« »Ja.« »Und wie setzen wir den Ballon in Bewegung, und wie steuern wir ihn?« -113-
»Indem wir die Knöpfe drücken.« »Jetzt, glaube ich, ist dir die Sache endlich klargeworden. Und bei dem Pferde wird die Fortbewegung und die Steuerung bedient, indem man an einem Stift dreht. Wir drücken auf einen Knopf, und der Prinz drehte an einem Stift. Du siehst, da ist nicht ein Atom Unterschied. Ich wußte doch, ich könnte es dir eintrichtern, wenn ich mir nur lange genug Zeit dafür nehme.« Er fühlte sich so froh, daß er zu pfeifen begann. Aber ich und Jim waren still, so daß er überrascht aufhörte und fragte: »Sieh mich mal an, Huck Finn, hast du es denn noch immer nicht begriffen?« Ich sagte: »Tom Sawyer, ich möchte dir einige Fragen stellen.« »Nur zu«, sagte er, und ich sah, wie Jim mit einem Male aufhorchte. »So, wie ich es verstanden habe, kommt es bei der Sache nur auf die Knöpfe und den Stift an - der Rest hat weiter keinen Einfluß. Ein Knopf hat eine ganz bestimmte Form, und ein Stift hat eine andere Form, aber darauf kommt es wohl nicht an?« »Nein, darauf kommt es nicht an, solange den beiden die gleiche Kraft innewohnt.« »Also, in Ordnung. Was ist denn das für eine Kraft, die in einer Kerze und in einem Streichholz steckt?« »Es ist das Feuer.« »Es ist also in beiden dasselbe?« »Ja, es ist genau dasselbe in beiden.« »Richtig. Angenommen, ich zünde eine Tischlerwerkstatt mit einem Streichholz an - wird sie brennen?« »Sie wird brennen.« »Angenommen, ich zünde nun diese Pyramide mit einer Kerze an - wird sie brennen?« -114-
»Natürlich wird sie nicht brennen.« »Richtig. Also, das Feuer ist in beiden Fällen das gleiche. Warum brennt nun die Werkstatt und die Pyramide nicht?« »Weil eine Pyramide nicht brennen kann.« »Aha! Und ein Pferd kann nicht fliegen!« »Du grüne Neune, da hat Huck ihn wieder«, rief Jim. »Huck hat ihn diesmal richtig aufs Kreuz gelegt, das kann ich euch sagen! Das war die klügste Falle, in die jemals einer hineingelaufen ist...und...« Aber Jim mußte so mächtig lachen, daß er beinahe erstickte und nicht weiterreden konnte, und Tom war ganz durchgedreht, als er sah, wie sauber ich ihn aufs Kreuz gelegt hatte und seine eigenen Argumente gegen ihn angewandt und ihn damit völlig außer Gefecht gesetzt hatte. Er wußte nichts weiter mehr zu sagen, als daß er, jedesmal wenn er höre, wie ich und Jim zu argumentieren versuchten, sich des Menschengeschlechts schäme. Ich sagte gar nichts mehr - ich fühlte mich sehr zufrieden. Wenn ich jemandem auf die Weise heimgeleuchtet habe, dann ist es nicht meine Art, herumzugehen und so darüber zu prahlen, wie manche Leute es tun. Denn ich denke mir, wenn ich an seiner Stelle wäre, dann würde es mir auch nic ht angenehm sein, wenn er über mich herzöge. Es ist besser, immer großzügig zu sein - so denke ich darüber.
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13 Später verließen wir Jim, um uns in der Umgebung der Pyramiden herumzutreiben. Wir stiegen zur Höhle hinunter, durch welche man in den Tunnel gelangte, und gingen mit einigen Arabern und Kerzen in sie hinein. Und tief in der Mitte der Pyramide fanden wir einen Raum und eine große Steinkiste, die man benutzt hatte, um den König darin aufzubewahren, genauso wie es uns der Mann in der Sonntagsschule erzählt hatte. Aber der König war jetzt nicht mehr da, irgend jemand hatte ihn mitgenommen. Aber ich interessierte mich nicht so recht für diesen Ort, denn es konnten Gespenster hier sein, natürlich keine besonders frischen, aber ich mag sie auf keine Art. So gingen wir wieder hinaus und mieteten uns einige kleine Esel und ritten ein Stück, und dann fuhren wir ein Stück in einem Boot, und dann ritten wir wieder auf Eseln, und so kamen wir nach Kairo. Und die ganze Zeit über war die Straße so glatt und schön anzusehen, wie eine Straße nur sein kann, und an ihren Rändern wuchsen große Dattelpalmen, und überall spielten nackte Kinder, und die Menschen waren so rotbraun wie Kupfer und schön und kräftig und gut gewachsen. Und die Stadt war eine Sehenswürdigkeit. In den engen Straßen - es waren eigentlich nur Gassen - wimmelte es von Leuten mit Turbanen und Frauen mit Schleiern, und alle waren in luftige, weite, farbenfrohe Gewänder gekleidet, und ihr hättet euch darüber gewundert, wie die Leute und die Kamele in solchen engen Gassen aneinander vorbeikommen konnten, aber es ging, obwohl sie sich beinahe zu Marmelade quetschten, und jeder machte dabei noch recht viel Krach. Die Läden waren nicht so groß, daß man hineingehen konnte, aber man brauchte auch gar nicht hinein, denn der Verkäufer saß im Schneidersitz auf -116-
seinem Ladentisch, rauchte seine lange Pfeife und hatte alles, was es zu verkaufen gab, in Reichweite liegen. Aber er saß sozusagen auf der Straße, und die Kamele streiften ihn mit ihren Lasten, wenn sie vorbeiliefen. Ab und zu rauschte ein hoher Scheich in seinem Wagen vorbei, und buntgekleidete Männer rannten schreiend vor seinem Wagen her und schlugen jeden mit langen Stöcken, der nicht aus dem Wege ging. Später kam sogar der Sultan, der an der Spit ze eines langen Zuges auf einem Pferde ritt, und uns stockte fast der Atem, so prächtig war er gekleidet. Alle Leute warfen sich flach auf den Bauch und blieben so lange liegen, bis er vorbei war. Ich vergaß, es ihnen nachzutun, aber einer war da, der half mir, so daß ich mich wieder daran erinnerte. Es war einer von denen, die mit langen Stöcken vorausliefen. Und Kirchen sahen wir - aber die Leute wußten nichts davon, daß man den Sonntag heiligen soll, sie nahmen dafür den Freitag und schändeten den Sabbat. Wenn ihr in die Kirchen wollt, müßt ihr die Schuhe ausziehen. Und es gab da ganze Haufen von Männern und Jungens in der Kirche, die in Gruppen auf dem Steinfußboden herumsaßen und einen endlosen Lärm machten. Tom sagte, sie lernten die ganzen Texte aus dem Koran auswendig, den sie für eine Bibel halten. In meinem ganzen Leben habe ich noch niemals eine so große Kirche gesehen. Sie war schrecklich hoch, und man wurde ganz schwindlig, wenn man hinaufschaute. Die Kirche unserer Gemeinde zu Hause ist gar nichts dagegen. Wenn man sie in diese hier hineinstellte, dann würden die Leute denken, es sei eine Hutschachtel. Was ich immer schon sehen wollte, war ein Derwisch, weil ich mich für Derwische interessiere, wegen dieses einen, der dem Kameltreiber den Streich gespielt hat. Wir fanden einen Haufen von ihnen in einer Art Kirche, und sie nannten sich selbst Tanzende Derwische, und sie tanzten auch - aber so was hatte ich noch niemals gesehen! Sie hatten große zuckerhutförmige Kappen auf und leinene Röcke an, und sie -117-
drehten sich und drehten sich und drehten sich immer rund und wieder rund wie ein Kreisel, und die Röcke standen ganz schräg von ihnen ab, und es war eine außerordentlich hübsche Sache und machte mich allein vom Zusehen betrunken. Sie wären alle Moslems, sagte Tom, und als ich ihn fragte, was denn ein Moslem sei, da sagte er, das sei jemand, der nicht Presbyterianer ist. Da gibt es also in Missouri eine Menge von ihnen, bloß ich habe es bisher noch nicht gewußt. Wir sahen kaum die Hälfte davon, was es in Kairo zu sehen gab, weil Tom so hinterher war, Orte ausfindig zu machen, die geschichtlich berühmt waren. Es war eine außerordentlich ermüdende Angelegenheit, den Speicher zu finden, wo Joseph vor der Hungersnot das Korn aufgespeichert hatte, und als wir ihn endlich gefunden hatten, da war er wirklich nicht sehenswert, denn es war ein alter, verfallener Schuppen. Aber Tom war sehr befriedigt und machte mehr Aufhebens davon, als ich gemacht haben würde, wenn ich mir einen Nagel in den Fuß getreten hätte. Wie er diese Bruchbude überhaupt fand, das war mir zu hoch. Wir waren zuvor schon bei mehr als vierzig vorbeigekommen, die alle vollkommen gleich aussahen, ehe wir zu diesem kamen, und ich wäre mit jedem anderen auch zufrieden gewesen, aber nein, für ihn mußte es gerade dieser Schuppen sein. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so sonderbar ist wie Tom Sawyer. In dem Augenblick, wo er das Richtige fand, erkannte er es sofort und so leicht, wie ich mein anderes Hemd erkennen würde, wenn ich ein zweites hätte. Aber wie er das macht, das kann er mir genausowenig erklären, wie er fliegen kann, hat er mir selbst gesagt. Dann suchten wir lange Zeit nach dem Hause, wo der Junge lebte, der den Kadi lehrte, wie man die alten Oliven von den frischen unterscheidet. Das ist auch aus Tausendundeine Nacht, und Tom hat es mir und Jim erzählt, als er einmal Zeit hatte. Also, wir suchten und suchten, bis ich so fertig war, daß ich fast umgefallen wäre und ich mir wünschte, daß Tom es doch -118-
aufgäbe und am nächsten Tag wieder hinginge und jemanden fragte, der in der Stadt Bescheid wußte und der die Sprache von Missouri verstünde und uns zu dem Ort geradewegs hinführen könnte. Aber nein - Tom wollte ihn selbst finden, etwas anderes kam nicht in Frage. So machten wir weiter. Schließlich passierte uns die bemerkenswerteste Geschichte, die ich je erlebt habe. Das Haus war nicht mehr da - auch der letzte Mauerrest war nicht mehr da, mit Ausnahme eines einzigen dreckigen Backsteins. Also, es wird kaum jemand glauben, daß ein Junge aus den Hinterwäldern von Missouri, der noch niemals zuvor in dieser Stadt gewesen war, einfach daherkam, nach dieser Stelle suchte und auch wirklich den Backstein fand. Aber Tom Sawyer tat es! Ich weiß, er machte das, denn ich habe gesehen, wie er es getan hat. Ich weilte zu dieser Zeit gerade an seiner Seite, und ich sah ihn, und ich sah den Backstein, und ich sah, wie er den Stein erkannte. Wie hat er das wohl gemacht, frage ich mich selbst. Ist es sein Wissen, oder ist es sein Instinkt? Also, das sind die Tatsachen, so wie sie geschehen sind. Jeder wird sie sich auf seine Art erklären. Ich habe ziemlich genau darüber nachgedacht, und meine Meinung ist, daß manches Toms Wissen zuzuschreiben ist, der größere Teil aber seinem Instinkt. Das hat folgenden Grund. Tom packte den Backstein ein und fügte einen Zettel mit seinem Namen und den näheren Angaben hinzu, um ihn einem Museum zu überreichen, wenn wir heimkamen. Aber ich packte ihn wieder aus und legte einen anderen Stein, der fast genauso aussah, an seine Stelle, und Tom erkannte den Unterschied überhaupt nicht, obwohl doch ein Unterschied da war, das seht ihr doch ein. Ich denke mir, das erklärt alles - es ist hauptsächlich Instinkt, kein Wissen. Sein Instinkt sagte ihm, wo der richtige Ort sei, wo er den Stein finden könne, und er erkannte den Stein durch den Ort, an dem er ihn fand, aber nicht durch den Anblick des Steines selbst. Wenn es Wissen gewesen wäre und kein Instinkt, dann würde er den Stein, als er ihn das nächste Mal sah, durch den bloßen -119-
Anblick wiedererkannt haben - aber das war nicht der Fall. Das beweist also, daß trotz der ganzen Prahlerei, die man täglich hört, daß das Wissen so eine wunderbare Sache sei, der Instinkt doch vierzigmal soviel wert ist, weil er wirklich untrüglich ist. Jim sagte dasselbe. Als wir zurückkamen, landete Jim und nahm uns an Bord. Dabei lernten wir einen jungen Mann kennen, der eine rote Kopibedeckung mit einer Troddel daran und eine wunderschöne blaue Seidenjacke und weite Hosen und einen Schal um seinen Bauch trug. Er konnte englisch sprechen und bat uns, wir möchten ihn als Führer anheuern, denn er wolle uns nach Mekka und Medina und Zentralafrika und überallhin bringen, für einen halben Dollar pro Tag nebst Verpflegung. Wir heuerten ihn an und stiegen auf und schalteten auf volle Kraft ein, und bald nach dem Mittagessen, da waren wir an der Stelle, wo die Kinder Israel durch das Rote Meer gezogen waren, als Pharao sie einzuholen versuchte und von den Wassermassen verschlungen wurde. Wir machten dort halt und sahen uns die Stelle genau an, und Jim war sehr befriedigt, daß er das alles sehen konnte. Er sagte, er könne es sich nun ganz genau vorstellen, wie alles vor sich gegangen sei. Er könne sich vorstellen, wie die Kinder Israel zwischen den hohen Mauern des Wassers einhergezogen seien und wie die Ägypter aus der Ferne herangekommen wären, so schnell wie sie konnten, und wie sie in das Rote Meer hineinmarschiert seien, als die Kinder Israel auf der anderen Seite schon wieder herausmarschierten. Und dann, als die Ägypter alle im Roten Meer waren, wären die Mauern des Wassers zusammengestürzt und hätten sie alle bis zum letzten Mann ertränkt. Dann schalteten wir wieder die Kraft ein und rauschten weiter und flogen über den Berg Sinai und sahen die Stelle, wo Moses damals die steinernen Tafeln zerbrach und wo die Kinder Israel in der Ebene lagerten und das goldene Kalb anbeteten, und es war alles mächtig interessant, und der Führer kannte jede Stelle -120-
genausogut wie sein Heimatdorf. Aber dann hatten wir einen Unfall, und der brachte alle unsere Pläne zum Stillstand. Toms alte ordinäre Maiskolbenpfeife war so ehrwürdig geworden und war schon so aus der Form geraten und eingeplatzt, daß sie trotz aller Schnüre und Bandagen, die um sie herumgewickelt wurden, nicht mehr zusammenhalten wollte, sondern in Stücke zerfiel. Tom wußte nicht, was er jetzt machen sollte. Die Pfeife des Professors konnte er nicht gebrauchen, denn eine Meerschaumpfeife behagte ihm nicht, weil jeder, der einmal eine Maiskolbenpfeife geraucht hat, weiß, daß sie allen anderen Pfeifen, die es in der Welt gibt, himmelweit überlegen ist und der sich keine andere mehr andrehen läßt. Meine wollte Tom nicht annehmen, sosehr ich ihn auch zu überreden versuchte. So war er nun mal. Er dachte scharf nach und sagte, wir müßten mal etwas herumstreifen und aufpassen, ob wir nicht eine in Ägypten oder in Arabien auftreiben könnten oder in irgendwelchen anderen Ländern hier in der Umgebung. Aber unser Führer sagte, es gäbe hier keine, denn sie wären hier nicht üblich. So war Tom eine Weile ziemlich mürrisch, aber dann hellte sich seine Miene auf, und er sagte, er hätte jetzt eine Idee und wüßte, was zu tun wäre. Er sagte: »Ich habe noch eine andere Maiskolbenpfeife, und es ist sogar eine ganz erstklassige, und fast neu. Sie liegt auf dem Wandbrett gerade über dem Küchenherd bei uns zu Hause. Jim, du kannst doch mit unserem Führer hinfahren und sie holen, und ich und Huck werden hier auf dem Berge Sinai so lange lagern, bis ihr wieder zurück seid.« »Aber, Massa Tom, wir können unser Dorf doch gar nicht finden. Ich kann wohl die Pfeife rinden, weil ich die Küche kenne, aber du heiliger Strohsack! Ich werde niemals unser Dorf finden und auch nicht St. Louis noch irgendeinen anderen dieser Orte. Wir wissen doch den Weg nicht, Massa Tom.« -121-
Das war eine Tatsache, auf die Tom eine Minute lang nicht antworten konnte. Dann sagte er: »Hört mal zu, sicher kann man die Sache doch machen, und ich werde euch auch sagen wie. Du siehst auf den Kompaß, und dann segelst du gerade wie ein Pfeil immer nach Westen, bis du die Vereinigten Staaten findest. Man kann sich dabei gar nicht irren, weil sie das erste Land sind, das man auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans antrifft. Wenn du bei Tage ankommst, kannst du gleich weiterfahren, vom oberen Teil der Küste von Florida geradewegs nach Westen auf die Mündung des Mississippi zu, die du etwa in eineinhalb Stunden erreichen wirst, wenn du mit der Geschwindigkeit fährst, die ich dir anrate. Du wirst so hoch oben in der Luft fliegen, daß die Erde dir sehr gekrümmt erscheinen wird - so ähnlich wie eine umgestülpte Waschschüssel -, und dann wirst du da unten eine Menge Flüsse in jeder Richtung entlangkrabbeln sehen, aber den Mississippi wirst du ohne Schwierigkeiten herausfinden. Dann fliegst du fast eine dreiviertel Stunde in nördlicher Richtung den Fluß entlang, bis du die Mündung des Ohio siehst. Jetzt mußt du scharf aufpassen, weil du jetzt schon in die Nähe kommst. Etwas weiter links wirst du einen anderen Strom einmünden sehen, das ist der Missouri, und das ist ein bißchen oberhalb von St. Louis. Du mußt dann tiefer hinuntergehen, so daß du während des Fluges die kleineren Gemeinden erkennen kannst. Du wirst etwa fünfundzwanzig davon in den nächsten fünfzehn Minuten überfliegen, und dann wirst du unsere Gemeinde erkennen, wenn du sie erblickst - und wenn nicht, dann brauchst du ja nur hinunterzurufen und zu fragen.« »Wenn das so leicht ist, Massa Tom, dann glaube ich, wir werden es schon machen. Jawohl, ich weiß, daß wir es können.« Auch der Führer war davon überzeugt, und er meinte, daß er es auch recht bald lernen würde, die Wache zu übernehmen. »Jim kann dir den ganzen Kram in einer halben Stunde beibringen«, sagte Tom. »Der Ballon ist genauso leicht zu -122-
lenken wie ein Kanu.« Tom holte die Landkarte hervor und zeichnete den Kurs ein und rechnete alles aus und sagte: »Der Weg nach Westen ist der kürzeste Weg zurück, wie ihr seht. Er ist nur siebentausend Meilen weit. Wenn ihr in östlicher Richtung andersherum fliegt, dann ist es mehr als doppelt so weit.« Dann sagte er zu dem Führer: »Ich hoffe, daß ihr beide während jeder Wache auf den Geschwindigkeitsmesser achtet, und wenn er nicht mehr als dreihundert Meilen in der Stunde anzeigt, dann müßt ihr höher oder tiefer gehen, bis ihr eine Sturmströmung findet, die in eurer Richtung weht. Dieser alte Kasten macht hundert Meilen in der Stunde ohne die Hilfe des Windes. Stürme von zweihundert Meilen sind leicht zu finden, ihr braucht nur nach ihnen zu suchen.« »Wir werden nach ihnen suchen, Sir«, sagte der Führer. »Seht zu, was ihr tun könnt. Manchmal werdet ihr ein paar Meilen höher steigen müssen, wenn es auch verdammt kalt ist, aber meistens werdet ihr euren Sturm ein gutes Stück tiefer finden. Wenn ihr nur einem anständigen Orkan begegnen würdet - das wäre die richtige Fahrkarte für euch. Ihr werdet in den Büchern des Professors finden, daß sie in diesen Breiten in westlicher Richtung auch verhältnismäßig tief wehen.« Dann rechnete Tom die Zeit aus und sagte: »Siebentausend Meilen, dreihundert Meilen die Stunde - ihr könnt den kleinen Abstecher in einem Tage machen - in vierundzwanzig Stunden. Heute ist Donnerstag, am Sonnabend nachmittag werdet ihr zurück sein. Kommt jetzt, wir wollen noch ein paar Decken, etwas Essen und ein paar Bücher und noch einige andere Sachen für mich und Huck auspacken, und dann könnt ihr gleich starten. Eine Gelegenheit zum Herumbummeln gibt es hier sowieso nicht - aber ich möchte rauchen, und je schneller ihr mir meine Pfeife bringt, desto besser.« -123-
Alle faßten mit an, und in acht Minuten waren unsere Sachen ausgeladen, und das Luftschiff war startbereit, um nach Amerika zu fliegen. Wir schüttelten uns zum Abschied die Hände, und Tom gab seine letzten Befehle: »Jetzt ist es zehn Minuten vor zwei Uhr nachmittags Sinaizeit. In vierund zwanzig Stunden werdet ihr zu Hause sein, das wird morgen früh um sechs sein, nach der Uhrzeit bei uns zu Hause. Wenn ihr das Dorf seht, dann geht ein bißchen abseits hinter dem Hügel im Wald nieder, so daß man euch nicht sehen kann. Und dann erledigt ihr alles. Jim, du lieferst diese Briefe auf der Post ab, und wenn dich jemand ansieht, dann ziehst du deinen Hut über das Gesicht, so daß man dich nicht erkennt. Dann gehst du von hinten in unsere Küche und holst die Pfeife und legst diesen Zettel auf den Küchentisch und legst etwas drauf, damit er nicht fortfliegt. Und dann schleichst du dich wieder hinaus und haust ab. Und laß dich von Tante Polly oder jemand anderem auch nicht mal durch einen Blick erwischen. Dann rennst du nach dem Luftschiff und schiebst mit deinem Dreihundertmeilentempo nach dem Berge Sinai ab. Ihr werdet zu Hause nicht länger als eine Stunde brauchen. Um sieben oder acht Uhr heimatlicher Zeit werdet ihr wieder abfahren und in vierundzwanzig Stunden hier sein. Also um zwei oder drei Uhr nachmittags Sinaizeit.« Tom las uns den Zettel vor. Er hatte folgendes geschrieben: »Donnerstag nachmittag. Tom Sawyer, der Aeronaut, sendet seiner Tante Polly viele liebe Grüße vom Berge Sinai, wo die Arche war (Was die Arche anbetrifft, handelt es sich wahrscheinlich um einen Irrtum von Huck und nicht von Tom. M.T.), ebenso auch Huck Finn, und sie wird diesen Brief morgen früh um halb sieben bekommen. Tom Sawyer, der Aeronaut.« »Da wird sie aber ihre Augen aufreißen, und die Tränen werden ihr kommen«, sagte er und rief dann: -124-
»Achtung! Eins - zwei - drei - und los!« Und ab ging die Post! Wir sahen das Luftschiff in einer Sekunde unseren Blicken entschwinden. Das erste, was Tom machte, war, daß er die Stelle suchte, wo die steinernen Tafeln zerbrochen worden waren, und bald fand er sie auch und brachte ein Kennzeichen an dieser Stelle an, damit später einmal ein Denkmal hier gebaut werden könnte. Dann fanden wir eine recht bequeme Höhle, von wo aus man die ganze weite Ebene übersehen konnte, und dort schlugen wir unser Lager auf, um auf die Pfeife zu warten. Das Luftschiff kam pünktlich wieder zurück und brachte die Pfeife. Aber Tante Polly hatte Jim geschnappt, als er die Pfeife holen wollte, und jeder kann sich nun vorstellen, was geschah: Tom sollte nach Hause zurückkommen. Jim sagte so: »Massa Tom, sie steht vor der Haustür und hat ihre Augen zum Himmel erhoben und schaut nach dir aus, und sie sagt, daß sie nicht mehr von dort weggehen wird, bis du wieder zu Hause bist. Das gibt noch großen Ärger, Massa Tom, ganz bestimmt!« So schoben wir denn ab nach Hause, und keiner von uns fühlte sich sehr wohl dabei.
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