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cbt ist der Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Für Joan Marie
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cbt ist der Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Für Joan Marie
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»Sir?«, wiederholt sie. »Wann soll das Paket ankommen?« Mit zwei Fingern streiche ich mir über die linke Augenbraue. Das Pochen ist schlimmer geworden. »Spielt keine Rolle«, antworte ich. Die Postangestellte nimmt das Paket. Derselbe Schuhkarton, der vor nicht mal vierundzwanzig Stunden auf meiner Veranda gelegen hatte, wieder eingeschlagen in eine braune Papiertüte, verschlossen mit durchsichtigem Klebeband, genau so, wie ich ihn bekommen hatte. Doch jetzt mit einem neuen Namen versehen. Dem nächsten Namen auf Hannah Bakers Liste. »Was macht das?«, frage ich. Sie legt das Paket auf eine Gummiunterlage und tippt etwas auf der Tastatur. Ich stelle meinen Becher mit Tankstellenkaffee auf die Theke und blicke auf den Monitor. Ich ziehe ein paar Scheine aus meinem Portemonnaie, krame einige Münzen aus meiner Hosentasche und lege das Geld auf die Theke. »Ich glaube, der Kaffee hat Sie noch nicht richtig wach gemacht«, sagt sie. »Ich bekomme noch einen Dollar.« Ich schiebe einen weiteren Dollar rüber und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Der Kaffee ist lauwarm, als ich daran nippe, was das Schlucken noch schwieriger macht. Aber ich muss irgendwie zu mir kommen. Oder auch nicht. Vielleicht ist es das Beste, diesen Tag wie in Trance zu verbringen. Vielleicht ist das der einzige Weg, um ihn durchzustehen. »Müsste morgen ankommen«, sagt sie. »Spätestens übermorgen.« Dann lässt sie das Paket auf einen Rollwagen fallen, der hinter ihr steht. Ich hätte bis nach der Schule warten sollen. Ich hätte Jenny noch einen friedlichen Tag gönnen sollen. Obwohl sie es nicht verdient. Wenn sie morgen nach Hause kommt, wird sie ein Paket vor ihrer Tür vorfinden. Falls ihre Eltern schon da sind, wird es 4
vielleicht auf ihrem Bett liegen. Sie wird genauso erstaunt sein wie ich. Ein Paket ohne Absender? War das ein Versehen oder beabsichtigt? Vielleicht von einem heimlichen Verehrer? »Wollen Sie eine Quittung?«, fragt die Angestellte. Ich schüttele den Kopf. Ein kleiner Drucker spuckt trotzdem eine aus. Ich sehe zu, wie sie den Beleg abreißt und in den Mülleimer wirft. Es gibt nur ein einziges Postamt in der Stadt. Ich frage mich, ob es dieselbe Angestellte war, die auch die anderen auf der Liste bedient hat - diejenigen, die das Paket vor mir bekommen haben. Haben sie die Quittungen als makabres Souvenir behalten? Sie in ihren Wäscheschubladen versteckt oder an die Pinnwand geheftet? Fast hätte ich es mir anders überlegt. Fast hätte ich gesagt: »Entschuldigung, könnte ich doch die Quittung haben?« Als Erinnerungsstück. Doch hätte ich ein Erinnerungsstück gewollt, hätte ich ebenso gut die Kassetten überspielen oder den Stadtplan aufheben können. Aber ich will diese Kassetten nie wieder hören. Hannahs Stimme werde ich sowieso nicht mehr loswerden. Und auch die Häuser, die Straßen und die Highschool werden mich stets an sie erinnern. Ich habe keine Kontrolle mehr darüber. Das Paket ist unterwegs. Ich verlasse das Postamt ohne Quittung. Weit hinter meiner linken Augenbraue pocht mein Kopf immer noch. Wenn ich schlucke, brennt es säuerlich in meiner Kehle, und je näher ich der Schule komme, desto näher bin ich einem Zusammenbruch. Ich will zusammenbrechen. Ich will auf den Bürgersteig sinken und in die Büsche kriechen. Denn unmittelbar hinter den Büschen macht der Fußweg eine Kurve und führt am Parkplatz der Schule entlang. Er durchschneidet eine Rasenfläche und läuft direkt auf das Hauptgebäude zu. Sobald man die Eingangstüren hinter sich gelassen hat, betritt man einen langen 5
Gang, der an zahlreichen Schließfächern und Klassenzimmern vorbeiläuft, bis man schließlich die stets geöffnete Tür erreicht, hinter der die erste Stunde stattfindet. Am Kopf des Zimmers, frontal zu den Schülern, befindet sich das Pult von Mr Porter. Er wird der Letzte sein, der ein Paket ohne Absender erhält. Und in der Mitte des Raumes, in der ersten Reihe links, steht der Stuhl von Hannah Baker. Leer.
GESTERN EINE STUNDE NACH SCHULSCHLUSS Ein Paket von der Größe eines Schuhkartons lehnt an der Haustür. Unsere Haustür hat nur einen schmalen Briefschlitz, alles, was größer als ein Stück Seife ist, muss draußen bleiben. Der hastig hingekritzelte Name auf der Verpackung adressiert das Paket an Clay Jensen, also hebe ich es auf und gehe hinein. Ich trage das Paket in die Küche und stelle es auf die Arbeitsplatte. Ich öffne eine Schublade und nehme die Schere heraus. Dann schlitze ich das Paket mit der Schneide rundherum auf und öffne es. In dem Schuhkarton befindet sich ein länglicher Gegenstand, der in Luftpolsterfolie eingewickelt ist. Ich rolle sie auseinander und erblicke sieben Musikkassetten. Jede Kassette ist oben rechts mit einer Nummer beschriftet. Die Farbe sieht aus wie Nagellack. Jede Seite trägt eine eigene Zahl. Die Seiten eins und zwei befinden sich auf der ersten Kassette, drei und vier auf der zweiten und so weiter. Die letzte Kassette ist auf einer Seite mit »13« beschriftet, die andere Seite ist leer. 6
Wer kommt nur auf die Idee, mir einen Schuhkarton mit Musikkassetten zu schicken? Wer benutzt heute noch Kassetten? Wo soll ich die überhaupt anhören? In der Garage! Auf der Werkbank steht ein Gettoblaster. Mein Vater hat ihn auf dem Flohmarkt erstanden. Da das Teil schon uralt ist, macht es ihm nichts aus, wenn es mit Sägemehl bedeckt und mit Farbe bekleckst ist. Hauptsache, man kann damit Kassetten hören. Ich ziehe einen Stuhl vor die Werkbank, lasse meinen Rucksack zu Boden fallen und setze mich hin. Ich drücke auf »Eject«. Eine Plastiklade schwingt auf und ich lege die erste Kassette ein.
KASSETTE 1: SEITE A
Hallo zusammen. Hier spricht Hannah Baker. Live und in Stereo. Ich kann es nicht glauben. Keine Wiederkehr. Keine Zugabe. Und diesmal auch absolut keine Forderungen. Nein, ich kann es nicht glauben. Hannah Baker hat sich das Leben genommen. Ich hoffe, ihr seid bereit, denn ich will euch die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand. Und wenn ihr diese Kassetten hört, dann seid ihr einer der Gründe dafür. Was? Nein! Ich werde nicht verraten, welche Kassette wen von euch ins Spiel bringt. Aber keine Sorge, wer diese hübsche kleine 7
Schachtel bekommen hat, dessen Name wird irgendwann auftauchen - versprochen! Tote Mädchen lügen nicht! Ist das etwa ein Abschiedsbrief? Ihr lacht ja gar nicht. Sollte ein Scherz sein. Bevor Hannah gestorben ist, hat sie diese Aufnahmen gemacht. Warum? Es gibt nur zwei Regeln und die sind ganz einfach. Regel Nummer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfallen. »Was hörst du da an?« »Mom!« Ich fingere aufgeschreckt an den Tasten herum und drücke mehrere gleichzeitig.
»Mensch, hast du mich erschreckt!«, sage ich. »Das ist nichts Besonderes. Nur ein Projekt für die Schule.« Meine Standarderklärung. Wenn ich erst spät nach Hause kommen will - Schulprojekt. Wenn ich extra Geld brauche Schulprojekt. Und jetzt die Kassetten eines Mädchens. Eines Mädchens, das vor zwei Wochen eine Handvoll Tabletten geschluckt hat. Schulprojekt. »Darf ich mal hören?«, fragt sie. »Das ist nicht von mir«, entgegne ich, während die Spitze meines Schuhs über den Betonboden kratzt. »Ich helfe nur einem Freund … in Geschichte, ziemlich langweiliges Zeug.« »Das ist aber nett von dir«, entgegnet sie. Sie beugt sich über meine Schulter, hebt einen schmutzigen Putzlappen - eine meiner alten Stoffwindeln - hoch und nimmt sich das Maßband, das sich darunter befindet. Dann küsst sie mich auf die Stirn. »Bin schon wieder weg.« 8
Ich warte, bis die Tür sich schließt, den Finger bereits auf der Starttaste. Doch meine Hände, meine Arme, mein Hals, alles fühlt sich taub an. Ich habe nicht genug Kraft, um die Taste eines Kassettenrekorders herunterzudrücken. Ich nehme die Stoffwindel und lege sie über den Schuhkarton, um ihn nicht ansehen zu müssen. Ich wünschte, ich hätte diese Schachtel und die sieben Kassetten darin nie zu Gesicht bekommen. Das erste Mal auf »Play« zu drücken, war einfach gewesen. Ein Kinderspiel. Ich hatte nicht geahnt, was ich hören würde. Doch jetzt ist es eines der beängstigendsten Dinge, die ich je getan habe. Ich drehe die Lautstärke herunter und drücke auf »Play«.
… Nummer eins: Ihr hört zu. Nummer zwei: Ihr schickt die Kassetten weiter. Hoffentlich wird euch beides schwerfallen. Nachdem ihr alle dreizehn Seiten angehört habt, legt ihr die Kassetten wieder in den Karton und schickt sie an denjenigen weiter, der eurer kleinen Geschichte folgt. Und du, glückliche Nummer 13, du kannst mit den Bändern zur Hölle fahren. Vielleicht sehen wir uns dort, aber das hängt natürlich von deiner Religion ab. Solltet ihr versucht sein, die Regeln zu brechen, so versichere ich euch, dass es von allen Kassetten Kopien gibt. Und diese Kopien werden in der Öffentlichkeit für ziemlichen Wirbel sorgen, wenn das Paket nicht jeden von euch erreicht. Das war keine spontane Entscheidung. Glaubt nie wieder, ihr könntet euch bei mir sicher sein. Wie kann sie das nur denken? Ihr werdet beobachtet. 9
Mein Magen zieht sich zusammen, ich bin drauf und dran, mich zu übergeben. In der Nähe steht ein umgedrehter Plastikeimer auf einem Schemel. Falls nötig, kann ich ihn mit zwei Schritten erreichen und umdrehen. Ich kannte Hannah Baker kaum. Das heißt, ich hätte sie gern näher gekannt, doch bekam ich nie die Chance dazu. Den Sommer hindurch haben wir zusammen in einem Kino gejobbt und vor gar nicht langer Zeit auf einer Party ein bisschen rumgeknutscht. Doch wir hatten nie die Gelegenheit, uns wirklich näherzukommen. Und nie war ich mir bei ihr sicher. Nicht ein Mal. Diese Kassetten sind bestimmt nicht für mich bestimmt. Das muss ein Irrtum sein. Oder ein schlechter Scherz. Ich ziehe den Mülleimer zu mir heran. Obwohl ich das schon einmal gemacht habe, schaue ich mir erneut die Verpackung an. Irgendwo muss doch der Absender zu finden sein. Vielleicht habe ich ihn nur übersehen. Hannahs Selbstmordkassetten sind durch mehrere Hände gegangen. Jemand hat sie überspielt und sich einen Spaß daraus gemacht, mir die Kopien zu schicken. Morgen in der Schule wird jemand lachen, wenn er mich sieht, oder grinsend den Kopf abwenden. Dann werde ich es wissen. Aber wie werde ich reagieren? Keine Ahnung.
Das hätte ich fast vergessen: Wenn ihr auf meiner Liste seid, dann habt ihr vor einiger Zeit eine Karte bekommen. Ich stopfe die Verpackung wieder in den Mülleimer. 10
Ich bin auf der Liste. Vor ein paar Wochen, nur wenige Tage bevor Hannah die Tabletten schluckte, hat jemand einen Umschlag durch den Lüftungsschlitz meines Spinds gesteckt. Darauf stand mit rotem Filzstift: GUT AUFHEBEN - DU WIRST IHN BRAUCHEN. Darin befand sich ein zusammengefalteter Stadtplan, auf dem zirka ein Dutzend Punkte durch rote Sterne markiert war. In der Grundschule haben wir genau solche Karten der Handelskammer benutzt, um uns die Himmelsrichtungen einzuprägen. Die Karten waren mit kleinen blauen Nummern übersät, die zu den Firmennamen gehörten, die am Rand aufgeführt waren. Ich habe Hannahs Karte in meinem Rucksack aufgehoben. Eigentlich wollte ich sie in der Schule herumzeigen, um herauszufinden, ob noch jemand eine Karte bekommen hat. Ob jemand wusste, was das Ganze soll. Doch mit der Zeit wurde sie immer mehr von meinen Schulsachen zerquetscht und schließlich habe ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Bis heute. Auf den Kassetten werde ich mehrere Orte unserer geliebten Stadt erwähnen, die ihr besuchen sollt. Ich kann euch nicht dazu zwingen, doch wenn ihr etwas mehr verstehen wollt, dann lasst euch von den Sternen leiten. Oder ihr schmeißt die Karten einfach weg und ich werde nie davon erfahren. Während Hannahs Stimme aus den staubigen Lautsprechern dringt, spüre ich das Gewicht meines Rucksacks an meinen Beinen. Irgendwo auf dem Boden befindet sich die zerfledderte Karte. Oder vielleicht doch. Ich weiß nicht, wie die ganze Sache mit dem Tod funktioniert. Wer weiß, vielleicht stehe ich ja in diesem Augenblick hinter euch und schaue euch über die Schulter. 11
Ich beuge mich vor und stütze meine Ellbogen auf die Werkbank. Mein Gesicht ruht in meinen Händen, und als ich mir mit den Fingern durch die Nackenhaare streiche, bemerke ich verwundert, wie feucht sie sind. Tut mir leid. Das ist nicht fair. Sind Sie bereit, Mr Foley? Justin Foley. Einer aus der Abschlussklasse. Er war Hannahs erster Kuss. Woher weiß ich das eigentlich? Justin, mein Lieber, du warst mein allererster Kuss. Die erste Hand, die ich gehalten habe. Dabei warst du nur ein Durchschnittstyp. Ich sage das nicht, um gemein zu sein - bestimmt nicht. Du hattest nur eben irgendwas an dir, was mich dazu trieb, deine Freundin sein zu müssen. Bis heute weiß ich nicht, was das eigentlich war. Doch es existierte … und es war unglaublich stark. Du hast es nie bemerkt, doch vor zwei Jahren, als ich ein Neuling war und du in die Klasse über mir gingst, da habe ich dir stets nachspioniert. In der sechsten Stunde habe ich immer im Sekretariat ausgeholfen, also kannte ich jeden Namen in deinen Kursen. Ich habe sogar deinen Stundenplan fotokopiert, irgendwo muss ich den heute noch haben. Er wird bestimmt wieder auftauchen, wenn sie später meine persönlichen Sachen durchsuchen, aber wahrscheinlich werfen sie ihn weg, weil sie nicht glauben, dass der Krimskrams einer Schulanfängerin irgendwas bedeuten könnte. Doch für mich hatte das alles eine große Bedeutung. Ich bin zu dir zurückgekehrt, um einen Beginn für meine Geschichte zu finden. Und sie fängt tatsächlich bei dir an. An welcher Stelle der Geschichte werde ich auftauchen? An zweiter? Oder dritter? Wird sie immer schlimmer werden? Sie sagte, die glückliche Nummer dreizehn soll mit den Kassetten zur Hölle fahren. 12
Wenn du die Kassetten bis zum Ende angehört hast, Justin, wirst du hoffentlich verstehen, was für eine Rolle du bei der ganzen Sache gespielt hast. Sie mag vielleicht klein aussehen, aber auch sie zählt. Am Ende zählt alles. Hintergangen zu werden. Eines der schlimmsten Gefühle überhaupt. Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wolltest. Wahrscheinlich hatten die meisten von euch keine Ahnung, was ihr getan habt was ihr wirklich getan habt. Was habe ich denn getan, Hannah? Ich habe absolut keine Ahnung, was das sein könnte. Diese Nacht, falls du darauf anspielen solltest, war genauso seltsam für mich wie für dich. Vielleicht sogar noch seltsamer, weil ich immer noch keinen Schimmer habe, was eigentlich passiert ist. Unser erster Stern befindet sich auf C4. Setzt euren Finger einfach auf Spalte C und fahrt dann runter bis zur 4. Genau wie beim Schiffeversenken. Nachdem ihr das Band gehört habt, solltet ihr dorthingehen. Wir haben in diesem Haus zwar nur kurz gewohnt - in dem Sommer, bevor ich auf die Highschool kam -, doch immerhin war das unsere erste Adresse, nachdem wir hierhergezogen waren. Und dort habe ich dich zum ersten Mal gesehen, Justin. Vielleicht erinnerst du dich daran. Damals warst du in meine Freundin Kat verliebt. Die Schule sollte erst in zwei Monaten beginnen, und Kat war der einzige Mensch, den ich hier kannte, weil sie direkt neben uns wohnte. Sie hat mir erzählt, dass du im letzten Jahr ständig hinter ihr her warst, sie die ganze Zeit angestarrt hast und auf den Gängen immer wieder zufällig mit ihr zusammengestoßen bist. Natürlich rein zufällig, oder? Kat hat mir auch erzählt, dass du auf der Schuljahresabschlussparty endlich den Mut aufgebracht hast, etwas anderes zu tun, als sie anzustarren und ihre Nähe zu suchen. Ihr beide habt jeden langsamen Tanz miteinander getanzt. Und dann hat 13
sie sich von dir küssen lassen. Der erste richtige Kuss ihres Lebens. Was für eine Ehre! Die Geschichten müssen furchtbar sein. Haarsträubend. Deshalb schickt sie auch einer an den anderen weiter. Aus reiner Angst. Wer käme schon auf die Idee, einen Haufen Kassetten weiterzugeben, die einem die Verantwortung für einen Selbstmord in die Schuhe schieben wollen? Niemand. Doch Hannah will, dass wir, die auf der Liste sind, ihr zuhören. Und wir gehorchen, schicken die Kassetten weiter, und wenn auch nur, um sie von Leuten fernzuhalten, die nicht auf der Liste stehen. »Die Liste«. Hört sich an wie ein Geheimbund oder ein elitärer Klub, dem ich aus unerfindlichen Gründen angehöre. Ich wollte wissen, wie du aussiehst, Justin, also haben wir dich von mir aus angerufen und gefragt, ob du nicht rüberkommen willst. Wir haben von mir aus angerufen, weil Kat nicht wollte, dass du erfährst, wo sie wohnt … noch nicht … obwohl ihr Haus ja direkt nebenan war. Du hast gerade Basketball oder Baseball oder so was gespielt und hattest im Moment keine Zeit. Also haben wir gewartet. Viele von uns haben in jenem Sommer Basketball gespielt, in der Hoffnung, als Angehörige des ersten Jahrgangs in das Juniorteam aufgenommen zu werden. Justin hatte bereits einen Platz im Team sicher. Also haben viele von uns im Sommer mit ihm trainiert, um sich etwas abzuschauen. Und manchen ist das auch gelungen. Andere waren leider weniger erfolgreich. Wir saßen stundenlang in meinem Erkerfenster, das auf die Straße hinausging, und redeten, als du plötzlich mit einem deiner Freunde - hi, Zach! - die Straße hinaufkamst. Zach? Zach Dempsey? Das einzige Mal, dass ich Zach mit Hannah gesehen habe - und das auch nur für einen kurzen Moment -, war der Abend, an dem ich sie kennenlernte. 14
Unmittelbar vor unserem alten Haus treffen zwei Straßen aufeinander wie ein umgekehrtes T, ihr seid also mitten auf der Straße auf uns zugelaufen.
Warte. Warte. Ich muss nachdenken. Ich kratze an einem eingetrockneten roten Farbklecks auf der Werkbank. Warum höre ich eigentlich zu? Ich meine, warum tue ich mir das überhaupt an? Warum reiße ich nicht einfach die Kassette aus dem Rekorder und schmeiße alle zusammen in den Müll? Ich schlucke heftig. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Weil es Hannahs Stimme ist. Eine Stimme, von der ich glaubte, sie nie wieder zu hören. Ich kann die Kassetten nicht wegwerfen. Und natürlich wegen der Regeln. Ich blicke zu der alten Stoffwindel hinüber, unter der sich der Schuhkarton befindet. Hannah sagt, dass sie von jeder Kassette eine Kopie angefertigt hat. Aber wenn das nicht stimmt? Vielleicht hat die ganze Sache ein Ende, wenn ich sie nicht weiterschicke. Aus und vorbei. Nichts passiert. Aber was ist, wenn auf den Bändern doch etwas zu hören ist, was mich belastet? Falls das alles doch kein Trick ist? Dann wird ein zweiter Satz Kassetten an die Öffentlichkeit gelangen. Das hat sie jedenfalls gesagt. Und jeder kann sie dann anhören. Der Farbklecks blättert ab wie alter Schorf. Wer traut sich zu testen, ob das Ganze nur ein Bluff ist?
Du warst mit einem Fuß im Rinnstein und hast den anderen auf die Rasenfläche gesetzt. Weil mein Dad den ganzen Morgen 15
über die Rasensprenger angeschaltet hatte, war das Gras noch feucht, und du bist ausgerutscht. Zach starrte in diesem Moment zum Fenster rauf, um einen Blick von Kats neuer Freundin - schönen Gruß auch - zu erhaschen, stolperte über dich und landete neben dir auf dem Bordstein. Du hast ihn weggestoßen und dich aufgerappelt. Als Zach wieder auf den Beinen war, habt ihr euch unschlüssig angeschaut, als wüsstet ihr nicht, was ihr jetzt tun solltet. Und wozu habt ihr euch entschieden? Ihr seid einfach weggelaufen, wieder die Straße hinunter, während Kat und ich uns kringelig gelacht haben. Ja, ich erinnere mich daran. Kat fand das wahnsinnig komisch. Sie hat mir im Sommer auf ihrer Abschiedsparty davon erzählt. Die Party, auf der ich Hannah zum ersten Mal gesehen habe. Oh, mein Gott, sie war so unglaublich hübsch. Und neu in der Stadt, das war das Aufregendste. Dem anderen Geschlecht gegenüber verfiel ich meist in ein unverständliches Stammeln, über das sich jeder Pfadfinder amüsiert hätte. Doch ihr gegenüber konnte ich ein neues und anderes Gesicht zeigen. Kat zog noch vor Schulbeginn weg, und ich verliebte mich in den Jungen, den sie zurückgelassen hatte. Und es hat nicht lange gedauert, bis dieser Junge auch an mir Interesse zeigte. Was vielleicht mit der Tatsache zu tun hatte, dass ich ständig in seiner Nähe zu sein schien. Wir waren in keinem Kurs zusammen, doch lagen unsere Klassenzimmer in der ersten, vierten und fünften Stunde zumindest nah beieinander. Okay, in der fünften war es doch eine ziemliche Strecke, und manchmal kam ich zu spät, um dich noch zu sehen, aber in der ersten und vierten Stunde gingen unsere Zimmer zumindest vom selben Flur ab. Bei Kats Party hingen alle auf der Terrasse herum, obwohl die Temperatur unter null war. Vermutlich war es die kälteste 16
Nacht des Jahres. Und ich hatte natürlich meine Jacke zu Hause vergessen. Irgendwann habe ich mich überwunden und angefangen, Hallo zu dir zu sagen. Ein wenig später hast du dir ein Herz genommen und damit begonnen, mein Hallo zu erwidern. Eines Tages bin ich dann grußlos an dir vorbeimarschiert. Ich wusste, dass dich das beschäftigen würde, und diese Situation führte tatsächlich zu unserem ersten richtigen kleinen Gespräch. Nein, das stimmt nicht. Ich hatte meine Jacke mit Absicht zu Hause liegen gelassen, damit jeder mein neues Hemd bewundern konnte. Was für ein Idiot ich doch war. »Hey«, sagtest du. »Willst du gar nicht Hallo zu mir sagen?« Ich lächelte, holte tief Luft und drehte mich um. »Warum sollte ich?« »Weil du sonst immer Hallo sagst.« Ich habe dich gefragt, warum du glaubst, dich bei mir so gut auszukennen. Dann habe ich dir gesagt, dass du wahrscheinlich überhaupt nichts über mich weißt. Auf Kats Party habe ich mich während meiner ersten Unterhaltung mit Hannah gebückt, um mir die Schuhe zuzubinden. Aber es ging nicht. Ich konnte keine Schleife binden, weil meine Finger vor Kälte ganz taub waren. Zu Hannahs Gunsten muss ich erwähnen, dass sie angeboten hat, es für mich zu tun. Aber natürlich habe ich das abgelehnt. Stattdessen wartete ich so lange, bis sich Zach in unser unbeholfenes Gespräch einschaltete, dann ging ich hinein, um meine Finger unter fließendem Wasser aufzutauen. Wie peinlich. Früher, als ich meine Mutter fragte, wie ich die Aufmerksamkeit eines Jungen auf mich ziehen könnte, sagte sie: »Tu so, als seiest du schwer zu haben.« Also habe ich ihren Rat befolgt. Und es hat tatsächlich funktioniert. Du fingst an, vor 17
meinen Klassenzimmern herumzulungern und auf mich zu warten. Ich glaube, es hat Wochen gedauert, bis du endlich nach meiner Telefonnummer gefragt hast. Aber ich wusste, dass du es irgendwann tun würdest, deswegen hatte ich geübt, sie so gelassen und beiläufig auszusprechen, als würde es mir nichts bedeuten. Als würde ich sie jeden Tag hundert verschiedenen Leuten geben. An meiner alten Schule hat es schon Jungs gegeben, die mich danach gefragt hatten, aber hier, an meiner neuen Schule, warst du der Erste. Nein, das stimmt nicht. Aber du warst der Erste, der meine Nummer bekommen hat. Im Grunde hätte ich sie auch den anderen geben können. Aber ich war vorsichtig. Du weißt schon … neue Stadt, neue Schule. Und diesmal wollte ich selbst darüber entscheiden, wie ich von den anderen gesehen wurde. Wie oft bekommt man schon eine zweite Chance? Bevor du mich gefragt hast, Justin, habe ich immer alle Zahlen richtig gesagt - bis auf die allerletzte. Dann geriet ich plötzlich durcheinander … absichtlich schusselig sozusagen. Ich öffne den Rucksack, der auf meinem Schoß liegt. Ich war viel zu aufgeregt, um zuzusehen, wie du meine Nummer notierst. Zum Glück warst du viel zu nervös, um das zu bemerken. Als ich schließlich die letzte Zahl über die Lippen brachte - die richtige Zahl! -, strahlte ich von einem Ohr zum andern. Doch deine Hand zitterte so heftig, dass ich fürchtete, du würdest die Zahlen durcheinanderbringen, und das konnte ich nicht zulassen. Ich ziehe ihre Karte aus dem Rucksack und falte sie auf der Werkbank auseinander. Ich zeigte auf die Zahlen, die du hingekritzelt hattest. »Das muss eine Sieben sein«, sagte ich. 18
»Ist es auch«, sagtest du. Ich benutze ein hölzernes Lineal, um die Falten zu glätten. »Na gut, solange du deine eigene Schrift lesen kannst …« »Kann ich«, sagtest du. Trotzdem hast du die Zahl durchgestrichen und eine zittrige Sieben hingekritzelt, die noch schwieriger zu lesen war. Ich zog die Enden meiner Ärmel in die Länge und war drauf und dran, dir damit den Schweiß von der Stirn zu wischen … etwas, was meine Mutter bestimmt getan hätte. Doch ich konnte mich gerade noch beherrschen. Wahrscheinlich hättest du nie wieder irgendein Mädchen nach seiner Telefonnummer gefragt. Durch die seitliche Garagentür höre ich, wie Mom meinen Namen ruft. Ich drehe die Lautstärke runter, bereit, auf die Stopptaste zu drücken, falls sie sich öffnet. »Ja?« Als ich nach Hause kam, hattest du schon angerufen. Zwei Mal! »Ich finde es ja schön, dass du arbeitest«, sagt Mom. »Ich wollte nur wissen, ob du mit uns zusammen zu Abend isst.« Meine Mom hat mich gefragt, wer du bist, und ich hab geantwortet, dass wir einen Kurs zusammen haben. Wahrscheinlich, sagte ich ihr, wolltest du dich nur nach den Hausaufgaben erkundigen. Genau das hättest du auch gesagt, erzählte sie mir. Ich betrachte den ersten roten Stern. C4. Ich weiß, wo das ist. Soll ich dort hingehen? Ich konnte nicht glauben, dass du meine Mutter angelogen hast. Doch warum machte mich das so glücklich? »Nein«, entgegne ich. »Ich gehe noch zu einem Freund und helfe ihm bei seiner Projektarbeit.« Weil wir uns dieselbe Lüge ausgedacht hatten. Das war ein Zeichen. 19
»Das ist aber nett von dir«, sagt Mom. »Dann stell ich dir was in den Kühlschrank, was du später aufwärmen kannst.« Meine Mutter fragte, welchen Kurs wir denn zusammen hätten, und ich sagte »Mathe«, was zumindest nicht völlig gelogen war. Schließlich hatten wir beide Mathe. Nur eben nicht zusammen. »Schön«, sagte Mom. »Das hat er mir auch erzählt.« Ich habe ihr vorgeworfen, ihrer eigenen Tochter nicht zu glauben, riss ihr den Zettel mit deiner Telefonnummer aus der Hand und rannte nach oben in mein Zimmer. Ich werde dorthin gehen. Dorthin, wo sich der erste Stern befindet. Doch vorher, nachdem ich diese Seite zu Ende gehört habe, werde ich Tony einen Besuch abstatten. Tony hat seine Musikanlage im Auto nie aufgerüstet und hört beim Fahren immer noch Kassetten. Auf diese Weise, sagt er, bestimmt er auch weiterhin, was gespielt wird. Wer weiß, was die Leute, die er mitnimmt, sonst so für Musik dabeihaben. Als du dich am Telefon gemeldet hast, sagte ich: »Justin? Hier ist Hannah. Meine Mutter hat gesagt, du hättest wegen der Mathehausaufgaben angerufen.« Tony fährt einen alten Mustang, den er von seinem Bruder »geerbt« hat, der ihn von seinem Vater hatte, der ihn wahrscheinlich schon von seinem Vater übernommen hatte. An der Schule gibt es nur wenige Paare, deren Liebe so innig ist wie die von Tony zu seinem Auto. Aus Eifersucht auf seinen Mustang haben ihm schon mehr Mädchen den Laufpass gegeben, als ich je geküsst habe. Du warst verwirrt, hast dich aber schließlich doch daran erinnert, meine Mutter belogen zu haben, und als der höfliche Junge, der du bist, hast du dich dafür entschuldigt. Tony ist zwar kein enger Freund von mir, aber wir haben einige Schularbeiten zusammen erledigt, also weiß ich, wo er wohnt. Vor allem aber besitzt er einen alten Walkman, mit dem man Kassetten hören kann. Ein gelbes Ding mit dünnen Plas20
tikkopfhörern, das er mir bestimmt ausleihen wird. Ich werde ein paar Kassetten mitnehmen und sie mir anhören, während ich durch Hannahs alte Wohngegend spaziere, die nicht weit von Tonys Haus entfernt liegt. »Also, Justin, was für ein Matheproblem hast du denn?«, habe ich gefragt. So leicht wollte ich dich nicht davonkommen lassen. Oder ich höre sie mir woanders an. An einem ruhigen Ort, an dem ich allein bin. Hier zu Hause geht das nicht. Ich glaube zwar nicht, dass Mom oder Dad sich an ihre Stimme erinnern könnten, aber ich brauche Platz. Platz, um zu atmen. Und du bist voll drauf eingegangen. Du hast mir eine Textaufgabe gestellt: Wenn Zug A dein Haus um 15.45 Uhr verlässt und sich Zug B von meinem Haus aus zehn Minuten später in Bewegung setzt … Du konntest es nicht sehen, Justin, aber ich habe tatsächlich meine Hand gehoben, als würde ich in der Schule und nicht zu Hause auf meiner Bettkante sitzen. »Nehmen Sie mich dran, Mr Foley«, sagte ich. »Ich weiß die Antwort.« Als du meinen Namen genannt hast - »Ja, Miss Baker?« -, da habe ich Mamas Schwer-zu-haben-Regel einfach über Bord geworfen. Ich antwortete, die beiden Züge würden im Eisenhower Park an der Raketenrutsche aufeinandertreffen. Was hat Hannah nur in ihm gesehen? Das habe ich nie begriffen. Selbst sie gibt zu, es nicht genau zu wissen. Aber dafür, dass Justin ein absoluter Durchschnittstyp ist, sind erstaunlich viele Mädchen hinter ihm her. Natürlich ist er relativ groß. Und vielleicht finden es manche Mädchen ja faszinierend, dass er ständig grübelnd aus dem Fenster starrt. Du hast lange geschwiegen, Justin. Wirklich seeeeeehr lange. »Und wann treffen sie aufeinander?«, hast du schließlich gefragt. »In fünfzehn Minuten«, habe ich geantwortet. 21
Du sagtest, fünfzehn Minuten sei aber eine schrecklich lange Zeit für zwei Züge, die mit Volldampf aufeinander zurasen. Oh Hannah, mach langsam. Ich weiß, was ihr alle denkt. Ihr denkt, Hannah Baker ist eine Schlampe. Hoppla, habt ihr’s mitbekommen? Jetzt hab ich doch tatsächlich im Präsens von mir gesprochen … soll nicht wieder vorkommen. Sie macht eine Pause. Ich ziehe den Stuhl näher an die Werkbank heran. Die beiden Spulen im Kassettenrekorder, die hinter dem trüben Plastikfenster verborgen sind, transportieren das Band von einer Seite auf die andere. Aus dem Lautsprecher dringt ein sanftes Rauschen. Woran hat sie in diesem Moment gedacht? Waren ihre Augen geschlossen? Hat sie geweint? Hat sie den Finger auf der Stopptaste, kann sich aber nicht überwinden, sie herunterzudrücken? Was tut sie? Ich höre nichts. Aber ihr irrt euch gewaltig. Ihr Stimme klingt wütend. Sie zittert fast. Hannah Baker war niemals eine Schlampe. Zu keinem Zeitpunkt. Was die Frage aufwirft, was ihr über mich gehört habt. Ich wollte nur einen Kuss. Ich hatte gerade auf der Highschool angefangen und war noch ungeküsst. Aber ich mochte einen Jungen und er mochte mich und ihn wollte ich küssen. Das ist alles. War das wirklich alles? Ich hab da nämlich noch was anderes gehört. In den wenigen Nächten vor unserem Treffen im Park hatte ich stets denselben Traum. Vom Anfang bis zum Ende. Ich werde ihn euch erzählen, um euch eine Freude zu machen. Doch zuerst ein paar Hintergrundinformationen: In meiner alten Stadt gab es einen Park, der in einer Hinsicht dem Eisenhower Park glich. Sie haben beide ein Raumschiff. Ich bin sicher, dass sie von derselben Firma hergestellt 22
wurden, weil sie absolut identisch aussehen. Eine rote Nase zeigt in den Himmel. Von dieser Nase aus laufen Gitterstäbe hinunter bis zu den spitzen Flügeln, auf denen die Rakete steht. Zwischen der Nase und den Flügeln befinden sich drei Plattformen, die jeweils durch Leitern miteinander verbunden sind. Auf der obersten Plattform steht ein Steuerrad. Von der mittleren Ebene führt eine Rutsche zum Spielplatz hinunter. An vielen Abenden, die meinem ersten Schultag vorausgingen, bin ich auf die oberste Plattform des Raumschiffs geklettert, habe mich vor das Steuerrad gesetzt und meinen Kopf darangelehnt. Die kühle Brise, die durch die Gitterstäbe wehte, tat mir gut. Ich schloss meine Augen und dachte an zu Hause. Ein einziges Mal, im Alter von fünf Jahren, bin ich auch dort hinaufgeklettert. Ich habe geschrien und geschrien, weil ich mich nicht mehr heruntertraute. Aber Dad war zu breit, um mich zu holen. Also musste er die Feuerwehr rufen, die schließlich eine weibliche Mitarbeiterin vorbeischickte, um mich zu befreien. Ich vermute, dass es schon mehrere solche Rettungsaktionen gegeben hat, denn vor ein paar Wochen habe ich gehört, dass die Stadtverwaltung darüber diskutiert, das Raumschiff vom Spielplatz zu entfernen. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum mein erster Kuss in meinen Träumen immer auf diesem Raumschiff stattfand. Es war für mich ein unschuldiger Ort, und genauso sollte mein erster Kuss sein: unschuldig. Vielleicht hat der Park deshalb keinen roten Stern bekommen. Weil die Rakete verschwunden sein könnte, ehe die Kassetten all ihre Adressaten erreichen. Also zurück zu meinen Träumen, die an dem Tag begannen, als du zum ersten Mal vor meinem Klassenzimmer auf mich gewartet hast. Von diesem Tag an wusste ich, dass du mich magst.
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Hannah hat ihr T-Shirt nach oben gezogen und Justin erlaubt, seine Hände auf ihren BH zu legen. Das ist damals im Park geschehen. Das habe ich jedenfalls gehört. Aber Moment mal … Warum sollte sie das mitten im Park tun? Der Traum beginnt stets damit, dass ich auf der oberen Plattform des Raumschiffs stehe und das Steuerrad in der Hand halte. Es ist immer noch das Spielplatzraumschiff, keine echte Rakete, doch wenn ich das Lenkrad nach links einschlage, heben die Bäume des Parks ihre Wurzeln und machen einen Schritt nach links. Wenn ich das Lenkrad nach rechts drehe, bewegen sich die Bäume nach rechts. Dann höre ich plötzlich deine Stimme, die mir vom Spielplatz aus zuruft: »Hannah! Hannah! Hör auf, mit den Bäumen zu spielen, und komm zu mir!« Ich lasse das Lenkrad los und klettere die Leiter hinunter. Doch als ich die nächste Plattform erreiche, sind meine Füße so groß geworden, dass sie nicht mehr durch die Öffnung passen, die sich im Boden befindet. Große Füße? Ist das dein Ernst? Ich bin zwar kein Spezialist in Traumdeutung, aber vielleicht hat sie sich gefragt, ob Justin einen Großen hat. Ich stecke meinen Kopf durch die Gitterstäbe und rufe: »Meine Füße sind zu groß. Willst du immer noch, dass ich runterkomme?« »Ich liebe große Füße!«, rufst du zurück. »Nimm die Rutsche, ich fang dich auf!« Ich setze mich also auf die Rutsche und stoße mich ab. Doch meine enormen Füße leisten der Luft so viel Widerstand, dass ich nur sehr langsam vorankomme. Während ich also im Schneckentempo nach unten gleite, bemerke ich, dass deine Füße extrem klein und kaum zu erkennen sind. Ich wusste es! 24
Du gehst ans Ende der Rutsche und breitest die Arme aus, um mich aufzufangen, und stell dir vor, meine großen Füße treten kein bisschen auf deine kleinen. »Siehst du. Wir sind füreinander geschaffen!«, sagst du. Dann beugst du dich vor, um mich zu küssen. Unsere Lippen kommen sich näher … und näher … und dann wache ich auf. Eine ganze Woche lang bin ich jede Nacht genau in dem Moment aufgewacht, als du mich küssen wolltest. Doch jetzt, Justin, jetzt würde ich dich wirklich treffen. In diesem Park. Am Fuße der Rutsche. Und du würdest mich wild und leidenschaftlich küssen - ob dir das nun gefällt oder nicht. Glaub mir, Hannah, wenn du so zurückgeküsst hast wie damals auf der Party, dann hat es ihm garantiert gefallen! Ich hatte dir also gesagt, dass wir uns in fünfzehn Minuten treffen würden. Natürlich habe ich das nur gesagt, um ganz sicherzugehen, dass ich vor dir da bin. Denn wenn du den Park erreichen würdest, wollte ich schon auf der obersten Plattform des Raumschiffs sein, genau wie in meinen Träumen. Und so kam es dann auch - allerdings ohne tanzende Bäume und riesige Füße. Von meinem Aussichtspunkt aus sah ich, wie du genau am gegenüberliegenden Ende des Parks auf den Spielplatz kamst. Du hast alle paar Schritte auf die Uhr geguckt und bist langsam zur Rutsche gegangen, während du in alle Richtungen geschaut hast, nur nie nach oben. Ich habe das Lenkrad ganz eingeschlagen, damit du es knarren hörst. Du bist einen Schritt zurückgetreten, hast den Kopf in den Nacken gelegt und meinen Namen gerufen. Doch keine Sorge. Obwohl ich meinen Traum wahr werden lassen wollte, habe ich nicht erwartet, dass du jedes Wort kennst und mich auffordern würdest, nicht mit den Bäumen zu spielen, sondern zu dir herunterzukommen. »Bin gleich unten«, sagte ich. Aber du wolltest lieber zu mir nach oben kommen. 25
Also rief ich zurück: »Nein, ich nehme die Rutsche.« Dann hast du tatsächlich dieselben Worte gesagt wie in meinem Traum: »Ich fang dich auf!« Da kann mein erster Kuss leider nicht mithalten: Andrea Williams aus dem siebten Jahrgang, nach der Schule hinter der Turnhalle. Sie kam in der Mittagspause an meinen Tisch und hat mir so vielversprechende Dinge ins Ohr geflüstert, dass ich für den Rest des Tages einen Ständer hatte. Als der Kuss vorbei war - drei Erdbeer-Lipgloss-Sekunden später -, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief davon. Als ich um die Ecke spähte, sah ich, wie ihr zwei Freundinnen jeweils einen Fünfdollarschein in die Hand drückten. Ich konnte es nicht glauben: Meine Lippen waren eine Zehn-Dollar-Wette gewesen. Ob ich mich darüber freuen sollte? Vermutlich nicht, dachte ich. Doch seit damals habe ich eine absolute Schwäche für Erdbeer-Lipgloss. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich die obere Leiter runterkletterte. Der große Moment war gekommen. Mit rasendem Herzen habe ich mich auf die Rutsche gesetzt. Alle meine Freundinnen hatten ihren ersten Kuss in der Schule bekommen, und meiner wartete am Fuße einer Rutsche auf mich - so wie ich es gewollt hatte. Jetzt musste ich mich nur noch abstoßen. Und das tat ich. Ich weiß natürlich, dass es in Wahrheit anders war, doch in der Erinnerung kommt es mir so vor, als wäre alles in Zeitlupe geschehen: Ich stoße mich ab, gleite hinunter, meine Haare wehen im Wind, du breitest deine Arme aus, um mich aufzufangen, und ich breite meine aus, um in deinen zu landen. Wann hast du dich entschlossen, mich zu küssen, Justin? Auf dem Weg zum Park? Oder war es eine spontane Idee, als du mich plötzlich in deinen Armen hieltst? 26
Kleine Zwischenfrage: Wer von euch möchte wissen, was mir während meines ersten Kusses durch den Kopf ging? Hier kommt die Antwort: Hotdogs mit Chilisauce! Glückwunsch, Justin! Tut mir leid. So schlimm war’s nun auch wieder nicht, aber danach hat er eben geschmeckt. Zu Erdbeer-Lipgloss würde ich nie Nein sagen. Wohl tausend Mal hatte ich mir ausgemalt, wie der erste Kuss sein würde - meine Freundinnen hatten ja schon die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht -, und ich muss sagen, dass ich wirklich Glück hatte. Du hast mir nicht die Zunge in den Hals gesteckt und auch nicht gleich meinen Hintern begrapscht. Wir haben nur unsere Lippen aneinandergehalten... und uns geküsst. Das war’s. Stopp! Einen Moment! Nicht zurückspulen! Ihr habt absolut nichts verpasst, deshalb sage ich es noch mal in aller Deutlichkeit: MEHR... IST...NICHT... PASSIERT! Oder habt ihr etwa was anderes gehört? Allerdings. Wir alle haben etwas anderes gehört. Okay, ich gebe es zu. Danach ist doch noch was passiert. Justin nahm meine Hand und wir sind zu den Schaukeln rübergegangen. Wir haben geschaukelt und uns dann noch einmal genauso geküsst wie zuvor. Und dann... und dann... und dann, wollt ihr wissen? Dann haben wir uns - jeder für sich! - auf den Heimweg gemacht. Tut mir echt leid, wenn ihr euch etwas Schärferes versprochen habt. Natürlich lechzt ihr danach zu hören, wie meine gierigen Finger sich an seinem Reißverschluss zu schaffen machten, bis sie schlieβlich... Das ist es, was ihr hören wollt, stimmt’s? Ich habe so viele Versionen gehört, dass ich nicht weiß, welche die beliebteste 27
ist. Doch ich weiß ganz genau, worauf ihr am wenigsten scharf seid. Auf die Wahrheit. Aber jetzt werdet ihr die Wahrheit nicht mehr vergessen. Ich sehe Justin und seine Freunde noch genau vor mir, wie sie in der Schule ihre Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Als Hannah an ihnen vorbeiging, hörten sie sofort auf zu reden und wandten ihre Blicke ab. Dann fingen alle an zu lachen. Warum erinnere ich mich überhaupt daran? Weil ich nach Kats Abschiedsparty so oft mit Hannah reden wollte, mich aber nie getraut habe. Als ich Justin und seine Freunde an jenem Tag so eng beieinanderstehen sah, bekam ich doch das Gefühl, dass es mehr über Hannah zu erzählen gab, als ich wusste. Später hörte ich, sie und Justin hätten an der Rutsche gefummelt. Und sie war schließlich so neu an der Schule, dass dieses Gerücht alles überschattete, was ich von ihr wusste. Hannah sei unerreichbar, dachte ich mir, und viel zu erfahren, um sich auch nur in Gedanken mit mir abzugeben. Ich danke dir, Justin. Ehrlich. Mein erster Kuss war wunderschön. Und für den Monat oder so, den es gehalten hat, und für alles, was wir gemeinsam erlebt haben, danke ich dir. Die Küsse waren wunderbar. Du warst wunderbar. Aber dann fingst du mit der Angeberei an. Eine Woche lang hast du nichts von dir hören lassen. Und irgendwann haben mich die Gerüchte erreicht, wie das eben immer der Fall ist. Und jeder weiß, dass man gegen Gerüchte nichts ausrichten kann. Ich weiβschon, was ihr jetzt denkt. Während ich die Geschichte erzählte, habe ich dasselbe gedacht. Ein Kuss? Ein Gerücht um einen Kuss soll dafür verantwortlich sein, was ich mir angetan habe? Nein. Ein Gerücht um einen Kuss hat eine Erinnerung zerstört, von der ich hoffte, sie würde etwas ganz Besonderes sein. 28
Ein Gerücht um einen Kuss hat mir einen Ruf eingebracht, den andere Leute für bare Münze nehmen. Manchmal kann ein Gerücht um einen Kuss eine ganze Lawine auslösen. Ein Gerücht um einen Kuss ist nur der Anfang. Dreht die Kassette um, dann erfahrt ihr, wie’s weitergeht. Ich strecke meine Hand aus und will auf die Stopptaste drücken. Und Justin, mein Lieber, bleib dran. Du wirst dich wundern, wo dein Name das nächste Mal auftaucht. Ich halte meinen Finger über die Taste, lausche dem sanften Rauschen, das aus den Lautsprechern dringt, sowie dem leisen Surren der Spulen, während ich darauf warte, erneut ihre Stimme zu hören. Aber das geschieht nicht. Die Geschichte ist vorbei.
Als ich Tonys Haus erreiche, steht sein Mustang an der Straße. Die Kühlerhaube ist aufgeklappt, er und sein Dad beugen sich über den Motor. Tony hält eine kleine Taschenlampe in der Hand, während sein Vater sich mit einem Schraubenschlüssel zu schaffen macht. »Ist was kaputt?«, frage ich. »Oder macht ihr das nur zum Spaß?« Tony blickt auf und lässt seine Taschenlampe in den Motorraum fallen, als er mich sieht. »Verdammt!« Sein Vater richtet sich auf und wischt sich die ölverschmierten Hände an seinem schmutzigen T-Shirt ab. »Spaß macht es doch immer«, antwortet er und zwinkert seinem Sohn zu. »Vor allem wenn es was Ernstes ist.« Tony tastet missmutig nach der Taschenlampe. »Du kannst dich doch an Clay erinnern, Papa.« »Aber natürlich«, antwortet sein Vater. »Schön, dich mal wiederzusehen.« Er macht keine Anstalten, mir die Hand zu 29
geben, was mir in Anbetracht seiner öligen Finger ganz recht ist. Aber er macht mir was vor. Er erinnert sich nicht an mich. »Du warst doch mal zum Abendessen da«, fährt er fort. »Hast ständig danke und bitte gesagt.« Ich lächle. »Nachdem du weg warst, hat Tonys Mutter uns eine Woche lang in den Ohren gelegen, wir sollten höflicher sein.« Was soll ich sagen. Die meisten Eltern mögen mich. »Ja, so ist er eben«, entgegnet Tony, der sich an einem Putzlappen die Hände abwischt. »Was gibt’s, Clay?« Seine Worte hallen durch meinen Kopf: Was gibt’s, Clay? Was gibt’s, Clay? Ach, nichts Besonderes, denke ich. Ich habe bloß einen Haufen Kassetten von einem Mädchen zugeschickt bekommen, das sich umgebracht hat. Anscheinend hab ich irgendwas damit zu tun. Da ich aber noch nicht weiß, was ist es, würde ich mir gern deinen Walkman ausleihen, um es herauszufinden. »Ach, nichts Besonderes.« Sein Dad fragt mich, ob ich mal kurz für sie den Motor anlassen könnte. »Der Schlüssel steckt im Zündschloss.« Ich werfe meinen Rucksack auf den Beifahrersitz und gleite hinter das Steuer. »Warte!«, ruft sein Vater. »Tony, leuchte mal hierher.« Tony steht neben dem Wagen und schaut mich durchdringend an. Sein Blick nagelt mich regelrecht fest. Weiß er Bescheid? Kennt er die Kassetten? »Tony?«, wiederholt sein Vater. »Gib mir Licht!« Tony wendet seinen Blick von mir ab und leuchtet in den Motorraum. Durch den schmalen Spalt zwischen Armaturenbrett und Kühlerhaube späht er immer wieder zu mir herüber. Und wenn die Kassetten auch für ihn bestimmt sind? Wenn seine Geschichte unmittelbar vor meiner kommt? Hat er mir das Paket geschickt? 30
Mein Gott, ich dreh noch durch. Wahrscheinlich hat er von der ganzen Sache überhaupt keine Ahnung. Vielleicht steht mir nur mein schlechtes Gewissen ins Gesicht geschrieben. Während ich auf das Zeichen warte, den Motor zu starten, blicke ich mich im Innenraum um. Hinter dem Beifahrersitz liegt ein Walkman auf dem Boden. Das Kabel des Kopfhörers ist um das Gehäuse gewickelt. Aber wie soll ich meine Frage begründen? Wozu brauche ich so dringend einen Walkman? »Wenn du die Hand nicht ruhig halten kannst, Tony«, sagt sein Vater, »dann nimm du den Schraubenschlüssel und gib mir die Taschenlampe.« Als sie Taschenlampe und Schraubenschlüssel tauschen, greife ich blitzschnell nach dem Walkman. Einfach so. Ohne nachzudenken. Da die Vordertasche meines Rucksacks offen steht, stopfe ich den Walkman hinein und ziehe rasch den Reißverschluss zu. »Okay, Clay«, ruft Tonys Vater, »lass den Motor an!« Ich drehe den Zündschlüssel und der Motor startet ohne Probleme. Durch den Spalt sehe ich Tonys Vater lächeln. Er scheint zufrieden zu sein. »Ein kleiner Handgriff und schon schnurrt er wieder wie ein Kätzchen«, stellt er, immer noch über den Motor gebeugt, fest. »Du kannst ihn ausmachen, Clay.« Tony knallt die Kühlerhaube zu. »Ich komm gleich rein, Papa.« Sein Vater nickt, hebt ein paar schmutzige Lappen auf und trägt den Werkzeugkasten in die Garage zurück. Ich hänge mir den Rucksack über die Schulter und steige aus. »Danke«, sagt Tony. »Wenn du nicht gekommen wärst, hätten wir wahrscheinlich den ganzen Abend hier gestanden.« Ich ziehe meinen anderen Arm durch die zweite Schlaufe und nehme den Rucksack auf den Rücken. »Ich wollte nur ein 31
bisschen aus dem Haus, weil meine Mutter mir auf die Nerven gegangen ist«, erwidere ich. Tony blickt verstohlen zur Garage hinüber. »Kenn ich«, sagt er. »Eigentlich muss ich dringend Hausaufgaben machen, aber mein Vater wollte unbedingt noch weiter am Auto rumschrauben.« In diesem Moment flackern die Straßenlaternen auf. »Warum bist du überhaupt hergekommen?«, fragt er. Ich spüre die Schwere des Walkmans in meinem Rucksack. »Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen und hab dich und deinen Dad am Straßenrand stehen sehen.« Er sieht mich so lange an, bis ich den Blick abwende. »Ich wollte noch beim Rosie’s vorbeischauen«, sagt er. »Soll ich dich vielleicht mitnehmen?« »Nein danke«, antworte ich. »Ich hab’s ja nicht weit.« Er steckt die Hände in die Taschen. »Wo willst du denn hin?« Oh Gott, ich hoffe, er ist nicht auf der Liste. Und wenn doch? Vielleicht hat er die Kassetten ja schon gehört und weiß genau, was in meinem Kopf vor sich geht. Vielleicht weiß er genau, wo ich hinwill. Und wenn er die Kassetten noch gar nicht bekommen hat? Wenn er erst später auf der Liste auftaucht? Falls das der Fall ist, dann wird er sich später an diesen Moment erinnern. An mein ausweichendes Verhalten. Daran, dass ich ihm weder einen Tipp gegeben noch ihn gewarnt habe. »Ach, nirgendwohin«, antworte ich. Auch ich stecke meine Hände in die Taschen. »Wir sehen uns dann morgen.« Tony erwidert nichts, sondern sieht schweigend zu, wie ich mich umdrehe. Jeden Moment rechne ich damit, dass er mir »Hey, wo ist mein Walkman?« nachruft, doch nichts dergleichen geschieht. An der nächsten Ecke biege ich nach rechts ab und gehe weiter. Ich höre, wie der Motor aufheult und kleine Steine auf32
spritzen, als sich der Mustang in Bewegung setzt. Dann beschleunigt er, kreuzt die Straße in meinem Rücken und ist verschwunden. Ich nehme meinen Rucksack ab und stelle ihn auf den Bürgersteig. Ich ziehe den Walkman aus der Vordertasche, wickele das Kabel des gelben Kopfhörers auseinander und stecke mir die Stöpsel in die Ohren. In meinem Rucksack befinden sich immer noch die ersten vier Kassetten - wahrscheinlich ein oder zwei zu viel, um sie mir alle noch heute Abend anzuhören. Die restlichen habe ich zu Hause gelassen. Ich öffne den Reißverschluss der kleinsten Seitentasche und ziehe die erste Kassette heraus. Ich lege die B-Seite ein und schließe die Plastikklappe.
KASSETTE 1: SEITE B
Hallo. Schön, dass du wieder eingeschaltet hast. Ich schiebe den Walkman in meine Jackentasche und stelle lauter. Also im Grunde gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du bist Justin und willst wissen, wer der Nächste ist, nachdem du dir deine eigene Geschichte angehört hast. Oder du bist jemand anders und willst wissen, ob jetzt du an der Reihe bist. Also gut... Warmer Schweiß prickelt an meinem Haaransatz. Alex Standall, du bist dran. Eine einzelne Schweißperle rinnt mir über die Schläfe. Ich wische sie weg. 33
Ich wette, du hast keine Ahnung, warum du hier ins Spiel kommst, Alex. Wahrscheinlich bist du davon überzeugt, mir was Gutes getan zu haben. Immerhin hast du mich zum geilsten Arsch der ersten Jahrgangsstufe ernannt. Wer könnte darüber schon böse sein? Also hör zu. Ich sitze auf dem Bürgersteig, die Füße im Rinnstein. Nahe meiner Ferse sprießen ein paar Grashalme durch einen Riss im Asphalt. Obwohl die Sonne über den Dächern und Baumwipfeln noch deutlich zu sehen ist, leuchten bereits die Lampen zu beiden Seiten der Straße. Solltest du mich für eine Idiotin halten, für ein dummes kleines Mädchen, das sich über jede Lappalie aufregt und alles viel zu ernst nimmt, dann brauchst du ja nicht zuzuhören. Natürlich habe ich damit gedroht, dass es Kopien von diesen Kassetten gibt, aber was macht das schon, wenn sowieso jeder weiß, wie du meinen Arsch findest? In den Häusern dieses Viertels und auch in meinem eigenen Haus, das nur ein paar Blocks entfernt liegt, sind die Leute so langsam mit dem Abendessen fertig. Jetzt füllen sie ihre Spülmaschinen und die Schüler fangen mit den Hausaufgaben an. Für all diese Familien ist das ein ganz normaler Abend. Dir mag das egal sein, doch ich kann dir eine Reihe von Leuten nennen, denen es ganz und gar nicht egal sein dürfte, ob die Kassetten an die Öffentlichkeit gelangen. Also lass uns anfangen. Ich beuge mich vor, schlinge die Arme um meine Knie und lege die Stirn darauf. Es war in der zweiten Unterrichtsstunde, als du deine Liste in Umlauf gebracht hast. Ms Strumm hatte offenbar ein schönes Wochenende gehabt, denn wir durften uns einen ihrer stinklangweiligen Dokumentarfilme ansehen. Was genau sie uns gezeigt hat, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur daran erinnern, dass der Sprecher einen ausgeprägt englischen Ak34
zent hatte und ich die ganze Zeit an einem Stück Klebeband rumgepult habe, das an meinem Tisch klebte, um nicht einzuschlafen. Die Stimme des Sprechers war nur ein Hintergrundgeräusch für mich. Die Stimme des Sprechers und das allgemeine Getuschel... Als ich aufblickte, hörte das Getuschel auf. Alle wandten den Blick von mir ab. Dann sah ich, wie ein Zettel die Runde machte. Ein Blatt Papier wanderte durch die Reihen und landete schließlich direkt hinter mir bei Jimmy Long. Ich hörte seinen Tisch ächzen, als er das Gewicht verlagerte. Jeder, der an diesem Morgen in der Klasse war, wird es bestätigen können: Jimmy hat mich von hinten gemustert, nicht wahr? Das stellte ich mir zumindest vor, als er flüsterte: »Und ob!« Ich schlinge die Arme fester um meine Knie. Jimmy, der Schwachkopf. Jemand flüsterte: »Du Idiot!« Ich drehte mich um, aber mir war nicht nach Flüstern zumute. »Was und ob?« Jimmy, der um die Aufmerksamkeit jedes Mädchens bettelt, lächelte verschämt und starrte auf das Blatt, das vor ihm lag. Wieder flüsterte jemand »Idiot« - diesmal quer durch das Klassenzimmer, als sollte ich an dem Scherz nicht teilhaben. Als ich die Liste im Geschichtsunterricht das erste Mal zu Gesicht bekam, standen ein paar Namen darauf, die ich nicht kannte. Es waren einige Schülerinnen, deren Namen ich noch nicht richtig zuordnen konnte. Doch ich wusste, wer Hannah war. Und ich lachte, als ich ihren Namen las. Sie hatte sich in kürzester Zeit schon einen gewissen Ruf erworben. Erst jetzt wird mir klar, dass dieser Ruf nur auf Justin Foleys Fantasie zurückging. Ich verrenkte mir den Hals, um die Überschrift lesen zu können: 1. JAHRGANG - WER IST HEISS? WER NICHT? 35
Jimmys Tisch knirschte erneut, als er sich zurücklehnte, und ich wusste, dass Ms Strumm gleich zu mir kommen würde, aber ich musste einfach meinen Namen auf der Liste finden. Warum ich darauf stand, war mir egal. Ich glaube, es war mir sogar egal, auf welcher Seite ich stand. Aber das Gefühl, einen Stempel aufgedrückt zu bekommen, das war, als würde sich ein Käfig mit Schmetterlingen in meinem Bauch öffnen. Und als Ms Strumm den Gang entlangschritt, um den Zettel einzukassieren, bevor ich meinen Namen finden konnte, drehten die Schmetterlinge in meinem Bauch völlig durch. Wo war mein Name? Wo? Da! Ich hatte ihn gefunden! Als Hannah später auf dem Flur an mir vorbeiging, warf ich ihr einen Blick nach. Und ich muss sagen, dass sie wirklich zu Recht auf der Liste stand. Ms Strumm schnappte sich die Liste und ich wandte mein Gesicht wieder der Tafel zu. Nach ein paar Minuten riskierte ich einen Seitenblick, und wie ich erwartet hatte, sah Jessica Davis stinksauer aus. Warum? Weil ihr Name direkt neben meinem stand, nur in der anderen Spalte. Mit rasender Geschwindigkeit hämmerte ihr Stift auf das Heft, als würde sie Morsezeichen geben. Ihr Kopf war knallrot. Was ich dabei dachte? Ein Glück, dass ich das Morsealphabet nicht kenne. Dabei ist Jessica Davis viel hübscher als ich. Man könnte all unsere Körperteile auflisten und jeweils die schöneren ankreuzen, dann wären nachher alle Kreuze auf ihrer Seite. Einspruch, Hannah! Alle Kreuze wären bei dir. Jeder weiß, dass »Hässlichster Arsch des 1. Jahrgangs« eine Lüge war. Mit der Realität hatte das nicht das Geringste zu tun. Aber ich bin mir sicher, dass es niemanden interessiert hat, warum Jessica auf dieser Seite deiner Liste gelandet ist, Alex. 36
Na ja, niemanden außer dir... und mir... und Jessica, macht schon drei Personen. Jetzt werden sich noch sehr viel mehr Personen dafür interessieren. Vielleicht werden dir manche Leute recht geben, dass du mich ausgewählt hast, auch wenn ich selbst anderer Meinung bin. Aber lass es mich so sagen: Ich glaube nicht, dass mein »Arsch« - wie du ihn nennst - ausschlaggebend war. Ausschlaggebend für dich war... Rache. Ich reiße die Grashalme aus dem Rinnstein und stehe auf. Während ich losgehe, zerreibe ich sie zwischen den Fingern. Aber auf dieser Kassette geht es nicht um deine Beweggründe, Alex. Obwohl die auch noch zur Sprache kommen werden. Es geht darum, wie Leute sich verändern, nachdem sie meinen Namen auf einer bescheuerten Liste gesehen haben. Diese Kassette handelt davon... An dieser Stelle bricht sie plötzlich ab. Ich fasse in meine Jackentasche und stelle lauter. Sie faltet ein Stück Papier auseinander und streicht es glatt. Okay, ich bin nur noch mal schnell die Namen und Geschichten durchgegangen, die auf diesen Kassetten vorkommen werden. Und stellt euch vor: Vermutlich wäre keines der Ereignisse, die hier dokumentiert werden, jemals passiert, wenn du, Alex, meinen Namen damals nicht auf die Liste gesetzt hättest. So einfach ist das. Du brauchtest einen Namen, den du Jessica gegenüberstellen konntest. Und was lag da näher, als meinen zu nehmen, da ich nach Justins Angeberei schon einen ziemlich zweifelhaften Ruf hatte, nicht wahr? Das Schneeballsystem funktionierte perfekt. Danke, Justin! Alex’ Liste war doch nur ein Scherz, wenn auch ein schlechter. Und wie hätte er denn wissen können, was er damit auslöste? Das ist nicht fair. 37
Und was ist mit mir? Was soll ich Hannah angetan haben? Ich habe wirklich keinen Schimmer. Und was werden die Leute von mir denken, die davon erfahren? Mindestens zwei von ihnen wissen ja bereits, warum ich auf den Kassetten vorkomme. Sehen sie mich jetzt mit anderen Augen? Nein, das ist unmöglich. Weil mein Name mit ihren nichts zu tun hat. Ich bin mir sicher, dass ich auf dieser Liste nichts zu suchen habe. Ich habe nichts Falsches getan! Um es noch mal zu sagen, Alex: Auf dieser Kassette geht es nicht darum, warum du dich so verhalten hast. Es geht um die Auswirkungen deines Verhaltens. Genauer gesagt, die Auswirkungen auf mein Leben. Es geht um Dinge, die du so nicht geplant hattest - Dinge, die du nicht planen konntest. Oh Gott, ich kann es nicht glauben.
Der erste rote Stern. Hannahs altes Haus. Da ist es. Sein Anblick trifft mich wie ein Schlag. Denn ich bin hier schon einmal gewesen. Nach einer Party. Hier lebt jetzt ein älteres Paar. Eines Abends vor über einem Monat war der Ehemann mit seinem Auto ein paar Häuserblocks weiter unterwegs und telefonierte auf dem Handy mit seiner Frau, als er mit einem anderen Wagen kollidierte. Ich schließe meine Augen und schüttele den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Ich will das Ganze nicht noch einmal erleben. Aber es nützt nichts. Der Mann war völlig hysterisch. »Ich muss sie anrufen!«, schrie er die ganze Zeit. »Ich muss meine Frau anrufen!« Er hatte beim Aufprall sein Handy verloren und konnte es nicht mehr finden. Wir haben versucht, sie auf meinem anzurufen, doch wir kamen nicht durch. Sie war 38
offenbar zu verwirrt, um aufzulegen, und so war es unmöglich, sie zu erreichen. Er sagte, sie hätte ein schwaches Herz. Er müsse ihr unbedingt sagen, dass ihm nichts passiert sei. Ich rief die Polizei an und versicherte dem Mann, dass ich weiterhin versuchen würde, seine Frau zu erreichen. Aber er wiederholte nur ein ums andere Mal, dass sie unbedingt Bescheid wissen müsse. Sie müsse wissen, dass es ihm gut gehe. Ihr Haus sei ganz in der Nähe. Inzwischen hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, von der sich einige um den Fahrer des anderen Wagens kümmerten. Er ging in die Abschlussklasse unserer Schule und war in sehr viel schlechterem Zustand als der alte Mann. Ich rief den Leuten zu, sie sollten sich auch um den Mann kümmern, bis der Krankenwagen eintreffe. Dann lief ich seinem Haus entgegen, um seine Frau zu beruhigen. Doch wusste ich damals nicht, dass es dasselbe Haus war, in dem Hannah gewohnt hatte. Dieses Haus. Doch diesmal gehe ich in aller Ruhe. So wie Justin und Zach einst mitten auf der Straße dem East Floral Canyon entgegengeschlendert waren, wo zwei Straßen aufeinandertreffen wie ein umgedrehtes T - genau wie es Hannah beschrieben hat. Die Vorhänge vor dem Erkerfenster sind zugezogen. In dem Sommer, bevor du an die Highschool gekommen bist, Hannah, hast du dort mit Kat gesessen. Ihr habt auf die Straße geschaut - dorthin, wo ich jetzt stehe - und beobachtet, wie die beiden Jungs auf dein Haus zugingen. Habt beobachtet, wie sie auf dem nassen Gras ausgerutscht und übereinandergefallen sind. Ich gehe weiter, bis ich im Rinnstein stehe und die Spitzen meiner Schuhe die Bordsteinkante berühren. Dann betrete ich die Rasenfläche und bleibe stehen. Es sind nur zwei kleine Schritte, doch ich rutsche nicht aus, sondern frage mich, ob sich Hannah ein paar Monate später womöglich in Zach statt in 39
Justin verliebt hätte, falls die beiden damals bis zu ihrer Haustür vorgedrungen wären. Wäre Justin damit aus dem Spiel gewesen? Hätten die Gerüchte gar nicht erst angefangen? Wäre Hannah dann noch am Leben?
Der Tag, an dem deine Liste in Umlauf kam, war gar nicht sooo schlimm. Das heißt, ich hab’s überlebt. Ich wusste ja, dass es ein Scherz war. Und die Leute, die sich auf den Gängen um diejenigen scharten, die eine Kopie der Liste hatten, wussten auch, dass es ein Scherz war. Ein dreister, alberner Scherz. Doch was passiert eigentlich, wenn jemand behauptet, dass du den geilsten Arsch einer bestimmten Jahrgangsstufe hast? Ich will es dir sagen, Alex, weil du es sonst nie erfahren wirst. Es ermutigt die Leute - manche Leute -, dich so zu behandeln, als wärst du auf diesen ganz bestimmten Körperteil reduziert. Beispiel gefällig? Dann sieh dir B3 auf der Karte an. Blue Spot Liquor. Das ist ganz in der Nähe. Ich weiß nicht, warum der Laden so heißt, aber er liegt nur ungefähr einen Block von meinem ersten Haus entfernt. Dort bin ich immer hingegangen, wenn ich Lust auf was Süβes hatte, also praktisch jeden Tag. Das Blue Spot wirkt von der Straße aus so schmuddelig, dass ich mich noch nie hineingetraut habe. In fünfundneunzig Prozent aller Fälle war das Blue Spot total leer. Nur ich und der Mann hinter der Kasse. Ich wette, die meisten Leute gehen dort achtlos vorbei, weil der winzige Laden eingequetscht zwischen zwei anderen Geschäften liegt, die beide leer stehen, seit wir hierhergezogen sind. Außerdem sieht er von außen wie eine einzige Werbeflä40
che für Alkohol und Zigaretten aus. Und von drinnen? Ganz genauso. Ich gehe den Bürgersteig entlang, der an Hannahs altem Haus vorbeiführt. Die Auffahrt steigt sanft an und endet an einem verwitterten hölzernen Garagentor. Auf der Theke steht ein Metallgestell, in dem sich all meine Lieblingssüßigkeiten befinden. Und immer wenn ich eintrete, lässt der Mann zur Begrüßung die Kasse klingeln, weil er weiß, dass ich seinen Laden nie mit leeren Händen wieder verlasse. Jemand hat mal gesagt, sein Gesicht sehe aus wie eine Walnuss. Und das stimmt tatsächlich! Wahrscheinlich liegt das an den vielen Zigaretten, aber dass er Wally heißt, macht die Sache natürlich auch nicht besser. Hannah kam immer mit einem blauen Fahrrad zur Schule. Ich sehe noch genau vor mir, wie sie die Fahrbahn entlangradelt, den Lenker einschlägt und auf dem Bürgersteig an mir vorbeifährt. Ich schaue ihr nach, wie sie Bäume, parkende Autos und Häuser hinter sich lässt und schließlich aus meinem Blickfeld entschwindet. Langsam drehe ich mich um und gehe davon. Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich habe Wally noch nie ein Wort reden gehört, wenn ich in seinem Laden war. Nicht ein einziges »Hallo« oder »Hey« oder ein freundliches Brummen. Das einzige Geräusch, das er je gemacht hat, war wegen dir, Alex. Da fällt mir ein, gestern hat ihm jemand auf dem Flur einen Stoß gegeben. Jemand hat Alex gestoßen, sodass er mit mir zusammengeprallt ist. Aber wer? Damals bimmelte wie üblich die Ladenglocke, als ich eintrat. Dann klingelte die Kasse. Ich nahm mir einen Schokoriegel aus dem Gestell auf der Theke, aber ich weiß nicht mehr, welche Sorte es war. Ich konnte Alex gerade noch auffangen, damit er nicht hinfiel. Ich fragte ihn, ob er okay sei, doch er achtete gar nicht auf mich, schnappte sich bloß seinen Rucksack und hastete weiter. 41
Ich fragte mich, ob ich ihn irgendwie verärgert hatte, aber mir fiel nichts ein. Wenn ich wollte, könnte ich euch verraten, welche Person in den Laden kam, als ich gerade in meinem Rucksack nach Geld suchte. Ich weiß noch genau, wer es war. Aber er war nur einer der vielen Schwachköpfe, die mir in all den Jahren über den Weg gelaufen sind. Vielleicht sollte ich sie einfach alle beim Namen nennen. Aber im Rahmen deiner Geschichte, Alex, war sein Verhalten sein widerwärtiges Verhalten - nur eine Folge deines Verhaltens. Außerdem ist ihm später noch eine eigene Kassette gewidmet... Ich zucke zusammen. Was ist damals im Blue Spot wegen Alex’ Liste passiert? Ach, ich will es gar nicht wissen. Und ich will Alex nicht sehen. Nicht morgen und nicht übermorgen. Weder ihn noch Justin noch den Fettarsch Jimmy will ich zu Gesicht bekommen. Oh, mein Gott, wer ist noch alles in diese Geschichte verwickelt? Er stieß die Tür des Blue Spot auf. »Hey, Wally!«, rief er. Und er rief es mit einer Überheblichkeit, die ganz selbstverständlich klang. Es war mit Sicherheit nicht das erste Mal, dass er Wally von oben herab behandelte. »Oh, Hannah«, fügte er plötzlich hinzu, »ich habe dich gar nicht gesehen.« Habe ich schon erwähnt, dass ich an der Theke stand und von jedem, der den Laden betrat, sofort zu sehen war? Ich bedachte ihn mit einem zaghaften Lächeln und drückte Wally das Geld in die faltige Hand. Wally schenkte ihm übrigens nicht die geringste Beachtung. Weder ein kurzer Blick noch ein Lächeln - seine übliche Begrüßung für mich. Ich biege auf dem Bürgersteig um die Ecke, verlasse das Wohngebiet und nähere mich dem Blue Spot. 42
Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich ein und dasselbe Stadtviertel sein kann. Die Häuser, die ich hinter mir lasse, sind weder besonders groß noch auffallend. Eine ganz normale bürgerliche Wohngegend eben. Doch befinden sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Gegend, die seit Jahren immer mehr herunterkommt. »Hey, Wally, weißt du was?« Ich spürte seinen Atem über meiner Schulter. Mein Rucksack lag auf der Ladentheke, während ich den Reißverschluss zuzog. Wallys Blick war nach unten, in die Nähe meiner Hüfte gerichtet, und ich wusste, was kommen würde. Eine gewölbte Hand klatschte auf meinen Hintern. Und dann sagte er es. »Der geilste Arsch des ersten Jahrgangs, Wally und das in deinem Laden!« Ich kann mir eine ganze Reihe von Jungs vorstellen, die sich so verhalten würden. So zynisch. So arrogant. Ob es wehtat? Nein. Aber darum geht es auch nicht. Die Frage ist, ob er das Recht hatte, sich so zu verhalten. Und die Antwort ist ja wohl klar. Ich schlug seine Hand mit einer raschen Armbewegung beiseite, die jedes Mädchen beherrschen sollte. Das war der Moment, in dem Wally zum ersten Mal aus sich herauskam und einen Ton von sich gab. Es war nur ein rasches Klicken seiner Zunge, sein Mund blieb dabei geschlossen, dennoch war ich vollkommen überrascht. Ich wusste, dass er innerlich kochte vor Wut. Das ist er, der leuchtende Schriftzug des Blue Spot Liquor.
In dieser Straße haben nur noch zwei Läden geöffnet, das Blue Spot und der Videoshop gegenüber. Das Blue Spot sieht immer noch genauso schmuddelig aus, wie ich es in Erinnerung habe. 43
Sogar die Alkohol- und Zigarettenwerbung scheint immer noch dieselbe zu sein. Als wäre sie die Schaufenstertapete. Die Türglocke gibt einen blechernen Ton von sich, als ich den Laden betrete. Es ist derselbe Ton, den Hannah stets hörte, wenn sie sich etwas Süβes kaufen wollte. Doch ich warte nicht darauf, dass sich die Tür von allein schließt, sondern drücke sie mit der Hand zu und beobachte, wie die Glocke erneut in Bewegung gesetzt wird. »Kann ich Ihnen helfen?« Ohne hinzusehen, weiß ich, dass es nicht Wally ist. Aber warum bin ich darüber enttäuscht? Ich bin ja nicht hierhergekommen, um Wally zu sehen. Er fragt erneut, diesmal ein wenig lauter: »Kann ich Ihnen helfen?« Ich kann mich nicht dazu überwinden, einen Blick auf die Ladentheke zu werfen. Noch nicht. Ich will mir nicht vorstellen, wie Hannah hier gestanden hat. Hinten im Laden stehen ein paar Kühlschränke mit Glastüren. Obwohl ich nicht durstig bin, öffne ich einen von ihnen und nehme mir eine Plastikflasche mit Orangenlimonade heraus. Dann gehe ich zur Theke und zücke meinen Geldbeutel. Vor mir sehe ich das Metallgestell mit den Süβigkeiten, von dem Hannah sich so oft bedient hat. Mein linkes Auge beginnt zu zucken. »Ist das alles?«, fragt er. Ich stelle die Flasche auf die Theke, senke den Blick und reibe an meinem Auge. Der Schmerz beginnt oberhalb des Auges, doch er geht tiefer. Bis hinter meine Braue. Es ist ein Stechen, das ich nie zuvor gefühlt habe. »Noch was?«, fragt der Mann hinter der Theke. Wahrscheinlich denkt er, dass ich noch irgendwelche Süβigkeiten haben will.
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Ich nehme mir einen Schokoriegel aus der Halterung und lege ihn neben die Flasche. Dann schiebe ich ein paar Dollar zu ihm hinüber. Klingeling! Er legt einige Münzen auf die Theke, und ich bemerke ein Plastik-Namensschild, das an der Kasse klebt. »Arbeitet er immer noch hier?«, frage ich. »Wally?« Er schnaubt. »Nur tagsüber.« Als ich den Laden verlasse, klingelt die Türglocke.
Ich warf mir den Rucksack über die Schulter und murmelte vermutlich »Entschuldigung«, würdigte ihn jedoch keines Blickes, als ich an ihm vorbeiging. Ich wollte gerade die Tür öffnen, als er mein Handgelenk packte und mich zu sich herumdrehte. Er sagte meinen Namen, und als ich ihm in die Augen blickte, war der Spaß aus ihnen verschwunden. Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt mich eisern fest. Auf der anderen Straßenseite flackert der leuchtende Schriftzug des Videoshops. Ich weiß, wen Hannah meint. Ich habe schon öfter gesehen, wie er Mädchen am Handgelenk festhält. Das macht mich so wütend, dass ich ihn am liebsten am T-Shirt packen würde, doch ziehe ich es jedes Mal vor, so zu tun, als sei nichts geschehen. Was sollte ich schon gegen ihn ausrichten? Dann lässt der Vollidiot mein Handgelenk los und legt mir stattdessen die Hand auf die Schulter. »Ich mach doch nur Spaß, Hannah, bleib cool.« 45
Okay, lasst uns noch mal rekapitulieren, was gerade passiert ist. Ich hab den gesamten Heimweg vom Blue Spot darüber nachgedacht. Wahrscheinlich kann ich mich deshalb nicht daran erinnern, was für eine Süβigkeit ich damals gekauft habe. Ich sitze auf der abbröckelnden Bordsteinkante vor dem Blue Spot, stelle die Flasche Orangenlimonade neben mich auf den Asphalt und balanciere den Schokoriegel auf meinen Knien. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust auf was Süβes. Warum habe ich es mir dann gekauft? Nur weil Hannah es immer getan hat? Spielt das irgendeine Rolle? Ich habe den ersten Ort aufgesucht, den sie mit einem roten Stern markiert hat. Und auch den zweiten. Dabei bin ich doch überhaupt nicht gezwungen, mich an ihre Anweisungen zu halten. Zuerst die Worte - dann die Handlungen. Erste Aussage: »Ich mach doch nur Spaß, Hannah.« Übersetzung: Glaub ja nicht, dass dein Arsch dir gehört, wenn ich ein bisschen Spaß haben will. Ich tippe ein Ende meines Schokoriegels an, sodass er auf meinen Knien hin und her wippt. Zweite Aussage: »Bleib cool!« Übersetzung: Komm schon, Hannah, ich hab doch nichts anderes getan, als dich angefasst, obwohl du nicht signalisiert hattest, dass du das wolltest. Tu dir keinen Zwang an! Du kannst mich anfassen, wo du willst. Kommen wir jetzt dazu, was er getan hat. Handlung Nummer eins: Er hat meinen Po angefasst. Interpretation: Ich will noch mal betonen, dass er das zum ersten Mal getan hat. Warum also ausgerechnet in diesem Moment? Ich hatte keine herausfordernde Hose an. Sie war auch nicht besonders eng. Okay, sie saß vielleicht ein wenig tief, und möglicherweise hat er einen Blick auf meine Hüften erhascht, aber die hat er ja gar nicht angefasst, sondern meinen Hintern. 46
So langsam verstehe ich, was sie meint. Und das reißt förmlich ein Loch in meine Magengrube. Beste Lippen. Eine weitere Kategorie auf der Liste. Habe ich behauptet, Alex, dass deine Liste ihm erlaubt hat, meinen Po anzufassen? Nein. Aber sie gab ihm einen Vorwand. Und mehr als einen Vorwand brauchte dieser Typ nicht. Bevor die Liste existierte, habe ich den Lippen von Angela Romero keine Beachtung geschenkt. Doch danach faszinierten sie mich. Wenn sie in der Klasse das Wort ergriff, bekam ich nicht mit, was sie sagte, weil ich nur auf die Bewegungen ihres Mundes achtete. Wenn sie Dinge wie »Chlorophyll« oder »Schulsprecher« sagte, beobachtete ich gebannt, wie hinter den Lippen die Unterseite ihrer Zunge sichtbar wurde. Handlung Nummer zwei: Er packte mein Handgelenk und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich werde das nicht weiter interpretieren. Ich will euch nur sagen, warum ich total sauer war. Mir hat schon früher mal jemand an den Hintern gefasst - keine große Sache -, aber diesmal war es passiert, weil ein anderer meinen Namen auf eine Liste geschrieben hat. Und hat sich der Typ etwa bei mir entschuldigt, als er gesehen hat, wie sauer ich war? Natürlich nicht. Stattdessen wurde er aggressiv und sagte mir in seiner arroganten Art, dass ich mich nicht aufregen soll. Und dann legte er mir auch noch seine Hand auf die Schulter, als würde mich seine Berührung irgendwie trösten. Ein Tipp: Wenn ihr ein Mädchen anfasst, ob aus Spaß oder nicht, und sie eure Hand wegschlägt, dann LASST... SIE... IN... RUHE! Berührt sie nicht noch einmal. Hört einfach auf damit! Sie kann eure Berührung nicht ertragen! Alles andere an Angela war nicht annähernd so faszinierend wie ihre Lippen. Total okay, aber eben nicht faszinierend. Bei einem Freund von mir haben wir letztes Jahr Flaschendrehen gespielt, nachdem mehrere von uns zugegeben hatten, dass sie darin noch völlig unerfahren waren. Und ich weigerte 47
mich aufzuhören, bis meine Flasche endlich einmal auf Angela zeigte. Oder ihre Flasche auf mich. Als es so weit war, drückte ich meine Lippen mit geradezu quälender Langsamkeit und Präzision auf ihre. Es gibt schon einige Leute hier, die ein bisschen merkwürdig und verrückt sind, Alex - und vielleicht bin ich ja eine von ihnen -, aber der entscheidende Punkt ist der: Wenn du jemanden lächerlich machst, dann bist du auch verantwortlich dafür, wie sich andere dieser Person gegenüber verhalten. Später haben Angela und ich dann auf der Veranda hinter ihrem Haus weitergemacht. Ich konnte von ihren Lippen einfach nicht genug bekommen. Und das alles wegen der Liste. Im Grunde stimmt das nicht ganz. Du hast mich ja nicht lächerlich gemacht. Mein Name war schließlich in der vorteilhaften Spalte. Jessica stand auf der anderen Seite. Sie hast du lächerlich gemacht. Und so ist aus deinem Schneeball eine Lawine geworden. Jessica, Süße, du bist die Nächste...
Ich öffne den Walkman und ziehe die erste Kassette heraus. In der kleinsten Tasche meines Rucksacks befindet sich die nächste Kassette. In der oberen Ecke steht eine blaue 3. Ich lege sie ein und schließe die Klappe.
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KASSETTE 2: SEITE A
Es dauert eine Weile, bis Hannahs Stimme zu hören ist. Schritt für Schritt. So werden wir weiter vorangehen. Auf der anderen Straßenseite versinkt die Sonne allmählich zwischen den Häusern. Alle Straßenlaternen leuchten. Ich nehme den Schokoriegel von meinen Knien, greife zu meiner Limoflasche und stehe auf. Eine Kassette haben wir bereits geschafft, sogar beide Seiten, also begleitet mich weiterhin. Alles wird besser - oder schlechter -, das hängt natürlich von eurer Sichtweise ab. Nahe der Eingangstür des Blue Spot Liquor befindet sich ein Mülleimer in Gestalt eines blau angesprayten Ölkanisters. Ich werfe den Schokoriegel mitsamt seiner Verpackung hinein, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass mein Magen feste Nahrung jetzt bei sich behalten würde. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich weiß, dass es sich so anhört, aber ich war zu Beginn meines ersten Highschooljahres nicht völlig auf mich allein gestellt. Schließlich gab es noch zwei andere Neulinge in dieser Gegend, und beide gehören zu den Leuten, denen Hannah Bakers Greatest Hits gewidmet sind: Alex Standall und Jessica Davis. Wir haben uns zwar nie richtig angefreundet, waren in den ersten Schulwochen aber in gewisser Weise aufeinander angewiesen. Die Limoflasche zischt, als ich den Schraubverschluss öffne. Ich trinke einen Schluck. Eine Woche vor Ende der Sommerferien rief mich Ms Antilly zu Hause an und bat mich, zu einer »kleinen Informationsveranstaltung für neue Schüler« in die Schule zu kommen. 49
Falls ihr euch nicht mehr erinnert, Ms Antilly war die Tutorin für alle Schüler mit den Nachnamen A bis G. Später hat sie dann den Schulbezirk gewechselt. Ich erinnere mich daran, dass sie von Mr Porter ersetzt wurde. Eigentlich sollte das nur vorübergehend sein, doch Mr Porter ist immer noch da. Er ist sowohl Englischlehrer als auch Tutor. Ein sehr unglücklicher Umstand. Aber darauf komme ich auf einer späteren Kassette zu sprechen. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Mr Porter? Hat er etwas mit der Sache zu tun? Die Welt beginnt, sich zu drehen, und ich stütze mich am dürren Stamm eines Baumes ab, der auf dem Bürgersteig steht. Wenn sie mir verraten hätte, dass unser Treffen ausschließlich dazu diente, eine andere neue Schülerin kennenzulernen, dann wäre ich nicht erschienen. Ich meine, es hätte doch sein können, dass wir überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben. Oder eine von uns hätte sich mit der anderen anfreunden wollen, aber nicht umgekehrt. Vieles hätte schrecklich schiefgehen können. Ich presse meine Stirn gegen die glatte Rinde und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Aber das andere Mädchen war Jessica Davis und sie hatte genauso wenig Lust auf das Treffen wie ich. Wir hatten beide erwartet, dass sie uns mit irgendwelchem Psychokram volllabern würde. Was es bedeutet - und erfordert -, eine erfolgreiche Schülerin zu sein. Dass diese Schule für die Besten und Begabtesten des ganzen Bundesstaats vorgesehen ist. Dass jeder, der willig und fleißig ist, dieselben Chancen hat, erfolgreich zu sein. Doch nichts von alldem. Sie wollte uns nur zusammenführen. Ich schließe die Augen. Ich will mich nicht daran erinnern, aber ich sehe alles noch deutlich vor mir. Als sich das Gerücht über Hannahs unentschuldigtes Fernbleiben in der Schule aus50
breitete, fragte Mr Porter unsere Klasse, warum er überall auf den Gängen ihren Namen hörte. Er sah nervös, fast krank aus. Als wisse er die Antwort, wolle jedoch, dass man ihn vom Gegenteil überzeuge. Dann flüsterte ein Mädchen: »Jemand hat einen Krankenwagen vor ihrem Haus gesehen.« Als uns Ms Antilly über den wahren Grund unserer Zusammenkunft aufklärte, drehten Jessica und ich uns zueinander um. Ihre Lippen teilten sich, als wollte sie etwas sagen. Doch was sollte sie in meiner Gegenwart schon sagen? Sie schien plötzlich verwirrt. Ich weiß, wie sie sich gefühlt hat, weil es mir ganz genauso ging. Und ich werde nie Ms Antillys Reaktion vergessen, als sie begriff, dass wir uns vielleicht doch nicht im Handumdrehen anfreunden würden: »… oder … auch nicht.« Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mir jenen Tag ins Gedächtnis zu rufen. War Mr Porters Gesicht von Schmerz erfüllt? Oder von Angst? Er starrte regungslos auf Hannahs Tisch. Durch ihn hindurch. Niemand sagte ein Wort, doch wir alle schauten uns an. Dann verließ Mr Porter die Klasse und kam eine ganze Woche lang nicht wieder. Warum? Weil er Bescheid wusste? Weil er mehr wusste, als ihm lieb war? Soweit ich mich erinnere, kam es zu folgendem Wortwechsel: Ich: »Tut mir leid, Ms Antilly. Aber ich dachte, ich wäre aus einem anderen Grund hier.« Jessica: »Ich auch, sonst wäre ich nämlich nicht gekommen. Okay, vielleicht haben Hillary und ich ja wirklich ein paar Gemeinsamkeiten, und ich bin sicher, dass sie...« Ich: »Ich heiße Hannah.« Jessica: »Ach, hab ich Hillary gesagt? Entschuldigung!« 51
Ich: »Schon okay. Ich dachte nur, du solltest meinen richtigen Namen kennen, da wir ja jetzt ganz dicke Freundinnen sind.« Dann lachten wir alle drei. Jessica und ich hörten uns dabei so ähnlich an, dass wir noch mehr lachen mussten. Das Lachen von Ms Antilly kam weniger von Herzen und klang etwas nervöser. Sie sagte, sie hätte zum ersten Mal versucht, eine Freundschaft zu stiften, und wahrscheinlich sei das auch das letzte Mal gewesen. Aber wisst ihr was? Nach dem Treffen sind Jessica und ich noch ein bisschen zusammengeblieben. Clever gemacht, Ms Antilly. Wirklich sehr clever! Wir verließen das Schulgelände und hatten anfangs Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Trotzdem war es schön, mal mit jemand anders reden zu können als den eigenen Eltern. Ein Linienbus hält vor mir an der Bordsteinkante. Silbern mit blauen Streifen. Wir gingen an der Stelle vorbei, an der ich eigentlich abbiegen muss, aber ich sagte kein Wort. Ich wollte unser Gespräch nicht abbrechen, doch zu mir nach Hause einladen wollte ich sie noch weniger, schließlich kannten wir uns ja noch gar nicht. Also sind wir bis in die Innenstadt weitergegangen. Später habe ich herausgefunden, dass auch sie an der Straße, in der sie wohnt, vorbeigelaufen war, um sich weiter mit mir zu unterhalten. Wo wir hingegangen sind? Schaut euch einfach E7 auf eurer Karte an. Monet’s Garden Café & Coffeehouse. Die Bustüren öffnen sich zischend. Eigentlich waren wir beide keine Kaffeetrinker, aber es schien ein netter Ort zu sein, um noch ein bisschen zu quatschen. Durch die beschlagenen Scheiben sehe ich, dass fast alle Plätze leer sind. 52
Wir bestellten beide eine heiße Schokolade. Sie fand das offenbar ziemlich komisch. Ich nicht. Ich bestelle immer heiße Schokolade. Ich habe noch nie einen Linienbus benutzt. Hatte noch nie einen Grund dazu. Doch mit jeder Minute wird es dunkler und kälter. Da der Abendbus nichts kostet, steige ich ein. Ich gehe direkt an der Fahrerin vorbei. Wir sagen beide kein Wort. Sie sieht mich nicht einmal an. Während ich fröstelnd durch den Mittelgang stapfe, knöpfe ich meine Jacke zu und widme jedem einzelnen Knopf mehr Aufmerksamkeit, als nötig wäre, um die anderen Fahrgäste nicht anschauen zu müssen. Ich weiß, wie ich auf sie wirke. Verwirrt. Schuldbeladen. Dem Zusammenbruch nahe. Ich suche mir eine Bank, die von anderen leeren Plätzen umgeben ist. Das blaue Velourspolster hat in der Mitte einen Riss, aus dem gelber Schaumstoff herausquillt. Ich rutsche zum Fenster. Die Scheibe ist kalt, doch ist es beruhigend, meinen Kopf dagegenzulehnen. Ich kann mich wirklich kaum noch daran erinnern, worüber wir an diesem Nachmittag geredet haben. Weißt du es noch, Jessica? Wenn ich meine Augen schließe, fließen die Erinnerungen ineinander. Unser Lachen. Unser Bemühen, beim Trinken nichts zu verschütten. Unser wildes Gestikulieren, während wir sprachen. Ich schließe die Augen. Die Scheibe kühlt eine Seite meines erhitzten Gesichts. Mir egal, wohin der Bus fährt. Wenn ich darf, werde ich einfach stundenlang sitzen bleiben, mir die Kassetten anhören... und vielleicht irgendwann einschlafen. 53
Dann hast du dich über den Tisch gebeugt und mir zugeflüstert: »Ich glaube, der Typ dahinten hat’s auf dich abgesehen.« Ich wusste sofort, wen du meintest, weil er mir auch schon aufgefallen war. Aber er hatte es bestimmt nicht auf mich abgesehen. »Quatsch, der ist hinter dir her«, sagte ich. Wenn es einen Wettbewerb gäbe, wer den größten Vorbau hat, dann würde natürlich Jessica gewinnen, wie ihr alle wisst. »Entschuldigung«, sagte sie zu Alex - falls ihr nicht längst wisst, von wem hier die Rede ist -, »wen von uns starrst du eigentlich so an?« Und ein paar Monate später, nachdem Hannah und Justin Foley sich getrennt hatten und die Gerüchte begannen, hat Alex seine Liste geschrieben. Wer ist heiß? Wer nicht? Doch damals, im Monet’s, wusste niemand, wohin diese Begegnung führen würde. Am liebsten würde ich auf Stopp drücken und zum Anfang ihres Gesprächs zurückspulen. Am liebsten würde ich die Vergangenheit ungeschehen machen und sie warnen. Oder sie irgendwie daran hindern, sich zu begegnen. Aber das ist unmöglich. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Alex wird rot. So rot, wie man eben wird, wenn einem das gesamte Blut des Körpers auf einmal ins Gesicht schießt. Als er den Mund öffnet, um es abzustreiten, schneidet Jessica ihm das Wort ab. »Lüg uns nicht an! Also, wen von uns hast du beobachtet?« Hinter der trüben Scheibe ziehen die Straßenlaternen und Neonreklamen der Innenstadt an mir vorbei. Die meisten Geschäfte haben bereits geschlossen. Aber die Bars und Restaurants sind noch geöffnet. In diesem Moment hat sich Jessicas Freundschaft wirklich bezahlt gemacht. Sie war das extrovertierteste, direkteste und aufrichtigste Mädchen, dem ich je begegnet war. 54
Im Stillen dankte ich Ms Antilly, dass sie uns zusammengebracht hatte. Während Alex stotternd irgendeine Entschuldigung vorbrachte, beugte sich Jessica zu ihm hinüber und legte ihre Finger dezent auf die Tischplatte. »Wir haben gesehen, wie du uns beobachtest hast«, sagte sie. »Wir sind beide neu hier in der Stadt, deshalb möchten wir wissen, wen von uns du mehr angestarrt ist. Es ist wichtig.« Alex stammelte: »Ich bin... ich habe... es ist nur, weil ich auch neu bin...« Ich glaube, Jessica und ich stießen im selben Moment ein »Oh!« aus. Und dann war es an uns zu erröten. Der arme Alex wollte nur an unserem Gespräch teilnehmen. Wir gestatteten es ihm. Und ich glaube, wir unterhielten uns mindestens eine weitere Stunde lang. Drei Leute, die froh darüber waren, an ihrem ersten Schultag nicht allein durch die Flure streichen zu müssen. In der Mittagspause nicht allein zu sein. Sich nicht verloren zu fühlen. Obwohl es keine Rolle spielt, frage ich mich, in welcher Linie ich sitze. Fährt der Bus aus der Stadt heraus oder dreht er in den Straßen des Zentrums seine immergleichen Runden? Vielleicht hätte ich das überprüfen sollen, bevor ich eingestiegen bin. Dieser Nachmittag im Monet’s war für uns alle eine große Erleichterung. So oft war ich voller Angst eingeschlafen, weil ich nicht wusste, was mich am ersten Schultag erwartete. Doch nach dem Nachmittag im Monet’s war alles anders. Jetzt war ich voller gespannter Erwartung. Dabei habe ich Jessica und Alex niemals als meine Freunde betrachtet. Nicht mal am Anfang, als ich mich darüber gefreut hätte, automatisch zwei neue Freunde bekommen zu haben. Und ich weiß, dass es ihnen genauso ging, weil wir darüber gesprochen haben. Wir haben über unsere alten Freunde gesprochen: warum sie unsere Freunde geworden waren und was 55
wir uns auf der neuen Schule von unseren neuen Freunden erwarten. Doch in diesen ersten Wochen, ehe wir unserer eigenen Wege gingen, war das Monet’s Garden unsere Oase. Wenn irgendjemand von uns was auf dem Herzen hatte, trafen wir uns dort auf der Terrasse, am letzten Tisch auf der rechten Seite. Ich weiß nicht mehr, wann das angefangen hat, doch wer von uns den anstrengendsten Tag hinter sich hatte, der legte seine Hand auf die Tischplatte und sagte: »Einer für alle - alle für einen!« Die beiden anderen legten jeweils eine Hand darauf. Dann hörten wir zu und nippten an unseren Getränken, die wir mit der freien Hand hielten. Jessica und ich tranken wie üblich unsere heiße Schokolade. Alex arbeitete sich im Laufe der Zeit durch die gesamte Getränkekarte. Ich bin nur ein paar Mal im Monet’s gewesen, aber ich glaube, es befindet sich in der Straße, die der Bus gerade entlangfährt. Wir waren echt ziemlich sentimental. Tut mir leid, wenn ihr diese Episode albern findet. Aber das Monet’s füllte damals eine Leere in unserem Leben aus. Für jeden von uns. Aber keine Sorge... diese Phase hielt nicht lange an. Ich schiebe mich auf den Platz am Gang und stehe während der Fahrt auf. Der Erste, der sich aus unserem Kreis verabschiedete, war Alex. In der Schule gingen wir weiter nett miteinander um, wenn wir uns mal auf dem Flur begegneten, aber das war’s dann auch. Jedenfalls was uns beide betraf. Indem ich mich an den Rückenlehnen abstütze, gehe ich durch den schwankenden Bus nach vorne. Unser Verhältnis hat sich dann auch schnell abgekühlt, Jessica. Wir redeten nur noch belangloses Zeug.
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»Wo ist die nächste Haltestelle?« Ich spüre, wie die Wörter aus meiner Kehle dringen, doch werden sie vollkommen von Hannahs Stimme und dem Brummen des Motors übertönt. Die Fahrerin sieht mich im Rückspiegel an. Als Jessica aufhörte, ins Monet’s zu kommen, habe ich noch ein paar Mal dort vorbeigeschaut - in der Hoffnung, einen von beiden dort anzutreffen, doch irgendwann hab ich’s dann auch aufgegeben. Bis... »Die anderen Leute hier schlafen alle«, sagt die Fahrerin. Ich lese ihre Lippen, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstehe. »Ich kann halten, wo Sie möchten.« Das Gute an Jessicas Geschichte ist übrigens die Tatsache, dass sie sich fast ausschließlich an einem Ort abspielt. Dadurch habt ihr weniger Mühe mit den Sternen. Der Bus fährt am Monet’s vorbei. »Hier, bitte«, sage ich. Ich habe Jessica das erste Mal in Ms Antillys Büro getroffen. Doch kennengelernt haben wir uns im Monet’s. Ich halte mich gut fest, während der Bus abbremst und am Bordstein anhält. Auch Alex haben wir im Monet’s kennengelernt. Und dann... dann ist Folgendes passiert. Die Türen gleiten zischend auf. Eines Tages kam Jessica in der Schule auf mich zu. »Wir müssen reden«, sagte sie. Sie erwähnte zwar weder, worum es ging, noch wo sie mich sprechen wollte, doch ich tippte auf das Monet’s und ahnte auch, was sie von mir wollte. Ich gehe die Stufen hinunter und betrete den Bürgersteig. Während ich den Kopfhörer zurechtrücke, setze ich mich in Bewegung. Als ich dort ankam, saß sie zusammengesunken auf einem Stuhl und ließ die Arme hängen, als wartete sie schon eine Ewigkeit auf mich. Vielleicht hatte sie gehofft, ich würde die letzte Stunde sausen lassen, um mich mit ihr zu treffen. 57
Ich nahm Platz und legte eine Hand auf die Tischplatte. »Einer für alle - alle für einen!« Sie ließ stillschweigend ein Blatt Papier auf den Tisch fallen. Dann schob sie es mir entgegen und drehte es um, damit ich es lesen konnte. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Denn ich hatte es schon einmal verkehrt herum gelesen, als es auf Jimmys Tisch lag: WER IST HEISS? WER NICHT? Ich wusste bereits, auf welcher Seite der Tabelle Alex meinen Namen eingetragen hatte. Und das Mädchen, deren Name auf der anderen Seite stand, saß mir nun leibhaftig gegenüber. Ausgerechnet in unserer sogenannten Oase. Hier hatten wir gemeinsam Schutz gesucht. Ich sie... und Alex. »Ach komm...«, sagte ich, »das bedeutet doch nichts!« Ich muss heftig schlucken. Nachdem ich die Liste gelesen hatte, habe ich sie einfach weitergegeben, ohne groß darüber nachzudenken. Irgendwie fand ich das damals lustig. »Hannah!«, sagte sie. »Es ist mir egal, dass er dir den Vorzug gibt.« Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte, und hatte nicht die geringste Lust, mich darauf einzulassen. Und jetzt? Wie finde ich es jetzt? Ich hätte mir jede Kopie besorgen und alle zusammen in den Müll werfen sollen. »Er hat mir nicht den Vorzug gegeben«, sagte ich zu ihr. »Er hat meinen Namen nur benutzt, um sich an dir zu rächen, das weißt du ganz genau. Er wusste, dass dich mein Name mehr verletzen würde als jeder andere.« Sie schloss die Augen und flüsterte meinen Namen mit Nachdruck: »Hannah!« Weißt du noch, Jessica? Ich schon. Wenn jemand auf diese Art und Weise deinen Namen sagt und dich dabei nicht mal ansieht, dann hast du keine Chance mehr. Dann ist die Entscheidung gefallen. »Ich weiß doch, was geredet wird, Hannah!«, sagte sie. 58
»Geredet wird viel«, entgegnete ich. Vielleicht war ich ein bisschen überempfindlich, aber ich hatte in meiner Einfalt geglaubt, dass es mit den Gerüchten ein Ende haben würde, nachdem wir hierhergezogen waren. Dass ich den ganzen Klatsch und Tratsch endgültig hinter mir gelassen hätte. »Das Gerede muss noch lange nicht der Wahrheit entsprechen«, sagte ich. Du wiederholtest meinen Namen. »Hannah!« Natürlich kannte ich die Gerüchte. Und ich habe dir geschworen, dass ich Alex kein einziges Mal außerhalb der Schule getroffen habe. Aber du wolltest mir nicht glauben. Warum auch? Warum sollte irgendjemand einem Gerücht misstrauen, das so wunderbar mit dem früheren Gerede zusammenpasste? Nicht wahr, Justin? Jessica hätte so viele Gerüchte über Alex und Hannah hören können. Doch keines von ihnen entsprach der Wahrheit. Jessica sah in mir lieber die böse Hannah als die Hannah, die sie im Monet’s kennengelernt hatte. Das war leichter zu akzeptieren. Leichter zu verstehen. Für sie mussten die Gerüchte einfach wahr sein. Ich weiß noch genau, wie sich Alex mit ein paar Jungs zusammen in der Umkleide amüsiert hat. Wer Hannah Baker heißt, der lässt sich natürlich schnell vernaschen, sagten sie und gratulierten Alex zu seiner Eroberung. Nachdem die anderen Jungs abgezogen waren, blieben Alex und ich allein in der Umkleide zurück. Ihr Gerede hatte mir einen Stich gegeben. Seit Kats Abschiedsparty ging mir Hannah nicht mehr aus dem Kopf. Doch ich traute mich nicht, Alex zu fragen, ob es stimmte, was sie da eben gesagt hatten. Denn falls es stimmte, wollte ich es lieber nicht wissen. Während er sich die Schuhe schnürte, stritt Alex alles ab, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Ach, das war doch nur so dahergeredet.« 59
»Ich danke dir, Jessica«, sagte ich, »dass du mich in den ersten Wochen so unterstützt hast. Das hat mir viel bedeutet. Und es tut mir leid, dass sich Alex den Quatsch mit der Liste ausgedacht hat.« Ich versicherte ihr, dass Alex damals im Monet’s nicht mich angestarrt hätte, sondern sie, und dass ich sogar auf sie eifersüchtig gewesen wäre. Und wenn es ihr helfen würde, über die Sache hinwegzukommen, dann wollte ich gern alle Schuld auf mich nehmen, dass unser kleiner Kreis auseinandergebrochen war. Doch müsse sie mir unbedingt glauben, dass an den Gerüchten nicht das Geringste dran sei! Ich erreiche das Monet’s. Zwei Jungs lehnen draußen an der Mauer. Einer raucht eine Zigarette, der andere hat sich tief in seiner Jacke vergraben. Doch Jessica hörte anscheinend nur, dass ich die Schuld auf mich nahm. Sie stand auf, starrte auf mich herab - und ließ plötzlich ihren Arm nach vorne schnellen. Was hattest du eigentlich vor, Jessica? Wolltest du mich schlagen oder kratzen? Denn es fühlte sich an wie eine Kombination aus beidem. Als hättest du dich nicht richtig entscheiden können. Und wie hast du mich genannt? Spielt ja eigentlich keine Rolle mehr, aber der Ordnung halber sollten wir es festhalten. Weil ich zu sehr damit beschäftigt war, mich zu ducken und deinen Schlag abzuwehren - was mir leider nicht richtig gelungen ist -, habe ich leider nicht genau verstanden, was du gesagt hast. Der kleine Kratzer über meiner Augenbraue, den ihr alle gesehen habt, der stammt von Jessicas Fingernagel. Ich habe den Kratzer vor ein paar Wochen bemerkt. Auf der Party. Ein winziger Makel in einem hübschen Gesicht. Und ich sagte ihr, wie süß das aussehe. 60
Aber vielleicht ist er euch ja gar nicht aufgefallen. Ich habe ihn allerdings jeden Morgen gesehen, wenn ich mich für die Schule fertig gemacht habe. »Guten Morgen, Hannah!«, hat er immer zu mir gesagt und »Schlaf gut!«, wenn ich ins Bett ging. Ich stoße die schwere Eingangstür des Monet’s auf. Warme Luft schlägt mir entgegen. Alle Gäste drehen sich verärgert zu mir um, weil ich die Kälte hereinlasse. Ich schlüpfe hinein und ziehe die Tür hinter mir zu. Doch es war mehr als ein Kratzer. Es war ein Schlag ins Gesicht. Es war wie ein Messer in meinem Rücken, weil du lieber irgendwelchen aus der Luft gegriffenen Gerüchten geglaubt hast als deinem eigenen Eindruck. Jessica, Schätzchen, ich wüsste zu gern, ob du dich dazu aufgerafft hast, zu meiner Beerdigung zu kommen. Hast du die Narbe gesehen, falls du dort warst? Und ihr alle - habt ihr die Narben gesehen, die ihr geschlagen habt? Nein, bestimmt nicht. Wie sollten wir? Denn die meisten sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Es gab keine Beerdigung, Hannah.
KASSETTE 2: SEITE B Hannah zu Ehren sollte ich eine heiße Schokolade bestellen. Im Monet’s servieren sie sie mit kleinen Marshmallows, die auf der Oberfläche schwimmen. Ich kenne kein anderes Café, das dasselbe macht. Doch als mich die Bedienung fragt, bestelle ich einen Kaffee, weil ich knapp bei Kasse bin. Die heiße Schokolade kostet einen ganzen Dollar mehr. 61
Sie schiebt einen Becher über die Theke und deutet auf den Selbstbedienungsautomaten. Ich bedecke den Boden des Bechers mit Kaffeesahne und fülle mit Hairy Chest Blend auf das hört sich nach viel Koffein an und sollte es mir ermöglichen, so lange aufzubleiben, bis ich alle Kassetten gehört habe. Ich habe das Gefühl, dass ich das tun muss, in dieser Nacht. Oder sollte ich mich lieber auf meine eigene Geschichte konzentrieren und der Kassette danach nur so weit lauschen, bis ich weiß, an wen ich alles weiterleiten soll? »Was hörst du da?«, fragt das Mädchen hinter der Theke. Sie steht jetzt neben mir und überprüft, ob die kleinen Behälter aus Edelstahl, in denen sich Kaffeesahne, Magermilch und Sojamilch befinden, noch ausreichend gefüllt sind. Die schwarzen Linien eines Tattoos steigen aus ihrem Kragen auf und verschwinden in den kurz geschorenen Haaren. Ich werfe einen Blick auf den gelben Kopfhörer, der um meinen Hals hängt. »Nur ein paar Kassetten.« »Musikkassetten?« Sie nimmt die Kanne mit Sojamilch und hält sie sich gegen den Bauch. »Irgendwas, das ich kenne?« Ich schüttele den Kopf und lasse drei Zuckerwürfel in meinen Kaffee fallen. Sie klemmt sich das Kännchen unter den anderen Arm und streckt die Hand aus. »Wir waren vor zwei Jahren zusammen auf der Schule. Du bist Clay, oder?« Ich stelle den Becher ab und gebe ihr die Hand. Ihre Handfläche ist warm und weich. »Wir hatten einen Kurs zusammen«, fügt sie hinzu, »aber wir haben nicht viel miteinander geredet.« Jetzt kommt sie mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte sie damals einen anderen Haarschnitt. »Kein Wunder, dass du mich nicht wiedererkennst«, sagt sie. »Ich hab mich seit der Highschool ziemlich verändert.« Sie rollt ihre stark geschminkten Augen. »Gott sei Dank!« Ich rühre mit einem hölzernen Stäbchen in meinem Kaffee. 62
»Welchen Kurs hatten wir denn zusammen?« »Holzarbeiten.« Ich kann mich immer noch nicht an sie erinnern. »Das Einzige, was mir der Kurs eingebracht hat, waren Splitter«, sagt sie. »Ach ja, und einen Klavierhocker habe ich auch zusammengezimmert. Ich hab zwar kein Klavier, aber jetzt besitze ich zumindest den Hocker dazu. Kannst du dich noch erinnern, was du gemacht hast?« Ich rühre unverdrossen. »Ein Gewürzbord.« Die Sahne verleiht dem Kaffee eine hellbraune Farbe, während ein paar dunkle Kaffeekörner an die Oberfläche steigen. »Ich hab immer gedacht, dass du der netteste Junge im ganzen Kurs bist«, sagt sie. »Das fanden damals alle. Ziemlich ruhig, aber das ist okay. Bei mir fanden die Leute eher, dass ich zu viel quatsche.« Ein Gast räuspert sich am Tresen. Wir schauen beide zu ihm hinüber, doch er ist in die Getränkekarte vertieft. Sie gibt mir erneut die Hand. »Vielleicht haben wir nächstes Mal ja ein bisschen mehr Zeit, um miteinander zu reden«, sagt sie. Dann geht sie wieder hinter den Tresen. Das bin ich also: der nette Clay. Würde sie das immer noch sagen, nachdem sie die Kassetten gehört hat? Ich gehe durch das Lokal und drücke die Tür auf, die zur Terrasse führt. Auf meinem Weg muss ich mich an zahlreichen Tischen vorbeischlängeln, an denen die Leute ihre Stühle nach hinten gekippt und ihre Beine ausgestreckt haben - ein regelrechter Hindernisparcours, der es mir fast unmöglich macht, meinen Kaffee nicht zu verschütten. Ein warmer Kaffeetropfen landet auf meinem Finger, läuft mir über die Knöchel und fällt auf den Boden. Mit der Schuhspitze reibe ich ihn weg. In diesem Moment muss ich an den Zettel denken, der vorhin vor dem Schuhgeschäft auf den Boden fiel. 63
Nach Hannahs Selbstmord, doch bevor ich den Schuhkarton mit den Kassetten bekam, ertappte ich mich des Öfteren dabei, wie ich am Schuhgeschäft ihrer Eltern vorbeiging. Vor allem wegen dieses Geschäfts waren sie damals hierhergezogen. Nach dreißig Jahren wollte der alte Eigentümer seinen Laden verkaufen. Hannahs Eltern nutzten die Gelegenheit und übernahmen ihn. Ich bin mir nicht sicher, warum ich so oft an dem Schuhgeschäft vorbeiging. Vielleicht habe ich irgendeine Verbindung zu ihr gesucht, eine Verbindung, die nichts mit der Schule zu tun hatte, und dies war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel. Ich suchte nach Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt habe. Über ihr Leben. Über alles. Damals wusste ich nicht, dass die Kassetten später alles erklären würden. Am Tag nach ihrem Selbstmord stand ich zum ersten Mal vor der Eingangstür des Geschäfts. Drinnen war es dunkel. Am Schaufenster klebte ein Zettel, auf dem in dicker schwarzer Schrift WIR ÖFFNEN GLEICH geschrieben stand. Der Zettel schien in aller Eile geschrieben worden zu sein. Ein Zulieferer hatte an der Glastür eine selbstklebende Benachrichtigungskarte hinterlassen. »Versuche es morgen wieder« war angekreuzt. Als ich wenige Tage später zurückkehrte, klebten noch viel mehr Nachrichten an der Scheibe. Vorhin, nach der Schule, bin ich ein weiteres Mal an dem Geschäft vorbeigegangen. Als ich die Termine und Nachrichten auf den Zetteln las, löste sich einer von der Scheibe, segelte zu Boden und blieb neben meinem Schuh liegen. Ich hob ihn auf und suchte die Tür nach der jüngsten Nachricht ab. Ich hob den Zettel an der Ecke an und klemmte den älteren darunter. Sie werden bestimmt bald wieder da sein, dachte ich. Die Beerdigung findet wahrscheinlich an ihrem alten Wohnort statt. Es ist ja etwas anderes, wenn ein Mensch schon sehr alt ist oder Krebs hat - aber mit Selbstmord hat wirklich niemand ge64
rechnet. Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, sich irgendwie darauf vorzubereiten. Ich öffne die Terrassentür des Monet’s und achte darauf, nicht noch mehr Kaffee zu verschütten. Die Terrasse ist in ein gemütliches, schummriges Licht getaucht. Jeder Tisch - auch Hannahs im hintersten Winkel - ist besetzt. Dort sitzen drei Jungen mit Baseballcaps, die schweigend über ihre Schulhefte und -bücher gebeugt sind. Ich gehe wieder hinein und setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters. Von hier aus kann ich die Terrasse überblicken, doch Hannahs Tisch wird von einem efeuüberwucherten Pfeiler verdeckt. Ich atme tief durch. Bisher war ich erleichtert, dass mein Name auf den Kassetten noch nicht erwähnt wurde. Doch fürchte ich mich vor dem, was noch kommen mag, wenn ich an der Reihe bin. Denn irgendwann werde ich an der Reihe sein. Ich weiß es. Und ich will es bald hinter mich bringen. Was habe ich dir getan, Hannah? Während ich auf ihre Stimme warte, starre ich aus dem Fenster. Draußen ist es dunkler als hier drinnen. In der Scheibe erkenne ich das Spiegelbild meiner eigenen Augen. Ich wende den Blick ab. Ich betrachte den Walkman, der vor mir auf dem Tisch liegt. Obwohl ich auf »Play« gedrückt habe, ist immer noch nichts zu hören. Vielleicht ist die Kassette nicht richtig eingerastet. Also drücke ich die Stopptaste. Dann wieder auf »Play«. Nichts. 65
Ich rolle meinen Daumen über das Rädchen, mit dem man die Lautstärke reguliert. Nur das Rauschen wird lauter, also drehe ich das Rädchen wieder zurück. Ich warte. Pst!... ihr müsst leise sein, wenn ihr in der Bibliothek seid... Ihre Stimme ist nur ein Flüstern. ... in einem Kino oder in der Kirche. Ich lausche angestrengt. Manchmal ist niemand in der Nähe, der einem sagt, dass man sich vollkommen ruhig verhalten soll. Manchmal muss man das, wenn man allein ist. So wie ich in diesem Moment. Pst! An den voll besetzten Tischen um mich herum wird viel geredet. Aber die einzigen Worte, die ich verstehe, sind die von Hannah. Alles andere ist nur ein dumpfes Hintergrundgeräusch, das hin und wieder von einem lauten Lachen durchbrochen wird. Man sollte zum Beispiel mucksmäuschenstill sein, wenn man ein Spanner ist. Denn was ist, wenn sie dich hören? Ich stoße erleichtert die Luft aus. Wieder ist nicht von mir die Rede. Was ist, wenn sie... wenn ich... dir auf die Schliche gekommen bin? Ich hab dich erwischt, Tyler Down. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Tut mir leid für dich, Tyler. Wirklich. Alle anderen, die auf diesen Kassetten vorkommen - zumindest bis jetzt -, müssen ein wenig erleichtert sein. Denn sie wurden ja nur als Lügner, Dummköpfe oder schwache Persönlichkeiten entlarvt. Dein Part, Tyler, ist schon etwas unheimlicher... Ich nehme den ersten Schluck von meinem Kaffee. Tyler? Ein Spanner? Das hätte ich nie gedacht. Und auch ich habe in diesem Moment ein mulmiges Gefühl, weil ich versuche, mich in dich hineinzuversetzen, Tyler. Ich versuche, die Spannung nachzuvollziehen, die es mit sich 66
bringt, bei jemand anders durchs Schlafzimmerfenster zu schauen. Jemanden zu beobachten, der nicht weiß, dass er beobachtet wird. Jemanden zu erwischen, der gerade... Wobei wolltest du mich erwischen, Tyler? Und warst du enttäuscht? Oder freudig überrascht? Bitte alle mal die Hand heben, die wissen, wo ich gerade bin! Ich stelle meinen Becher ab, beuge mich vor und versuche, mir vorzustellen, wie sie ihre Stimme auf Kassette aufnimmt. Wo mag sie nur sein? Wer von euch weiß, wo ich gerade stehe? Dann komme ich plötzlich darauf, schüttele den Kopf und schäme mich für ihn. Wer von euch »vor Tylers Schlafzimmerfenster« gesagt hat, der liegt ganz richtig. A4 auf eurer Karte. Tyler ist im Moment nicht zu Hause... aber seine Eltern sind da, und ich hoffe wirklich, dass sie nicht rauskommen. Zum Glück befindet sich unterhalb seines Fensters ein hoher, breiter Busch, hinter dem ich mich ziemlich sicher fühle. Wie fühlst du dich, Tyler? Ich kann mir nicht vorstellen, mit welchem Gefühl er diese Kassetten weitergeschickt hat. Im Bewusstsein, sein Geheimnis preiszugeben. Ich weiß, dass sich heute die Mitarbeiter des Jahrbuchs treffen, was unter Garantie jede Menge Pizza und Geschwätz mit sich bringt. Du wirst also nicht nach Hause kommen, ehe alles still und dunkel ist. Was ich als Hobbyspannerin natürlich sehr zu schätzen weiß. Also schönen Dank, Tyler. Danke, dass du es mir so einfach machst. Saß Tyler im Monet’s, als er dies hörte - im krampfhaften Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, während ihm gleichzeitig der Schweiß ausbrach? Oder lag er im Bett und glotzte aus dem Fenster? 67
Lasst uns schon mal einen Blick in dein Zimmer werfen, solange du noch nicht da bist. Da das Licht im Flur brennt, kann ich genug erkennen. Und ich sehe genau das, was ich erwartet habe - überall liegen Teile deiner Fotosausrüstung herum. Wirklich eine beeindruckende Sammlung, Tyler. Für jede Gelegenheit ein anderes Objektiv. Sogar ein Nachtobjektiv. Mit dieser Linse hat Tyler einen landesweiten Fotowettbewerb gewonnen. Erster Preis in der Kategorie Humor. Ein alter Mann geht im Dunkeln mit seinem Hund spazieren. Tyler hat den Hund fotografiert, während dieser an einen Baum pinkelt. Auf dem Foto sieht das aus wie ein grüner Laserstrahl. Ich kann mir vorstellen, was du jetzt sagst: »Die sind doch alle für das Jahrbuch, Hannah. Ich dokumentiere das Leben der Schüler.« Ich bin mir sicher, dass deine Eltern deshalb auch so viel Geld dafür haben springen lassen. Aber benutzt du deine Kamera nicht auch noch für andere Zwecke? Für heimliche Schnappschüsse von Mitschülern zum Beispiel? Weißt du, was unter »Schnappschuss« im Lexikon steht? »Momentaufnahme, mit der eine gerade sich ergebende Situation, eine spontane Handlung oder ein natürlicher Bewegungsablauf im Bild festgehalten wird.« Erzähl mir, Tyler, ob ich spontan genug war in all den Nächten, die du vor meinem Fenster verbracht hast. Ist es dir gelungen, meine Natürlichkeit einzufangen? Warte mal, hörst du das Geräusch? Ich setze mich auf und stütze meine Ellbogen auf die Tischplatte. Ein Auto nähert sich auf der Straße. Ich presse meine Hände auf die Ohren, um die Außengeräusche abzuschirmen. Bist du das, Tyler? Das Motorgeräusch wird lauter. Ich erkenne die Scheinwerfer. Jetzt höre ich ebenfalls das Brummen eines Motors. 68
Mein Herz signalisiert mir, dass du das bist. Mein Gott, wie heftig es pocht. Jetzt rollt der Wagen die Auffahrt hinauf. Durch ihre Stimme hindurch höre ich die Reifen, die über das Pflaster rollen. Der Motor befindet sich im Leerlauf. Du bist es, Tyler. Du bist es tatsächlich. Du hast den Motor nicht ausgeschaltet, also kann ich noch weiterreden. Die Situation ist wirklich spannend. Jetzt verstehe ich, was dich daran gereizt hat. Es muss furchtbar für ihn gewesen sein, sich das anzuhören. Und vermutlich leidet er Höllenqualen, weil er weiß, dass er nicht der Einzige ist. Okay, alle aufgepasst! Die Autotür öffnet sich...Pst! Eine lange Pause. Sie atmet ruhig. Kontrolliert. Eine Tür schlägt. Schlüssel klappern. Schritte. Eine andere Tür wird aufgeschlossen. Okay, Tyler. Hier kommt mein detaillierter Bericht: Du bist ins Haus gegangen, hast die Tür hinter dir zugezogen. Entweder erzählst du gerade deinen Eltern, wie toll alles war und dass das nächste Jahrbuch das beste aller Zeiten wird, oder du bist direkt in die Küche gegangen, weil ihr für euer Treffen zu wenig Pizza besorgt hattet. Während ich abwarte, kann ich euch ja mal erzählen, wie alles angefangen hat. Falls ich mich bei der Zeitdauer irre, Tyler, gehe ich davon aus, dass du die anderen Leute auf diesen Kassetten persönlich aufsuchst und ihnen berichtest, wie lange du mich heimlich beobachtest hast. Darauf kann ich mich doch verlassen, oder? Ich rechne damit, dass ihr alle später die Lücken füllt, die ich hinterlasse. Denn jede Geschichte, die ich erzähle, birgt eine Menge unbeantworteter Fragen. Unbeantwortet? Ich hätte dir jede Frage beantwortet, Hannah, aber du hast nie gefragt.
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Zum Beispiel diese: Wie lange hast du mich belauert, Tyler? Woher wusstest du, dass meine Eltern in dieser Woche verreist waren? Statt Fragen zu stellen, hast du mich damals auf der Party plötzlich angeschrien. Ich will euch Folgendes anvertrauen: Wenn meine Eltern verreist sind, dann darf ich mich nicht mit Jungs treffen. Sie haben wahrscheinlich Angst, ich könnte sie nachher zu mir nach Hause einladen - obwohl sie das nie zugeben würden. In den bisherigen Geschichten habe ich immer wieder betont, dass an den Gerüchten, die über mich in Umlauf sind, nichts dran ist. Das stimmt auch. Aber ich habe nie behauptet, dass ich die Tugendhaftigkeit in Person bin. Klar habe ich mich verabredet, während meine Eltern verreist waren, aber nur weil ich dann so lange wegbleiben konnte, wie ich wollte. Und wie du weißt, Tyler, hat mich der Junge, mit dem ich damals aus war, bis zur Haustür begleitet. Dort blieb er so lange stehen, bis ich meinen Schlüssel herausgeholt hatte, um aufzuschließen. Dann ist er gegangen. Ich will lieber nicht aufblicken, doch frage ich mich, ob die anderen Gäste nicht längst zu mir herüberschauen. Vielleicht verrät meine Mimik, dass es keine Musik ist, der ich lausche. Aber vielleicht nimmt auch niemand Notiz von mir. Warum sollten sie? Warum sollten sie sich fragen, was ich mir anhöre? In Tylers Zimmer brennt immer noch kein Licht, also führt er entweder ein langes Gespräch mit seinen Eltern oder er ist immer noch hungrig. Mach, was du willst, Tyler. Dann rede ich eben weiter über dich. Hast du darauf gehofft, dass ich den Jungen ins Haus bitte? Oder hätte dich das eifersüchtig gemacht? Ich rühre mit dem Holzstäbchen in meinem Kaffee. Wie dem auch sei, nachdem ich - allein! - hineingegangen bin, habe ich mir das Gesicht gewaschen und die Zähne ge70
putzt. Als ich dann in mein Zimmer kam, habe ich das Klicken gehört. Wir alle kennen das Geräusch einer Kamera, wenn jemand auf den Auslöser drückt. Sogar manche Digitalkameras geben aus nostalgischen Gründen dieses Geräusch von sich. Außerdem lasse ich mein Fenster immer gekippt, um ein bisschen Frischluft hereinzulassen. Deshalb wusste ich auch, dass jemand draußen stand. Doch ich wollte es nicht wahrhaben. Ich konnte nicht glauben, dass gleich in der ersten Nacht, nachdem meine Eltern verreist waren, jemand vor meinem Fenster stand. Also sagte ich mir, dass ich mir alles nur einbildete und mich erst daran gewöhnen müsste, allein zu sein. Trotzdem war ich nicht so blöd, mich vor dem offenen Fenster umzuziehen, also setzte ich mich aufs Bett. Klick. Tyler, du Idiot! Früher in der Schule dachten einige Leute, du wärst geistig zurückgeblieben. Aber das bist du nicht. Du bist nur ein ganzer normaler Schwachkopf. Vielleicht war es ja gar kein Klicken, sagte ich mir. Vielleicht war es nur ein Knarren. Der Holzrahmen meines Betts knarrt manchmal ein bisschen. Das musste es gewesen sein. Ich zog die Decke über mich und wechselte darunter die Kleider. Ich zog meinen Pyjama an und bewegte mich dabei mit größter Langsamkeit, weil ich Angst hatte, der Unbekannte vor dem Fenster könnte ein weiteres Foto machen. Schließlich war ich nicht sicher, wozu so ein Spanner imstande sein würde. Doch andererseits würde er sich mit einem weiteren Klicken endgültig verraten und ich könnte die Polizei rufen. Im Grunde wusste ich nicht, was ich hoffen sollte. Meine Eltern waren nicht zu Hause. Ich war allein. Also hielt ich es für das Beste, ihn zu ignorieren. Und obwohl er draußen war, hatte ich zu viel Angst, was passieren könnte, wenn er sah, dass ich zum Telefon griff. 71
Ein dummes Verhalten? Vielleicht. Aber damals habe ich eben so empfunden. Du hättest die Bullen anrufen sollen, Hannah. Das hätte die Lawine womöglich aufhalten können. Die, von der du bereits gesprochen hast. Die uns alle unter sich begraben hat. Jetzt werden sich manche von euch bestimmt fragen, warum es für Tyler so einfach war, in mein Zimmer hineinzugucken. Ob ich nachts denn meine Jalousien nicht herunterlasse. Wer die Schuld beim Opfer sucht, der mag das wissen wollen. Aber so einfach ist das nicht. Ich hatte die Jalousien eben so weit geöffnet, wie ich es mag. In klaren Nächten kann ich dann noch die Sterne beobachten, bevor ich einschlafe. Oder das Zucken der Blitze am Himmel betrachten, wenn ein Gewitter aufzieht. Das habe ich auch schon gemacht, nach draußen geschaut, während ich einschlafe. Aber im ersten Stock brauche ich auch keine Angst zu haben, dass jemand durchs Fenster guckt. Als mein Vater herausfand, dass ich die Jalousien offen ließ - wenn auch nur einen Spalt -, stellte er sich draußen auf den Bürgersteig, um sich zu vergewissern, dass von der Straße aus niemand hineinschauen konnte. Und das war auch nicht möglich. Dann ging er quer über das Grundstück bis zu meinem Fenster und fand heraus, dass jemand schon sehr groß sein und sich direkt vor meinem Fenster auf die Zehenspitzen stellen müsste, um mich zu sehen. Wie lange hast du so dagestanden, Tyler? Das muss ganz schön unbequem gewesen sein. Wenn du all die Anstrengungen auf dich genommen hast, nur um einen kurzen Blick auf mich zu erhaschen, dann hoffe ich zumindest, dass es sich für dich auch gelohnt hat. Ich glaube, das Ergebnis hat er sich anders vorgestellt. Hätte ich damals unter meinen Jalousien hindurchgeschaut und Tylers Gesicht gesehen, dann wäre ich nach draußen ge72
rannt und hätte dafür gesorgt, dass er sich in Grund und Boden schämt. Das bringt mich zum interessantesten Teil... Moment, jetzt kommst du. Ich erzähle die Geschichte später weiter. Ich schiebe meinen Kaffeebecher ans andere Ende des Tischs, obwohl er noch halb voll ist. Ich will euch Tylers Fenster beschreiben. Obwohl die Jalousie ganz heruntergelassen ist, kann ich in sein Zimmer gucken. Die Jalousie besteht aus künstlichem Bambus, zwischen den einzelnen Lamellen sind verschieden große Lücken. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, so wie Tyler, kann ich durch einen ziemlich breiten Spalt sehen. So, jetzt macht er das Licht an... und schließt die Tür hinter sich. Er... er sitzt auf dem Bett. Er zerrt sich die Schuhe von den Füβen... und nun die Socken... Ich stöhne. Mach jetzt keine Dummheiten, Tyler. Es ist zwar dein Zimmer, in dem du tun und lassen kannst, was du willst, aber du hast dich schon lächerlich genug gemacht. Vielleicht sollte ich ihn warnen. Ihm eine Chance geben, sich zu verstecken. Sich unter seiner Bettdecke umzuziehen. Vielleicht sollte ich ans Fenster klopfen. Oder an die Wand schlagen. Vielleicht sollte ich ihn genauso verunsichern, wie er mich verunsichert hat. Sie spricht immer lauter. Ob sie es darauf anlegt, ertappt zu werden? Schließlich bin ich doch hier, um mich an ihm zu rächen, oder? Ich dachte, das würde mir Freude bereiten, eine gewisse Genugtuung verschaffen. Aber hier draußen vor seinem Fenster zu stehen, befriedigt mich kein bisschen. Warum also? Warum bin ich hier? Ich habe schon gesagt, dass es nicht um mich geht. Und wenn ihr die Kassetten an den richtigen Adressaten weiter73
schickt, wird niemand außer euch je erfahren, was ich hier sage. Warum also bin ich hier? Sag es uns, Hannah. Bitte. Erzähl mir, was ich damit zu tun habe. Bleib ganz ruhig, Tyler. Ich bin nicht hier, um dich zu beobachten. Was du machst, ist mir egal. In Wahrheit schaue ich dich nicht mal an, sondern lehne gerade mit dem Rücken an der Wand und blicke auf die Straße. Es ist eine richtige Allee. Die Zweige der Bäume berühren sich hoch in der Luft wie Fingerspitzen. Poetisch, nicht wahr? Ich hab sogar mal ein Gedicht geschrieben, in dem ich solch eine Straße mit meinem liebsten Kinderreim verglichen habe: Dies ist die Kirche, das ihre Turmspitze, öffne die Türe... Jemand von euch hat mein Gedicht sogar gelesen. Aber dazu kommen wir später. Auch damit meint sie nicht mich. Ich wusste nicht mal, dass Hannah Gedichte geschrieben hat. Aber jetzt will ich über Tyler reden. Ich bin immer noch in seiner Straße. Seiner dunklen, verlassenen Straße. Er weiß immer noch nicht, dass ich hier bin, also sollten wir es jetzt hinter uns bringen, ehe er ins Bett geht. Am Tag nachdem Tyler unter meinem Fenster gestanden hatte, habe ich einem Mädchen in der Schule erzählt, was passiert ist. Dieses Mädchen ist dafür bekannt, einfühlsam und eine gute Zuhörerin zu sein, und ich wollte, dass sich jemand um mich sorgte. Ich brauchte jemanden, der meine Ängste ernst nahm. Aber da war ich bei ihr definitiv an der falschen Adresse. Dieses Mädchen, das in der Klasse direkt vor mir saß, hat eine perverse Seite, von der nur wenige wissen. »Ein Spanner?«, fragte sie. »Wirklich ein echter Spanner?« »Ich glaube schon«, antwortete ich.
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»Ich hab mich immer gefragt, was das für ein Gefühl ist...«, sagte sie träumerisch. »Ich meine... zu wissen, dass einem ein Spanner zusieht, das ist doch irgendwie... sexy.« Total pervers. Aber wer ist sie? Und was kümmert mich das? Sie hob lächelnd eine Augenbraue. »Glaubt du, der kommt noch mal wieder?« Ehrlich gesagt war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass er wiederkommen könnte. Doch jetzt machte mich dieser Gedanke ganz kribbelig. »Und wenn?«, fragte ich. »Dann musst du mir unbedingt davon erzählen!«, sagte sie. Damit drehte sie sich um und unser Gespräch war beendet. Privat hatten wir uns noch nie getroffen. Wir hatten ein paar Wahlfächer gemeinsam, haben uns ganz gut verstanden und ab und zu darüber geredet, ob wir uns mal treffen sollten, aber dazu war es nie gekommen. Doch jetzt schien die richtige Gelegenheit da zu sein. Ich tippte ihr auf die Schulter und erzählte ihr, dass meine Eltern verreist wären. Dann fragte ich sie, ob es ihr nicht gefallen würde, den Spanner in flagranti zu erwischen. Nach der Schule begleitete ich sie nach Hause, um ihre Sachen abzuholen. Da es ein Wochentag war und sie vermutlich lange bei mir bleiben würde, erzählte sie ihren Eltern, wir würden gemeinsam an einem Schulprojekt arbeiten. Oh nein! Benutzt eigentlich jeder diese Ausrede? Wir machten unsere Hausaufgaben am Esstisch und warteten darauf, dass es dunkel würde. Ihr Auto parkte als Köder direkt vor dem Haus. Zwei Mädchen auf einmal. War das nicht unwiderstehlich, Tyler? Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl hin und her. Wir gingen in mein Zimmer, setzten uns im Schneidersitz auf mein Bett und quatschten über Gott und die Welt. Um unseren Spanner tatsächlich auf frischer Tat zu ertappen, durften wir 75
natürlich nicht zu laut reden. Und plötzlich hörten wir es - das Klicken! Ihr fiel die Kinnlade runter. Doch ihre Augen haben gestrahlt wie nie zuvor. Sie flüsterte, um unser Gespräch nicht zu unterbrechen. »Tu einfach so, als hättest du nichts gehört.« Ich nickte. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und improvisierte: »Oh, mein Gott! Er hat dich wirklich angefasst?« Wir spielten ein paar Minuten lang Komödie und versuchten, nicht plötzlich in Gelächter auszubrechen, was uns unweigerlich verraten hätte. Aber dann hörte das Klicken auf, und wir wussten nicht mehr, worüber wir reden sollten. »Weißt du, was ich jetzt gebrauchen könnte?«, fragte sie. »Eine richtig schöne Rückenmassage.« »Treib’s nicht zu weit«, flüsterte ich. Sie zwinkerte mir zu, kniete sich dann auf das Bett, streckte sich weit nach vorne wie eine Katze und ließ sich schließlich auf die Matratze sinken. Klick. Ich hoffe wirklich, dass du die Bilder verbrannt oder anderweitig vernichtet hast, Tyler. Denn wenn die irgendjemand zu Gesicht bekommt - selbst wenn es nicht deine Schuld ist -, wirst du es bitter bereuen. Ich setzte mich rittlings auf ihren Hintern. Klick. Strich ihre Haare zur Seite. Klick. Und begann, ihre Schultern zu kneten. Klick. Klick. Sie drehte sich vom Fenster weg und flüsterte: »Du weißt, was es bedeutet, wenn er keine Fotos mehr macht, oder?« Ich verneinte. »Das heißt, dass er etwas anderes tut.« Klick. »Oh...« Ich massierte weiter ihre Schultern. Ich glaube wirklich, dass ich gute Arbeit geleistet habe, denn sie hörte auf zu reden und lächelte selig vor sich hin. Doch dann hatte sie eine Idee, 76
wie wir den perversen Spanner auf frischer Tat ertappen konnten. Ich wollte etwas anderes: Eine von uns sollte das Zimmer verlassen und heimlich die Polizei verständigen. Damit hätte die ganze Geschichte ein Ende gefunden. Aber das taten wir nicht. »Auf keinen Fall«, flüsterte sie. »Ich gehe nicht weg, ehe ich nicht herausgefunden habe, ob ich den Typ kenne. Vielleicht geht er ja auf unsere Schule.« »Und wenn?«, fragte ich. Sie flüsterte, ich solle mich ganz auf sie verlassen. Dann rollte sie sich zur Seite. Bei »drei« sollte ich zum Fenster laufen. Ich dachte, der Spanner wäre vielleicht abgehauen, weil schon seit einiger Zeit kein Klicken mehr zu hören war. »Hast du ein bisschen Body Lotion?«, fragte sie. Klick. Dieses Geräusch machte mich langsam wahnsinnig. Okay, dachte ich, dann spiele ich dieses Spiel eben mit. »Schau mal in der obersten Schublade nach.« Sie zeigte fragend in Richtung Fenster und ich nickte. Mein Hemd unter meinen Achseln ist feucht. Ich rutsche unruhig auf dem Stuhl hin und her, höre jedoch wie gebannt zu. Sie zieht die Schublade auf, wirft einen Blick hinein und hält sich plötzlich die Hand vor den Mund. Dabei befand sich absolut nichts in der Schublade oder in meinem Zimmer, was solch eine Reaktion gerechtfertigt hätte. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so eine bist«, sagte sie mit Nachdruck. »Den sollten wir mal zusammen benutzen.« »Äh, ja... okay«, sagte ich. Sie streckte ihre Hand in die Schublade, wühlte ein bisschen darin herum und hielt sich erneut die Hand vor den Mund. »Hannah!«, sagte sie. »Wie viele davon hast du eigentlich? Du bist wirklich ein ungezogenes Mädchen!« Klick. Klick. Schlau gemacht, dachte ich. »Zähl doch mal.« Sie nickte. »Warte mal... eins... zwei...« 77
Ich gleite mit einem Fuß aus dem Bett. »...drei!« Ich springe zum Fenster und ziehe mit einer Bewegung an der Schnur. Die Jalousie schießt nach oben. Ich habe versucht, dein Gesicht zu erkennen, aber du hast dich so schnell bewegt. Und das andere Mädchen hat dir nicht ins Gesicht geschaut, Tyler. »Oh, mein Gott!«, rief sie. »Jetzt holt er sich einen runter.« Tut mir echt leid für dich, Tyler. Du hast es zwar verdient, aber es tut mir trotzdem leid. Wer warst du also? Ich habe deine Haare gesehen und konnte ungefähr einschätzen, wie groß du bist, aber dein Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen. Trotzdem hast du dich verraten, Tyler. Am nächsten Tag in der Schule habe ich vielen dieselbe Frage gestellt. Wo warst du gestern Abend? Manche sagten, sie seien zu Hause, bei einem Freund oder im Kino gewesen. Aber du, Tyler, du hattest die defensivste und interessanteste Antwort parat: »Ich? Äh... nirgends.« Aus irgendeinem Grund stand dir der Schweiß auf der Stirn und deine Augen fingen an zu zucken.« Du bist so ein Idiot, Tyler. Na ja, zumindest war es eine originelle Antwort. Und von diesem Tag an bist du auch nie mehr zu unserem Haus gekommen. Aber das Gefühl, von dir beobachtet zu werden, Tyler, das hat mich nie verlassen. Von nun an ließ ich jede Nacht meine Jalousie ganz herunter. Ich schloss die Sterne aus und habe nie mehr die Blitze am Himmel beobachtet. Jeden Abend habe ich zuerst das Licht ausgeknipst und bin dann ins Bett gekrochen. Warum hast du mich nicht in Frieden gelassen, Tyler? Unser Haus. Mein Zimmer. Dort habe ich mich sicher gefühlt. Doch du hast mir diese Sicherheit genommen. Okay... nicht du allein. 78
Ihre Stimme zittert. Aber du hast mir das genommen, was noch da war. Sie macht eine Pause. Und während dieser Pause wird mir bewusst, mit welcher Intensität ich ins Nichts starre. Ich starre in Richtung meines Bechers, der am anderen Ende des Tisches steht. Aber ich sehe ihn nicht an. Ich bringe nicht den Mut auf, die Leute in meiner Umgebung anzuschauen. Sie fragen sich bestimmt längst, warum ich ein so gequältes Gesicht mache. Wer dieser bemitleidenswerte Typ ist, der sich irgendwelche alten Kassetten anhört. Wie wichtig ist dir deine persönliche Sicherheit, Tyler? Was bedeutet dir deine Privatsphäre? Vielleicht weniger als mir, aber darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich blicke aus dem Fenster, an meinem Spiegelbild vorbei, auf die spärlich beleuchtete Terrasse. Ich kann nicht erkennen, ob der Tisch hinter dem efeubewachsenen Pfeiler noch immer besetzt ist. Der Tisch, der einst der zweite sichere Ort war, an den Hannah sich hin und wieder zurückgezogen hat. Wer ist dieses rätselhafte andere Mädchen, Tyler, das in deiner Geschichte eine so tragende Rolle spielt? Die so selig lächelte, während ich ihr den Rücken massierte. Die mir half, dich zu erwischen. Soll ich es dir sagen? Das hängt davon ab, wie sie sich später mir gegenüber verhalten hat. Für die Antwort... leg einfach Kassette drei ein. Ich will aber wissen, was mit mir ist, Hannah. Ich will es endlich hinter mich bringen. Übrigens stehe ich jetzt wieder vor deinem Fenster, Tyler. Ich war woanders hingegangen, um deine Geschichte zu beenden, doch jetzt bin ich zurück, weil du schon vor längerer Zeit das Licht gelöscht hast. Lange Pause. Raschelnde Blätter. Dann höre ich, wie sie an das Fenster klopft. Zwei Mal. 79
Keine Sorge. Du wirst es noch früh genug erfahren.
ch nehme den Kopfhörer ab, wickele das gelbe Kabel um den Walkman und stecke ihn in die Jackentasche. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes steht ein Regal mit ausrangierten alten Büchern, vorwiegend Taschenbüchern, Esoterik, Science-Fiction und so was. Vorsichtig schlängele ich mich zu ihm hinüber. Neben einem voluminösen Lexikon steht ein breiter Band, von dem sich der Buchrücken gelöst hat. WÖRTERBUCH hat jemand in großen schwarzen Buchstaben daraufgeschrieben. Im selben Regal befinden sich auch fünf verschiedenfarbige Bücher, ungefähr so groß wie Jahrbücher, doch mit leeren Seiten. Jedes Jahr kommt ein neues hinzu. Sie dienen als Notizbücher, die den Gästen zur freien Verfügung stehen. Der Buchrücken ist jeweils mit einer Jahreszahl beschriftet. Ich ziehe das Jahr heraus, in dem ich auf der Highschool begonnen habe. Vielleicht hat sich ja auch Hannah bei einem ihrer vielen Besuche im Monet’s darin verewigt. Vielleicht in Form eines Gedichts. Oder sie hat andere Talente besessen, von denen ich nichts weiß. Vielleicht konnte sie gut zeichnen. Ich habe das dringende Bedürfnis, etwas anderes mit ihr in Verbindung zu bringen als diese schrecklichen Kassetten. Ich will sie in einem anderem Licht sehen. Da die meisten Einträge datiert sind, blättere ich vor bis September. Dort werde ich fündig. Ich schließe das Buch, behalte aber meinen Zeigefinger auf der betreffenden Seite und nehme es mit an meinen Tisch. Ich nippe gemächlich an meinem lauwarmen Kaffee, schlage das Buch wieder auf und lese die Wörter, die in roter Tinte am 80
Kopf der Seite stehen: Alle brauchen Freunde, die füreinander da sind: Einer für alle - alle für einen! Darunter die Initialen J.D. A.S. H.B. Jessica Davis. Alex Standall. Hannah Baker. Unter den Initialen liegt ein zerknittertes Foto, das auf dem Kopf steht. Ich drehe es um. Es zeigt Hannah. Oh Gott, wie sehr ich ihr Lächeln liebe. Ihre Haare, die damals noch lang waren. Sie hat einer Mitschülerin den Arm um die Taille gelegt. Courtney Crimsen. Hinter ihnen steht eine Gruppe anderer Schüler. Jeder hält entweder eine Flasche, eine Dose oder einen roten Plastikbecher in der Hand. Das Licht auf der Party ist schummrig und Courtney sieht nicht besonders glücklich aus. Zornig allerdings auch nicht. Eher nervös, finde ich. Warum?
KASSETTE 3: SEITE A Courtney Crimsen. Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen. Schöne Haare. Sympathisches Lächeln. Perfekte Haut. Außerdem bist du sehr nett. Sagen jedenfalls alle. Ich betrachte das Foto, das im Notizbuch lag. Hannahs Arm um Courtneys Taille auf irgendeiner Party. Hannah ist glücklich. Courtney ist nervös. Aber ich weiß nicht, warum. Ja, Courtney, du bist nett zu jedem, der dir über den Weg läuft. Kommst mit allen gut zurecht, die dich nach der Schule zu deinem Auto begleiten. Ich nippe an meinem Kaffee, der fast kalt geworden ist. Du gehörst definitiv zu den beliebtesten Mädchen an der ganzen Schule. Denn du bist... ja... so... süß. Richtig? 81
Falsch! Ich leere den Becher in einem Zug. Ja, meine lieben Zuhörer, Courtney ist immer nett, ganz gleich, mit wem sie es zu tun hat. Und jetzt fragt euch selbst: Ist das alles nur Show? Ich gehe zur Kaffeebar, um meinen Becher aufzufüllen. Ich denke, schon. Und ich will euch auch sagen, warum. Allerdings glaube ich nicht, dass Tyler euch die Fotos zeigt, auf denen ich Courtney den Rücken massiere. Das Kännchen mit der Kaffeesahne entgleitet meinen Fingern und kracht auf den Tresen. Ich kann gerade noch verhindern, dass es auf den Boden fällt. Dann blicke ich mir über die Schulter. Das Mädchen hinter der Kasse wirft lachend ihren Kopf in den Nacken. Courtney ist also diejenige, die mit Hannah in ihrem Zimmer war? Hannah macht eine lange Pause. Offenbar will sie den Zuhörern Zeit geben, die neue Information zu verarbeiten. Wer die Fotos trotzdem gesehen hat, der kann sich glücklich schätzen. Die sind bestimmt sehr sexy geworden. Doch wie ihr jetzt wisst, auch ziemlich gestellt. Gestellt. So könnte die Überschrift zu Courtneys Geschichte lauten. Das Verhalten von Leuten, die wissen, dass sie beobachtet werden. Dann zaubern sie ihr süßestes Lächeln hervor und versuchen, im besten Licht zu erscheinen. Das Foto von Courtney spricht eine andere Sprache. Und da man auf der Highschool ständig beobachtet wird, hat man auch ständig einen Grund, sich zu verstellen. Ich drücke auf den Knopf der Maschine, worauf der Kaffee mit einem dunklen Strahl in den Becher schießt. Ich glaube nicht, dass du das mit Absicht machst, Courtney. Deshalb kommst du auf diesen Kassetten vor: Damit du begreifst, dass dein Verhalten andere beeinflusst, so wie es mich beeinflusst hat. 82
Eigentlich kam mir Courtney immer sehr natürlich vor. Diese Kassetten zu hören, muss für sie ein Schock gewesen sein. Courtney Crimsen. Dein Name klingt fast zu perfekt. Und wie ich schon sagte, siehst du auch ziemlich perfekt aus. Aber perfekt zu sein... ist etwas anderes. Ich tue Zucker in meinen Kaffee und gehe zu meinem Tisch zurück. Immerhin versuchst du es auf die nette Tour. Als hinterhältige Schlange hättest du es sicher auch zu einem Haufen Freundinnen und Freunde gebracht. Aber du machst es eben auf die nette Art, damit du bei allen gut ankommst. Um das gleich klarzustellen: Auch ich hasse dich nicht, Courtney. Irgendwie mag ich dich sogar. Doch es gab eine Zeit, da dachte ich wirklich, wir würden Freundinnen werden. Ich kann mich nicht daran erinnern, die beiden je zusammen gesehen zu haben. Leider stellte sich heraus, dass ich nur ein weiterer Strich auf der Liste deiner Fangemeinde werden sollte. Eine weitere Person, die dir helfen würde, im Jahrbuch der Schule zur beliebtesten Schülerin gewählt zu werden. Denn sobald du mich so weit hattest, fingst du an, die nächsten Leute zu bearbeiten. Hier kommt also dein Beitrag zur Anthologie meines Lebens. Gefällt dir der Ausdruck? Anthologie meines Lebens? Ist mir gerade so eingefallen. Ich hieve den Rucksack auf meinen Schoß und öffne den Reißverschluss der größten Tasche. Der Tag, nachdem Tyler die Schnappschüsse von uns gemacht hatte, begann wie jeder andere auch. Es klingelte zur ersten Stunde und Courtney kam wie üblich ein paar Sekunden zu spät. Aber das machte nichts, weil auch Mrs Dillard noch nicht da war. Auch das nichts Ungewöhnliches. 83
Ich ziehe Hannahs Karte heraus und falte sie auf dem kleinen Tisch auseinander. Als du mit der Person geredet hast, Courtney, die vor dir sitzt, habe ich dir auf die Schulter getippt. Du hast mir in die Augen geschaut und wir fingen beide an zu lachen. Wir haben ein paar kurze Sätze ausgetauscht, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was wir genau gesagt haben. Jedenfalls herrschte völlige Übereinstimmung zwischen uns. »So ein Schwachkopf!« »Was denkt der sich nur?« »Hätte ich nie geglaubt.« »Wie lustig.« Als Mrs Dillard endlich ins Klassenzimmer kam, hast du dich wieder nach vorne umgedreht. Und am Ende der Stunde bist du einfach rausgegangen. Ich suche auf der Karte den roten Stern, der sich bei Tylers Haus befindet. Ein merkwürdiges Gefühl, Hannahs Geschichten so akribisch zu verfolgen. Als wäre ich besessen von ihnen, wollte mir die Besessenheit aber nicht eingestehen. Erst als ich mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer für die zweite Stunde machte, dachte ich: Moment mal! Sie hat sich gar nicht verabschiedet. Dabei erfülle ich doch nur ihren letzten Wunsch. Mit Besessenheit hat das nichts zu tun, sondern mit Respekt. Hast du dich später mal von mir verabschiedet? Nur sehr selten. Doch nach dem Erlebnis des vorigen Abends konnte ich dein Verhalten bloß als demonstratives Desinteresse verstehen. Nach all dem, was wir vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden gemeinsam erlebt hatten, glaubte ich, wir seien ein wenig mehr als lose Bekannte. A4. Ein roter Stern bei Tylers Haus. Aber das war ein Irrglaube. Wir grüßten einander genauso beiläufig wie viele andere Schüler auch, an denen wir kein Interesse haben. 84
Bis zu dem Abend, an dem die Party stattfand. Bis zu dem Abend, an dem du mich wieder gebraucht hast. Ich muss jetzt über etwas Klarheit gewinnen. Eher kann ich nicht weiterhören. Ich nehme den Kopfhörer ab und hänge ihn mir um den Hals. Das Mädchen, das mit mir einen Kurs belegt hatte, geht mit einer Plastikwanne, in der sie benutzte Teller und Becher stapelt, von Tisch zu Tisch. Ich starre aus dem dunklen Fenster, während sie den Nebentisch abräumt. In der Scheibe erkenne ich, dass sie mehrmals zu mir herüberblickt, doch ich drehe mich nicht um. Als sie sich wieder entfernt, nippe ich an meinem Kaffee und bemühe mich krampfhaft, nicht nachzudenken. Ich warte einfach ab. Eine Viertelstunde später fährt ein Bus vorbei und das Warten hat ein Ende. Ich schnappe mir die Karte, werfe mir den Rucksack über die Schulter und haste auf die Straße. Der Bus hat an der nächsten Ecke angehalten. Ich spurte den Bürgersteig entlang, springe in den Bus und finde einen leeren Platz, der sich ungefähr in der Mitte befindet. Der Fahrer wirft mir im Rückspiegel einen Blick zu. »Wir sind zu früh dran«, sagt er. »Ich fahre erst in ein paar Minuten weiter.« Ich nicke, stopfe mir erneut die Stöpsel in die Ohren und schaue aus dem Fenster. Ich will euch verraten, dass es später noch um eine andere, sehr viel wichtigere Party gehen wird. Geschieht es dann? Komme ich dann endlich ins Spiel? Aber dies ist die Party, die Courtney zurück ins Geschehen bringt. 85
Ich war in der Schule, hatte den Rucksack geschultert und wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als du mich an der Hand festgehalten hast. »Hannah, warte!«, hast du gesagt. »Wie geht es dir?« Dein Lächeln, deine Zähne... makellos. Wahrscheinlich habe ich »Alles okay« oder »Gut, wie geht’s dir?« oder so was geantwortet, aber ehrlich gesagt, Courtney, ist mir das völlig egal. Jedes Mal wenn sich unsere Blicke auf den überfüllten Gängen trafen und du schnell woanders hinschautest, habe ich ein bisschen mehr Achtung vor dir verloren. Und manchmal fragte ich mich, ob es anderen Mitschülern nicht genauso ging wie mir. Du hast mich gefragt, ob ich schon von der Party gehört hätte, die spät am Abend stattfinden sollte. Ich sagte, ich hätte keine große Lust hinzugehen, nur um die ganze Zeit mit irgendwelchen x-beliebigen Leuten Smalltalk zu machen. »Dann lass uns doch zusammen hingehen«, hast du vorgeschlagen. Du hast deinen Kopf auf die Seite gelegt, mich angelächelt und - wenn ich mich recht erinnere - sogar geblinzelt. So ist Courtney! Sie flirtet mit jedem und niemand kann ihr widerstehen. »Warum?«, fragte ich. »Warum sollten wir zusammen zu einer Party gehen?« Diese Frage hat dich offenbar überrascht. Ich meine, du bist, wie du bist, und normalerweise würde jeder gern mit dir zu einer Party gehen. Schon allein, um mit dir zusammen gesehen zu werden. Jeder, ob Junge oder Mädchen! Dir wird einfach so viel Bewunderung entgegengebracht. Wird oder wurde? Ich habe den Eindruck, dass sich das gerade verändert. Leider ist nur den wenigsten klar, wie sorgsam du dieses Image pflegst.
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»Warum wir zusammen zu einer Party gehen sollten?«, hast du zurückgefragt. »Aber Hannah, damit wir gemeinsam ein bisschen Spaß haben können.« Ich habe dich gefragt, warum du mit mir Spaß haben willst, nachdem du mich so lange ignoriert hast. Aber du hast natürlich geleugnet, mich je ignoriert zu haben. Ich hätte da was missverstanden, und die Party sei doch eine gute Gelegenheit, sich besser kennenzulernen. Obwohl ich immer noch misstrauisch war, bist du eben so, wie du bist, und jeder geht gern auf eine Party mit dir. Du hast sie durchschaut, Hannah, und bist trotzdem mit ihr dort hingegangen. Warum? »Super!«, sagtest du. »Kannst du fahren?« Das gab mir einen Stich, aber ich antwortete: »Klar! Wann soll ich dich abholen?« Du hast dein Notizbuch geöffnet und eine Seite herausgerissen. In zierlicher blauer Schrift hast du Adresse und Uhrzeit aufgeschrieben und deine Initialen hinzugefügt: C.C. »Wird bestimmt super«, meintest du. Dann hast du deine Sachen zusammengepackt und bist gegangen. Die Türen schließen sich, worauf der Bus wieder auf die Fahrbahn rollt. Weißt du was, Courtney? Du hast vergessen, dich zu verabschieden! Hier ist also meine Theorie, warum du mit mir zu der Party gehen wolltest: Du wusstest, dass ich sauer auf dich war, weil du mich so lange ignoriert hattest. Zumindest wusstest du, dass ich verletzt war. Und das war nicht gut für dein perfektes Image. Das musstest du wieder geradebiegen. D4 auf der Karte, Leute. Das ist Courtneys Haus. Ich falte die Karte auseinander. Ich hatte kaum an der Bordsteinkante angehalten, da flog auch schon die Haustür auf und du liefst mir entgegen. Deine 87
Mutter begleitete dich und warf einen prüfenden Blick in mein Auto. Keine Sorge, Mrs Crimsen, dachte ich. Hier sind keine Jungs drin. Kein Alkohol. Keine Drogen. Kein Spaß. Warum fühle ich mich eigentlich verpflichtet, ihrer Karte zu folgen? Es würde doch ausreichen, mir nacheinander alle Kassetten anzuhören. Aber das tut es nicht. Du hast die Beifahrertür geöffnet, dich hingesetzt und angeschnallt. »Danke fürs Mitnehmen«, hast du gesagt. Ich folge nicht den Sternen auf der Karte, weil Hannah es von mir verlangt. Ich folge ihnen, weil ich verstehen will, was passiert ist. Ganz gleich, wie hoch der Preis sein wird - ich muss wirklich verstehen, was mit ihr geschehen ist. Fürs Mitnehmen? Erneut fragte ich mich, warum ich unbedingt mitkommen sollte. Das war nicht die Begrüßung, die ich mir erhofft hatte. D4. Das liegt nur ein paar Blocks von Tylers Haus entfernt. Ich hatte gehofft, dass ich mich irre, Courtney. Ich hatte gehofft, du würdest dich freuen, von mir abgeholt zu werden, statt es als reine Mitfahrgelegenheit zu betrachten. In diesem Moment wusste ich, wie die Party für uns laufen würde. Aber ihr Ende hat niemand vorhersehen können... Auf der Rückseite jedes Sitzes ist eine Plexiglasscheibe befestigt, hinter der sich ein Plan aller Buslinien befindet. Dieser Bus wird direkt an Courtneys Haus vorbeifahren und seine Endstation ist nur einen Block von Tylers Haus entfernt. Da wir Schwierigkeiten hatten, einen Parkplatz zu finden, mussten wir den Wagen zweieinhalb Blocks entfernt abstellen. Ich habe eine dieser Stereoanlagen in meinem Auto, die weiterläuft, wenn der Motor schon aus ist. Die Musik läuft so lange, bis eine Tür geöffnet wird. Doch als ich an diesem Abend die Tür öffnete, hörte die Musik nicht auf, sondern schallte aus der Ferne zu uns herüber. 88
»Oh, mein Gott!«, hast du gesagt. »Ich glaube, die Party ist schon in vollem Gang!« Habe ich schon erwähnt, dass wir zweieinhalb Blocks von der Party entfernt waren? So laut war die Musik. Die Gastgeber legten es offenbar darauf an, Besuch von der Polizei zu bekommen. Deshalb gehe ich nur selten auf Partys. Ich bin kurz davor, Abschiedsredner zu werden. Ein einziger Fehler und ich bin geliefert. Wir reihten uns in den Strom von Schülern ein, die zu der Party wollten - wie ein Schwarm von Lachsen, der stromaufwärts schwimmt, um sich zu paaren. Als wir dort ankamen, standen zwei Footballspieler - die auf keiner Party ohne ihre Trikots auftauchen - zu beiden Seiten des Eingangs und kassierten den Unkostenbeitrag für das Bier. Also kramte ich in meinen Hosentaschen nach ein bisschen Geld. »Keine Sorge!«, riefst du mir zu, um die Musik zu übertönen. »Zwei Dollar der Becher«, sagte einer der Jungs. Dann bemerkte er, mit wem er sprach. »Ach, Courtney, du bist’s!« Mit diesen Worten drückte er dir einen roten Plastikbecher in die Hand. Nur zwei Dollar? Die müssen von Mädchen andere Preise verlangen. Du hast eine Kopfbewegung in meine Richtung gemacht. Daraufhin hat der Typ gelächelt und mir auch einen Becher entgegengestreckt. Doch als ich ihn nehmen wollte, ließ er ihn nicht los. Er sagte, dass er gleich abgelöst würde und wir auf ihn warten sollten. Ich lächelte ihn an, aber du hast meinen Arm genommen und mich durch das Tor gezogen. »Lass das!«, sagtest du. »Vertrau mir!« Ich habe dich nach dem Grund gefragt, aber du warst schon so damit beschäftigt, dir einen Überblick über die Gäste zu verschaffen, dass du mir nicht geantwortet hast. 89
Ich kann mich nicht erinnern, dass Courtney je etwas mit irgendwelchen Footballspielern zu tun hatte. Basketballer ja. Jede Menge. Aber Footballspieler? Nein. Stattdessen hast du vorgeschlagen, dass wir uns trennen. Und weißt du, was ich gedacht habe, als du das vorschlugst, Courtney? Hoppla, das ging aber schnell! Du hast gesagt, es gäbe da ein paar Leute, die du unbedingt sprechen müsstest, und wir würden uns ja bestimmt später noch sehen. Ich habe dich angelogen und gesagt, dass es einige Leute gäbe, die auch ich unbedingt treffen wolle. Dann hast du mich noch ermahnt, die Party ja nicht ohne dich zu verlassen. »Du bist meine Mitfahrgelegenheit, vergiss das nicht!« Wie hätte ich das vergessen können, Courtney? Der Bus biegt in Courtneys Straße ein, in der zirka jedes dritte Haus zum Verkauf steht. Als der Bus an Courtneys Haus vorbeirollt, erwarte ich fast, einen großen roten Stern an ihre Haustür gesprayt zu sehen. Doch die Veranda liegt in tiefer Dunkelheit. Draußen brennt kein Licht. Und auch die Fenster sind dunkel. Aber du hast mich angelächelt. Und schließlich die magischen Worte gesagt: »Mach’s gut!« Und das hast du wohl auch so gemeint. »Hey, Clay, hast du deine Haltestelle verpasst?« Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Eine Stimme. Die Stimme eines Mädchens. Doch nicht aus dem Kopfhörer. Jemand hat meinen Namen gerufen. Aber wer? Auf der anderen Seite des Gangs sieht die lange Reihe der Fenster wie ein großer Spiegel aus. Darin erkenne ich ein Mädchen, das hinter mir sitzt. Sie scheint in meinem Alter zu sein. 90
Aber kenne ich sie? Ich drehe mich um und werfe einen Blick über die Rückenlehne. Skye Miller. In der achten Klasse war ich in sie verknallt. Sie lächelt - oder ist es mehr ein spöttisches Grinsen, weil sie weiß, dass sie mich furchtbar erschreckt hat? Skye war schon immer ein hübsches Mädchen, aber sie benimmt sich so, als wisse sie nichts davon. Vor allem in letzter Zeit. Sie trägt nur langweilige, viel zu weite Klamotten, in denen sie fast versinkt - heute ein unförmiges graues Sweatshirt mit entsprechender Hose. Ich nehme den Kopfhörer ab. »Hallo, Skye.« »Hast du dein Haus verpasst?«, fragt sie. So viel hat sie schon lange nicht mehr zu mir gesagt. Zu anderen vermutlich auch nicht. »Der Fahrer hält an, wenn du ihn darum bittest.« Ich schüttele den Kopf. Nein. Ich will nicht nach Hause. An der nächsten Kreuzung biegt der Bus links ab und hält an der Bordsteinkante. Die Türen gleiten auf, und der Fahrer fragt, ob jemand aussteigen will. Ich schaue nach vorne und begegne im Rückspiegel dem Blick des Fahrers. Dann drehe ich mich wieder zu Skye um. »Wo willst du hin?«, frage ich. Das spöttische Grinsen ist wieder da. Sie sieht mich durchdringend an, als versuche sie, mich zu verunsichern. Was ihr auch gelingt. »Nirgendwohin«, antwortet sie schließlich. Warum verhält sie sich so? Was ist seit der achten Klasse geschehen? Warum will sie unbedingt eine Außenseiterin sein? Was hat sich verändert? Niemand weiß es. Von einem auf den anderen Tag schien sie sich von der Gemeinschaft losgesagt zu haben. Wir erreichen meine Haltestelle. Hier sollte ich aussteigen. Ich befinde mich genau auf der Mitte zwischen zwei Sternen. Zwischen den Häusern von Tyler und Courtney. 91
Ich könnte aber auch sitzen bleiben und mich weiter mit Skye unterhalten. Besser gesagt, ich könnte versuchen, so was wie ein Gespräch in Gang zu kriegen. Wahrscheinlich würde ein Monolog daraus werden. »Bis morgen«, sagt sie. Das war’s. Ende der Konversation. Ich muss zugeben, dass mich ein Anflug von Erleichterung packt. »Bis dann«, entgegne ich. Ich schwinge mir den Rucksack über die Schulter und gehe zur Fahrertür. Ich danke dem Fahrer und begebe mich erneut an die kalte Luft. Hinter mir schließt sich die Tür. Der Bus setzt sich wieder in Bewegung. Skyes Gesicht lehnt an der Scheibe, ihre Augen sind geschlossen. Ich ziehe den Rucksack über beide Schultern und straffe die Gurte. Wieder allein, steuere ich Tylers Haus an. Aber wie soll ich wissen, welches das richtige ist? Hannah hat nur die ungefähre Lage markiert, aber keine genaue Adresse angegeben. Wenn sein Zimmer erleuchtet ist, kann ich vielleicht die Bambusjalousie erkennen. Ich will die Häuser nicht zu lange anstarren, suche aber jedes von ihnen nach einer solchen Jalousie ab. Vielleicht habe ich ja Glück und erblicke ein großes Schild: HIER WOHNT DER SPANNER - BITTE EINTRETEN! Ich kann ein müdes Lachen über meinen dürftigen Scherz nicht unterdrücken. Angesichts der Tatsache, dass ich nur auf den Knopf zu drücken brauche, um Hannahs Stimme zu hören, ist mein Lächeln wohl fehl am Platz. Andererseits ist es ein schönes Gefühl. Auch wenn es nur Stunden sind, kommt es mir so vor, als hätte ich seit Monaten nicht mehr gelächelt. Dann sehe ich es plötzlich. Mein Lächeln erstirbt. 92
Das Zimmer ist erleuchtet, die Jalousie geschlossen. Ein Spinngewebe von Klebeband hält die geborstene Scheibe zusammen. Ein Stein? Hat jemand einen Stein gegen Tylers Fenster geschleudert? Jemand, der Bescheid wusste? Jemand von der Liste? Als ich näher herangehe, kann ich mir genau vorstellen, wie Hannah neben dem Fenster stand und in ihr Aufnahmegerät geflüstert hat. Aus dieser Entfernung hätte ich sie unmöglich verstehen können. Und doch sind ihre Worte schließlich an mein Ohr gedrungen. Eine eckige Hecke trennt das Grundstück von dem des Nachbarn. Ich gehe auf sie zu, damit ich vom Fenster aus nicht gesehen werden kann. Denn sicher späht Tyler hinaus in der Erwartung, dass jemand seinem Fenster endgültig den Garaus macht. »Willst du etwas werfen?« Ich zucke zusammen und fahre herum - bereit zuzuschlagen und wegzulaufen. »Bleib relaxed! Ich bin’s!« Marcus Cooley, ein Mitschüler. Ich beuge mich vor und stütze erschöpft meine Hände auf die Knie. »Was machst du hier?«, frage ich. Marcus hält mir einen faustgroßen Stein unter die Nase. »Nimm den!«, sagt er. Ich blicke auf. »Warum?« »Weil du dich dann besser fühlst, glaub mir.« Ich schaue zum Fenster hinüber, das vom Klebeband mühselig zusammengehalten wird. Dann senke ich den Blick und schüttele den Kopf. »Lass mich raten, Marcus. Du bist auf den Kassetten.« Er schweigt. Eine Antwort erübrigt sich. Als ich ihn ansehe, erkenne ich ein Lächeln in seinen Augenwinkeln. Und dieses Lächeln sagt mir, dass er keine Gewissensbisse hat. 93
Ich nicke in Richtung von Tylers Fenster. »Warst du das?« Er drückt mir den Stein in die Hand. »Du wärst der Erste, der Nein sagt, Clay.« Mein Herz beginnt zu rasen. Nicht weil ich neben Marcus stehe und Tyler womöglich aus dem Fenster späht. Auch nicht wegen des schweren Steins in meiner Hand, sondern wegen dem, was ich gerade gehört habe. »Du bist der Dritte, der hier auftaucht«, sagt er, »abgesehen von mir.« Ich versuche, mir vorzustellen, wie irgendein anderer als Marcus Tylers Fenster einwirft, jemand von der Liste, aber es gelingt mir nicht. Das ergibt für mich keinen Sinn. Wir stehen doch alle auf der Liste. Jeder Einzelne von uns. Wir alle haben uns schuldig gemacht. Was unterscheidet Tyler von uns? Ich starre den Stein an, der in meiner Hand liegt. »Warum tust du das?«, frage ich. Er zeigt die Straße hinunter. »Ich wohne da drüben. Dort, wo das Licht brennt. Ich beobachte Tylers Haus, um zu sehen, wer hier aufkreuzt.« Ich frage mich, was Tyler seinen Eltern erzählt hat. Hat er sie gebeten, die Scheibe nicht zu ersetzen, weil möglicherweise noch mehr Steine fliegen werden? Und was könnten sie entgegnet haben? Wie er darauf kommt? Wollten sie die Gründe wissen? »Alex war der Erste«, sagt Marcus. Es scheint ihm nicht das Geringste auszumachen, mir das zu erzählen. »Wir waren bei mir zu Hause, als er plötzlich fragte, wo Tyler wohnt. Ich wusste gar nicht, warum ihn das interessiert, weil sie nicht unbedingt befreundet sind, aber Alex wollte es unbedingt wissen.« »Und dann hast du ihm einen Stein gegeben, damit er Tylers Fenster einwirft?« 94
»Nein, das war seine Idee. Ich wusste damals noch gar nichts von den Kassetten.« Ich werfe den schweren Stein in die Luft und fange ihn mit der anderen Hand auf. Selbst wenn die Scheibe noch unbeschädigt wäre, würde sie diesem Stein nicht standhalten. Warum hat Marcus diesen Stein für mich ausgewählt? Warum soll ausgerechnet ich derjenige sein, der sie endgültig zertrümmert? Ich werfe den Stein in meine andere Hand zurück. Über seine Schulter hinweg sehe ich das Licht auf der Veranda vor seinem Haus brennen. Ich sollte ihn fragen, welches sein Zimmer ist. Ich sollte ihm sagen, dass dieser Stein gleich durch sein eigenes Fenster fliegt. Vielleicht würde er mir ja trotzdem verraten, welches seines ist, damit seine Schwester nicht zu Tode erschrickt. Ich schließe meine Hand fester um den Stein. Doch kann ich nicht vermeiden, dass meine Stimme zittert. »Du Schwein!« »Was?« »Du bist auch auf den Kassetten, stimmt’s?« »So wie du, Clay.« Der Zorn und die Anstrengung, meine Tränen zurückzuhalten, machen mir das Sprechen fast unmöglich. »Wo ist der Unterschied zwischen Tyler und uns?« »Er ist ein Spanner«, antwortet Marcus. »Ein Dreckskerl. Er hat durch Hannahs Fenster geschaut. Warum sollen wir seins jetzt nicht kaputt machen?« »Und du?«, frage ich. »Was hast du getan?« Für einen Moment schaut er durch mich hindurch. Dann blinzelt er. »Nichts«, antwortet er. »Das ist doch lächerlich. Ich habe auf den Kassetten nichts zu suchen. Hannah brauchte nur einen Grund, um sich umzubringen.« Ich lasse den Stein zu Boden fallen. Sonst hätte ich Marcus damit die Fresse poliert. »Hau bloß ab!«, fauche ich. 95
»Ich wohne hier, Clay.« Ich balle meine Hand zur Faust und bin versucht, den Stein wieder aufzuheben. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und marschiere an Tylers Haus vorbei, ohne ein einziges Mal zu seinem Fenster hinüberzublicken. Ich bin unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich zerre mir den Kopfhörer vom Hals und stopfe die Stöpsel in die Ohren. Stecke die Hand in die Tasche und drücke auf »Play«. Ob ich enttäuscht war, als du dich von mir verabschiedet hast, Courtney? Nicht sehr. Man ist nicht direkt enttäuscht, wenn die eigenen Erwartungen erfüllt werden, oder? Geh weiter, Clay. Doch ob ich mich ausgenutzt fühlte? Allerdings! Und während Courtney mich ausnutzte, dachte sie die ganze Zeit, sie würde damit ihr Image bei mir aufpolieren. Wie nennt man so was - ein klassisches Eigentor? Vieles erlebte ich auf dieser Party zum ersten Mal. Zum Beispiel die erste richtige Schlägerei, die furchtbar war. Ich weiß nicht, worum es ging, aber sie fand direkt hinter mir statt. Zwei Jungs schrien sich an, und als ich mich umdrehte, waren die beiden Streithähne nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Sofort scharte sich eine Menge um sie, die sie aufstachelte. Wie eine undurchdringliche Mauer standen die Leute um sie herum, was die Situation nicht gerade entschärft hat. Aus einem Schubser wurde ein Stoß, der im nächsten Moment von einem Faustschlag beantwortet wurde. Nach zwei weiteren Schlägen drehte ich mich um und durchbrach die Menge der Zuschauer, die zu diesem Zeitpunkt in vier Reihen hintereinanderstanden - manche auf Zehenspitzen, um besser sehen zu können. 96
Widerlich. Ich rannte nach drinnen und suchte nach einer Toilette, um mich zu verstecken. Ich fühlte mich nicht physisch krank. Aber mental... ich war vollkommen durcheinander, und jetzt dachte ich nur daran, dass ich mich übergeben musste. Ich hole die Karte hervor, weil ich wissen will, ob sich außer Courtneys Stern noch ein weiterer in meiner Nähe befindet. Ich will nicht dorthin. Ich habe keine Lust, mir Hannahs Text anzuhören, während ich das dunkle, verlassene Haus betrachte. Ich will weiter. In Gesundheitserziehung haben wir mal einen Film über Migräne angesehen. Einer der Betroffenen fiel während seiner Anfälle auf die Knie und schlug immer wieder mit dem Kopf gegen den Boden. Das verwandelte den unkontrollierbaren Schmerz in der Tiefe seines Gehirns in einen äußeren Schmerz, den er kontrollieren konnte. Und in gewisser Weise versuchte ich dasselbe, als ich mich übergab. Wenn ich nicht unter einer Straßenlaterne stehen bleibe, kann ich die Position der Sterne kaum erkennen. Doch ich kann nicht stehen bleiben. Nicht einmal für einen kurzen Moment. Dass die beiden Jungs aufeinandereinprügelten, um nicht für schwach gehalten zu werden, war einfach zu viel für mich. Ihr Ruf war ihnen wichtiger als ihre Gesichter. Und Courtneys Ruf war wichtiger als meiner. Hat auf der Party überhaupt irgendjemand geglaubt, dass wir befreundet sind? Oder haben alle nur gedacht, ich wäre ihr neuster Sozialfall? Das werde ich wohl nie erfahren. Ich falte die Karte wieder zusammen und klemme sie mir unter den Arm. Die einzige Toilette, die ich fand, war leider besetzt... also bin ich nach draußen gegangen. Die Schlägerei war vorbei, alles sah wieder normal aus und ich wollte verschwinden. 97
Es wird immer kälter. Ich verschränke beim Gehen die Arme vor der Brust. Und ratet mal, wer allein vor der Tür stand, als ich das Haus verließ? Tyler Down... mit seiner kompletten Fotoausrüstung. Es wird Zeit, Tyler in Ruhe zu lassen, Hannah. Als er mich sah, fiel ihm fast die Kinnlade herunter. Ein bemitleidenswerter Anblick. Mit den Armen versuchte er, seine Kamera zu verbergen. Aber wozu die Mühe? Jeder weiß doch, dass er die Fotos für das Jahrbuch macht. Ich habe ihn trotzdem gefragt: »Was willst du damit, Tyler?« »Was? Ach das... äh... ist nur wegen des Jahrbuchs.« Dann rief jemand, der hinter mir stand, meinen Namen. Ich verrate euch nicht, wer es war, denn das spielt keine Rolle. Genauso wenig wie der Name desjenigen eine Rolle spielt, der mir im Blue Spot Liquor an den Hintern gefasst hat. Das war auch nur eine späte Reaktion auf die Herzlosigkeit eines anderen. »Courtney meinte, ich soll mal mit dir reden«, sagte er. Ich stoße die Luft aus. Nach dieser Geschichte ist dein Ruf ruiniert, Courtney. Ich schaute an ihm vorbei. Am Ende des Grundstücks lagen drei kleine silberne Bierfässer in einem aufblasbaren Pool voller Eis. Daneben stand Courtney und redete mit drei Jungs von einer anderen Schule. Der Junge, der vor mir stand, nippte bedächtig an seinem Bier. »Sie sagt, dass man eine Menge Spaß mit dir hat.« Ich begann, mich zu entspannen. Ich lockerte meine Verteidigungshaltung. Kann schon sein, dass Courtney nur auf ihr eigenes Image bedacht war. Vielleicht dachte sie, ich würde ihr abweisendes Verhalten vergessen, wenn sie einen Jungen zu mir schickte, um mit mir zu reden. Eigentlich war er ja ganz süß. Und vielleicht war ich wirklich zu einem selektiven Gedächtnisverlust bereit. 98
Irgendwas muss doch passiert sein, Hannah. Was? Nachdem wir eine Weile miteinander geredet hatten, sagte der Junge, er müsse mir was gestehen. Courtney habe ihn gar nicht zu mir geschickt. Er habe nur zufällig gehört, wie sie über mich gesprochen habe. Ich fragte ihn, was Courtney gesagt hätte, doch er lächelte bloß und schaute hinunter ins Gras. Ich hatte diese Spielchen satt! Ich forderte ihn auf, mir die Wahrheit zu sagen. »Sie hat gesagt, dass man eine Menge Spaß mit dir hat«, wiederholte er. Stein für Stein baute ich meine Schutzmauer wieder auf. »Was soll das heiβen … Spaß?« Er zuckte die Schultern. »Na sag schon!« Okay, seid ihr alle bereit für das, was jetzt kommt? Unsere süße kleine Miss Crimsen hat diesem Typen und jedem anderen in Hörweite erzählt, dass sich in meiner Frisierkommode ein paar echte Überraschungen verbergen. Mir stockt der Atem, als hätte mir jemand in die Magengrube geboxt. Das hat sie sich ausgedacht! Courtney hat sich das einfach ausgedacht! Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Tyler Down sich entfernte. Und jetzt konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. »Hat sie auch gesagt, was genau sich in meiner Kommode befindet?«, fragte ich. Er lächelte erneut. Mein Gesicht glühte, meine Hände begannen zu zittern, und ich fragte ihn, ob er ihr glaube. »Glaubst du alles, was dir andere Leute über mich erzählen?« Er meinte, ich soll mich beruhigen und dass es doch egal wäre. »Nein!«, rief ich. »Es ist überhaupt nicht egal!« 99
Ich ließ ihn einfach stehen. Aber dann kam ich auf eine bessere Idee und lief zu Tyler. »Willst du ein Foto machen?«, fragte ich ihn. »Komm mit!« Ich fasste ihn am Arm und zog ihn quer über das Grundstück. Das Foto! Das Foto im Gästebuch des Monet’s. Tyler protestierte, weil er glaubte, er solle ein Bild von den Bierfässern machen. »Das werden sie niemals drucken«, sagte er. »Du weißt schon, Minderjährige und Alkohol...« Klar. Im Jahrbuch sollen natürliche keine realistischen Fotos aus dem Leben der Schüler vorkommen. »Das doch nicht«, sagte ich. »Ich möchte, dass du ein Foto von mir machst. Von mir und Courtney.« Ihr könnt mir glauben, dass ihm in diesem Moment der Schweiß ausbrach. Ich und das Mädchen mit der Rückenmassage - wieder vereint. Ich fragte ihn, ob es ihm gut ginge. »Mir? Ja... äh, alles bestens.« Das ist ein Zitat. Auf dem Foto hat Hannah Courtney den Arm um die Taille gelegt. Hannah lacht, doch Courtney ist nervös. Und jetzt weiß ich auch, warum. Courtney ließ sich gerade ihren Becher wieder auffüllen, und ich sagte Tyler, er solle kurz warten. Als Courtney mich sah, fragte sie, ob ich Spaß hätte. »Jemand will ein Foto von dir machen«, sagte ich. Dann nahm ich ihren Arm und führte sie zu Tyler. Ich sagte ihr, sie solle ihren Becher irgendwo abstellen, sonst könne das Foto leider nicht im Jahrbuch veröffentlicht werden. Tyler hat es in das Gästebuch gelegt. Er wollte, dass wir es sehen. Das gehörte nicht zu ihrem Plan. Sie hatte mich nur zu der Party eingeladen, um ihr Image aufzupolieren, nachdem sie mich so lange ignoriert hatte. Doch auf einem Foto neben mir verewigt zu werden, ging ihr offenbar gegen den Strich. 100
Sie versuchte, sich meinem Griff zu entziehen. »Ich... ich will nicht«, sagte sie. Ich drehte mich um und sah ihr ins Gesicht. »Warum denn nicht, Courtney? Warum hast du mich dann überhaupt eingeladen? Sag jetzt bitte nicht, dass du nur eine Mitfahrgelegenheit gesucht hast. Ich dachte, wie würden Freundinnen werden.« Er muss das Foto ins Gästebuch gelegt haben, weil er wusste, dass es niemals im Jahrbuch erscheinen würde. Nicht nachdem er wusste, was es mit diesem Bild auf sich hatte. »Wir sind Freundinnen«, sagte sie. »Dann stell den Becher ab«, entgegnete ich. »Wir machen jetzt ein Foto.« Tyler richtete die Kamera auf uns und wartete auf unser bezauberndes, spontanes Lächeln. Courtney ließ ihren Becher sinken. Ich legte ihr den Arm um die Taille und sagte zu ihr: »Wenn du dir mal einen Gegenstand aus meiner Frisierkommode leihen willst, dann brauchst du nur zu fragen.« »Fertig?«, fragte Tyler. Ich beugte mich vor und tat so, als hätte gerade jemand einen umwerfend komischen Witz erzählt. Klick. Dann sagte ich ihnen, das sei eine Scheißparty und ich würde jetzt nach Haus gehen. Courtney flehte mich regelrecht an zu bleiben und sagte, ich solle doch vernünftig sein. Und vielleicht war ich ja wirklich ein bisschen unsensibel. Ich meine, Courtney wollte die Party schließlich noch nicht verlassen. Wie sollte sie denn nach Hause kommen, wenn ihr Chauffeur nicht auf sie wartete? »Such dir eine andere Mitfahrgelegenheit«, sagte ich und ging davon. Ich hätte heulen können, weil ich von Anfang an gewusst hatte, warum sie mich eingeladen hatte. Doch während des langen Spaziergangs zu meinem Auto fing ich plötzlich an zu 101
lachen. Und ich schrie zu den Bäumen empor: »Was passiert hier eigentlich?« Dann hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. »Was willst du, Tyler?« Er sagte mir, dass ich recht hätte. »Das ist wirklich eine Scheißparty!« »Nein, ist es nicht«, entgegnete ich. Dann fragte ich ihn, warum er mir gefolgt wäre. Er starrte auf seine Kamera und fummelte am Objektiv herum. Dann sagte er, dass er noch eine Mitfahrgelegenheit nach Hause suche. Da begann ich erst richtig zu lachen. Nicht unbedingt wegen seiner Antwort, sondern weil der ganze Abend völlig absurd war. Hat er sich wirklich eingebildet, ich wüsste nichts von seinen nächtlichen Streifzügen, wüsste nichts darüber, dass er mir heimlich aufgelauert hat? Oder hoffte er es nur inständig? Denn solange ich nichts davon wusste, hätten wir ja noch Freunde werden können, nicht wahr? »Okay«, sagte ich. »Aber wir halten unterwegs nirgendwo an.« Während der Fahrt hat er mehrmals versucht, ein Gespräch anzufangen, aber ich habe ihm jedes Mal das Wort abgeschnitten. Ich hatte keine Lust, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Nachdem ich ihn abgesetzt hatte, habe ich den längstmöglichen Weg nach Hause genommen. Ich denke, ich werde dasselbe tun. Dabei habe ich kleine Wege und Gassen entdeckt, die ich vorher noch gar nicht kannte. Ganze Viertel waren mir völlig fremd. Und schließlich wurde mir klar, dass mir diese Stadt mit all ihren Einwohnern einfach zum Hals raushing. Bei mir ist’s auch bald so weit, Hannah. Nächste Seite.
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KASSETTE 3: SEITE B Erinnert ihr euch noch an den Fragebogen zum Valentinstag? Den würden viele lieber vergessen. Hat doch wirklich Spaß gemacht, oder? Man füllt einen Fragebogen aus, ein Computer analysiert die Antworten und gleicht sie mit den Antworten auf den anderen Fragebögen ab. Für nur einen Dollar bekommt man Namen und Telefonnummer seines Seelenverwandten geliefert. Für fünf Dollar werden die fünf aussichtsreichsten Kandidaten präsentiert. Und das alles auch noch für einen guten Zweck. Das Cheerleading Camp. Das Cheerleading Camp. Jeden Morgen schallten die fröhlichen Durchsagen aus den Lautsprechern: »Nicht vergessen, ihr habt nur noch vier Tage Zeit, um eure Fragebögen abzuliefern. Nur noch vier einsame Tage, bis ihr den Namen eurer wahren Liebe kennt.« Jeden Morgen hörte man eine neue energiegeladene Stimme: »Nur noch drei Tage... nur noch zwei Tage... nur noch ein Tag... Heute ist der Tag!« Mit jedem Schritt, den ich mich weiter von Tylers Haus und Marcus entferne, entspannt sich meine Schultermuskulatur ein wenig mehr. Dann sangen alle Cheerleader im Chor: »Oh my dollar, oh my dollar, oh my dollar Valentine!« Das Ganze wurde natürlich von Schlachtrufen und Gekreische begleitet. Ich habe mir immer vorgestellt, wie sie dazu im Sekretariat ihre Figuren machen und ihre Pompons durch die Luft wirbeln. Ich bin mal im Auftrag eines Lehrers dort gewesen und genau das haben sie getan. 103
Und natürlich habe auch ich den Fragebogen ausgefüllt. Mein ganzes Leben lang habe ich eine Schwäche für Fragebögen, Persönlichkeitstests und so was gehabt. Wenn ihr mich je mit einem dieser Teenie-Magazine gesehen habt, dann bestimmt nicht, weil ich mich für die Make-up-Tipps interessiert hätte. Es ging mir immer nur um die Tests. Weil du nie Make-up benutzt hast, Hannah. Das hattest du nicht nötig. Manche Frisuren- und Schminktipps waren natürlich trotzdem ganz hilfreich. Du hast dich geschminkt? Aber eigentlich interessierten mich nur die Tests. Die Schönheitstipps waren ein Extra. Erinnert ihr euch noch an die Fragebögen zur Berufswahl, die wir in unserem ersten Highschooljahr ausfüllen mussten? Die sollten uns helfen, unsere Wahlfächer zusammenzustellen. Die Auswertung meines Fragebogens ergab, dass ich einen guten Holzfäller abgeben würde. Notfalls konnte ich auch Astronaut werden. Holzfäller oder Astronaut? Super Tipp! Ich weiß zwar nicht mehr, was mein Ausweichberuf war, aber auch mir wurde geraten, Holzfäller zu werden. Ich versuchte herauszufinden, wie dieses Testergebnis zustande kommen konnte. Natürlich hatte ich angegeben, dass ich gerne an der frischen Luft bin, aber wer ist das nicht? Das heißt doch noch lange nicht, dass man Spaß daran hat, Bäume zu fällen. Der Fragebogen zum Valentinstag hatte zwei Teile. Im ersten Teil musste man Angaben zur eigenen Person machen. Haarfarbe. Augenfarbe. Größe. Körperbau. Lieblingsmusik und Lieblingsfilm. Dann sollte man seine drei Lieblingsbeschäftigungen am Wochenende ankreuzen, was lustig war, weil weder Alkohol noch Sex zur Auswahl standen - zweifellos die Lieblingshobbys der meisten Schüler. 104
Insgesamt gab es ungefähr zwanzig Fragen. Und ich weiß genau - das kann ich aus meinen Ergebnissen ablesen -, dass nicht jeder von euch wahrheitsgemäß geantwortet hat. In der Mitte des Bürgersteigs steht unter einer Straßenlaterne eine grüne Metallbank. Vielleicht war hier früher mal eine Bushaltestelle. Heute ist es einfach eine Bank, auf der man sich ausruhen kann. Für alte Leute oder für jeden, der sich ein bisschen erholen muss. So wie ich. Im zweiten Teil des Fragebogens musste man darüber Auskunft geben, welche Eigenschaften der gewünschte Partner haben sollte. Groß oder klein, dünn oder athletisch, eher schüchtern oder extrovertiert. Ich sitze auf dem kalten Metall, beuge mich vor und stütze den Kopf in die Hände. Ich bin nur wenige Blocks von zu Hause entfernt und weiß doch nicht, wo ich hingehen soll. Während ich meinen ausfüllte, bemerkte ich, dass ich eine ganz bestimmte Person von unserer Schule beschrieb. Ich hätte meinen Fragebogen ehrlich ausfüllen sollen. Man sollte doch glauben, dass diese Person dann zumindest unter meinen Top Five auftaucht, doch anscheinend wollte sie mit dem Test nichts zu tun haben. Den Namen werde ich euch jedoch nicht verraten... noch nicht. Aus Spaß habe ich als Holden Caulfield - die Hauptfigur aus Der Fänger im Roggen - teilgenommen. Das war damals gerade Schullektüre und der erste Name, der mir in den Sinn kam. Holden. Ein Date mit diesem depressiven Einzelgänger wäre vermutlich eine einzige Katastrophe. Als in der dritten Stunde im Geschichtsunterricht die Fragebögen ausgeteilt wurden, schrieb ich sofort meine Antworten hin. Auf meiner Liste fanden sich die merkwürdigsten Namen. Genau die Leute, von denen ich erwartet hatte, dass sie sich 105
von einem Typen wie Holden Caulfield angezogen fühlen würden. Es war eine typische Stunde bei unserem verehrten Mr Patrick. Zuerst muss man sein Gekritzel an der Tafel entziffern, das er vermutlich fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn dort hinschmiert. Den Rest der Stunde verbringt man dann damit, das Gekritzel ins eigene Heft zu übertragen. Wer früher fertig wird, soll sich schon mal die Seiten 8 bis 194 im Arbeitsbuch durchlesen... und versuchen, dabei nicht einzuschlafen. Und natürlich muss absolute Stille herrschen. Wie hätte ich denn wissen können, dass mich jedes einzelne dieser Mädchen tatsächlich anrufen würde? Ich hatte gedacht, dass die Fragebögen von allen als Scherz betrachtet würden. Als Geldbeschaffungsmaßnahme für das Cheerleading Camp. Nach der Stunde ging ich sofort ins Schülersekretariat. Am Ende des Tresens, nahe der Tür, befand sich die Sammelbox in Gestalt eines Schuhkartons, der einen länglichen Schlitz hatte und mit rosa und roten Herzen verziert war. Auf den roten Herzen stand OH MY DOLLAR VALENTINE! Die anderen trugen grüne Dollarzeichen. Ich faltete meinen Fragebogen in der Mitte, warf ihn in die Box und wollte wieder gehen. Doch hatte ich nicht mit der ewig lächelnden Ms Benson gerechnet. »Hannah!«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass du mit Courtney Crimsen befreundet bist.« Mein Gesichtsausdruck muss Bände gesprochen haben, denn sie ruderte sofort zurück. »Nun, den Eindruck habe ich zumindest bekommen. Ihr seid doch befreundet, oder etwa nicht?« Die ist wirklich mehr als neugierig. Ich dachte gleich an Tyler unter meinem Fenster und war stinkwütend. Hatte er Ms Benson etwa seine Spannerfotos gezeigt? Aber nein. Ms Benson erzählte mir, sie sei heute Morgen im Büro der Jahrbuchmitarbeiter gewesen und hätte einige Fotos 106
an der Wand gesehen, die für die nächste Ausgabe in Betracht kämen. Eines davon habe Courtney und mich gezeigt. Richtig geraten. Es war das Foto von der Party, auf dem ich Courtney meinen Arm um die Taille lege und so aussehe, als würde ich mich prächtig amüsieren. Was für eine Schauspielerin du bist, Hannah. »Nein«, sagte ich ihr. »Wir sind nur lose Bekannte.« »Das ist aber wirklich ein schönes Foto«, sagte Ms Benson. Und an ihre nächsten Worte erinnere ich mich ganz genau: »Das Wunderbare an solch einem Jahrbuchfoto ist ja, dass man diesen Moment mit jedermann teilt... für immer.« Es hörte sich wie etwas an, das sie schon tausendmal zuvor gesagt hat. Und früher hätte ich ihr vielleicht sogar zugestimmt. Aber nicht bei diesem Foto. Wer auch immer es betrachtet, teilt diesen Moment definitiv nicht mit uns. Denn niemand ist in der Lage, sich vorzustellen, was mir - oder Courtney oder Tyler - in diesem Moment durch den Kopf ging. Jeder stellt sich etwas vollkommen Falsches vor. Als ich in diesem Moment im Sekretariat begriff, dass niemand die Wahrheit über mein Leben kannte, wurde mein gesamtes Weltbild erschüttert. Als würde ich auf unebener Straße plötzlich die Kontrolle über mein Fahrzeug verlieren und für einen Moment von der Fahrbahn abkommen. Die Räder wirbeln ein wenig Erde auf, bevor man wieder auf der Straße ist. Doch wie fest man das Steuer auch im Griff haben mag und wie sehr man sich darum bemüht, geradeaus zu lenken, so hat man doch das Gefühl, von irgendeiner Kraft abgedrängt zu werden und allmählich die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Irgendwann hat man keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, und beschließt, der Sache ihren Lauf zu lassen. Die Katastrophe... oder was auch immer... zu akzeptieren. Ich drücke die Finger gegen die Stirn und die Daumen gegen die Schläfen. 107
Bestimmt hat Courtney auf dem Foto strahlend gelächelt. Ein geheucheltes, aber strahlendes Lächeln. Hat sie nicht. Aber das konntest du nicht wissen. Courtney hat gedacht, sie könnte mich herumdirigieren, wie es ihr passt. Aber das habe ich nicht zugelassen. Ich bin auf die Fahrbahn zurückgekommen und habe sie selbst zur Seite gedrängt... wenn auch nur für einen kurzen Moment. Und dann diese Fragebögen zum Valentinstag. Waren sie eine erneute Gefahr, von der Straße gedrängt zu werden? Hatten die Jungs, die meinen Namen auf ihrer Liste fanden, nun einen Vorwand, um sich mit mir zu verabreden? Und fanden sie das wegen der Gerüchte, die sie über mich gehört hatten, besonders aufregend? Ich betrachtete den Schlitz im Schuhkarton - zu schmal, um die Finger hineinzustecken. Doch ich hätte den Deckel abheben und meinen Fragebogen wieder herausnehmen können. Es wäre so einfach gewesen. Ms Benson hätte ich gesagt, dass mir die ganze Sache doch zu peinlich wäre, und sie hätte mich sicher verstanden. Oder... ich würde einfach abwarten, was passierte. Wäre ich ein bisschen klüger gewesen und hätte den Fragebogen ehrlich ausgefüllt, dann hätte ich Hannah beschrieben. Dann wären wir vielleicht miteinander ins Gespräch gekommen... in ein ernsthaftes Gespräch. Nicht wie letzten Sommer im Kino, als wir nur herumgealbert haben. Aber das tat ich nicht. So habe ich damals nicht gedacht. Schließlich war ich mir nicht sicher, ob die Fragebögen von den meisten nur als Scherz betrachtet wurden oder nicht. Wenn Hannahs Name und Telefonnummer auf meiner Liste gewesen wären, hätte ich sie dann angerufen? Ich lehne mich weit zurück auf der kalten Bank und lege den Kopf in den Nacken, als würde mein Rückgrat sonst Schaden nehmen. 108
Was sollte schon passieren, sagte ich mir. Die Fragebögen waren ein Scherz. Niemand würde sie ernst nehmen. Ganz ruhig, Hannah. Doch wenn ich jemandem bereitwillig einen Vorwand lieferte, den Gerüchten über mich auf den Grund zu gehen, dann... ich weiß nicht... vielleicht würde ich es gelassen hinnehmen... oder vollkommen austicken. Oder aufgeben und alles einfach über mich ergehen lassen. Damals erkannte ich zum ersten Mal, welche Möglichkeiten in der Resignation steckten. In gewisser Weise erfüllte mich dieser Gedanke sogar mit Hoffnung. Seit Kats Abschiedsparty musste ich ständig an Hannah denken. An ihr Aussehen, ihr Verhalten. Dass es so gar nicht zu dem passte, was ich über sie gehört hatte. Doch ich hatte zu viel Angst, mir ein eigenes Urteil zu bilden. Zu viel Angst, dass sie mich auslachen würde, wenn ich sie fragte, ob sie mit mir ausgehen wolle. Was hatte ich für Alternativen? Ich konnte meinen Pessimismus unter Beweis stellen, meinen Fragebogen aus dem Schuhkarton nehmen und kleinlaut wieder verschwinden. Oder mich optimistisch geben, alles so lassen, wie es war, und das Beste hoffen. Schließlich entschied ich mich für das Zweite, wusste jedoch nicht, ob das ein Zeichen von Optimismus oder Pessimismus war. Weder noch. Es war Dummheit. Ich schließe die Augen und spüre, wie die kalte Luft um mein Gesicht streicht. Als ich letzten Sommer wegen meiner Bewerbung ins Kino kam, tat ich so, als wäre ich überrascht, dass Hannah dort arbeitete. Dabei wollte ich mich nur wegen ihr bewerben. »Heute ist der Tag!«, riefen die Cheerleader aufgekratzt. »Holt euch heute eure ganz persönliche Auswertung im Schülersekretariat ab.« 109
Während meines ersten Arbeitstags stand ich mit Hannah zusammen hinter der Theke, an der die Snacks verkauft werden. Sie zeigte mir, wie man das »Butter«-Topping aus dem Spender zwischen das Popcorn pumpt. Sie sagte, wenn ich ein Mädchen bedienen würde, in das ich verknallt wäre, dann sollte ich das Topping nur ganz oben verteilen, damit sie während des Films wiederkommt und nach mehr verlangt. Wenn sie das täte, wären sicher nicht so viele Leute um uns herum, und wir könnten wunderbar miteinander ins Gespräch kommen. Aber das habe ich nie getan, weil ich nur an Hannah interessiert war. Und der Gedanke, dass sie diesen Trick womöglich bei anderen Jungs anwandte, machte mich eifersüchtig. Ich zweifelte noch, ob ich wirklich wissen wollte, welche Jungs angeblich mit mir zusammenpassten. Mit etwas Glück würden wir ja ein prima Holzfällerpaar abgeben. Doch als ich schließlich ins Sekretariat ging und gerade kein anderer dort war, dachte ich, ach, was soll’s... Ich ging zur Theke und begann, meinen Namen zu sagen, doch das Mädchen dahinter schnitt mir sofort das Wort ab: »Danke, dass du die Cheerleader unterstützt, Hannah!« Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich an. »Entschuldige, aber das muss ich zu jedem sagen.« Ich vermute, es war dasselbe Mädchen, das mir meine Ergebnisse mitgeteilt hat. Sie tippte meinen Namen in den Computer ein, drückte die Entertaste und fragte mich, wie viele Namen ich haben wolle. Einen oder fünf? Ich legte einen Fünfdollarschein auf die Theke. Im nächsten Moment spuckte der Drucker auf meiner Seite auch schon meine Liste aus. Sie erklärte, der Drucker stehe auf meiner Seite, damit sie gar nicht erst in Versuchung käme, einen Blick auf die Namen zu werfen. So brauche auch keiner der Teilnehmer zu fürchten, in eine peinliche Situation zu geraten. 110
Ich sagte, das sei eine gute Idee, und las die Namen auf meiner Liste. »Und?«, fragte sie. »Wer sind die Glücklichen?« Definitiv dieselbe, mit der auch ich gesprochen habe. Natürlich war das nur ein Scherz. War es nicht. Okay, ein halber Scherz. Ich habe meine Liste auf die Theke gelegt, damit sie einen Blick darauf werfen konnte. »Nicht schlecht«, sagte sie. »Oh, den mag ich.« Ich stimmte ihr zu, dass die Liste nicht übel war. So toll allerdings auch wieder nicht. Sie zuckte die Schultern und nannte meine Liste »ganz okay«. Dann weihte sie mich in ein kleines Geheimnis ein. Der Fragebogen sei nicht gerade nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengestellt worden. Sondern für Leute, die sich einen depressiven Eigenbrötler wie Holden Caulfield wünschen. Für diese Leistung sollte man den Erfindern des Fragebogens den Nobelpreis verleihen. Wir waren uns einig, dass zwei Namen auf der Liste ziemlich gut zu mir passen würden. Doch ein anderer Name, der mir persönlich sehr gut gefiel, löste bei ihr eine ganz andere Reaktion aus. »Der nicht!«, sagte sie mit Nachdruck. All ihre Fröhlichkeit war verflogen. »Glaub mir, der kommt nicht infrage!« Kommt der irgendwo auf den Kassetten vor, Hannah? Geht es auf dieser Kassette um ihn? Denn ich glaube kaum, dass es um das Mädchen im Sekretariat ging. »Aber der ist doch süß«, sagte ich. »Von außen betrachtet«, entgegnete sie. Sie zog einen Haufen Fünfdollarscheine aus der Kasse, legte meinen darauf, blätterte dann noch mal den ganzen Stapel durch und drehte alle Scheine auf die gleiche Seite. Ich habe das Thema nicht mehr vertieft, aber das war ein Fehler, wie sich ein paar Kassetten später herausstellen wird. 111
Da fällt mir ein, dass ich euch ja noch gar nicht erzählt habe, wer die Hauptperson auf dieser Kassette ist. Glücklicherweise ist das genau der richtige Zeitpunkt, um ihn vorzustellen, weil er genau in diesem Moment auf der Bildfläche erschien. Wieder nicht ich. Irgendwas brummte in diesem Moment. Ein Handy? Ich schaute die Cheerleaderin an, doch sie schüttelte den Kopf. Dann wuchtete ich meinen Rucksack auf die Theke, holte mein Handy heraus und meldete mich. »Hallo, Hannah«, sagte der Anrufer, »schön, dass ich dich erreiche.« »Wer ist da?«, fragte ich. »Rat mal, woher ich deine Nummer habe?«, fragte er. Ich sagte ihm, dass ich solche Spielchen hasse, also hat er es mir erzählt: »Ich habe dafür bezahlt.« »Du hast für meine Telefonnummer bezahlt?« Die Cheerleaderin hielt sich die Hand vor den Mund und zeigte auf meinen Ausdruck. Das kann doch nicht sein, dachte ich. Sollte mich wirklich jemand angerufen haben, weil mein Name auf seiner Liste steht? Der Gedanke war schon ein wenig aufregend, aber auch seltsam. Sie zeigte auf die beiden Namen, über die wir vorhin gesprochen hatten, aber ich schüttelte den Kopf. Ihre beiden Stimmen kannte ich zu gut, und es war auch nicht derjenige, vor dem sie mich gewarnt hatte. Ich las ihm die anderen beiden Namen vor, die auf meiner Liste standen. »Sieht so aus, als wärst du auf meine Liste gekommen«, sagte der Anrufer, »aber ich nicht auf deine.« Natürlich bist du auf ihre Liste gekommen. Eine andere Liste. Und ich bin mir sicher, es gefällt dir nicht, darauf zu sein. Ich fragte ihn, an welcher Stelle auf seiner Liste ich stehe. 112
Er sagte mir wieder, ich solle raten, fügte aber schnell hinzu, dass er nur einen Scherz macht. »Okay«, sagte er, »du bist meine Nummer eins, Hannah.« Ich formte seine Antwort mit meinem Mund - Nummer eins! , worüber die Cheerleaderin schier aus dem Häuschen geriet. »Ist das cool!«, flüsterte sie. Dann fragte er mich, ob ich am Valentinstag schon etwas vorhätte. »Kommt drauf an...«, antwortete ich, »... wer du bist.« Doch er gab mir keine Antwort. Brauchte er auch nicht, weil ich ihn in diesem Moment vor dem Fenster des Sekretariats stehen sah. Marcus Cooley. Hallo, Marcus! Ich knirsche mit den Zähnen. Marcus. Ich hätte ihm doch den Stein ins Gesicht werfen sollen. Marcus ist, wie ihr wisst, einer der größten Kindsköpfe an unserer Schule. Aber nicht einer von der faden, sondern von der sympathischen Sorte. Ach, wirklich? Er ist wirklich komisch. Viele todlangweilige Stunden hat er schon durch eine perfekt getimte Bemerkung aufgeheitert. Also habe ich natürlich nicht wörtlich genommen, was er gesagt hat. Obwohl er, nur ein paar Schritte von mir entfernt, hinter der Scheibe stand, habe ich weiter ins Handy gesprochen. »Du lügst«, sagte ich. »Ich stehe gar nicht auf deiner Liste.« Meistens wirkt sein Grinsen ja ziemlich albern, aber in diesem Moment sah es fast sexy aus. »Glaubst du etwa, ich würde dir was vormachen?«, fragte er und presste seine Liste gegen die Scheibe. Obwohl ich zu weit weg stand, um die Namen richtig lesen zu können, nahm ich an, dass er mir beweisen wollte, dass meiner wirklich ganz oben stand. Trotzdem war ich mir sicher, 113
dass er nicht ernsthaft daran dachte, den Valentinstag mit mir zu verbringen. Also ging ich zum Spaß darauf ein. »Okay«, sagte ich, »wo?« Die Cheerleaderin hielt sich die Hände vors Gesicht, aber durch ihre Finger hindurch sah ich, dass sie errötete. Wäre sie nicht gewesen, die mich gewissermaßen anstachelte, hätte ich mich vermutlich nicht so schnell mit ihm verabredet. Doch ich spielte das Spiel weiter und bescherte ihr ein Erlebnis, mit dem sie später bei den anderen Cheerleadern angeben konnte. Jetzt war es an Marcus zu erröten. »Oh... äh... okay. Wie wäre’s mit dem Rosie’s... ich meine zum Eisessen.« E5. Ich habe den Stern auf der Karte gesehen, während ich mit dem Bus gefahren bin, wusste aber nicht genau, welchen Ort sie damit meinte. Doch ich hätte es mir denken können, denn wo gibt es das beste Eis und die fettigsten Burger und Pommes weit und breit? Im Rosie’s Diner. Meine Antwort hörte sich spöttisch an: »Zum Eisessen?« Aber so war sie nicht gemeint. Eine Einladung zum Eisessen hörte sich nur irgendwie so... so süß an. Wir verabredeten uns für später und legten auf. Die Cheerleaderin schlug mit den Händen auf die Theke. »Du musst mir unbedingt als Erste davon erzählen!« Ich nahm ihr das Versprechen ab, bis zum nächsten Tag niemandem davon zu erzählen, sicherheitshalber... »Einverstanden«, sagte sie. Doch ich musste im Gegenzug versprechen, ihr später jedes kleinste Detail zu berichten. Einige von euch werden die Cheerleaderin, von der ich rede, bestimmt kennen, aber ihren Namen verrate ich nicht. Sie war sehr nett und ganz aus dem Häuschen wegen meiner Verabredung. Sie hat nichts Falsches getan. Das meine ich ganz ehrlich, ohne Ironie. Gebt euch keine Mühe, irgendetwas in meine Worte hineinzuinterpretieren. 114
Ich hatte von Anfang an eine bestimmte Vermutung, um welche Cheerleaderin es sich handelt. Doch wenn ich mich jetzt an den Tag erinnere, an dem wir von Hannah erfahren haben, dann bin ich mir ganz sicher. Es war Jenny Kurtz. Wir hatten Bio zusammen. Damals hatte ich schon davon gehört. Doch als sie davon erfuhr, war sie gerade damit beschäftigt, einen Regenwurm mit dem Skalpell zu sezieren. Sie ließ das Skalpell sinken und fiel in ein langes, benommenes Schweigen. Dann ging sie am Lehrerpult vorbei und aus dem Zimmer. Ich habe sie später vergeblich gesucht, weil ich so verblüfft über ihre Reaktion war. So wie die anderen hatte auch ich keine Ahnung, dass sie zufällig mit Hannah bekannt war. Ob ich der Cheerleaderin erzählt habe, was im Rosie’s passiert ist? Nein, stattdessen bin ich ihr so lange wie möglich aus dem Weg gegangen. Und bald werdet ihr auch wissen, warum. Natürlich konnte ich ihr nicht ewig ausweichen. Weshalb sie auf einer anderen Kassette nochmals in Erscheinung treten wird - und das sogar namentlich. Dass ich immer mehr zittere, liegt nicht nur an der kalten Luft. Mit jeder Kassettenseite, die ich mir anhöre, wird meine Erinnerung auf den Kopf gestellt. Verändert sich mein Bild von Personen derart, dass ich sie nicht wiedererkenne. Als Jenny aus dem Klassenzimmer ging, hätte ich heulen können. Immer wenn ich solch eine Reaktion sah - bei ihr, bei Mr Porter -, wurde ich an den Moment erinnert, als ich selbst davon erfuhr und in Tränen ausbrach. Dabei hätte ich wütend auf sie sein sollen. Wenn ihr’s also ganz genau wissen wollt, dann geht zum Rosie’s. Oh Gott. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch glauben soll. Ich hasse dieses Gefühl.
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E5 auf euer Karte. Setzt euch auf einen der Hocker an der Bar. Dann erzähle ich euch, wie’s weitergeht. Doch zuerst ein paar Hintergrundinformationen zu mir und dem Rosie’s. Ich war an jenem Tag zum ersten Mal dort. Ich weiß, das hört sich komisch an. Jeder war doch schon im Rosie’s, weil das ein cooler, angesagter Laden ist. Aber niemand geht da allein hin. Und immer wenn mich jemand dorthin einladen wollte, hatte ich zufällig schon was anderes vor. Verwandtenbesuche außerhalb der Stadt, zu viele Hausaufgaben, so was in der Art. Für mich verkörperte das Rosie’s eine ganz bestimmte Aura. Ein Geheimnis. In den Geschichten, die ich hörte, war das Rosie’s immer der Ort, an dem die entscheidenden Dinge passierten. Alex Standall hat sich vor dem Rosie’s seine erste Schlägerei geliefert - nur eine Woche nachdem er hierhergezogen war. Das hat er mir und Jessica im Monet’s erzählt. Als ich von der Schlägerei erfuhr, ging dies mit der Warnung einher, sich bloß nicht mit dem neuen Typen anzulegen. Alex konnte einstecken und austeilen. Einem Mädchen, deren Namen ich hier nicht wiederholen will, wurde zum ersten Mal unter die Bluse gefasst, als sie mit einem Typ zwischen den Flippern herumfummelte. Courtney Crimsen. Jeder kannte die Story. Und Courtney schien das durchaus recht zu sein. Rosie schien all diese Dinge zu dulden, solange nur genug Eis und Burger über die Theke gingen. Ich wäre gern schon früher dort hingegangen. Aber allein wollte ich nicht, um dann nicht wie ein Depp dazustehen. Schließlich war es Marcus, der mir die Gelegenheit verschaffte. Und zufälligerweise hatte ich wirklich Zeit. Ich hatte Zeit, aber ich war nicht blöd. Ich war auf der Hut, was Marcus anging. Ich war ein bisschen skeptisch. Vor allem wegen der Leute, mit denen er sich abgab. 116
Leute wie Alex Standall. Nachdem Alex sich von unserer netten Einer-für-alle-allefüreinen-Gemeinschaft gelöst hatte, begann er, mit Marcus herumzuhängen. Und nach der Show, die Alex mit seiner Weristheiß-wer-nicht-Liste abgezogen hatte, traute ich ihm nicht mehr. Warum sollte ich also einem Kumpel von ihm trauen? Solltest du auch nicht. Warum? Weil es genau das war, was ich mir selbst wünschte. Ich wollte, dass die Leute mir vertrauen - trotz der Dinge, die sie über mich gehört hatten. Und ich wollte vor allem, dass sie mich richtig kennenlernen, statt irgendwelchen Gerüchten über mich zu glauben. Ich ging also ins Rosie’s und setzte mich an die Bar. Und wenn ihr dasselbe tut, dann wartet ein bisschen, ehe ihr euch was bestellt. Das Handy in meiner Tasche vibriert. Setzt euch einfach hin und wartet ab. Meine Mutter ist dran.
h will mich melden, doch schon mein Name bleibt mir im Hals stecken. »Alles in Ordnung, mein Schatz?«, fragt sie mit sanfter Stimme. Ich schließe die Augen, um mich auf das Sprechen zu konzentrieren. »Ja, mir geht’s gut.« Ob sie mir trotzdem etwas anmerkt? »Es ist schon spät, Clay.« Sie macht eine Pause. »Wo steckst du?« »Tut mir leid, ich hab vergessen anzurufen.« »Ist schon in Ordnung.« Sie hört es mir an, aber sie fragt nicht nach. »Soll ich dich abholen?« 117
Ich kann jetzt nicht nach Hause gehen. Noch nicht. Ich bin drauf und dran, ihr zu erzählen, dass ich erst kommen kann, wenn Tony und ich mit den Vorbereitungen für das Schulprojekt fertig sind. Doch ich bin mit dieser Kassette fast fertig und habe nur noch eine weitere dabei. »Könntest du mir einen Gefallen tun, Mum?« Keine Antwort. »Ich habe ein paar Kassetten auf der Werkbank liegen lassen.« »Brauchst du die für euer Projekt?« Und was ist, wenn sie aus Neugier selbst in die Kassetten reinhört? Vielleicht erwischt sie sogar ausgerechnet die Stelle, in der Hannah über mich spricht. »Ach, lass nur«, sage ich, »ich hole sie.« »Ich kann sie dir auch bringen.« Ich schweige. Nicht weil mir wieder die Worte im Hals stecken bleiben, sondern weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. »Ich muss sowieso noch weg«, sagt sie. »Wir haben kein Brot mehr und ich will schon die Sandwichs für morgen machen.« Ich stoße ein leises Lachen aus und muss grinsen. Immer wenn sie weiß, dass ich lange unterwegs sein werde, gibt sie mir ein Sandwich für die Schule mit. Es nützt nichts zu protestieren und ihr zu sagen, dass ich mir selber eins mache, wenn ich nach Hause komme. Sie tut es trotzdem. Das erinnere sie an die Zeit, sagt sie, als ich noch klein war und sie mehr gebraucht habe als heute. »Sag mir einfach, wo du bist.« Ich beuge mich vor und sage das Erstbeste, das mir in den Sinn kommt. »Ich bin im Rosie’s.« »Im Rosie’s? Könnt ihr euch da überhaupt konzentrieren?« Sie wartet vergeblich auf eine Antwort von mir. »Ist es da nicht viel zu laut?« 118
Die Straße ist leer. Keine Autos. Kein Lärm. Keinerlei Hintergrundgeräusche. Sie weiß, dass ich nicht die Wahrheit sage. »Wann fährst du?«, frage ich sie. »Sobald ich mir die Kassetten geschnappt habe.« »Super.« Ich setze mich in Bewegung. »Dann bis gleich.« Achtet darauf, worüber sich die Leute in eurer Nähe unterhalten. Fragen sie sich, warum ihr ganz allein an der Bar sitzt? Schaut euch mal über die Schulter. Verstummen die Gespräche? Wenden manche den Kopf ab? Vielleicht hört sich das überspannt an, aber ihr wisst, dass es so ist. Ihr seid vorher auch noch nie allein im Rosie’s gewesen, stimmt’s? Stimmt. Das ist eine völlig neue Erfahrung. Und im Grunde wisst ihr auch ganz genau, warum ihr noch nie allein dort wart. Doch wenn ihr jetzt allein an der Bar sitzt, ohne etwas zu bestellen, dann werden die Leute dasselbe über euch denken, was sie über mich gedacht haben. Dass ihr auf jemanden wartet. Bleibt einfach sitzen und werft ab und zu einen Blick auf die Uhr, die an der Wand hängt. Je länger ihr wartet - das ist wirklich wahr -, desto langsamer bewegen sich die Zeiger. Heute wird alles anders sein. Wenn ich da bin, wird mein Herz beim Blick auf die Uhr rasen, weil jeden Moment meine Mutter zur Tür hereinkommen kann. Ich beginne zu laufen. Nach fünfzehn Minuten könnt ihr euch meinetwegen einen Milkshake bestellen. Denn fünfzehn Minuten sind zehn Minuten länger, als auch der Langsamste brauchen würde, um von der Schule zum Rosie’s zu gehen. Offenbar... hat euch jemand versetzt. Wenn ihr eine Empfehlung braucht: Mit einem BananeErdnussbutter-Shake macht ihr keinen Fehler. 119
Dann wartet ihr so lange, wie es dauert, den Milkshake in Ruhe auszutrinken. Wenn dreißig Minuten vorbei sind, fangt an, mit dem Löffel im Glas herumzurühren, wie ich es getan habe. Du bist ein Arschloch, Marcus. Du hast sie versetzt, obwohl du sie nicht einmal hättest fragen müssen, ob sie mit dir ausgeht. Es war nur eine Geldbeschaffungsmaßnahme für das Cheerleading Camp. Wenn du das Ganze nicht ernst genommen hast, dann hättest du sie auch nicht fragen dürfen. Dreißig Minuten sind eine lange Wartezeit am Valentinstag. Besonders wenn man allein im Rosie’s Diner herumsitzt. Dann hat man jede Menge Zeit zu grübeln, was wohl schiefgelaufen sein könnte. Hat er die Verabredung vergessen? Dabei wirkte er wirklich aufrichtig. Ich meine... selbst die Cheerleaderin hat geglaubt, dass er es ernst meint. Ich laufe weiter. Bleib ganz ruhig, Hannah. Das habe ich mir unentwegt gesagt. Du riskierst hier schon nicht deinen Kopf. Beruhige dich. Kommt euch das irgendwie bekannt vor? Habe ich mich nicht mit derselben Begründung davon abhalten lassen, meinen Fragebogen aus dem Schuhkarton zu entfernen? Okay, stopp! Diese Gedanken rasten durch meinen Kopf, nachdem ich dreißig Minuten auf Marcus gewartet hatte. Vermutlich war ich auch deshalb nicht in besonders guter Verfassung, als er endlich auftauchte. Mein Tempo verlangsamt sich. Nicht weil ich außer Atem bin oder weil meine Beine schmerzen. Ich bin nicht physisch erschöpft, sondern ausgelaugt. Wenn Marcus sie nicht versetzt hat, was ist dann passiert? Er setzte sich neben mich und hat sich entschuldigt. Ich sagte ihm, dass ich nicht mehr mit ihm gerechnet hätte. Er schaute mein leeres Glas an und entschuldigte sich erneut. Doch seiner Ansicht nach war er gar nicht zu spät gekommen. Er war sich auch nicht sicher, ob ich überhaupt da sein würde. 120
Ich will ihm das gar nicht vorwerfen. Offenbar dachte er, wir hätten uns nur zum Spaß verabredet. Oder er nahm es wenigstens an. Doch als er sich schon auf dem Heimweg befand, kamen ihm doch Zweifel, also kehrte er um und schaute sicherheitshalber beim Rosie’s vorbei. Und deshalb bist du auf dieser Kassette, Marcus. Du bist nur für den Fall der Fälle hierhergekommen. Falls ich, Hannah Baker - die stadtbekannte Skandalnudel -, auf dich warten würde. Und leider tat ich das. Damals dachte ich noch, dass es ganz nett werden könnte. Damals war ich eine Idiotin. Da ist das Rosie’s. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Am anderen Ende des Parkplatzes. Denn ihr müsst wissen, dass Marcus nicht einfach so ins Rosie’s kam. Nein, er kam mit einem Plan dorthin. Und Bestandteil dieses Plans war es, mich von der Bar weg in den hinteren Raum zu locken, nahe bei den Flipperautomaten. Er wollte mich eingeklemmt zwischen sich und der Wand haben. Der Parkplatz ist fast leer. Direkt vor dem Rosie’s stehen ein paar Autos. Das meiner Mutter ist nicht dabei. Ich bleibe stehen. Wenn ihr also gerade im Rosie’s seid, dann bleibt lieber an der Bar sitzen. Da ist es weitaus gemütlicher, das könnt ihr mir glauben. Ich stehe auf dem Bordstein und atme tief ein und aus. An der Kreuzung beginnt die Ampel zu blinken. Ich weiß nicht, wie genau er alles im Voraus geplant hatte. Vielleicht hatte er nur das Ende vor Augen. Ein bestimmtes Ziel. Und wie ich schon sagte, kann Marcus sehr witzig sein. Wir saßen also in einer geschützten Nische, hatten dem Lokal den Rücken zugekehrt und lachten. Einmal musste ich so doll lachen, dass mein Bauch wehtat. Ich krümmte mich zusammen, 121
wobei meine Stirn seine Schulter berührte, und bat ihn aufzuhören. Die Ampel blinkt immer noch und fordert mich auf, mich zu entscheiden. Mich zu beeilen. Ich habe immer noch Zeit genug, über die Straße zu rennen und den Parkplatz zu überqueren, der mich vom Rosie’s trennt. Doch ich bleibe stehen. In diesem Moment berührte seine Hand mein Knie. In diesem Moment wusste ich Bescheid. Die Ampel hört auf zu blinken und leuchtet jetzt rot. Ich drehe mich um. Ich kann dort nicht reingehen. Noch nicht. Ich lachte nicht mehr. Fast hörte ich auf zu atmen. Aber meine Stirn blieb an deiner Schulter, Marcus. Plötzlich war deine Hand auf meinem Knie. Wie aus dem Nichts. Genau wie damals im Blue Spot. »Was machst du da?«, flüsterte ich. »Soll ich weitermachen?«, hast du gefragt. Ich habe nicht geantwortet. Ich presse die Hand gegen den Bauch. Das ist zu viel für mich. Gleich werde ich ins Rosie’s gehen. Hoffentlich ist meine Mutter noch nicht da. Doch zuerst muss ich dem Filmtheater, in dem Hannah und ich einen Sommer lang gejobbt haben, einen Besuch abstatten. Dem Crestmont. Dort war sie in Sicherheit. Doch auch jetzt rührte ich mich nicht vom Fleck. Es kam mir so vor, als hätte deine Schulter keine Verbindung zu deinem übrigen Körper. Sie war nur eine Stütze für meinen Kopf, während ich zu begreifen versuchte, was hier vor sich ging. Ich schaute wie gebannt auf deine Fingerspitzen, die mein Knie streichelten... und langsam nach oben wanderten. »Warum machst du das?«, fragte ich. 122
Das Kino ist nur einen Block weiter und vielleicht trägt es ja gar keinen Stern auf der Karte. Sollte es aber. Das wäre mein roter Stern. Deine Schulter drehte sich und ich hob meinen Kopf, doch inzwischen hattest du eine Hand hinter meinen Rücken geschoben und zogst mich an dich heran. Deine andere Hand lag auf meinem Oberschenkel. Ich schaute zu den anderen Nischen und zur Bar hinüber und versuchte, mit irgendjemandem Blickkontakt aufzunehmen. Einige Leute sahen in unsere Richtung, wandten aber sofort ihre Köpfe ab. Unter dem Tisch habe ich versucht, deine Finger abzuwehren. Mich aus deinem Griff zu befreien. Dich wegzustoßen. Ich wollte nicht schreien - so weit war ich noch nicht -, aber meine Augen suchten fieberhaft nach Hilfe. Ich stecke die Hände in die Taschen und balle die Fäuste. Am liebsten hätte ich auf eine Wand eingeprügelt oder ein Schaufenster eingeschlagen. Ich habe noch nie jemandem Gewalt zugefügt, doch heute Abend hätte ich Marcus am liebsten die Fresse poliert. Doch alle schauten weg. Niemand fragte, ob ich ein Problem hätte. Warum nur? Waren sie so höflich, dass sie sich nicht einmischen wollten? War es auch bei dir reine Höflichkeit, Zach? Zach? Schon wieder? Er war doch schon auf der ersten Kassette aufgetaucht, als er in Hannahs Vorgarten der Länge nach hinfiel. Dann hat er Hannah und mich auf Kats Abschiedsparty gestört. Ich hasse das. Ich habe keine Lust mehr herauszufinden, wie alles zusammenhängt. »Hör auf!«, sagte ich. Und ich weiß, dass du mich gehört hast, weil mein Mund nur Zentimeter von deinem Ohr entfernt war, während ich über die Rückenlehne blickte. »Hör auf!« 123
Das Crestmont. Ich biege um die Ecke, und schon sehe ich es. Eine der wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Es ist das letzte Art-déco-Filmtheater im gesamten Bundesstaat. »Keine Angst«, sagtest du. Und als wüsstest du, dass du nur wenig Zeit hast, wanderte deine Hand von meinem Oberschenkel schnell weiter nach oben. Ganz nach oben. Ich stieß dich so heftig in die Seite, dass du auf den Boden gefallen bist. Wenn jemand aus einer Nische heraus auf den Boden fällt, sieht das natürlich lustig aus. Also habe ich eigentlich erwartet, dass irgendjemand zu lachen beginnt. Es sei denn, allen ist klar, dass es kein Missgeschick war. Offenbar war das der Fall. Die Leute wussten, dass irgendwas in unserer Nische vor sich ging, hatten aber keine Lust, sich darum zu kümmern. Vielen Dank auch. Das geschwungene Vordach ragt weit über den Bürgersteig. Der verzierte Schriftzug erhebt sich in die Luft wie eine elektrische Pfauenfeder. Die einzelnen Buchstaben leuchten nacheinander auf, als würde jemand ein Kreuzworträtsel mit Neonlicht ausfüllen. Dann bist du gegangen. Du bist nicht hinausgestürmt. Hast mich einfach Flittchen genannt - so laut, dass jeder es hören konnte - und bist rausgegangen. Haltet euch die gesamte Situation noch mal vor Augen. Wie ich an der Bar saß und schon aufbrechen wollte, weil ich dachte, dass Marcus mich versetzt hat. Ich will euch genau erzählen, was mir damals durch den Kopf ging, weil es heute umso mehr Gültigkeit hat. Ich gehe dem Crestmont entgegen. Alle Geschäfte in dieser Straße haben bereits geschlossen. Eine undurchdringliche Wand dunkler Fenster, die plötzlich von einem dreieckigen Keil durchschnitten wird, der vom Bürgersteig wegführt. Marmorboden und Wände sind von derselben Farbe wie die Neonbuchstaben. Seine Spitze weist direkt in das Foyer, in dessen 124
Mitte sich die Kasse befindet. Wie das Kassenhäuschen einer Mautstelle ist sie an drei Seiten verglast und besitzt auf der Rückseite eine Tür. Dort habe ich an den meisten Abenden gearbeitet. Fast vom ersten Schultag an hatte ich das Gefühl, dass sich niemand für mich interessiert. Stellt euch einfach vor, wie es ist, seine ganze Seele in den ersten Kuss zu legen... und dafür eine schallende Ohrfeige zu ernten. Wie es ist, wenn die beiden einzigen Menschen, denen ihr vertraut, sich plötzlich gegen euch wenden. Wenn sie dich für ihre Machtspielchen missbrauchen, dir aber später Betrug vorwerfen. Versteht ihr so langsam, worauf ich hinauswill? Geht es euch zu schnell? Haltet durch! Stellt euch vor, den letzten Rest an Sicherheit und Privatsphäre zu verlieren, nur damit ein anderer seine perverse Neugier befriedigen kann. Sie hält kurz inne und fährt ein bisschen langsamer fort. Dann denkst du plötzlich, du hättest aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Kommst dir kleinlich und engstirnig vor. Natürlich - du hast das Gefühl, in dieser Stadt kein Bein auf den Boden zu kriegen. Jede Hand, die sich dir entgegenstreckt, stößt dich nur weiter nach unten. Sei nicht so negativ, Hannah, habe ich mir gesagt. Du musst den anderen auch ein bisschen Vertrauen entgegenbringen. Also habe ich es versucht. Ein weiteres Mal. Es läuft gerade die Spätvorstellung. Das Kassenhäuschen ist leer. Ich stehe auf dem schwindelerregenden marmorierten Boden, umgeben von Plakaten, auf denen die neusten Filme angekündigt werden. Hier, in diesem Kino, hatte ich die Chance, Hannah näherzukommen. 125
Ich habe sie nicht genutzt. Und plötzlich schleichen sich ganz neue Gedanken in dein Bewusstsein: Werde ich mein Leben je unter Kontrolle bringen? Werde ich stets von denen enttäuscht werden, denen ich am meisten vertraue? Ich hasse, was du getan hast, Hannah. Werde ich meinem Leben je die gewünschte Richtung geben können? Es wäre nicht nötig gewesen und trotzdem hast du es getan. Am nächsten Tag, Marcus, habe ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte herausfinden, wie die Leute reagieren, wenn eine Schülerin nie mehr wiederkommt. Oder wie es in dem Song heißt: »You are lost and gone forever, oh my darling, Valentine.« Ich lehne mich gegen einen Schaukasten, in dem ein Filmplakat hängt, und schließe die Augen. Ich lausche jemandem, der resigniert hat. Jemand, den ich kannte. Jemand, den ich mochte. Ich lausche. Doch es ist zu spät. Mein Herz pocht und ich muss mich bewegen. Ich schlurfe über den Marmorboden zum Kassenhäuschen. An einem winzigen Saugnapf hängt eine Kette, an der ein kleines Schild befestigt, ist: GESCHLOSSEN - BIS MORGEN! Von außen betrachtet, sieht das Kassenhäuschen gar nicht so klein aus, aber dort drinnen kommt man sich vor wie in einem Goldfischglas. Kontakt zu anderen Menschen hatte ich nur, wenn ich den Leuten ihre Eintrittskarten aushändigte oder ein Kollege zu mir hereinkam. Ansonsten habe ich immer gelesen. Oder hinaus in die Lobby geschaut und Hannah beobachtet. Manche Abende waren schlimmer als andere. Ich wollte mich stets vergewissern, dass sie auch genug Buttertopping für das Popcorn nahm. Ich weiß, 126
das hört sich heute wie eine Besessenheit an, aber so war es eben. So wie damals, als Bryce Walker hereinkam. Er ging mit seiner aktuellen Freundin an die Kasse und wollte, dass ich ihr eine Eintrittskarte für Kinder unter zwölf Jahren verkaufe. »Sie kriegt vom Film doch sowieso nichts mit, Clay«, sagte er. Dann lachte er vielsagend. Ich kannte sie nicht. Vielleicht ging sie auf eine andere Schule. Sicher ist nur, dass sie diese Situation nicht besonders komisch fand. »Dann zahle ich eben selber«, sagte sie und legte ihr Portemonnaie auf den Schalter. Bryce schob das Portemonnaie beiseite und zahlte den vollen Preis. »War nur ein Scherz«, meinte er. Als der Film halb vorüber war und ich schon die Tickets für die nächste Vorstellung verkaufte, stürmte sie aus dem Kinosaal und hielt sich das Handgelenk. Vielleicht hatte sie Tränen in den Augen, aber das konnte ich nicht genau erkennen. Von Bryce war nichts zu sehen. Ich habe lange das Foyer im Auge behalten und auf ihn gewartet, aber er tauchte einfach nicht auf. Er wollte offenbar unbedingt den Film zu Ende sehen, für den er bezahlt hatte. Doch als der Film vorbei war, ging er sofort zu Hannah an die Snackbar und kaute ihr ein Ohr ab, nachdem alle anderen schon gegangen waren. Als die Besucher der nächsten Vorstellung das Foyer betraten, stand er immer noch dort. Hannah gab Getränke und Süβigkeiten aus, schob das Wechselgeld über die Theke und lachte über jede Bemerkung, die Bryce von sich gab. Ich war drauf und dran, die Kasse zu schließen, durch das Foyer zu marschieren und ihn vor die Tür zu setzen. Was hatte er noch hier zu suchen, nachdem der Film längst vorbei war? Aber das wäre Hannahs Aufgabe gewesen. Sie hätte ihn zum Gehen auffordern sollen. Nein, sie hätte sich von ihm belästigt fühlen sollen. 127
Nachdem ich die letzte Karte verkauft und die Kasse geschlossen hatte, ging ich gleich zu Hannah hinüber, um ihr beim Aufräumen zu helfen. Um sie nach Bryce zu fragen. »Warum ist das Mädchen nur plötzlich aus dem Kinosaal gerannt?«, fragte ich sie. Hannah unterbrach das Wischen der Theke und sah mir direkt in die Augen. »Ich kenne ihn, Clay«, entgegnete sie. »Ich weiß, wie er ist. Glaub mir.« »Weiß ich schon«, sagte ich, schaute nach unten und berührte mit der Schuhspitze einen Fleck auf dem Teppich. »Ich habe mich nur gefragt... warum du so lange mit ihm geredet hast.« Sie schwieg. Jedenfalls für einen Moment. Aber ich war nicht in der Lage, ihr ins Gesicht zu sehen. Ich wollte keine Enttäuschung oder Frustration in ihren Augen lesen. Wollte nicht, dass sich diese Empfindungen gegen mich richteten. Schließlich sagte sie den Satz, der mir die ganze Nacht durch den Kopf ging: »Du brauchst nicht auf mich aufzupassen, Clay!« Aber genau das habe ich versucht, Hannah. Ich wollte es so sehr. Ich hätte dir helfen können. Doch als ich dir meine Hilfe anbot, hast du sie abgelehnt. Und jetzt meine ich fast, Hannahs Stimme zu hören, die meinen nächsten Gedanken ausspricht: »Warum hast du es nicht hartnäckiger versucht?«
KASSETTE 4: SEITE A Als ich zur Kreuzung zurückkehre, blinkt wieder die rote Ampel, doch ich renne trotzdem über die Straße. Auf dem Park128
platz stehen noch weniger Autos als zuvor, nur von meiner Mutter ist nach wie vor nichts zu sehen. Ein Stück vom Rosie’s entfernt, bleibe ich stehen, lehne mich an das Schaufenster einer Zoohandlung und versuche, zu Atem zu kommen. Dann stütze ich die Hände auf meine Knie in der Hoffnung, dass meine Mutter mir nichts anmerkt, wenn sie gleich hier auftaucht. Unmöglich. Meine Beine stehen zwar still, doch meine Gedanken rasen weiter. Ich gleite an der kalten Scheibe nach unten, umklammere meine Knie und versuche, die Tränen zurückzuhalten. Aber ich habe keine Zeit mehr. Meine Mutter wird jeden Moment hier sein. Ich hole tief Luft, rappele mich auf, marschiere zum Rosie’s hinüber und öffne die Tür. Warme Luft, gesättigt vom Geruch nach Bratfett und Zucker, schlägt mir entgegen. Drei der fünf Nischen entlang der Wand sind besetzt. Eine von einem Jungen und einem Mädchen, die Milkshakes schlürfen und Popcorn aus dem Crestmont mampfen. In den beiden anderen sitzen Schüler, die sich über ihre Hausaufgaben beugen. Lehrbücher bedecken die Tischplatten und lassen gerade genug Platz für Getränke und Pommes. Glücklicherweise ist die hinterste Nische schon besetzt. So brauche ich mir nicht zu überlegen, ob ich dort sitzen soll. An einem der Flipperautomaten klebt ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift »defekt«. Ein älterer Schüler, der mir irgendwie bekannt vorkommt, spielt am anderen Flipper. Ich folge Hannahs Rat und setze mich an die leere Theke. Dahinter steht ein Mann mit einer weißen Schürze, sortiert das Besteck in zwei Plastikwannen und nickt mir zu. Ich ziehe die Speisekarte aus einem silbernen Serviettenhalter. Auf der Vorderseite steht ein langatmiger Text über die Entstehung des Rosie’s, der von Schwarz-Weiß-Fotos aus den 129
letzten vier Jahrzehnten begleitet wird. Ich blättere um, doch noch will ich nichts bestellen. Fünfzehn Minuten. So lange sollen wir mit der Bestellung warten, hat Hannah gesagt. Als meine Mutter mich anrief, war ich in einer merkwürdigen Verfassung, und ich bin sicher, dass sie mir das angemerkt hat. Doch wird sie das dazu bringen, sich unterwegs die Kassetten anzuhören? Ich bin so ein Idiot! Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich die Kassetten abhole. Stattdessen muss ich jetzt hier auf sie warten, ohne zu wissen, was das für Folgen haben wird. Der Junge, der Popcorn gegessen hat, fragt nach dem Schlüssel für die Toilette. Der Barkeeper zeigt zur Wand. Dort hängen zwei Schlüssel an Messinghaken. An einem von ihnen ist ein blauer Plastikhund, am anderen ein rosa Elefant befestigt. Er greift nach dem blauen Plastikhund und geht den Flur hinunter. Nachdem der Barkeeper die Plastikwannen unter die Theke gestellt hat, schraubt er die Deckel einiger Pfeffer- und Salzstreuer ab. Er schenkt mir keine Beachtung und das ist auch gut so. »Hast du schon was bestellt?« Ich fahre herum. Meine Mutter sitzt neben mir und hat sich auch eine Speisekarte genommen. Vor ihr auf der Theke steht Hannahs Schuhkarton. »Willst du bleiben?«, frage ich sie. Wenn sie bleibt, können wir reden. Soll mir recht sein. Dann bin ich jedenfalls für eine Weile abgelenkt. Sie schaut mir in die Augen und lächelt. Dann streicht sie sich über den Bauch und macht ein skeptisches Gesicht. »Ich glaube, das wäre keine gute Idee.« »Du bist doch nicht zu dick, Mum.« Sie schiebt den Schuhkarton zu mir herüber. »Wo ist dein Freund? Habt ihr nicht zusammen gearbeitet?« 130
Ach ja, das Schulprojekt. »Der... der ist nur kurz auf die Toilette gegangen.« Sie blickt für einen Moment über meine Schulter hinweg. Vielleicht irre ich mich, doch ich glaube, sie hat kurz nachgeschaut, ob beide Schlüssel an ihren Haken hängen. Gott sei Dank tun sie das nicht. »Hast du genug Geld?«, fragt sie. »Wofür?« »Na für das Essen.« Sie legt ihre Karte zurück und tippt mit der Fingerspitze auf meine. »Der Schokoshake mit Malzgeschmack ist unschlagbar!« »Warst du etwa schon mal hier?«, frage ich verdutzt. Ich habe noch nie einen Erwachsenen im Rosie’s gesehen. Mum lacht. Sie legt mir eine Hand auf den Kopf und glättet mit dem Daumen meine Stirnfalten. »Schau nicht so überrascht, Clay. Das Rosie’s gibt’s doch schon ewig.« Sie legt einen Zehndollarschein auf den Schuhkarton. »Du solltest wirklich den Schokoshake probieren.« In diesem Moment öffnet sich quietschend die Toilettentür. Ich drehe den Kopf und sehe, wie der Junge den blauen Hundeschlüssel wieder an den Haken hängt. Er entschuldigt sich bei seiner Freundin, dass es so lange gedauert hat, und küsst sie auf die Stirn. »Clay?«, sagt Mum. Bevor ich mich ihr wieder zuwende, schließe ich kurz die Augen und hole tief Luft. »Ja?« »Bleib nicht zu lange.« Ihr Lächeln sieht ein wenig gequält aus. Noch vier Kassetten. Sieben Geschichten. Wann wird mein Name auftauchen? Ich schaue ihr in die Augen. »Es könnte schon noch ein bisschen dauern.« Dann blicke ich nach unten. Auf die Speisekarte. »Ist ein Schulprojekt.« 131
Sie entgegnet nichts, doch aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, dass sie die Hand hebt. Ich schließe die Augen und spüre, wie ihre Finger über mein Haar bis zum Nacken gleiten. »Pass auf dich auf«, sagt sie. Ich nicke. Dann geht sie. Ich öffne den Schuhkarton und rolle die Kassetten aus der Luftpolsterfolie. Mum hat sie nicht angerührt. Das beliebteste Fach von allen... okay, das beliebteste Pflichtfach ist Kommunikation, das selbst dann jeder belegen würde, wenn es ein Wahlfach wäre, weil man eine gute Note sicher hat. Und meistens macht es auch noch Spaß. Das ist für mich Grund genug. Man bekommt nur wenige Hausaufgaben und für die mündliche Mitarbeit gibt’s Zusatzpunkte. Man wird regelrecht dazu animiert, in den Unterricht hineinzurufen. Was soll man da nicht mögen? Ich bücke mich und hieve meinen Rucksack auf den Stuhl, auf dem eben noch meine Mutter gesessen hat. In Kommunikation habe ich mich sicher und frei gefühlt, auch wenn ich mir ansonsten immer mehr wie eine Außenseiterin vorkam. Wenn ich das Klassenzimmer betrat, hätte ich am liebsten meine Arme ausgebreitet und gerufen: Einer für alle alle für einen! Ich schlage die drei Kassetten, die ich bereits gehört habe, in Luftpolsterfolie ein und lege sie in den Schuhkarton zurück. Fertig. In dieser Zeit wurde ich nicht betatscht und niemand kicherte hinter meinem Rücken über das neuste Gerücht. Mrs Bradley kann Kichern nicht ausstehen. 132
Ich öffne meinen Rucksack und verstaue Hannahs Schuhkarton darin. Vor mir auf dem Tresen befinden sich ein Schokoshake, den ich Mum zu Ehren trinke, der Walkman und die nächsten drei Kassetten. Ich nehme die beiden Kassetten, auf denen mit blauem Nagellack die Zahlen neun bis zwölf stehen, und lasse sie in die Innentasche meiner Jacke gleiten. Mrs Bradly sagte, Kommunikation sei das Fach, das sie am allerliebsten unterrichte beziehungsweise vermittele, wie sie sich ausdrückte. Wir bekamen immer ein Arbeitsblatt mit jeder Menge Statistiken und Beispielen aus dem wahren Leben, über die wir dann diskutierten. Auf der einen Seite der letzten Kassette steht eine Dreizehn, die Rückseite ist unbeschriftet. Ich stecke die Kassette in die hintere Tasche meiner Jeans. Gewalt, Drogen, unser Selbstbild, zwischenmenschliche Beziehungen... all das waren normale Unterrichtsthemen, was einigen anderen Lehrern ein Dorn im Auge war. Sie betrachteten das als vergeudete Zeit und wollten sich lieber den nüchternen, harten Fakten widmen. Davon verstanden sie etwas. Ich muss blinzeln, als ich kurzzeitig von den Scheinwerfern eines Autos geblendet werde. Sie wollten uns lieber die Bedeutung einer mathematischen Formel erklären, statt uns zu helfen, uns selbst und einander besser zu verstehen. Sie wollten hören, wann die Magna Charta - was auch immer das gewesen ist - unterzeichnet wurde, statt mit uns über Geburtenkontrolle zu diskutieren. Dafür haben wir Sexualerziehung, aber das ist eher ein Witz. Jedes Jahr gab es Diskussionen, ob Kommunikation nicht besser abgeschafft werden sollte. Und jedes Jahr präsentierten Mrs Bradley und einige Kollegen der Schulbehörde eine Reihe von Schülern, die ganz offensichtlich sehr von diesem Fach profitierten. 133
Okay, ich könnte noch ewig fortfahren, Mrs Bradley zu verteidigen. Aber irgendwas ist in ihrem Unterricht passiert, nicht wahr? Sonst würdet ihr mich bestimmt nicht so lange darüber sprechen hören. Ich hoffe trotzdem, dass es Kommunikation auch nächstes Jahr noch geben wird - trotz des kleinen Zwischenfalls. Ich weiß, ich weiß. Ihr dachtet, ich würde etwas anderes sagen, stimmt’s? Ihr dachtet, ich würde sagen, dass das Fach gestrichen werden sollte, weil es bei meiner Entscheidung eine Rolle spielte. Sollte es aber nicht. Niemand an der Schule weiß, was ich euch erzählen werde. Und es war auch nicht der Kurs an sich, der eine Rolle spielte. Selbst wenn ich Kommunikation nie belegt hätte, wäre das Ergebnis vermutlich dasselbe gewesen. Oder auch nicht. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Niemand von uns weiß genau, wie viel Einfluss wir auf das Leben der anderen haben. In der Regel gibt es keine konkreten Hinweise, und so machen wir einfach weiter, ohne unser Verhalten zu überdenken. Mum hat recht. Der Milkshake schmeckt großartig. Eine perfekte Mischung aus Vanilleeis und Malzschokolade. Und ich bin ein Schwachkopf, dass ich hier sitze und ihn genieße. Im Klassenzimmer von Mrs Bradley stand ein Buchgestell aus Metall. Eines von der drehbaren Sorte, in denen im Supermarkt die Taschenbücher stehen. Doch in diesem Gestell befanden sich keine Bücher. Am Anfang des Jahres wurde allen Schülern eine Papiertüte ausgehändigt, die man mit Stiften, Aufklebern und Stempeln verzieren konnte. Dann klebten wir die Tüten an den Ständer. Da Mrs Bradley wusste, wie schwer es uns fällt, einander Komplimente zu machen, verschaffte sie uns die Möglichkeit, 134
unseren Gedanken und Gefühlen anonym Ausdruck zu verleihen. Wenn dich beeindruckt hat, wie offen X über seine Familie gesprochen hat, dann schreibe ihm eine Nachricht und stecke sie in seine Tüte. Wenn du verstehst, dass Y sich Sorgen macht, weil sie in Geschichte durchfallen könnte, dann schreib ihr eine Nachricht und sag ihr, dass du bei der Vorbereitung auf die nächste Prüfung an sie denkst. Warst du von seiner schauspielerischen Leistung beim Schultheater begeistert? Gefällt dir ihre neue Frisur? Sie hatte sich die Haare schneiden lassen. Auf dem Foto im Gästebuch des Monet’s waren ihre Haare noch lang. So habe ich sie immer vor Augen. Auch jetzt. Doch später sah sie anders aus. Natürlich ist es am besten, es dem anderen ins Gesicht zu sagen. Doch wer sich das nicht traut, der behilft sich eben mit einer Nachricht. Und soviel ich weiß, ist nie irgendeine Gemeinheit in den Papiertüten gelandet. Dazu hatten wir viel zu viel Respekt vor Mrs Bradley. Also, Zach Dempsey, was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?
Was? Was ist passiert? Oh, mein Gott! Als ich aufblicke, sehe ich, dass Tony neben mir steht und auf die Pausetaste gedrückt hat. »Ist das mein Walkman?« Ich antworte nicht, weil ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten kann. Er sieht nicht zornig aus, obwohl ich seinen Walkman gestohlen habe. 135
Verwirrt? Vielleicht. Es ist derselbe Blick, den er mir zugeworfen hat, als ich in seinem Auto saß. Als er mich ansah, anstatt seinem Vater mit der Taschenlampe Licht zu geben. Besorgt? Beunruhigt? »Oh, hallo, Tony!« Ich ziehe die Stöpsel aus den Ohren und lege mir den Kopfhörer um den Hals. Der Walkman! Stimmt, er hatte nach dem Walkman gefragt. »Ja, der Walkman lag in deinem Wagen. Ich habe ihn vorhin gesehen, als ich euch geholfen habe. Ich hatte doch gefragt, ob ich ihn mir ausleihen kann.« Ich bin so ein Vollidiot. Er legt eine Hand auf den Tresen und setzt sich neben mich. »Tut mir leid, Clay«, sagt er und sieht mir in die Augen. Hält er mich für einen dreisten Lügner? »Mein Dad geht mir manchmal so auf die Nerven. Bestimmt hast du gefragt und ich habe es nur vergessen.« Nach meiner Mutter habe ich jetzt auch noch Tony angelogen. Und wenn er neugierige Fragen stellt, werde ich zu weiteren Lügen gezwungen sein. »Gib ihn mir einfach wieder, wenn du ihn nicht mehr brauchst«, sagt er, steht auf und legt mir die Hand auf die Schulter. »Du kannst ihn behalten, so lange du willst.« »Danke.« »Es hat wirklich keine Eile«, fügt er hinzu. Er nimmt sich eine Speisekarte aus dem Serviettenhalter und setzt sich in eine Nische, die sich in meinem Rücken befindet.
Keine Sorge, Zach. Auch du hast mir keine gemeine Botschaft zukommen lassen. Das weiß ich. Doch was du getan hast, war noch schlimmer.
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Ich kenne Zach eigentlich als gutmütigen Kerl. Viel zu unauffällig, um überhaupt den Spott der anderen auf sich zu ziehen. Und so wie ich fühlte er sich stets zu Hannah hingezogen. Kehren wir in Gedanken ein paar Wochen zurück... und zwar ins Rosie’s. Mein Magen krampft sich zusammen, als würde ich mich durch meinen letzten Sit-up quälen. Ich schließe die Augen und versuche, die Ruhe zu bewahren. Doch in Wahrheit habe ich sie schon seit Stunden verloren. Sogar meine Augenlider brennen, als kämpfe mein gesamter Körper gegen eine Krankheit an. Ich blieb einfach in der Nische sitzen und starrte in mein leeres Milkshakeglas, nachdem Marcus gegangen war. Dort, wo er gesessen hatte, war der Platz sicher noch warm, als Zach eine Minute später auftauchte. Und sich hinsetzte. Ich betrachte die Reihe leerer Barhocker an der Theke. Auf einem dieser Stühle hatte Hannah zunächst gesessen, nachdem sie gekommen war. Allein. Dann ist Marcus erschienen und hat sich mit ihr in eine der Nischen gesetzt. Mein Blick wandert die Theke entlang bis zu den Flipperautomaten am Ende des Raumes, wo sich ihre Nische befand. Sie ist leer. Ich habe so getan, als würde ich ihn nicht sehen. Nicht weil ich etwas gegen ihn hatte, sondern weil ich einem Zusammenbruch nahe war. Einem Zusammenbruch, der sich durch eine große Leere in meiner Brust ankündigte. Als würde jeder Nerv in meinem Körper verkümmern, sich von den Fingern und Zehen langsam zurückziehen und schließlich verschwinden. Meine Augen brennen. Ich strecke die Hand aus und lasse meine Finger am vereisten Milkshakeglas hinuntergleiten. Eiskalte Tröpfchen heften sich an meine Haut und ich fahre mit meinen feuchten Fingern über die Augenlider. 137
Ich saß regungslos da und dachte nach. Und je länger ich nachdachte und die Ereignisse meines Lebens miteinander in Verbindung brachte, desto mehr drohte mein Herz zu zerspringen. Zach war süß. Er scherte sich weiterhin nicht darum, dass ich ihn ignorierte, obwohl die ganze Situation fast zum Lachen war. Natürlich wusste ich, dass er neben mir saß. Er glotzte mich unentwegt an. Und schließlich räusperte er sich unüberhörbar. Ich hob meine Hand und berührte den Fuß meines Glases. Das war das einzige Zeichen für ihn, dass ich zuhörte. Ich ziehe das Glas näher an mich heran und rühre langsam in den Resten, die sich darin befinden. Er fragte, ob ich okay sei, und ich zwang mich zu einem Nicken. Doch mein Blick war starr auf das Glas gerichtet. Eigentlich blickte ich durch das Glas hindurch auf den Löffel. Und ich fragte mich unablässig, ob es sich so anfühlt, wenn man den Verstand verliert. »Tut mir leid«, sagte er. »Was immer auch gerade passiert ist.« Ich spürte, dass mein Kopf immer noch nickte, als wäre er an kräftigen Stahlfedern befestigt, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihm zu sagen, dass seine Worte mir guttaten. Er fragte, ob ich einen weiteren Milkshake wollte, doch ich antwortete nicht. Hatte es mir die Sprache verschlagen? Oder wollte ich einfach nicht reden? Ein Teil von mir dachte, dass er mich anbaggern und den Umstand, dass ich allein war, nutzen wollte, um mich einzuladen. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, aber warum hätte ich ihm vertrauen sollen? Die Bedienung legte die Rechnung vor mich auf den Tisch und nahm das leere Glas mit. Als Zach begriff, dass aus mir nichts herauszukriegen war, ließ er ein paar Dollar liegen und ging zu seinen Freunden zurück. Ich rühre immer noch. 138
Ich kann euch sagen, dass mir in diesem Moment, während ich allein am Tisch saß, zum ersten Mal die schlimmsten Gedanken der Welt durch den Kopf gingen. Zum ersten Mal zog ich etwas in Erwägung... es war ein einziges Wort... das ich immer noch nicht aussprechen kann. Ich weiß, dass du mir helfen wolltest, Zach. Aber wir wissen alle, dass du aus einem anderen Grund auf dieser Kassette vorkommst. Ehe wir fortfahren, will ich dir eine einzige Frage stellen: Wenn du jemandem helfen willst und bemerkst, dass du an diese Person nicht herankommst, warum verhältst du dich dann später so niederträchtig zu ihr? In den letzten Tagen oder Wochen oder wie lange es eben gedauert hat, bis du die Kassetten bekommen hast, da dachtest du bestimmt, dass nie jemand davon erfahren würde. Ich verberge mein Gesicht in den Händen. Wie viele Geheimnisse kann es an einer einzigen Schule geben? Vielleicht hast du Bauchschmerzen bekommen, als du hörtest, was ich getan habe. Doch je mehr Zeit verstrich, desto besser ging es dir wieder. Denn je mehr Zeit verstrich, desto wahrscheinlicher wurde es, dass dein Geheimnis mit mir sterben würde. Niemand wusste Bescheid. Und keiner würde es je herausfinden. Doch jetzt kommt es ans Tageslicht. Und auch meine Bauchschmerzen nehmen zu. Ganz ehrlich, Zach. Fühltest du dich im Rosie’s von mir abgewiesen? Ich meine, es ist ja nie dazu gekommen, dass du mich eingeladen hättest, also konnte ich dich auch nicht abweisen. Aber was war es dann? Verlegenheit? Lass mich raten. Du wolltest vor deinen Freunden damit angeben, dass du mich anbaggerst... und dann habe ich kaum reagiert. Oder war es eine Wette? Haben sie dich herausgefordert? Das kommt schon mal vor. Vor Kurzem hat mich jemand damit provoziert, dass ich es nicht wagen würde, Hannah zu 139
fragen, ob sie mit mir ausgeht. Es war einer unserer Kollegen im Crestmont. Er wusste, dass ich sie mag, mich aber nicht traue. Er wusste auch, dass Hannah in den letzten Monaten unnahbar geworden war, was natürlich eine doppelte Herausforderung darstellte. Als ich aus meiner Trance erwachte und mich zum Gehen anschickte, habe ich dich und deine Freunde kurz belauscht. Sie haben dich damit aufgezogen, dass du das Date nicht zustande gekriegt hättest, das angeblich schon in trockenen Tüchern war. Eines will ich dir jedenfalls anrechnen, Zach. Du hättest auch zu deinen Freunden zurückgehen und sagen können: »Die tickt doch nicht richtig. Schaut sie nur an, wie sie ins Nichts starrt.« Stattdessen hast du dich von ihnen aufziehen lassen. Doch dieses Erlebnis schien an dir zu nagen und dich im Nachhinein immer wütender zu machen. Je länger du über meine Verschlossenheit nachdachtest, desto persönlicher hast du sie genommen. Und dann hast du beschlossen, dich auf die kindischste Weise an mir zu rächen. Du hast die aufmunternden Nachrichten gestohlen, die sich in meiner Papiertüte befanden. Wie erbärmlich. Wie ich darauf gekommen bin? Ganz einfach. Alle anderen bekamen Nachrichten. Alle! Für die banalsten Dinge. Man brauchte nur zum Friseur zu gehen, schon hatte man einen Haufen Zettel in seiner Tüte. Und es gab einige Leute in der Klasse, die ich als meine Freunde betrachtete, die mit Sicherheit einen Zettel in meine Tüte getan haben, nachdem ich mir den Großteil meiner Haare abgeschnitten hatte. Als ich sie zum ersten Mal auf dem Flur gesehen habe mit so viel kürzeren Haaren, wäre mir fast die Kinnlade heruntergefallen. Sie wandte den Kopf ab. Aus Gewohnheit versuchte sie, 140
sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, aber dazu waren sie viel zu kurz geworden. Wenn ich näher darüber nachdenke, dann habe ich mir die Haare genau an dem Tag abgeschnitten, an dem ich mich mit Marcus Cooley im Rosie’s getroffen habe. Ist das nicht verrückt? All die Warnhinweise, über die sie uns aufgeklärt haben, die gibt es wirklich. Vom Rosie’s ging ich direkt zum Friseur. Ich brauchte eine Veränderung, genau wie sie es beschrieben haben, also veränderte ich mein Aussehen. Das Einzige, worüber ich noch Kontrolle hatte. Erstaunlich. Sie macht eine Pause. Stille. Nur ein leises Rauschen ist zu hören. Ich wette, die Schulpsychologen haben jede Menge Material darüber, wie sie Schüler erkennen, die möglicherweise in Erwägung ziehen... Erneute Pause. Nein... wie ich schon sagte... ich kann das Wort nicht aussprechen. Selbstmord. Ein schreckliches Wort. Als meine Tüte am nächsten Tag immer noch leer war, wusste ich, dass hier etwas faul war. Zumindest vermutete ich es. In den ersten Monaten dieses Kurses hatte ich vier oder fünf Nachrichten bekommen. Doch plötzlich, nach dem auffälligen Haarschnitt... nichts! Ich wartete eine Woche. Zwei Wochen. Drei Wochen. Immer noch nichts. Ich schiebe mein Glas quer über die Theke und schaue zum Mann hinüber, der an der Kasse steht. »Können Sie das nehmen?« Es war höchste Zeit herauszufinden, was hier eigentlich vor sich ging. Also schrieb ich mir selbst eine Nachricht. 141
Er wirft mir einen strengen Blick zu, während er das Wechselgeld zählt. Die Bedienung schaut mich vielsagend an und deutet auf ihre Ohren. Der Kopfhörer. Ich spreche zu laut. »Entschuldigung«, flüstere ich. Vielleicht bin ich aber auch gar nicht zu hören. »Hannah«, schrieb ich. »Ich mag deine neue Frisur. Tut mir leid, dass ich mich nicht schon eher gemeldet habe.« Ergänzt habe ich die Nachricht durch ein rotes Smiley. Dabei gesehen zu werden, wie ich mir selbst eine Nachricht zukommen ließ, wäre natürlich eine riesige Blamage gewesen. Also hinterließ ich auch eine Nachricht in der Tüte, die sich direkt neben meiner befand. Nach der Stunde ließ ich demonstrativ einen Zettel in dieser Tüte verschwinden, während ich gleichzeitig so tat, als würde ich überprüfen, ob ich selbst eine Nachricht bekommen hätte. Natürlich wusste ich, dass meine Tüte leer war. Genau wie am nächsten Tag. Meine Nachricht war verschwunden. Vielleicht hast du das nur als kleinen Scherz betrachtet, Zach. Doch ich hoffe, dass du jetzt besser verstehst, was du getan hast. Ich war dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und hätte ein paar aufmunternde Botschaften dringend benötigt. Sie hätten mich vielleicht mit ein wenig Hoffnung erfüllt. Aber du hast mir diese Hoffnung genommen. Du meintest, ich hätte sie nicht verdient. Je länger ich den Kassetten zuhöre, desto besser glaube ich, sie zu kennen. Nicht die Hannah der vergangenen Jahre, sondern die der letzten Monate. Das ist die Hannah, die ich zu verstehen beginne. Hannah, wie sie am Ende war. Das letzte Mal, dass ich mich einem Menschen so nahe gefühlt habe - einem Menschen, der nicht mehr lange zu leben 142
hatte -, war am Abend der Party. Der Abend, an dem ich sah, wie zwei Autos auf einer dunklen Kreuzung zusammenstießen. Auch damals wusste ich nicht, dass der Mensch sterben würde. Auch damals waren jede Menge Leute in der Nähe. Aber was hätten sie tun können? Die Leute, die um das Auto herumstanden, versuchten, den verletzten Mann zu beruhigen, und warteten auf den Krankenwagen. Was hätten sie sonst tun sollen? Und all die Leute, die Hannah auf den Fluren sahen oder im Klassenzimmer neben ihr saßen, was hätten sie tun sollen? Vielleicht war es schon damals zu spät, so wie jetzt. Wie viele Zettel hast du mir gestohlen, Zach? Wie viele Nachrichten, die ich nie zu lesen bekam? Hast du sie gelesen? Ich hoffe es. Dann weiß zumindest irgendjemand, was andere von mir denken. Ich blicke mir verstohlen über die Schulter. Tony ist immer noch da, mampft seine Pommes und füllt seinen Hamburger mit mehr Ketchup. Zugegeben, an Diskussionen im Unterricht habe ich mich nie groß beteiligt. Doch wenn ich es einmal tat, dann hätte ich doch gern gewusst, ob mir jemand daraufhin eine Nachricht geschrieben hat. Das hätte mich ermutigt, mich noch mehr zu öffnen. Das ist nicht fair. Wenn Zach gewusst hätte, was Hannah gerade durchmachte, dann hätte er niemals die Nachrichten gestohlen, die für sie bestimmt waren. An dem Tag, an dem meine selbst geschriebene Nachricht verschwunden war, stand ich vor der Tür des Klassenzimmers und begann ein Gespräch mit einem Mädchen, mit dem ich vorher noch nie gesprochen hatte. Alle paar Sekunden schaute ich über ihre Schulter hinweg und beobachtete meine Mitschüler dabei, wie sie die Zettel aus ihren Tüten holten. Sie schienen viel Spaß dabei zu haben, Zach. 143
Und dann habe ich dich erwischt. Mit einem einzigen Finger öffnetest du meine Tüte einen Spaltbreit, um hineinblicken zu können. Nichts. Dann hast du dich umgedreht und bist weggegangen, ohne einen Blick in deine eigene Tüte zu werfen, was ich sehr aufschlussreich fand. Der Barkeeper nimmt mein Glas und wischt den Tresen mit einem schokoladeverschmierten Lappen ab. Natürlich beweist das gar nichts. Vielleicht wolltest du nur wissen, wer alles Nachrichten bekommen hat... und wer nicht. Und natürlich warst du besonders an mir interessiert. Am nächsten Tag bin ich dann während der Mittagspause in Mrs Bradleys Klassenzimmer gegangen. Ich löste meine Papiertüte vom Ständer, befestigte sie dann lose mit einem winzigen Klebestreifen und legte einen zusammengefalteten Zettel hinein. Als die Stunde vorbei war, postierte ich mich erneut an der Tür und ließ den Ständer nicht aus den Augen. Diesmal sprach ich mit niemandem, sondern konzentrierte mich ganz auf meine Beobachtung. Perfekt eingefädelt. Du berührtest den Rand meiner Tüte, hast den Zettel gesehen und wolltest ihn herausholen. Als die Tüte auf den Boden fiel, bist du knallrot geworden. Trotzdem hast du dich gebückt und sie aufgehoben. Und meine Reaktion? Ich konnte es nicht glauben. Ich meine... ich hab es gesehen... und hab ja auch nichts anderes erwartet. Trotzdem war ich wie vor den Kopf gestoßen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dich sofort zur Rede zu stellen. Doch stattdessen machte ich auf dem Absatz kehrt und lief aus der Tür. Du kamst sofort hinter mir hergerannt und plötzlich standen wir uns direkt gegenüber. Meine Augen brannten, als ich dich 144
anstarrte. Dann ließ ich den Kopf sinken... und du bist verschwunden. Sie wollte keine Erklärung von ihm. Es gab keine Erklärung. Ich sah dich am Ende des Flurs davoneilen, mit gesenktem Kopf, als würdest du etwas lesen. Meinen Zettel? Ja. Ganz kurz hast du dich umgedreht, weil du wissen wolltest, ob ich dir nachschaue. Vor diesem Moment hatte ich am meisten Angst. Würdest du zu mir kommen und mich um Entschuldigung bitten? Mir etwas zurufen? Doch nichts dergleichen. Du bist rasch weitergegangen, dem Ausgang entgegen, um mir zu entkommen. Und während ich immer noch auf dem Flur stand - vollkommen allein - und zu verstehen versuchte, was gerade geschehen war, da erkannte ich plötzlich die Wahrheit: Ich war es nicht wert, irgendetwas erklärt zu bekommen. Noch die kleinste Reaktion war zu schade für mich. Zumindest war das deine Meinung, Zach. Sie hält einen Moment inne. Damit auch alle anderen Bescheid wissen, die diese Kassette hören: Ich hatte meinen Zettel namentlich an Zach adressiert. Vielleicht betrachtet er ihn heute als Vorläufer dieser Kassetten. Denn auf diesem Zettel hatte ich erstmals eingestanden, mich an einem Punkt meines Lebens zu befinden, an dem ich ein wenig Zuspruch und Aufmunterung dringend nötig gehabt hätte. Aufmunterung, die er mir gestohlen hat. Ich knabbere an meinem Daumen, um dem Drang zu widerstehen, zu Tony hinüberzublicken. Fragt er sich, was ich mir da anhöre? Interessiert es ihn überhaupt? Ich konnte die ganze Situation nicht länger verkraften. Zach war nicht der Einzige, an dem etwas nagte. Ich rief hinter ihm her: »Warum?« Im Flur waren immer noch ein paar Leute, die gerade die Klassenzimmer wechselten. Alle zuckten zusammen. Doch nur 145
einer blieb stehen. Du hast mich angesehen und meinen Zettel in deine Hosentasche gestopft. Immer und immer wieder schrie ich dieses eine Wort, während mir Tränen über das Gesicht liefen. »Warum? Warum, Zach?« Ich habe davon gehört. Hannah soll ohne ersichtlichen Grund völlig ausgeflippt sein. Soll sich vor anderen Schülern total blamiert haben. Aber sie haben sich getäuscht. Es gab einen Grund. Ich werde euch was sehr Persönliches verraten: Ich weiß, dass meine Eltern mich lieben. Aber das Leben war in letzter Zeit nicht ganz einfach. Ungefähr seit einem Jahr. Seit dieses Riesending - na, ihr wisst schon - vor den Toren der Stadt geöffnet hat. Ja, ich kann mich daran erinnern. Hannahs Eltern waren zu dieser Zeit ständig in den Lokalnachrichten zu sehen und warnten vor dem neuen Einkaufszentrum, das viele Geschäfte in der Innenstadt in den Ruin treiben würde. Sie sagten, dass dann niemand mehr dort einkaufen würde. Zu dieser Zeit kam ich an meine Eltern kaum noch heran. Plötzlich gab es so viele andere Dinge, die sie im Kopf hatten. Sie sprachen zwar noch mit mir, aber es war nicht mehr dasselbe wie früher. Meine Mutter hat nicht mal bemerkt, dass ich mir die Haare abgeschnitten hatte. Und ob es jemand in der Schule bemerkt hat, weiß ich auch nicht. Danke, Zach! Ich habe es bemerkt. Auch Mrs Bradley hatte eine Papiertüte, die an dem Buchständer befestigt war. Sie hat uns ermuntert, ihr ein Feedback über ihren Unterricht zukommen zu lassen. Sie wollte auch, dass wir ihr Themen für den weiteren Unterricht vorschlugen. 146
Ich habe ihr Angebot angenommen und ihr Folgendes geschrieben: »Selbstmord. Das ist etwas, worüber ich nachdenke. Nicht besonders ernst, aber ich habe darüber nachgedacht.« Das war meine Nachricht. Wortwörtlich. Ich weiß den Wortlaut noch ganz genau, weil ich den Zettel x-mal geschrieben habe, ehe ich ihn endlich in ihre Tüte steckte. Ich habe ihn geschrieben und weggeworfen, erneut geschrieben, zerknüllt und weggeworfen und so weiter... Aber wozu das Ganze? Das habe ich mich mit jedem neuen Zettel gefragt. Außerdem war es eine Lüge. Ich hatte noch nie daran gedacht. Nicht wirklich. Nicht im Detail. Der Gedanke war mir irgendwie durch den Kopf gegangen, doch ich wollte nichts von ihm wissen. Habe ihn weit von mir fortgeschoben. Im Unterricht haben wir nie über dieses Thema gesprochen. Doch war ich sicher, dass sich schon einige mit diesem Thema beschäftigt hatten. Warum also sollten wir nicht in der Gruppe darüber diskutieren? Vielleicht steckte aber auch etwas anderes dahinter. Vielleicht wollte ich, dass sie herausfand, wer diesen Zettel geschrieben hatte, und mir zu Hilfe kam. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich habe stets darauf geachtet, nicht zu viel von mir preiszugeben. Die kurzen Haare. Deine ausweichenden Blicke auf dem Flur. Du warst vorsichtig, doch es gab Zeichen. Kleine Zeichen zwar, doch sie waren da. Und dann hast du dich plötzlich gewehrt. Nur dir habe ich mich geöffnet, Zach. Du hast gewusst, dass ich Mrs Bradley diesen Zettel geschrieben habe. Du musst es gewusst haben. Einen Tag nachdem ich dich erwischt habe, hat sie ihn gelesen. Einen Tag nachdem ich den Zusammenbruch auf dem Flur hatte. Wenige Tage bevor sie die Tabletten nahm, war Hannah wieder ganz die Alte. Sie grüßte jeden, dem sie begegnete. Sie 147
sah uns in die Augen. Das war mehr als erstaunlich, weil sie sich seit Monaten nicht mehr so verhalten hatte. Wie die richtige Hannah. Aber du hast nichts getan, Zach. Selbst als Mrs Bradley das Thema zur Sprache brachte, hast du nichts unternommen. Eine wirklich drastische Veränderung. Was wollte ich von der Klasse? Ich wollte hören, was die Leute zu sagen hatten. Ich wollte die Gedanken und Gefühle jedes Einzelnen kennen. Und was ich alles zu hören bekam! Einer sagte, es sei schwierig, jemandem zu helfen, solange man nicht weiß, warum er sich umbringen will. Ich verkniff mir den Hinweis, dass es ja auch ein Mädchen sein könnte. Dann beteiligten sich immer mehr an der Diskussion. »Wenn er einsam ist, könnten wir uns beim Lunch zu ihm setzen.« »Wenn’s an den Noten liegt, könnten wir ihm Nachhilfe geben.« »Wenn es Schwierigkeiten zu Hause gibt, könnten wir... vielleicht irgendwie vermitteln.« Doch alles, was sie sagten - absolut alles -, zeigte einen gewissen Widerwillen, sich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen. Dann sprach ein Mädchen aus, was alle dachten: »Mir scheint, dass die Person sich nur wichtigmachen will. Wenn sie es ernst meinte, dann würde sie auch ihren Namen sagen.« Oh Gott! Es wäre total sinnlos gewesen, wenn sich Hannah der Klasse geöffnet hätte. Ich konnte es nicht glauben. Schon früher hatte Mrs Bradley einen Haufen Themenvorschläge in ihrer Tüte gefunden. Wir haben daraufhin über Abtreibung, Gewalt in der Familie und Aufrichtigkeit in Beziehungen diskutiert. Keiner hat sich je darum gekümmert, von 148
wem der Vorschlag gekommen war. Doch anscheinend hatte niemand Lust, ohne konkreten Anlass über Selbstmord zu sprechen. Ungefähr zehn Minuten lang hat Mrs Bradley ein paar Statistiken heruntergeleiert - lokale Statistiken -, die uns alle überraschten. Wenn es um Jugendliche geht, sagte sie, würden die Zeitungen meist nicht darüber berichten, es sei denn, der Selbstmord habe an einem öffentlichen Ort stattgefunden und es gebe Zeugen dafür. Denn die Eltern wollen natürlich verheimlichen, wenn sich ihr Kind - das Kind, das sie großgezogen haben - das Leben genommen hat. Oft wird der Anschein erweckt, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Die Kehrseite ist, dass niemand genau weiß, was in der eigenen Umgebung wirklich vor sich geht. Trotzdem kam in unserer Klasse keine richtige Diskussion in Gang. Wollten sie ihre Nase einfach gerne in die Angelegenheiten anderer Leute stecken, oder glaubten sie wirklich, nur dann helfen zu können, wenn sie die Einzelheiten kannten? Ich weiß es nicht. Vielleicht beides. Während der ersten Stunde bei Mr Porter habe ich sie beobachtet. Wenn das Thema Selbstmord zur Sprache gekommen wäre, hätten wir vielleicht Blickkontakt bekommen und ich hätte in ihren Augen lesen können. Und ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht, was sie hätten sagen können, um mich irgendwie zu beeinflussen. Vielleicht war ich ja wirklich zu egozentrisch. Vielleicht wollte ich bloß im Mittelpunkt stehen. Vielleicht wollte ich nur, dass die anderen über mich und meine Probleme diskutierten. Gemessen an dem, was sie mir auf der Party gesagt hat, hätte sie sich gewünscht, dass ich ihre Probleme erkenne. Sie hätte mich direkt angesehen und inständig gehofft, dass ich sie erkenne. 149
Vielleicht habe ich mir aber auch gewünscht, dass jemand mit dem Finger auf mich zeigt und fragt: »Spielst du etwa mit dem Gedanken, dich umzubringen, Hannah? Bitte tu das nicht, Hannah! Bitte!« Doch in Wahrheit war ich die Einzige, die diese Worte ausgesprochen hat. Tief in meinem Inneren habe ich sie an mich selbst gerichtet. Am Ende der Stunde teilte Mrs Bradley eine Broschüre aus mit dem Titel: Die Warnsignale suizidgefährdeter Menschen. Und jetzt ratet mal, was zu den Top Five gehörte! »Eine plötzliche Veränderung des äußeren Erscheinungsbilds.« Ich fuhr mir durch meine kurz geschorenen Haare. Wer hätte gedacht, dass mein Verhalten so vorhersehbar ist?
Indem ich die Wange gegen meine Schulter presse, sehe ich aus dem Augenwinkel heraus, dass Tony immer noch in seiner Nische sitzt. Sein Hamburger ist ebenso verschwunden wie ein Großteil seiner Pommes. Er hat nicht den kleinsten Schimmer, was ich hier durchmache. Ich öffne den Walkman, ziehe Kassette Nummer vier heraus und drehe sie um.
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KASSETTE 4: SEITE B Hättet ihr gern die Fähigkeit, die Gedanken der anderen hören zu können? Natürlich! Jeder beantwortet diese Frage mit Ja, ohne näher darüber nachzudenken. Was wäre zum Beispiel, wenn andere eure Gedanken hören könnten? Wenn sie euch beim Denken belauschen könnten... in diesem Moment? Verwirrung und Niedergeschlagenheit. Davon würden sie hören. Auch von Zorn. Sie würden hören, wie mir die Worte eines toten Mädchens durch den Kopf gehen. Eines Mädchens, das mich aus unerfindlichen Gründen für ihren Selbstmord verantwortlich macht. Manchmal haben wir Gedanken, die wir selbst nicht verstehen. Gedanken, die nicht aufrichtig sind. Die nicht unsere wahren Gefühle wiedergeben, die uns aber trotzdem beschäftigen, weil sie so interessant sind. Ich drehe den silbernen Serviettenhalter so weit, bis sich Tony in dessen glänzender Oberfläche spiegelt. Er lehnt sich zurück und wischt sich die Hände an einer Serviette ab. Wenn man andere beim Denken belauschen könnte, würde man einiges hören, das wahr ist, und anderes, das mit der Wahrheit nicht das Geringste zu tun hat. Doch man könnte beides nicht voneinander unterscheiden. Die Frage, was wahr ist und was nicht, würde einen in den Wahnsinn treiben. Unzählige Gedanken und Vorstellungen, deren Sinn dir verschlossen bleibt. Ich weiß nicht, was Tony gerade denkt. Er hat keine Vorstellung davon, was mich hier beschäftigt. Und natürlich hat er keine Ahnung, dass es Hannahs Stimme ist, die aus seinem Kopfhörer dringt. 151
Das liebe ich so sehr an Gedichten. Je abstrakter sie sind, desto besser. Wenn man nicht weiß, wovon der Dichter überhaupt spricht. Du hast eine Idee, bist dir aber nicht sicher. Jedes so sorgsam gewählte Wort kann die verschiedensten Bedeutungen haben. Wird es einfach symbolhaft verwendet oder gehört es zu einer größeren versteckten Metapher? Das ist jetzt schon die achte Person, Hannah. Wenn es um Gedichte geht, dann kann ich nicht gemeint sein. Und es bleiben nur noch fünf Namen. Ich habe Lyrik immer gehasst, bis mich jemand auf den Geschmack gebracht hat. Er sagte mir, ich solle ein Gedicht zunächst als Rätsel betrachten. Der Leser hat die Aufgabe, den Code beziehungsweise die Bedeutung der Wörter zu entschlüsseln, und das tut er, indem er sein ganzes Wissen über das Leben und über Gefühle zur Geltung bringt. Ist Rot ein Symbol für Blut? Zorn? Lust? Oder hat die Schubkarre im Gedicht nur deshalb eine rote Farbe, weil »rot« besser klingt als »schwarz«? Ich erinnere mich an das Gedicht. Wir haben es mal im Englischunterricht behandelt. Es gab eine große Diskussion darüber, was das Rot bedeuten sollte. Was dabei am Ende herausgekommen ist, habe ich vergessen. Dieselbe Person, die mir die Schönheit von Gedichten gezeigt hatte, hat mir auch die Freude am Schreiben von Lyrik vermittelt. Ganz ehrlich - es gibt keine bessere Art, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als durch Gedichte. Oder Kassetten. Wenn du wütend bist, brauchst du kein Gedicht zu schreiben, das den Anlass deiner Wut behandelt. Aber es muss ein wütendes Gedicht sein. Also los... fangt an zu schreiben! Ich weiß, dass ihr zumindest ein bisschen wütend auf mich seid. Und wenn ihr damit fertig seid, dann versucht, es zu entschlüsseln, als wäre es ein Gedicht, das ihr gerade in einem Schulbuch entdeckt habt und über dessen Autor ihr nichts 152
wisst. Das kann zu erstaunlichen... und beunruhigenden Ergebnissen führen. Aber es ist immer noch billiger als eine Therapie. Vielleicht hätte eine Therapie dir geholfen, Hannah. Ich habe mir ein Notizbuch gekauft, in das ich all meine Gedichte schreibe. An mehreren Tagen die Woche gehe ich nach der Schule ins Monet’s und schreibe ein, zwei Gedichte. Meine ersten Versuche waren bescheiden. Weder besonders tiefsinnig noch subtil, sondern frei von der Leber weg. Aber etwas habe ich doch zustande gekriegt. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Ohne dass ich mir besondere Mühe gegeben hätte, konnte ich das erste Gedicht aus meinem Notizbuch bald auswendig. Und bis heute ist es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, sosehr ich es auch versucht habe. Hier ist es also, zu eurem Vergnügen... oder eurer Belustigung: Wäre meine Liebe ein Meer es gäbe kein Land wäre sie eine Wüste sähe man nichts als Sand wäre meine Liebe ein Stern hoch am Himmelszelt dann strahlte der Himmel bis ans Ende der Welt Ihr könnt ruhig lachen. Aber wenn das Gedicht auf einer Glückwunschkarte stände, würdet ihr sie bestimmt kaufen. Tief in meiner Brust spüre ich einen plötzlichen Schmerz. Das Wissen, dass ich später ins Monet’s gehen und Gedichte schreiben würde, machte die Tage für mich erträglicher. Wenn etwas Lustiges, Schreckliches oder Schmerzhaftes geschah, dann dachte ich daran, dass daraus ein faszinierendes Gedicht entstehen könnte. 153
Über meine Schulter hinweg sehe ich, dass Tony hinausgeht. Wie merkwürdig. Warum hat er sich nicht von mir verabschiedet? Ich betrachte diese Kassetten als eine Art poetische Therapie. Durch das große Fenster sehe ich, wie Tony ins Auto steigt. Indem ich euch diese Geschichten erzähle, wird mir vieles klar. Einiges über mich selbst, doch auch über euch. Über euch alle. Die Scheinwerfer blenden auf. Und je näher wir dem Ende kommen, desto mehr Zusammenhänge fallen mir auf. Tiefe Zusammenhänge. Manche, von denen ich erzählt habe, verbinden die einzelnen Geschichten miteinander. Von anderen habe ich euch noch gar nicht erzählt. Der Mustang zittert, als Tony den Motor startet. Dann setzt er langsam zurück. Vielleicht habt ihr ja Verbindungen entdeckt, die mir noch verborgen sind. Vielleicht seid ihr der Dichterin einen Schritt voraus. Nein, Hannah. Ich komme kaum noch mit. Und wenn ich meine letzten Worte sage... zumindest die letzten Worte auf dieser Kassette... wird es eine dichte, vielschichtige, emotionale Zusammenballung von Wörtern sein. Anders ausgedrückt, ein Gedicht. Tonys Auto durch die Fensterscheibe zu betrachten, ist so, als würde man einen Film sehen, in dem der Mustang langsam von der Bildfläche verschwindet. Doch statt allmählich zu verblassen, während er zurücksetzt, erlöschen die Scheinwerfer plötzlich. Als hätte er sie ausgeschaltet. Wenn ich zurückblicke, wird mir klar, dass ich in dem Moment mit dem Schreiben aufgehört habe, in dem ich kein Interesse mehr an mir selbst hatte. 154
Sitzt er in seinem Auto und wartet? Warum? Wenn du ein Lied hörst, das dich zum Weinen bringt, du aber nicht weinen willst, dann hörst du es eben nicht mehr. Doch man kann nicht vor sich selbst davonlaufen. Man kann nicht beschließen, den Kontakt zu sich abzubrechen. Man kann den Lärm in seinem Kopf nicht zum Stillstand bringen.
Nachdem Tony seine Schweinwerfer ausgeschaltet hat, ist das Schaufenster des Rosies’s nur noch eine schwarze Fläche. Gelegentlich zieht in der Ferne ein schwaches Licht vorüber, wenn jenseits des Parkplatzes ein Auto die Straße entlangfährt. Die einzige beständige Lichtquelle befindet sich, von mir aus gesehen, in der oberen rechten Ecke. Die Spitze des Crestmont-Schriftzugs überragt alle Nachbargebäude und verleiht der gesamten Umgebung einen rosa-bläulichen Schimmer. Was würde ich darum geben, den letzten Sommer noch einmal erleben zu dürfen. Wenn ich mit Hannah allein war, fiel es mir leicht, mit ihr zu reden. Man konnte so gut lachen mit ihr. Doch wann immer andere Leute in unserer Nähe auftauchten, wurde ich unsicher und zog mich zurück. Wusste nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte. Wenn ich in dem winzigen Kassenhäuschen saß, konnte ich mit meinen Kollegen nur über ein rotes Telefon kommunizieren. Man musste einfach den Hörer abheben, ohne auf irgendwelche Knöpfe zu drücken. Doch wann immer ich es tat und Hannah sich meldete, wurde ich nervös. Als würde ich sie von zu Hause anrufen, statt in Wahrheit nur wenige Schritte von ihr entfernt zu sein. »Ich brauche Wechselgeld«, sagte ich dann. »Schon wieder?«, entgegnete sie. Stets glaubte ich, ein unterdrücktes, freundliches Lachen in ihrer Stimme wahrzuneh155
men. Und jedes Mal stieg mir vor Scham die Wärme ins Gesicht. Denn offen gestanden habe ich auffällig oft angerufen, wenn wir zusammen gearbeitet haben. Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich ein Klopfen an meiner Tür hörte. Ich zog mein T-Shirt glatt und öffnete. In quälender Langsamkeit schlängelte sie sich mit einer Geldkassette zu mir herein, um mir ein paar Scheine klein zu machen. Und manchmal, wenn abends nur wenig los war, setzte sie sich auf meinen Stuhl und sagte, ich solle die Tür schließen. Wann immer sie das sagte, hatte ich Mühe, meine Phantasie im Zaum zu halten. Denn obwohl wir in dem verglasten Kassenhäuschen so exponiert waren wie Jahrmarktsattraktionen und obwohl sie es nur sagte, weil wir ausdrücklich angewiesen waren, die Tür stets geschlossen zu halten, hätte in dem beengten Raum theoretisch alles passieren können. Das habe ich mir jedenfalls gewünscht. Diese Momente, so kurz und selten sie auch waren, versetzten mich stets in ein Hochgefühl. Hannah Baker verbrachte ihre freien Minuten freiwillig mit mir! Und weil das während der Arbeitszeit geschah, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, darin etwas Besonderes zu sehen. Aber warum wollte ich überhaupt, dass sich niemand etwas dabei dachte? Am liebsten wollte ich mir den Anschein geben, als hätte ich nur ein ganz normales Arbeitsverhältnis zu ihr. Warum? Weil Hannah einen Ruf hatte, der mir Angst machte. Diese Erkenntnis gewann ich erst vor wenigen Wochen auf einer Party, als ich Hannah direkt gegenüberstand. Ein erstaunlicher Moment, in dem sich plötzlich alles zusammenfügte. Als ich ihr in die Augen blickte, musste ich ihr einfach die Wahrheit sagen. Ich sagte ihr, wie leid es mir täte, ihr so lange meine wahren Gefühle verschwiegen zu haben.
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Für einen kurzen Moment war ich in der Lage, es einzugestehen. Ihr gegenüber. Mir selbst gegenüber. Doch habe ich dieses Eingeständnis nie wiederholt. Bis jetzt nicht. Doch jetzt ist es zu spät. Deshalb empfinde ich, genau in diesem Moment, so viel Selbsthass. Ich verdiene es, auf dieser Liste zu sein. Denn wäre ich nicht so ängstlich gewesen, hätte ich ihr gesagt, dass sie mir etwas bedeutet. Dann wäre Hannah vielleicht noch am Leben. Ich wende meinen Blick vom leuchtenden Schriftzug ab.
Auch weiterhin bin ich manchmal ins Monet’s gegangen, um eine heiße Schokolade zu trinken, meine Hausaufgaben zu machen oder zu lesen. Aber Gedichte habe ich nicht mehr geschrieben. Ich brauchte eine Pause...von mir selbst. Ich streiche mit der Hand über meinen Nacken. Die feinen Härchen sind schweißnass. Obwohl ich Gedichte liebe. Das Schreiben hat mir gefehlt. Und nach mehreren Wochen beschloss ich, doch wieder damit anzufangen. Meine eigenen Gedichte sollten mich fröhlich machen. Fröhliche Gedichte sollten es werden. Helle, sonnendurchflutete Gedichte. So heiter und unbeschwert wie die beiden Frauen, die auf dem Flyer des Monet’s abgebildet sind. Es gab damals einen Kurs mit dem Titel »Lyrik: Die Kunst, das Leben zu lieben«. Der Kurs wollte nicht nur die Liebe zur Lyrik fördern, sondern den Teilnehmern vor allem zeigen, wie man mithilfe der Lyrik die Liebe zu sich selbst neu entdecken kann. Natürlich habe ich mich sofort angemeldet! 157
D7 auf eurer Karte. Der Seminarraum der städtischen Bibliothek. Es ist zu dunkel, um jetzt dorthin zu gehen. Weil der Lyrikkurs in dem Moment begann, in dem die letzte Schulstunde beendet war, bin ich immer sofort zur Bibliothek rübergerast, um nicht zu spät zu kommen. Doch selbst wenn ich zu spät kam, schienen alle froh über mein Erscheinen zu sein, weil ich den Kurs um die »weibliche Teenie-Perspektive« erweiterte, wie sie sich ausdrückten. Als ich mich umblicke, bemerke ich, dass ich der letzte Gast im Rosie’s bin. In dreißig Minuten machen sie zu. Und obwohl ich nichts mehr esse oder trinke, hat mich der Barkeeper immer noch nicht zum Gehen aufgefordert. Also bleibe ich noch ein bisschen. Stellt euch zehn bis zwölf orangefarbene Stühle vor, die im Halbkreis um einen weiteren Stuhl angeordnet sind, auf dem die eine heitere Frau von dem Flyer sitzt. Von Heiterkeit war bei ihr allerdings nichts zu spüren. Wer auch immer den Flyer hergestellt hat, muss ihre hängenden Mundwinkel digital nach oben gezogen haben. Sie schrieben über den Tod. Über die Bosheit der Männer. Und über den Untergang der Erde. Ich zitiere: »... dieses grünblauen Gestirns mit seinen weißen Strähnen.« So hat jemand die Erde beschrieben, ganz im Ernst. Und sie dann als »schwangeren, gasförmigen Alien« bezeichnet, der eine »Abtreibung« braucht. Noch ein Grund, warum ich Gedichte hasse. Wer sagt schon »Gestirn« statt »Planet«? »Ihr müsst euch öffnen, euch entblößen«, sagte die Kursleiterin. »Zeigt mir eure dunkle Tiefe!« Meine dunkle Tiefe? Wer sind Sie? Meine Gynäkologin? Hannah!
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Oft war ich schon drauf und dran zu fragen, wann wir endlich zum Fröhlichen und Heiteren kommen würden. Zur Liebe zum Leben. So hieß der Kurs und deshalb war ich dort. Letztendlich bin ich nur dreimal da gewesen. Doch etwas ist doch dabei herausgekommen. Etwas Gutes? Nein. H... schwer zu sagen. Es war nämlich noch ein anderer Schüler in unserer Gruppe, dessen Blickwinkel von den älteren Dichtern bewundert wurde. Es war der Redakteur unserer Schülerzeitung. Ryan Shaver. Ihr wisst, von wem ich rede. Und du, Herr Redakteur, kannst es sicher kaum erwarten, deinen Namen aus meinem Mund zu hören. Also gut, Ryan Shaver. Die Wahrheit wird dich befreien. Das Motto der Schülerzeitung. Du weißt es bestimmt schon seit einiger Zeit, Ryan. Seit ich das erste Mal meine Gedichte erwähnt habe, wusstest du, dass dieses eine von dir handelte. Du musst es gewusst haben. Und trotzdem hast du sicher gedacht, es wäre keine große Sache. Kein Grund, dich auf diesen Kassetten zu erwähnen. Das Gedicht aus der Schule... Oh Gott, das stammte von Hannah. Ich hatte euch doch eine dichte, vielschichtige, emotionale Zusammenballung von Wörtern angekündigt. Ich schließe die Augen und bedecke sie mit meiner Hand. Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Kiefer schmerzen, damit ich nicht aufschreie. Oder in Tränen ausbreche. Ich will nicht, dass sie das liest. Ich will nicht hören, wie ihre Stimme dieses Gedicht vorträgt. Würdet ihr gern das letzte Gedicht hören, das ich geschrieben habe, bevor ich mich für immer von der Lyrik verabschiedet habe? Nein? 159
Ist okay. Ihr habt es ja sowieso schon gelesen. An unserer Schule ist es sehr beliebt. Ich gestatte meinen Lidern und meiner Kiefermuskulatur, sich zu entspannen. Das Gedicht. Wir haben im Englischunterricht darüber diskutiert. Und es mehrmals laut gelesen. Und Hannah hat das alles mitgekriegt. Ihr erinnert euch doch? Vielleicht nicht an jedes Wort, doch ihr wisst, wovon ich rede. Von Ryans halbjährlich erscheinender Schulzeitung »Verloren und Gefunden«, in der er die verschiedensten Gegenstände abbildet, die er auf dem Schulgelände entdeckt hat. Wie zum Beispiel einen achtlos weggeworfenen Liebesbrief, der niemals seinen Adressaten erreichte. Wenn Ryan ihn fand, dann strich er die Namen aus und scannte ihn ein, um ihn für die nächste Ausgabe seiner Zeitung in petto zu haben. Dasselbe hat er mit Fotos gemacht, die aus irgendwelchen Ordnern herausgerutscht waren. Oder mit dem Gekritzel, das ein gelangweilter Schüler im Geschichtsunterricht produziert hat. Viele werden sich bestimmt fragen, wie Ryan nur immer so viele interessante Gegenstände findet. Oder hat er sie am Ende gar nicht gefunden, sondern gestohlen? Nach einem unserer Lyrikkurse habe ich ihn das selbst gefragt. Und er hat mir versichert, dass ihm alles rein zufällig in die Hände fällt. Manchmal, sagte er, würden andere ihm auch gefundene Gegenstände in seinen Spind legen - Gegenstände, deren Echtheit er natürlich nicht hundertprozentig garantieren könne. Bei diesen Gegenständen mache er immer die Namen und Telefonnummern unkenntlich. Und Fotos könnten in der Regel gar nicht peinlich genug sein. Wenn er genug sonderbares Material für fünf, sechs Seiten zusammenhat, lässt er immer fünfzig Kopien machen, heftet sie 160
zusammen und verteilt sie irgendwo im Schulgebäude. Auf den Toiletten, in den Umkleideräumen, in den Gängen. »Nie zweimal am selben Ort«, hat er mir erzählt. Er findet es passend, wenn die Leute zufällig auf ein Heft stoßen, in dem zufällig gefundene Gegenstände abgebildet werden. Doch wisst ihr was? Mein Gedicht, das hat er mir gestohlen! Ich ziehe eine Serviette aus dem Halter und wische mit dem spröden Papier über meine Augen. Jede Woche saßen Ryan und ich nach dem Kurs auf den Stufen der Bibliothek und quatschten. Beim ersten Mal lachten wir nur über die selbst geschriebenen Gedichte, die von den übrigen Teilnehmern persönlich vorgetragen worden waren. Wir lachten darüber, wie schrecklich depressiv sie alle waren. »Und ich dachte, die Gedichte sollten uns fröhlich machen«, sagte er. Offenbar hatte er sich aus demselben Grund angemeldet wie ich. Ich schaue auf. Der Barkeeper knotet einen großen Müllsack zu. Feierabend. »Könnte ich ein Glas Wasser haben?«, frage ich. Nach dem zweiten Mal saßen wir erneut auf den Stufen und lasen einander unsere Gedichte vor. Gedichte, die wir in verschiedenen Situationen unseres Lebens geschrieben hatten. Er blickt mir in die Augen, während meine Haut Bekanntschaft mit der rauen Serviette macht. Doch es waren nur fröhliche Gedichte. Gedichte über die Liebe zum Leben. Gedichte, die wir diesen depressiven Dilettanten da drinnen niemals vorlesen würden. Und wir erklärten sie uns gegenseitig, Zeile für Zeile, was echte Dichter niemals tun würden. Nach dem dritten Mal nahmen wir all unseren Mut zusammen und tauschten unsere Notizbücher, in denen sämtliche Gedichte standen, die wir geschrieben hatten. Er schiebt mir ein Glas Eiswasser entgegen. Auf der langen Theke stehen nur noch das Glas und der Serviettenhalter. 161
Wow! Ich bin sicher, dass dich das genauso viel Überwindung gekostet hat wie mich, Ryan. Für die nächsten zwei Stunden saßen wir blätternd auf den Betonstufen, während die Sonne unterging. Weil er so eine Sauklaue hatte, brauchte ich länger, um seine Gedichte zu entziffern. Aber sie waren unglaublich gut. Viel tiefer als meine eigenen. Sie klangen wie richtige Lyrik. Professionelle Lyrik. Eines Tages werden die Schüler seine Gedichte interpretieren müssen. Meine Finger schließen sich um das kalte Glas. Natürlich hatte ich nur eine vage Vorstellung, was seine Gedichte bedeuten sollten. Doch die Emotionen, die sie hervorriefen, konnte ich absolut nachvollziehen. Die Atmosphäre war wunderschön. Ich fragte mich beschämt, was er gedacht haben mag, während er mein Notizbuch durchblätterte. Während ich seine Gedichte las, wurde mir auch klar, dass ich mir viel mehr Zeit für das Schreiben hätte nehmen sollen. Ich hätte mir mehr Zeit nehmen sollen, um bessere Wörter zu finden. Emotionalere Wörter. Doch eines meiner Gedichte hat ihn wirklich ergriffen. Er wollte mehr darüber erfahren, zum Beispiel wann ich es geschrieben hätte. Aber das habe ich ihm nicht erzählt. Statt das Wasser zu trinken, beobachte ich, wie ein Tropfen am Glas hinabrinnt und auf meinen Finger trifft. Ich schrieb es an demselben Tag, an dem sich mehrere Schüler darüber aufregten, dass jemand die Frechheit besaß, hinsichtlich seines Selbstmords um Hilfe zu bitten. Wisst ihr noch, warum sie sich so aufgeregt haben? Weil niemand seinen Namen unter die Notiz gesetzt hatte. Wie taktlos. Die war anonym. Genau wie das Gedicht, das in der Schulzeitung abgedruckt worden war. 162
Ryan wollte wissen, warum ich das Gedicht geschrieben hatte. In diesem Fall spricht das Gedicht für sich selbst, antwortete ich ihm. Doch wollte ich unbedingt wissen, wie er es verstand. Oberflächlich betrachtet, sagte er, ginge es um Akzeptanz. Darum, von meiner Mutter akzeptiert zu werden. Doch vor allem wolle ich ihr Einverständnis. Außerdem wünsche ich mir, von einem bestimmten Jungen nicht länger übersehen zu werden. Einem Jungen? Am Boden des Glases entsteht ein kleiner Wirbel. Ich trinke einen Schluck und lasse einen Eiswürfel in meinen Mund gleiten. Ich fragte ihn, ob er noch eine tiefere Bedeutung sehe. Ich behalte den Eiswürfel auf meiner Zunge. Er ist sehr kalt, doch ich will, dass er dort schmilzt. Eigentlich war das nur ein Scherz. Ich war meinem Gedicht ja schon völlig auf den Grund gegangen. Doch ich wollte wissen, was ein Lehrer von seinen Schülern erwarten würde, wenn sie mein Gedicht interpretierten. Weil Lehrer es in dieser Hinsicht immer übertreiben. Und du hast sie gefunden, Ryan. Die verborgene Bedeutung, die nicht einmal ich in meinem Gedicht entdeckt habe. Es ginge gar nicht um meine Mutter oder einen Jungen, hast du gesagt, sondern um mich. Ich hätte mir selbst einen Brief geschrieben - getarnt als Gedicht. Ich zuckte zusammen, als du mir das erzählt hast. Ich fühlte mich in die Defensive gedrängt und reagierte gereizt. Aber du hattest recht. Und verängstigt und traurig war ich nur wegen meiner eigenen Worte. Du sagtest, ich hätte das Gedicht geschrieben, weil ich mit mir selbst nicht zurechtkäme. Und die Vorwürfe an meine Mutter, mich nicht zu beachten und zu respektieren, seien nur ein 163
Vorwand, um diese Worte nicht an mich selbst richten zu müssen. »Und der Junge?«, fragte ich dich. »Was hat der zu bedeuten?« Ich bin gemeint. Oh, mein Gott. Jetzt weiß ich, dass sie von mir spricht. Ich halte mir die Ohren zu. Nicht um alle anderen Geräusche zu ersticken. Im Rosie’s ist es fast völlig still. Doch konzentriere ich mich ganz darauf, ihre Worte so zu empfinden, wie sie gemeint waren. Während ich auf deine Antwort wartete, suchte ich in meinem Rucksack nach Taschentüchern. Ich wusste, dass ich jeden Moment in Tränen ausbrechen konnte. Du hast mir gesagt, dass kein Junge mich so ignorieren könnte, wie ich mich selbst ignoriere. Das glaubtest du zumindest, herausgelesen zu haben. Und deshalb hattest du mich auch nach dem Gedicht gefragt. Du hattest das Gefühl, dass es noch tiefer reichte, als selbst du ergründen konntest. Du hattest recht, Ryan. Es hat eine noch viel tiefere Bedeutung. Doch wenn du das wusstest - wenn du das gedacht hast -, warum hast du dann mein Notizbuch gestohlen? Warum hast du das Gedicht, das du selbst »besorgniserregend« genannt hast, in der Schulzeitung abgedruckt? Wie konntest du zulassen, dass andere es lesen? Sie haben es nicht nur gelesen, sondern regelrecht zerpflückt. Sich darüber lustig gemacht. Ich habe es nicht verloren und du hast es nicht gefunden, Ryan. In deiner Sammlung hatte es nichts zu suchen. Aber genau dort sind alle daraufgestoßen. Lehrer haben es in ihrem Unterricht behandelt. Schüler haben es ausgeschnitten und nach seiner Bedeutung gesucht. In unserer Klasse ist niemand auch nur ansatzweise darauf gekommen, was es wirklich bedeutete. Doch wir dachten, wir hätten es entschlüsselt. Sogar Mr Porter. 164
Wisst ihr, was Mr Porter gesagt hat, bevor er mein Gedicht ausgeteilt hat? Er sagte, das Gedicht eines unbekannten Schülers sei wie das klassische Werk eines toten Dichters. Wie zutreffend. Schließlich konnte der Autor nicht nach dem wahren Sinn seines Erzeugnisses gefragt werden. Mr Porter machte eine kleine Pause, weil er vermutlich hoffte, dass sich der anonyme Autor doch noch zu seinem Werk bekennen würde. Was aber nicht geschah, wie ihr alle wisst. Doch jetzt wisst ihr Bescheid. Und für all diejenigen, die sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, lese ich es noch einmal vor. »Einsame Seele« von Hannah Baker. Du begegnest meinem Blick doch siehst mich nicht reagierst kaum, wenn ich hallo flüstere verwandte Seelen könnten wir sein Geschwister im Geiste wir werden es nie erfahren Meine eigene Mutter hast mich in dir getragen doch siehst nur mein Äußeres Leute fragen dich wie es mir geht du nickst lächelnd lass es nicht dabei bewenden Nimm mich unter Gottes Himmel sieh mich nicht nur mit den Augen nimm hinfort diese Hülle aus Fleisch und Knochen 165
und erkenne allein meine Seele Jetzt wisst ihr warum. Haben eure Lehrer das Gedicht gründlich interpretiert? Waren sie auf der richtigen Spur? Hattet ihr irgendeinen Hinweis, dass es von mir sein könnte? Ja, einige schon. Ryan muss es jemandem erzählt haben aus Stolz, dass sein »Fund« zum Unterrichtsthema wurde. Doch wenn Leute mich darauf ansprachen, stritt ich alles ab. Was manche richtig wütend machte. Einige von euch haben sogar Parodien auf mein Gedicht geschrieben, die sie mir vorlasen, um mich aus der Reserve zu locken. Ich war dabei. Zwei Mädchen haben solche Parodien im Klassenzimmer laut vorgelesen, bevor Mr Porter hereinkam. Das alles war so kindisch und dumm... und brutal. Sie waren unerbittlich. Eine ganze Woche lang haben sie jeden Morgen eine neue Parodie vorgelesen. Hannah hat sich nichts anmerken lassen und so getan, als würde sie lesen, während sie darauf wartete, dass Mr Porter endlich ins Klassenzimmer kam. Hört sich eigentlich alles halb so schlimm an, oder? Für euch vielleicht. Aber es bedeutete, dass die Schule für mich kein sicherer Ort mehr war. Nach deinen Fotoeskapaden, Tyler, konnte ich mich auch zu Hause nicht mehr sicher fühlen. Und jetzt waren sogar meine Gedanken der Lächerlichkeit preisgegeben. Als Hannah wieder einmal von den beiden Mädchen in Mr Porters Klasse provoziert wurde, hob sie ihren Kopf. Für einen kurzen Moment hatten wir Blickkontakt. Doch obwohl dies niemand mitbekam, wandte ich den Kopf ab. Ließ sie allein. Vielen Dank, Ryan. Du bist ein wahrer Poet. 166
Ich ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren und hänge mir den Kopfhörer um den Hals. »Ich weiß zwar nicht, was mit dir los ist«, sagt der Barkeeper, »aber ich will dein Geld nicht.« Er bläst in einen Strohhalm und kneift die beiden Enden zusammen. Ich schüttele den Kopf und greife zu meinem Portemonnaie. »Nein, nein, ich zahle.« Er dreht den Strohhalm immer enger zusammen. »Ich meine es ernst. Du hast ja nur einen Milkshake getrunken. Und wie ich schon sagte, ich weiß nicht, was mit dir los ist, und ich weiß auch nicht, wie ich dir helfen kann, doch offensichtlich hast du gerade irgendein Problem, also will ich, dass du dein Geld behältst.« Er sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass er es ernst meint. Abgesehen davon dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, ist mir die Kehle so zugeschnürt, dass ich kein Wort herausbekomme. Ich nicke ihm zu, schnappe mir meinen Rucksack und wechsele die Kassette, während ich zur Tür gehe.
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KASSETTE 5: SEITE A Die Glastür des Rosie’s schließt sich hinter mir. Unmittelbar darauf werden drei Riegel vorgeschoben. Wohin? Nach Hause? Zurück ins Monet’s? Oder doch zur Bibliothek? Ich könnte mich draußen auf die Stufen setzen und im Dunkeln die restlichen Kassetten anhören. »Clay!« Es ist Tonys Stimme. Helle Autoscheinwerfer leuchten dreimal auf. Tony streckt seine Hand aus dem Fenster und winkt mich zu sich herüber. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach oben und gehe zu ihm. Doch ich strecke meinen Kopf nicht zu ihm hinein. Mir ist nicht nach Reden zumute. Nicht jetzt. Tony und ich kennen uns schon seit Jahren, haben gemeinsam an verschiedenen Projekten gearbeitet und nach dem Unterricht herumgealbert. Doch in all der Zeit haben wir noch nie ein ernsthaftes Gespräch geführt. Jetzt fürchte ich, dass er genau das tun will. Er hat die ganze Zeit über in seinem Auto gesessen und gewartet. Was sollte er sonst wollen? Doch er sieht mich nicht an. Stattdessen justiert er mit dem Daumen den Seitenspiegel. Dann schließt er die Augen und lässt seinen Kopf nach vorne fallen. »Steig ein, Clay!« »Ist alles in Ordnung?« Nach einer kurzen Pause nickt er verhalten. Ich gehe um die Kühlerhaube herum, öffne die Beifahrertür und setze mich hin, wobei ich einen Fuß auf dem Asphalt lasse. Den Rucksack, in dem sich Hannahs Schuhkarton befindet, lege ich auf meinen Schoß. »Mach die Tür zu!«, sagt er. »Wo willst du hin?« »Keine Sorge. Mach einfach die Tür zu.« Er kurbelt seine Scheibe nach oben. »Kalt draußen.« Sein Blick wandert vom Armaturenbrett zum Radio und weiter zum Lenkrad. Aber er sieht mich nicht an. 168
Als ich die Tür schließe, legt er sofort los: »Du bist die neunte Person, der ich folgen musste.« »Wovon redest du?« »Vom zweiten Satz der Kassetten«, antwortet er. »Hannah hat nicht geblufft. Ich habe sie.« »Oh nein!« Ich halte mir beide Hände vors Gesicht. Das Pochen hinter den Augenbrauen ist wieder da. Ich presse meine Handfläche dagegen. »Ist schon okay«, sagt er. Ich kann ihn nicht ansehen. Was weiß er über mich? Was hat er gehört? »Was ist okay?« »Was hast du da drinnen angehört?« »Wie meinst du das?« »Welche Kassette?« Ich könnte alles abstreiten. So tun, als wisse ich nicht, wovon er redet. Oder einfach davonlaufen. Aber natürlich weiß er Bescheid. »Es ist okay, Clay! Ganz ehrlich. Welche Kassette?« Mit geschlossenen Augen drücke ich meine Knöchel gegen die Stirn. »Ryan«, sage ich. »Das Gedicht.« Dann schaue ich ihn an. Sein Kopf ist zurückgelehnt, seine Augen geschlossen. »Warum?«, frage ich. Keine Antwort. »Warum hast du die Kassetten bekommen?« Er berührt den Zündschlüssel. »Können wir fahren, während du dir die nächste Kassette anhörst?« »Erzähl mir erst, warum sie dir die Kassetten gegeben hat.« »Das sage ich dir, nachdem du die nächste Kassette gehört hast.« »Warum?« »Das ist kein Scherz, Clay. Hör sie dir einfach an.« »Dann antworte auf meine Frage.« »Weil es um dich geht, Clay.« Er lässt den Schlüssel los. »Die nächste Kassette handelt von dir.« 169
Nichts. Mein Herz bleibt ganz ruhig. Meine Augen zucken nicht. Ich halte die Luft an. Dann ramme ich plötzlich meinen Ellbogen mit voller Wucht gegen die Rückenlehne, traktiere die Tür und bin kurz davor, meinen Kopf gegen die Scheibe zu donnern. Doch stattdessen lasse ich ihn gegen die Rückenlehne fallen. Tony legt mir die Hand auf die Schulter. »Hör einfach zu«, sagt er. »Und bleib im Auto sitzen.« Er dreht den Zündschlüssel um. Ich wende ihm meinen Kopf zu, während mir Tränen über die Wangen laufen. Doch er blickt starr geradeaus. Ich öffne den Walkman und ziehe die Kassette heraus. Die fünfte Kassette. In der oberen Ecke steht eine blaue Neun. Meine Kassette. Ich bin die Nummer neun. Ich schiebe sie in den Walkman zurück, halte ihn mit beiden Händen und schließe ihn wie ein Buch. Tony legt den ersten Gang ein und lässt den Wagen über den Parkplatz rollen, der Straße entgegen. Ich schaue nicht nach unten, während mein Daumen nach dem Knopf tastet, der mich in die Geschichte zurückbringt.
Romeo, oh Romeo! Warum bist du, Romeo! Meine Geschichte. Meine Kassette. So fängt sie an. Gute Frage, Julia. Und ich wünschte, ich wüsste die Antwort. »Clay, es ist okay!«, ruft Tony mir zu. Um ganz ehrlich zu sein, gab es nie einen bestimmten Punkt, an dem ich zu mir sagte: Clay Jensen ist der einzig Richtige. Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, reicht aus, um meinem Herzen einen Stich zu geben und meinen Kopfschmerz zu verdoppeln. 170
Ich bin nicht einmal sicher, wie viel von dem wahren Clay Jensen ich im Lauf der Jahre kennengelernt habe. Denn das meiste über ihn habe ich aus zweiter Hand erfahren. Deshalb wollte ich ihn auch näher kennenlernen. Weil alles, was ich über ihn gehört habe - wirklich alles! -, positiv war. Das war so eine Sache, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekam, nachdem sie mir einmal aufgefallen war. Genauso erging es mir mit Kristen Rennert, die immerzu Schwarz trägt. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Schuhe. Und wenn sie als einziges schwarzes Kleidungsstück eine schwarze Jacke anhat, dann zieht sie die den ganzen Tag über nicht aus. Wenn man sie dann das nächste Mal sieht, fällt es einem natürlich auf. Und man wird in Zukunft nie wieder in der Lage sein, nicht daran zu denken. Ein anderes Beispiel: Steve Oliver. Jeder seiner Wortbeiträge im Unterricht beginnt mit »okay«. »Mr Oliver?« »Okay, wenn Thomas Jefferson ein Sklavenhalter war...« »Mr Oliver?« »Okay, ich habe 76,1225 herausbekommen.« »Mr Oliver?« »Okay, könnte ich mal kurz auf die Toilette?« Ganz im Ernst. Er sagt es immer. Und jetzt wird es auch euch auffallen. Ist mir schon aufgefallen, Hannah. Aber jetzt erzähl bitte weiter. Ich schnappte alles auf, was über Clay geredet wurde. Vermutlich wartete ich darauf, irgendwelche pikanten oder anstößigen Dinge zu erfahren. Nicht weil ich mich an dem Klatsch und Tratsch beteiligen wollte. Ich konnte nur einfach nicht glauben, dass jemand so gar keine negativen Eigenschaften haben sollte. Ich werfe Tony einen Blick zu und verdrehe die Augen. Doch er schaut weiter starr auf die Straße. 171
Wenn er tatsächlich so perfekt war, wie alle behaupteten... wunderbar! Großartig! Doch für mich persönlich wurde es eine Art Spiel: Wie lange würde es dauern, bis ich endlich mal etwas Negatives über Clay Jensen erfuhr? Wenn jemand einen solch untadeligen Ruf besitzt, dann gibt es immer andere, die nur darauf warten, ihn vom Sockel stoßen zu können. Doch nicht bei Clay. Erneut blicke ich zu Tony hinüber und diesmal grinst er vor sich hin. Ich hoffe, ihr nehmt das jetzt nicht zum Anlass, um nach irgendeinem schmutzigen Geheimnis bei ihm zu suchen. Ein oder zwei dunkle Flecken auf seiner Weste müssten sich doch finden lassen, oder? Ich kenne da so einige. Halt, wartet. Ich merke gerade, dass ich genau das tue, was ich anderen vorwerfe. Ihn auf ein Podest stelle, nur um ihn später herunterstoßen zu können. Habe ich deswegen darauf gewartet, dass endlich irgendein Makel sichtbar wird, der seinen Ruf ruiniert? Um ihn dann hinauszuposaunen? Das will ich nicht! Der Druck, der auf meiner Brust lastete, ist verschwunden. Und als ich plötzlich einen enormen Schwall Luft ausstoße, wird mir klar, dass ich den Atem angehalten hatte. Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht. Ich hoffe, ihr hört nicht nur zu, um neues Geschwätz aufzuschnappen. Ich hoffe, dass euch diese Kassetten mehr bedeuten. Clay, mein Lieber, dein Name gehört nicht auf diese Liste. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und schließe die Augen. Konzentriere mich auf die Kühle der Scheibe. Wenn ich den Worten lausche, mich aber auf die Kälte konzentriere, halte ich es vielleicht aus.
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Du gehörst nicht so dazu wie die andern. Es ist wie in dem Lied: Eins von den Dingen ist nicht wie die anderen. Eins von den Dingen gehört nicht dazu. Und das bist du, Clay. Trotzdem musst du dabei sein, wenn ich meine Geschichte erzähle. Sonst ist sie nicht vollständig.
»Warum muss ich mir das anhören?«, frage ich. »Warum überspringt sie mich nicht einfach, wenn ich nicht dazugehöre?« Tony konzentriert sich weiter auf die Straße und wirft nur hin und wieder einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Es würde mir besser gehen, wenn ich das alles nie gehört hätte«, sage ich. Tony schüttelt den Kopf. »Nein. Es würde dich verrückt machen, wenn du nicht wüsstest, was sie dazu getrieben hat.« Während ich durch die Windschutzscheibe starre und die weißen Linien betrachte, die im Scheinwerferlicht aufleuchten, wird mir klar, dass er recht hat. »Außerdem wollte sie vermutlich, dass du es erfährst«, fügt er hinzu. Ja, vielleicht, denke ich. Aber warum? »Wo fahren wir hin?« Er antwortet nicht.
Ja, in meiner Geschichte gibt es einige große Lücken. Teils weil ich nicht wusste, wie ich diese Dinge erzählen sollte. Teils weil ich mich nicht überwinden konnte, sie auszusprechen. Ereignisse, denen ich nicht gewachsen war... und nie gewachsen sein werde. Und wenn ich nicht darüber spreche, kann ich sie vielleicht auch weiterhin auf Distanz halten. 173
Aber wird die Rolle, die ihr darin spielt, dadurch kleiner? Wird sie weniger bedeutungsvoll, nur weil ich euch nicht alles erzähle? Nein. Im Grunde wird sie sogar größer. Denn ihr habt keine Ahnung, wie mein übriges Leben aussah. Zu Hause. Selbst in der Schule. Ihr alle wisst nur, wie euer eigenes Leben aussieht. Aber wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann betrifft das nicht nur einen bestimmten Aspekt dieses Lebens. Als würde alles andere davon unberührt bleiben. Wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann berührt das ihre gesamte Existenz. Alles... beeinflusst alles. Die nächsten Geschichten drehen sich alle um eine ganz bestimmte Nacht. Die Party. Unsere Nacht, Clay. Und du weißt, was ich mit »unsere Nacht« meine, denn in all den Jahren, in denen wir gemeinsam zur Schule gegangen sind und im Kino gearbeitet haben, gab es nur eine einzige Nacht, die uns miteinander verbunden hat. Wirklich verbunden hat. Viele von euch waren an den Ereignissen dieser Nacht beteiligt, auch manche, deren Namen schon früher erwähnt wurden. Eine chaotische Nacht, die keiner von uns rückgängig machen kann. Ich hasse diese Nacht. Schon bevor die Kassetten auftauchten, habe ich sie gehasst. In dieser Nacht habe ich einer alten Frau versichert, dass ihr Mann unverletzt und alles in Ordnung sei. Aber das war eine Lüge. Denn während ich zu ihr lief, um sie zu beruhigen, ist der Fahrer des anderen Wagens gestorben. Und der alte Mann wusste es, als er schließlich nach Hause zurückkehrte.
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Wollen wir hoffen, dass wirklich nur diejenigen die Kassetten anhören, die auf der Liste stehen. Dann ist es an euch, die Chance zu nutzen, die sie euch bieten. Denn sollten sie je an die Öffentlichkeit gelangen, müsst ihr mit Konsequenzen rechnen, auf die ihr keinen Einfluss mehr habt. Also hoffe ich in eurem eigenen Interesse, dass ihr sie weiterschickt. Ich werfe Tony einen verstohlenen Blick zu. Würde er das wirklich tun? Wäre er dazu in der Lage? Würde er die Kassetten jemandem geben, der nicht auf der Liste steht? Und wenn ja, wem? Für einige von euch wären die Folgen durchaus erträglich. Ein bisschen Scham und Peinlichkeit, nichts weiter. Bei anderen könnten die Konsequenzen schon drastischer ausfallen. Ihr könntet euren Job verlieren... oder ins Gefängnis wandern. Also bleibt die Sache unter uns, einverstanden? Fast wäre ich gar nicht auf die Party gekommen, Clay. Ich war zwar eingeladen, durfte jedoch nicht hingehen, weil meine Noten in dieser Zeit immer schlechter wurden. Meine Eltern erkundigten sich jede Woche bei den Lehrern, ob es wieder aufwärtsging. Wenn das nicht der Fall war, bekam ich Hausarrest. Das bedeutete konkret, dass ich spätestens eine Stunde nach Schulschluss wieder zu Hause sein musste. Ich hatte täglich genau eine Stunde Freizeit, bis meine Noten wieder besser wurden. Wir stehen vor einer roten Ampel. Doch Tony blickt immer noch starr geradeaus. Will er nicht riskieren, mich weinen zu sehen? Da braucht er sich im Moment keine Sorgen zu machen. Während ich wieder mal dem Gerede über dich lauschte, fand ich heraus, dass du auch auf die Party gehen wolltest. Was?, dachte ich. Clay Jensen kommt auch? Das gibt’s ja gar nicht! 175
Ich lerne immer am Wochenende, weil montags meistens die Tests geschrieben werden. Es ist also nicht meine Schuld. Das war nicht nur mein erster Gedanke. Die anderen wunderten sich genauso. Keiner von ihnen wusste, warum man dich sonst nie auf Partys sah. Natürlich gab es alle möglichen Theorien. Und was meint ihr wohl, die klangen alle gar nicht so übel. Ich brauche eine Pause. Wie ihr ja bereits wisst, war Tyler zu klein, um durch mein Schlafzimmerfenster zu schauen. Daher kostete es mich auch nicht sehr viel Überwindung, an jenem Abend aus meinem Fenster zu klettern. Ich musste es einfach tun. Aber zieht keine voreiligen Schlüsse. Ich habe mich vorher zweimal aus dem Haus geschlichen. Okay, dreimal, vielleicht viermal. Höchstens. Für die von euch, die nicht wissen, von welcher Party ich rede, befindet sich bei C6 ein dicker roter Stern auf der Karte. Cottonwood 512. Fahren wir dorthin? So, jetzt werden einige von euch genau wissen, warum ihr auf der Liste steht. Aber ihr müsst warten, bis ihr euren Namen hört. Erst dann werdet ihr erfahren, was genau ich erzählen werde. Wie viel ich erzählen werde. Damals habe ich mich auf die Party gefreut. Es hatte die ganze Woche über viel geregnet, und ich erinnere mich, dass immer noch schwere Regenwolken am Himmel hingen, die Luft zu so später Stunde aber noch außergewöhnlich warm war. Mein absolutes Lieblingswetter. Meins auch. Reine Magie. Es war merkwürdig. Als ich auf dem Weg zu der Party an den Häusern vorbeiging, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass das Leben so viele Möglichkeiten bietet. Unendlich viele Mög176
lichkeiten. Und zum ersten Mal seit langer Zeit war ich von Hoffnung erfüllt. Mir ging es genauso. Ich wollte unbedingt zu der Party gehen. Ich war bereit, etwas Neues zu erleben. Etwas Aufregendes. Hoffnung? Ich hatte die Lage wohl falsch eingeschätzt. Wäre ich auch dann auf die Party gegangen, wenn ich gewusst hätte, was zwischen Hannah und mir passieren würde? Es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Ja, das wäre ich. Selbst wenn das Ergebnis dasselbe gewesen wäre. Ich trug einen schwarzen Rock und einen passenden Kapuzenpullover und machte einen kleinen Umweg, um einen Blick auf das erste Haus zu werfen, in dem ich hier gewohnt hatte. Der erste rote Stern von der ersten Seite der ersten Kassette. Auf der Veranda brannte das Licht, und in der Garage brummte ein Automotor, obwohl das Garagentor geschlossen war. Bin ich der Einzige, der weiß, dass er dort gewohnt hat? Der Mann, der an dem Unfall beteiligt war. Der Mann, dessen Auto einen Mitschüler von uns getötet hat. Wie gebannt blieb ich stehen. Eine andere Familie in unserem Haus. Ich hatte keine Ahnung, um wen es sich handelte. Dann öffnete sich das Garagentor. Im Schein der roten Rücklichter sah ich die Silhouette eines Manns, der das schwere Tor ganz nach oben schob. Dann stieg er in den Wagen, setzte zurück und fuhr davon. Warum er mich nicht gefragt hat, warum ich sein Haus anstarre, weiß ich nicht. Vielleicht dachte er, ich wolle ihn nur vorbeilassen, ehe ich meinen Weg fortsetzte. Doch was auch immer der Grund gewesen sein mag, die Situation kam mir unwirklich vor. Zwei Menschen, ein Haus. Er konnte nicht ahnen, was ihn mit mir - dem Mädchen auf dem Bürgersteig - verband, als er mit seinem Wagen davonfuhr. Aus irgendeinem Grund kam mir die Luft plötzlich schwer vor. 177
Erfüllt von Einsamkeit. Einer Einsamkeit, die mich durch die Nacht begleiten sollte. Selbst die schönsten Momente der Nacht standen unter dem Einfluss dieser Begebenheit, dieser nicht erfolgten Begegnung vor meinem alten Haus. Sein mangelndes Interesse hätte mir zu denken geben sollen. Obwohl mich eine ganz persönliche Geschichte mit diesem Haus verband, spielte sie keine Rolle mehr. Wie die Dinge gewesen waren beziehungsweise wie ich sie erlebt hatte, war ohne Belang. Alles, was zählte... war das Hier und Jetzt. Auch wir, die wir auf den Kassetten vorkommen, können nicht mehr zu unserem alten Leben zurückkehren. Als hätten wir nie ein Päckchen vor unserer Tür oder in unserem Briefkasten vorgefunden. Dieser Moment hat unser Leben verändert. Das erklärt auch, warum ich so überreagiert habe, Clay. Darum wollte ich, dass auch du diese Kassetten bekommst. Ich wollte dir alles erklären. Mich entschuldigen. Ob sie sich daran erinnert? Erinnert sie sich daran, dass ich mich in dieser Nacht bei ihr entschuldigt habe? Will sie sich deswegen entschuldigen? Die Party war schon in vollem Gange, als ich auftauchte. Schließlich können die meisten Leute aus dem Haus gehen, bevor ihre Eltern eingeschlafen sind. Am Eingang hingen die üblichen Typen herum, sturzbetrunken und jedermann mit einem erhobenen Bier begrüßend. Ich dachte, mein Name sei unmöglich auszusprechen, wenn man schon lallt, aber diese Jungs kriegten das ziemlich gut hin. Das heißt, ein paar von ihnen versuchten es immer wieder, während die anderen lachten. Aber die waren harmlos. Fröhliche Zecher sind für jede Party eine Bereicherung. Typen, die nicht darauf aus sind, sich zu prügeln oder ein Mädel abzuschleppen, sondern die sich einfach nur besaufen und ihren Spaß haben wollen. 178
Ich weiß, wen sie meint. Das waren sozusagen die Maskottchen dieser Party. »Hey, Clay! Wasmachsduuunhier?« Die Musik war dröhnend laut, doch niemand hat getanzt. Es hätte jede x-beliebige Party sein können... wäre einer nicht hier gewesen. Clay Jensen. Bestimmt hast du dir jede Menge ironische Kommentare anhören müssen, als du gekommen bist, doch als ich auf der Bildfläche erschien, warst du ein ganz normaler Bestandteil der Party. Das heißt für alle anderen. Für mich nicht. Ich war schließlich nur wegen dir gekommen. Es war so vieles in meinem Leben geschehen, so vieles in meinem Kopf herumgegangen, worüber ich mit dir reden wollte. Ein richtiges Gespräch führen. Nur ein einziges Mal. Denn dazu hatten wir in der Schule oder während der Arbeit nie Gelegenheit. Ich wollte wissen, wer du eigentlich bist. Es kam nie dazu, weil ich Angst hatte. Angst, dass du mich abblitzen lässt. Und es war okay, ich hatte mich damit abgefunden. Denn was wäre gewesen, wenn du dich tatsächlich als diejenige entpuppt hättest, die du den Gerüchten zufolge warst? Wenn du ganz anders gewesen wärst, als ich gehofft habe? Das wäre schlimmer gewesen als alles andere. Als ich in der Küche Schlange stand, um meinen Becher aufzufüllen, warst du plötzlich hinter mir. »Hannah Baker...«, sagtest du, und ich drehte mich um. »Hi, Hannah!« Als Hannah auf der Party erschien, als sie plötzlich durch die Eingangstür kam, fühlte ich mich total überrumpelt. Wie ein Vollidiot machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Ich stürmte durch die Küche bis in den Garten. Das ging mir alles zu schnell. Dabei war ich mit dem festen Vorsatz auf die Party gegangen, mit Hannah zu reden, falls sie auch da sein sollte. Es war höchste Zeit. Mir egal, wer die an179
deren Gäste waren. Ich würde nur Augen für sie haben und wir würden reden. Doch als sie plötzlich vor mir stand, verlor ich die Nerven. Ich konnte es nicht glauben. Da standst du plötzlich, wie aus heiterem Himmel. Nein, nicht wie aus heiterem Himmel. Zuerst bin ich im Garten hin und her gelaufen und habe mich verflucht, so ein ängstlicher kleiner Junge zu sein. Ich war schon auf dem Bürgersteig und wollte nach Hause gehen, als ich mir ein Herz fasste und wieder hineinging. Die besoffenen Typen begrüßten mich erneut und ich bin geradewegs zu dir marschiert. Von »wie aus heiterem Himmel« konnte absolut nicht die Rede sein. »Ich weiß nicht warum«, sagtest du, »aber ich glaube, wir müssen reden.« Es erforderte all meinen Mut, um unser Gespräch fortzusetzen. All meinen Mut und zwei Plastikbecher mit Bier. Ich stimmte dir zu und hatte dabei bestimmt das dümmlichste Lächeln im Gesicht, das man sich nur vorstellen kann. Nein, es war das zauberhafteste Lächeln, das ich je gesehen habe. Ich betrachtete den Türrahmen hinter dir. Darauf waren jede Menge Striche und Zahlen, die das Wachstum der Kinder in diesem Haus festhielten. Und ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter dieselben Markierungen auf unserer alten Küchentür beseitigte, um das Haus bald verkaufen zu können. Ich habe es gesehen. Ich sah etwas in deinen Augen, als du mir über die Schulter geguckt hast. Wie auch immer, du hast in meinen leeren Becher geschaut, ihn mit der Hälfte deines Biers gefüllt und mich dann gefragt, ob jetzt eine gute Zeit zum Reden sei. Ihr dürft diese Situation nicht falsch beurteilen. Von außen betrachtet, könnte es vielleicht so aussehen, als wollte er mich 180
betrunken machen, aber so war es nicht. So hat es jedenfalls nicht auf mich gewirkt. So war es auch wirklich nicht. Niemand wird mir das abkaufen, aber es stimmt. Denn wäre das der Fall gewesen, dann hätte er mir nicht nur einmal, sondern immer wieder nachgeschenkt. Wir gingen ins Wohnzimmer, in dem eine Seite der Couch schon besetzt war. Von Jessica Davis und Justin Foley. Doch die andere Seite war noch frei, also setzten wir uns hin. Und was taten wir dann? Wir stellten unsere Becher ab und begannen, miteinander zu reden. Einfach so. Sie muss sich doch daran erinnern, wer die beiden anderen auf dem Sofa waren. Jessica und Justin. Aber sie erwähnt ihre Namen nicht. Der erste Junge, der sie geküsst hat, küsste das Mädchen, das ihr im Monet’s eine geknallt hatte. Als könnte sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen. Alles, was ich mir erhofft hatte, wurde Realität. Es war ein sehr intensives und persönliches Gespräch, als wollten wir all die Zeit nachholen, die wir versäumt hatten. Und nicht eine Frage empfand ich als zudringlich. Ich wärme mich an ihrer Stimme, die aus dem Kopfhörer dringt. Meine Hände schließen sich um meine Ohren, als könnte ich die Worte damit festhalten. Denn seine Fragen waren nicht zudringlich. Und ich wollte, dass er mich kennenlernt. Es war wundervoll. Ich konnte gar nicht glauben, dass wir wirklich miteinander redeten. Ein echtes Gespräch führten. Und ich wollte, dass es niemals endet. Ich habe es geliebt, mit dir zu reden, Hannah. Ich hatte das Gefühl, dass du mich kennst. Dass du alles verstehst, was ich dir erzähle. Und je länger wir miteinander sprachen, desto mehr wusste ich auch warum. Weil uns dieselben Dinge interessierten und dieselben Dinge begeisterten. 181
Du hättest mir alles erzählen können, Hannah. In dieser Nacht gab es keine Tabus. Ich wäre so lange geblieben, bis du dich vollkommen geöffnet und mir alles anvertraut hättest, aber das hast du nicht. Ich wollte dir alles erzählen. Aber ich konnte nicht, weil mir manche Dinge zu viel Angst machten. Dinge, die ich nicht einmal selbst verstand. Wie hätte ich jemandem, mit dem ich zum ersten Mal ein richtiges Gespräch führte, mein ganzes Herz ausschütten sollen? Es ging nicht. Es war zu früh. Das war es nicht. Oder zu spät. Aber jetzt erzählst du es mir doch. Warum hast du so lange gewartet? Ihre Worte wärmen mich nicht mehr. Vielleicht sollten sie das, doch stattdessen brennen sie in meiner Seele. Und in meinem Herzen. Du hast immer wieder gesagt, Clay, dass zwischen uns alles so leicht und selbstverständlich wäre und dass du schon lange so empfindest. Du warst dir ganz sicher, dass wir uns gut verstehen und eine besondere Verbindung zueinander haben. Aber wie konntest du das wissen, bei all den Gerüchten, die über mich in Umlauf waren? All den Gerüchten und Lügen, die längst ein Teil von mir geworden waren? Ich wusste, dass die Gerüchte nicht stimmten, Hannah. Ich meine, ich hoffte es zumindest. Doch habe ich mich nicht getraut, ihnen wirklich auf den Grund zu gehen. Ich brach unser Gespräch ab. Wenn wir doch nur früher miteinander geredet hätten. Dann hätten wir... wären wir... ach, ich weiß nicht. Aber die Entwicklung war damals schon zu weit fortgeschritten. Ich hatte mich bereits entschieden. Nicht mich umzubringen. Noch nicht. Ich wollte die Schule noch durchziehen und niemanden mehr an mich heranlassen. Meinen Abschluss machen und dann abhauen. 182
Aber dann bin ich auf diese Party gegangen, um dich zu treffen. Warum eigentlich? Um noch mehr zu leiden? Denn ich habe mich dafür gehasst, so lange gewartet zu haben. Ich habe mich dafür gehasst, dich so unfair behandelt zu haben. Das einzig Unfaire sind diese Kassetten, Hannah, weil ich für dich da war. Wir haben geredet. Du hättest mir alles sagen können und ich hätte mir alles angehört. Absolut alles. Ich habe doch schon von dem Pärchen erzählt, das neben uns auf dem Sofa saß. Das Mädchen war betrunken und kicherte und stieß immer wieder mit mir zusammen. Am Anfang war das ganz lustig, doch bald fiel es mir auf die Nerven. Warum sagt Hannah ihren Namen nicht? Vielleicht ist sie gar nicht so betrunken, dachte ich mir. Vielleicht machte sie dem Typen, mit dem sie sprach, nur was vor … wenn sie zwischendurch mal sprachen. Vielleicht wollte sie die Couch auch für sich und ihn allein. Also sind Clay und ich wieder gegangen. Wir liefen ziellos umher und riefen uns manchmal etwas zu, um die Musik zu übertönen. Schließlich gelang es mir, unserem Gespräch einen anderen Charakter zu geben. Keine großen und ernsten Themen mehr. Es tat uns gut zu lachen. Doch überall war es so laut, dass wir kaum ein Wort miteinander wechseln konnten. Also blieben wir im Türrahmen zu einem leeren Raum stehen. Ich erinnere mich an alles, was dann passiert ist. An jedes Detail. Doch woran hat sie sich erinnert? Während wir dort standen, unsere Rücken gegen den Türrahmen gelehnt, unsere Becher in den Händen, konnten wir nicht aufhören zu lachen. Doch plötzlich stürzte die Einsamkeit, mit der ich auf die Party gekommen war, wieder auf mich ein. 183
Aber ich war nicht allein. Das wusste ich. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich einer anderen Person unserer Schule verbunden. Wie konnte ich da einsam sein? Ich war bei dir, Hannah. Weil ich es wollte. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Wie schon oft hatte ich mich jemandem anvertraut und teuer dafür bezahlen müssen. Jetzt schien alles gut zu sein, doch ich wusste, dass diese Situation auch großes Unglück bergen konnte. Einen Schmerz, der größer war als jeder zuvor. Das hätte nie passieren können. Du warst einfach da und hast mir dein Vertrauen geschenkt. Und als ich vor allzu großer Nähe zurückgeschreckt bin und unser Gespräch auf unverfängliche Themen lenkte, da hast du mich zum Lachen gebracht. Du warst unheimlich komisch, Clay. Du warst genau richtig. Dann habe ich dich geküsst. Falsch. Ich habe dich geküsst, Hannah. Es war ein langer, inniger Kuss. Und was hast du gesagt, als wir wieder zu Atem kamen? Mit einem süßen, jungenhaften Lächeln hast du gefragt: »Womit habe ich das verdient?« Stimmt. Du hast mich geküsst. »Dummkopf!«, habe ich geantwortet. Dann haben wir uns wieder geküsst. Dummkopf. Ja, ich erinnere mich. Schließlich schlossen wir die Tür und zogen uns in den Raum zurück. Wir waren auf einer Seite der Tür. Und die Party mit ihrer dröhnenden Musik war auf der anderen. Unglaublich. Wir waren wirklich zusammen. Das ging mir nicht aus dem Kopf. Unglaublich! Ich musste mich sehr zusammenreißen, damit es mir nicht über die Lippen kam.
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Manche von euch werden sich jetzt bestimmt fragen, warum ihr davon nie erfahren habt. Wo ihr doch sonst immer genau wusstet, mit wem Hannah Baker alles herummacht. Weil ich nie davon erzählt habe. Falsch. Ihr habt euch nur eingebildet, es gewusst zu haben. Habt ihr nicht zugehört? Oder habt ihr nur die Kassetten beachtet, auf denen euer Name vorkommt? Denn ich kann an einer Hand abzählen - richtig gehört, an einer Hand! -, mit wie vielen Jungs ich zusammen war. Ihr habt wahrscheinlich gedacht, ich bräuchte beide Hände und Füße, um einen Anfang zu machen, stimmt’s? Was soll das heißen, ihr wollt mir nicht glauben? Ihr seid schockiert? Mir egal. Das letzte Mal, als mir nicht egal war, was andere über mich dachten, war in dieser Nacht. Und das war die letzte Nacht. Ich löse meinen Gurt und beuge mich vor. Ich presse die Hand gegen meinen Mund, um mich am Schreien zu hindern. Doch die Hand kann meinen Schrei nur dämpfen. Und Tony fährt weiter. Macht es euch bequem, denn jetzt werde ich euch erzählen, was in dem Zimmer zwischen mir und Clay vorgefallen ist. Seid ihr bereit? Wir haben uns geküsst. Das ist alles. Wir haben uns geküsst. Ich senke den Blick und starre auf den Walkman. Es ist zu dunkel, um die Spulen hinter dem Plastikfenster erkennen zu können, doch muss ich meinen Blick auf irgendwas konzentrieren. Und die Stelle zu fixieren, an denen sich die beiden Spulen befinden müssen, ist fast so, als würde ich Hannah in die Augen blicken, während sie meine Geschichte erzählt. Es war wundervoll, als wir beide auf dem Bett lagen. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte. Auf seinem anderen Arm lag ich wie auf einem Kissen. Ich schlang meine Arme um ihn und ver185
suchte, ihn näher an mich heranzuziehen. Was mich betrifft, ich wollte mehr. Das war der Moment, in dem ich es gesagt habe. Als ich ihr ins Ohr flüsterte: »Es tut mir so leid.« Ich fühlte mich glücklich und traurig zugleich. Traurig, weil es so lange gedauert hat, und glücklich, weil der Moment endlich da war. Die Küsse schmeckten wie erste Küsse. Es waren Küsse, die mir sagten, dass ich noch einmal von vorne anfangen könnte. Mit ihm. Doch an welchem Punkt war ich bereits angelangt? In diesem Moment musste ich an Justin denken. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte ich an meinen allerersten Kuss. Meinen wirklich ersten Kuss. Ich erinnerte mich an die Vorfreude darauf und wie Justins Lippen sich auf meine gepresst hatten. Und dann erinnerte ich mich daran, wie er alles zerstört hatte. Plötzlich rief ich »Stopp!« und ließ Clay los. Du hast mich weggestoßen. Wusstest du, was ich durchmachte, Clay? Konntest du es spüren? Du musst es doch gespürt haben. Nein, du hast es zu gut versteckt, Hannah. Du hast mir nie gesagt, warum du so reagiert hast. Ich kniff meine Augen so hart zusammen, dass es schmerzte. Ich versuchte, die Bilder loszuwerden, die mir durch den Kopf spukten. Ich sah alle, die sich auf dieser Liste befinden... und noch mehr. Alle, die dafür gesorgt hatten, dass mich Clays Ruf so interessierte... und dass mein Ruf so ganz anders war als seiner. Da war doch kein Unterschied. Und ich konnte daran nichts ändern. Ich hatte keinen Einfluss mehr darauf, was die Leute über mich dachten.
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Du hattest deinen Ruf verdient, Clay. Im Gegensatz zu mir. Doch jetzt waren wir beide zusammen auf diesem Zimmer, was meinen Ruf nur noch schlimmer machen würde. Aber das stimmt doch nicht, Hannah. Und wem hätte ich es denn erzählen sollen? »Stopp!«, rief ich erneut und stieß dich weg. Ich drehte mich zur Seite und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Du wolltest etwas sagen, aber ich habe dir gleich das Wort abgeschnitten. Ich bat dich zu gehen. Als du wieder anfingst zu reden, habe ich geschrien. Ich schrie in das Kissen. Das brachte dich zum Schweigen. Die Matratze hob sich ein wenig auf deiner Seite, als du aufgestanden bist, um den Raum zu verlassen. Doch hat es ewig gedauert, bis du endlich verstanden hast, dass ich es ernst meinte. Ich hatte gehofft, du würdest mich zurückhalten. Ich hatte gehofft, du würdest mich doch noch am Gehen hindern. Obwohl meine Augen immer noch geschlossen waren, im Kissen vergraben, veränderte sich das Licht, als du die Tür geöffnet hast. Es wurde ein wenig heller. Dann warst du verschwunden. Warum habe ich nur auf sie gehört? Warum habe ich sie allein gelassen? Ich wusste, dass sie mich brauchte. Aber ich hatte Angst. Wieder einmal hatte ich mir Angst machen lassen. Ich ließ mich vom Bett auf den Boden gleiten. Dort blieb ich sitzen, umklammerte meine Knie... und heulte. An dieser Stelle endet deine Geschichte, Clay. Doch das hätte nicht passieren dürfen. Ich war für dich da, Hannah. Du hättest nur die Hand auszustrecken brauchen, aber du hast dich anders entschieden. Du hattest die Wahl und hast mich weggestoßen. Ich hätte dir geholfen. Ich wollte dir helfen. Du bist aus dem Zimmer gegangen und wir haben nie wieder miteinander gesprochen. 187
Du hattest dich entschieden. Egal was du sagst, du hattest dich entschieden. Wenn wir in der Schule aneinander vorbeigingen, hast du versucht, mich anzusehen, doch ich habe immer den Kopf abgewandt. Denn als ich in jener Nacht nach Hause kam, habe ich ein Blatt aus meinem Notizbuch gerissen und einen Namen nach dem anderen aufgeschrieben. Es waren all die Namen, die mir durch den Kopf gegangen waren, als ich unseren Kuss beendet habe. Es waren so viele Namen, Clay, weit über zwanzig. Und dann... habe ich Verbindungen zwischen diesen Namen hergestellt. Zuerst habe ich deinen Namen eingekreist, Justin, und dann eine Linie von dir zu Alex gezogen. Dann habe ich Alex’ Namen eingekreist und mit Jessica verbunden. Andere Namen, die mit einer eigenen Geschichte verbunden sind, habe ich für sich stehen lassen. Meine Wut und Enttäuschung trieben mir Tränen in die Augen und wurden zu Hass, wenn ich eine neue Verbindung entdeckte. Dann kam ich zu Clay, wegen dem ich auf die Party gegangen war. Ich kreiste seinen Namen ein und zog eine Linie... zum allerersten Namen. Justin. Denn weißt du, Clay, kurz nachdem du die Tür hinter dir geschlossen hast... hat diese Person sie wieder geöffnet. Auf Justins Kassette, der ersten Kassette, hatte sie ja bereits angekündigt, dass sein Name später noch einmal auftauchen würde. Und er war auch auf der Party. Mit Jessica auf der Couch. Aber diese Person hat die Kassetten bereits bekommen. Also überspring ihn einfach, wenn du die Kassetten weiterschickst. Indirekt hat er dafür gesorgt, dass ein weiterer Name auf die Liste kam. Diese Person soll die Kassetten von dir erhalten. 188
Und Clay... es tut mir auch leid!
Meine Augen brennen. Nicht vom Salz meiner Tränen, sondern weil ich sie nicht mehr geschlossen habe, seit Hannah in Tränen ausbrach und ich den Raum verließ. Jeder Nackenmuskel will sich bewegen, wartet darauf, dass ich endlich den Kopf zur Seite drehe und aus dem Fenster blicke. Aber ich bringe es nicht fertig, mich aus meiner Starre zu lösen und aus dem Bann ihrer Worte zu befreien. Tony drosselt das Tempo und hält am Bordstein. »Alles okay?« Wir befinden uns in einer Wohngegend, aber es ist nicht die Straße, in der die Party stattfand. Ich schüttele den Kopf. »Wirst du darüber hinwegkommen?«, fragt er. Ich lehne mich zurück, lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. »Sie fehlt mir.« »Mir fehlt sie auch«, sagt er. Als ich die Augen öffne, lässt er den Kopf hängen. Weint er? Oder versucht er zu weinen? »Weißt du«, sage ich, »ich habe sie bis heute nie richtig vermisst.« Er lehnt sich in seinem Sitz zurück und schaut mich an. »Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Nacht umgehen sollte. Mit allem, was passiert ist. Ich habe sie immer gemocht, hatte jedoch nie die Gelegenheit, ihr das zu sagen.« Ich starre auf den Walkman. »Wir hatten nur eine einzige gemeinsame Nacht, und am Ende dieser Nacht hatte ich das Gefühl, sie noch weniger zu kennen als vorher. Doch jetzt weiß ich, wo ihre Gedanken damals waren. Jetzt weiß ich, was sie durchgemacht hat.« 189
Mir versagt die Stimme, und während sie das tut, bricht ein ganzer Schwall von Tränen hervor. Tony reagiert nicht. Er betrachtet die leere Straße und ermöglicht es mir, dass ich in seinem Wagen sitze und Hannah vermisse. Dass ich sie mit jedem Atemzug heftig vermisse. Mit meinem kalten Herzen, das sich warm anfühlt, sowie mich die Gedanken an sie durchfluten. Ich wische mir mit dem Jackenaufschlag über die Augen und huste lachend meine Tränen fort. »Danke, dass du dir das alles angehört hast«, sage ich. »Nächstes Mal darfst du mich ruhig unterbrechen.« Tony betätigt den Blinker, sieht sich über die Schulter und lässt den Wagen wieder auf die Fahrbahn rollen. Doch er schaut mich nicht an. »Gern geschehen.«
KASSETTE 5: SEITE B Es kommt mir so vor, als wären wir immer wieder denselben Weg gefahren, seit wir das Rosie’s verlassen haben. Als wolle er die Zeit hinauszögern. »Warst du auf der Party?«, frage ich. Tony blickt aus dem Seitenfenster und wechselt die Fahrbahn. »Nein. Aber Clay... ich muss wissen, dass alles in Ordnung ist mit dir.« Was soll ich dazu sagen? Ich denke daran, dass ich ihr nie die kalte Schulter gezeigt habe. Dass ich nichts getan habe, das ihren Schmerz vergrößert hätte. Doch ich ließ sie allein in dem Zimmer zurück. Dabei wäre ich der einzige Mensch gewesen, 190
der sie noch hätte erreichen und vor sich selbst schützen können. Der sie von ihrem Weg hätte abbringen können. Ich habe ihrem Willen gehorcht und bin gegangen. Aber ich hätte bleiben sollen. »Niemand wirft mir etwas vor«, flüstere ich. Ich muss es laut hören. Ich muss die Worte in meinen Ohren und nicht nur in meinem Kopf hören. »Niemand wirft mir etwas vor.« »Niemand«, sagt Tony, der weiterhin nur auf die Straße blickt. »Was ist mit dir?«, frage ich. Wir kommen an eine Kreuzung mit vier Stoppschildern. Tony verlangsamt die Fahrt. Für einen kurzen Moment sieht er aus dem Augenwinkel heraus zu mir herüber. Dann blickt er wieder auf die Straße. »Ich werfe dir auch nichts vor.« »Warum hat sie dir den zweiten Satz Kassetten gegeben?« »Lass uns dahin fahren, wo die Party stattfand«, sagt er. »Dann erzähl ich’s dir.« »Warum nicht jetzt?« Sein Lächeln ist matt. »Weil ich mich darauf konzentriere, nicht von der Straße abzukommen.«
Kurz nachdem Clay gegangen war, kam, besser gesagt, torkelte das Pärchen von der Couch in den Raum. Ihr erinnert euch doch? Ich dachte, das Mädchen tat nur so, als sei sie betrunken. Ich dachte, sie stieß immer wieder absichtlich mit mir zusammen, damit sie Clay und mich loswurde. Aber sie hat nicht gespielt. Sie war wirklich total hinüber. Im Flur sind sie an mir vorbeigeschwankt. Jessica hatte Justin einen Arm über die Schulter gelegt, während sie sich mit dem anderen immer wieder an der Wand abstützte. 191
Gesehen habe ich sie eigentlich nicht, als sie ins Zimmer kamen. Ich saß immer noch auf dem Boden und lehnte am hinteren Ende des Betts. Außerdem war es dunkel. Als ich hinausging, war ich niedergeschlagen und verwirrt. Im Wohnzimmer lehnte ich mich an das Klavier und hatte diese Stütze auch nötig. Was sollte ich tun? Bleiben oder gehen? Aber wohin? Ihr Begleiter bewahrte sie davor, zu heftig gegen den Nachttisch zu krachen, und zog sie zweimal wieder nach oben, nachdem sie vom Bett gerollt war. Er war sogar so gut erzogen, sein Lachen auf ein Minimum zu beschränken. Ich dachte, er würde sie zudecken und dann aus dem Zimmer gehen, was es mir ermöglicht hätte, unbemerkt zu verschwinden. Ende der Geschichte. Hannah war nicht die Erste, die ich geküsst habe, doch der Kuss mit ihr war der erste, der mir etwas bedeutet hat. Und da wir in dieser Nacht so lange miteinander geredet hatten, dachte ich, das alles sei erst der Anfang. Etwas Großes und Echtes war zwischen uns geschehen. Ich spürte es. Aber das war nicht das Ende der Geschichte. Das würde ja auch keine interessante Kassette abgeben, oder? Ich verließ die Party, ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte. Doch anstatt zu gehen, begann er, sie zu küssen. Viele von euch wären bestimmt geblieben, um solch eine voyeuristische Gelegenheit nicht zu verpassen. Ein sexuelles Erlebnis der besonderen Art, bei dem es nicht viel zu sehen, aber umso mehr zu hören gab. Zwei Dinge veranlassten mich zum Bleiben. Während ich meine Stirn gegen die Knie presste, spürte ich auf einmal, wie viel ich in dieser Nacht schon getrunken hatte. Und mit meinem gestörten Gleichgewichtssinn quer durch das Zimmer zu laufen, kam mir doch etwas zu gewagt vor. Das ist die eine Entschuldigung. 192
Entschuldigung Nummer zwei ist, dass sich die Dinge dort oben langsam zu beruhigen schienen. Denn sie war nicht nur schwerfällig und betrunken, sondern wirkte inzwischen vollkommen teilnahmslos. Außer ein paar Küssen ist dort kaum was passiert und die waren noch dazu eine ziemlich einseitige Angelegenheit. Um es noch mal zu sagen. Der Junge hat sich anständig verhalten und die Situation keinesfalls ausgenutzt. Lange Zeit hat er versucht, ihr irgendeine Reaktion zu entlocken. »Bist du noch wach? Soll ich dich auf die Toilette begleiten? Musst du dich übergeben?« Das Mädchen war nicht vollkommen bewusstlos, sondern stieß ein paar unverständliche Laute aus. Schließlich dämmerte es ihm, dass sie nicht gerade in romantischer Stimmung war und das auch so schnell nicht sein würde. Also deckte er sie zu und sagte, dass er später noch mal nach ihr schauen würde. Dann ging er aus dem Zimmer. Vermutlich werdet ihr euch immer noch fragen, wer die beiden waren. Ihr werdet euch denken, dass ich nur vergessen habe, euch ihre Namen zu sagen, aber das habe ich nicht. Wenn bei mir überhaupt noch was gut funktioniert, dann ist es meine Erinnerung. Was natürlich ein Nachteil ist. Wäre ich manchmal ein bisschen vergesslicher, könnten wir vermutlich alle etwas entspannter sein. Als ich die Party verließ, war es neblig. Und während ich durch die Straßen lief, begann es zu nieseln. Später ging das Nieseln in richtigen Regen über, doch als ich aufbrach, herrschte nur dichter Nebel, der allen Dingen die Konturen nahm. Auf die Namen müsst ihr alle noch etwas warten. Doch wenn ihr gut aufgepasst hättet, wäre euch nicht entgangen, dass ich euch die Antwort schon vor langer Zeit gegeben habe. 193
Bevor ich den Namen des Jungen ausspreche, soll er ruhig noch ein bisschen schmoren... um sich an alles zu erinnern, was in diesem Raum vorgefallen ist. Und natürlich erinnert er sich. Ich weiß es genau. Wie gerne würde ich jetzt sein Gesicht sehen! Wie er die Augen schließt, die Zähne zusammenbeißt, sich die Haare rauft. Zu ihm kann ich nur sagen: Du kannst es ja leugnen! Du kannst leugnen, dass ich je in diesem Zimmer gewesen bin. Leugnen, dass ich weiß, was du getan hast. Besser gesagt, was du nicht getan und damit zugelassen hast. Du solltest dir klarmachen, warum das nicht die Kassette ist, auf der dein Name noch mal vorkommt. Die kommt erst später. Sie muss später kommen. Ach wirklich? Das gefällt dir? Eine spätere Kassette macht die Sache besser? Da würde ich besser nicht drauf wetten. Oh Gott! Was soll in dieser Nacht denn noch alles passiert sein? Ich weiß, dass sie nicht deine Freundin war, dass du sie kaum kanntest und vorher nie groß mit ihr geredet hast, aber soll das wirklich deine beste Entschuldigung dafür sein, was dann geschah? Oder ist es deine einzige Entschuldigung? So oder so, es gibt keine Entschuldigung. Ich rappelte mich auf und stützte mich mit einer Hand am Bettrahmen ab. Durch das Licht, das unter der Tür hindurchfiel, konnte ich immer noch deine Schuhe beziehungsweise den Schatten deiner Schuhe erkennen. Denn nachdem du den Raum verlassen hattest, bist du unmittelbar vor der Tür stehen geblieben. Ich ließ den Bettrahmen los und ging dem schwachen Lichtschein entgegen, wusste jedoch nicht, was ich zu dir sagen sollte, wenn ich die Tür öffnete. Doch als ich ungefähr in der Mitte des Zimmers war, erblickte ich plötzlich ein zweites Paar Schuhe und blieb stehen. 194
Nachdem ich die Party verlassen hatte, bin ich ziellos durch die Straßen gelaufen. Ich wollte nicht nach Hause. Aber ich wollte auch nicht zurück. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, aber du hast sie wieder zugezogen und gesagt: »Nein, lass sie in Ruhe.« Im schummrigen Licht erkannte ich einen begehbaren Kleiderschrank, dessen Falttüren ein wenig offen standen. In der Zwischenzeit hat dich dein Freund dazu überredet, dich doch ins Zimmer zu lassen. Ich verharrte regungslos und mit pochendem Herzen in der Mitte des Raumes. Da öffnete sich wieder die Tür. Doch erneut hast du sie sofort zugezogen. Du hast versucht, das Ganze als Scherz hinzustellen. »Glaub mir«, hast du gesagt, »sie wird sich überhaupt nicht bewegen, sondern einfach so daliegen.« Und was hat er entgegnet? Mit welchem Argument hat er dich dazu gebracht, einen Schritt zur Seite zu treten und ihn einzulassen? Erinnerst du dich daran? Ich schon! Es war die Nachtschicht. Er hat dir erzählt, dass er gleich zur Nachtschicht müsse und nur noch ein paar Minuten Zeit habe. Ein paar Minuten, länger brauchte er nicht für sie. Also bleib cool und mach Platz. Mehr musste er nicht sagen. Mehr musstest du nicht hören, um ihm tatsächlich Platz zu machen. Oh Gott! Erbärmlich. Ich konnte es nicht glauben. Und dein Freund konnte es auch nicht glauben, denn als er seine Hand auf die Klinke legte, stürzte er nicht sofort in das Zimmer, sondern rechnete offenbar damit, dass du erneut protestieren würdest. In diesem kurzen Moment - dem Moment, in dem du schwiegst - sank ich verstört auf die Knie und hielt mir die Hände vor den Mund. Ich taumelte zum Schrank, während mir 195
die Tränen fast die Sicht nahmen. Und als ich kopfüber in den kleinen Raum stürzte, sank ich auf einem Kleiderhaufen zusammen. Als sich die Zimmertür öffnete, zog ich die Schranktüren zu. Ich kniff die Augen zusammen. Das Blut pochte mir in den Ohren. Ich schwankte vor und zurück, vor und zurück, und stieß meine Stirn immer wieder in den Kleiderhaufen. Doch aufgrund der stampfenden Bässe, die durchs ganze Haus dröhnten, konnte mich niemand hören. »Bleib cool!« Diese Worte hat er schon früher gesagt. Das sagt er immer zu Leuten, die er ausnutzen will. Zu Freundinnen, anderen Typen, zu allen. Es ist Bryce. Er muss es sein. Bryce Walker war in dem Zimmer. Wegen der dröhnenden Bässe hörte auch niemand, wie er zum Bett hinüberging. Kurz darauf quietschten die Federn unter seinem Gewicht, doch niemand hörte es. Ich hätte es verhindern können. Wenn ich imstande gewesen wäre zu reden. Wenn ich imstande gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen, hätte ich die Schranktüren geöffnet und es verhindert. Aber das tat ich nicht. Und es spielt keine Rolle, was für eine Entschuldigung ich dafür fand. Dass ich psychisch vollkommen am Ende war. Ich habe keine Entschuldigung. Ich hätte es verhindern können - und damit basta. Doch hätte ich es verhindern wollen, hätte ich die Erde daran hindern müssen, dass sie sich weiterdreht - so habe ich es empfunden. Ich hatte schon so lange jegliche Kontrolle verloren; ob ich etwas tat oder nicht, was spielte das noch für eine Rolle? Ich konnte all die Emotionen nicht länger ertragen. Ich wollte die Welt anhalten... sie beenden. Für Hannah fand die Welt ein Ende. Doch nicht für Jessica. Für sie ging es weiter. Und dann konfrontierte sie Hannah auch noch mit diesen Kassetten. 196
Ich weiß nicht, wie viele Stücke gespielt wurden, während mein Gesicht in den Kleidern vergraben war. Die Bässe stampften immer weiter. Meine Kehle fühlte sich plötzlich wund an. Hatte ich geschrien? Während meine Knie den Boden berührten, spürte ich jedes Mal die Vibrationen, wenn jemand auf dem Flur vorbeiging. Und als ich schließlich Schritte im Zimmer hörte - mehrere Songs nachdem er hereingekommen war -, drückte ich meinen Rücken angstvoll gegen die Innenwand und wartete. Wartete darauf, dass jemand die Tür aufreißen und mich aus meinem Versteck zerren würde. Ich fragte mich, was er dann mit mir tun würde. Das Vorderrad kratzt an der Bordsteinkante, als Tony den Wagen anhält. Ich weiß nicht, wie wir hierhergekommen sind, aber das Haus ist direkt vor meinem Fenster. Ich sehe die Haustür, durch die ich damals gekommen bin. Denselben Windfang, durch den ich die Party damals verlassen habe. Und zur Linken ein Fenster. Hinter dem Fenster befindet sich ein Schlafzimmer, in dem ein Schrank mit Falttüren steht, in dem sich Hannah in der Nacht, in der wir uns küssten, versteckt hat. Aber dann sickerte ein wenig Licht vom Flur in den Raum und weiter in den Schrank hinein. Seine Schritte entfernten sich und es war vorbei. Denn er konnte ja schließlich nicht zu spät zur Arbeit kommen, oder? Was dann geschah?Ich bin aus dem Zimmer und den Flur hinuntergerannt. Dort habe ich dich gesehen. Du saßt ganz allein in einem Zimmer. Derjenige, um den sich diese Kassette dreht... Justin Foley. Mir dreht sich der Magen um. Ich reiße die Autotür auf. Im Dunkeln saßt du dort auf der Bettkante und hast vor dich hin gestarrt. Und ich stand wie angewurzelt auf dem Flur und habe dich angeglotzt. 197
Wir hatten einen langen Weg hinter uns, Justin. Seit ich einst beobachtet hatte, wie du vor Kats Haus ausgerutscht bist, seit meinem ersten Kuss am Fuße der Rutsche... bis zu diesem Moment. Zuerst hast du eine ganze Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die mein Leben zerstört haben. Und jetzt war sie an der Reihe. Ich übergebe mich direkt vor dem Haus. Mein Körper ist gekrümmt. Mein Kopf hängt über dem Rinnstein. Schließlich hast du dich in meine Richtung gedreht. Aus deinem Gesicht... war alle Farbe gewichen. Es war völlig leer, dein Blick stumpf. Oder war Schmerz in deinen Augen? »Lass dir Zeit«, sagt Tony. Keine Sorge, denke ich. Ich kotz dir schon nicht dein Auto voll. Justin, Baby, ich gebe dir nicht die alleinige Schuld. Wir tragen die Verantwortung zusammen. Wir hätten es beide verhindern können. Jeder von uns. Wir hätten sie retten können. Das gebe ich zu. Vor euch allen. Dieses Mädchen hatte zwei Chancen. Und wir beide haben sie im Stich gelassen. Die frische Brise tut mir gut. Sie kühlt den Schweiß auf meiner Stirn und im Nacken. Ihr fragt euch bestimmt, warum diese Kassette von Justin handelt. Was mit dem anderen Jungen ist. War sein Verhalten denn nicht viel schlimmer? Doch, natürlich. Aber die Kassetten müssen ja weitergeschickt werden. Und wenn er sie schon hätte, würde er sie bestimmt behalten. Denkt darüber nach. Er hat ein Mädchen vergewaltigt und würde sich sofort aus dem Staub machen, wenn er wüsste... dass wir es wissen.
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Ich krümme mich immer noch zusammen und hole tief Luft. Halte sie für einen Moment an. Und stoße sie aus. Einatmen. Halten. Ausstoßen. Ich sitze aufrecht im Wagen und halte die Tür offen. Nur für alle Fälle. »Warum ausgerechnet du?«, frage ich. »Warum hast du die anderen Kassetten? Was hast du getan?« Ein Auto fährt an uns vorbei und biegt dann links ab. Es dauert eine geraume Zeit, bis Tony antwortet. »Nichts«, sagt er. »Das ist die Wahrheit.« Zum ersten Mal seit er ins Rosie’s kam, sieht er mir direkt in die Augen. Im Schein der Straßenlaternen sehe ich, dass sie mit Tränen gefüllt sind. »Hör dir die Kassette zu Ende an, Clay, dann erzähle ich dir alles.« Ich schweige. »Hör dir den Rest an. Du bist fast fertig.«
Was hältst du jetzt von ihm, Justin? Hasst du ihn, deinen Freund, der sie vergewaltigt hat? Ist er immer noch dein Freund? Ja? Warum? Es muss wohl mit Scheuklappen funktionieren. Irgendwie. Natürlich hat er schon immer ein hitziges Temperament besessen. Natürlich hat er seine Freundinnen gewechselt wie die Unterhosen. Aber dir war er immer ein guter Freund. Und wenn ihr zusammen rumhängt, dann kommt er dir immer vor wie dein guter alter Kumpel, der sich gar nicht verändert hat, stimmt’s? Wenn er sich aber gar nicht verändert hat, dann kann er auch nichts Schlimmes getan haben. Was bedeutet, dass auch du nichts Schlimmes getan hast. 199
Na großartig! Sind das nicht tolle Nachrichten, Justin? Denn wenn er nichts Schlimmes getan hat und du nichts Schlimmes getan hast, dann habe auch ich nichts Schlimmes getan. Und du ahnst nicht, wie sehr ich mir wünsche, das Leben dieses Mädchens nicht zerstört zu haben. Doch das habe ich getan. Jedenfalls habe ich dazu beigetragen. So wie du. Stimmt schon, du hast sie nicht vergewaltigt. Auch ich habe sie nicht vergewaltigt. Das hat er getan. Aber du... und ich... wir ließen es geschehen. Es ist unsere Schuld.
»Ich will die ganze Geschichte«, sage ich. »Was ist dann passiert?« Ich ziehe die sechste Kassette aus meiner Tasche und tausche sie mit der, die sich im Walkman befindet.
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KASSETTE 6: SEITE A Tony zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss. Als wolle er sich daran festhalten, während er spricht. »Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie ich es sagen soll. Die ganze Zeit, während wir nebeneinandersaßen. Sogar als du draußen gekotzt hast.« »Ich hoffe, du weißt es zu schätzen, dass ich nicht in dein Auto gekotzt habe.« Er starrt auf den Schlüssel in seiner Hand und lächelt matt. »Echt nett von dir!« Ich schließe die Wagentür. Mein Magen hat sich beruhigt. »Sie hat mich zu Hause besucht«, sagt Tony. »Hannah kam zu mir. Das wäre meine Chance gewesen.« »Wofür?« »Alle Anzeichen waren doch vorhanden, Clay!« »Auch ich habe meine Chance gehabt«, entgegne ich. Ich nehme den Kopfhörer ab und hänge ihn über mein Knie. »Als wir uns auf der Party geküsst haben, ist sie plötzlich ausgeflippt, und ich wusste nicht warum. Das war meine Chance.« Im Auto ist es dunkel. Und still. Bei geschlossenen Fenstern scheint die Welt draußen in tiefen Schlaf gefallen zu sein. »Wir müssen uns alle etwas vorwerfen lassen«, sagt er. »Jedenfalls ein bisschen.« »Sie hat dich also zu Hause besucht?« »Ja, mit ihrem Fahrrad, mit dem sie auch immer zur Schule gekommen ist.« »Das blaue«, ergänze ich. »Und lass mich raten, du hast gerade an deiner Karre herumgeschraubt.« Er lacht. »Tja, wer hätte das gedacht? Ich war ziemlich überrascht, weil sie das erste Mal bei mir vorbeikam. Ich meine, wir haben uns in der Schule ganz gut verstanden, aber mehr nicht. Das wirklich Merkwürdige war aber der Grund ihres Besuchs.« »Warum?« Er schaut aus dem Fenster und holt tief Luft. 201
»Sie kam, um mir ihr Fahrrad zu schenken.« Für einen gespannten Moment bleiben die Worte in der Luft hängen. »Sie wollte es mir einfach so überlassen«, sagt Tony. »Sie meinte, sie braucht es nicht mehr. Als ich sie nach dem Grund fragte, zuckte sie bloß die Schultern. Es war ein Zeichen. Und ich habe es nicht verstanden.« Ich zitiere ein Erkennungszeichen aus der Broschüre, die wir in der Schule bekommen haben: »Aufgeben von Eigentum.« Tony nickt. »Sie meinte, ich wäre der Einzige, der es vielleicht brauchen könnte, weil ich von allen Schülern das älteste Auto fahre. Wenn das mal kaputtginge, dann hätte ich jedenfalls ein Ersatzfahrzeug.« »Deine Karre ist doch unverwüstlich«, sage ich. »Nee, die hat ständig ihre Macken, deshalb bastele ich auch andauernd an ihr herum. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr Geschenk nur annehmen könne, wenn ich ihr im Gegenzug auch etwas schenke.« »Was hast du ihr geschenkt?« »Was dann passierte, werde ich nie vergessen«, sagt er und sieht mich an. »Sie hat mir die ganze Zeit in die Augen geschaut, Clay. So lange, bis sie schließlich in Tränen ausbrach. Sie schaute mich an, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.« Tony trocknet seine eigenen Tränen und wischt sich mit der Hand über die Oberlippe. »Ich hätte etwas unternehmen müssen.« Die Anzeichen waren überdeutlich... für alle, die sie hätten sehen wollen. »Wollte sie etwas Bestimmtes haben?« »Sie fragte, womit ich die Kassetten aufnehme, die ich im Auto höre.« Er legt seinen Kopf in den Nacken und atmet tief durch. »Also habe ich ihr vom alten Kassenrekorder meines Vaters erzählt.« Er hält inne. »Dann hat sie mich gefragt, ob 202
ich auch ein Gerät hätte, mit dem man Stimmen aufnehmen kann.« »Oh nein …« »Irgendein Gerät, das man mit sich herumtragen könne. Ich habe sie nicht nach dem Grund gefragt, sondern nur gesagt, sie solle kurz warten.« »Und du hast ihr so was gegeben?« Seine Gesichtszüge verhärten sich. »Ich wusste nicht, was sie damit wollte, Clay.« »Ich mach dir auch keine Vorwürfe. Und sie hat nicht gesagt, wozu sie es brauchte?« »Glaubst du etwa, sie hätte es mir erzählt... selbst wenn ich gefragt hätte?« Nein. Als sie Tony besuchte, stand ihre Entscheidung schon fest. Wenn sie gewollt hätte, dass sie jemand aufhält, sie jemand rettet, dann wäre ich für sie da gewesen. Auf der Party. Das wusste sie. Ich schüttele den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« »Als ich ein paar Tage später von der Schule nach Hause kam«, fährt Tony fort, »da lehnte ein Päckchen an unserer Haustür. Ich nahm es mit hinein und begann, die Kassetten zu hören. Aber das ergab keinen Sinn.« »Hat sie dir irgendeine Nachricht hinterlassen?« »Nein, nur die Kassetten. Aber das ergab keinen Sinn, weil Hannah am selben Tag noch in der Schule gewesen war. Wir hatten die dritte Stunde zusammen.« »Was?« »Als ich nach Hause kam, habe ich also gleich in die Kassetten reingehört. Ich habe immer wieder vorgespult, weil ich wissen wollte, ob ich irgendwo vorkomme. Aber das tat ich nicht. Da wusste ich, dass sie mir den zweiten Satz Kassetten geschickt hatte. Ich bin bei ihr vorbeigefahren und habe versucht, sie anzurufen, doch niemand hat abgehoben. Dann habe ich ihre Eltern im Geschäft angerufen. Ich habe mich erkun203
digt, ob Hannah bei ihnen wäre, und sie haben mich sofort gefragt, ob alles in Ordnung sei, weil ich bestimmt sehr erregt klang.« »Was hast du geantwortet?« »Ich habe ihnen gesagt, dass ich ein komisches Gefühl hätte und sie Hannah unbedingt finden müssten, aber ich konnte mich nicht überwinden, ihnen den wahren Grund zu nennen.« Tony schnappt hektisch nach Luft. »Und am nächsten Tag war sie nicht in der Schule.« Ich hätte ihm gern gesagt, wie leid es mir tut, dass ich mir kaum vorstellen könne, wie schwer das für ihn gewesen sein muss. Aber dann denke in an den morgigen Tag und mache mir klar, dass ich noch früh genug erfahren werde, wie es ist, den Leuten zu begegnen, die auf den Kassetten vorkommen. »Ich hab gesagt, mir ist schlecht, und bin früher nach Hause gegangen. Es hat mehrere Tage gedauert, bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Als ich dann in die Schule kam, sah Justin total fertig aus. Alex auch. Und ich dachte, okay, sie haben auch echt nichts anderes verdient, also werde ich tun, worum sie mich gebeten hat, und dafür sorgen, dass sich alle anhören, was sie zu sagen hat.« »Aber wie hast du uns im Auge behalten?«, frage ich. »Woher wusstest du, dass ich die Kassetten habe?« »Bei dir war das kein Problem«, antwortet er. »Du hast ja schließlich meinen Walkman geklaut.« Wir lachen beide. Ein schönes Gefühl. Eine Erleichterung. Wie das Lachen auf einer Beerdigung. Vielleicht unangebracht, aber sehr wohltuend. »Die anderen waren da schon ein bisschen raffinierter«, sagt er. »Nach Unterrichtsschluss bin ich immer gleich zu meinem Auto gelaufen und so nah an die Rasenfläche vor der Schule herangefahren wie möglich. Dann habe ich auf denjenigen gewartet, der die Kassetten zuletzt gehört hat, seinen Namen gerufen und ihn - oder sie - zu mir herangewinkt.« 204
»Und dann hast du einfach gefragt, ob er oder sie die Kassetten hat?« »Nein, das hätten doch alle geleugnet. Ich habe eine Kassette hochgehalten und gesagt, sie sollten einsteigen, weil ich ihnen unbedingt einen bestimmten Song vorspielen wollte. Und je nachdem, wie sie reagiert haben, wusste ich sofort Bescheid.« »Und dann hast du ihnen eine von Hannahs Kassetten vorgespielt?« »Nein. Wenn sie nicht wegliefen, musste ich ja irgendwas tun, also habe ich ihnen einen Song vorgespielt. Irgendeinen. Sie haben sich bestimmt gefragt, warum in aller Welt ich das tue. Doch wenn ich richtiglag, wurden ihre Augen glasig, und sie schienen mit ihren Gedanken weit, weit weg zu sein.« »Aber warum du?«, frage ich. »Warum hat sie die Kassetten ausgerechnet dir geschickt?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich ihr das Aufnahmegerät geschenkt hatte. Sie dachte vielleicht, ich würde mitspielen, weil ich an der Sache irgendwie beteiligt war.« »Du bist zwar nicht auf den Kassetten, aber trotzdem ein Teil der Sache«, sage ich nickend. Er starrt auf die Windschutzscheibe und fasst um das Lenkrad. »Ich muss los.« »Ich hab das nicht so gemeint«, sage ich. »Ehrlich!« »Ich weiß. Aber es ist schon spät. Mein Vater wird sich langsam fragen, ob ich irgendwo eine Panne habe.« »Du willst ihn doch wohl nicht wieder unter die Kühlerhaube schauen lassen.« Ich will schon aussteigen, überlege es mir jedoch anders und ziehe mein Handy aus der Tasche. »Könntest du mir einen Gefallen tun und ein paar Worte mit meiner Mutter sprechen?« »Klar.« Ich wähle ihre Nummer und sie ist sofort am Apparat. »Clay?« »Hi, Mom.« 205
»Wo steckst du?« Sie klingt besorgt. »Ich hab doch gesagt, dass es spät werden kann.« »Schon, aber ich habe gedacht, du meldest dich mal.« »Tut mir leid. Aber wir brauchen noch ein bisschen Zeit. Vielleicht übernachte ich heute bei Tony.« Genau im richtigen Moment: »Hallo, Mrs Jensen.« Sie fragt, ob ich getrunken habe. »Nein, Mom. Ich schwöre.« »Okay. Es geht um sein Geschichtsprojekt, nicht wahr?« Ich zucke zusammen. Sie möchte meinen Entschuldigungen so gerne glauben. Jedes Mal wenn ich lüge, ist das so. »Ich vertraue dir, Clay.« Ich sage ihr, dass ich morgen früh vor der Schule meine Sachen abholen werde. Dann legen wir auf. »Wo willst du heute Nacht bleiben?«, fragt Tony. »Weiß nicht. Vielleicht gehe ich später nach Hause. Aber ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht, wenn ich es nicht tue.« Er dreht den Zündschlüssel, der Motor springt an. »Soll ich dich irgendwo absetzen?« Ich fasse um den Türgriff und deute mit dem Kopf in Richtung des Hauses. »Hier ist mein Platz auf der Kassette«, sage ich. »Trotzdem, danke.« Sein Blick ist starr geradeaus gerichtet. »Ganz ehrlich, vielen Dank!«, sage ich. Und das bezieht sich nicht auf das Mitnehmen. Ich bin ihm für alles dankbar. Auch dafür, wie er reagiert hat, als ich völlig am Ende war und die Nerven verlor. Dafür, dass er mich in der schlimmsten Nacht meines Lebens zum Lachen brachte. Es ist ein tröstliches Gefühl, dass jemand weiß, was ich durchmache. Das macht es ein wenig einfacher, den Rest der Kassetten anzuhören. Ich steige aus und werfe die Tür zu. Sein Wagen rollt davon. Ich drücke auf »Play«. 206
Also zurück zur Party. Aber macht es euch nicht zu gemütlich. Wir werden sie gleich wieder verlassen. Einen halben Block weiter hält Tonys Mustang an einer Kreuzung, biegt nach links ab und ist verschwunden. Wären all unsere Geschichten durch Fäden miteinander verknüpft, dann wäre die Party der Ort, an dem aus den einzelnen Fäden plötzlich ein so komplizierter Knoten wurde, dass niemand ihn mehr hätte entwirren können. Als Justin und ich uns schließlich aus unserer quälenden Starre lösten, ging ich den Flur hinunter und mischte mich wieder unter die Leute, das heißt, ich taumelte regelrecht in den Raum, nicht wegen des Alkohols, sondern wegen der ganzen Situation. Ich sitze an der Bordsteinkante, nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, an der ich mich vorhin übergeben habe. Ich weiß zwar nicht, wer in dem Haus wohnt, in dem die Party stattfand, doch hätte ich vollstes Verständnis dafür, wenn plötzlich jemand herauskäme und mich aufforderte, Leine zu ziehen. Ich streckte meinen Arm nach dem Klavier aus und ließ mich auf den Klavierschemel sinken. Ich wollte gehen, wusste jedoch nicht wohin. Ich konnte nicht nach Hause. Noch nicht. Und wie sollte ich mich überhaupt fortbewegen? Zum Gehen war ich zu schwach. Jedenfalls fühlte ich mich zu schwach dazu. Doch in Wahrheit war ich nur zu schwach, um es zu versuchen. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich von hier verschwinden und alle und alles aus meinem Gedächtnis streichen wollte. Dann spürte ich eine sanfte Hand an meiner Schulter. Es war Jenny Kurtz. Die Cheerleaderin aus dem Büro. Jetzt bist du dran, Jenny. Ich lasse meinen Kopf auf die Knie sinken. 207
Jenny fragte, ob sie mich nach Hause bringen sollte. Fast hätte ich gelacht. War es so offensichtlich? Sah ich so mitgenommen aus? Sie half mir auf. Es war ein schönes Gefühl, sich von jemandem helfen zu lassen. Wir gingen aus dem Haus und quetschten uns durch eine Horde von Leuten, die sich auf der Veranda verteilten oder im Garten rauchten. In diesem Moment lief ich ziellos durch die Straßen und versuchte herauszubekommen, warum ich die Party verlassen hatte. Versuchte zu verstehen, was gerade zwischen Hannah und mir vorgefallen war. Der Bürgersteig war feucht. Meine Füße, schwerfällig und taub, schlurften über den Asphalt. Ich lauschte dem Geräusch aller Kieselsteine und Blätter, auf die ich trat. Ich wollte alles hören - um das Stimmengewirr und die Musik in meinem Rücken auf Distanz zu halten. Mehrere Blocks entfernt war die dumpfe Musik immer noch zu hören, als wäre es unmöglich, sich weit genug von ihr zu entfernen. Und noch immer erinnere ich mich an jedes Stück, das gespielt wurde. Du hast kein Wort gesagt, Jenny, und mir keinerlei Fragen gestellt. Und ich war dir so dankbar dafür. Vielleicht hast auch du schon Dinge auf Partys erlebt, über die du einfach nicht reden konntest. Zumindest nicht gleich. Was irgendwie passt, weil ich bis heute mit niemandem darüber geredet habe. Na ja, ich... habe es versucht, einmal, aber er wollte mir nicht zuhören. Ist das die zwölfte Geschichte? Oder die dreizehnte? Oder etwas ganz anderes? Ist das einer der Namen auf ihrer Liste, den sie uns nicht verraten will? Du hast mich zu deinem Auto geführt, Jenny. Und obwohl ich mit den Gedanken ganz woanders war und mein Blick ins Leere ging, habe ich deine Berührung wahrgenommen. Wie 208
behutsam du meinen Arm gestützt hast, während ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen habe. Du hast mich angeschnallt, hast dich hinter das Steuer gesetzt und bist losgefahren. Was als Nächstes geschah, kann ich nicht genau sagen. Ich habe dem keine Beachtung geschenkt, denn in deinem Auto fühlte ich mich sicher. Die Luft darin war warm und angenehm. Die langsamen Bewegungen der Scheibenwischer brachten mich allmählich in die Realität zurück. Der Regen war nicht stark, aber er reichte aus, um die Windschutzscheibe mit einem gleichmäßigen Schleier zu überziehen, der mir guttat. Das hinderte mich daran, zu schnell in die Wirklichkeit zurückzukehren. Dann gab es plötzlich einen Stoß. Nichts macht dich von einem auf den anderen Moment so hellwach wie ein Autounfall. Ein Unfall? Noch einer? Zwei in einer Nacht? Warum habe ich von diesem nie etwas gehört? Das rechte Vorderrad stieß gegen die Bordsteinkante und sprang auf den Bürgersteig. Ein schmaler Holzpfahl kollidierte mit deinem Stoßdämpfer und knickte um wie ein Zahnstocher. Mein Gott... Ein Stoppschild fiel im Licht der Scheinwerfer nach hinten und geriet unter den Wagen, während du schreiend auf die Bremse tratst. Im Seitenspiegel sah ich ein paar Funken fliegen, ehe wir zum Stehen kamen. Jetzt war ich richtig wach. Für einen Moment saßen wir regungslos da und starrten durch die Windschutzscheibe. Die Wischblätter gingen immer noch hin und her. Ich umfasste meinen Gurt und war froh, dass wir nur ein Verkehrsschild überfahren hatten. Der Unfall mit dem alten Mann und dem Schüler... Weiß Hannah, dass Jenny ihn verursacht hat? Du hast die Tür aufgestoßen, bist um die Kühlerhaube herumgegangen und hast dich hingekniet, um dir den Schaden 209
näher zu betrachten. Ich glaube, du hast mit der Hand über die Delle gestrichen, bevor dein Kopf nach vorne fiel. Ich weiß nicht, ob du nur sauer warst. Oder hast du geweint? Vielleicht hast du sogar gelacht bei dem Gedanken, wie extrem furchtbar so eine Partynacht verlaufen konnte. Ich weiß, wohin ich jetzt gehe. Dazu brauche ich keine Karte. Denn ich weiß genau, wo sich der nächste Stern befindet. Die Delle war nicht mal besonders groß und im Grunde hättest du erleichtert sein müssen. Es hätte viel schlimmer kommen können. Viel, viel schlimmer. Du hättest zum Beispiel... mit jemandem zusammenstoßen können... Sie weiß es. Mit einer lebenden Person. Was immer du auch gedacht haben magst, man hat es dir nicht angesehen. Mit leerem Blick hast du auf die Delle gestarrt und den Kopf geschüttelt. Dann trafen sich plötzlich unsere Blicke. Und ich bin sicher, dass da ein kurzes Stirnrunzeln war, ehe du lächelnd die Schultern gezuckt hast. Und was waren deine ersten Worte, als du wieder neben mir im Auto saßt? »Verdammte Scheiße!« Dann hast du den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt und... ich habe dich gestoppt. Ich konnte dich doch nicht weiterfahren lassen. An der Kreuzung, an der Tony links abgebogen ist, gehe ich nach rechts. Es ist noch zwei Blocks entfernt, doch ich weiß, dass es da ist. Das Stoppschild. Du hast die Augen geschlossen und gesagt: »Hannah, ich bin nicht betrunken.« Ich habe dir auch nicht vorgeworfen, betrunken zu sein, Jenny. Ich habe mich nur darüber gewundert, warum zum Teufel du nicht in der Lage warst, den Wagen auf der Fahrbahn zu halten. »Es regnet«, hast du gesagt. Ja, natürlich hat es geregnet. Jedenfalls ein wenig. 210
Ich habe dir geraten, den Wagen stehen zu lassen. Du sagtest, ich solle ganz ruhig bleiben. Wir würden doch beide in der Nähe wohnen, und was sollte in diesen Anliegerstraßen schon groß passieren - als hätte das die Sache besser gemacht. Jetzt sehe ich es. Ein Stoppschild, das an einem Metallpfosten befestigt ist. Seine reflektierenden Buchstaben sind schon von Weitem zu erkennen. Doch in jener Nacht stand dort ein anderes Schild. Eines mit nicht reflektierenden Buchstaben, das an einem Holzpfahl befestigt war. »Mach dir keine Sorgen, Hannah!«, sagtest du. Dann hast du gelacht. »Auf Stoppschilder achtet doch sowieso niemand. Alle fahren einfach weiter. Und jetzt ist das an dieser Stelle sogar legal. Die Leute werden mir dankbar sein.« Ich habe dir erneut geraten, das Auto irgendwo abzustellen. Bestimmt gäbe es noch andere Leute auf der Party, sagte ich, die uns nach Hause bringen könnten. Gleich morgen früh würde ich dich abholen und zu deinem Wagen fahren. Aber du wolltest davon nichts wissen. »Hör zu, Hannah...«, hast du wieder gesagt. »Lass ihn stehen, bitte!«, wiederholte ich. Dann wolltest du plötzlich, dass ich aussteige. Aber das tat ich nicht. Ich wollte dich zur Vernunft bringen. Ich sagte, du solltest froh sein, dass es nur ein Verkehrsschild war, und habe dich gewarnt, was alles passieren könnte, wenn ich dich jetzt nach Hause fahren ließe. »Steig aus!«, hast du gesagt. Ich schloss die Augen und lauschte dem Geräusch des Regens und der Scheibenwischer. »Hannah, steig... aus!« Schließlich habe ich es getan. Ich öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Aber ich habe sie nicht zugemacht. Ich schaute zu dir hinüber. Du hattest die Hände am Steuer, den Blick starr nach vorne gerichtet. 211
Ich lasse das Stoppschild, auf das ich zugehe, nicht aus den Augen. Ich fragte, ob ich mal dein Telefon benutzen dürfte. Es befand sich in der Halterung direkt neben dem Radio. Du hast gefragt, warum. Ich bin mir nicht sicher, warum ich dir die Wahrheit gesagt habe. Ich hätte mir irgendwas ausdenken sollen. »Wir müssen zumindest jemandem wegen des kaputten Schilds Bescheid sagen«, antwortete ich. Du schautest weiter starr geradeaus. »Sie können es zurückverfolgen. Sie können prüfen, woher der Anruf kam, Hannah.« Dann hast du den Motor gestartet und mir gesagt, ich soll die Tür zumachen. Aber das tat ich nicht. Also hast du den Rückwärtsgang eingelegt und bist zurückgesetzt. Ich konnte gerade noch zur Seite springen, um der schlagenden Tür auszuweichen. Es hat dich nicht gekümmert, dass das Stoppschild an der Unterseite deines Wagens entlangschrammte. Plötzlich lag es verbeult und zerkratzt vor meinen Füßen, während du den Motor aufheulen ließt. Ich verstand den Hinweis und hielt ausreichend Abstand. Dann hast du Vollgas gegeben, die Seitentür schlug von alleine zu, und bist verschwunden. Im Grunde hattest du weit mehr auf dem Kerbholz als ein ramponiertes Stoppschild, Jenny. Und wieder hätte ich es verhindern können... irgendwie. Wir alle hätten es verhindern können. Die Gerüchte. Die Vergewaltigung. Dich. Ich hätte doch irgendwas sagen können. Dir zur Not den Schlüssel wegnehmen. Oder, als letzte Möglichkeit, dir das Telefon entreißen und die Polizei verständigen. Das wäre übrigens das Einzige gewesen, was geholfen hätte. Denn natürlich hast du nach Hause gefunden. Das war nicht 212
das Problem. Das Problem war, dass das Stoppschild nicht mehr an Ort und Stelle stand. B6 auf der Karte. Zwei Blocks von der Party entfernt steht ein Stoppschild. Doch in jener Nacht, zu später Stunde, war es plötzlich weg. Und es hat geregnet. Und jemand wollte pünktlich eine Pizza ausliefern. Und ein anderer, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, bog um die Ecke. Der alte Mann. Es stand kein Stoppschild an der Ecke. Nicht zu dieser Stunde. Und einer der beiden Fahrer kam ums Leben. Niemand wusste, wie der Unfall passiert war. Nicht wir. Nicht die Polizei. Doch Jenny wusste es. Und Hannah. Und vielleicht Jennys Eltern, weil jemand in aller Eile die Stoßstange wieder befestigt hat. Ich kannte den Jungen im Auto nicht. Es war einer der Schüler aus der Abschlussklasse. Als ich sein Foto in der Zeitung sah, kam er mir nicht bekannt vor. Nur eines der vielen Gesichter an der Schule, die man mal sieht und sofort wieder vergisst. Ich bin auch nicht zu seiner Beerdigung gegangen. Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber ich konnte nicht. Und jetzt versteht ihr sicher auch, warum. Sie wusste es nicht. Sie wusste nichts von dem Mann in dem anderen Fahrzeug. Sie wusste nicht, dass es der Mann war, der in ihrem alten Haus wohnte. Und ich bin froh darüber. Kurz zuvor hatte sie noch zugesehen, wie er seinen Wagen aus der Garage fuhr, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Doch einige von euch waren dort, auf seiner Beerdigung. Er wollte eine Zahnbürste zurückbringen. Das hat mir seine Frau erzählt, als wir auf ihrem Sofa saßen und gemeinsam darauf warteten, dass die Polizei ihn nach Hause bringen würde. Er wollte ans andere Ende der Stadt, um seiner Enkelin ihre Zahnbürste zurückzubringen. Sie haben sich um sie gekümmert, während ihre Eltern im Urlaub waren. Die Zahnbürste 213
hatte sie versehentlich bei ihren Großeltern liegen lassen. Die Eltern des Mädchens meinten, es sei nicht nötig, wegen einer Zahnbürste quer durch die ganze Stadt zu fahren, denn sie hätten noch genug Ersatzzahnbürsten. »Aber so ist er halt«, sagte seine Frau zu mir. »Das ist typisch für ihn.« Und dann kam die Polizei. Denjenigen, die auf der Beerdigung waren, möchte ich beschreiben, was für eine Atmosphäre an diesem Tag in der Schule herrschte. Es war vor allem total ruhig. Ungefähr ein Viertel der Schüler war nicht anwesend. Natürlich vor allem welche aus der letzten Jahrgangsstufe. Die Lehrer stellten es aber allen Schülern, die gekommen waren, frei, die Beerdigung zu besuchen, auch wenn sie keine Entschuldigung mitgebracht hatten. Mr Porter sagte, der Besuch einer Beerdigung könne der erste Schritt sein, um darüber hinwegzukommen. Ich bezweifelte das. Nicht für mich. Denn an der bewussten Straßenecke hatte in dieser Nacht kein Stoppschild gestanden. Irgendjemand hatte es umgefahren. Und jemand anders hatte nicht eingegriffen. Zwei Beamte halfen dem zitternden Mann ins Haus. Seine Frau stand auf und ging zu ihm hinüber. Sie umarmte ihn, bevor beide in Tränen ausbrachen. Als ich das Haus kurz darauf verließ, standen die beiden immer noch mitten im Wohnzimmer und hielten sich aneinander fest. Am Tag der Beerdigung fand in der Schule kein Unterricht statt, damit die Abwesenden nichts verpassten. Die Lehrer gaben uns einfach frei. Wir konnten lesen oder schreiben. Oder nachdenken. Und was habe ich getan? Ich habe zum ersten Mal an meine eigene Beerdigung gedacht. In letzter Zeit hatte ich mich immer öfter, wenn auch sehr allgemein, mit meinem eigenen Tod beschäftigt. Mit der Tatsa214
che des Sterbens. Doch an diesem Tag, während so viele von euch auf der Beerdigung waren, versuchte ich mir erstmals, mein eigenes Begräbnis vorzustellen. Ich erreiche das Stoppschild. Mit den Fingerspitzen streiche ich über den kalten Metallpfosten. Dabei merkte ich schnell, dass ich mir durchaus vorstellen konnte, wie das Leben - die Schule und alles andere - ohne mich weiterging. Nur von meiner eigenen Beerdigung konnte ich mir kein Bild machen. Vor allem weil ich mir nicht vorstellen konnte, wer dort erscheinen und was über mich gesagt werden würde. Ich hatte... ich habe... keine Ahnung, was ihr über mich denkt. Ich weiß auch nicht, was die anderen über dich denken, Hannah. Nachdem wir von deinem Tod erfahren hatten, wurde im Allgemeinen nur wenig darüber gesprochen. Und die Beerdigung hat ja auch woanders stattgefunden. Natürlich haben es alle gespürt. Da war dein leerer Platz in der Schule und die Gewissheit, dass du nie mehr wiederkommen würdest. Doch irgendwie schien keiner so richtig zu wissen, wie er ein Gespräch darüber beginnen sollte. Seit der Party sind inzwischen ein paar Wochen vergangen. Und bis jetzt ist es dir wirklich großartig gelungen, mir aus dem Weg zu gehen, Jenny. Ich denke, das ist nur zu verständlich. Natürlich willst du alles vergessen, was mit dem Auto und dem Stoppschild in Verbindung steht. Natürlich willst du nicht mehr an die Folgen denken. Aber das wird dir nie gelingen. Vielleicht wusstest du nicht, was die anderen über dich denken, weil sie es selbst nicht wissen. Vielleicht hast du uns zu wenig Anhaltspunkte gegeben, Hannah. Wären wir uns nicht auf der Party begegnet, hätte ich dich nie richtig kennengelernt. Doch aus irgendeinem Grund - und ich bin extrem dankbar dafür - hast du es mir ermöglicht. Du 215
hast mir die Chance gegeben, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war. Und mir gefiel die Hannah, die ich in dieser Nacht kennenlernte. Vielleicht hätte ich sie sogar lieben können. Aber du hast es nicht so weit kommen lassen. Es war deine Entscheidung, Hannah. Ich hingegen muss nur noch einen einzigen Tag daran denken. Ich drehe mich um und entferne mich von dem Stoppschild. Wenn ich gewusst hätte, dass an dieser Ecke zwei Autos miteinander kollidieren würden, dann wäre ich zur Party zurückgerannt und hätte sofort die Polizei verständigt. Aber das hätte ich mir nie vorstellen können. Niemals. Also bin ich zu Fuß gegangen. Aber nicht zurück zur Party. Meine Gedanken rasten in alle Richtungen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich konnte nicht mehr geradeaus laufen. Ich bin versucht, mir über die Schulter zu schauen und das Stoppschild mit den reflektierenden Buchstaben als etwas zu sehen, was ich Hannah hätte entgegenhalten können. Stopp! Doch ich gehe unbeirrt weiter und weigere mich, in dem Schild mehr zu sehen als ein simples Verkehrszeichen. Ein Stoppschild an einer Straßenecke. Mehr nicht. Ich bog von einer Ecke um die nächste, ohne zu wissen, in welche Richtung ich ging. Wir sind beide durch diese Straßen gegangen, Hannah. Auf verschiedenen Wegen, aber zur selben Zeit. In derselben Nacht. Wir sind beide davongelaufen. Ich vor dir und du vor der Party. Doch nicht nur vor der Party. Auch vor dir selbst. Dann hörte ich plötzlich quietschende Reifen, drehte mich um und sah, wie zwei Autos zusammenstießen. Irgendwann stieß ich auf eine Tankstelle - C7 auf eurer Karte - und rief von einem Münzfernsprecher aus die Polizei. Während es klingelte, bemerkte ich, wie ich den Hörer in der Hoffnung umklammerte, dass niemand abheben würde. 216
Ich wollte es einfach klingeln lassen. Ich wollte, dass in diesem Moment die Zeit stehen bleibt. Ich kann ihrer Karte nicht länger folgen. Ich werde nicht zu der Tankstelle gehen. Als schließlich jemand an den Apparat ging, schluckte ich die Tränen runter, die meine Lippen befeuchteten, und sagte, dass es an der Kreuzung Tanglewood und South... Die weibliche Stimme unterbrach mich und sagte, ich solle mich erst mal beruhigen. In diesem Moment wurde mir klar, wie heftig ich geweint hatte und immer noch darum kämpfte, zu Atem zu kommen. Ich überquere die Straße und entferne mich immer weiter von dem Haus, in dem die Party stattfand. In den letzten Wochen habe ich so viele Umwege in Kauf genommen, um dieses Haus zu meiden. Um der Erinnerung und dem Schmerz meiner einen Nacht mit Hannah Baker aus dem Weg zu gehen. Ich habe keinen Bedarf, es in dieser Nacht ein zweites Mal zu sehen. Sie sagte mir, die Polizei sei bereits alarmiert worden und schon unterwegs. Ich schwinge den Rucksack nach vorne und ziehe die Karte heraus. Ich war total überrascht, weil ich nie gedacht hätte, dass du die Polizei rufst, Jenny. Ich falte die Karte auseinander, um einen letzten Blick daraufzuwerfen. Doch die Überraschung war fehl am Platz, weil sich schließlich herausstellte, dass du es gar nicht gewesen bist. Dann knülle ich sie so fest zusammen, dass sie nicht mehr größer als meine Faust ist. Als am nächsten Tag in der Schule alle die Ereignisse der Nacht Revue passieren ließen, fand ich heraus, wer die Polizei verständigt hatte. Doch der Grund war nicht ein umgefallenes Verkehrsschild gewesen. 217
Ich stopfe die Karte tief in einen Busch hinein und gehe weiter. Sondern ein Unfall. Ein Unfall, der durch ein umgefallenes Verkehrsschild verursacht worden war. Ein Unfall, von dem ich bis dahin nichts gehört hatte. Doch in dieser Nacht bin ich noch länger durch die Straßen gelaufen, nachdem ich aufgelegt hatte. Ich musste meine Tränen stoppen und mich beruhigen, ehe ich nach Hause kam. Denn hätten meine Eltern gesehen, wie ich mich mit verheultem Gesicht ins Haus schleiche, hätten sie mir zu viele Fragen gestellt. Fragen, auf die ich keine Antwort gewusst hätte. Ich habe damals nicht geweint, doch jetzt kann ich meine Tränen kaum noch zurückhalten. Und auch ich kann jetzt nicht nach Hause gehen. Also bin ich weiter ziellos umhergeirrt. Es tat mir gut, die Kälte und den Sprühregen auf meiner Haut zu spüren. Stundenlang bin ich so weitergelaufen und habe mir vorgestellt, wie aus dem leichten Dunst ein dichter Nebel würde, der mich für immer verschlang. Der Gedanke, so mir nichts, dir nichts zu verschwinden, machte mich glücklich. Aber das ist, wie ihr wisst, nie passiert.
Ich öffne den Deckel und drehe die Kassette um. Fast bin ich am Ende angekommen. Ich stoße zitternd die Luft aus und schließe die Augen. Das Ende.
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KASSETTE 6: SEITE B Nur noch zwei. Gebt jetzt nicht auf. Oh, entschuldigt die unpassende Bemerkung. Schließlich bin ich es, die aufgibt, oder? Darauf läuft doch am Ende alles hinaus... dass ich mich selbst... aufgebe. Ihre Stimme klingt ruhig. Im Einklang mit dem, was sie sagt. Vor dieser Party hatte ich so oft daran gedacht aufzugeben. Ich weiß nicht, vielleicht neigen manche Leute von Natur aus eher dazu als andere. Denn immer wenn irgendwas Schreckliches passiert ist, dachte ich daran. Daran? Okay, ich werde es beim Namen nennen. Ich dachte an Selbstmord. Die Wut, die Scham, das alles ist vorbei. Sie hat sich entschieden. Das Wort hat seinen Schrecken verloren. Nach allem, wovon ich auf den Kassetten erzählt habe, nach all diesen Ereignissen begann ich, mit dem Gedanken an einen möglichen Selbstmord zu spielen. Für gewöhnlich war das nur ein vorübergehender Gedanke. Ich will nicht mehr leben. Ich habe diese Worte oft gedacht. Aber es fällt schwer, sie laut auszusprechen. Und der Gedanke, sie womöglich ernst zu meinen, ist noch erschreckender. Doch manchmal habe ich mich intensiver damit auseinandergesetzt und überlegt, wie ich es anstellen könnte. Ich legte mich ins Bett und fragte mich, ob es in unserem Haus irgendeinen Gegenstand gab, der infrage kam. Ein Gewehr? Nein, so was haben wir nie besessen. Und ich wusste auch nicht, wo ich eins herbekommen sollte. Sich aufhängen? Womit? Und wo? Und selbst wenn diese Fragen gelöst wären, schauderte ich bei dem Gedanken, mir bildlich vorzustellen, wie ich irgendwo über dem Fußboden baumelte. Das konnte ich Mom und Dad nicht antun. 219
Wie haben sie dich gefunden? Es gab so viele Gerüchte darüber. Mit der Zeit wurde das zu einem makabren Spiel - mir vorzustellen, wie ich mich umbringen könnte. Und natürlich gibt es da ein paar verrückte und phantasievolle Möglichkeiten. Du hast Tabletten genommen. Das wissen alle. Manche sagen, du hast das Bewusstsein verloren und bist in der Badewanne ertrunken. Nach und nach schälten sich zwei Dinge heraus. Zum einen wollte ich, dass es wie ein Unfall aussieht, dass ich zum Beispiel mit dem Auto von der Straße abgekommen wäre. An irgendeiner Stelle, an der man keine Überlebenschance hat. Außerhalb der Stadt gibt es da genügend Möglichkeiten. In den letzten Wochen war ich sicher mehrmals an solchen Stellen vorbeigefahren. Andere behaupten, du hast den Wasserhahn der Badewanne aufgedreht, bist dann aber auf dem Bett eingeschlafen. Als deine Eltern nach Hause kamen, haben sie sogleich die Überschwemmung bemerkt und deinen Namen gerufen, aber keine Antwort erhalten. Doch da sind diese Kassetten. Könnte ich mich darauf verlassen, dass ihr das Geheimnis für euch behaltet? Dass meine Eltern nicht erfahren, was wirklich passiert ist? Dass ihr sie in dem Glauben lasst, dass es ein Unfall war? Sie hält inne. Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher. Sie hält es für möglich, dass wir uns davon erzählen. Dass der eine zum anderen sagt: »Willst du mal ein echt schreckliches Geheimnis erfahren?« Also habe ich mich für den schmerzlosesten Weg entschieden. Tabletten. 220
Mein Magen zieht sich zusammen, als wollte sich mein Körper von allem befreien: Essen, Gedanken, Gefühle. Doch was für Tabletten? Und wie viele? Ich weiß es nicht, doch mir bleibt nicht mehr viel Zeit, es herauszufinden, denn morgen... werde ich es tun. Wow. An einer stillen, dunklen Kreuzung sitze ich auf der Bordsteinkante. Morgen werde ich nicht mehr da sein. Die Häuser ringsum liegen im Dunkeln. Nur hinter wenigen Fenstern flackert das schwache bläuliche Licht nächtlich eingeschalteter Fernseher. Bei ungefähr einem Drittel von ihnen ist die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Doch bei den übrigen zeugen allenfalls der gemähte Rasen oder ein geparktes Auto davon, dass die Häuser bewohnt sind. Morgen werde ich aufstehen, mich anziehen und zum Postamt gehen. Dort werde ich ein Paket an Justin Foley aufgeben, in dem sich mehrere Kassetten befinden. Danach gibt es kein Zurück mehr. Ich werde zur Schule gehen, allerdings zu spät für die erste Stunde, und dann werden wir einen letzten gemeinsamen Tag miteinander verbringen. Doch im Gegensatz zu mir werdet ihr nicht wissen, dass es unser letzter gemeinsamer Tag ist. Kann ich mich daran erinnern? Sehe ich im Geiste vor mir, wie sie an ihrem letzten Tag über die Flure ging? Ich will mich an meine letzte Begegnung mit ihr erinnern können. Ihr werdet mich so behandeln, wie ihr mich immer behandelt habt. Wisst ihr noch, was eure letzten Worte an mich waren? Ich nicht. Erinnert ihr euch daran, was ihr bei unserer letzten Begegnung getan habt? Ich bin sicher, dass ich gelächelt habe. Nach der Party habe ich jedes Mal gelächelt, wenn ich dich gesehen habe, aber du hast nie aufgeblickt. Weil dein Entschluss feststand. 221
Du wusstest, dass du bei einem Blickkontakt vielleicht zurückgelächelt hättest. Aber das wolltest du nicht. Es hätte deinen Plan gefährdet. Und was war das Letzte, das ich zu euch gesagt habe? Denn ihr könnt mir glauben, dass ich in diesem Moment ganz genau wusste, dass es mein letztes Wort war. Du hast mir gesagt, dass ich aus dem Zimmer gehen soll. Danach hast du es immer irgendwie geschafft, mich zu ignorieren. Was mich zu einem meiner letzten Wochenenden führt. Das Wochenende nach dem Unfall, an dem eine weitere Party stattfand. Doch zu der bin ich nicht erschienen. Ich hatte immer noch Hausarrest. Aber das war nicht der Grund, warum ich nicht auf die Party gegangen bin. Im Grunde wäre das viel einfacher gewesen als beim letzten Mal, weil ich an diesem Wochenende ein anderes Haus hütete. Da ein Freund meines Vaters verreist war, fütterte ich in dieser Zeit seinen Hund und sah nach dem Rechten. Denn nur ein paar Häuser weiter sollte am Wochenende eine Riesenparty steigen. Was auch eintrat. Vielleicht war sie nicht ganz so groß wie die am Wochenende zuvor, aber definitiv nichts für Anfänger. Selbst wenn ich mit deinem Kommen gerechnet hätte, wäre ich zu Hause geblieben. Da du mir schon in der Schule konsequent aus dem Weg gegangen bist, musste ich damit rechnen, dass du mich auch auf der Party ignorieren würdest, und auf eine Bestätigung dieser Annahme wollte ich es nicht ankommen lassen. Leute, die einmal richtig schlechte Erfahrungen mit Tequila gemacht haben, sagen manchmal, dass schon der Geruch einen Brechreiz bei ihnen auslöst. Und mir drehte sich schon bei dem Gedanken an die Party in meiner Nähe der Magen um. Eine Woche hatte nie und nimmer gereicht, um über die letzte Party hinwegzukommen. 222
Der Hund war völlig durchgedreht und brach jedes Mal in hysterisches Gekläffe aus, wenn jemand am Fenster vorbeiging. Ich kniete mich hin und schrie, dass er dort verschwinden sollte, traute mich aber nicht, ihn vom Fenster wegzuzerren. Es hätte mich ja jemand von der Straße aus sehen und meinen Namen rufen können. Schließlich habe ich den Hund in die Garage gesperrt. Dort konnte er so viel bellen, wie er wollte. Warte, jetzt erinnere ich mich! An unsere letzte Begegnung. Es war unmöglich, sich den dröhnenden Bässen zu entziehen, die zu mir herüberschallten. Aber ich habe es versucht. Ich bin durchs ganze Haus gerannt, habe sämtliche Vorhänge vorgezogen und die Jalousien heruntergelassen. Ich erinnere mich an die letzten Worte, die wir gewechselt haben. Dann versteckte ich mich im Schlafzimmer und drehte den Fernseher auf volle Lautstärke. Und obwohl ich sie nicht mehr hören konnte, spürte ich die Vibrationen der Bässe in mir. Ich kniff die Augen zusammen. Ich sah nicht mehr auf den Bildschirm. Ich war nicht mehr in diesem Zimmer. Ich konnte nur noch an diesen Schrank denken, in dem ich versteckt gewesen war, von Kleidern umgeben. Erneut schwankte mein Oberkörper vor und zurück. Und wieder konnte niemand mein Schreien hören. In Mr Porters Englischkurs fiel mir auf, dass dein Platz leer war. Doch als ich nach der Stunde aus dem Klassenzimmer ging, standst du plötzlich vor mir. Irgendwann war die Party dann zu Ende. Und nachdem alle erneut vor meinem Fenster vorbeigegangen waren und der Hund mit dem Bellen aufgehört hatte, ging ich durch das Haus und zog die Vorhänge wieder zur Seite. Fast wären wir zusammengestoßen. Aber deine Augen waren auf den Boden gerichtet, und so hast du nicht bemerkt, dass ich es war. Wir sagten gleichzeitig »Entschuldigung«. 223
Nachdem ich so lange Zeit im Haus gewesen war, wollte ich ein bisschen frische Luft schnappen. Und ausnahmsweise mal eine Heldin sein. Dann hast du deinen Kopf gehoben. Und mich erkannt. Was war das für ein Ausdruck in deinen Augen? Trauer? Schmerz? Du bist um mich herumgegangen und hast versucht, dir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Deine Fingernägel waren dunkelblau lackiert. Ich habe dir nachgeschaut, während du den Flur hinuntergingst und mehrere Leute mich anrempelten. Aber das war mir egal. Ich blieb einfach stehen, bis du verschwunden warst. Für immer. D4 ist an der Reihe. Das Haus von Courtney Crimsen. Der Ort der Party. Nein, nein, Courtney steht auf dieser Kassette nicht im Mittelpunkt... obwohl sie eine gewisse Rolle spielt. Aber Courtney hat keine Ahnung, was ich jetzt erzählen will, weil sie gegangen ist, als die Dinge gerade richtig in Schwung kamen. Ich drehe mich um und entferne mich von Courtneys Haus. Ich wollte dort einfach nur vorbeischauen. Vielleicht würde ich ja jemanden treffen, der Schwierigkeiten hat, seine Autotür aufzuschließen, dann konnte ich ihn oder sie möglicherweise nach Hause bringen. Ich werde nicht zu Courtneys Haus gehen, sondern zum Eisenhower Park, dem Ort von Hannahs erstem Kuss. Aber die Straße war leer. Alle waren schon gegangen. Jedenfalls schien es so. Doch dann rief jemand meinen Namen. Über dem hohen Lattenzaun, der ihr Grundstück an der Seite begrenzt, wurde ein Kopf sichtbar. Und wessen Kopf war es? Der von Bryce Walker. Oh nein! Das muss ein böses Ende nehmen. Wenn irgendjemand in der Lage war, Hannah den Rest zu geben, dann Bryce. »Wo willst du hin?«, fragte er. 224
Wie oft habe ich nicht schon beobachtet, wie er eine seiner Freundinnen an den Hüften packt und herumdreht. Sie wie Fleisch behandelt. Und zwar in aller Öffentlichkeit. Mein Körper, meine Schultern, einfach alles an mir wollte einfach weitergehen, ohne ihm Beachtung zu schenken. Und das hätte ich auch tun sollen. Doch plötzlich drehte sich mein Kopf in seine Richtung. Auf seiner Seite des Zauns stieg Dampf auf. »Komm rüber zu uns«, sagte er, »wir nüchtern gerade aus.« Und wessen Kopf stieg plötzlich neben seinem in die Höhe? Der von Miss Courtney Crimsen. Was für ein Zufall. Sie hatte mich damals als Chauffeur benutzt, um zu der Party zu kommen. Und jetzt störte ich ihre kleine Nachfeier. Sie hatte mich damals einfach allein gelassen. Ohne jemanden zum Reden. Und jetzt konnte sie sich mir nicht entziehen. Aber das ist doch nicht der Grund, warum du zu ihnen gegangen bist, Hannah, obwohl du wusstest, dass es die schlechteste Entscheidung war, die du treffen konntest. Du wusstest es. Außerdem wollte ich nicht nachtragend sein. Du wolltest, dass deine Welt zusammenbricht. Deshalb hast du es getan. Du wolltest deinen Untergang beschleunigen. Und da kam dir Bryce gerade recht. Du sagtest, ihr würdet euch ein wenig entspannen. Dann hast du, Courtney, mir angeboten, mich nachher nach Hause zu fahren. Du wusstest ja nicht, dass ich nur ein paar Häuser weiter übernachten würde. Und dein Angebot hörte sich vollkommen aufrichtig an, was mich überraschte. Ich hatte sogar fast ein schlechtes Gewissen. Ich war bereit, dir zu vergeben, Courtney. Und das tat ich dann auch. Ich vergebe fast allen von euch. Aber ihr müsst mir bis zu Ende zuhören. Ihr müsst die Wahrheit erfahren. 225
Ich ging über das feuchte Grass und zog die Tür auf, die sich im Zaun befand. Dann sah ich, woher der heiße Dampf kam... von einem Whirlpool aus Rotholz. Da die Düsen nicht an waren, hörte man nur das sanfte Plätschern des Wassers gegen die Holzwände. Ihr saßt mit geschlossenen Augen im Wasser und hattet eure Köpfe in den Nacken gelegt. Das entspannte Lächeln in euren Gesichtern machte den Whirlpool so einladend. Courtney bewegte den Kopf in meine Richtung, ohne die Augen zu öffnen. »Wir haben Unterwäsche an«, sagte sie. Ich zögerte. Sollte ich auch? Nein... aber ich tat es. Du wusstest, worauf du dich eingelassen hast, Hannah. Ich zog Schuhe, Oberteil und Hose aus und ging die hölzernen Stufen hinauf. Dann stieg ich ins Wasser. Es war so wohltuend. So entspannend. Mit beiden Händen ließ ich das Wasser über mein Gesicht laufen, strich meine Haare zurück und schloss die Augen. Dann ließ ich mich ganz hineingleiten und lehnte meinen Kopf gegen die Rückwand. Doch so beruhigend das Wasser auch war, so sehr fuhr mir plötzlich der Schreck in die Glieder. Ich sollte nicht hier sein. Ich kannte Bryce und Courtney gut genug, um ihnen zu misstrauen. Und mein Misstrauen war gerechtfertigt... aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Mein Kampf war zu Ende. Ich öffnete die Augen und blickte in den nächtlichen Himmel. Vom Dampf verschleiert, schien die ganze Welt wie ein Traum. Meine Augen verengen sich, während ich weitergehe. Am liebsten würde ich sie schließen. Es dauerte nicht lang, bis das Wasser mir unangenehm wurde. Es war einfach zu heiß. Erst wenn ich den Park erreicht habe, will ich die Augen wieder ganz öffnen. Ich will nichts mehr von den Straßen se226
hen, durch die Hannah und ich in der Nacht der Party geirrt sind. Doch als ich mich aufsetzte, um meinen Oberkörper zu kühlen, sah ich, dass sich meine Brüste deutlich unter dem nassen BH abzeichneten. Also ließ ich mich wieder tiefer ins Wasser gleiten. Gleichzeitig rutschte Bryce auf der Sitzbank langsam zu mir herüber... bis unsere Schultern sich plötzlich berührten. Courtney warf uns einen flüchtigen Blick zu, ehe sie wieder die Augen schloss. Ich rüttele an einem rostigen Maschendrahtzaun, der sich zu meiner Linken befindet. Ich schließe die Augen und ziehe meine Finger aus dem Drahtgeflecht heraus. »Hannah Baker...«, flüstert er mit einschmeichelnder Stimme. Jeder kennt deine Masche, Bryce. Jeder weiß, was du tust. Doch um es klar zu sagen: Ich habe nichts getan, um dich aufzuhalten. Du hast gefragt, ob ich Spaß auf der Party hatte. Courtney flüsterte dir zu, dass ich gar nicht auf der Party gewesen bin, aber das kümmerte dich nicht. Stattdessen spürte ich deine Fingerspitzen an meinem Oberschenkel. Ich öffne die Augen und schlage auf den Zaun ein. Meine Kiefer verhärteten sich und deine Finger zogen sich zurück. »Die war ja auch ziemlich schnell vorbei«, sagtest du. Und genauso schnell waren deine Fingerspitzen wieder da. Ich ziehe meine Finger an dem rostigen Zaun entlang, bis ich einen stechenden Schmerz spüre. Plötzlich spürte ich deine ganze Hand. Und weil ich sie nicht wegschob, strich sie über meinen Bauch. Dein Daumen berührte dabei die Unterseite meines BHs, während dein kleiner Finger am Saum meines Slips entlangfuhr. 227
Ich wandte meinen Kopf ab. Und ich weiß, dass ich dabei nicht lächelte. Deine Fingerspitzen kreisten langsam auf meinem Bauch. »Fühlt sich gut an«, hast du gesagt. Ich spürte eine Bewegung im Wasser und öffnete kurz die Augen. Courtney war aus dem Wasser gestiegen und ging davon. Braucht es noch mehr Gründe, um dich zu hassen, Courtney? »Erinnerst du dich noch an dein erstes Jahr auf der Highschool?«, hast du gefragt. Deine Finger glitten unter meinen BH. Aber du hast nicht zugegriffen. Vermutlich wolltest du erst mal ausprobieren, wie weit du gehen konntest. Dein Daumen strich unter meinen Brüsten entlang. »Du warst doch auf der Liste«, hast du gesagt, »geilster Arsch der ersten Jahrgangsstufe.« Du musst gesehen haben, dass ich meinen Mund zusammenpresste und Tränen in den Augen hatte, Bryce! Oder turnt dich so was etwa an? Du hast es erfasst, Hannah. »Die Liste hat völlig recht«, hast du gesagt. In diesem Moment gab ich meinen Widerstand auf. Ich ließ meine Schultern sinken. Meine Beine glitten auseinander. Ich wusste genau, was ich tat. Nicht ein einziges Mal habe ich den Ruf bestätigt, den ihr mir verpasst habt. Nicht ein einziges Mal. Obwohl mir das manchmal nicht leichtfiel. Obwohl ich mich manchmal zu jemandem hingezogen fühlte, der mich nur deshalb herumkriegen wollte, weil er gewisse Dinge über mich gehört hatte. Doch solche Jungs habe ich immer abblitzen lassen. Immer! Bis zu diesem Augenblick.
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Also herzlichen Glückwunsch, Bryce! Du hast es geschafft. Bei dir bin ich meinem Ruf endlich gerecht geworden. Na, was für ein Gefühl ist das? Warte, sag nichts! Lass mich zuerst Folgendes feststellen: Ich habe mich nie von dir angezogen gefühlt, Bryce. Im Gegenteil. Du hast mich angeekelt. Ich mach dich fertig! Das schwöre ich. Du hast mich berührt... aber ich habe dich benutzt. Weil ich dich brauchte, konnte ich mich völlig gehen lassen. Um es allen, die zuhören, noch mal zu sagen: Ich habe nicht Nein gesagt oder seine Hand weggestoßen. Ich habe nur meinen Kopf abgewandt, die Zähne zusammengebissen und mit den Tränen gekämpft. Er hat das alles gesehen - und mir gesagt, ich soll ganz cool bleiben. Ich habe nie gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen... was du ja auch nicht getan hast. Deine Finger kreisten nicht mehr auf meinem Bauch. Stattdessen hast du meine Taille gestreichelt. Dein kleiner Finger glitt unter meinen Slip und bewegte sich hin und her, von Hüfte zu Hüfte. Dann tastete sich ein weiterer Finger unter meinen Slip und schob den kleinen Finger weiter nach unten, durch meine Haare hindurch. Das reichte dir, um richtig loszulegen, Bryce. Du hast meine Schulter und meinen Hals geküsst, während deine Finger hinein- und hinausglitten. Und du hast immer weitergemacht... Tut mir leid, wenn das für jemanden zu anschaulich sein sollte. Als du fertig warst, Bryce, bin ich aufgestanden und nach Hause, das heißt zwei Häuser weiter, gegangen. Die Nacht war vorbei. Ich war am Ende.
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Ich balle die Faust und halte sie mir vors Gesicht. Durch einen Tränenschleier sehe ich, wie das Blut zwischen meinen Fingern hindurchrinnt. Der rostige Maschendrahtzaun hat sie an mehreren Stellen aufgeritzt. Egal wo Hannah mich als Nächstes hinschickt - ich weiß, wo ich den Rest der Nacht verbringen werde. Aber zuerst muss ich mir die Hände waschen. Die Wunden brennen, doch vor allem ist es der Anblick meines Bluts, der mir ein mulmiges Gefühl bereitet. Ich steuere die nächste Tankstelle an, die nur wenige Blocks entfernt liegt. Ich schüttele mehrmals meine Hand und hinterlasse eine Spur dunkler Blutstropfen auf dem Bürgersteig. Als ich die Tankstelle erreiche, schiebe ich meine verletzte Hand in die Hosentasche und ziehe die Tür des Mini-Markts auf. Ich entdecke eine durchsichtige Flasche mit Reinigungsalkohol und eine kleine Packung mit Pflastern, lege ein paar Dollar auf die Theke und frage die Kassiererin nach dem Toilettenschlüssel. »Die Toiletten sind auf der Rückseite des Gebäudes«, entgegnet sie. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drücke die Tür mit der Schulter auf. Dann halte ich meine Hand unter fließendes kaltes Wasser und beobachte, wie das Blut kreiselnd im Abfluss verschwindet. Ich öffne den Verschluss der Flasche und gieße mir den gesamten Inhalt mit einer Bewegung - damit ich nicht näher darüber nachdenken muss, was ich tue - über die Hand. Mein ganzer Körper verkrampft sich und ich stoße einen lauten Fluch aus. Ich habe das Gefühl, meine Haut würde sich abschälen. Es scheint eine Stunde zu dauern, bis ich meine Finger wieder einigermaßen bewegen kann. Mithilfe meiner Zähne und der freien Hand gelingt es mir, die Schnitte mit mehreren Pflastern zu versorgen. 230
Als ich den Schlüssel zurückgebe, wünscht mir die Kassiererin einen »schönen Abend«. Das ist alles. Auf dem Bürgersteig beginne ich zu laufen. Es ist nur noch eine Kassette übrig. Sie ist mit einer blauen Dreizehn beschriftet.
KASSETTE 7: SEITE A Der Eisenhower Park ist menschenleer. Ich stehe regungslos am Eingang und lasse alles auf mich einwirken. Hier werde ich die Nacht verbringen. Hier werde ich Hannahs letzten Worten lauschen, ehe ich in Schlaf falle. Mehrere Laternenpfähle verteilen sich über den Spielplatz, bei den meisten sind die Birnen defekt. Die untere Hälfte der Raketenrutsche liegt im Dunkeln, doch nahe der Spitze, oberhalb der umliegenden Schaukeln und Bäume, werden die Metallstäbe in helles Mondlicht getaucht. Ich betrete den Sand, der die Rutsche umgibt. Ich ducke mich unter die niedrigste Plattform, die von drei Metallflügeln getragen wird. In der Plattform befindet sich eine runde Öffnung, durch die eine Leiter führt. Als ich mich aufrichte, passen meine Schultern gerade so durch die Öffnung hindurch. Mit meiner gesunden Hand halte ich mich an der Kante fest, während ich die nächste Plattform erklimme. Ich greife in meine Jackentasche und drücke auf »Play«.
Ein... letzter... Versuch. Sie flüstert. Das Aufnahmegerät ist nahe an ihrem Mund, und in jeder Pause, die sie macht, höre ich ihren Atem. 231
Ich gebe dem Leben noch eine Chance. Und diesmal werde ich mir Hilfe holen, denn allein schaffe ich es nicht. Das habe ich schon früher probiert. Stimmt nicht, Hannah. Ich war für dich da, aber du hast mich weggeschickt. Wenn ihr allerdings jetzt diese Kassetten hört, dann habe ich versagt. Oder er hat versagt. Und wenn er versagt, ist mein Tod beschlossene Sache. Mit zusammengeschnürter Kehle steige ich die nächste Leiter hinauf. Nur eine einzige Person steht noch zwischen euch und den Kassetten: Mr Porter. Das kann nicht wahr sein … Hannah und ich hatten Mr Porter beide in Englisch. Ich sehe ihn jeden Tag. Ich will nicht, dass er über alles Bescheid weiß. Über mich. Über die anderen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ein Erwachsener in diese Sache verwickelt ist. Dann lassen Sie uns mal sehen, wie Sie sich schlagen, Mr Porter. Man hört, wie ein Klettverschluss gelöst wird, gefolgt von einem Rascheln. Sie scheint das Aufnahmegerät irgendwo zu verstauen. Vielleicht in einem Rucksack oder in ihrer Jacke. Es klopft. Erneutes Klopfen. »Hannah, wie schön, dass du gekommen bist!« Seine Stimme klingt dumpf, aber freundlich. Es ist Mr Porter, unverkennbar. »Komm und setz dich!« »Danke.« Unser Englischlehrer, doch auch der Vertrauenslehrer aller Schüler mit den Nachnamen A bis G. Hannahs Vertrauenslehrer. »Wie geht es dir? Möchtest du ein Glas Wasser?« »Danke, alles in Ordnung.« 232
»Also, Hannah, was kann ich für dich tun? Worüber möchtest du reden?« »Ach... ich weiß nicht... über alles Mögliche.« »Hört sich ja nach einem längeren Gespräch an.« Stille. Eine zu lange Stille. »Kein Problem, Hannah. Wir haben alle Zeit der Welt.« »Es ist nur... dass im Moment … alles irgendwie so schwierig ist.« Ihre Stimme zittert. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich meine, es passieren so viele Dinge...« »Du musst nicht alles auf einmal erzählen. Vielleicht fangen wir damit an, wie du dich gerade fühlst.« »In diesem Moment?« »In diesem Moment.« »In diesem Moment fühle ich mich einsam, irgendwie leer.« »Wie... leer?« »Einfach leer. Ich fühle nichts. Mir ist alles egal.« »In welcher Hinsicht?« Sie müssen sie irgendwie zum Reden bringen. Fragen Sie weiter, aber bringen Sie sie zum Reden. »In jeder Hinsicht. Was die Schule betrifft, mich selbst, meine Mitschüler.« »Was ist mit deinen Freunden?« »Da müssen Sie mir erst sagen, was Sie unter Freunden verstehen, wenn Sie eine Antwort haben möchten.« »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du keine Freunde hast, Hannah. Also wenn ich dich auf den Fluren beobachte...« »Ganz im Ernst. Ich brauche da eine Definition. Wie soll man wissen, ob jemand ein Freund ist?« »Das ist jemand... an den man sich wenden kann.« »Dann habe ich keine Freunde. Deshalb wende ich mich ja an Sie.« »Ich bin froh, dass du gekommen bist, Hannah.« 233
Ich krabbele über die zweite Plattform und knie mich neben eine Öffnung zwischen den Gitterstäben. Eine Öffnung, die groß genug ist, um hindurchzukriechen und die Rutsche zu erreichen. »Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es für mich war, diesen Termin wahrzunehmen.« »Ich hätte noch andere Termine gehabt.« »Das meine ich nicht. Es hat mich viel Überwindung gekostet hierherzukommen.« Das glatte Metall der Rutsche erstrahlt im Mondlicht. Ich kann mir genau vorstellen, wie Hannah vor zwei Jahren hier runtergerutscht ist. Losgelassen hat. »Ich bin wirklich froh, dass du den Weg zu mir gefunden hast, Hannah. Inwiefern möchtest du, dass sich die Dinge verändern, wenn du mein Büro wieder verlässt?« »Sie meinen, wie Sie mir helfen können?« »Ja.« »Äh... es ist schwer zu sagen... was ich mir erwarte.« »Vielleicht sollten wir mit folgender Frage beginnen: Was ist es, das du brauchst, aber nicht bekommst?« »Ich brauche nichts mehr. Ich will nur noch, dass alles aufhört. Die Leute... das Leben.« Ich stoße mich ab und rutsche herunter. »Du willst, dass das Leben aufhört? Dein Leben, Hannah?« Keine Antwort. »Ist dir klar, was du da eben gesagt hast, Hannah? Das sind sehr ernste Worte.« Ihr ist jedes Wort klar, das aus ihrem Mund kommt, Mr Porter. Sie weiß, dass es ernste Worte sind. Tun Sie was! »Das weiß ich. Entschuldigung.« Entschuldige dich nicht. Sprich mit ihm! »Ich will nicht, dass mein Leben aufhört. Deshalb bin ich hier.« 234
»Was ist denn geschehen, Hannah? Wie ist es so weit gekommen? Ich weiß, dass du nicht alles aufzählen kannst. Wahrscheinlich ist es eher wie eine Lawine, richtig?« Ja, eine Lawine - so hat sie es selbst genannt! »Eines kommt zum anderen... alles türmt sich vor einem auf, bis man ihm nicht mehr standhalten kann...« »Dem Leben?« Erneute Pause. Ich packe die Leitersprossen der Rutsche und ziehe mich nach oben. Meine verpflasterte Hand schmerzt, wenn sie einen Druck verspürt, aber das ist mir egal. »Hier. Nimm das. Eine ganze Packung Taschentücher nur für dich allein - und unbenutzt!« Sie lacht. Er hat sie zum Lachen gebracht! »Danke.« »Lass uns über die Schule reden, Hannah. Damit ich eine Vorstellung bekomme, wie sich alles so weit entwickeln konnte.« »Okay.« Ich klettere bis zur oberen Plattform hinauf. »Was ist das Erste, das dir einfällt, wenn du an die Schule denkst?« »Dann denke ich an den Stoff.« »So? Das ist ja... äh... schön zu hören.« »War nur ein Scherz.« Jetzt lacht Mr Porter. »Natürlich bin ich hier, um den Stoff zu lernen, aber damit verbinde ich die Schule nicht.« »Womit verbindest du sie dann?« »Für mich ist die Schule vor allem ein Ort, an dem sich jede Menge Leute aufhalten, mit denen ich zwangsläufig meine Zeit verbringe.« »Und das fällt dir schwer?« »Manchmal.« 235
»Mit manchen Leuten oder mit den Leuten im Allgemeinen?« »Mit manchen Leuten. Aber auch... allgemein.« »Könntest du dich ein bisschen genauer ausdrücken?« Ich lehne mich gegen das eiserne Lenkrad. Über den Baumkronen leuchtet der Halbmond so hell, dass man fast geblendet wird. »Es ist so schwer, weil ich nie weiß, was... oder wer... der Nächste sein wird.« »Wie meinst du das?« »Ich meine nicht ein Komplott oder so was. Aber es kommt mir so vor, als sei ich nie vor ihnen sicher, als wüsste ich nie, was als Nächstes passiert. Ich weiß, das hört sich komisch an.« »Dann versuche, es zu erklären.« »Das ist schwer zu erklären, wenn Sie die Gerüchte nicht kennen, die über mich im Umlauf sind.« »Die kenne ich wirklich nicht. Ein Lehrer, noch dazu ein Vertrauenslehrer, sollte sich von diesem Klatsch und Tratsch fernhalten. Was natürlich nicht heißt, dass es so was unter Lehrern nicht auch gibt.« »Auch über Sie?« Er lacht. »Schon möglich. Hast du da was gehört?« »Nein, nein, ich mache nur Spaß.« »Sag mir bitte, wenn dir was zu Ohren kommt.« »Versprochen!« Machen Sie keine Witze. Helfen Sie ihr! »Wann war das letzte Mal, dass so ein Gerücht in Umlauf gesetzt wurde?« »Das ist ja das Problem. Es sind nicht alles... Gerüchte.« »Verstehe.« »Nein, hören Sie zu...« Bitte hören Sie ihr zu! »Vor ein paar Jahren stand ich auf so einer Liste. Sie wissen doch, dass es unter Schülern Umfragen gibt... ich meine keine 236
offiziellen Umfragen, aber so Listen, auf denen positive und negative Eigenschaften aufgeführt werden...« Er antwortet nicht. Kann er sich daran erinnern? Weiß er, wovon sie spricht? »Und seitdem hat es immer wieder Anspielungen und Reaktionen darauf gegeben.« »Wann ist das zum letzten Mal geschehen?« Ich höre, wie sie ein Taschentuch aus der Packung zieht. »Neulich, auf einer Party. Das war eine der schlimmsten Nächte meines Lebens!« »Wegen eines Gerüchts?« »Ja, zum Teil, aber es war viel mehr als das.« »Darf ich dich fragen, was auf der Party passiert ist?« »Es war nicht wirklich auf der Party. Es war danach.« »Okay, Hannah, lass uns ein Spiel spielen.« »Was?« »Ein Fragespiel. Ich stelle die Fragen, und du versuchst, mit Ja oder mit Nein zu antworten. Manche Leute haben Schwierigkeiten, sich ganz zu öffnen, selbst einem Vertrauenslehrer gegenüber, der über alles Stillschweigen bewahrt. Wollen wir anfangen?« »Ja.« »Bei der Party, die du erwähnt hast, ging es da um einen Jungen?« »Ja. Aber nochmals, es war nicht während der Party.« »Verstehe. Aber irgendwo müssen wir ja schließlich anfangen.« »Okay.« Er stößt hörbar die Luft aus. »Ich will dein Verhalten nicht beurteilen, Hannah, aber ist in dieser Nacht etwas passiert, das du bereust?« »Ja.« Ich stehe auf, gehe zu den Metallstäben hinüber, umfasse zwei von ihnen und schaue durch die Öffnung hindurch. 237
»Ist etwas mit diesem Jungen passiert - du kannst ganz offen zu mir sein, Hannah! -, ist etwas mit diesem Jungen passiert, das vielleicht eine illegale Handlung darstellt?« »Sie meinen, eine Vergewaltigung? Nein, ich glaube nicht.« »Was soll das heißen - du glaubst nicht?« »Weil bestimmte äußere Umstände im Spiel waren.« »Alkohol?« »Vielleicht, aber nicht bei mir.« »Drogen?« »Nein, andere Umstände eben.« »Denkst du daran, ihn anzuzeigen?« »Nein, ich... nein.« Ich atme tief durch. »Was hast du dann für Möglichkeiten?« »Ich weiß es nicht.« Erzählen Sie ihr, was sie für Möglichkeiten hat, Mr Porter! »Was können wir gemeinsam tun, um das Problem zu lösen, Hannah?« »Nichts. Es ist vorbei.« »Aber es muss etwas getan werden, Hannah. Etwas in deinem Leben muss sich ändern.« »Ich weiß, aber wie soll das gehen? Wenn Sie mir konkrete Wege aufzeigen könnten...« »Also, wenn du keine Anzeige erstatten willst, wenn du nicht einmal weißt, ob das möglich wäre, dann bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten.« »Zwei Möglichkeiten? Welche?« Sie klingt hoffnungsvoll. Sie setzt zu viel Hoffnung in seine Antworten. »Eine Möglichkeit besteht darin, ihn mit dem Vorfall zu konfrontieren. Wir können ihn zu mir bitten, um darüber zu reden. Ihr könntet beide zu mir kommen, damit...« »Und die andere Möglichkeit?« 238
»Ich will die Sache nicht herunterspielen, Hannah, aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, darüber hinwegzusehen.« »Sie meinen, gar nichts zu unternehmen?« Ich umklammere die Stäbe und kneife die Augen zusammen. »Das ist immerhin eine Möglichkeit und wir sprechen ja über Möglichkeiten. Denn schau, irgendwas ist vorgefallen, und ich glaube dir, Hannah. Aber wenn du keine Anzeige erheben und ihn auch nicht in anderer Form damit konfrontieren willst, dann musst du dich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.« Und wenn das nie und nimmer infrage kommt, was dann? »Die Sache auf sich beruhen lassen?« »Geht er in deine Klasse, Hannah?« »Nein, er geht in die letzte Jahrgangsstufe.« »Dann wird er nächstes Jahr nicht mehr auf der Schule sein.« »Sie meinen, ich soll mich einfach... damit abfinden?« Das ist keine Frage, Mr Porter. Fassen Sie es nicht als Frage auf. Sie denkt nur laut. Wie soll sie sich jemals damit abfinden? Sagen Sie ihr, dass Sie ihr helfen werden! Ich höre ein Rascheln. »Danke, Mr Porter.« Nein! »Warte, Hannah. Du kannst gerne noch bleiben.« Durch die Gitterstäbe, über die Bäume hinweg, stoße ich einen Schrei aus. »Nein!« »Ich glaube, das reicht.« Lassen Sie Hannah nicht gehen! »Ich habe die Antwort, die ich wollte.« »Ich glaube, es gibt noch mehr, worüber wir sprechen sollten, Hannah.« »Nein, nein, ist schon gut. Ich muss einfach darüber hinwegkommen.« 239
»Man muss ja nicht resignieren, Hannah. Aber manchmal ist es gut, mit einer Sache abzuschließen.« Lassen Sie nicht zu, dass sie den Raum verlässt! »Ja, natürlich. Sie haben recht.« »Warum hast du’s denn so eilig, Hannah?« »Weil ich damit abschließen will, Mr Porter. Wenn ich die Sache nicht ändern kann, dann schließe ich lieber damit ab, nicht wahr?« »Wie meinst du das jetzt, Hannah?« »Ich rede von meinem Leben, Mr Porter.« Eine Tür geht auf. »Hannah, warte!« Die Tür schließt sich. Dann höre ich wieder den Klettverschluss. Schritte, die sich beschleunigen. Ich gehe den Flur hinunter. Sie spricht mit klarer, lauter Stimme. Seine Tür bleibt geschlossen. Pause. Er kommt mir nicht hinterher. Ich presse mein Gesicht gegen die Gitterstäbe. Sie fühlen sich an wie ein Schraubstock, der meinen Schädel einzwängt. Er hat mich gehen lassen. Es pocht hinter meiner Augenbraue. Doch ich fasse die Stelle nicht an oder reibe daran. Ich lasse es einfach geschehen. Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt, doch niemand springt mir zur Seite, um mich aufzuhalten. Wer sollte das noch sein, Hannah? Deine Eltern? Ich? Mir gegenüber hast du dich nicht so klar ausgedrückt. Manche von euch haben Anteil genommen... aber nicht genug. Das war es, was ich herausfinden musste. Aber ich wusste doch nicht, was du alles durchmachst, Hannah! Jetzt weiß ich Bescheid. 240
Die Schritte werden immer schneller. Es tut mir leid. Klick. Ende der Aufnahme. Das Gesicht immer noch gegen die Stäbe gepresst, breche ich in Tränen aus. Ich weiß, dass jeder mich hören kann, der in diesem Moment durch den Park geht. Aber das ist mir egal, weil ich nicht glauben kann, dass ich gerade Hannahs letzten Worten gelauscht habe. »Es tut mir leid.« Das waren ihre Worte. Und wann immer ich sie in Zukunft höre, werde ich an sie denken. Doch einigen von uns werden sie nicht über die Lippen kommen. Einige werden ihr nicht verzeihen, dass sie sich umgebracht und anderen die Schuld daran gegeben hat. Ich hätte ihr geholfen, wenn sie es zugelassen hätte. Ich hätte ihr geholfen, weil ich wollte, dass sie lebt. Der Walkman vibriert in meiner Tasche, als das Ende der Kassette erreicht ist.
KASSETTE 7: SEITE B Das Band wechselt selbstständig die Laufrichtung und setzt sich wieder in Bewegung. Jetzt, da Hannahs Stimme nicht mehr zu hören ist, fällt das beständige leise Rauschen, das ihre Worte auf allen Kassetten begleitet, viel mehr auf. Ich gebe mich ganz dem Geräusch hin, während ich die Stäbe festhalte und die Augen schließe. Der helle Mond verschwindet. Die schwankenden Baumwipfel verschwinden. Der Wind an meiner Haut, der nachlassende Schmerz meiner Finger, das Surren der Spulen im Walkman, all das erinnert mich daran, was ich an diesem vergangenen Tag gehört habe. Meine Atmung beruhigt sich. 241
Meine verkrampften Muskeln beginnen, sich zu entspannen. Dann höre ich ein leises Klicken im Kopfhörer. Einen leisen Atem. Ich öffne meine Augen, blicke ins helle Mondlicht und höre Hannahs sanfte, von Wärme erfüllte Stimme. Danke.
EINEN TAG SPÄTER Ich kämpfe gegen jeden einzelnen Muskel meines Körpers, der einen Zusammenbruch regelrecht herbeisehnt. Der sich dagegen wehrt, zur Schule gehen zu müssen. Der sich bis morgen irgendwo verstecken will. Doch ist es unausweichlich, dass ich den anderen Leuten auf den Kassetten irgendwann ins Gesicht sehen werde. Ich erreiche die Einfahrt des Parkplatzes, an dem mich ein efeuumrankter weißer Gedenkstein mit folgender Inschrift begrüßt: GESTIFTET VOM ABSCHLUSSJAHRGANG 1993. In den letzten drei Jahren bin ich so oft an diesem Stein vorbeigegangen, doch nicht ein Mal habe ich den Parkplatz so voll erlebt wie jetzt. Was daran liegt, dass ich noch nie so spät gekommen bin. Bis heute. Aus zwei Gründen. Erstens habe ich vor dem Eingang des Postamts gewartet. Gewartet, bis es geöffnet wurde, damit ich einen Schuhkarton mit Kassetten aufgeben konnte. Ich habe dieselbe braune Papiertüte benutzt und sie mit Klebeband wieder verschlossen. Einen Absender habe ich nicht angeben. Adressiert ist das Paket an Jenny Kurtz und wird ihr Leben für immer verändern. 242
Zweitens hätte ich die erste Stunde bei Mr Porter. Doch während er an der Tafel oder hinter seinem Pult steht, gäbe es nur einen einzigen Ort in der Klasse, den ich immerzu anstarren müsste. Hannahs leeren Stuhl. Die Leute starren ihn jeden Tag an. Doch der heutige Tag unterscheidet sich wesentlich vom gestrigen. Also verbringe ich viel Zeit an meinem Spind und auf der Toilette oder spaziere gemächlich über die Flure. Ich folge dem Gehweg, der am Parkplatz entlangführt. Dann durchschneidet er eine Rasenfläche und läuft auf das Hauptgebäude mit den doppelten Glastüren zu. Es ist ein seltsames, fast bedrückendes Gefühl, die leeren Flure entlangzugehen. Jeder meiner Schritte erzeugt einen hohlen, einsamen Klang. Hinter einer Vitrine mit Pokalen befinden sich fünf frei stehende Reihen von Garderobenschränken, an den beiden Seiten sind Büros und Toiletten. Ich erblicke weitere Nachzügler, die eilig ihre Bücher zusammensuchen. Ich erreiche meinen Spind und lehne meinen Kopf gegen die kühle Metalltür. Ich konzentriere mich ganz darauf, meine Schulter- und Nackenmuskulatur zu entspannen und meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Dann drehe ich das Zahlenschloss auf die Fünf. Dann nach links bis zur Vier, dann nach rechts auf die Dreiundzwanzig. Wie oft habe ich hier schon gestanden und darüber nachgedacht, dass ich bei Hannah Baker ja doch keine Chance haben würde? Ich hatte keine Ahnung, was sie für mich empfand. Keine Ahnung, wie sie eigentlich war. Stattdessen habe ich dem Gerede der anderen geglaubt. Außerdem hatte ich Angst, was über mich geredet würde, wenn bekannt wurde, dass ich sie mochte. Ich drehe das Zahlenschloss noch mal hin und her, bis ich die richtige Zahlenkombination eingestellt habe. Fünf. 243
Vier. Dreiundzwanzig. Wie oft habe ich hier nach der Party gestanden, als Hannah noch lebte, und mir gedacht, dass ich nun endgültig keine Chance mehr bei ihr hatte? Dass ich etwas Falsches gesagt oder getan hätte. Zu ängstlich, sie darauf anzusprechen. Zu ängstlich, um es erneut zu versuchen. Mit ihrem Tod ist diese Chance unwiederbringlich vorbei. Es begann alles vor ein paar Wochen, als eine Karte durch die Lüftungsschlitze meines Garderobenschranks gesteckt wurde. Ich frage mich, was sich jetzt in Hannahs Garderobenschrank befindet? Ist er leer? Hat der Hausmeister ihre Habe in eine Kiste gepackt und diese in einem Vorratsschrank deponiert, bis ihre Eltern sie irgendwann abholen? Oder ist ihr Garderobenschrank noch in unverändertem Zustand? Während ich meine Stirn weiterhin gegen das kühle Metall presse, drehe ich meinen Kopf gerade so weit, dass ich den nächstgelegenen Flur hinunterschauen und einen Blick durch die stets geöffneten Türen von Mr Porters Klassenzimmer werfen kann. Vor dieser Tür habe ich Hannah zum letzten Mal gesehen. Ich schließe die Augen. Wen werde ich heute sehen? Außer mir haben schon acht andere Schüler die Kassetten angehört. Acht Schüler, die gespannt darauf sind, welche Wirkung die Kassetten bei mir hinterlassen haben. Und im Laufe der nächsten Tage werde auch ich ihre Wirkung auf diejenigen studieren, die sie noch bekommen werden. In der Ferne, gedämpft durch die Wand eines Klassenzimmers, höre ich eine vertraute Stimme. Langsam öffne ich die Augen. Aber die Stimme wird nie wieder einen freundlichen Klang für mich haben. »Könnte das mal jemand für mich ins Sekretariat bringen?« 244
Mr Porters Stimme dringt direkt an mein Ohr. Meine Schultern verkrampfen sich und ich schlage mit der Faust gegen meinen Spind. Ein Stuhl quietscht, gefolgt von Schritten, die das Klassenzimmer verlassen. Mit weichen Knien warte ich darauf, dass mich irgendein Mitschüler fragt, warum ich nicht bei ihnen in der Klasse bin. Ein Stück von mir entfernt wird die Tür eines anderen Spinds geschlossen. Steve Oliver marschiert aus Mr Porters Klasse und nickt mir lächelnd zu. Die Schülerin, die ihren Spind geschlossen hat, biegt in diesem Moment um die Ecke und stößt fast mit Steve zusammen. »Entschuldigung!«, nuschelt sie und geht weiter. Steve sieht ihr schweigend nach und kommt mir entgegen. »Hi, Clay!«, sagt er lachend. »Etwas spät dran, was?« Hinter ihm dreht sich das Mädchen um. Es ist Skye. Mir perlt der Schweiß über den Nacken. Unsere Blicke begegnen sich für ein paar Sekunden, ehe sie sich umdreht und ihren Weg fortsetzt. Steve tritt näher an mich heran, aber ich sehe ihn nicht an, sondern gebe ihm zu verstehen, dass er Platz machen soll. »Keine Zeit!«, sage ich. Gestern Abend im Bus war ich ziemlich einsilbig, als ich Skye getroffen habe. Ich wollte mit ihr reden, habe es zumindest versucht, aber irgendwie ist das Gespräch nicht richtig in Gang gekommen. Im Laufe der Jahre hat sie gelernt, sich die Leute auf Distanz zu halten. Alle. Ich trete einen Schritt zur Seite und sehe ihr nach. Ich würde gern etwas sagen, vielleicht ihren Namen rufen, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Einerseits will ich es ignorieren. Will so tun, als sei ich bis zum Beginn der zweiten Stunde sehr beschäftigt. 245
Doch Skye geht denselben Flur hinunter, auf dem ich Hannah vor zwei Wochen verschwinden sah. Damals ist Hannah einfach in der Menge untergetaucht und hat es vorgezogen, sich auf den Kassetten zu verabschieden. Doch Skyes Schritte sind noch zu hören, obwohl das Geräusch immer leiser wird. Ich hefte mich an ihre Fersen. Als ich an Mr Porters Klassenzimmer vorbeigehe und einen raschen Blick hineinwerfe, erkenne ich mehr als erwartet. Ich sehe Hannahs Stuhl. Seit zwei Wochen ist er leer und wird es für den Rest des Schuljahres bleiben. Mein Platz dagegen ist nur heute unbesetzt. Viele Gesichter drehen sich zu mir um. Sie erkennen mich, sehen aber nicht alles. Mr Porter blickt in eine andere Richtung, bevor auch er sich herumdreht. Eine Flut von Emotionen stürzt auf mich ein. Schmerz und Wut. Trauer und Mitleid. Und was ich nicht erwartet hätte: Hoffnung. Ich gehe weiter. Skyes Schritte sind jetzt wieder deutlicher zu hören. Und je näher ich ihr komme, je schneller ich gehe, desto unbeschwerter fühle ich mich. Meine Kehle entspannt sich. Zwei Schritte hinter ihr, sage ich ihren Namen. »Skye!«
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Jay Asher bekam die Idee zu diesem Buch während einer Audioführung in einem Museum. Er war fasziniert von der Stimme in seinem Ohr, die ihm erklärte, was er sah. Tote Mädchen lügen nicht ist sein erster Roman und wurde in den USA zu einem sensationellen Erfolg. Der Autor lebt in Kalifornien.
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Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2009 © 2007 by Jay Asher Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Thirteen Reasons Why« bei Razorbill/ Penguin Young Readers Group, New York © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger Lektorat: Ulrike Hauswaldt Umschlagabbildung: shutterstock Umschlaggestaltung und Fotodesign: zeichenpool, München st · Herstellung: WM eISBN : 978-3-641-02564-9 www.cbt-jugendbuch.de www.randomhouse.de
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