Bernhard Borge
Tote Männer gehen an Land
scanned by AnyBody corrected by Ute77
Auf dem Haus liegt ein Fluch. Vier Men...
26 downloads
449 Views
482KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Bernhard Borge
Tote Männer gehen an Land
scanned by AnyBody corrected by Ute77
Auf dem Haus liegt ein Fluch. Vier Menschen sind hier auf unerklärliche Weise umgekommen. Unheilvolle Vorzeichen verkünden, daß seine Macht noch nicht gebrochen ist... Bernhard Borge schuf einen völlig neuen Typ des Kriminalromans, in dem er die Abgründe der menschlichen Seele auslotet. ISBN 3 548 10094 5 Titel der norwegischen Originalausgabe: D�de menn går í land Übersetzt von Karl Christiansen Januar 1981, Verlag Ullstein Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagfoto: Sabine Reinhardt, Overath
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhaltsverzeichnis VORWORT.......................................................................... 3
ERSTES KAPITEL
Das Kaperschiff »Krebs« ..................................................... 4
ZWEITES KAPITEL
Eine schwarze Katze von ungewöhnlicher Größe.............. 22
DRITTES KAPITEL
Der Mann im Ölzeug .......................................................... 36
VIERTES KAPITEL
»Auch die Finsternis hat ihre Götter«................................ 50
FÜNFTES KAPITEL
Experiment mit einer alten Kommode................................ 66
SECHSTES KAPITEL
Arne zieht Kreuz 2 .............................................................. 79
SIEBENTES KAPITEL
Zwischenspiel im Regen ..................................................... 96
ACHTES KAPITEL
Pastor Flateland geht in die Offensive............................. 113
NEUNTES KAPITEL
Ein Pfarrhofsboden - und fünf neugierige Menschen ...... 127
ZEHNTES KAPITEL
Tancred verschwindet ...................................................... 145
ELFTES KAPITEL
Das rote Meßgewand ....................................................... 158
ZWÖLFTES KAPITEL
Die Sünde wider das Zehnte Gebot .................................. 177
DREIZEHNTES KAPITEL
Tote Männer gehen an Land ............................................ 197
VIERZEHNTES KAPITEL
Zwei Hypothesen .............................................................. 217
VORWORT
And now this spell was snapt: once more I viewed the ocean green, And hok'd far forth, yet little saw Of what had else been seen Like one that on a lonesome road Doth walk in fear and dread, And having once turn'd round, walks on, And turns no more his head; Because he knows a frightful fiend Doth close behind him tread. Coleridge: »The Rime of the Ancient Mariner«. Es ist eine Reihe seltsamer Gerüchte im Umlauf über das Schicksal meines Freundes Arne Krag-Andersen; keines entspricht jedoch der Wahrheit, die tatsächlich weit seltsamer ist. Da ich selbst die Ereignisse erlebt habe, mit denen sich die Zeitungen im Herbst 1938 so stark beschäftigten, habe ich mich entschlossen, diese Geschichte niederzuschreiben. Se non é vero, é ben trovato, sagt ein italienisches Sprichwort - was heißen soll: wenn es nicht wahr ist, so ist es gut erfunden. Da ich jedoch von Natur ein völlig phantasieloser Mensch bin, würde ich niemals selbst etwas Derartiges austüfteln können. Man nehme dies als Garantie für die Zuverlässigkeit meines Berichtes. Das Buch ist unzweifelhaft ein bißchen zu sensationell geworden. Ich bin daher dankbar, daß mein Freund Bernhard Borge jegliche literarische und juristische Verantwortung für die Herausgabe übernommen hat. Die moralische Verantwortung trage ich - aber damit nehme ich es nicht so genau. Paul Ricken -3
ERSTES KAPITEL Das Kaperschiff »Krebs« Diese Geschichte spielte sich in der guten alten Zeit ab, als das Böse - wie viele Leute annehmen - noch nicht endgültig in die Welt gekommen war. Jedenfalls nicht in dieses auserwählte Land der Unschuld und des Aquavits: Norwegen. Sie begann in einer Februarnacht des Jahres 1938; eine gemütliche kleine Gesellscha ft saß in Arne Krag-Andersens Villa in Ullerasen versammelt, und die Stimmung entsprach dem tiefen, unvergleichlichen Wohlbefinden vergnügter Feststunden. Natürlich wissen die meisten Leser, wer Arne Krag-Andersen ist. Alle kannten damals Arne - jedenfalls alle Leute von Welt. Er gehörte zu jenem bewunderungswürdigen Menschenschlag, der unweigerlich alle Oberkellner dahin bringt, sich wie die Diener eines orientalischen Fürsten aufzuführen. Selbst der unzugänglichste Ober berührte - bildlich gesprochen - den Boden mit der Stirn und flüsterte: »Sahib! - Sahib!«, wenn Arne z. B. in den Roten Saal eintrat. Seine Herrschaft über den sonst völlig unbotmäßigen norwegischen Kellnerstand war souverän und wunderbar - wie Aladins Macht über den Geist der Lampe. Denn er war so etwas wie ein König in Oslo, nicht zuletzt wegen seines Geldes. Selbst auf seinen Steuererklärungen war er sehr reich, und es wurde behauptet, daß die Zahlen im amtlichen Steuernachweis nur einen schwachen Abglanz seiner wirklichen Vermögensverhältnisse darstellten. Es lag etwas vom Gepräge der Kriegskonjunktur über Arnes Karriere, seit er das Handelsgymnasium mit durchweg guten Zensuren und zwei leeren Händen verlassen hatte, und bis er jetzt - erst einunddreißig Jahre alt - als Direktor der Mexican Oil Ltd. in der ganzen Welt seine Geschäfte machte. Arne begnügte sich nicht damit, Geld zu verdienen; er zeigte -4
auch ein hervorragendes Talent, wenn es galt, Geld auszugeben. Seine Autos, Segelboote und Landhäuser waren Legion, und vor allem liebte er es, sich mit festlich-frohen Menschen zu umgeben. Fast jeden Abend parkte eine lange Wagenreihe vor seiner Villa in Ullerasen, und es verging kaum ein Wochenende, ohne daß ein Bauer oder Fischer, der das eine oder andere seiner Landhäuser beaufsichtigte, fernmündlich angewiesen wurde, alles für eine größere Invasion vorzubereiten. Arnes Gesellschaften zeichneten sich nicht allein durch erlesene Speisen und kostbare Weine aus. In der Regel ereignete sich im Laufe eines solchen Abends etwas Unerwartetes und Phantastisches; eine kleine Komödie, die in Szene gesetzt wurde, um die Stimmung aufzupulvern. Selten lud Arne zum Wochenende ein, ohne vorher Gerüchte zu verbreiten, daß etwas Makabres geschehen würde - was denn auch oft eintraf. Eines Abends wurde eine junge Schauspielerin hysterisch und schoß einen Architekten nieder, der ihr, wie sie behauptete, untreu geworden sein sollte. Er fiel jedoch so bequem, als er »tot« niedersank, daß die Komödie sofort durchschaut wurde. Oft spielte Arne auch selbst die Hauptrolle in seinen Dramen. Eines Tages wurde z. B. eine lustige Gesellschaft durch drei fremde Herren gestört, die gekommen waren, um die Wohnung zu pfänden und zu versiegeln; Direktor Krag-Andersen hatte sein Grundstück leider dem Gerichtsvollzieher übergeben müssen. Und so brachen denn die Gäste voll kaum verhehlter Schadenfreude auf - um am nächsten Tage in Aftenposten zu lesen, daß Arne Krag-Andersen eine kleine Fabrik in Vestfold gekauft hatte - eine Barinvestition von soundso vielen Hunderttausenden. Aber dieser Abend gehörte zu seinen weniger ausgefallenen Veranstaltungen. Wir waren nur sechs Personen und hatten uns nach einem lukullischen Mahl in die tiefen Sessel vor dem Kamin sinken lassen - gerade in der rechten Verfassung für die heilige Stunde des Nachtwhiskys. Arne war wie gewöhnlich der -5
vollkommene Wirt, höflich und aufmerksam gegen alle und in glänzender Stimmung. Neben ihm saß seine Freundin, Monika Winterfeldt, die Erbin der einen Vermögenshälfte des alten Winterfeldt und im übrigen eine verfeinerte Orchidee, das Ergebnis vieler Generationen wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Tancred Cappelen-Jensen war auch ein echter Sohn der oberen Schicht: lang, faul und englisch gekleidet. Dank einem reichlichen mütterlichen Erbe hatte er immer das rechte Verständnis für »the importance of doing nothing« gehabt; er war unerhört träge, aber auf eine kultivierte und anziehende Art, die alle entwaffnete, ausgenommen seinen Vater. Mit ihm war seine Frau, Ebba, ein aufgewecktes Mädchen mit einem süßen, aber energischen kleinen Myrna-Loy-Gesicht. Der Fünfte im Bunde war Ebbas und Tancreds guter Freund, Kriminalschriftsteller Karsten Järn, ein junger Mann, der sich bereits so etwas wie einen Namen in der norwegischen Kriminalliteratur gemacht hatte und schon auf eine lange Reihe von Büchern zurückblicken konnte. Ich muß gestehen, daß ich nicht zu seinen fleißigsten Lesern gehörte. Ich verlange von einem Kriminalroman, daß es darin vor allem gemütlich zugehe. Der Mord hat auf einem behaglichen, alten englischen Schloß mit Golfbahn und Reitpferden - stattzufinden, in der Nähe eines idyllischen kleinen Dorfes, wo der Detektiv im Gasthaus einkehren und sich einige Seidel guten kalten Bieres einverleiben kann. Doch in Järns Büchern gibt es selten Gelegenheit zum Genuß des edlen Gebräus, oder zum Halten der Steigbügel, wenn die junge, schöne Lady Patricia St. Mawr sich in den Sattel schwingt. Über Järns Romanen liegt regelmäßig ein Hauch von Oktobernebel, öden Moorstrecken, Werwölfen und feuchtkalten Grabkellern. Sie verstehe n sicher, worauf ich hinauswill, wenn Sie Bücher wie »Der Wolfmensch«, »Die Erzählungen des Totengräbers« und »Der Moormann« gelesen haben. Übrigens ist Järn Mitglied der Gesellschaft für Psychische Forschung und wie wild hinter -6
allem her, was der Nachtwelt angehört. Zum Schluß muß ich mich wohl selbst vorstellen: Paul Rickert, stud, jur. (Mein Studium hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwa neun Jahre gedauert; ich habe nämlich einen ausgesprochenen Hang zur Gründlichkeit.) Über mich läßt sich nicht viel mehr sagen, als daß ich Krag-Andersens bester Freund war; diese Freundschaft hatte nach und nach dazu geführt, daß ich sozusagen seine rechte Hand wurde. Wie erwähnt, entwickelte Arne einen Hang zu großzügiger Geselligkeit, aber da er noch nicht über den roten Teppich vor der Frogner Kirche geschritten war, bedurfte er einer kundigen Hand zur Durchführung dieser Geselligkeit. Es ist so eine Sache, dafür Zeit übrig zu haben, wenn man gleichzeitig die Ölfelder bei Tampico und die Amsterdamer Börse im Auge behalten soll. Andererseits kann man eine so anspruchsvolle Aufgabe nicht einer phantasielosen Haushälterin überlassen. Hier sprang ich also ein. Ich habe nämlich immer ein ausgesprochenes Organisationstalent für Festlichkeiten aller Art und für die Herbeischaffung fehlender Damen und Herren im letzten Augenblick gehabt. Nach und nach nahm ich einen wesentlichen Teil des Privatlebens meines Freundes in die Hände. Ich war es, der die Getränke beschaffte, die Menüs zusammenstellte; der dafür sorgte, daß die Eisschränke immer wohlgefüllt waren; und ich war es, der die letzte Hand an das Tischarrangement legte, der Köchin Anweisungen erteilte und die Stubenmädchen anstellte und entließ. Als Arne anfing, sich Monika zu widmen, war ich es, der Blumen und Bonbonnieren kaufe n mußte, und oft geschah es sogar, daß ich mit ihr ausgehen mußte, wenn Arne auf einer wichtigen Konferenz war oder eine Geschäftsreise unternahm. Wie gewöhnlich hatte ich auch an diesem Abend alle Einzelheiten arrangiert; er selbst tat nie etwas anderes, als die traditionelle Überraschung zu organisieren, die gleichsam zu seinen Gesellschaften gehörte. -7
Auch diesmal hatte er mit einer Überraschung aufzuwarten, doch war es eine nicht besonders aufregende Sache - von der Art, mit der auch gewöhnlichere Sterbliche ihre Gäste zu unterhalten pflegen. Während jedoch ein Durchschnittsmensch schon beim Empfangscocktail mit der »Sensation« herausgeplatzt wäre, wartete Arne, bis wir in Ruhe und Gemächlichkeit in den tiefen Sesseln saßen und das große Wohlbehagen auf uns niedersinken ließen. »Wenn ich euch heute abend hierher gebeten habe«, begann er - »so geschah das natürlich vor allem, weil ich gern die alte Garde um mich versammelt sehe. Doch habe ich noch ein anderes Motiv, ich möchte ein Ereignis feiern. Ich bin Gutsbesitzer geworden. Heute vormittag schloß ich den Kauf eines größeren Grundbesitzes ab - fast eine Art Herrenhof drunten im Sörland. Eigentlich sollte ja der Tag auf dem Gut gefeiert werden, da aber vierhundert Kilometer eine ganz hübsche Entfernung sind, hoffe ich, ihr werdet entschuldigen, wenn wir die Feierstunde in aller Bescheidenheit hier zelebrieren.« »Du willst doch wohl nicht sagen, daß es noch Häuser gibt, die du nicht gekauft hast?« sagte Tancred lächelnd. »Ich glaubte, ganz Norwegen gehörte dir.« »Wo liegt denn dein Hof?« warf Ebba ein. »In der Nähe von Kragerø, hoffe ich?« »Ziemlich weit westlich«, erklärte Arne. »Draußen an der Vest-Agder-Küste. Nicht weit von der kleinen Stadt Lillesund auf einer Halbinsel, die Heilandet heißt.« »Was sagst du da?« entfuhr es Järn. »Heilandet? Dort habe ich ja auch ein Haus. Dann werden wir ja Nachbarn?« Ich wühlte in meinem Unterbewußtsein. Was hatte ich doch neulich über Heilandet gehört oder gelesen? Mit diesem Namen verband sich etwas seltsam Bekanntes. Monika hatte offenbar das gleiche Gefühl, denn sie fragte gleich: -8
»Heilandet? Woher kenne ich nur den Namen? Ich glaube fast, daß ich mich vor gar nicht so langer Zeit schon einmal damit befaßt habe.« »Das kann sein. Du hast vermutlich die merkwürdige Geschichte von dem verlassenen Schiff gelesen«, sagte Järn. »Direkt vor Heilandet war ja der estnische Frachter ›Tallin‹ gegen Neujahr aufgefunden worden.« Nun entsann ich mich auch. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ein heftiger Sturm an der Südwestküste gewütet, und eines Morgens in der Dämmerung hatten einige Fischer einen Dampfer entdeckt, der steuerlos eine Meile vor Heilandet dahintrieb. Als man an Bord ging, zeigte sich, daß das Schiff verlassen war; die gesamte Besatzung war verschwunden. Abgesehen von einem kleineren Leck hatte das Fahrzeug jedoch keinen besonderen Schaden erlitten und ließ sich ohne Schwierigkeit nach Lillesund einschleppen. Selbstverständlich wurden sofort Nachforschungen nach der verschwundenen Besatzung angestellt, doch ohne jedes Ergebnis. »Das sogenannte ›Tote Schiff‹ der Zeitungen«, sagte Arne. »Ja, ich hörte davon, als ich hinüberfuhr, um mir den Hof anzusehen. Die Bevölkerung dieser Gegend ist sehr abergläubisch und hat sich irgendeine komische Theorie in Verbindung mit einer hundert Jahre alten Sage zurechtgebastelt.« »Was für ein Haus hast denn du da draußen, Karsten?« fragte Monika. »Eine kleine Fischerhütte direkt an der See«, antwortete Järn. »Ich pflege mich dort aufzuhalten, wenn ich Ruhe haben will. Ich darf wohl sagen, daß ich die Verhältnisse dort recht gut kenne. Und was das estnische Schiff betrifft, so hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß die Küstenbevölkerung mit ihrer Auffassung recht hat.« »Und worauf geht die hinaus?« fragt Ebba. An ihrer Myrna-9
Loy-Nase bildeten sich einige ironische Fältchen. »Sie geht kurz darauf hinaus, daß die ›Tallin‹ von einem Gespensterschiff gekapert worden ist«, erklärte Järn. »Genauer gesagt: von dem Kaperschiff›Krebs‹, das von Kapitän Jonas Korp geführt wird.« »Aber was ist denn eigentlich ein Gespensterschiff?« fragte ich. »Meinst du, daß dort eine Art moderne Seeräuberfregatte operiert?« »Nein, ich meine ein wirkliches Gespensterschiff. Das Fahrzeug, von dem ich rede, ist weit über hundert Jahre alt.« Järn wandte sich an Arne: »Du bist ja in Heilandet gewesen und hast daher zweifellos die Geschichte des Kapitäns Jonas Korp gehört, der einen Pakt mit dem Teufel schloß, um sich und sein Schiff zu retten?« Järn war ganz ernst; nicht die Andeutung eines Lächelns war in seinem Gesicht zu finden. Aber wir anderen waren ja in dieser Richtung einiges von ihm gewohnt. »Das ist schon möglich«, räumte Arne ein. »Aber ich kann nicht gerade behaupten, daß ich dieser Geschichte besonderes Gewicht beigemessen hätte. Daher glaube ich, du wirst sie uns erzählen müssen.« »Ja, erzähl«, rief Monika aus. »Ich liebe Spukgeschichten.« Es war Järn deutlich anzumerken, daß er die Situation genoß. Er ließ sich tief in den Sessel zurücksinken und nippte nachdenklich an seinem Whiskyglas. »Wie angedeutet, liegt der Ausgangspunkt dieser Geschichte in der Kaperzeit«, begann er. »Also in den schwierigen Jahren von 1807 bis 1814, als Norwegen mit England im Kriege lag. Von norwegischer Seite wurde der Krieg in erster Linie als Kaperkrieg geführt, d. h. Priva tpersonen rüsteten Seeräuberschiffe aus und erhielten einen sogenannten Kaperbrief, worauf sie auszogen und englische Handelsschiffe plünderten. Schiffe und Ladungen fielen außer einer Abgabe an -10
die Staatskasse an Kapitän und Besatzung. Die Folge war, daß viele der Kaperkapitäne sich im Laufe kurzer Zeit große Vermögen erwarben. Die meisten der norwegischen Kaperkapitäne waren in Sörland zu Hause, vor allem im Küstengebiet westlich von Kristiansand. Die Schiffswerften der Sörlandstädte arbeiteten Tag und Nacht, und die ganze Gegend erlebte eine einzigartige Hochkonjunktur, während das Wirtschaftsleben überall sonst im Lande von der Blockade gelähmt war. Nach Sörland wurden auch die meisten Prisen eingebracht, und die ganze Vest-AgderKüste wurde mit englischen Luxuswaren, kostbaren Stoffen usw. überschwemmt. - Na, dies alles gehört ja zum Mittelschulpensum des norwegischen Geschichtsunterrichts. Kommen wir zur Sache. Einer der kühnsten Kaperkapitäne war ein Schiffer von Heilandet namens Jonas Korp. Schon im Jahre 1807 rüstete er die Schaluppe ›Krebs ‹aus, verschaffte sich einen Kaperbrief und unternahm eine Reihe waghalsiger Fahrten kreuz und quer durch die Nordsee. Immer hatte er Glück; schon auf seinem ersten Raubzug kaperte er zwei große britische Handelsschiffe, und nach ein paar Jahren war er einer der reichsten Männer dieses Landesteils. Doch es erging ihm wie dem alten König Midas; der Reichtum brachte ihm kein Glück. Er fand fast keinen Schlaf. Wenn er an Land war, erfüllte ihn eine unbezähmbare Rastlosigkeit, unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab oder stand am Fenster und spähte über das Meer hinaus. Heimlich ging das Gerede, daß es nicht immer mit rechten Dingen zuginge, wenn die ›Krebs‹ hinauszog. Man hörte Gerüchte von falschen Flaggen und gebrochenen Versprechen und von einem Schiff, das sogar an einem heiligen Weihnachtstag gekapert worden sei. Es wurde erzählt, daß Korp nicht nur feindliche Schiffe kaperte, sondern auch neutrale, ja sogar dänische Schiffe hatten vor der ›Krebs‹ die Flagge streichen müssen, und die -11
ganze Besatzung hatte über die Planke springen müssen, damit es keine Zeugen des Verbrechens gäbe. Andere meinten, daß der Goldhunger den Kapitän an Land nicht zur Ruhe kommen ließe, sondern ihn immer wieder aufs Meer hinaustriebe, neue Schiffe zu plündern. Jedenfalls war es so, daß die Leute ihm nach Möglichkeit aus dem Wege gingen, und selbst seine eigene Mannschaft lebte in ständiger Angst vor ihm. Im Grunde hatte er nur einen einzigen Freund: eine riesige schwarze Katze, die immer bei ihm war und ihn auf allen Raubfahrten mit der ›Krebs‹ begleitete. Die Katze saß ihm entweder auf der Schulter oder rieb sich behaglich an seinen Stiefeln, und wenn er an Land war, folgte sie ihm wie ein Hund. Der einzige Mensch, mit dem sich Korp näher einließ, war ein Mann namens Jörgen Uhl, ein ehemaliger Pfarrer, der wegen einiger skandalöser Weibergeschichten seine Pfarrei hatte verlassen müssen. Es wurde behauptet, daß er sich gut auf die magischen Wissenschaften verstehe, und die Bevölkerung von Heilandet glaubte, daß er sich der Schwarzen Kunst bediene, um sich die Frauen gefügig zu machen und sie in die Gewalt des Teufels zu bringen. Es wurde sogar von Hexensabbaten gemunkelt, die auf dem Pfarrhof stattgefunden haben sollten. Zum Schluß wurde er tatsächlich entlarvt und zog es vor, mit der ›Krebs‹ in See zu stechen - als einfacher Kapergast. Auf Grund seiner Gerissenheit und seiner magischen Künste wurde er bald zweiter Mann an Bord und Korps rechte Hand. Es hieß, daß die ›Krebs‹ nicht zuletzt wegen Uhls magischer Künste das Glück immer auf ihrer Seite hatte und ihre Fahrten fortsetzen konnte, während andere Kaperschiffe von britischen Kriegsschiffen aufgebracht wurden und die Seeräuber auf dem Grunde der Nordsee oder im Gefängnis endeten. Doch schließlich sah es so aus, als ob auch die ›Krebs‹ von ihrem Schicksal ereilt würde. An einem Sommertag des Jahres 1812 kam die Schaluppe mit einer großen englischen Korvette -12
ins Gefecht, und nach einem viertelstündigen Feuerwechsel sah es an Bord der ›Krebs‹ schlimm aus. Die Segel hingen in Fetzen, mehrere Besatzungsangehörige waren getötet, und das Schiff begann zu sinken. Außerdem hatten sie den größten Teil ihrer Munition verschossen und konnten das Feuer der Engländer bald nicht mehr erwidern. Während des ganzen Kampfes hatte Uhl sich unter Deck gehalten; er hatte sich in der Kajüte eingeschlossen; niemand durfte ihn stören. Nun hörte man, wie er mit einer seltsam heiseren Stimme nach Korp rief, der sofort zu ihm hinunterging, nachdem er das Kommando eine m Dritten übergeben hatte. Es verging eine gute Weile, ehe sich der Kapitän wieder zeigte. Inzwischen war die Lage hoffnungslos geworden; die Engländer hatten bereits zwei Enterboote ausgesetzt. Aber gerade als der Stellvertreter Korps auf eigene Initiative die Flagge streichen wollte, tauchten Korp und Uhl plötzlich wieder an Deck auf. Beide hatten leichenblasse Gesichter, doch strahlte eine merkwürdige dunkle Kraft aus ihren Augen. Und im gleichen Augenblick geschah das Wunder: ohne daß ein Schuß von der ›Krebs‹ gelöst worden wäre, flog die englische Korvette in die Luft; sie wurde völlig pulverisiert. Der Sage nach sollen sich Korp und Uhl an diesem Tage dem Teufel verschrieben haben. Ihnen wurde aus der Patsche geholfen, und sie mußten sich dafür verpflichten, auf ewig als fliegende Holländer über das Meer zu fahren und jedes siebente Jahr ein Schiff für den Satan zu kapern; d. h. sie sollten ihm die Seelen des Schiffes bringen. Mit Hilfe seiner magischen Kräfte gelang es Uhl, auch die Mannschaft mit in den Pakt zu zwingen - alle, mit Ausnahme eines Mannes, der über Bord sprang und von Fischern gerettet wurde, nachdem er sich acht Stunden lang über Wasser gehalten hatte. Und der Sage nach soll die ›Krebs‹ nicht gesunken sein, sondern bis auf den heutigen Tag auf dem Meere segeln. Seither geht in jedem siebenten Jahr in der Nordsee ein Schiff unter geheimnisvollen Umständen verloren, -13
und selbst wenn das Wrack gefunden wird, findet man doch nie eine Spur von der Mannschaft. Und im Winter, wenn es gegen Neujahr geht und stürmt und Schiffe in Seenot kommen, dann pflegen die Leute der Vest-Agder-Küste zueinander zu sagen: ›Nun ist die ›Krebs‹ unterwegs, um die Seelenschuld für den Bösen einzulösen‹.« Järn lehnte sich im Sessel zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte mit tiefer, monotoner Stimme gesprochen; hatte die ganze Zeit dagesessen und in die Flammen gestarrt, als ob er diese Bilder darin sähe. Ein Scheit platzte, und eine hohe, flache Flamme fuhr wie ein Feuersegel empor; einen Augenblick lang sah es aus wie ein brennendes Schiff. Ein etwas drückendes Schweigen lag im Raum; es wurde von Tancred gebrochen, der die ganze Zeit mit einem leisen Lächeln im Mundwinkel dagesessen hatte. »Das war natürlich eine interessante Geschichte«, sagte er trocken. »Und ich räume ein, daß sie sich in einem deiner künftigen Kriminalromane zweifellos gut ausmachen würde. Nicht wahr: die alte, unheimliche Sage, die in der wohligen Kaminecke im ersten Kapitel erzählt wird, während der Oktoberregen gegen die Fenster peitscht? Ja, das ist ganz ausgezeichnet. Aber, Hand aufs Herz: glaubst du etwa selbst daran?« »Selbstverständlich«, antwortete Järn unangefochten. »Ich halte mich für einen einigermaßen aufgeklärten Menschen. Ich teile nicht den modernen Aberglauben, der Materialismus heißt.« »Natürlich gehen hin und wieder in der Nordsee Schiffe verloren«, warf Arne ein, »ohne daß man deswegen im Hexeneinmaleins nachzuschlagen braucht, um eine Erklärung dafür zu finden. Willst du vielleicht behaupten, daß dein Kaperschiff jemals gesehen worden sei?« Järn nickte. -14
»Ja, das ist es eben. Es gibt Leute, die das Schiff gesehen haben.« »Das sind zweifellos dieselben Leute, die auch die Seeschlange gesehen haben«, erklärte Tancred. »Ich selbst habe einen dem Alkohol verfallenen Freund, der einmal alle seine Bekannten auf einem weißen Krokodil den Drammensvei hinunterreiten sah. Er hatte offenbar gute Anlagen für die okkulten Wissenschaften.« »Nein, gehen wir doch einmal auf den Gesichtspunkt unseres Freundes ein«, schlug ich vor. »Was für Leute haben die ›Krebs‹ gesehen? Schiffsbesatzungen in Seenot?« »Das wäre naheliegend«, sagte Järn. »Aber die Fälle, von denen ich weiß, gehören in einen anderen Zusammenhang. Die ›Krebs‹ hat nämlich nicht nur einen Auftrag; sie beschäftigt sich nicht allein damit, Handelsschiffe im Wintersturm zu jagen; sie hat auch noch andere Aufgaben. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte.« »Erzähl die auch«, bat Monika. »Das heißt ja tauben Ohren predigen, aber sei es drum. Wie erwähnt, wurde Korp bald ein sehr reicher Mann. Und für einen Teil seines Geldes baute er sich schon in den ersten Jahren ein großes Haus. Aber er ließ sich nicht in Lillesund nieder wie die anderen Fischer, die durch die Kaperkonjunktur steinreich geworden waren. Er ließ sein Haus in Heilandet bauen, auf einem besonders öden Abschnitt der Küste - zwischen nackten, wilden Felsen mit dem Blick aufs Meer. Er ließ den Bau prächtig einrichten, vor allem mit Dingen, die er sich von gekaperten Schiffen angeeignet hatte. Darunter befand sich auch eine Anzahl kostbarer Gemälde, die er von einem Schiff genommen hatte, das sie für einen namhaften britischen Kunsthändler expedieren sollte. Diese Dinge waren sogar zu einer Zeit gekapert worden, als Kaperfahrten verboten waren und die meisten britischen Schiffe unter freiem Geleit -15
fuhren; es war also glatter Seeraub. Wie dies alles nach Heilandet auf den Kaperhof gekommen war, wußte niemand zu sagen, jedenfalls war es nicht über das Prisengericht in Lillesund oder Kristiansand gegangen. Korp liebte diese Kunstschätze, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, ging er oft von Zimmer zu Zimmer durch das ganze Haus und bewunderte seinen Reichtum. Hin und wieder begleitete Jörgen Uhl ihn auf diesen nächtlichen Wanderungen, doch in der Regel war er allein - ohne andere Gesellschaft als der seiner großen, schwarzen Schiffskatze. Kurz bevor er auf seine letzte Fahrt mit der ›Krebs‹ hinausfuhr - d. h. auf die angeblich letzte Fahrt -, hinterließ er ein seltsames Testament. In diesem Dokument vermachte er das Haus und sein gesamtes Vermögen seinem Neffen, O le Dörum. Doch stellte er die ausdrückliche Bedingung, daß niemals irgendeine Veränderung an dem Haus vorgenommen werden dürfe. Nichts sollte angebaut und nichts sollte abgerissen werden, und jedes Stück Möbel, jeder Teppich und jedes Gemälde sollte dort bleiben, wo es sich befand. Falls die Bewohner des Hauses gegen dieses Gebot verstießen, sollte sie ein Fluch in Gestalt eines Unfalls oder Todesfalles treffen. Im Falle einer wesentlichen Veränderung aber wü rde Korp selbst mit der ›Krebs‹ zurückkehren, an Land gehen und fürchterliche Rache üben.« Järn machte eine wirkungsvolle Kunstpause und nahm einen neuen Schluck aus dem Whiskyglas. Es war, als ob er seine eigene Geschichte abschmecke. Dann fuhr er fort: »Fest steht jedenfalls, die Bevölkerung von Heilandet glaubt blind daran, daß dieser Fluch immer noch wirksam ist, und sie kann viele Geschichten erzählen, die diesen Glauben zu bekräftigen scheinen. Schon Korps erster Erbe, der Neffe, versuchte im Jahre 1825 einige Möbel zu verkaufen, starb aber plötzlich an einem Herzschlag, bevor es zum Abschluß kam. In den achtziger Jahren wollte einer der Nachkommen den -16
Westflügel des Hauses umbauen, doch wurde er unter dem zusammenbrechenden Gerüst begraben, und der Umbau wurde aufgegeben. Gegen die Jahrhundertwende stürzte einer der Bewohner so unglücklich, daß er mit der Hand durch eine Fensterscheibe fuhr und diese zerbrach. Im Laufe von vierundzwanzig Stunden starb er an Blutvergiftung. Und als ein Bruder des jetzigen Besitzers vor zwanzig Jahren einer Reparatur wegen auf das Dach kletterte, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und brach sich das Genick. Für die Augenzeugen sah es so aus, als ob er plötzlich aus dem Gleichgewicht gestoßen worden sei. Jedesmal, wenn etwas Derartiges geschah, hieß es, daß man in der folgenden Nacht die Umrisse eines Schiffes draußen im Meeresnebel gesehen habe. Ich habe selbst mit einem alten Fischer dort gesprochen, Morten Prebensen, der darauf schwört, daß er diesen Anblick als Junge erlebt habe - als er einmal mit seinem Vater zum Fischen draußen war. Seine Beschreibung paßt genau auf die alten Kaperschaluppen; das Fahrzeug bewegte sich mit großer Geschwindigkeit und wirkte, als ob es aus Nebel gemacht sei. Es ist verständlich, daß die Bevölkerung dieses Haus wie die Pest fürchtet, und die dort wohnen, wagen kaum etwas anzurühren, kaum, daß sie den Flur scheuern oder die Möbel abstauben. Es ist, als habe der alte Korp einen unsichtbaren Wächter auf dem Hof eingesetzt, ein Wesen, das acht gibt, daß nichts verändert wird, und das blitzschnell zuschlägt, wenn jemand sich über diese Anordnung hinwegsetzt.« Järn beugte sich vor und warf den Zigarettenstummel in den Kamin. Dies war die schlimmste Massenanhäufung von Phantasterei, die ich jemals aus seinem Munde gehört hatte - und das will nicht wenig besagen. Ich hatte ihn sehr im Verdacht, daß er zumindest die Hälfte der Geschichte selbst hinzugedichtet habe. Alles in allem hatte ich oft den Eindruck gehabt, daß Järn nicht wenig von einem Schauspieler hatte; es ist ja undenkbar, daß -17
man in unserem vortrefflichen Jahrhundert - mit Elektrizität, Flugzeugen, Demokratie und allgemeiner Schulpflicht - einem solchen geistigen Mittelalterdunkel verfallen kann. »Bist du selbst in diesem Spukhaus gewesen?« fragte ich. »Nein, leider nicht. Ich würde viel darum geben, wenn ich einmal dort übernachten könnte. Aber ich habe es sehr genau von außen studiert; es wirkt seltsam anziehend, wie ein riesiger grauer Felsblock, der sich dem Seewind entgegenstemmt. Und es ist etwas Eigenes um diese Mauern und Fenster, sie leben, sie strahlen förmlich böse Geheimnisse aus. Man muß unwillkürlich an Poes Novelle ›The House of Usher‹ denken. Herrgott, welch ein wunderbarer Platz! Aber man kommt dort nicht hinein, der Hof wird von einem alten, unzugänglichen Sonderling bewohnt.« »Von wem?« »Eivind Dörum, dem Letzten seines Stammes. Fast ein Halbidiot - alle, die längere Zeit auf dem Kaperhof gewohnt haben, werden bestenfalls Halbidioten. Er duldet niemand anderen als seine Haushälterin in der Nähe. Übrigens gibt es wohl niemanden - außer mir selbstverständlich -, der ein besonderes Interesse daran hätte, in seinen geheiligten Bezirken herumzuschnüffeln; die Bevölkerung schlägt einen ziemlich großen Bogen um das Haus.« Arne hob die Hand. »Einen Augenblick«, sagte er. »Hier muß ich dich berichtigen. Der Kaperhof gehört nicht mehr dem alten unzugänglichen Sonderling Eivind Dörum. Von heute an gehört er einem weit liebenswürdigeren und gastfreieren Mann, nämlich dem bekannten Direktor Arne Krag-Andersen aus Oslo. Meine Damen und Herren, es ist meine Übernahme des Kaperhofs, die wir im Augenblick feiern.« Das war ein typischer Krag-Andersen-Effekt! Selbstverständlich war er sich seit langem darüber klar, daß Järn -18
ein Haus in Heilandet besaß, und kannte auch die Kapersage. Er hatte unseren phantasievollen und nichtsahnenden Freund ermuntert, die Geschichte zu erzählen, um darauf selbst den wirkungsvollen Punkt aufs I zu setzen. Wir anderen hoben spontan die Gläser und erwiesen ihm unsere vorbehaltlose Huldigung. Järns Gesicht leuchtete auf wie eine Sonne. »Das ist doch zu schön, um wahr zu sein«, rief er aus. »Du willst doch nicht sagen, daß -?« »Ja, gewiß. Selbst alte Sonderlinge sind nicht so unzugänglich, wenn ihr Grundstück bis zum Dachfirst verschuldet ist und sie einfach Konk urs gemacht haben. Ich bekam den Hof unverhältnismäßig billig - mit all seinen Kunstwerken und prachtvollen alten Möbeln ist er ein Vermögen wert -, und das Komische war, daß ich beim Kauf keine Konkurrenten hatte. Järn hat recht: die Leute dort meiden das Haus wie die Pest. Der Alte war in einer Zwangslage; er mußte das Haus mit allem Inventar verkaufen, er riskierte nicht den Versuch, sich etwa durch Versilbern der Gemälde aus der Klemme zu ziehen; dann hätte ihn ja Jonas Korps Rache ereilt! Und somit bin ich also der stolze Besitzer des imposantesten Spukhauses unseres Landes; Dörum hat sogar auf das Rückkaufsrecht verzichtet.« Arne stand jetzt offensichtlich ein wenig unter dem Einfluß des Whiskys. Er lehnte sich mit einer Miene im Sessel zurück, als ob er gerade Rockefeller aus dem Ölmarkt geschlagen hätte. »Übrigens habe ich ziemlich profane Absichten; ich gedenke die dunklen Mächte herauszufordern und werde den Kaperhof einfach in ein Sommerhotel umgestalten. Was meint ihr dazu? Im Sommer ist es - trotz Järns Schilderungen - herrlich in Heilandet; es ist ein jungfräuliches Land mit vielen Möglichkeiten. Im Laufe von fünf Jahren kann ich dort einen kleinen Badeort schaffen. Ich werde in der Times inserieren, mein Hotel sei ein altes Spukhaus, das die geheimnisvollsten schottischen Burgen bei weitem übertrifft; die englischen -19
Touristen werden wie ein Heuschreckenschwarm kommen...« »Das ist ja eine recht ausgefallene Idee«, sagte ich, indem ich Järn einen schnellen Seitenblick zuwarf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich völlig verändert, er sah aus, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traue: was war dies für eine ungeheure Blasphemie? »Ach so, das ist also dein Plan«, sagte er mit Nachdruck. »Ich glaube, den solltest du lieber nicht durchführen. Du würdest selbst von Jonas Korps Rache getroffen werden.« Arne brach in ein herzliches Gelächter aus. »Jonas Korp soll ein willkommener Gast in meinem Hause sein«, erklärte er. »Meine Tür wird dem alten Seeräuber immer offenstehen. Und ich werde eigens eine Landungsbrücke für die ›Krebs‹ anlegen lassen. Will Jörgen Uhl Hexensabbate veranstalten, so werde ich für die bezauberndsten Hexen sorgen, die in Oslo zu finden sind. Tullik und Mosse und Bibben und Vivi. Trinken wir auf die alten Piraten, daß es ihnen bei uns nie an etwas mangeln möge. Wir wollen sie an unsere Brust drücken! Prost!« Järn schüttelte den Kopf. »Du bist ein Barbar«, sagte er. »Oder noch schlimmer: du bist zivilisiert. Du bist ein Produkt der modernen Zivilisation, die den Tempel durch die Börse und die Kathedrale durch den Ölturm ersetzt hat. Du glaubst nicht an übernatürliche Mächte, bewahre; du hast das Handelsgymnasium absolviert, du bist ein aufgeklärter Mensch. Aber ich warne dich! Es könnte dir ergehen wie jenem dänischen Schriftsteller, der nach dem vierzehnten Glas Pernod das Gravitationsgesetz leugnete. Er demonstrierte seine Überzeugung, indem er zum höchsten Fenster des Runden Turms hinausspazierte. Ich will dir verraten, daß er sich den Hals brach.« Es lag ein erstaunlich verbissenes Pathos in Järns Stimme. Dann leerte er sein Whiskyglas auf einen Zug. Als er das Glas niedersetzte, schien es, als habe ihn der Alkohol ein wenig -20
besänftigt. Er fuhr in freundlicherem Tone fort: »Du bist im schlimmsten Sinne des Wortes ein Amerikaner, Arne. Du würdest die Notre Dame in Paris kaltblütig in eine Fabrik für grüne Seife umwandeln. Und nun dies mit dem Kaperhof! Ich warne dich. Du bist ein Tempelschänder, ein Wandale, ein... nein, es gibt wirklich äußerst wenig, was zu deinen Gunsten spricht. Ja, übrigens, etwas doch, etwas sehr Wichtiges...« Zu diesem Zeitpunkt hatte unser Freund, der Kriminalschriftsteller, endgültig die Eisenmaske fallenlassen. Sein Gesicht löste sich in einem großen Lächeln: »Es läßt sich wirklich nicht leugnen, daß du einen ganz ausgezeichneten Whisky führst.«
-21
ZWEITES KAPITEL Eine schwarze Katze von ungewöhnlicher Größe Mir war, als hätte Arnes Stimme einen merkwürdigen Unterton, als er mich eines Augustabends anrief und mich bat, zu ihm zu kommen. Die Art, wie er sprach, wirkte irgendwie angestrengt, so, als ob er eine Gräte im Halse hätte. Nun, vielleicht litt er noch an den Nachwehen eines feuchtfröhlichen Abends... Er war drei Wochen verreist gewesen und hatte sich in Heilandet aufgehalten, teils, um Ferien zu machen, teils, um die Umgestaltung des Kaperhofs vorzubereiten. Soviel ich wußte, hatte er das Haus seit unserem Abend im Februar schon einige Male besucht, doch war dies das erste Mal, daß er dort länger wohnte. In der Zwischenzeit hatte ein Verwalter den Hof betreut. Monika saß bei ihm, als ich kam. Während Arnes Abwesenheit waren wir sehr viel zusammen gewesen - in allen Ehren natürlich; man soll bekanntlich nicht begehren seines Nächsten Weib, Ochsen, Esel, Gesinde oder was sonst sein ist. Aber wir hatten einige recht muntere Wochen miteinander verbracht und einen prächtigen freundschaftlichen Kontakt gefunden. Wir waren allen möglichen und unmöglichen Einfällen gefolgt: hatten mit dem Kajak um die Wette gerudert, waren als Mary und Lorang verkleidet in die finstersten Kneipen des Ostends gegangen, hatten herzlich gelacht bei den ernsten Stellen der Festvorstellung des Nationaltheaters und erlebten mit Arnes Sechs-Meter-Jacht vor Dröbak eine vollkommene Havarie. In den leichtberauschten Morgenstunden hatten wir uns den Weg nach Majorstuen abgekürzt, indem wir durch den -22
Untergrundbahntunnel gingen und uns jedesmal in den Nebentunnel stürzten, wenn die Holmenkollbahn mit Nilpferdgebrüll vorbeibrauste. Aber wir hatten auch philosophische Spaziergänge unternommen und über Abgründiges gesprochen. Ich hatte das Gefühl, daß Monika eine Art Verwandlung in diesen Wochen durchmachte; offensichtlich wollte sie sich von irgend etwas befreien; sie legte kein Gewicht mehr auf ein würdiges, ladylikes Wesen. Ich entdeckte, daß sie eine Menge Humor besaß; sie konnte plötzlich den Kopf zurückwerfen und förmlich mit Trompetenstößen aus vollem Halse lachen. Es war, als ob die blasse, verfeinerte Orchidee im Begriff sei zu verschwinden, um einer wilden Heckenrose Platz zu machen. Ich war etwas enttäuscht, als ich feststellen mußte, daß sie in Arnes Gegenwart ganz in den alten, vornehmen Stil zurückgefallen war. Das Ganze war also nur ein Intermezzo gewesen; nun verschloß sie sich wieder, sie hatte sich ausgetobt. Aber sie war entzückend anzusehen in ihrem geblümten dünnen Sommerkleid, ich fühlte mich an Botticellis »Frühling« erinnert. Nur daß Botticelli ein weit schwächerer Künstler war als der Herrgott. Mein Freund Arne war dagegen nicht so lieblich anzusehen. Sein Gesicht war grau und müde, und unter seinen Augen lagen auffällige dunkle Ringe. Das war kaum eine Folge des Alkohols; Arne war immer ein wahrer Dorian Gray gewesen, was seine Unberührtheit von äußeren Spuren seines Lebenswandels betraf. Aber er hatte zweifellos Sorgen. »Hallo, Alter«, sagte ich. »Leidest du an großem Weltschmerz? Du sieht aus wie ein Vegetarier. War die Reise ein Mißerfolg?« Arne deutete gebieterisch auf einen Sessel. »Nimm Platz«, sagte er. »Mix dir ein Getränk nach eigenem Geschmack. Leider bin ich heute nicht ganz in Form. Dieses -23
verdammte Haus macht mir graue Haare.« »Der Kaperhof?« »Jawohl - richtig geraten. Wenn ich nicht so amerikanisch nüchtern wäre, hätte ich mich schon längst freiwillig als Mitglied der Gesellscha ft für Psychische Forschung eingetragen.« »Du willst andeuten, daß du Gespenster gesehen hast?« »Hätte ich sie wenigstens gesehen. Trotz allem ist doch etwas Reelles und Gutmütiges an einem alten, melancholischen in Laken gehüllten Skelett. Aber dies hier - pfui Teufel. Es ist geradezu unanständig, auf diese Art zu spuken.« Seine Stimme klang nicht überzeugend munter. »'raus mit der Sprache, Arne, Du weißt, ich bin ein feinhöriges Auditorium.« Er schob das Glas beiseite und beugte sich über den Tisch zu mir vor. »Hör zu, Paul. Du kannst bezeugen, daß ich keine alte Dame bin. Ich habe immer damit angegeben, daß der liebe Gott vergessen hätte, mir Nerven in den Körper zu legen, als er mich schuf. Jedenfalls stimmte das im Geschäftsleben und bei physischen Gefa hren. Und ich habe, so wahr mir Gott helfe, nie an andere Gespenster geglaubt, als an den Staat und das Finanzamt. Kannst du da verstehen, daß ein solcher Blödsinn einen aus dem Konzept bringt?« »Aber mein Lieber, komm nur erst mit der Geschichte heraus, dann werden wir sehen, was Onkel für dich tun kann. Du gehst ja wie die Katze um den heißen Brei.« »Also schön. Hier hast du ein kurzes Resümee meiner Erlebnisse. Ich habe sie bereits Monika geschildert, und sie haben nicht den geringsten Eindruck auf sie gemacht.« »Arne ist reif für eine Nervenklinik«, erklärte Monika. »Oder sollen wir lieber sagen ein Trinkerheim?« -24
Ich spitzte die Ohren. War es denkbar, daß ihr Ton ihm gegenüber sich abgekühlt hatte? Oder war es nur die Ironie als Deckmantel schamhafter Liebe? »Also«, fuhr Arne unberührt fort, »die Geschichte fängt damit an, daß ich in Lillesund einige Handwerker aufsuchte, damit sie das Haus instand setzen; ich mußte die größten Anstrengungen machen, um sie zum Mitkommen zu bewegen. Unter anderem war das berühmte zerbrochene Fenster noch nicht repariert; es war seit der Jahrhundertwende unberührt geblieben, als es - du entsinnst dich an Järns Bericht? - durch einen unglücklichen Zufall von einem Bewohner des Hauses eingestoßen wurde, der dann an Blutvergiftung starb. Niemand hatte seither gewagt, das Fenster zu berühren - nicht einmal mein Verwalter Ludvigsen übrigens auch ein ziemlich abergläubischer und verängstigter kleiner Trottel, aber ich konnte keinen besseren finden. Genug davon. Ich nehme also einen Glasermeister mit hinauf in das Zimmer im ersten Stock, wo das Fenster eingeschlagen ist. Nebenbei bemerkt, war dies das Schlafzimmer des alten Kapitäns Korp; die Wände sind mit einer infernalisch gelben Farbe gestrichen - ›Das gelbe Zimmer‹, das klingt wie der Titel einer Novelle von Poe, nicht wahr? -, und alles steht noch genau wie zur Zeit des Kaperkapitäns. Vor diesem Zimmer haben die Leute die größte Angst - und nicht ohne Grund, wie du bald verstehen wirst. Also: mein Freund, der Glasermeister, steht am Fenster und entfernt die Glasscherben; ich selbst stehe ein paar Meter hinter ihm und genieße die schöne Aussicht über das Meer und die Schären. Es war am hellen Vormittag, und es wäre mir nie eingefallen, an dunkle, übernatürliche Mächte zu denken. Da geschieht es plötzlich: Der Mann hat gerade die neue Scheibe aufgenommen und sich auf die Fensterbank gesetzt, um das offene Fenster heranzuziehen, da geht ein spürbarer Ruck durch seinen Körper, als ob eine unsichtbare Hand ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzt habe. Er greift mit der freien Hand -25
nach vorn, findet aber keinen Halt und stürzt mit einem herzzerreißenden Schrei hinaus. Gott sei Dank hatte ich die Geistesgegenwart, mich mit einem Tigersprung nach vorn zu werfen und ihn an den Fuß gelenken zu packen. Die Fensterscheibe fällt hinaus und zersplittert unten, aber ich konnte ihn wenigstens wieder ins Zimmer hineinziehen. Verständlicherweise war der Mann fast besinnungslos vor Schreck, er war sich selbstverständlich darüber klar, daß nic ht ich ihm den Stoß versetzt hatte, aber das macht die Situation ja nicht gerade angenehmer. Kaum hat er seine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander, nimmt er ziemlich kühl Abschied von mir und begibt sich auf den Weg nach Lillesund, den er vermutlich in Rekordzeit zurücklegt. Du wirst vielleicht verstehen, wenn ich sage, daß diese Episode nicht ganz geheuer wirkte?« »Das verstehe ich durchaus«, sagte ich. »Deine Gänsehaut ist völlig berechtigt. Aber müssen wir unbedingt eine übernatürliche Erklärung dafür suchen? Es ist durchaus denkbar, daß der Mann einen leichteren Herzkollaps oder etwas Ähnliches erlitten hat. Dergleichen ist doch schon vorgekommen...« Arne nickte. »Wir wollen es hoffen. Der Mann sah übrigens nicht ganz gesund aus. Ich hatte gleichzeitig zwei weitere Handwerker eingesetzt: einen Anstreicher, der die Wände unten in meinem Schlafzimmer streichen sollte, und einen Tischler für die Instandsetzung einer Tür. Sie machten sich beide davon, als sie entdeckten, was mit dem Glaser passiert war. Seither ist es mir tatsächlich nicht möglich gewesen, in Lillesund Handwerker zu finden. Die Geschichte scheint wie ein Lauffeuer durch die Stadt gegangen zu sein, und ich mußte das Einsetzen der Scheibe und die Türreparatur selbst besorgen. Das Anstreic hen gab ich auf; dergleichen liegt mir nicht.« -26
»Und dir passierte nichts? Die Gespenster unternahmen keinen Mordversuch an dir?« »Nein, zum Glück nicht. Aber ein paar Tage später geschah am Abend etwas Neues. Und das ist das Seltsamste, was ich bis zum heutigen Tag erlebt habe...« Ich stellte fest, daß seine Hände ungewöhnlich nervös waren. Entweder fingerte er fieberhaft an der Sessellehne, oder er beugte sich über den Tisch vor, um eine Streichholzschachtel in Streifen zu zerfasern, die er dann in mikroskopisch kleine Splitter zerbrach. Nach einer kurzen Pause, in der er sich einen neuen Drink mixte, der zu drei Teilen aus Gin und zum vierten aus einem Tonikum bestand, fuhr er fort: »Ich setzte mich in das große Zimmer im Erdgeschoß und rauchte eine Zigarette, während ich den letzten Stanley GardnerRoman las; der Raum liegt direkt unter dem ›Gelben Zimmer‹. Es mochte wohl gegen acht Uhr abends sein, und draußen rieselte ein friedlicher Abendregen zur Erde. Während ich in eine von Perry Masons hervorragenden Verteidigungsreden vertieft war, entdeckte ich plötzlich, daß jemand über mir geht. Im ersten Augenblick glaubte ich natürlich, es sei die Haushälterin Marie Mikkelsen; der Verwalter konnte es nicht sein, denn er befand sich in Lillesund. Doch da fiel mir ein, daß Marie eine Heidenangst vor diesem Zimmer hat und sich dort nie hineintraut, ohne daß sie ausdrücklich angewiesen wird, Staub zu wischen oder den Flur zu scheuern. Übrigens waren diese Schritte auch auffällig schwer und langsam; es knarrte kräftig in den Dielen, als ob ein sehr schwerer Mann dort oben ginge. Ich legte das Buch aus der Hand und trat in die Küche, wo ich feststellte, daß Marie an dem Herd beschäftigt war. Alle Wetter, dachte ich, also muß sich ein Dieb im Hause befinden. Das heißt: eigentlich dachte ich etwas ganz anderes, aber das wollte ich mir nicht eingestehen. Ich wußte ja recht gut, daß niemand ins Haus gekommen sein konnte und gar in den ersten Stock hinauf, ohne daß ich es gemerkt hätte. So fesselnd ist -27
Stanley Gardner auch wieder nicht. Also gut. Ich bewaffnete mich mit einem soliden Knüppel, ging über den Korridor und die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ich versuchte, mich so leise wie möglich hochzupirschen, aber die Stufen knarrten trotzdem unter mir; wenn sich jemand dort oben befand, mußte er mich kommen hören. Vor der Tür lauschte ich. Es war drinnen ganz still. Da drückte ich blitzschnell die Klinke nieder und stieß die Tür auf -« Arne hatte, während er erzählte, eine neue Streichholzschachtel zu Atomen pulverisiert; nun ergriff er sein Glas und nahm einen besonders tiefen Zug. Wenn das geschauspielert ist, dachte ich, dann ist er ein Meister. »War jemand drin?« fragte ich. Nun war ich wirklich mitgerissen. »Ja«, sagte er. »Es war jemand drin. Auf dem Fußboden. Etwas Schwarzes und Zottiges mit zwei glühenden, schwefelgelben Augen. Es war eine riesige Katze.« »Jonas Korps Schiffskatze!« entfuhr es mir. »Weiß der Teufel. Ich starrte sie wie hypnotisiert an. Und sie starrte mich an mit zwei ätzenden bösen Augen; es war, als ob alles Teuflische der Natur in diesem Blick konzentriert sei. Es war die größte Katze, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie war, Gott helfe mir, über einen halben Meter lang, ein wahres Ungetüm von einer Katze, langhaarig und zottig wie ein Bär. Sie krümmte den Rücken und fauchte mich an. Es war wie das Zischen einer giftigen Schlange. Sonst habe ich Katzen ziemlich gern, jedenfalls kleine Katzen. Aber der Anblick dieses Untiers machte mich völlig rasend. Mechanisch hob ich den Knüppel und schlug mit aller Kraft nach ihr. Das Tier fuhr blitzschnell zur Seite; einen Augenblick glaubte ich, es würde mir ins Gesicht springen, aber dann schlüpfte es mit einem abscheulichen Fauchen an mir vorbei und verschwand wie ein schwarzer Schatten die Treppe -28
hinunter. Ehe ich die Verfolgung aufnahm, warf ich rasch einen Blick ins Zimmer. Es war leer, völlig leer - und die Fenster waren verriegelt. An ein Versteck war nicht zu denken. Dann lief ich die Treppe hinunter. Die Katze war spurlos verschwunden; im Korridor stand ein Fenster offen; dadurch mochte sie entkommen sein. Ich war ziemlich durchgedreht nach dieser Episode und hütete mich, Marie oder dem Verwalter ein Wort davon zu sagen; es ist ja fast unmöglich, neue Leute für dieses Haus zu bekommen. Ich fange an zu verstehen, warum.« »Aber du mußt ja völlig blau gewesen sein, Klein Arne«, sagte Monika mit milder Stimme - so, wie etwa der Arzt mit einem schwierigen Patienten spricht. »Du kannst doch nicht ernstlich anfangen, an Gespenster zu glauben? Du, der eisenharte Geschäftsmann, der Direktor der Mexican Oil Ltd.?« »Ich glaube nur, was ich sehe«, erklärte Arne etwas ärgerlich. »Ich war ganz nüchtern und normal, absolut nicht für Halluzinationen empfänglich. Das bin ich nie gewesen. In einem dritten Fall erlebten die Haushälterin und ich gleichzeitig ein ebenso seltsames Phänomen, das mich an Poltergeister glauben lassen könnte: An der Wand des großen Zimmers hängt - neben vielen anderen Werken alter Meister - ein ganz kleines Gemälde, das offenkundig während des frühen französischen Rokokos gemalt worden sein muß. Es stellt einen lachenden Pierrot dar, der eine Pierrette durch die dunk len Bäume eines Gartens verfolgt, während ein melancholischer Bajazzo dem Auftritt zuschaut. Das Bild ist phantastisch raffiniert und stilsicher in der Ausführung; es ist nicht signiert, doch hege ich den Verdacht, daß es sich um einen echten Watteau handelt - oder mindestens um einen seiner begabtesten Schüler. Daher beschloß ich, es mit nach Oslo zu nehmen, um es von einem Kunstexperten beurteilen zu lassen. Am Abend vor meiner Abreise nahm ich es -29
deshalb von der Wand, packte es sorgfältig ein und stellte es in eine Ecke der Stube. Am nächsten Morgen komme ich zusammen mit Marie ins Zimmer, und wir bleiben beide wie versteinert stehen. Auf dem Flur liegt ein Haufen zerknülltes Papier und Bindfadenenden, und an der Wand hängt wieder der Watteau. Nicht genug damit: alle Gegenstände, die ich in den Raum gebracht hatte - also alles, was nicht aus der Zeit des alten Kaperkapitäns stammt -, sind mehr oder weniger zerstört. Meine beste Shagpfeife liegt zerbrochen im Aschenbecher, ein silbernes Zigarettenetui ist in Stücken zerdreht, die Zigaretten zerquetscht, ein Pullover, den ich auf einem Stuhl hatte liegenlassen, ist völlig zerfetzt, und auf dem Boden liegen außer dem Stanley Gardner-Buch noch ein paar andere Bücher in Makulatur verwandelt; das eine ist sogar quer durchgerissen. Marie war selbstverständlich ganz außer sich vor Angst, und ich mußte meinen ganzen Charme aufbieten, um zu verhindern, daß sie sofort den Hof verließ. Ich mußte ihr versprechen, daß ich kein Bild mehr von der Wand nehmen würde, da sie sonst nicht einen Tag länger im Hause bleiben wollte. Ich kann sie vorläufig leider nicht entbehren; sie ist sehr tüchtig, und ich bekomme in dieser Gegend unter keinen Umständen eine neue Haushälterin. Sie hatte seit vielen Jahren bei meinem Vorgänger, Eivind Dörum, gedient; das ist es wohl, was sie an das Haus bindet. Aber selbstverständlich muß ich sehen, daß ich das Bild bei nächster Gelegenheit nach Oslo bekomme.« Im Nebenzimmer klingelte das Telefon. Arne ging hinein und nahm den Hörer ab, indem er die Tür hinter sich schloß. Ich wandte mich an Monika. »Glaubst du das, was er da redet?« fragte ich. »Oder erzählt er nur Märchen?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll. Man kann bei -30
Arne ja nie ganz sicher sein; er ist ungefähr so zuverlässig wie der Wetterbericht. Du weißt, daß er ein Phantasielügner ist und Schauspiele inszeniert. Aber ich muß gestehen, daß ich sehr neugierig auf das Haus bin.« Fünf Minuten später kam Arne wieder herein. Er ließ sich schwer in den Sessel fallen und schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, das übersteigt doch alle Grenzen«, sagte er. »Das war ein Ferngespräch aus Lillesund. Ludvigsen, dieses Rindvieh von einem Verwalter, hat gekündigt. Fristlos.« »Weshalb?« fragte ich. »Weil er sich einfach nicht mehr traut, länger in dem Kaperhaus zu wohnen. Es ist dort heute etwas Neues passiert, etwas besonders Entsetzliches, was ihm den letzten Mumm genommen hat, dem Armen. Er wollte nicht am Telefon sagen, was es war. Ich bin gezwungen, meine Ferien zu verlängern; ich muß morgen nach Heilandet zurückreisen; der Hof kann nicht verlassen dastehen - mit all den Wertsachen. Und die Haushälterin wird ganz sicher nicht allein dort wohnen bleiben.« Arne stützte das Kinn auf die Faust und blickte ziemlich vergrämt vor sich hin. Plötzlich leuchtete es in seinem Gesicht auf, als ob ihm ein glücklicher Gedanke gekommen sei. Er wandte sich an mich. »Hör mal, Paul. Ich habe eine gute Idee. Wie gesagt, kann ich den Kaperhof nicht unbewohnt stehenlassen; ich muß einen zuverlässigen und handfesten Menschen dort haben, der ihn verwaltet, nicht einen dieser lächerlich ängstlichen Bauern. Du bist selbstverständlich der Mann, Paul. Ich biete dir hiermit die Stellung eines Verwalters auf dem Kaperhof an.« Ich bedachte mich einen Augenblick. Das war ein unerwarteter Vorschlag. Aber weshalb nicht? Meine Neugier war von Arnes phantastisehen Geschichten erregt worden. Ein Spukhaus muß man doch erlebt haben, ehe man seine Gebeine zur Ruhe legt. -31
»Du bist ja immer mein getreuer Paladin gewesen, Paul«, fuhr Arne fort. »Du hast mir in mancher Klemme beigestanden; du darfst mich auch diesmal nicht im Stich lassen. Ich werde selbstredend dafür sorgen, daß du wie ein Fürst dort leben kannst, und wenn du ein Gehalt haben willst, kannst du die Höhe selbst festsetzen. Deine einzige Pflicht ist, daß du dich des Hofbetriebes ein wenig annimmst, daß du ein bißchen nach dem Pferd siehst, dem einzigen Haustier, und daß du eventuell auftauchende Einbrecher in die Flucht schlägst. Leute aus Heilandet und dem Lillesundbezirk werden dort allerdings nie einen Einbruch wagen...« »All right. Ich schlage ein.« »Ausgezeichnet. Dann ist es abgemacht.« »Ja. Wann soll ich meine neue Stellung antreten?« »Du kannst morgen mit mir hinreisen. Karsten Järn wohnt übrigens jetzt in seinem Hause dort, so daß du nicht ohne Gesellschaft bist. Hättest du nicht auch Lust, mitzukommen, Monika?« »Schrecklich gern«, sagte Monika. »Ich bin furchtbar gespannt auf das Haus, das eine solche Vorschußreklame bekommen hat. Garantierst du dafür, daß wir es richtig gräulich und unheimlich dort haben werden?« »Das glaube ich versprechen zu können.« »Dann freue ich mich kolossal. Wir nehmen morgen den ersten Zug. Ich gehe gleich nach Hause und packe die Koffer.« Es war blendendes, mildes Augustwetter, als wir am nächsten Tage - gegen Abend - mit dem Bus in Lillesund eintrafen. An der Haltestelle standen Ludvigsen, der ehemalige Verwalter, und Marie, die Haushälterin, um uns abzuholen. Ludvigsen war ein kleiner spitzmausartiger Bursche von der Sorte, der es schwerfällt, Menschen in die Augen zu sehen. Er wirkte reichlich duckmäusig und befangen, als er nach kurzer Vorstellung unsere Koffer nahm und sie den Weg hinunter trug. -32
Marie war das typische »alte Mädchen«, das nie geheiratet wird aus dem einfachen Grunde, weil es zu häßlich für diese Welt ist. Ihr Gesicht erinnerte an eine der komisch geformten Rüben, die hier und da im Herbst als Abnormität auf die Zeitungsredaktionen getragen werden. Irgend etwas sagte mir, daß sie stark religiös interessiert sei. Im übrigen aber wirkte sie nett und treu, sie machte einen tiefen, verlegenen Knicks, als ich ihr die Hand gab. »Bringen Sie die Koffer ins Hotel Victoria, Ludvigsen«, sagte Arne. »Ein Glas Pilsner wird uns guttun nach dieser langen Reise.« Lillesund gefiel mir auf den ersten Blick. Es ist eine dieser reizenden Liliputstädte, von denen wir so viele an der Sörlandküste haben. Zahlreiche weiße, gelbe und blaue Puppenhäuser mit Blumentöpfen vor den Fenstern, eine Straßenpflasterung wie ein Waschbrett, aber mit kleinen Grasbüschelchen zwischen den Steinen, alte, vergilbte Schilder mit Schnörkelbuchstaben: Mikkel Sörensen, Schuhmacher - und über dem Ganzen ein unbeschreiblicher Duft von ölgestrichenen Holzwänden, salzigem Seewasser, getrockneten Fischen und frischen Krabben. Die Hauptstraße führte in steilen Korkenzieherwendungen zum Marktplatz hin, in dessen Mitte ein Zeitungskiosk von Kathedralenformat prangte, zweifellos der Stolz der Stadt und ihre größte Sehenswürdigkeit. Herrgott, wie vergnüglich müßte es sein, sich hier eine Zeitlang niederzulassen, dachte ich, und der große Mann zu sein, z. B. sich in den heftigen Kulturkampf zwischen Lillesundsposten und Lillesunds Tidende zu stürzen. Na ja, man würde es wohl bald satt werden. Solche idyllischen Kleinstädte sind auf die Dauer eine Hölle. Hier am Markt lag das größte Hotel der Stadt: das »Victoria«. Es war ein großes gelbes Holzhaus mit Veranda; wir ließen uns nieder und bestellten Bier. Madame Baldevinsen, die Wirtin, schwer und üppig wie ein Roggenacker im August, kam gleich -33
mit einer ganzen Batterie Bierflaschen auf einem silbernen Tablett. Ich leerte ein Glas auf einen Zug und fiel vor Wohlbehagen in den Korbstuhl zurück. Arne wandte sich an Ludvigsen, der verschämt und mit hängenden Ohren dasaß und an seinem Schlips fingerte. »Ja, nun müssen Sie mit der Sprache heraus, Ludvigsen. Weshalb haben Sie Ihre Stellung gekündigt? Was hat Sie denn so schrecklich ins Bockshorn gejagt?« Ich sah, daß der arme Ludvigsen sich vor der Antwort krümmte; es ist ja höchst unmännlich, einzugestehen, daß man Angst hat. Er schluckte ein paarmal, bevor er seinen Bericht begann - zuerst ein wenig stockend und tastend, dann ging es leichter. »Das ist eine ausgesprochene Teufelei mit diesem Haus«, begann er. »Ich bin sonst nicht so abergläubisch. Ich geb' nicht so viel drauf, was die Leute sagen. Aber das ist eine Teufelei. Ich bring' es nicht fertig, da noch länger zu wohnen. Das geht mir auf die Nerven. Ich hab' es früher auch schon gemerkt, es liegt sozusagen in den Wänden, und ich glaub', daß Herr Direktor es auch gemerkt haben. Aber erst gestern bekam ich es mit eigenen Augen zu sehen. So was hab' ich mein Lebtag nicht gesehn! Wie gesagt - das war also gestern. Am Vormittag. Die Uhr konnte wohl elf oder so ungefähr sein. Ich steh' direkt vor dem Haus und seh' mir die Stachelbeerbüsche an; der Mehltau war schlimm in diesem Jahr. Da guck' ich zufällig nach einem Fenster im ersten Stock 'rauf, ja, das war grad das Fenster zum gelben Zimmer. Und was krieg' ich da zu sehn? Zwei gelbe Augen, gelb wie die Sünde. Erst glaub' ich, daß Satan selbst oben steht, um mich mit den Augen zu fotografieren, aber dann seh' ich, daß es 'ne Katze war. Eine mächtige Katze, groß wie ein wahres Teufels... Und ich denk' mir also: bist du in das Haus 'reingekommen, du Biest, so wird Ludvigsen jedenfalls Manns -34
genug sein, dich wieder 'rauszukriegen. Und so geh' ich also 'rein ins Haus und die Treppe 'rauf und ins gelbe Zimmer. Aber da ist keine Katze. Und Tür und Fenster sind zu. Da denk' ich mir, vielleicht hast du nicht richtig gesehen, Ludvigsen, vielleicht hast du diesen widerlichen Anblick in einem anderen Fenster gehabt, vielleicht war's nebenan, denk' ich. Und so geh' ich in das Zimmer nebenan, aber da ist auch keine Katze. Im ganzen Haus ist keine Katze zu sehen. Nicht, daß ich ein ängstlicher Mann bin, aber eine Teufelei ist das doch mit dem Haus, und ich will da nicht länger drin wohnen. Herr Direktor müssen vielmals entschuldigen...« Ludvigsens primitiver Bericht machte einen ausgesprochen zuverlässigen Eindruck, er wirkte weit stärker auf mich als Arnes Geschichten; hier konnte jedenfalls nicht die Rede von Phantasielügen sein. Wir blieben noch eine halbe Stunde sitzen und unterhielten uns; Ludvigsen war unerschütterlich in seinem Entschluß, während Marie - zum Teil war das Monikas Diplomatie zu danken - sich noch einmal überreden ließ, ihre Stellung im Kaperhof zu behalten. Wir brachen auf und gingen zum Anlegeplatz hinunter. Dort lag Arnes Boot bereit, ein nagelneuer gelber Segler mit chromvernickeltem Außenbordmotor. »Hinein«, sagte Arne. »Nun geht es dem Abenteuer entgegen.« Er setzte den Motor in Gang. »Und was glaubst du nun?« fragte ich Monika. »Glaubst du, wir werden hier etwas Besonderes erleben? Wir, die wir mit elektrischem Licht, Kühlschrank und Psychoanalyse aufgewachsen sind?« »Ja«, antwortete sie. »Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß wir eine ganze Menge erleben werden. Vielleicht mehr, als uns guttut.«
-35
DRITTES KAPITEL Der Mann im Ölzeug Nach kurzer Zeit waren Lillesunds Spielzeughäuser und Miniaturhafen hinter uns verschwunden, und unser Motorboot tuckerte zwischen kleinen, niedlichen Inseln dahin, wo weiße Fischerhütten sich tief in den Buchten aneinanderschmiegten. Schafe grasten auf den Holmen, und ein Kutter mit Segeln von Packpapierfarbe und mit Netzen und Fischkästen an Deck tauchte plötzlich aus einem der Sunde auf. Ein frischer Wind jagte kurze Seen den steinigen Strand und die glattgescheuerten Felsen hinauf und weiße Gischt stob wie Fontänen hoch, wo Schären oder Klippen die Wasseroberfläche durchbrachen. Nachdem wir eine Weile durch die launenhafte Schärenwelt gekreuzt waren, erblickten wir einen langgestreckten, hohen Landrücken, eine steile Silhouette, die sich scharf gegen den Himmel abzeichnete; wilde, nackte Felshänge kamen in Sicht. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß eine Insel in dieser Gegend so groß sein könnte; es mußte ein Stück Festland sein, eine mächtige Landzunge, die sich kühn gegen das Meer vorschob. »Heilandet«, erklärte Arne. »Nur die andere Seite ist bewohnt. Dort befindet sich eine kleine Ortschaft mit zerstreuten Höfen zwischen den Felsen.« Er legte das Ruder um und steuerte die Halbinsel an; dann fuhren wir die sturmzerrissene und ungastliche Küste entlang. Wir waren ziemlich müde von der Reise, zumindest Monika, und dank einem tolpatschigen Manöver Arnes, das mir die halbe Nordsee über den Buckel gejagt hatte, war ich völlig durchnäßt. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, mich vor ein warmes Feuer zu setzen und so bald wie möglich etwas Starkes und -36
Alkoholhaltiges in Reichweite zu bekommen. Aber weder das Land vor uns noch die Schärenkette hinter uns versprach einen gemütlichen Kamin, einen guten, tiefen Sessel und einen Keller voller verstaubter, lackverkapselter Flaschen. Ich wollte Arne gerade fragen, ob er sich nicht in der Richtung geirrt habe, als sich uns ein überraschender Anblick bot. Die steile, unzugängliche Küste wich plötzlich einem Stück ebenen Geländes - am Ende einer kleinen Bucht. Und dort hinten unter den Steilhängen, etwa hundert Meter von der See entfernt, lag ein großes, lang gestrecktes Haus, im alten Stil gebaut. Es bestand aus Erd- und Obergeschoß plus Boden, aber die Länge des Gebäudes und die Felswände ringsum waren daran schuld, daß das Haus trotzdem so flach wirkte, als ob es vor dem Meere Schutz suchend in sich zusammenkröche. Es mußte einmal weiß gewesen sein, war aber offenbar seit vielen Jahren nicht mehr gestrichen worden. Die Abendsonne blinkte in einer langen Reihe schwarzer Fenster, und etwas, was eine Art Garten vorstellen sollte, duckte sich an die Hauswand. »Der Kaperhof«, sagte Arne und machte eine Geste wie der Reiseführer eines Rundfahrt-Autobusses. Ich konnte mir nicht helfen, aber mir wurde fast feierlich zumute, als wir vom Anlegeplatz hinaufgingen und die massive Haupttür unter einem stilechten Empireportal erreichten. Arne steckte einen gewaltigen Schlüssel ins Schloß; die Tür schwang auf, und wir betraten eine große Halle. Sofort hatte ich das Gefühl, daß ich um hundert Jahre zurückversetzt worden sei. Die Empiremöbel, Stoff und Muster der Portieren, die Gemälde und Kupferstiche an den Wänden, die Schiffsmodelle unter den mächtigen Dachbalken - alles war so, wie es zur Zeit des Napoleonkrieges gewesen sein mußte. Wir steuerten eilig eine riesige kupferglänzende Küche an, wo Marie sofort begann, ein Essen auf dem imponierenden Herd zuzubereiten. Marie hatte ziemlich blaß und ängstlich gewirkt, -37
als wir den Hof erreichten, aber wie auf Grund eines stillschweigenden Übereinkommens wurde nichts mehr gesagt von schwarzen Katzen oder anderen unheimlichen Wesen, und als wir in die Küche kamen, vergaßen wir die ganze Geschichte. Soviel ich weiß, kommt es selten vor, daß sich Gespenster hungrigen Leuten zeigen, die sich nur darauf konzentrieren, wie delikate gelbbraune Pfannkuchen in einer glühend heißen, von Butter zischenden Pfanne gewendet werden. Als wir gegessen hatten, zeigte Arne uns das Haus; zuerst bekamen wir das Watteau-Gemälde zu sehen. Es war meisterhaft und wurde den höchsten Erwartungen gerecht; es hätte allein für sich einen ganzen Museumssaal verdient. Überall im Hause waren Möbel und Tapeten im gleichen Stil gehalten. Arne war ein sehr eifriger Cicerone; bald zog er uns zu einem Bild, das eine Koppel schläfriger Jagdhunde darstellte, bald zu einer jungen Frau mit Korkenzieherlöckchen oder zu einer Gruppe draller Nymphen, und er nannte die Namen französischer und englischer Künstler des 18. Jahrhunderts. Auch bei den Möbeln nannte er Namen, Stilarten und Jahreszahlen - mit dem besonderen Stolz, den Fürsten an den Tag legen, wenn sie selbst ihre Sammlungen zeigen. Doch ließ er es auch nicht an Bemerkungen fehlen, die auf das künftige Badehotel anspielten. Diese Wand sollte weggerissen werden, dort sollte eine Bar eingerichtet, und hier sollte das Orchester untergebracht werden. Das Haus hatte so viele Räume, daß ich die Übersicht verlor, und viele wirkten wie kleine Säle. Wir kame n auch in eine Bibliothek mit dunklen, handgebundenen Bänden hinter verstaubten Glastüren - und in eine kleine Rüstkammer, deren Wände mit altmodischen Waffen aller Art bedeckt waren: breitklingige Haudegen, Kavalleriesäbel mit vergilbten Goldschnüren, plumpe Reiterpistolen mit kunstvollen Kolben, ehrwürdige Karabiner und schwere Hinterlader. Schließlich betraten wir einen Raum, der am Ende des langen -38
Ganges im Obergeschoß lag. Es war ein sehr großes Zimmer mit einem Bett in der einen Ecke, aber sonst mit Möbeln, die eigentlich nicht in ein Schlafzimmer gehören; ein ungewöhnlich schöner Tisch, ein paar elegante Schränke mit Schnitzereien und einige erlesene Stühle mit Stickereien auf dicken Seidenbezügen. Dies waren offenbar die wertvollsten Möbel des ganzen Hauses. Ein mannshoher Spiegel war mit langen Schrauben an der Wand befestigt, die die Nordflanke des Hauses bildete; der Spiegel reichte bis zum Fußboden hinunter und war so vom Alter mitgenommen, daß man einem Seeungeheuer ähnlich sah, wenn man hineinblickte. Die Wände hatten einen widerlich gelben Farbton; mit einem von Järn entliehenen Ausdruck möchte ich sagen, daß sie an einen »Sonnenaufgang in der Hölle« erinnerten. »Hier seht ihr also das gelbe Zimmer«, sagte Arne. »Kapitän Korps Schlafzimmer. Gemütlich, nicht wahr? Hier pflegt die schwarze Katze sich zu zeigen. Und dort drüben in der Ecke stehen die höchsteigenen Schaftstiefel des Seeräubers. Ja, dieses Haus hat Atmosphäre; man könnte geradezu Lust bekommen, seine Hochzeitsnacht hier zu verbringen.« Ich ging die Wände entlang und betrachtete die Gemälde. Es waren sieben bis acht Bilder von leicht bekleideten jungen Damen, die sich offenbar große Mengen Cremetorte einverleibt hatten und ungewöhnlich dicke Sahne im Kaffee zu nehmen pflegten. »Wie hoch würdest du den Wert dieser Gemäldesammlung veranschlagen?« fragte ich. »Allein diese Bilder hier sind gegen Hunderttausend wert«, erwiderte er. »Das sind Maler der Boucher- und FragonardSchule. »Woher weißt du das? Wie kannst du überhaupt wissen, was das Inventar wert ist?« »Ich kaufe ja nicht die Katze im Sack - von der schwarzen -39
Katze abgesehen, die offenbar gratis ist. Ich bin ja schließlich kein Anfänger, was Geschäfte betrifft. Als ich im Februar hier war, brachte ich einen kleinen Stab von Fachleuten mit: zwei Gemäldeexperten, einen Innenarchitekten und Spezialisten für alte Stilarten, einen Bauarchitekten und einen Versicherungsagenten. Ich habe für alle Gemälde verbindliche Gutachten erhalten - abgesehen von dem Watteau, den ich deshalb mit nach Oslo nehmen wollte, um ihn von einem dritten Experten untersuchen zu lassen. Echtheit und Wert der Möbel stehen fest. Allein die Einrichtung ist das Fünffache dessen wert, was ich für das ganze Grundstück ausgegeben habe.« »Da wäre es wohl ein schwerer Schla g für dich, wenn hier z.B. ein Brand ausbräche?« »Ich bin schließlich kein Vollidiot. Selbstverständlich habe ich alles versichern lassen - sowohl gegen Diebstahl als auch gegen Brand.« Monika hatte sich ans Fenster begeben und blickte hinaus. Die Aussicht über Schären, und Klippen war großartig - »Inseln ringsum wie Vogeljunge« -, weit draußen ging der Meereshorizont in den Himmel über. Der alte Seeräuber muß eine unbändige Sehnsucht nach dem Meer verspürt haben, wenn er an diesem Fenster stand. Plötzlich rief Monika aus : »Dort kommt wahrhaftig das erste Gespenst. Es sieht aus, als ob es auf dem Wege hierher sei.« Arne und ich traten ans Fenster. Drunten kam ein Mann über den Strand gegangen mit deutlichem Kurs auf das Haus zu. Er trug einen Filzhut, Windjacke und Gummistiefel. »Wenn das ein Widergänger ist, dann kann er nicht viel länger als fünfundzwanzig Jahre tot sein«, sagte ich. Als wir etwas später in die Küche kamen, befand sich jedoch Marie in einem munteren Gespräch mit dem Widergänger, der mit Tasse und Kuchenteller am Tisch saß und darauf wartete, -40
daß der Kaffee kochen sollte. Nun erkannte auch Arne den Gast und stellte ihn uns als Lehnsmann des Distrikts, Arnt Sörensen, vor. Er war ein strammer Vierziger, und man hörte gleich, daß er aus dem Ostland gebürtig war. »Ich wollte nur mal hereinschauen, als ich sah, daß jemand im Hause war«, sagte er und stopfte sich die Pfeife mit BurleyTabak. »Ich pflege den Strand entlang zu promenieren, wenn ich nichts anderes vorhabe. Ich suche nämlich etwas, und Sie werden vielleicht denken, ich sei närrisch, wenn Sie hören, worum es sich handelt. Aber tatsächlich sehe ich nach, ob nicht etwas an den Strand getrieben wird, etwas, was vielleicht Licht auf die geheimnisvolle Angelegenheit wirft, die wir hier vor acht Monaten erlebten.« »Spielen Sie auf die Geschichte mit dem estnischen Schiff an?« fragte Arne. »Eben. Das Schiff, das wir gegen Neujahr ohne eine Seele an Bord fanden. Ich entsinne mich des Morgens noch gut. In der Nacht hatten wir einen Höllensturm gehabt, und dann kam die Meldung, jemand habe ein Schiff vor Heilandet treiben sehen. Ich war selbst mit im Lotsenboot, und wir fanden das Schiff eine Seemeile vor der Schärenkette - direkt vor dem Hause hier. Es war ein Frachter von ungefähr viertausend Tonne n, schwarz und häßlich, und es sah nicht nach Leben an Bord aus, niemand antwortete, als wir es anpreiten. Der Sturm hatte sich so weit gelegt, daß wir an Bord gehen konnten. Ich kam als erster über die Reling und ging gleich durch das ganze Schiff. Logis und Kajüten sahen aus, als seien sie eben verlassen; kein Zeichen deutete auf Verwirrung oder Panik. Höchstens, daß einzelne Kojen zerwühlt waren, als ob die Freiwache gerade auf kurzen Bescheid ausgetörnt war. Sonst war da keine Spur von plötzlichem Aufbruch; die Mannschaftskisten standen mit den Schlüsseln im Schloß auf ihren Plätzen; verschiedentlich fanden wir Geld, Uhren und andere Wertsachen unter den Kopfkissen. -41
Es war seltsam, daß sie es so eilig hatten von Bord zu kommen, wenn das Schiff keine anderen Schäden hatte als ein kleines Leck: es waren ein paar Fuß Wasser im Laderaum.« »Waren die Rettungsboote weg?« fragte ich. »Zwei davon. Aber sie müssen gesunken oder aufs Meer hinausgetrieben sein. Wir fanden sie nicht.« »Es ist wohl nicht so rätselhaft, daß die Mannschaft verschwunden ist«, wandte Arne ein. »Wahrscheinlich hielten sie die Lage für gefährlicher, als sie war. Es kann ja sein, daß das Schiff jeden Augenblick auf eine Schäre geworfen werden konnte. Sie gingen in die Boote und kamen um.« »Die Maschine war in Ordnung«, erklärte der Lehnsmann. »Aber nun kommen wir an das eigentliche Mysterium. In einem Laderaum fanden wir siebzehn große Kisten mit Maschinenteilen - für irgendeine kleine mittelamerikanische Republik bestimmt - Costa Rica, so weit ich mich entsinne. Aber aus den Schiffspapieren ging hervor, daß diese Partie zwanzig Kisten umfassen sollte. Drei davon waren also entfernt worden, und es war deutlich zu erkennen, daß diese Kisten unten gelegen hatten; die oberen Kisten waren zur Seite geschoben oder umgekippt worden, und es befand sich ein leerer Raum, wo die anderen gestanden hatten. Komisch, nicht wahr: die Mannschaft läßt ihre gesamte Habe und ihre Wertsachen liegen und nimmt sich statt dessen die Zeit, drei Kisten Maschinenteile zu bergen. An dieser Geschichte ist irgend etwas faul. Daher kann ich die Sache nicht ganz fallenlassen, und ich wurde auch von der Osloer Polizei ersucht, alles zu tun, um sie aufzuklären. Wenn ich also Zeit und Gelegenheit habe, unternehme ich einen Abstecher hier heraus. Und wenn Sie auf irgend etwas von Interesse stoßen sollten, wie zum Beispiel Wrackteile der Rettungsboote - oder meinetwegen auch Leichen -, die an Land getrieben wurden, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich -42
unterrichten würden.« Lehns mann Sörensen blieb zum Abendessen da und wanderte dann allein in die Augustnacht hinaus. Es war ziemlich spät geworden, und wir hatten einen anstrengenden Tag gehabt, so daß wir daran denken mußten, in die Koje zu gehen. Wir schraubten den Docht unserer anheimelnden Paraffinlampe herunter, und die Dunkelheit, die bisher nur in den Ecken gelauert hatte, rückte uns mit einem Male ganz nahe auf den Leib. Draußen in der Halle tanzten phantastische Riesenschatten die Wände entlang - im Schimmer der flackernden Stearinkerzen. Wir vergewisserten uns, daß die Haustür fest verschlossen war, und tasteten uns dann die Treppe hinauf. Marie war wieder bleich und verängstigt und wagte nicht, allein zu schlafen; so wurde beschlossen, daß sie und Monika das große Eckzimmer teilen sollten. Arne und ich demonstrierten unseren Mannesmut, indem wir uns jeder für sich in die daneben liegenden beiden Räume begaben. Mein Zimmer hätte bei Tageslicht sicher einen recht gemütlichen Eindruck gemacht mit Himmelbett, verblichenen Radierungen an den Wänden und dem Modell eines altmodischen kleinen Kriegsschiffes mit einer Kanone auf dem Vorschiff. Jetzt bei Nacht wirkte es nicht ganz so gemütlich, und als ich die eiskalte Decke über mich zog, war mir, ehrlich gestanden, etwas beklommen zumute. Wenn der Schlaf unter normaleren Verhältnissen sich einzufinden weigert, dann gilt es als kluger Schachzug, das Licht anzuzünden und nach einem spannenden Kriminalroman zu greifen. Die Verlagsreklame hatte in dieser Hinsicht Järns Bücher besonders warm empfohlen. Doch hatte ich das Gefühl, der Kaperhof sei nicht der rechte Ort zur Lektüre der »Erzählungen des Totengräbers«. Statt dessen griff ich zu Wodehouses unsterblichem Meisterwerk »Very good, Jeeves!« Humor ist der beste Angstvertreiber, in Gesellschaft mit Bertram Woster fühlt man sich sicher vor allen dunklen Mächten. Ich -43
schlief mit einem vergnügten Lächeln ein und konnte am nächsten Morgen beim Frühstück erzählen, daß ich weder etwas Ungewöhnliches gehört noch gesehen habe. Das hatte auch keiner der anderen. Trotzdem fühlte ich mich nicht sonderlich beruhigt. Es war etwas an diesem mächtigen Haus, den alten Dingen, dem Meere draußen und den öden Felsen ringsum - etwas, das mir einen leichten Schauer über den Rücken laufen ließ, selbst als ich geröstetes Weißbrot mit Marmelade aß. Eigentlich war geplant, daß wir diesen Tag benutzen wollten, um die Umgebung ein wenig zu erkunden. Aber schon am Morgen war der Himmel bedeckt, und im Laufe des Vormittags begann es Bindfäden zu regnen, eine wahre Sintflut. Wir waren daher ziemlich überrascht, als wir plötzlich Besuch bekamen. Zwei Gestalten in Regenmänteln tauchten auf dem winzigen Fuhrweg auf, der durch die kleine Talschlucht zwischen den Felshängen zum Hause führte. Zu meiner Freude erkannte ich in der einen Karsten Järn. Er wurde von einer jungen Dame in weißem Regenmantel begleitet. Ihre dunklen Locken waren triefnaß vom Regen und umrahmten ein hübsches, pikantes kleines Gesicht. Sie wirkte entschieden anziehend, machte aber andererseits einen stillen und eingeschüchterten Eindruck, als ob sie von irgendeiner heimlichen Angst bedrückt würde. »Ich hörte auf dem Postamt von eurer Ankunft«, sagte Järn. »Dergleichen spricht sich ja an einem Ort wie diesem sofort herum. Ich wollte also mal vorbeikommen, um mich zu erkundigen, wie ihr die erste Nacht auf dem Kaperhof geschlafen habt. Die Haarfarbe ist die gleiche, sehe ich. Nicht ein einziges weißes Haar? Aber das kommt noch, meine Freunde, das kommt noch... Vielleicht darf ich Frau Lizzie Fahle vorstellen. - Ja, du kennst wohl Arne noch von früher, Lizzie? Dies ist Monika Winterfeldt und hier ist Paul Rickert...« -44
»Ich komme eigentlich mit einer Einladung zu Ihnen«, sagte Lizzie Fahle, nachdem alle Händedrücke glücklich überstanden waren. »Als mein Mann und ich hörten, daß Sie gekommen seien, waren wir uns einig, daß wir Sie gern so bald als möglich bei uns sehen möchten. Wir sind ja fast Nachbarn. Gerade heute paßt es uns außerordentlich gut. Wir wären dankbar, wenn Sie zum Mittagessen kommen würden. Wir sind ja fest ansässig hier auf Heilandet, verstehen Sie, und haben es ziemlich einsam. Mein Mann freut sich immer, neue Menschen kennenzulernen, vor allem Leute, mit denen er diskutieren kann.« Natürlich nahmen wir die Einladung an. Sowohl Monika als auch ich waren gespannt, was für Nachbarn Arne hier draußen hatte. Eine andere Frage war es allerdings, wie wir einigermaßen wohlbehalten die zwei bis drei Kilometer bis zu Fahles Haus durch den Regen kommen sollten. Alle Pfade hatten sich in kleine Bache verwandelt, Lizzies Schuhe und Strümpfe waren triefnaß, und Monika sagte, daß sie nichts anderes als Sandalen anzuziehen habe. Aber Arne fand sofort einen Ausweg. »Wir nehmen Pferd und Wagen«, sagte er. »Ich habe ja ein kleines Pferd draußen, das gehörte zum Hof; ich wollte es zum Materialtransport gebrauchen. Es weidet zwischen den Felsen; doch pflegt es sich nie weit zu entfernen. Vielleicht kommst du mit, Paul, dann gehen wir es holen.« In Regenmäntel gehüllt und mit einem Halfter gewaffnet zogen wir hinaus, um Arnes Pferd zu suchen. Unterwegs erzählte er mir von unserem neuen Gast und ihrem Mann. »Fahles wohnen in dem sogenannten Pfarrhof«, sagte er. »Also auf Järgen Uhls altem Hof; du entsinnst dich wohl des ›Kaperpfarrers‹, Korps zweiten Mann auf der ›Krebs‹. Sie wohnen dort übrigens erst seit vier Monaten; sind also ebenso neu in der Gegend wie ich. Ich kaufte den Kaperhof im Februar und Fahle übernahm den Pfarrhof im April. Er ist NorwegischAmerikaner und eigentlich als Theologe in den USA ausgebildet, aber er hat sich hier in Heilandet niedergelassen, -45
um kulturgeschichtliche Studien zu betreiben; er ist ein sehr merkwürdiger Mann. Lizzie stammt aus Horten, hat aber ein Jahr bei Verwandten in Lillesund gewohnt, wo sie Fahle kennenlernte. Sie ist ein etwas weicher Typ, finde ich, aber im übrigen charmant und plietsch. Sie heiratete Fahle kurz nach seiner Ankunft.« »Mit welchen kulturgeschichtlichen Studien beschäftigt er sich denn?» fragte ich. »Er studiert meines Wissens volkstümlichen Aberglauben, Magie, Besessenheit und ähnlichen Blödsinn«, sagte Arne. »Er will eine Abhandlung darüber schreiben; besonders interessiert er sich für die Kapersage.« »Aber das muß ja der ideale Umgang für Järn sein?« bemerkte ich. »Ja, das sollte man annehmen.« Wir fanden das Pferd unter einigen Bäumen, wo es vor dem Unwetter Schutz gesucht hatte. Es war ein kleiner gedrungener Nordländer, der sich als ungewöhnlich zutraulich und folgsam erwies. Außer angeschossenen Wasserbüffeln sind Pferde für mich die gefährlichsten Tiere auf der Erdoberfläche, aber dieses ließ sich ruhig das Halfter anlegen und auf den Hofplatz führen, wo wir es vor ein seltsam vorsintflutliches Fahrzeug spannten. Ich hatte gerade nach Monika, Lizzie und Järn gerufen, als plötzlich ein Elchhund angelaufen kam, mit freundlicher Neugierde an meinen Schuhen schnüffelte und hingebungsvoll wedelte. »Das ist Tass«, erklärte Arne, »nicht mit dem russischen Nachrichtenbüro zu verwechseln. Er gehört dem früheren Besitzer hier, Eivind Dörum, und pflegt oft zu Marie zu kommen, die ihn füttert und bemuttert. Fein, daß sie ihn hier hat, wo wir zu Mittag fortwollen; dann hat sie nicht solche Angst, allein zu sein.« Wir pferchten uns in den Wagen, und als alter -46
Reserveartillerist ergriff ich persönlich die Zügel und gab dem Zugt ier den Befehl zum Abmarsch. Der Weg schlängelte sich zwischen den Hängen dahin. Hin und wieder folgte er dem Grunde enger Schluchten mit kräftigem Graswuchs und Laubwald zwischen den steilen Bergwänden, doch in der Regel ging es über windzerzauste, heidebedeckte Hochflächen, wo nur einige Wacholderbüsche und Findlinge sich über die Landschaft erhoben. Ich begann mich zu fragen, ob Arne es wirklich schaffen würde, hier einen populären Badeort zu gründen. Aber vielleicht wirkte die Landschaft wegen des Regens besonders ungastlich. Ein paarmal trafen wir Frauen und Kinder, die in dem Dreckwetter unterwegs waren und Blaubeeren in große Eimer sammelten. »Jetzt sind es nur noch ein paar hundert Meter«, sagte Lizzie. »Die kleine Mauer, die wir eben passierten, bildet die alte Grenze des Pfarrhofs.« Wir waren in eine enge Schlucht mit hohen Bäumen geraten, eine Art Hohlweg unter dunklen, dichten Laubkronen. Weiter vorn nahmen wir ein langes, weißes Gebäude wahr, und ich wollte gerade das Pferd zu einem kleinen Endspurt aufmuntern. Aber in diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Das Pferd hielt plötzlich an und blieb stocksteif stehen. Es legte die Ohren flach zurück und wirkte, als ob es wie versteinert auf etwas weiter vorn am Wege starrte. Zuerst verstand ich nicht, was es sein könne; der Weg lag leer vor uns, und kein Laut war zu hören außer dem hohlen Klatschen der Regentropfen. Ich fuhr das Tier scharf an und hieb ihm einige Male über den Rücken, bis Monika mein Handgelenk ergriff. Aber das Pferd rührte sich um keinen Zoll, seine Ohren legten sich nur noch flacher. Dann bemerkte ich endlich, daß ein Mann aus dem Hause getreten war; er hatte eine Weile unbeweglich oben auf der Treppe gestanden; nun kam er rasch den Weg herunter und ging -47
uns entgegen. Er war ein mächtiger Bursche, in Ölzeug, Seestiefeln und Südwester. Das wetterzerfurchte Gesicht verriet nichts über sein Alter; seine Augen lagen tief unter dichten, buschigen Brauen. Seine Kleider waren sehr naß. Eine Sekunde lang begegneten mir seine Augen, und ic h fuhr zusammen: sie waren blicklos. Sie waren wie graue Pfützen mit Pupillen wie Regentropfen darin. Oder vielleicht erinnerten sie an Seewasser, eine eiskalte Meeresfläche, die Nordsee im Dezember - mit blinden, wogenden Tiefen. Ich saß einen Augenblick wie gelähmt. Es ist möglich, daß nun hinterher die Phantasie mit mir durchgeht und daß ich unfreiwillig etwas hinzudichte; vielleicht hatte die Angst des Pferdes mich angesteckt. Während der Fremde näher kam, geriet das Pferd jedenfalls völlig außer sich, und als er uns passierte, zitterte es wie Espenlaub. Kaum aber war er vorbei, da warf es sich ins Geschirr und zog mit einem Ruck an, der uns fast aus dem Wagen geworfen hätte. In wildem Galopp lief es den Weg hinan, und nur mit dem größten Kraftaufwand und den härtesten Artilleriemethoden gelang es mir, das Pferd zum Stehen zu bringen, als wir über fünfzig Meter an dem Hof vorbeigefahren waren. Es hielt zitternd an und schielte ängstlich nach hinten. Alle Versuche, es zurückzuführen, waren vergeblich; wir mußten es abschirren und an einen Baum binden. Ich weiß nicht, ob die anderen diesen Zwischenfall so wie ich erlebt hatten, aber wir waren die ganze Zeit auffallend stumm. Auf dem Rückweg brach Arne das Schweigen: »Hat sich ja verdammt komisch aufgeführt, das Tier. Wer war übrigens dieser merkwürdige Mann, Frau Fahle?« Lizzie war offensichtlich nervös; ihre Augen flackerten, und ihre Wangen waren blaß. »Das ist jemand, der meinen Mann hin und wieder besucht«, sagte sie. »Ich ahne nicht, was er bei uns zu suchen hat; ich kann -48
ihn nicht ausstehen. Er heißt übrigens Rein.« »Vielleicht ist er identisch mit dem Vestlandsteufel, den Nils Kjaer einmal getroffen haben will«, rief ich aus. »Kein Wunder, daß das Pferd von einem solchen Gespenst verängstigt wird...« Die Worte klangen nicht so leicht und munter, wie ich es gewünscht hätte. Sie hatten eine Tendenz, sich in meinem Halse zusammenzuklumpen. Während wir die Treppe zum Haupteingang hinaufgingen, warf ich Järn einen Seitenblick zu. Er zeigte als einziger ein fast unmerkliches Lächeln, ein MonaLisa-Lächeln. Als Lizzie den Türklopfer ergriff und einige kurze, kräftige Schläge ertönen ließ, wandte er sich mir zu und flüsterte mir ins Ohr: »Halt die Augen offen. Ich glaube, diese Mittagsgesellschaft wird sehr interessant.«
-49
VIERTES KAPITEL »Auch die Finsternis hat ihre Götter« Die hohe Tür glitt auf, und wir nahmen in der dunklen Halle die Umrisse einer Männergestalt wahr. Es war Fahle. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht gleich erkennen, aber schon näherte er sich der Schwelle. Noch bevor er den Mund öffnete, machte er einen wunderlich starken Eindruck auf mich. Seine Gestalt war klein, gedrungen und kräftig wie die eines Mittelgewichtsringers, sein Rücken war leicht gebeugt, die Arme hingen lose herab; ein Körper, in dem jeder einzelne Muskel unter der wachen Kontrolle des Gehirns stand. Was jedoch den Blick fing, war das Gesicht des Mannes; es hatte eine graue, pergamentartige Haut, die wie ein strammer Handschuh über den Schädel gezogen war; die Lippen waren schmal und farblos, die Nasenflügel dünn und sensuell. Unter kurzgeschorenem steingrauem Haar wölbte sich die Stirn wie ein mächtiger Globus zu den Augenbrauen nieder: die Augen selbst waren dunkelbraun und voller Leben wie bei einem Italiener, sie hatten aber auch einen hellwachen Ausdruck von Intelligenz und scharfer Beobachtungsgabe. Vor allem waren es die Augen, die diesem Gesicht Jugend verliehen; sonst war sein Alter unbestimmbar; er konnte vierzig - fünfzig - sechzig, ja, schließlich auch siebzig Jahre alt sein. Er streckte uns die Hand entgegen und lächelte herzlich: »Schön, daß Sie gekommen sind; wir sehen allzu selten zivilisierte Menschen hier bei uns in der Wildnis. Treten Sie näher. Du kannst in die Küche gehen, Lizzie, und das Essen fertig machen.« Seine Stimme war sehr einschmeichelnd und angenehm; er hatte einen ganz leichten amerikanischen Akzent. Monika und -50
ich wurden vorgestellt, worauf wir alle in die Stube geführt wurden. Sie erinnerte stark an die Stube auf dem Kaperhof; das Haus hatte ungefähr den gleichen Stil, außen und innen, nur in kleinerem Format. Auch hier fanden wir alte Möbel, Kupferstiche, Gemälde und Schiffsmodelle. Aber alles war mit einem besseren Geschmack arrangiert als bei uns; dort war der Reichtum zum Teil allzusehr aufgehäuft. Fahle schenkte Cocktails in kleine, delikate Gläser ein. Eine dickflüssige smaragdfarbene Flüssigkeit rann aus dem Shaker. »Diesen müssen Sie mit Andacht trinken«, sagte Fahle lächelnd. »Der enthält echten Absinth, den ich aus Portugal mitgebracht habe.« »Trinken Geistliche Absinth?« fragte Arne. »Ich hatte geglaubt, das täten sie nicht mehr, seit die lastervollen Tage des Papsttums vorbei sind. Ich glaubte...« »Nennen Sie mich nicht einen Geistlichen«, unterbrach ihn Fahle freundlich. »Das ist eine Laufbahn, die ich schon seit langem aufgegeben habe; ich ziehe es vor, dem Herrgott auf andere Weise zu dienen. Wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich in aller Bescheidenheit mit kulturhistorischen Studien; ich habe mich auf ein ganz entlegenes Nebengebiet der Kulturgeschichte spezialisiert: den Satanismus. Insofern handelt es sich um eine Fortsetzung meines geistlichen Amtes; will man dem Guten dienen, so muß man zuerst einmal das Böse analysieren. Ich arbeite an einer kleinen Abhandlung über dieses Gebiet.« Järn blickte mit neugieriger Miene von seinem Cocktailglas auf. »Und aus welchen Quellen schöpfen Sie?« fragte er. »Nicht aus den okkulten, lieber Järn, absolut nicht aus den okkulten. Ich sammle exaktes Material, wo immer ich es finde; ich spüre alte Sagen und Hexengeschichten aller Art auf, so wie sie noch im Bewußtsein einer primitiven und abergläubischen -51
Bevölkerung lebendig sind. Ich arbeite ungefähr nach der gleichen Methode wie die Brüder Grimm. Vielleicht haben Sie den Mann bemerkt, der gerade das Haus verlassen hat, gerade bevor Sie kamen? Er heißt Rein - und ist eine meiner besten Quellen. Er verfügt über ein gewaltiges Material auf diesem Gebiet; Bauern und Fischer haben oft ein phantastisches Gedächtnis, wenn es sich um solche alten, unheimlichen Geschichten handelt, die mit allen Einzelheiten von Geschlecht zu Geschlecht überliefert werden. Ich interviewe diesen Fischer ein paarmal in der Woche - immer mit gleich großem Erfolg; er ist eine folkloristische Schatzkiste.« »Ich kann verstehe n, daß er Experte für unheimliche Sagen ist«, warf ich ein. »Unser Pferd geriet jedenfalls in eine geradezu panische Angst, als wir ihm begegneten. Es lief Amok...« »Was Sie nicht sagen! Na ja, er ist ja eine etwas eigenartige Erscheinung und hat kein besonderes Verhältnis zu Tieren, der arme Kerl. Unter uns gesagt, ist er nicht ganz richtig im Oberstübchen, wie man es in so entlegenen Distrikten leicht wird; meine Frau kann ihn übrigens auch nicht ausstehen. Aber sonst ist er harmlos... Nein, sehen Sie, da kommt Lizzie mit dem Essen; gehen wir zu Tisch. Trinken Sie aus, Fräulein Monika, trinken Sie aus, meine Herren. Dieser Cocktail ist ein echter, alter Hexentrunk, den man immer erst probieren sollte, bevor man sich mit okkulten Dingen beschäftigt.« Fahle hatte zweifellos recht: es war ein Hexentrunk. Ich fühlte mich spürbar berauscht nach diesem einen Gläschen. Es durchtönte mich wie eine leise, aufreizende Musik; als ich mich erhob, hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob grünes Blut durch meine Adern liefe; flüssiger Smaragd. Die Dame des Hauses hatte eine große dampfende Suppenterrine auf den Tisch gesetzt, um den wir uns gruppierten. Lizzie war eine vortreffliche Köchin: sowohl die Spargelsuppe, der Hammelbraten wie das Krokanteis -52
schmeckten wie die Freuden des mohammedanischen Paradieses. Und Fahle war ein ausgezeichneter Wirt, der während der ganzen Mahlzeit eine gewandte und geistreiche Unterhaltung über alle möglichen Gebiete führte: bald diskutierte er mit Monika einen modernen Roman, bald behandelte er die Möglichkeit des Kaperhofes als Badehotel mit Arne und mir oder er gab Järn Tips für eine neue Kriminalnovelle. Doch fiel mir auf, daß er seine Frau ein wenig von oben herab behandelte; er wandte sich ihr nur selten zu, um ihr eine knappe Anweisung zu geben - als sei sie sein Dienstmädchen. Sie wiederum war die Untertänigkeit selbst, gehorchte augenblicklich jedem Wunsch und hing an den Lippen ihres Mannes, wenn er mit seiner angenehmen, geschliffenen Stimme sprach; hin und wieder blickte sie ihm mit einem geradezu hypnotisierten Ausdruck in die Augen. Ich dachte im stillen: welch eine seltsame Ehe, und grübelte darüber nach, wie sie so verblüffend schnell zustande gekommen sein mochte. Wir waren bei den Zigarren, dem Kaffee und dem Likör einem ausgezeichneten Cointreau - angelangt, als ich die Initiative zu einem neuen Thema ergriff, das nach meinem Gefühl schon lange in der Luft lag. Ich fühlte mich von unbezähmbarer Neugierde getrieben. Zu Fahle gewendet sagte ich: »Wenn Sie eine Abhandlung über alten Aberglauben, Teufelsbesessenheit und dergleichen schreiben, dann weihen Sie wohl auch der Kapersage ein Kapitel?« Er nickte eifrig. »Selbstverständlich. Mit diesem Kapitel beschäftige ich mich gerade jetzt ein außerordentlich interessantes Thema. Und meine Arbeitsumgebung ist in diesem Fall ideal: dieses Haus hat ja, wie Sie wissen, keinem Geringeren gehört als Jörgen Uhl, dem dämonischen ›Kaperpfarrer‹. Die meisten Dinge, die Sie hier im Hause sehen, haben einmal diesem alten Rabauter gehört.« -53
»Was weiß man eigentlich von ihm?« fragte Monika. »Eine ganze Menge. Ich selbst habe so umfassendes Material über ihn gesammelt, daß ich fast seine Biographie schreiben könnte. Er war einige Jahre hier im Bezirk Heilandet als Pfarrer tätig gewesen, mußte aber dann in größter Eile mit Korp in See stechen, als sich herausgestellt hatte, was er wirklich trieb. Er hatte angefangen, eine waschechte Satanisten-Sekte zu gründen. Sie soll gegen dreißig Mitglieder umfaßt haben, fast ausschließlich Frauen. Eine dieser Fraue n, eine junge Kaufmannstochter aus Lillesund, brach nach einer hier im Hause zelebrierten orgiastischen schwarzen Messe zusammen und informierte die Behörden...« »Aber das klingt ja ganz unglaublich«, wandte Arne ein. »Eine waschechte Satanistensekte hier - unter einer so primitiven und gottesfürchtigen Bevölkerung?« »Gar nicht so unglaublich, wie es sich anhört. Es ist schon richtig, daß eine dunkle pietistische Religion in diesem Gebiete unseres Landes eine eiserne Hand auf alles Lebende gelegt hat; alle leben im Schatten eines strengen und unerbittlich strafenden Jehova. Aber gerade dort, wo die Religion am strengsten und finstersten ist, findet der Satanismus den besten Nährboden. Satan kommt als ein Befreier; er sammelt eine Unterwelt zu Aufruhr. All die verkümmerten Instinkte, all die unterdrückten Triebe läßt er los; jeder ihm gewidmete Kult wird zu einer gewaltigen Entladung alles Ursprünglichen in der Menschennatur. Übrigens ist dieser Jörgen Uhl eine starke Persönlichkeit gewesen. In seiner Jugend hatte er in einer Reihe europäischer Länder studiert und war gelehrt wie ein alter Jesuit. Wahrscheinlich war er gerade seines gefährlich großen Wissens wegen als Geistlicher in diese entlegene Gegend verbannt worden. Er war von Natur der geborene Empörer; in Frankreich war er mit modernen Gedanken in Berührung gekommen, die die alten Götterbilder umgestürzt hatten. Aber ohne Religion -54
konnte er nicht leben. Er bekehrte sich und rief die Finsternis an. Auch die Finsternis hat ihre Götter. Uhls starkes Triebleben und seine große Macht über die Frauen mochten mitbestimmend gewesen sein: er wurde ein Satanspriester von reinstem Wasser. Mit einem ungeheuren Haß wandte er sich gegen alles, was er früher einmal geglaubt hatte. Es wird behauptet, daß er sich ein Kreuz unter jede Ferse habe tätowieren lassen - um mit jedem Schritt auf das christliche Symbol treten zu können...« Fahle sprach mit einer ruhigen, nüchternen Stimme, die jedoch von einer seltsamen Intensität war. Hin und wieder zog er kräftig an seiner Zigarre, inhalierte tief und ließ den Rauch langsam durch die Nasenlöcher entweichen. Ich betrachtete Lizzie; sie schien immer noch völlig hypnotisiert zu sein von den Worten ihres Mannes. Arne machte eine unruhige, ruckartige Bewegung, als ob er etwas von sich abschütteln wolle. »Das klingt ja höchst seltsam und subtil«, sagte er. »Aber ich glaube, es ist ziemlich einfach, die Psychologie eines solchen Mannes zu deuten. Er war einfach ein loser Schürzenjäger, der sich dieses satanistischen Blödsinns bediente, um die Mädchen dahin zu kriegen, wo er sie haben wollte. Laienprediger - die sich auch hervorragend auf die Brechung des sechsten Gebotes verstehen - arbeiten nach einer ähnlichen Methode. Das Verfahren ist ja bis zum Überdruß in Boccaccios ›Decameron‹ beschrieben worden. Was den Satanismus selbst betrifft, so ist der wohl auch kein Mysterium mehr; die moderne Psychologie hat alle Teufelsbesessenheiten, Hexenvisionen usw. erschöpfend als reine Hysteriephänomene erklärt; die Geständnisse der Hexen sind auf Suggestion zurückzuführen. Nachdem dies alles aufgeklärt ist, verstehe ich eigentlich nicht, daß jemand noch Wert darauf legen kann, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen - in unserer Zeit.« Fahle hatte sich erhoben; er lehnte am Kaminsims und streifte -55
die Asche von der Zigarre. Um seinen Mund spielte ein leichtes ironisches Lächeln, aber seine Augen nahmen einen fast fanatischen Ausdruck an; offensichtlich hatten wir jetzt sein Lieblingsthema berührt. »Warum nicht gerade in unserer Zeit?« sagte er. »Das Thema hat heute eine größere Aktualität denn je zuvor. Nehmen Sie die modernen Diktaturstaaten; was sieht man da anderes als Satanismus; organisiert als politische Massenbewegung - mit religiösen Symbolen, mit kultischen Ritualen? Der Mensch kann nicht ohne einen Kultus leben. Der reine Materialismus ist eine psychologische Unmöglichkeit; wenn der Mensch Gott verloren hat, wendet er sich unweigerlich an die Finsternis, um sie zu beschwören. - Was ist übrigens Hysterie anderes als eine ohnmächtige Redensart, erfunden von einem phantasielosen deutschen Arzt, der einmal Voltaire gelesen hatte. Eine Redensart erklärt nichts. Die alten katholischen Exorzisten - die Teufelsaustreiber - wußten zweifellos weit mehr über die Abgründe der menschlichen Seele, als sich die moderne Psychiatrie in ihrer Kurzsichtigkeit träumen läßt. Der Satanskult hat uralte Wurzeln. Er hat seinen Ausgangspunkt im Pankult der Antike, im Grunde ist Satan kein anderer als der verwandelte Pan - der Gott in Bocksgestalt; alle Götter der Antike wurden ja nach dem Sieg des Christentums zu Dämonen degradiert. Immer wieder erhebt er sein Haupt unter der Diktatur des Katholizismus; im Mittelalter entstanden eben die manichäischen und albigensischen Kirdien, die den Teufel als ihren Wohltäter verehrten. Die Albigenser lehrten, man müsse ›die Sünde durch die Sünde überwinden‹, das große Prinzip der Sexualorgien. Sie hatten ihren eigenen Papst in Toulouse, ihr Konzil in Lyon; es wurde zum Kreuzzug gegen sie aufgerufen, und der heilige Dominikus, der Gründer der Inquisition, rottete sie mit unerbittlicher Grausamkeit aus. Aber ihre Lehre lebt weiter; in immer neuen Formen taucht sie wieder auf, vom Ende des Mittelalters bis weit in das 18. Jahrhundert -56
hinein brodelt Europa von Hexenprozessen. Noch am 20. August 1877 wurden in San Jacobo, Mexiko, fünf Hexen gerichtlich verurteilt von dem Alcalden Castillo und lebend verbrannt. In Gegenwart des Popen wurde 1879 die Hexe Agrafena Ignatiewna in der russischen Stadt Wratchewo verbrannt. - Man bildet sich ein, daß die sogenannte Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts den Satanismus ausgerottet habe, das ist ein Irrtum. Im Gegenteil wurden Voraussetzungen für einen neuen und intensivierten Satanismus geschaffen - gerade aus dem Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts heraus; das so mächtig in Swinburnes großem Gedicht ›Songs Before Sunrise‹ zum Ausdruck kommt: ›Thou art smitten, thou God, thou art smitten, Thy death is upon thee, o Lord!‹ « Ich hatte das Gefühl, daß Fahle sich förmlich in Ekstase geredet hatte, obwohl seine Stimme immer noch beherrscht klang; aber seine Augen glühten wie zwei Kohlen in dem mageren Gesicht. »Wollen Sie damit andeuten, daß es in unserer modernen Zivilisation immer noch solche Teufelssekten gibt?« fragte ich. »Es wimmelt davon. In Frankreich hat man z.B. die Vintrasisten, eine Sekte, die von Pierre-Michel Vintras im Jahre 1839 gegründet wurde und auf der alten Lehre der Albigenser fußt. Als Kuriosum sei erwähnt, daß es 1887 zwischen dieser Sekte und den sogenannten Rosenkreuzlern zu einem ›okkulten Krieg‹ kam; Boullan, der Führer der Vintrasisten, wurde dabei durch magische Mittel umgebracht. Die Zahl dieser Sekten hat in den letzten hundert Jahren außerordentlich zugenommen, und der okkulte Krieg geht unaufhörlich weiter.« Ich bemerkte, daß Järn Fahle geradezu mit den Augen verschlang; dies mußte ja Musik in den Ohren unseres Freundes sein; Ich war selbst - gegen meinen Willen - ganz gefesselt und wagte mich mit einer naiven Frage vor: -57
»Sollen wir das so verstehen, als ob Sie tatsächlich an die Existenz eines persönlichen Teufels glaubten?« Es war, als ob einige Engel durchs Zimmer gingen, nicht einmal so wenige, übrigens. Fahle brach in ein trockenes Lachen aus. »Nein, nun habe ich den Eindruck, daß ich anfange, Sie mit meinem Gerede zu langweilen«, sagte er ausweichend. »Lassen Sie mich Ihnen lieber das Haus zeigen; hier gibt es noch eine ganze Reihe interessanter Dinge zu sehen.« Wir begleiteten ihn in ein kleines, dunkles Zimmer; es war die Bibliothek. Vom Flur bis zur Decke waren die Wände mit alten, ledergebundenen Werken bedeckt; die Rücken waren von eifrigem Gebrauch stark abgegriffen. »Jörgen Uhls Bibliothek«, kommentierte Fahle. »Die größte Sammlung des Landes an alter okkulter Literatur.« Ich nahm einen besonders zerlesenen Band heraus, öffnete die Spange, die die Deckel zusammenhielt, und schlug ihn auf gut Glück auf. Auf dem dicken, verblichenen Papier stand mit umständlich verschnörkelten Buchstaben geschrieben: Sich unsichtbar zu machen. Stich einer Fledermaus das Äug aus unnd verwahr es alsdann bey dir, schmier dir Fledermausblut auffs Gesicht. Nimm den Koppf von einem schwartzen Kater, koch den in süss Milch unnd Bier, unnd trink dass, darauff bisstu unsichtbar 9 Stunden lang. Alle im Hauss schlaffen zu machen. Nimm auss einem Eulenkoppf die Augensterne, der eine schwimmet, der ander sinket. Nimm den so schwimmet unnd einer todten Mauss zahn unnd legs under die Türschwelle, darauff schlaffen sie alle biss dass er forttgenommen ist. Alle im Hauss tantzen zu machen. Schreib auff ein Espenblatt diese Wortt: -58
Elle Elleam. Faginia. Fagina. Graton - und legs unter die Türschwelle, allsdann tantzen sie alle. Arne, der hinter mir gestanden und mir über die Schulter gesehen hatte, brach in Lachen aus. »Gott bewahre mich vor solchem himmelschreienden Blödsinn«, rief er aus. »Oder ist es vielleicht humoristisch gemeint?« »Kaum«, sagte Fahle lächelnd. »Das ist eine Abschrift von Siperiandus ›Buch der Schwartzen Kunst‹, geschrieben 1569 an der Hochschule zu Wittenberg, ein sehr ernstes Werk. Übrigens glaube ich, daß die Wissenschaftler sich mit ihren Urteilen hüten sollten, ehe sie diese Methoden experimentell erprobt haben. Noch hat kein Professor der Chemie sein Gesicht mit Fledermausblut eingeschmiert und Katzenkopfsuppe in Milch und Bier getrunken. Es wäre denkbar, daß der Herr Professor eine schlimme Überraschung erlebte, wenn er es versuchte...« »Ich zweifle nicht daran, daß er einige recht peinliche Minuten auf der Herrentoilette zubringen müßte«, sagte Arne. Ich hatte meine Prüfung der Buchrücken fortgesetzt. Ganz unten fand ich einige neuere Bücher, die Fahle offenbar selbst mitgebracht haben mußte. Alle Titel drehten sich um das gleiche: Dr. Bataille: »Le diable au XIX siècle«, P. Christian: »Histoire de la magie«, Jules Delassus: »Les incubes elles succubes«, J.K.Huysmans: »Làbas«, Gérard Massey: »Devil of Darkness«, Przbyzewski: »Der Kult der Satanskirche«. »Ich möchte Ihnen gern das Allermerkwürdigste hier im Haus zeigen«, sagte Fahle. »Ich habe nämlich einen Fund gemacht. Es ist mir der Nachweis geglückt, daß Jörgen Uhl wirklich das trieb, dessen man ihn verdächtigte. Eines Tages, als ich unten im Keller war, entdeckte ich, daß ein Stück der Mauer einen helleren Ton hatte als die Wand ringsum. Es war deutlich zu erkennen, daß hier eine Tür zugemauert worden sein mußte. Ich holte eine Hacke und fing -59
an, die Mauer an dieser Stelle einzureißen; tatsächlich zeigte sich eine Tür. Es gelang mir, sie zu öffnen, und ich kam in einen Raum, der... Nun, Sie werden selbst sehen. Hol eine Paraffinlampe, Lizzie.« Die Dame des Hauses gehorchte, und eine Minute später folgten wir unserem Wirt eine dunkle Kellertreppe hinab. Als Lizzie Miene machte, uns zu folgen, wandte er sich um und sagte mit milder, pastorenhafter Stimme - die jedoch keinen Widerspruch duldete: »Du kannst hier oben bleiben, Liebe. Wir kommen bald wieder herauf - such uns inzwischen etwas Gutes. Vielleicht etwas Obst?« Lizzie machte mechanisch kehrt und ging in die Stube zurück. Es war etwas auffallend Gedrücktes in ihrem Wesen. Fahles patriarchalische Art begann mich zu irritieren. Ich bin nämlich sehr aufgeschlossen und fordere Freiheit für die Frau - selbst in der Ehe. Wir kamen in den pechschwarzen Keller hinab und bewegten uns langsam durch die Dunkelheit wie eine Prozession Mönche durch die Katakomben. Fahle hielt vor einer Tür an, die tief in der Wand lag; die Mauer ringsum war recht uneben; man sah die Spuren der Hacke. »Hier ist es.« Er drückte die Klinke nieder; die Tür glitt mit einem Geräusch auf, als ob man eine Katze am Schwanz zieht - was ich übrigens nie tue. Wir kamen in einen großen Raum ohne Fenster; zunächst konnte ich nur die kalten, nackten Wände wahrnehmen, als sich aber Fahle mit der Lampe der einen Längswand näherte, erblickte ich etwas ganz Phantastisches. Ein mächtiger Tisch - oder ein Altar - stand an der Wand; auf diesem befanden sich zwei mächtige Silberkandelaber, und zwischen ihnen hing ein meterhohes Kruzifix an der Wand -60
oder besser gesagt: die abscheuliche Karikatur eines Kruzifixes, in Holz geschnitzt und mit einer grellen, obszönen Farbe bemalt. Ein Goya hätte nicht etwas Schreckeinjagenderes schaffen können. Fahle stellte die Lampe auf den Tisch. »Was Sie hier sehen, ist nichts Geringeres als eine Kapelle zu regelrechtem Teufelsdienst«, sagte er. »Hier hielt Jörgen Uhl seine Schwarzen Messen ab.« Ich fühlte Monikas warmen Körper an meiner Seite; sie hatte mich instinktiv am Arm gepackt, während sie Fahle anstarrte. »Und worin bestand die ›Schwarze Messe?‹« fragte sie mit fast flüsternder Stimme. »Ich glaube, daß ich in irgendeinem Kriminalroman etwas darüber gelesen habe, aber ich bin mir nie darüber klargeworden, worauf das eigentlich hinaus sollte.« Unser Wirt hatte sich neben der Paraffinlampe auf den Tisch gesetzt; er verschränkte die Arme, während er langsam mit den Beinen pendelte. »Die Schwarze Messe«, sagte er, »ist die höchste kultische Handlung des Satanismus; sie ist Vintras zufolge das große Opfer, das der Bock, der Böse, an dem Lamm vollbringt, um die Macht zu erlangen. Sie ist das apokalyptische Tier, das seinen Rachen öffnet, um die Gerechten zu verschlingen. Sie ist Gottes Schwert, von Satan gestohlen, um Gott selbst damit zu treffen. In ihrem Wesen ist sie eine Parodie der katholischen Messe. Eine glänzende Schilderung der Schwarzen Messe ist in Huysmans' ›Labas‹ enthalten; übrigens etwas für Sie, Järn. Was geschieht, ist in kurzen Zügen folgendes: die Gemeinde versammelt sich um den Priester, der in ein zinnoberrotes Meßgewand gekleidet ist mit einem umgekehrten Kreuz auf dem Rücken - dem Zeichen, daß Christi Herrschaft zu Ende ist. Rot gekleidete Chorknaben schwingen Räucherbecken, die einen betäubenden, erstickenden Dunst ausströmen. Der Priester beginnt mit dem Ritual, das in einer entsetzlichen Verhöhnung und Verfluchung des Kruzifixes besteht; es gipfelt damit, daß er -61
die heiligen Hostien besudelt, das Brot und den Wein, auf die sich dann die Gemeinde stürzt. Das Ganze endet in einer wüsten Orgie, wobei Männer und Frauen das Gefühl haben, sie paaren sich mit dämonischen Wesen - Inkuben und Sukkuben - oder sogar mit Satan selbst - dem großen priapeischen Bock. Es ist der schäumende Aufruhr der Unterwelt gegen die tausendjährige Unterdrückung der Menschennatur durch die Kirche. In diesem Raum sind vor hundertfünfundzwanzig Jahren ziemlich makabre Dinge geschehen; diese Wände haben viel gesehen. Werfen Sie übrigens einmal einen Blick auf die Wand dort.« Er hob die Paraffinlampe, und wir sahen, daß an der Wand einige seltsame - offenbar hebräische - Zeichen in roter Kreide standen. »Diese Striche dort erzählen eine ganze Menge. Das ist Jehovas kabbalistisches Monogramm - Jod und He -, aber umgekehrt geschrieben - der okkultistischen Lehre zufolge die furchtbarste aller Blasphemien. Chavajoh - der wahre okkulte Name des Teufels.« »Welch ein Museum von Narrheiten!« rief Arne aus. Ein paar große rostbraune Flecken auf dem Tisch hatten meine Aufmerksamkeit gefangen. Ich deutete darauf: »Was ist denn das, Fahle? Weinflecken?« »Eher Blut. Es geschah oft, daß Frauen während der Messe nackt auf den Altar ge legt und mit Blut besprengt wurden, damit sie die in den Lebenssäften enthaltenen magischen Kräfte Mumienkräfte nennt Paracelsus sie - aufnehmen sollten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es sich sogar um Menschenblut handelt; das wurde für besonders wirksam angesehen. Die französischen Hexen des 17. Jahrhunderts stahlen oder kauften Kinder zu diesem Zweck; die Hexe La Voisin hatte auf ihren Schwarzen Messen zweitausendfünfhundert Kinder geopfert, ehe sie gefaßt wurde. In solchen Zusammenhängen kann man die viel verleumdeten Hexengerichte vielleicht besser -62
verstehen.« Ich verspürte plötzlich, wie eine Welle der Übelkeit in mir aufstieg; ich empfand einen intensiven Abscheu vor diesem Ort. Fahle hatte offenbar meine Reaktion wahrgenommen, denn er sah mich an und lächelte: »Sie haben wohl fürs erste genug?« »Ja, danke«, murmelte ich. »Ich glaube, für heute reicht es aus.« Wir gingen wieder die Treppe hinauf und wechselten sofort das Gesprächsthema, als wir in die Stube traten. Den Rest des Nachmittags war Fahle nur der bezaubernde und angenehme Gastgeber, und als wir gegen acht Uhr aufbrachen, hatten wir alle Annehmlichkeiten genossen, die ein physisches Wohlbehagen bedingen. Trotzdem empfand ich es fast als eine Erlösung, wieder an die frische Luft zu kommen. Während das Pferd uns im Zuckeltrab heimwärts führte, unterhielten wir uns über die Ausbeute unseres Besuches. Järn ließ seine Bewunderung für Fahles großes Wissen um okkulte Dinge erkennen, für seine umfassende Geistesbildung überhaupt; während Arne seiner Hochachtung für Küche und Keller Ausdruck gab. Monika machte geltend, daß sie ihn für einen Haustyrannen halte - und zwar einen von der übelsten Sorte-, was ich vorbehaltlos unterschrieb. Ich glaube aber, daß wir alle recht stark von seiner Persönlichkeit gefesselt waren. Wir hatten nur noch wenige hundert Meter bis zum Kaperhof vor uns, als sich etwas Neues und in hohem Grade Unerwartetes ereignete. Bisher hatte ich immer nur aus zweiter Hand erfahren, daß sich seltsame Dinge auf dem Hof zutrugen; doch hatte das meine Skepsis nicht zu erschüttern vermocht. Wir Juristen wissen ja, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sein können. Nun bekam ich zum ersten Male etwas mit eigenen Augen zu sehen. Weit vorn auf dem Wege sahen wir eine Gestalt laufen; es war eine Frau. Hin und wieder mäßigte sie ihr Tempo, um Atem -63
zu schöpfen, lief dann aber wieder schneller, als ob sie von etwas Entsetzlichem verfolgt werde. Bald erkannten wir, daß es Marie war, und kurz darauf hatte sie unseren Wagen erreicht. Die Ärmste hatte kaum natürliche Anlagen zum Marathonlauf, und nun hatte sie ihrem umfänglichen Körper das äußerste abgerungen; sie war nahezu blau im Gesicht, und ihr Atem ging wie bei einem erregten Tier. Aus ihren Augen leuchtete das kalte, nackte Grauen. »Der Hund!« schnappte sie. »Der Hund! - Tass - es ist furchtbar - o Herrgott.« »Aber was in aller Welt soll das bedeuten, liebe Marie?« rief Arne aus, indem er ihr in den Wagen half, wo sie wie ein abgeschossener Vogel sofort niedersank. Monika mußte ihr den Arm um die Schulter legen, um sie zu beruhigen. Nach ein paar Minuten Wiederbelebungsarbeit kam sie so weit zu sich, daß sie erzählen konnte, was sie erlebt hatte. Tass - der kleine Elchhund - war den ganzen Nachmittag in der Nähe des Hofes herumgestreift; vor einer ha lben Stunde war er dann in die Küche gekommen, um etwas zu fressen zu bekommen. Plötzlich hatte er angefangen, sich höchst seltsam aufzuführen; mit allen Anzeichen des Mißbehagens schnüffelte er in der Luft, als ob er etwas Fremdes und Abstoßendes wittere. Dann hatte er böse geknurrt und gekläfft - nach dem Treppenhaus hin und hatte wie ein Rasender mit den Pfoten an der Tür gekratzt. Marie hatte - halb geistesabwesend - die Tür geöffnet, und wie ein abgeschossener Pfeil war Tass die Treppe zum Obergeschoß hinauf geflogen; sie hatte ihn den Korridor entlang laufen hören - in Richtung auf das gelbe Zimmer. Dort muß die Tür offenbar angelehnt gewesen sein, denn Marie hatte gehört, wie sie aufgeschoben wurde. Einen Augenblick darauf war das Haus von einem Mark und Bein erschütternden Hundegeheul erfüllt, einem so entsetzlichen Ton, daß das Mädchen alles fallen ließ, was sie in den Händen hielt; zwei Teller waren auf dem Fußboden zerbrochen. Aber das Geheul -64
hatte nur eine Sekunde gedauert, dann herrschte wieder Grabesstille. Was war mit dem Hund geschehen? Marie hätte um ihr Leben nicht gewagt, nach oben zu gehen; sie hatte sich nach einigen Minuten zu uns auf den Weg begeben. Ihre Wangen flammten hektisch, während sie mit uns sprach. Das Pferd hielt vor dem Hof; wir sprangen aus dem Wagen und nahmen im Wettlauf die Treppe hinauf vier Stufen auf einmal. Vor der Tür des gelben Zimmers - sie war geschlossen blieben wir allesamt stehen, als ob wir uns scheuten, sie zu öffnen. Ich sah, daß auch Arne jetzt nervös war, er wies ähnliche Anzeichen wie an jenem Vormittag in Oslo auf; seine rechte Hand ballte und öffnete sich fieberhaft. Doch er war es, der die Initiative ergriff: er legte mit einer Bewegung, die unbefangen wirken sollte, zwei Finger auf die Klinke und drückte sie herab. Wir anderen folgten ihm ins Zimmer. Der Anblick, der sich uns dort bot, durchfuhr mich wie ein elektrischer Stoß. Vor uns auf dem Boden lag der Elchhund tot in einer Blutlache; seine Brust war von einer großen Stichwunde aufgerissen. Das Gesicht war unheimlich zerfetzt, wie von den Klauen einer ungewöhnlich starken Katze. Einige Sekunden lang blieben wir alle wie gelähmt stehen. Järn war der erste, der etwas sagte: »Sieh einmal an«, murmelte er. »Nun bricht es los, meine Freunde, nun bricht es los...«
-65
FÜNFTES KAPITEL Experiment mit einer alten Kommode »Und dabei hatte ich diese Reise als eine Art Urlaubsfahrt angesehen«, sagte Arne und wischte sich den Staub von den Knien, als er sich nach der Untersuchung des toten Hundes aufrichtete. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, morgen schon nach Oslo zurückkehren zu können - nachdem ich Paul als Verwalter eingesetzt habe. Aber ich sehe ein, daß ich genötigt sein werde, meinen Aufenthalt zu verlängern. Das ist ja eine tolle Geschichte! Ich reise nicht, bevor dies hier aufgeklärt ist.« Järn lächelte triumphierend - wie ein Untergangsprophet, auf den niemand hatte hören wollen und der sich nun freut, daß seine Prophezeiungen eintreffen. »Aber wie stellst du dir denn eine Erklärung hierfür vor?« fragte er mit milder Ironie. »Es konnte doch unmöglich jemand hier hereinkommen. Die Haupttür hattest du ja abgeschlossen, bevor wir gingen, so führte der einzige Durchgang durch die Küche. Und dort hielt Marie sich auf.« »Marie hatte die Küche vielleicht für einige Minuten verlassen«, wandte ich ein. »Es kann sich jemand hereingeschlichen haben, während sie für einen Augenblick im Keller oder in einem der Zimmer war.« »Das hätte der Hund merken müssen.« »Aber das tat er ja auch, nicht wahr?« »Gewiß«, räumte Järn ein. »Aber erst, als dieser unbekannte X, von dem ihr redet, sich hier oben im gelben Zimmer befand. Ihr müßt euch übrigens darüber klar sein, daß Hunde - und viele andere Tiere ebenfalls - vieles ahnen und wahrnehmen, was für die meisten Menschen verborgen ist.« Arne lächelte angestrengt. -66
»Du meinst also, daß der - Mörder, so werden wir ihn wohl nennen können, einfach plötzlich hier auftauchte? Daß er als eine Art übernatürliches Wesen durch das Dach oder durch die Wand gekommen ist?« »Ganz recht«, sagte Järn und ließ sich sehr würdevoll in einem Empirestuhl nieder. »Und du nennst dich Kriminalschriftsteller? Ich bildete mir ein, daß dein Beruf voraussetzt, daß du eine Situation einigermaßen analysieren kannst - zumindest ein so leichtes Problem. Es sollte doch nicht so schwierig sein, eine Erklärung dafür zu finden, wie der Hundemörder ins Haus gekommen ist. Hier sind ja zahllose Fenster, die er erbrochen haben kann, und schließlich kann er ja mit Hilfe eines Dietrichs durch die Haupttür gekommen sein.« »Aber welches Motiv mag der Betreffende nur gehabt haben, daß er den armen Hund tötete?« fragte Monika. Sie stand neben mir und war blaß wie eine Anemone. Ich spürte, daß sie zitterte. »Diese Person interessiert sich offenbar für irgend etwas hier im Hause«, antwortete Arne. »Er ist hinter irgend etwas her. Und da ist es klar, daß er erst den Hund aus dem Wege räumen mußte, da dieser ihn sonst bei der nächsten Gelegenheit aufspüren würde. Wenn wir annehmen, es sei derselbe Mann, der hier schon früher ›gespukt‹ hat, so hat er höchstwahrscheinlich ein bestimmtes Fenster, das er von außen öffnen kann, ein Fenster, das in einen der unbewohnten Räume führt, die nie betreten werden. Ja, in diesem Riesenhaus würde es mich gar nicht wundern, wenn er sich auf längere Zeit in einem dieser Räume häuslich niederließe, einen Schlafsack mitbrächte und hier übernachtete, um hin und wieder bei passender Gelegenheit ein wenig zu spuken. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß er sich in diesem Augenblick irgendwo im Hause ve rsteckt hält. Daher schlage ich vor, daß wir jetzt das ganze Gebäude -67
durchsuchen und alles, vom ersten bis zum letzten Zimmer, genauestens durchkämmen.« Das klang nicht besonders angenehm, war aber wohl trotzdem das Vernünftigste, was wir tun konnten. Mit Taschenlampen bewaffnet durchstreiften wir das ganze Haus, von dem riesigen, pechschwarzen Dachboden bis hinunter in die großen, eiskalten Kellerräume. Überall, wo nicht wir selbst oder Arnes Leute schon gewesen waren, wirkte alles so verstaubt und vergessen, als ob seit hundert Jahren niemand seinen Fuß dorthin gesetzt habe. Wir kamen in ein Zimmer, das Arne vergessen hatte, als er uns das Haus zum ersten Male zeigte; die Lichtkegel unserer Lampen glitten über Stühle, Tisch und Flur, alles von fingerdickem Staub bedeckt. Alle Fenster und Türen waren sorgfältig abgeschlossen, und wir fanden kein Anzeichen, daß ein Fenster geöffnet worden wäre. »Das muß ein ganz routinierter Einbrecher gewesen sein«, bemerkte Arne; »wahrscheinlich ist er mit Hilfe eines Nachschlüssels frech durch den Haupteingang gekommen und hat ihn wieder hinter sich abgeschlossen. Und dann ist er einfach zur Küchentür hinausspaziert, als Marie sie bei ihrer Flucht offenstehen ließ. Der Hund überraschte ihn also, als er sich in dem gelben Zimmer befand, und er mußte ihn niederstechen. Gleichzeitig muß sich die mächtige Teufelskatze, die unser unbekannter Freund anscheinend überall mit sich führt, auf den Hund gestürzt und ihn übel zugerichtet haben.« »Aber da ist immer noch etwas, was ich absolut nicht verstehe«, sagte ich. »Aus welchen Beweggründen sollte ein Mensch mit einer großen schwarzen Katze auf den Fersen hier im Hause herumschleichen? Was sucht er? Einen alten Seeräuberschatz hinter einer der Kommoden? Wenn ihn die Gewinnsucht treibt, dann sollte es doch genug hier geben zur Deckung seines Bedarfs. Die Wände bersten ja förmlich von Wertsachen, aber es sieht doch nicht danach aus, als ob daran -68
gerührt worden sei.« »Das kann ich vorläufig noch nicht sagen«, räumte Arne ein. »Wahrscheinlich haben wir es mit einem Verrückten zu tun. Aber das macht die Lage ja nicht gerade erfreulicher.« Wir waren mit der Durchsuchung fertig und standen unten in der Halle. Die Taschenlampen hatten wir abgeschaltet, um die Batterien zu sparen, und wir konnten einander nur undeutlich in dem schwachen Schimmer des Spätsommerabends wahrnehmen. Einer von uns zündete eine Zigarette an, und das Aufzischen des Streichholzes enthüllte Järns spöttisches Lächeln. »Aber wie sieht denn deine Theorie aus?« fragte Arne ein wenig verdrossen. »Ich habe mir noch keine endgültige Theorie gebildet«, antwortete Järn. »Aber ich möchte dich daran erinnern, daß ich dich bereits im Winter, als du den Hof kauftest, vor den Kräften warnte, die möglicherweise hier wirksam seien. Du entsinnst dich vielleicht ›Jonas Korps Rache‹? Bisher wurden nur stumme Tiere getroffen. Doch keiner von uns weiß, wie die nächste Katastrophe aussehen wird. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt, da es noch Zeit ist, jeden Versuch aufgeben, etwas an diesem Hause zu ändern.« »Aber das ist ja glatter Irrsinn!« Arne ging mit den Händen in der Tasche unruhig auf und ab. Dann blieb er direkt vor Järn stehen. »Du hast vielleicht Angst, daß du selbst auch von dieser ›Rache‹ getroffen werden könntest? Du wagst wohl nicht mehr, deinen Fuß in dieses Haus zu setzen?« »Nein, nur zu gern, wenn ich willkommen bin. Ich bin allzu sehr Kriminalschriftsteller und Wissenschaftler, um mir eine solche Chance zu Beobachtungen aus erster Hand zu vergeben. Außerdem meine ich, daß ich selbst völlig außerhalb der Gefahrenzone stehe. Du bist es, der vorsichtig sein sollte, Arne. -69
Ich warne dich.« Es schienen außer Järn noch andere mit der Rache des Kaperkapitäns zu rechnen. Auch unsere liebe Marie hatte dieser drohenden Möglichkeit ins Auge gesehen; als wir in die Küche kamen, fanden wir sie reisefertig angezogen und von Koffern und Paketen umgeben. Sie dachte nicht daran, auch nur noch eine Nacht auf dem Kaperhof zuzubringen; nicht eine Stunde länger als notwendig wollte sie unter einem Dach bleiben, wo dergleichen passierte. Wir mußten dafür sorgen, daß sie sofort nach Hause fahren konnte; sie wohnte fünf oder sechs Kilometer entfernt. Zum Glück zeigte sich Järn sofort von seiner ritterlichsten Seite und stellte sich als Kutscher zur Verfügung. Noch einmal wurde das Pferd vorgespannt, und zehn Minuten später hörten wir sie in das Abenddunkel hinausfahren. Arne und ich nahmen inzwischen jeder einen Spaten und begruben den toten Hund zwischen einigen Büschen vor dem Hause. »Ich bat Marie vorhin, Eivind Dörum nichts davon zu erzählen«, sagte Arne. »Aber man kann wohl ebensogut den Wind bitten, nicht mehr zu wehen; morgen weiß selbstverständlich der ganze Ort davon, und Pastor Flateland wird seiner Gemeinde im Bethaus noch mehr Teufelsangst einjagen. Dörum selbst wird sicher meinen, die Sache mit seinem Hund sei unsere Schuld. Wenn es nicht sein eigenes Tier gewesen wäre, dann hätte ich übrigens angenommen, daß er selbst hier auf seinem ehemaligen Grundstück herumgeistert; er ist verrückt genug dazu. Er ist nicht umsonst mit dem alten Jonas verwandt...« Ich glaube nicht, daß ich den Mund zu voll nehme, wenn ich feststelle, daß die zweite Nacht auf dem Kaperhof weit ungemütlicher war als die erste. Es ist kein Kunststück, sich in einem Haus schlafen zu legen, wo irgendeine schwarze Katze umgeht; ist man - wie ich - ein Tierfreund, so besteht kein Grund, sich zu ängstigen. Etwas ganz anderes dagegen ist es, bei unverschlossener Tür irgendwo zu schlafen, wo möglicherweise -70
ein Wahnsinniger na chts auf den Gängen herumschleicht. Folglich hielt ich es für angebracht, P.G. Wodehouse hervorzusuchen und mich in sein früher erwähntes Werk »Very good, Jeeves!« zu vertiefen. Ich schlug das Kapitel »Jeeves and the Song of Songs« auf und war gerade bei der Stelle angelangt, wo der junge Tuppy Glossop »Sonny Boy« singen sollte (vor einem rasenden Publikum, das ohne sein Wissen diesen Schlager schon viermal an diesem Abend gehört hatte), als ich einschlief. Doch leider versank ich nicht in eine glückliche traumlose Ruhe. Ganz im Gegenteil. Ich hatte in dieser Nacht einen ungewöhnlich scheußlichen Traum. Ich befand mich plötzlich auf einem Kutschbock und hielt Arnes Pferd am Zügel, genau wie am Vormittag, als wir zum Pfarrhof gefahren waren. Doch im Traum war ich ganz allein im Wagen, und statt unter dem dichten Laubdach des Hohlweges dahinzurollen, befanden sich Pferd und Wagen im Kaperhof und fuhren den langen dunklen Korridor entlang, der sich durch das ganze Obergeschoß zieht. Genau wie am Vormittag hielt das Pferd plötzlich an und blieb stocksteif stehen; ich versuchte, es zum Weitergehen zu bewegen, aber es war hoffnungslos. Statt dessen übertrug sich die Angst des Tieres auf mich, und es packte mich das beklemmende Gefühl, daß etwas Entsetzliches geschehen würde. Plötzlich - ohne daß ich gemerkt hätte, daß sich die Tür des gelben Zimmers öffnete - stand ein Mann am Ende des Korridors. Langsam kam er auf mich zu gegangen. Es war derselbe Mann, dem wir im Hohlweg begegnet waren und den Fahle als den Fischer Rein bezeichnet hatte. Als er näher kam, sah ich, daß er völlig durchnäßt war; das Wasser troff von seinem Ölzeug, und ich wußte, daß es Seewasser war. Schon stand er neben dem Wagen. Ich sah ihn nicht mehr, ich starrte über die Ohren des Pferdes hinweg nach vorn, aber ich wußte, daß er da war. Eine eiskalte Woge des Schreckens flutete in mir hoch; ich versuchte vom Kutschbock herunterzuklettern, -71
aber ich konnte kein Glied rühren. Und mit einem Male fühlte ich, daß ich mich zu dem Manne umwenden müsse, sein Gesicht sehen müsse mit den großen seegrauen Augen und den blicklosen Pupillen... Glücklicherweise erwachte ich in diesem Augenblick, schweißgebadet wie nach einem Dampfbad. Ich brauchte einige Zeit, um mich so weit zu sammeln, daß ich ein Licht anzünden konnte, um »Very good, Jeeves!« wieder hervorzusuchen und fieberhaft über den jungen Tuppy Glossop weiterzulesen. Am nächsten Tage herrschte strahlendes Wetter. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne wärmte wie im Juli, und eine ganz leichte Brise trieb niedliche, ungefährliche Wellen gegen den Strand. Die ganze Natur war von der milden und gleichzeitig hektischen Stimmung erfüllt, die den Übergang vom Sommer zum Herbst so unsagbar bezaubernd macht. Nun, da ich am Fenster stand und hinausblickte über die Schären und das Meer, war es mir mit einem Male klar, daß es trotz allem nicht so dumm von Arne war, den Umbau des Kaperhofs zu einem Sommerhotel zu planen. Das schöne Wetter und ein von Monika herbeigezaubertes erlesenes Frühstück ließen uns die gestrigen Ereignisse fast vergessen. Ich war fest entschlossen, den Tag mit vollen Zügen zu genießen, und während ich den duftenden Kaffee eingoß, murmelte ich einen Omar-Chajjam-Vers (den ich eingerahmt zu Hause in Oslo an der Wand hängen habe): Ah, fill the Cup : - what boots it to repeat How Time is slipping underneath our Feet: Unborn TOMORROW and dead YESTERDAY, Why fret about them if TODAY be sweet! Als wir dann Monika beim Aufwaschen halfen, hatten wir nicht mehr das geringste Gefühl von drohenden Wolken am Horizont, und nach einer wohlverdienten Ruhepause und ein -72
paar Zigaretten gingen wir an den Strand hinunter, um zu baden. Als wir dort unten lagen und uns sonnten, hörten wir einen Motor von der See her rattern. Monika legte ihre Sonnenbrille als Lesezeichen in Margaret Mitchells »Vom Winde verweht«; Arne legte ein dickes Buch über Petroleumbohrungen in Mexiko aus der Hand, und ich blickte von Linklaters »Wirtshaus zum Pelikan« auf - Wodehouse hielt ich nämlich als eine Art Reserve für den Abend zurück. Ein Motorboot tauchte zwischen den Schären auf, gebräunte Arme winkten uns eifrig zu, und eine halbe Minute später gingen Ebba und Tancred Cappelen-Jensen mit je einem eleganten Koffer in der Hand an Land. Nach einer Serie herzlicher Händedrücke und »nein, ist das aber riesig nett!« erklärten sie, daß sie gekommen seien, um uns bei der Aufklärung der Kaperhofmysterien zu helfen. Sie dankten im voraus für die freundliche Einladung, als Arnes Gäste im Hause zu wohnen. Eigentlich hätte ich auf diesen Besuch vorbereitet sein sollen. Am Abend vor der Abreise hatte ich Tancred im Theatercafe getroffen und ihm selbstverständlich von Arnes seltsamen Erlebnissen erzählt. Ich hatte auch erwähnt, daß Arne, Monika und ich sofort hinausfahren würden, um die Dinge etwas näher zu untersuchen. Alle Menschen haben ja ihr Steckenpferd. Die einen spielen Domino, andere züchten Rosen, und wieder andere beschäftigen sich mit Briefmarkensammlungen. Das Steckenpferd des Ehepaars Cappelen-Jensen waren Kriminalprobleme. Wie bereits erwähnt, gehörte Tancred der zum Untergang verurteilten Kapitalistenklasse an und war folglich unglaublich faul. Alle, die ihn kannten, waren deshalb ziemlich überrascht, als er ein sehr gutes Staatsexamen machte und anschließend freiwillig die Stellung eines Polizei- Assistenten in irgendeinem entlegenen Nest übernahm. Dort blieb er länger als ein Jahr und trug dem Vernehmen nach nicht wenig zur Aufklärung des Brekke-Mordes bei, der mehrere Monate auf der ersten Seite -73
sämtlicher Zeitungen behandelt wurde. Aber diese Arbeit hatte ihn offenbar stark angegriffen, denn als er nach Oslo zurückkehrte, erklärte er, daß er sich mindestens ein Jahr lang ausruhen müsse. Er setzte sich in einen guten Ohrensessel und studierte Kriminalistik, und statt dem Rate des Vaters zu folgen und in eine solide Anwaltsfirma einzuheiraten, vermählte er sich mit Ebba Lindkvist. Ebba bereitete sich mit Psychologie als Hauptfach auf die Erlangung des Magistergrads vor; vor allem interessierte sie sich für Kriminalpsychologie. Übrigens wurde behauptet, daß die gemeinsame Begeisterung für Agatha Christie die beiden zusammengeführt habe. In ihrer behaglichen Wohnung ganz am Ende des Kirkevei hatten sie eine wirklich imponierende Kriminalbücherei: Conan Doyle, Austen Freeman, Chesterton, Biggers, Agatha Christie, Dorothy Sayers usw. Eigentlich hätten Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey Trauzeugen sein müssen, als Ebba und Tancred die Ehe eingingen, während Chestertons Detektivpfarrer, Vater Brown, die Trauung hätte vollziehen müssen. Kaum hatte Tancred das Motorboot bezahlt, als er schon anfing uns auszuquetschen. Wir berichteten, was wir erlebt, gesehen und gehört hatten; wir wiederholten die Schilderung des Lehnsmanns über das estnische Schiff und erzählten von dem Mittagessen bei Fahle und dem getöteten Hund. Das Ehepaar lächelte immer skeptischer, vor allem, als ich von dem verängstigten Pferd erzählte und von Järns düsteren Auslegungen. »Ihr werdet bald selbst erleben, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht«, sagte Arne mit einem Lächeln. »Da ihr so verdammt ungläubig seid, könnte es ganz interessant sein, ein kleines Experiment durchzuführen. Wir werden unser Gespenst einfach provozieren, dann könnt ihr die Wirkung selbst beurteilen.« »Und wie willst du das arrangieren?« fragte Ebba. Ihre -74
intelligente Himmelfahrtsnase bekam eine neugierige kleine Falte. »Sehr einfach. Wir stellen nur ein Möbelstück um, der alte Widergänger wird ja rasend, wenn wir sein Mobiliar umgruppieren.« Arne, Monika und ich warfen Bademäntel über und begleiteten die neuangekommenen Gäste zum Hof hinauf. Dort wurden sie sofort in ein großes und recht gemütliches Zimmer einquartiert, worauf Arne sie durch das Haus führte. Sie legten beide einen starken Forscherdrang an den Tag; sie untersuchten die Möbel, Gemälde und Waffensammlung genau, als ob sie Fingerabdrücke erwarteten, oder sie prüften die Tapeten und klopften an die Wände, als ob sie auf der Jagd nach Geheimtüren und verborgenen Räumlichkeiten seien. Schließlich kamen wir in das gelbe Zimmer; hier wollten die Möbel- und Tapetenuntersuchungen des Detektivpaars kein Ende nehmen. Doch schienen sie wenig Erfolg zu haben. Arne sah ihnen lächelnd zu. »Unser lieber Widergänger wird kaum eine Spur hinterlassen«, sagte er. »Übrigens finde ich, daß wir unser Experiment in diesem Zimmer hier durchführen könnten. Ihr seht die Kommode dort - schieben wir sie einfach in die gegenüberliegende Ecke.« Ich hätte Arnes Einfall als einen reinen Scherz aufgefaßt und nicht daran gedacht, daß er ihn durchführen würde. Das war ja alles ziemlich albern. Aber es sah ihm ähnlich. Die Kommode war ein riesiges Möbelstück - mit Platz für Leinen und Laken einer ganzen Gemeinde; Arne, Tancred und ich mußten gemeinsam die Schultern dagegen stemmen, um sie in die andere Ecke zu manövrieren. »Und was meinst du, was jetzt geschehen wird?« fragte Tancred, indem er sich den Staub von den Händen klopfte. »Abwarten«, entgegnete Arne. »Kapitän Korp hat ein -75
ausdrückliches Verbot gegen derartige Umstellungen erlassen. Sie wird nicht ungestraft bleiben.« »Ich bin mir darüber klar, daß du uns ein Zauberkunststück vormachen willst. Seid so freundlich, die Ärmel aufzukrempeln, damit wir euch kontrollieren können, Herr Bellini. Ihr haltet sicherlich etwas vor uns verborgen.« Arnes Lächeln war sphinxartig geworden. »Ich schlage vor, wir schließen das Zimmer ab und überlassen Ebba den Schlüssel«, sagte er. »Wie ihr seht, sind die Fenster verriegelt, und einen zweiten Schlüssel gibt es nicht. Dann wollen wir auf eure Ankunft anstoßen, ehe wir zum Strand hinuntergehen, um das Badeleben wiederaufzunehmen. Das Wasser ist heute famos. Unten auf den sonnenwarmen Felsen vergaßen selbst Tancred und Ebba, daß sie eigentlich nach Heilandet gekommen waren, um Gespenster zu entlarven. Das Wasser war glasklar, so salzig, daß einem die Haut brannte, und gerade richtig kalt. Wir hatten ein Plateau direkt neben der Bucht gefunden, eine breite Felsbank, auf der wir uns ausruhen und durch sämtliche Poren Sonne und Luft einsaugen konnten, so daß wir nach und nach die ansprechende Hautfarbe der Malaien annahmen - soweit wir sie uns nicht bereits zugelegt hatten. Wir wurden faul und dösig, wie es sich für Malaien gehört; schließlich brachten wir es eben noch fertig, einen Satz zu sagen, müde eine Fliege zu verscheuchen oder eine Seite der Lektüre umzublättern. Aber später am Nachmittag merkten wir, daß es doch schon Herbst geworden war; die Luft wurde kühl, es kam eine lebhafte Brise auf, und wir beeilten uns, ins Haus und in die Kleidung zu kommen. Dann ließen wir uns hungrig an dem vortrefflich gedeckten Tisch nieder. Den Abend über blieben wir plaudernd in der Stube sitzen - jeder mit seinem Drink vor sich - und alle von dem Wohlbehagen durchströmt, das einem idealen Sommertag, mit »doing nothing« verbracht, zu folgen pflegt. -76
Das Nachtdunkel hatte sich vor die Fenster gelegt; draußen war ein türkischer Halbmond, und ein kalter Wind sauste durch die Stachelbeerbüsche vor der Hauswand. Wir hatten längst Arnes albernes »Experiment« vergessen und befanden uns mitten in einer lebhaften Diskussion über die Hotelpläne unseres Freundes. Er gab seinem Bedauern Ausdruck, wie abergläubisch und düster pietistisch die einheimische Bevölkerung hier war; er fürchtete Scherereien - vor allem von Seiten derjenigen, die ständig ins Bethaus trabten und unter Pastor Flatelands eisenharter Geistesdiktatur standen. »Das kommt von der Sexualverdrängung«, erklärte Ebba und biß energisch in einen Spargel. »Die ganze Bevölkerung von Heilandet sollte zwangsmäßig einem Psychotherapeuten vorgeführt werden. Aberglaube, Angst, Pietismus und dergleichen sitzen im Unterleib. Nervöse Spannungen im Solarplexus...« »Dann muß wohl auch mit Järns Solarplexus etwas nicht in Ordnung sein«, warf Monika ein. »Weshalb nicht ein Bethaus in Verbindung mit deinem Badehotel einrichten, Arne?« schlug Tancred vor. »Du könntest ja Magister der Psychologie engagieren, damit sie der Bevölkerung Vorträge über moderne Sexualmoral halten. Im Laufe eines Jahres werden alle Gespenster verschwinden.« »Ich habe einen anderen Vorschlag«, begann ich. »Du könntest-« Mitten im Satz wurde ich unterbrochen. Direkt über unseren Köpfen erhob sich ein höllischer Spektakel, als ob eine Dampfwalze durch das Zimmer führe. Mit einem kräftigen Stoß, der die Wände erzittern ließ, erreichte der Lärm seinen Höhepunkt; dann wurde alles wieder still. Wir blieben wie gelähmt sitzen und blickten uns einige Sekunden mit herabhängenden Unterkiefern an; keiner von uns sah sonderlich geistvoll aus. Ich fühlte mich von einer ähnlichen -77
Eiswoge durchschauert wie während des Traums in der letzten Nacht. Arne war der erste, der sich wieder faßte; er erhob sich mechanisch und griff nach der Taschenlampe über dem Kamin. »Jetzt soll mich doch der-!« rief er aus. »Das kam aus dem gelben Zimmer. Gehen wir sofort hinauf; du hast den Schlüssel, Ebba.« Dieses Mal hatten wir es alle gehört; Suggestion war undenkbar. Eine wilde Jagd von Gedanken raste mir durch den Kopf, während wir die dunkle Treppe hinaufgingen. Jetzt - in wenigen Augenblicken - würden wir es sehen - ja, was eigentlich? Ein Tier - einen lebenden Menschen - oder-? Das Traumbild der triefnassen, in Ölzeug gekleideten Gestalt tauchte in meiner Phantasie auf. Vielleicht stand er jetzt unbeweglich in dem gelben Zimmer - direkt vor der Tür - und wartete auf uns? Eins war sicher; wenn wir es mit einem lebenden physischen Wesen zu tun hatten, dann würde er dieses Mal keine Zeit haben, uns zu entwischen. Ich straffte unwillkürlich die Muskeln, um auf einen Kampf vorbereitet zu sein. Wir waren angelangt. Arne leuchtete das Schlüsselloch mit der Taschenlampe an. »Gib mir den Schlüssel!« Ebba reichte ihm ihn. Er steckte ihn ins Schloß und drehte um. Ein paar Sekunden später standen wir im Zimmer. Arne ließ den Lichtkreis über Wände, Fußboden und Decke gleiten. Daß das Zimmer leer war, wußte ich intuitiv in dem Augenblick, als wir über die Schwelle traten. Aber mir entfuhr ein leiser Ausruf, als das Strahlenbündel in eine der Zimmerecken fiel. Eine ziemlich begreifliche Reaktion. Die Kommode war auf ihren ursprünglichen Platz zurückgeschoben worden.
-78
SECHSTES KAPITEL Arne zieht Kreuz 2 Wenn ich später im Leben an diese Episode zurückdachte, dann stand sie immer wie etwas Flimmerndes, Traumartiges vor mir, wie etwas, das bei wachem Bewußtsein erlebt zu haben, ich eigentlich nicht zugeben kann. Wenn die Menschen der Vorzeit Widergänger sahen oder auf die Unterirdischen stießen, so soll das dem Vernehmen nach keinen sonderlich starken Eindruck auf sie gemacht haben; es bestätigte ja nur ihr Weltbild. Aber wir modernen, hochnäsigen Menschen des technischen Zeitalters, die wir mit dem Kausalgesetz in der Hosentasche einhergehen und das Universum als eine gelöste Geometrieaufgabe ansehen, wir ertragen es ganz einfach nicht, etwas Derartiges zu erleben. Wenn sich auch nur einen Augenblick der Verdacht in uns regt, daß das Rechenexempel nicht stimmt, dann werden wir hilflos wie Kinder, und die große fledermausartige Dunkelangst schlägt über uns zusammen. So standen wir also da, fünf Repräsentanten der souveränen modernen Zivilisation, ausgerüstet mit allem Wissen und aller Besonnenheit, die das Ergebnis eines zwölfjährigen Schulbesuchs, regelmäßiger Zeitungslektüre und gründlicher Studien im »Hausbuch des Wissens« ist, da standen wir und starrten sprachlos und wie erschlagen eine alte Kommode an. Ich warf einen Seitenblick auf Tancred. Seine selbstsichere Miene war einen Augenblick lang verschwunden; er sah aus wie ein zwölfjähriger Schuljunge, der eine Lektion nicht gelernt hat. Aber er gewann schnell die Fassung wieder. »Gehen wir nun ganz systematisch ans Werk«, sagte er mit etwas gekünstelt phlegmatischer Stimme. »Die Fenster sind verriegelt. Und unser Zauberkünstler kann auch nicht Zeit -79
gehabt haben, durch den Korridor zu entkommen. Also muß hier ein geheimer Ausgang sein.« »Selbstverständlich«, sagte Ebba, die wieder die alte geworden war, mit vor Eifer funkelnden Augen. »Wir sind uns doch wohl darüber einig, daß hier gerade jemand gewesen sein muß, nicht wahr? Und zwar eine ganz robuste Person; ich glaube nicht, daß Kommoden der Drang innewohnt, sich vo n selbst zu bewegen. Auch glaube ich nicht, daß ein solcher Schwergewichtler durch die Vierte Dimension verschwinden kann wie ›Der Geist von Canterville‹ in Oscar Wildes Novelle. Also muß der Betreffende durch die Decke, den Fußboden oder eine der Wände verschwunden sein.« Ebba sprach rasend schnell; ihre Wangen glühten. »Die starke Balkendecke können wir außer Betracht lassen. Ebenso den Fußboden; die Stube liegt ja direkt darunter, nicht wahr? Zwei der Wände scheiden ebenfalls aus : die Fassadenwand mit dem Fenster - und die zum Gang hin. Es bleiben also noch zwei Möglichkeiten. Was liegt hinter dieser Wand da, Arne?« »Eine kleine Kammer, die ich nicht benutze. Und die gegenüberliegende Wand bildet einen Teil der Nordflanke des Hauses. Sollte unser Gast dort durch eine unsichtbare Tür hinausgegangen sein, so wäre er direkt an die frische Luft gekommen ein Fall von etwa sechs Metern.« »Sehen wir uns erst einmal die kleine Kammer an.« Arne holte eine Paraffinlampe, und wir durchsuchten sowohl die Kammer als auch alle übrigen Räume der Etage mit größter Gründlichkeit. Auch die Wände des gelben Zimmers wurden Gegenstand der denkbar sorgfältigsten Untersuchung - doch ohne jedes Ergebnis. Es fand sich nicht die geringste Spur von dem ungebetenen Gast und auch keine Andeutung einer Geheimtür. Tancred sank resigniert in einen Lehnstuhl und trocknete sich die Stirn ab. -80
»Fünf Punkte für Järn«, seufzte er. »Und fünf Punkte minus für Tancred Cappelen-Jensen. Es geht abwärts mit den exakten Wissenschaften. Mir gefällt das hier nicht. Ich habe Edgar Allan Poe nie leiden mögen.« »Wäre es nicht denkbar, daß derjenige, der den Poltergeist spielt, einfach in der Kommode hier wohnt?« schlug ich vor. »In der untersten Schublade zum Beispiel? Ich könnte mir gut denken, in diesen Ze iten der Wohnungsnot in ein so geräumiges Möbelstück einzuziehen.« Aber mein Versuch, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, fand keinen Anklang. Arne gähnte und schlug vor, daß wir in die Koje kriechen sollten; er habe morgen früh etwas in Lillesund zu besorgen und wollte gern noch ein bißchen Schlaf haben. Übrigens habe es ja den Anschein, als ob dieser Klopfgeist nicht direkt bösartig sei; er operiere hauptsächlich vor vierundzwanzig Uhr und störe nicht die Nachtruhe. Die Nachforschungen könnten ja morgen fortgesetzt werden. Gute Nacht, meine Damen und Herren. Ich war etwas erstaunt, wie ruhig er das Ganze plötzlich nahm. Er hatte doch nicht selbst dieses Schauspiel inszeniert? Bei Arne war nichts unmöglich. Ich lag noch eine Weile grübelnd da, nachdem ich mich hingelegt hatte. Aber ich mußte den Verdacht fallenlassen. Arnes Alibi war in Ordnung. Der Hund war getötet worden, während wir uns auf dem Pfarrhof befanden, und er war ebenso entsetzt gewesen wie wir anderen. Wohl wußte ich, daß die Schwäche meines Freundes für Komödien und »surprise parties« keine Grenzen kannte, aber der Hundemord stand auf einem anderen Blatt, das war nicht sein Stil. Aber worin lag dann die natürliche Erklärung? Wer könnte ein Interesse an solchen Narrenstreichen haben? Und wie in aller Welt sollte jemand es fertigbringen... Abstraktes Denken liegt mir wohl nicht; ich schlief schon -81
während der Problemstellung ein. Das Sonnenbad tat seine Wirkung; ich schlief erstaunlich gut in dieser Nacht. Die Kräfte des Lichtes sind unfehlbar he ilsam, und ich empfehle hiermit allen, die auf alten Herrenhöfen übernachten sollen, sich mindestens vier Stunden lang vorher zu sonnen, ehe sie sich in das blaue, gelbe oder grüne Zimmer schlafen legen. »Heute gehen wir Karsten besuchen«, sagte Tancred und langte nach der Himbeermarmelade. »Es macht mir Spaß, einmal zu sehen, wie ein Kriminalschriftsteller wohnt, während er seine gehaltvollen Schilderungen von Nachtmenschen und Werwölfen hervorbringt. Ist es weit zu gehen, Arne?« »Ein Weg von zwanzig Minuten.« Arne trank seinen Kaffee aus und erhob sich vom Frühstückstisch. »Ihr könnt mich ja zum Anlegeplatz begleiten, dann werde ich euch den Weg zeigen. Ihr werdet schon allein hinfinden; ich muß, wie gesagt, einmal kurz mit dem Motorboot nach Lillesund hinüber.« Ebba, Monika, Tancred und ich gingen den schmalen Pfad am Ufer entlang. Draußen über dem Wasser kreisten schreiende Möwen, der Seewind brachte einen urfrischen Tang- und Salzgeruch mit, einen Dunst wie vom Morgen aller Zeiten. Tancred ging mit einem geistesabwesenden Ausdruck und kaute auf einem Streichholz; es war ihm deutlich anzumerken, daß er ein kniffliges Problem wälzte. »Nun?« bemerkte ich. »Was machen die grauen Zellen? Funktionieren sie?« Er schüttelte den Kopf. »Mehlsuppe«, brummte er und spuckte Streichholzfasern aus. »Zähe, unbrauchbare Mehlsuppe. Es ist unfaßbar, daß eine solche Niete wie ich das Staatsexamen machen konnte. Ich begreife tatsächlich nichts von dem, was hier vor sich geht. Selbst wenn wir annehmen, das Zimmer habe einen Geheimausgang - was aber nicht der Fall ist -, ist es völlig -82
unerklärlich, daß ein Außenstehender die Kommode zurückgeschoben haben könnte. Nur wir fünf wußten von dem ›Experiment‹, und wir verloren einander nicht einen Augenblick aus den Augen. Wir haben es offensichtlich mit einem Zauberkünstler von Houdinis Format zu tun.« »Das Wahrscheinlichste ist wohl, daß irgend jemand versucht, Arne vom Hof zu vertreiben«, meinte Ebba. »Jemand, der darauf spekuliert, daß selbst moderne, aufgeklärte Menschen abergläubisch werden, wenn sie einer starken Suggestion ausgesetzt sind. Der Betreffende bedient sich also der alten Sage - und tut es sehr wirkungsvoll.« »Aber Herrgott, das ist doch eine entsetzlich banale Erklärung«, sagte ich. »So lösen ja sämtliche Kriminalschr iftsteller ihre ›ghost stories‹ auf. Abgesehen also von Järn, der mit echten Widergängern operiert.« »Die banalste Erklärung ist immer die richtige«, stellte Ebba fest. »Du mußt nicht zu viel auf Karsten hören, Paul. Er glaubt an Gespenster, weil er damit seinen Lebensunterhalt verdient.« Der Pfad bog auf eine schmale Landzunge hinaus, und vor uns lag eine blaugestrichene Fischerhütte, ein hübsches, gepflegtes Sörlandshaus mit blendend weißen Spitzengardinen vor den Fenstern. Järn war gewiß in mancher Hinsicht eine Bohèmien-Natur, aber offenbar nicht, wenn es sich ums Wohnen handelte; hier war er ein geschworener Anhänger der Ideale des Bürgertums. Ein paar Minuten später öffnete er uns die Tür; er war sehr dankbar, daß wir ihn bei der Arbeit störten. Wir wurden in ein Zimmer geführt, wo mir als erstes einige phantastische Reproduktionen von Breughel und Goya - typisch für den makabren Geschmack unseres Freundes - auffielen. Die Wände waren zum großen Teil mit Bücherregalen verkleidet. Am Fenster stand ein alter Schreibtisch aus Eichenholz, auf dem sich ein paar charakteristische Gegenstände befanden: ein Papiermesser in der Form eines arabischen Krummsäbels, eine -83
kleine vergoldete Sphinx, die die prosaische Mission hatte, als Briefbeschwerer zu dienen, einige Federhalter mit eingravierten Hieroglyphen und endlich ein riesiger Aschenbecher mit geschnitztem Totenkopf. Eine Unzahl von Zigarettenstummeln verriet, daß der Kriminalschriftsteller eine fruchtbare Periode hatte. Mitten auf dem Tisch lag ein dickes Buch aufgeschlagen. Ich blickte auf das Titelblatt; es war Camille Flammarions »Das Unbekannte«. »Fabelhaftes Material«, kommentierte Järn. »Eine Sammlung von mehr als fünfhundert okkulten Beobachtungen, wissenschaftlich analysiert. Stoff für meine nächsten ze hn Bücher.« »Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht«, bemerkte ich. »Hier geschehen doch gleich um die Ecke die unheimlichsten Dinge. Weshalb begräbst du dich in Büchern, statt dir den Stoff direkt aus dem Leben zu holen?« Und ich erzählte ihm meine Geschichte von der Kommode. Er war gleich Feuer und Flamme. »Habe ich es nicht gesagt? Bedarf es wirklich noch weiterer Beweise, um den Amerikaner zu bewegen, sich den Kohlenstaub von der Hornbrille zu putzen? Solche Menschen wollen ja nicht sehen, gegen die Dummheit-« »Gegen die Dummheit kämpfen selbst Kriminalschriftsteller vergebens«, unterbrach ihn Tancred und warf sich auf das weiche Sofa. »O du alter mondsüchtiger Werwolfmann, Freund und Bruder aller Toten, gib uns einen Drink. Wir sind fahrtenmüde Wanderer, die Schutz und Gastrecht in deinem Haus suchen.« Järn holte Gläser und eine Flasche Club Port. »Ich würde gern etwas mehr über diesen Fahle erfahren«, sagte Monika, »und über Lizzie. Die Leute interessieren mich wirklich. Erzähl, was du weißt, Järn...« »Über Fahle weiß ich nicht viel mehr als ihr«, antwortete -84
Järn. Er hat etwas von. einer Sphinx an sich und hat keinem Menschen von seiner Vergangenheit erzählt - außer daß er viele Jahre in Amerika gelebt hat und dort wohl als Geistlicher tätig war. Nic ht einmal seiner Frau hat er sich anvertraut. Ich kenne Lizzie seit fast einem Jahr; ihr Schicksal ist recht seltsam. Im Alter von dreizehn Jahren verlor sie ihre Eltern und wohnte von da an abwechselnd bei ihren Verwandten, die sie bei jeder Gelegenheit fühlen ließen, daß sie von ihrer Gnade lebte. Im vorigen Jahr kam sie von Horten nach Lillesund, um dort bei ihrem Onkel und ihrer Tante zu wohnen. Die beiden taten ihr Bestes, um den letzten Lebensmut aus ihr herauszuschikanieren...» »Sie wirkt wahrhaftig nicht, als ob sie über den Björnsonschen Überschuß verfüge«, warf ich ein. »Eher ist sie vom Ibsenschen Schwermut geprägt. Wie alt ist sie übrigens?« »Erst einundzwanzig Jahre. Das Mädchen ist intelligent und hätte sich längst einen guten Job beschaffen können. Aber ihre verwünschte Familie wollte sie nicht freigeben, ehe sie mündig war...« »Jede Person, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann selbständig Abmachungen über Annahme von Arbeit treffen«, wandte ich ein. »Kommentar Ragnar Knoph: ›Norwegisches Recht‹, § 15.« »Also gut. Jedenfalls haben sie ihr die Ohren vollgepumpt mit Phrasen über Pflichtgefühl und Dankesschuld, und mit ihrer weichen Natur hat sie sich gebeugt und ihr Dasein als Mädchen für alles fortgesetzt. Da tauchte also Fahle in der Arena auf. Er traf sie zufällig in einem Laden - eines Tages im April, glaube ich -, sie kamen ins Gespräch, und er machte gleich einen überwältigenden Eindruck auf sie. Sie vertraute sich ihm an, und das Ende vom Liede war, daß er ihr eine Stellung als Haushälterin auf dem ›Pfarrhof‹ anbot. Sie sagte mit Freuden zu; endlich hatte sie die Chance, auf eigenen Füßen zu stehen; dieser Fremde hatte ihr plötzlich eine Art magischer Kraft -85
gegeben, sich von der Familie loszureißen. Nach einem entsetzlichen Streit mit Onkel und Tante zog sie nach Heilandet. Einen Monat später war sie mit Fahle verheiratet. Anscheinend hat in Amerika das moderne Tempo selbst die Theologen angesteckt.« »Aber es ist doch klar, daß er sie ebenfalls unterdrückt«, erklärte Monika. »Sie kann kaum jemals unselbständiger gewesen sein als jetzt; den Eindruck habe jedenfalls ich von dem Verhältnis. Diese Heirat, glaube ich, wird sie noch einmal bereuen. Mir gefällt der Fahle nicht; ich finde, der Mann hat etwas Verschlagenes und Undurchsichtiges an sich - und dann sein ekelhaftes Gerede von Hexen und Teufelsanbeterei! Ich kann mich mit seinem Aussehen auch nicht befreunden - so ungefähr stelle ich mir die liederlichen Mönche der Renaissance vor...« Wir hatten etwa zehn bis zwölf Minuten geplaudert, als es plötzlich an der Haustür klopfte. Järn ging hinaus und öffnete; einen Augenblick später kam er mit Lizzie zurück. »Wenn man von der Sonne spricht, dann scheint sie«, sagte er. »Wir haben eine volle Viertelstunde lang über dich und deinen Mann getratscht, Lizzie. Nimm Platz, und trink auch ein Glas Portwein; das ist gesund für den Astralleib. Nein, ich vergesse ja ganz vorzustellen: Lizzie Fahle Cappelen-Jensen und Frau...« Ich stellte fest, daß Lizzie in noch höherem Grade als zuvor nervös und unruhig wirkte. Ihre Augen hatten einen merkwürdig gehetzten Blick, wie bei einem jungen Tier, das man in die Falle getrieben hat. Järn nahm sich ihrer väterlich an, zog sie neben sich aufs Sofa und reichte ihr ein bis zum Rande gefülltes Glas. »Du siehst etwas durchgedreht aus, Kleines. Ist etwas Unangenehmes passiert?« Lizzie nahm einen tiefen Zug, und gleich kam Farbe in ihre blassen Wangen; ihre Augen glänzten auf. -86
»Dieser Rein ist wieder bei meinem Mann«, sagte sie. »Und da halte ich es nicht zu Hause aus. Der Mensch bringt eine merkwürdige Kälte mit, die gleichsam das ganze Haus erfüllt. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll... ich würde es nie wagen, dem Mann die Hand zu drücken... ich habe das Gefühl, sie würde sich wie kalte, schleimige Fischhaut anfühlen. Ich ging also gleich, als er kam, und kam hier herüber. Ich bin gewiß lächerlich nervös - ganz ohne Grund -, aber du pflegst ja so beruhigend auf mich zu wirken, Karsten.« »Was Sie nicht sagen?« rief Tancred interessiert aus. »Kann Karsten auf irgendeinen Menschen beruhigend wirken? Na ja, man hat ja schon von Leuten gehört, die in Madame Tussauds Schreckenskabinett eingeschlafen sind.« »Besucht Rein Sie immer noch?« fragte ich. »Hat er Ihrem Mann noch mehr Sagen zu erzählen? Ist er mit seinem Vorrat nicht bald zu Ende?« »Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden miteinander reden«, sagte Lizzie. »Sie schließen sich in einem Zimmer ein und bleiben dort oft mehrere Stunden lang. Ich habe Rein nicht einen einzigen Satz sagen hören; solange ich mich im gleichen Raum befinde, ist er stumm wie das Grab. Übrigens - einmal habe ich seine Stimme doch gehört, durch die Wand. Ich pflege nicht zu horchen, aber...« »Was sagte er?« fragten Monika und ich wie aus einem Munde. »Ich schnappte nur drei Worte ohne Zusammenhang auf: gehen an Land -; vermutlich war er mitten in einer Geschichte. Seine Stimme war heiser und flüsternd, und ich verstehe nicht, woher es kommt, aber mir wurde gleich ganz schwindlig und elend; ich mußte mich hinlegen. Es war das erste Mal, daß er meinen Mann besuchte - irgendein Tag im Mai. Seither war er regelmäßig bei uns, zweimal in der Woche.« »Wie hast du es eigentlich bei deinem Mann?« sagte Järn und -87
legte ihr vertraulich den Arm um die Schultern. »Ist alles so, wie es sein soll?« »Mir geht es glänzend«, erklärte sie und wurde plötzlich ganz steif. »Ich habe ihm für so vieles zu danken; er hat mir geholfen, ein selbständiger Mensch zu werden. Aber er verbirgt etwas vor mir, er will nicht damit heraus. Ich weiß, daß er etwas vor mir versteckt...« »Nun?« Tancred beugte sich vor und betrachtete sie aufmerksam. Auch sein Interesse war jetzt offensichtlich erwacht. Lizzie leerte das Glas und fuhr fort: »Oben auf unserem Boden befindet sich ein kleiner Raum, in dem ich nie gewesen bin. Mein Mann hat mir strikt verboten, ihn zu betreten. Er sagt, daß der Fußboden morsch sei; man könne durch die Dielenbretter treten und sich das Bein brechen. Ich habe nicht einmal hineinblicken können; die Tür ist verschlossen, seit ich bei ihm bin. Und ich habe einen solchen Respekt vor ihm, daß ich ihn nicht bitten wollte, mir den Schlüssel zu leihen. Ich möchte mich so ungern in seinen Augen lächerlich machen; er hat gesagt, die Neugierde sei das albernste Laster der Frauen. Aber ich kann mir nicht helfen: ich bin immer neugieriger geworden. Eines Nachts vor einem Monat... m.m.285 Tw -1
»Das ist ein gefährliches Spiel, Paul. Denk daran, daß du hier jetzt allein wohnst. Ich möchte dir dringend davon abraten.« »Hat man sich auf ein Spiel eingelassen, dann muß man auch die Regel einhalten«, sagte ich. »Und ich habe mein Wort gegeben, daß ich guten Sportsgeist zeigen werde. Außerdem bin ich kein Hasenfuß.« »Das ist am hellichten Tage leicht gesagt. Geh jedenfalls kein unnutzes Risiko ein; laß mich das Pentakel für dich da oben zeichnen.« Ich lachte. »Wird kaum mehr notwendig sein. Dörum hat seine Gespensterkarriere jetzt wohl aufgegeben.« »Du willst doch wohl nicht sagen, daß du an diese idiotische Erklärung glaubst?« schnaubte Järn ärgerlich. »Aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß Dörum -?« »Nein, gewiß nicht. Tancred kohlte etwas von ›zufälligen Zusammenhängen‹, die angeblich alles erklären sollten. Aber daß Dörum plötzlich hier auftauchte, ist tatsächlich der einzige Zufall bei der ganzen Sache. Es ist, als ob ein streng aufgebautes Drama auf der Bühne gespielt wird, und mit einem Male mischt sich ein Betrunkener von der Galerie her ein. Man soll dann nicht glauben, der Betrunkene sei die Hauptperson des Stückes.« »Und trotzdem decken Ebbas und Tancreds Theorien sich mit allen Tatsachen...« »Keineswegs. Ihre Hypothesen sind nicht nur phantasielos, sondern auch sehr verschwommen und in kaum einem Punkt durch Tatsachen bewiesen. Und ein paar Fakten haben sie frech übersehen. Erstens: wie wollen sie die Reaktionen des Pferdes erklären? Weshalb lief es bei Reins Anblick Amok? War es ein Zufall, daß Fahle vor dem Stall stand, als das Tier zum zweiten Male mit panischer Angst reagierte? Zweitens: wie wollen sie die Fußspuren rings um das Bett erklären? War es ›Zufall‹, daß sich nicht eine einzige innerhalb des Pentakels befand? Ebba und Tancred betrachten die Tatsachen etwa so wie der -202
Farbenblinde ein Gemälde; dort, wo rote und grüne Pinselstriche sind, sehen sie nur die graue Soße des Zufalls...« Eine Stunde später ging Järn, nachdem er erst angeboten hatte, im Hause zu übernacht en - z.B. in dem Raum neben dem gelben Zimmer -, so daß ich jedenfalls nicht das Gefühl hätte, allein zu sein. Seine verschrobenen Auffassungen hatten mich nach und nach jedoch so gereizt, daß ich ihm keine Zugeständnisse machen wollte, indem ich mich ängstlich zeigte. So antwortete ich, daß ich mich ebensogut gleich daran gewöhnen könne, allein zu wohnen. Als letzte Aufmunterung vom Fallreep aus sagte er, daß ich so schnell wie möglich das Haus verlassen und zu ihm kommen solle, falls sich in der Nacht etwas Ungewöhnliches ereignen sollte. Es sei schon früher vorgekommen, daß Menschen vor Schreck starben. Obwohl Järn nicht die angenehmste Gesellschaft war, die man sich unter solchen Umständen denken konnte, bereute ich dennoch bald, daß ich sein Angebot abgelehnt hatte. Der Gedanke, mutterseelenallein fern von allen Menschen hier in dem Riesenhaus zu bleiben, beunruhigte mich mehr und mehr. Wir sind alle so großschnäuzig, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist; wir treiben so sicher auf dem Tageslicht dahin. Hat da jemand etwas von Dunkelheit gesagt? - Die gibt es nicht; die hat es nie gegeben. Nils Kjær schreibt irgendwo über die alten Karaiben, »deren Leichtsinn keine Grenzen kannte«, daß sie morgens ihre Betten verkauften, weil sie vergaßen, daß es jemals Nacht gewesen sei. Und sie verbrachten den Tag in Saus und Braus. Doch »wenn die Dunkelheit über sie hereinbrach, dann kam ein großer Jammer über die alten Karaiben; eine Erinnerung tauchte in ihren flüchtigen Hirnen auf, und mit Weinen und Wehklagen liefen sie herum und suchten nach ihren Betten«. Als ich so in der Stube am Fenster saß, konnte ich ihre Gemütsverfassung gut verstehen. Sollte ich Järns Rat folgen und mich nicht in das gelbe Zimmer legen? Ich mußte mir zu meinem Ärger gestehen, daß er -203
es fertiggebracht hatte, mir Angst zu machen. Aber schließlich war es ja sein Beruf, die Leute das Gruseln zu lehren, ob er vielleicht nur mit mir experimentiert hatte? Nein, das war Feigheit, jetzt mußte ich mir selbst beweisen, daß ich kein Weichling und kein willensschwacher Kujon war; hatte ich mir etwas vorgenommen, so mußte ich es auch durchführen. Dies war einfach eine Charakterprobe. Ich begann demonstrativ in der Stube aufzuräumen, während ich die Marseillaise pfiff - dieser Leuchter gehört auf das Kaminsims; der Aschbecher muß geleert werden; dort muß ein wenig Staub gewischt werden... Dann zündete ich die Paraffinlampe an und setzte mich gelassen in einen Sessel, um zu lesen. Nicht Wodehouse dieses Mal, nein, ein strenges und ernstes Buch, das geeignet ist, einem suchenden Menschen zu helfen bei seinem Bestreben, sich selbst zu überwinden. Ibsens »Brand«... Doch ich kam nicht recht voran. Immer wieder ertappte ich mich, daß ich von der Dichtung aufblickte; verstohlen lugte ich in den großen Raum, in dem die Schatten mit jedem Augenblick dichter wurden. Quälende Vorstellungen drängten sich mir auf; sie kamen gleichsam auf einem Besenstiel durch die Finsternis geritten. Woran erinnerte mich doch die Schilderung, die Tönnes Tobiasen von dem Phantomschiff gegeben hatte? Ach ja, sie paßte genau auf das kleine Schiffsmodell droben in meinem Schlafzimmer. Seltsam... was knackte dort eben? Herrgott, das weißt du doch das alte Holzwerk zieht sich bei jeder Temperaturveränderung zusammen. Nimm dich zusammen und lies weiter. Wo waren wir stehengeblieben? Immer noch auf Seite 1. »He, Fremder, nicht so schnell. / Wo bist du?« - »Hier« - »Du verläufst dich.« Nach zwei Akten blickte ich auf die Uhr. Halb elf bereits Zeit, zu Bett zu gehen. Ich schlug das Buch zu, gähnte laut und lange und ging dann entschlossenen Schrittes nach dem Zimmer des Kaperkapitäns. -204
Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, fuhr ich schon heftig zusammen. Eine hohe Gestalt bewegte sich mir mit einer qualmenden Lampe in der Hand entgegen. Der verdammte Spiegel, natürlich nein, meine Nerven waren nicht ganz in Ordnung. Der Lampenschein flackerte über die alten Gemälde von drallen Rokokofrauen in verdrehten, wollüstigen Stellungen; mit der phosphorgelben Tapete als Hintergrund und in dieser diffusen Beleuchtung lag fast etwas Infernalisches über diesen Gestalten. Mein Schatten fiel auf das schmale Bett, das mir jetzt wie ein offener Sarg vorkam. Noch einmal flüsterte die vorsichtige Stimme in mir: Welchen Zweck hat das alles? Geh hin und leg dich in dein eigenes Zimmer! Aber mein besseres Ich antwortete: Ein Mann, ein Wort! Gestärkt von Brands Forderung den Geist des Kompromisses zu scheuen, kleidete ich mich aus und zog den Schlafanzug an. Die Luft war drückend; ich öffnete ein Fenster. Draußen weht ein herber Wind; der Himmel war bedeckt; und ein zottiger Nebelschleier trieb über die Landschaft; auf der See hatten sich dicht Nebelbänke gebildet. Wieder hörte ich die ferne Boje, die im Takt mit den Dünungen melancholisch aufheulte; es war, als ob die tote Natur selbst in diesem Ton zu Worte kam. Nein, es war trotz allem gut, in einer solchen Nacht im Hause zu sein. Kopf hoch, Antonius. Ich prüfte Arnes Revolver noch einmal und legte ihn in Reichweite neben das Bett. Dann machte ich die Lampe aus und kroch unter die Decke. Ein wenig später war ich fest eingeschlafen. So schlafen die Menschen auch in einem Hause, das in wenigen Stunden in einem Erdbeben zusammenbricht oder von einem Blitz getroffen wird. Wenn wir in die Zukunft schauen könnten - und seien es nur fünf Minuten -, würden wir bald vor Schlaflosigkeit vergehen. Ich weiß nicht, was mich geweckt hatte - ob es ein Geräusch war oder ein unerklärlicher Instinkt. Das Unterbewußtsein wurde alarmiert, ein rotes Gefahrensignal leuchtete in meinem Traum auf: du mußt aufwachen, Paul, du mußt aufwachen! Ich -205
hatte das Gefühl, eine dunkle Kellertreppe hinaufzustürzen, um an die frische Luft zu kommen; ich erreichte den Ausgang und gleichzeitig öffnete ich die Augen und blickte mich verwirrt im Zimmer um. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu wissen, wo ich war; dann erinnerte ich mich und kehrte mein Gesicht mechanisch dem großen Spiegel zu. Der Mond war offenbar durch einen Riß in der Wolkendecke gedrungen; die Spiegelfläche reflektierte einen milchene n Widerschein des schwachen Lichtes. Was war das? Etwas bewegte sich dort - war es ein Stuhl, ein Tisch? Nein, es war das ganze Spiegelbild, das sich langsam nach links schob. Plötzlich ging mir auf, daß die Tür sich öffnete. Es knarrte im Holz, die Scharniere quietschten... die dunkle Öffnung wurde breiter. Ich war vor Schreck völlig gelähmt; mir war, als läge ich an Händen und Füßen gefesselt in einer Wanne eiskalten Wassers. Weiße Kältewellen spülten mir über die Kopfhaut, schlugen wie eine Brandung im Nacken zusammen und glucksten mir das Rückgrat hinunter. Weder früher noch später im Leben habe ich eine so panische Angst verspürt. Nun tauchte eine hohe Gestalt in der Türöffnung auf und glitt auf das Bett zu... das Ölzeug knisterte. Da kam noch eine... und noch eine... du großer Gott, eine ganze Prozession! Erst jetzt überwand ich die Lähmung, und mit einer blitzschnellen Reflexbewegung griff ich nach dem Revolver. Hätte ich ihn zu fassen bekommen, so hätte ich das ganze Magazin blindlings und desperat entleert. Aber ich streifte nur eben den Kolben mit den Fingern, da wurde ich von einem heftigen Schlag auf den Kopf getroffen, als ob eine ganze Felswand über mir zusammenstürze, und ich verlor sofort das Bewußtsein. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie lange ich besinnungslos da lag; es können kaum mehr als zwei oder drei Minuten gewesen sein. Da kam ich auf eine wunderliche Weise teilweise wieder zu mir - es war eine Art narkotischer Zustand zwischen Traum und Wachsein. Eine träge Benommenheit füllte -206
meinen schmerzenden Kopf; das Gehirn war noch betäubt und hatte keine Kontrolle über den Körper; ich war nicht imstande, ein Glied zu rühren. Der Mondschein war inzwischen stärker geworden, und ich konnte beobachten, was im Zimmer vor sich ging, doch alle Umrisse schwankten und wogten vor meinem Blick. Die Szene hatte den Charakter eines Alpdrucks; sie spielte sich gleichsam auf dem Meeresgrunde ab. Mindestens fünf Gestalten glitten jetzt durch das Zimmer, alle in Südwester und Ölzeug; es war mir, als kämen sie in einem wogenden Rhythmus über den Flur, wie Taucher, die sich durch das Wasser bewegen. Sehstörungen bewirkten, daß ich die Gesichter nicht deutlich wahrnehmen konnte; unter den schwarzen Südwestern zerflossen alle Züge zu glatten, mondartigen Fläche n. Die Tür zum Gang war geöffnet worden; eine der Gestalten hatte sich dort hingestellt und machte weisende Gebärden; die übrigen waren damit beschäftigt, die Bilder von den Wänden zu nehmen, um sie dann hinauszutragen. Neue Wesen glitten in den Raum, eins hob einen Sessel auf die Schulter, während andere an schwere Stücke gemeinsam Hand anlegten. Währenddessen gestikulierte die Gestalt an der Tür immer noch, bald mit langsamen, bald mit schnappender Bewegungen, wie ein großer Hummer, der seine Scheren bewegt Alles ging still, fast lautlos vor sich; vielleicht hatte der Schlag auch mein Hörvermögen gelähmt. Ein paar Minuten lang war ich apathischer Zuschauer, dann senkte sich wieder der violette Schleier vor mein Gesichtsfeld und ich versank aufs neue in Ohnmacht. Dieses Mal mußte es lange gedauert haben, ehe ich wieder zu mir kam. Im Traum kämpfte ich mich durch ein dichtes Meer von Rauch das mich fast erstickte. Irgendwo in den Rauchmassen war jemand, der meinen Namen rief: »Paul, Paul!« Es war Monikas Stimme. Ich mußte zu ihr, es galt das Leben, ich lief wie wahnsinnig, überall schossen Flammen hervor, und es knackte und knisterte wie von einem gewaltigen -207
Scheiterhaufen. »Monika, wo bist du?« Als ich erwachte, verspürte ich erst nur einen hämmernden Schmerz im Kopf, und es fiel mir schwer zu atmen. Dann bemerkte ich, daß sich tatsächlich Rauch im Zimmer befand, ein wolliger Schleier wogte über dem Fußboden. Das Zimmer war von einem intensiven gelben Schein vom Fenster her erfüllt, und die Luft war heiß wie in einem Dampfbad. Blitzartig fiel mir jetzt ein, was geschehen war; es war keine Traumphantasie gewesen; alle Bilder waren von den Wänden entfernt, und von den Möbeln waren nur das Bett, der Spiegel und die große Kommode übriggeblieben. Ein knatterndes Geräusch pflanzte sich durch das Holz fort: Das Haus brannte! Ich sprang aus dem Bett und schrie bei der plötzlichen Bewegung vor Schmerz auf; dann torkelte ich zur Tür. Sie war von außen abgeschlossen! Der Rauch sickerte ständig durch die Spalten und da: Schlüsselloch. »Paul!« Träumte ich immer noch? Das war ja Monikas Stimme! Herrgott, ich hatte Halluzinationen; nun mußte ich sehen, daß ich herauskam, ehe ich wieder zusammenbrach. Nach Atem ringend, schwankte ich fieberhaft nach dem kleinen Mechanismus neben dem Rahmen. Aber auch dieser Ausgang war versperrt: der Mechanismus war zertrümmert wie von einem kräftigen Hammerschlag. Mir schwindelte; das Zimmer begann sich zu drehen, der Fußboden rotierte wie ein Strudel. Nun war ich verloren... »Paul!« Nein, das konnte keine Einbildung sein; der Ruf kam von draußen, und nun hörte ich Tancreds Stimme. Mit einer heftigen Anstrengung gelangte ich bis ans Fenster. Es war geschlossen, mir war, als verginge eine Ewigkeit, bevor es mir gelang, die Haken zu lösen; die ganze Zeit kämpfte ich verzweifelt gegen eine Ohnmacht an. -208
Unten standen Ebba, Tancred und Monika. Sie winkten eifrig und schrien erleichtert auf, als sie mich erblickten. Tancred war im Begriff, eine Leiter gegen das Fenster anzulegen. »Immer mit der Ruhe!« rief er. »Hier kommt die Rettungsmannschaft. Kannst du allein herunterkommen? Wirf erst dein Zeug hinaus. Wir halten die Leiter... komm jetzt!« Von Funken umsprüht, kletterte ich hinab. Etwas später lag ich angekleidet und erschöpft mit dem Kopf in Monikas Schoß, die mir die Stirn streichelte und eine Flasche an meine Lippen führte. Aufs neue sickerte Lebenskraft in mich ein. Gewiß spannte sich immer noch der große Nußknacker um meine Schläfen, und den Körper empfand ich wie einen Klumpen Gelee nach dem brutalen Schlag. Aber ich war in keiner Weise unzufrieden mit dem Leben. Ich lag mit geschlossenen Augen da und genoß die Berührung der Fingerspitzen und den kühlen Duft ihres Kleides. Ich fühlte mich plötzlich wie ein vom Sturm verwüstetes Wrack, das an einer paradiesischen Küste plötzlich an Land getrieben ist. »Mein lieber, lieber Junge; ich habe mich so um dich geängstigt. Wir kamen wahrhaftig im letzten Augenblick...« Darüber konnte wohl kein Zweifel bestehen. Der Kaperhof stand in hellen Flammen; der mächtige Holzbau brannte wie ein ausgedörrter Pappkarton. Auch der Nordflügel war nun von einem Feuermeer eingefangen; oben in Korps Schlafzimmer leckten die Flammenzungen gegen die Decke; die phosphorgelben Tapeten entzündeten sich gleichsam von selbst. »Hier haben gewisse Leute einen recht fetten Fang gemacht«, bemerkte Tancred und deutete auf die Fenster im Erdgeschoß. »Wirf nur einen Blick dort in die Stube.« Trotz der Flammenmauer und des Rauchteppichs konnten wir einige Einzelheiten in dem brennenden Zimmer wahrnehmen; es wirkte völlig nackt; ich sah nicht ein einziges Stück Möbel. Dort, wo die Wände noch nicht Feuer gefangen hatten, erkannte -209
ich helle, rechteckige Flecken. Überall waren die Bilder entfernt! Tancred wandte sich zu mir um. »Du mußt uns doch einiges zu erzählen haben, Paul.« »Kommt noch«, sagte ich. »Laßt mich nur erst einmal zur Besinnung kommen. Erzählt mir erst, wie ihr darauf verfallen seid, hier aufzutauchen.« Er lächelte. »Wir haben ein strategisches Umgehungsmanöver gemacht, um den Feind zu verwirren. Ich war mir darüber klar, daß irgend etwas heute nacht hier geschehen würde; wir verließen daher den Zug nach ein paar Stationen und nahmen ein Auto zurück nach Lillesund. Aber leider warteten wir zu lange mit der Fahrt hier heraus. Wir hä tten schon vor einer Stunde hier sein sollen.« »Sollten wir nicht etwas unternehmen, um diesen Brand zu löschen? Es gibt doch hier in Heilandet so etwas wie eine Feuerwehr?« Tancred nickte. »Der Mann, der uns hier herausfuhr, ist schon unterwegs, um Hilfe zu holen. Doch ich fürchte, das ist vergebene Liebesmüh.« Ebba starrte auf die See hinaus, als habe sie eine Entdeckung gemacht. Plötzlich deutete sie eifrig: »Seht dort draußen!« Die Wolkendecke hatte sich teilweise aufgelöst; der Mond stand klar über der Landschaft, und der Nebel war ein Stück ins Meer hinausgetrieben, so daß wir ziemlich weit sehen konnten. Ebbas Zeigefinger war auf etwas Graues gerichtet, das sich zwischen der Schären bewegte, ungefähr einen Kilometer vom Land. Es war ein Schiff, ein kleines Segelschiff, das vor dem frischen Landwind dahertrieb. »Alle Wetter!« rief Tancred aus. »Da haben wir sie! Da segeln sie hin mit Norwegens wertvollster Gemäldesammlung! -210
Ins Motorboot, daß wir ihnen sofort nachsetzen. Wir müssen jedenfalls versuchen, an sie heranzukommen, damit wir sehen, wer es ist.« Nie zuvor hatte ich Tancred so erregt gesehen; seine Augen leuchteten; er glich einem Jungen vor einem spannenden Indianerfilm. »Wie fühlst du dich, Paul? Kräftig genug, um mitzukommen?« Ich hatte mich bereits erhoben und reichte Monika die Hand. Von nun an sollte nie ein Zeichen der Schwäche mehr von mir kommen. Paul Ricken hatte seine Feuertaufe überstanden. »Ich komme schon«, sagte ich mit leicht zitternder Stimme. »Also los.« Wir liefen alle vier zum Boot hinunter. Ich machte einen tapferen Versuch, den Außenbordmotor in Gang zu setzen, aber die Schnur entglitt mir. Ich hatte die Herrschaft über meine Hände noch nicht wiedererlangt; sie zitterten immer noch, und ich hätte kaum einen Brummkreisel in Gang setzen können. Tancred mußte mich ablösen, und nach einigen Sekunden fauchten wir in die Dunkelheit hinaus. Nie werde ich diese phantastische Fahrt vergessen. Hinter uns lag die Landschaft von einem riesigen Brand illuminiert; selbst auf weitem Abstand flackerte der gelbe Widerschein von den Felsen auf. Überall auf dem mächtigen Gebäude schossen wahre Feuereruptionen empor. Der Kaperhof erinnerte in diesem Augenblick an einen Vulkan, der seit langem gewaltige destruktive Kräfte aufgespeichert hatte - um plötzlich in prachtvolle und alles verzehrende Raserei auszubrechen. Ringsum lag das Inselvorfeld in silbergraues Licht gehüllt, ein toter und mondartiger Kontrast zu dem Naturschauspiel an Land. Und vor uns glitt die Silhouette eines unwirklichen Schiffes den dichten Nebelbänken entgegen. Nach und nach kamen wir in ziemlich hohen Seegang, aber -211
wir hatten den Wind mit uns, und das Boot war gut. Es hackte sich energisch vorwärts über die Wogenrücken, während der Motor kläffte wie ein wütender Jagdhund. Bald ha tten wir mehrere hundert Meter aufgeholt; der Abstand verminderte sich mit jeder Minute, und der Umriß des Schiffes zeichnete sich immer deutlicher im Mondlicht ab. Das Schiff war von der Größe einer Jacht oder eines großen Kutters, aber die Masten waren höher als bei irgendeinem modernen Fahrzeug dieses Formats, und die Segel waren von einem sehr altmodischen Schnitt. Der Rumpf mündete achtern in ein eigentümlich hohes Heck aus von der Form einer Muschel und hatte dieselbe nebelgraue Farbe wie die Segel. Ziemlich genauso hatte das kleine Schiffsmodell in meinem Schlafzimmer ausgesehen; unzweifelhaft war es dieses Schiff, das Tönnes Tobiasen vor drei Nächten beobachtet hatte. »Wir müssen sie einholen, ehe sie im Nebel verschwinden«, erklärte Tancred, der am Ruder saß. »Wir müssen es schaffen! Wenn wir auf zehn bis fünfzehn Meter heran sind, mußt du den Scheinwerfer einschalten, Paul.« »Aber wollen wir so nahe heran?« fragte ich. Ich fühlte mich noch nicht ganz wohl in meiner neuen Rolle als unerschrockener Pfundskerl. »Wie, wenn sie schießen?« »Das Risiko nehmen wir auf uns; wir müssen sie uns etwas näher ansehen. Sollte eine kugelrunde Kanonenkugel vom Modell 1810 angesaust kommen, dann werfen wir uns flach ins Boot.« Nun lagen wir keinen Steinwurf weit mehr dahinter. Ich konnte bereits graue Gestalten wahrnehmen, die über das Deck glitten, und achtern standen zwei Männer unbeweglich nebeneinander; offenbar behielten sie uns im Auge. Etwas, was einem Tier glich, bewegte sich auf der Reling vor ihnen. Monika hielt mein Handgelenk mit einem krampfartigen Griff; unsere Pulse schlugen um die Wette. -212
Der Vorsprung war auf weniger als dreißig Meter herabgemindert, als etwas Unerwartetes geschah. Ohne daß der Wind an Stärke zugenommen hätte, erhöhte das Schiff plötzlich seine Fahrt in auffallendem Maße - es wirkte wie ein Ruck -, und im Laufe von wenigen Sekunden war der Abstand wieder größer geworden. »Sie fahren uns davon!« rief Tancred. »Der Scheinwerfer!« Ich gehorchte; das scharfe Strahlenbündel bohrte sich in die Nacht. Nun lag die dichte Nebelwand direkt vor uns, und wir hatten keine Chance mehr mitzukommen. Das Schiff schoß für einen Segelkutter in unglaublich schneller Fahrt dahin; wie ein großer Vogel sauste es in den Nebel und verschmolz mit ihm. Aber einen Augenblick lang hatte der Lichtkegel uns ein klares Bild von der kleinen Gruppe achtern gegeben. Die beiden Männer standen mit gekreuzten Armen da und beobachteten uns; der eine war in Ölzeug; der andere trug einen dunklen, flatternden Überwurf. Ich hatte sie sofort wiedererkannt: es waren Rein und Fahle. Das Tier, das nun auf Reins Schulter gesprungen war, erwies sich als eine schwarze Katze. Tancred legte das Ruder um, und das Boot fuhr im Bogen zurück. »Nun haben wir wenigstens gesehen, was wir sehen mußten«, sagte er. »Das war wahrhaftig ein gut arrangiertes Schauspiel; sowohl der Regisseur als auch die Auftretenden verdienen jedes Lob. Willst du das Ruder ein wenig übernehmen, Paul? Ich muß mir erst einmal eine Zigarette anstecken.« »Wie konnten sie uns nur so davonfahren?« fragte Monika. Ihr Gesicht war immer noch wie erstarrt vor Gemütsbewegung, und sie ließ mein Handgelenk nicht los. Tancred inhalierte tief. »Das Boot hat selbstverständlich einen kräftigen und ziemlich leise arbeitenden Dieselmotor, den sie in Gang setzten, als wir zu nahe kamen. Daß wir ihn nicht hörten, lag einfach daran, daß unsere kleine Mühle einen solchen -213
Höllenlärm machte. Und den Auspuffdunst hätten wir gesehen, wenn nicht Nebel auf dem Wasser gelegen hätte.« »Laß uns versuchen, den Motor abzustellen«, schlug Ebba vor. »Vielleicht können wir dann etwas hören.« Wir taten, wie sie sagte. Doch waren keine anderen Geräusche in der Nacht als das Brausen des Windes und der Wogen und das Heulen der fernen Boje. »Sie haben ihren Motor auc h abgestellt«, kommentierte Tancred trocken. »Nun brauchen sie ihn ja nicht mehr, und sie haben nicht die Absicht, von uns gehört zu werden... Nein, sehen wir, daß wir so schnell wie möglich an Land kommen; ich fange an, mich nach einem dampfenden Grog und einem warmen Bett zu sehnen. Karsten muß sich wohl dareinfinden, heute nacht noch Gäste aufzunehmen. Und dann mußt du uns deine Geschichte erzählen.« Als wir wieder zum Kaperhof hinaufkamen, hatte sich eine ansehnliche Schar Leute dort versammelt. Sie standen in einem ehrerbietigen Halbkreis um das brennende Haus. Keiner machte den Versuch, zu löschen; keiner hatte auch nur einen Wassereimer mitgebracht. Sie starrten nur wie hypnotisiert in das prasselnde Flammenmeer. »Es ist die alte Geschichte«, sagte Tancred. »Die Norweger sind eine Nation von Zuschauern. Obwohl das in diesem Falle seine besondere Ursache haben mag.« Ich berührte einen Mann an der Schulter. »Kann man denn nichts unternehmen, um diesen Brand zu löschen?« fragte ich. Der Mann wandte sich um; es war Pastor Flateland. In dieser Beleuchtung glich er mehr denn je einem grotesken Watvogel. Das fanatische Gesicht glühte vor Triumph. »Nein, Bruder, hier läßt sich wohl nichts machen«, sagte er -214
und glättete seine Stirnlocke mit einer mageren Hand. »Nichts konnte auch Sodom und Gomorra mehr retten, als der große Zorn über ihnen war. Dies ist die Strafe für das Spiel mit den bösen Mächten. Hier wird nie ein Sommerhotel stehen; so geht alles Blendwerk der Sünde in Rauch auf!« Ich führe hier nur kurz an, was an den folgenden Tagen geschah. Wir übernachteten bei Järn und bekamen schon am nächsten Morgen vom Lehnsmann Besuch, der uns gründlich ins Verhör nahm. Am frühen Vormittag rief ich Architekt Arstad an, um Arne von dem Geschehenen zu unterrichten. Arstad antwortete, daß Krag-Andersen ganz richtig bei ihm übernachtet habe, aber vor einer Stunde gegangen sei. Er würde ihm den Bescheid sofort ausrichten, wenn er wieder da sei. Die Nachricht von dem Brand und der Entführung der Kunstschätze des Kaperhofes verbreitete sich wie ein Steppenbrand; schon in den Nachmittagszeitungen wurde sie als Sensation aufgemacht. Im ganzen Lande wurde die Polizei alarmiert, und am folgenden Tage standen Reins und Fahles Steckbriefe - neben einer Beschreibung des Schiffes - in den Morgenausgaben. Wir wurden jetzt auch von einer Polizeikommission aus Kristiansand verhört und ersucht, bis auf weiteres in Heilandet wohnen zu bleiben, damit wir bei den Nachforschungen zur Verfügung stünden. Auch an diesem Tage tauchte Arne nicht auf. Neue Anrufe bei Architekt Arstad blieben ergebnislos. Krag-Andersen war nicht zurückgekehrt. Er schien vom Erdboden verschwunden zu sein. Am nächsten Morgen äußerten einzelne Zeitungen den Verdacht, daß der bekannte Geschäftsmann möglicherweise ermordet worden sei. Der Pfarrhof wurde selbstverständlich gründlich von der Polizei durchsucht, und wir nahmen an der Untersuchung teil. Wir konnten feststellen, daß Fahle nicht viel von seinem Eigentum mitgenommen hatte. Wo der Kupferstich von Jörgen Uhl gehangen hatte, war jetzt nur noch ein Fleck zu sehen. Aus -215
der alten okkulten Bibliothek waren fünfzehn bis zwanzig Bücher entfernt, und oben aus dem Bodenraum waren das Manuskript, das Ölzeug und ein Teil der kleineren Gegenstände verschwunden. Alles übrige ha tte er zurückgelassen. Am vierten Morgen nach der Brandnacht wurden wir zur Identifizierung einer Leiche hinzugezogen, die am Vorabend an der Küste angetrieben worden war. Der Tote wies am Hinterkopf die Spur eines kräftigen Schlages auf, der jedoch kaum tödlich gewesen war; die Todesursache war Ertrinken. Er trug Ölzeug, das der Fabrikmarke nach in Estlands Hauptstadt Tallin hergestellt worden war. Der Tote war Arne Krag-Andersen.
-216
VIERZEHNTES KAPITEL Zwei Hypothesen Als wir an jenem Nachmittag in Järns Stube um den Kaffeetisch saßen, fühlte ich mich ziemlich niedergeschlagen und elend. Diese letzte Katastrophe hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich erlebte meine eigene Gemeinheit in tausendfach vergrößertem Maßstab; da hatte ich meinen Freund hintergangen und ihm seine Freundin gestohlen - und dann war er plötzlich tot, wahrscheinlich ermordet! Nun hatte mein schlechtes Gewissen sich zu einem großen offenen Magengeschwür entwickelt. Dies ließ sich nie wieder gutmachen; das war fast so, als hätte ich ihn selbst getötet. Und Monika schien es ähnlich zu gehen; bleich und mit rotgeränderten Augen saß sie da und starrte vor sich hin. Tancred warf uns über die Kaffeetasse hinweg einen teilnahmsvollen Blick zu. »Ihr beide seht ja ungewöhnlich schuldbeladen aus«, bemerkte er. »Ich kann deine Selbstvorwürfe gut verstehen, Paul. Aber ehe du dir die Tragödie über den Kopf wachsen läßt, solltest du jedenfalls wissen, daß es Arnes Absicht war, dir in jener Nacht das Leben zu nehmen.« »Was sagst du da? Arnes Absicht war, mir -?« Ich fuhr halb vom Stuhle empor. »Ganz recht.« Tancred verzog nicht eine Miene. »Ich erzählte dir ja schon bei früherer Gelegenheit, daß Arne eine Othellonatur wäre. Und er stand dem, was zwischen dir und Monika vorging, durchaus nicht blind gegenüber. Er beschloß, dich zu opfern - etwa so, wie man den Läufer bei einem wilden Muzio-Gambit opfert. Dieses Spiel hier war womöglich noch wilder...« -217
»Ich glaube, es täte uns gut, jetzt eine reelle Aufklärung dieser faulen Geschichte zu bekommen«, warf Ebba ein. »Besonders täte es Paul und Monika gut. Das Leben gehört den Lebenden, nicht wahr? Mach nun mal etwas frischen Durchzug, Tancred, so daß wir alle Teufeleien auslüften. Du mußt ja den ganzen Zusammenhang kennen - denn du wußtest ja, was in jener Nacht auf dem Kaperhof geschehen würde!« Tancred nickte. »Und ich war mir auch darüber klar, wer hinter dem Ganzen stand und was seine Absicht war. Ich habe wohl keinen Grund mehr, mein Wissen geheimzuhalten. Er stellte die Kaffeetasse aus der Hand und lehnte sich faul zurück. Die energischen Augen bildeten einen wunderlichen Kontrast zu seinen trägen, blasierten Zügen. Ein großer Taugenichts und ein guter Schachspieler, dachte ich. Er fuhr fort: »All right - ich werde versuchen, die Einzelheiten dieses Falles darzulegen, der meines Wissens eine der frechsten und größtangelegten Schwindelaffären in unserer Kriminalgeschichte ist. Gewiß enthält meine Theorie noch einige Löcher, einzelne Vermutungen schweben vorläufig noch in der Luft, weil mir Unterlagen über gewisse Personen und Begebenheiten fehlen. Doch im ganzen gesehen hängt alles logisch zusammen. Diese Erklärung ist tatsächlich die einzig denkbare. Sehen wir erst, was uns der Fund von Arnes Leiche zu sagen hat. Nach Aussage des Polizeiarztes war er etwa drei Tage lang tot gewesen, also hat er sich in der Brandnacht nicht in Kristiansand aufgehalten. Ich weiß nicht, was dieser Architekt Arstad für ein Mann ist, jedenfalls war er ein Stein in Arnes Spiel. Arne brauchte für diese Nacht ein Alibi, und dafür sollte also Arstad sorgen, indem er erklärte, daß Krag-Andersen bei ihm übernachtet habe. Dann kommen wir zu dem Ölzeug, in das die Leiche gekleidet war; das konntest du ja identifizieren, Karsten; es war dasselbe Stück, das auf dem Pfarrhofsboden -218
geha ngen hatte. Was können wir daraus schließen? Ganz einfach, daß Fahle ihn mit dem Kostüm ausgerüstet hatte und daß Arne mit Fahle und Rein an dem nächtlichen Unternehmen teilgenommen hatte; er hat faktisch bei sich selbst eingebrochen. Arne war eine der Gestalten, die du durch die Spiegeltür hereinkommen sahst, Paul; ich möchte darauf tippen, daß er dich besinnungslos schlug. Und nachdem das Inventar an Bord gebracht und der Kaperhof in Brand gesteckt worden war, fuhr er mit dem Schiff ab. Doch dort draußen wurde er selbst von den anderen niedergeschlagen und über Bord geworfen. Indem ich mich ein wenig unter der Bevölkerung hier umhörte, konnte ich feststellen, daß Arne sich in der Zeit von April bis August des öfteren für längere Zeit auf dem Kaperhof aufgehalten hatte. Wenn er uns hatte glauben lassen, daß er auf einer Geschäftsreise sei, dann befand er sich in Wirklichkeit hier. Zu einem frühen Zeitpunkt schon muß er den geheimen Eingang unter der Brücke entdeckt haben. Wir können nämlich feststellen, daß er das ganze Drama inszeniert hatte. Nicht wahr, er war doch auch der erste, den wir verdächtigen wollten? Darüber war er sich schon selber klar, und als geriebener Pokerspieler brachte er es trotzdem fertig, uns zu bluffen. So gut wie jedesmal, wenn etwas geschah, hatte er sein Alibi in Ordnung. Dann saß er entweder in Oslo - vierhundert Kilometer vom Tatort - und nahm in Zeugengegenwart einen Telefonanruf von einem tief erschrockenen Verwalter entgegen oder er befand sich bei uns, so daß wir kontrollieren konnten, daß er jedenfalls seine Finger nicht im Spiel hatte. Wir aber, die wir Arnes dramatische Technik von früheren Gelegenheiten kennen, wir sollten wissen, daß er immer mit sorgfältig instruierten Mitspielern arbeitete. Denkt zum Beispiel an die Ep isode im Vorjahre, als die drei Herren vom Gerichtsvollzieheramt in seine Gesellschaft hineinplatzten, um die Wohnung zu versiegeln. Und auch dieses Mal hatte er solche Statisten; wir dürfen davon ausgehen, daß Rein immer die -219
anspruchsvolle Rolle des Widergängers - mit einer dazu geeigneten schwarzen Katze - spielte. Versuchen wir einmal, uns die einzelnen Spukphänomene auf dem Kaperhof zu erklären - welche tiefere Absicht sich hinter diesem Schauspiel verbarg, werden wir später untersuchen. Zunächst haben wir die drei ›Erlebnisse‹, von denen Arne Paul und Monika am Tage vor der Abreise erzählte. Zwei von diesen Geschichten sind zweifellos frei erfunden, um Eindruck auf die Zuhörer zu machen und einen fruchtbaren Nährboden für ihre späteren Erlebnisse zu schaffen. Ich habe selbst festgestellt, daß der Glasermeister in Lillesund nicht existiert. Die Episode mit dem Watteau-Bild und den zerstörten Gegenständen in der Stube hat Arne für seine Haushälterin inszeniert - und damit für den gesamten Bezirk. Es ist ein Zug in Arnes Spiel, daß Paul den Verwalterposten auf dem Kaperhof übernehmen soll; also muß Ludvigsen fortgegrault werden. Dies läßt sich ohne Schwierigkeiten mit Hilfe Reins und der schwarzen Katze ordnen, indem der geheime Gang eingeweiht wird. Worauf Arne mit Paul und Monika nach Heilandet fährt, damit diese Augenzeugen ganz bestimmter Dinge werden sollen. So kommen wir zum Hundemord. Während Marie allein im Hause ist, soll sie einer ähnlichen Schockbehandlung wie Ludvigsen ausgesetzt werden: schwarze Katze am Fenster usw. Rein war aus diesem Anlaß mit der Katze in das gelbe Zimmer gegangen, er wird jedoch von dem Hund überrascht und tötet ihn. Die Wirkung entspricht den Erwartungen: Marie verläßt den Hof und verbreitet eine neue Angstwelle über Heilandet. Während des Besuchs auf dem Pfarrhof haben Arne und Fahle in einem unbewachten Augenblick das ›Kommodenexperiment‹ verabredet; diese Szene soll für Paul und Monika aufgerührt werden, während Arne bei ihnen sitzt, also ein unantastbares Alibi hat. Ihm ist es nur recht, daß sich die Zahl der Augenzeugen erhöht, indem auch Ebba und ich auftauchten. -220
Und das Schauspiel wird fortgesetzt: Arne richtet es so ein, daß wir Männer der Reihe nach allein im gelben Zimmer übernachten. Neben seiner rationalen Absicht spielte hier auch sein Hang zur Mystifikation eine Rolle. Nach seiner eigenen Übernachtung simuliert er sehr raffiniert, daß er etwas erlebt habe, aber nicht mit der Sprache herauswolle. Als dann Karsten an der Reihe ist, mischt Arne ihm ein Schlafmittel ins Getränk. Den Rest im Glase konnte ich unbemerkt in eine kleine Flasche gießen, die ich einem Chemiker in Kristiansand schickte; die Analyse ergab Veronal. Karsten schläft also die ganze Nacht wie ein Stein und wacht nicht auf, als Arne die Fußspuren um das Pentakel arrangiert. Arne hat ja aus Karstens eigenem Munde gehört, wie ein solches Pentakel ›wirkt‹, und es amüsiert den Pokerspieler, dem Okkultisten in seinen Theorien recht zu geben. In der dritten Nacht, als ich in Korps Zimmer übernachte, mischt sich jedoch ein Unbefugter ein. Arne hat für diese Nacht nichts ›Übernatürliches‹ inszeniert, und als er hört, daß ich trotzdem Besuch hatte - oder fast bekommen hätte -, ist ihm klar, daß ein Außenstehender versucht hat, einzudringen; wahrscheinlich errie t er gleich, daß es der halbverrückte Dörum war. Das paßt ausgezeichnet in Arnes Spiel; er will ja, daß es so aussieht, als ob ihn jemand vom Hof schrecken wolle, und nun kann er den Verdacht auf eine ganz bestimmte, konkrete Person lenken. Nachdem der Geheimgang gefunden wurde, richtet er es so ein, daß die ganze Gesellschaft - dazu der Lehnsmann - in dem gelben Zimmer Wache hält, worauf Dörum denn auch geschnappt wird. Der arme Schwachkopf hat sicherlich kein anderes Motiv für diesen Besuch gehabt, als daß er sein ›Papier‹ wiederhaben wollte. Als der Lehnsmann ihn abführen will, tritt Arne mit einem Male als sehr beredter Verteidiger auf und besteht darauf, daß er laufen gelassen wird. Ein listiger Schachzug: wenn Dörum weiter auf freiem Fuße ist, wird er kaum ein Alibi haben, wenn der letzte Akt des Dramas gespielt -221
wird; dann wird es sehr naheliegend sein, ihn der Brandstiftung zu verdächtigen.« Tancred machte eine Atempause und schenkte sich Kaffee nach. »Der Zusammenhang fängt an, mir langsam zu dämmern«, warf ich ein. »Aber ich bin mir immer noch nicht ganz klar, welches Motiv Arne hatte, diesen ganzen Apparat in Gang zu setzen.« »Gerade du solltest imstande sein, diese Frage zu beantworten, Paul; du hast ja genügend Material in der Hand gehabt. Entsinns t du dich der amerikanischen Zeitung, die ich dir zeigte - New York Gazette vom 29. März? Darin lautete eine der Überschriften: ›President Cardenas seizes all foreign oil investments in his country. ‹ Und später zeigte ich dir ein Telegramm folgenden Inhalt s: ›Vermutung nicht unbegründet. Prekäre Situation nach Revolution in Mexiko. Vermute neunzig Prozent verloren.‹ Sollte es so schwierig sein, hier zwei und zwei zusammenzulegen? Ein gebildeter und zeitungslesender Mensch weiß selbstverständlich, daß Cardenas Präsident von Mexiko ist. Als Direktor der ›Mexican Oil Ltd.‹ hat Arne ungefähr sein ganzes Kapital in mexikanischem Öl investiert. Doch gegen Ende März unternahm also Cardenas einen brutalen und unerwarteten Vorstoß gegen die ausländischen Spekulanten; er beschlagnahmte einfach alles ausländische Ölkapital in Mexiko ohne die geringste Entschädigung. Dies ist ein furchtbarer Schlag für Arne, der damit etwa neunzig Prozent seines Vermögens verliert. Dies wurde mir telegrafisch von einem Osloer Makler bestätigt, der gut über Arnes Vermögensverhältnisse informiert ist. Unser Freund steht plötzlich völlig ohne liquide Mittel da; ein Konkurs liegt drohend in der Luft. Aber er besitzt immerhin noch den Kaperhof mit seinen wertvollen Kunstschätzen. Zu diesem Zeitpunkt kommt er mit Fahle in Verbindung. Dieser Mann ist Norwegischamerikaner und hat sich gerade auf -222
Heilandet niedergelassen, angeblich, um kulturhistorische Studien zu betreiben. Doch dürfen wir annehmen, daß ihn die Schätze des Kaperhofs hergelockt haben: in der New York Gazette hat er die Meldung über dieses Haus gelesen, über die Kapersage und über den norwegischen Geschäftsmann, der ›the haunted house‹ gekauft hat, um es in ein modernes Sommerhotel umzuwandeln. Er sieht Möglichkeiten für einen großen Schlag, reist sofort hierher und läßt sich auf dem Pfarrhof nieder. Mit hervorragendem Schauspielertalent übernimmt er die Rolle des exzentrischen Forschers und Folkloristen. Arne und Fahle haben miteinander Fühlung genommen und sich bald richtig als Mitglieder der heimlichen Bruderschaft der Gauner erkannt. Sie entwerfen einen kühnen Plan. Er setzt voraus, daß sie sich ein altes Fahrzeug von der Größe einer kleinen Jacht anschaffen, ein Schiff, das so umgebaut wird, daß es als die ›Krebs‹ in Erscheinung treten kann. Ich nehme an, daß Fahle das geordnet hat. Wo das Schiff beschafft und wo es umgebaut wurde, wissen wir vorläufig nicht, aber das wird kaum hier im Land geschehen sein. In der Zeit vor dem Coup lag es irgendwo in den Schären versteckt gut getarnt in irgendeiner schmalen Bucht.« »Ich glaube, ich kann sagen, welche Insel es als Basis gehabt hat«, unterbrach ich. Und ich erzählte, was Monika und ich draußen, in der Hütte erlebt hatten. »Mir fiel besonders auf, daß sich auf dieser Insel viele Verstecke für ein Boot befanden«, fügte ich hinzu. »Verdammt noch mal, daß du mir diese Beobachtung nicht früher mitgeteilt hast; dann hätten wir dort eine Razzia durchführen können.« Tancred blickte mich tadelnd an. »Na ja, also weiter. Fahle sorgte auch dafür, daß das Boot bemannt wurde, und durch Rein stand er mit der Besatzung ständig in Verbindung. Wo Fahle diese Leute hergeholt hat, wissen wir nicht; dies ist eines der fehlenden Glieder in unserer Kette; aber das spielt für die Theorie als Ganzes keine Rolle. -223
Wahrscheinlich handelt es sich um eine amerikanische Gangsterbande, die unter Fahles Führung steht und auf einen Bescheid von ihm nach Norwegen gekommen war. Wie wir wissen, ist die Bevölkerung hier in Heilandet ziemlich abergläubisch; und die Episode mit dem estnischen Schiff hat der alten Kapersage neue Nahrung gegeben. Diese psychologische Tatsache also wollten Arne und Fahle ausnützen. In der Sage heißt es ja, wie wir uns erinnern, daß im Falle einer wesentlichen Veränderung im Kaperhof Jonas Korp mit der ‹Krebs¤ zurückkehren und fürchterliche Rache nehmen werde. Diese ‹wesentliche Veränderung¤ hatte Arne schon vor seinem wirtschaftlichen Fiasko und seiner Begegnung mit Fahle ernstlich geplant; es war seine Absicht, hier ein Hotel einzurichten. Aber nun erhält dieses Projekt eine neue, psychologische Bedeutung: nun legt er es darauf an, die Bevölkerung herauszufordern, indem er der alten Bestimmung trotzt. Dann läßt er es spuken, und es wird dafür gesorgt, daß die Bevölkerung ihre Augenzeugen hat - Ludvigsen und die Haushälterin-; so wird ihr Glaube an die Kapersage bestärkt. Auch wir sollen nun einige unheimliche Phänomene erleben; wir sollen nämlich später bestätigen, daß man versucht hat, Arne aus dem Haus zu vertreiben. Inzwischen wird Flateland - ohne es zu wissen - ein Statist in Arnes Drama. Der Sektierer sieht ja in dem geplanten Hotel eine moralische Gefahr für Heilandet; er bearbeitet seine Gemeinde im Bethaus und bringt sie immer mehr gegen Krag-Andersen auf; er redet den leichtgläubigen Menschen ein, daß ‹Satansmächte¤ den ganzen Bezirk bedrohen. Und wir sind Zeugen, wie Dörum und Flateland Arne mit Drohungen kommen. Alles geht planmäßig. Dann brennt eines Nachts der Kaperhof nieder, und die Bevölkerung ist überzeugt, daß dies ‹Jonas Korps Rache¤ ist; außerdem wurde die ‹Krebs¤ vor der Küste gesichtet. Niemand unternimmt etwas, um den Brand zu löschen; hier wagen sie nicht, sich einzumischen, denn -224-
dies ist ja ‹die Strafe für das Spiel mit den bösen Mächten.¤ Wie euch wohl schon längst klargeworden ist, lief der Plan auf einen Versicherungsschwindel hinaus. Arne wollte seine Pleite damit wettmachen, daß er den Wert des KaperhofInventars verdoppelte. Alle wertvollen Einrichtungsgegenstände sollten per Schiff weggeschafft werden, worauf nur noch der Hof niedergebrannt und die Versicherungssumme abgehoben zu werden brauchte. Vor einigen Tagen rief ich einen Versicherungsmann in Oslo an und bat ihn, zu untersuchen, wie groß die Summe sei. Ich bat ihn, mir so zu telegrafieren, daß kein Unbefugter verstehen könne, worum es sich handelte; ich lief ja Gefahr, daß mein Telegramm Arne ausgehändigt würde; dergleichen nimmt man hier auf dem Lande nicht so genau. Meine Frage war: ‹Für wieviel Millionen ist der Kaperhof versichert?¤ Und die telegrafische Antwort lautete: ‹Anderthalb.¤ Das erklärt, weshalb ein so großer Apparat in Gang gesetzt wurde; wenn es sich um eine solche Summe handelt, entfaltet man gern ein wenig Energie. Für den Fall, daß das Schiff also beobachtet werden sollte, war es als ‹Krebs¤ maskiert. Hier taucht die Frage auf: war es nicht etwas naiv anzunehmen, eine Versicherungsgesellschaft würde an Gespenster glauben? Versicherungsleute sind nüchterne Menschen und würden kaum die Erklärung hinnehmen, ein fliegender Holländer habe das Haus in Brand gesteckt. Nein, gewiß nicht - aber der Plan lief auf ein raffiniertes psychologisches Doppelspiel hinaus. Punkt A: Die Bevölkerung sollte glauben, der Kaperkapitän sei zurückgekommen, um seine Rache zu vollbringen. Und wenn irgendein Fischer zufällig das Schiff sehen sollte, würde er natürlich darauf schwören, daß es die ‹Krebs¤ sei; seine Zeugenaussage ließe sich leicht als Halluzination ablehnen. Der Lehnsmann würde gutachtlich aussagen, daß die Eingeborenen hier überspannt und ‹spökenkiekerisch¤ seien; natürlich würden sie bei einer solchen Gelegenheit derartiges ‹sehen¤. Der -225-
Kaperhof ist ja von Sagen und Aberglauben umsponnen. Es ist, wie wenn die Seeschlange unmittelbar vor einer Naturkatastrophe gesehen wird; die Wissenschaft kann das Phänomen leider nicht anerkennen. Punkt B: Die Versicherungsgesellschaft sollte überzeugt werden, daß der Brand von der Bevölkerung angelegt worden sei. Und hier wären unsere Zeugenaussagen schwer ins Gewicht gefallen. Zunächst wäre Grund, Dörum zu verdächtigen; wir könnten bezeugen, daß er die Rolle des Gespenstes gespielt hat, um Arne wegzuekeln. Dies mißlang, und so besteht aller Grund zu der Annahme, daß er das Haus aus Rache abgebrannt hat, weil er keine Möglichkeit mehr sah, wieder in seinen Besitz zu kommen. Doch selbst, wenn es nicht gelingen sollte, die Schuld auf Dörum abzuwälzen, ließen sich genug Indizien dafür finden, daß einer der anderen Bewohner der Gegend der Brandstifter war. Wir konnten bezeugen, daß Arne von Flateland bedroht worden ist. Entweder dieser selbst oder einer seiner fanatischen Anhänger könnte als Pyromane aufgetreten sein, um das ‹Verhängnis¤ abzuwehren. Das Motiv war klar: der Prediger hätte alles getan, um Arnes Hotelpläne zunichte zu machen. Selbstverständlich war nicht beabsichtigt, daß wir beim letzten Akt zugegen sein sollten - Paul ausgenommen. Folglich sorgte unser Gastgeber dafür, eine Art Aufbruchstimmung zu schaffen, nachdem der Fall ‹aufgeklärt¤ war. Ich wußte ja, was bevorstand, aber ich wollte Arne nicht merken lassen, daß ich ihn durchschaut hatte. Übrigens hatte ich keine Beweise; er mußte im Augenblick der Tat beobachtet werden - oder am besten etwas früher. Deshalb unternahm ich das Scheinmanöver: ich tat, als glaubte ich an deine Dörumtheorie, Ebba, und dann reisten wir also mach Hause«. Leider kamen wir etwas zu spät zurück; das war mein Fehler; ich wußte nicht, daß es so lange dauerte, mit Pferd und Wagen von Lillesund hier heraus zu fahren. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich dich nicht gewarnt hatte, Paul; ich hätte dich bereden sollen, die Nacht bei Karsten -226-
zu verbringen. Aber ich hoffte, rechtzeitig da zu sein. Ursprünglich war es nicht Arnes Absicht, daß du in der kritischen Nacht auf dem Kaperhof zurückbleiben solltest. Er hätte dich unter irgendeinem Vorwand weggeschickt - und später hättest du dann als Zeuge figuriert. Doch nachdem er entdeckt hatte, was zwischen Monika und dir vor sich ging - wir dürfen davon ausgehen, daß Rein ihn auf die Spur gebracht hatte; er sah euch ja in einer intimen Situation draußen in der Hütte -, in diesem Augenblick erwachte der Mörder in Arne. Seine Absicht war, dich mit draufgehen zu lassen; deine verkohlte Leiche sollte auf dem Brandgrundstück gefunden werden, und er hätte vermutlich eine große Nummer daraus gemacht, daß sein bester Freund einem desperaten Pyromanen zum Opfer gefallen ist. Er selbst hatte sich ja ein Alibi geschaffen. Dem Plane nach sollten die Sachen mit dem Schiff nach einem vereinbarten Ort an der Küste geschafft werden, worauf Arne zu seiner Basis in Kristiansand zurückkehren und das weitere abwarten wollte. Fahle sollte angeblich mit Lizzie nach einem Sanatorium gereist sein; sie packte ja die Koffer an jenem Nachmittag, als Järn sie entführte. Es spricht wirklich zu deinen Gunsten, Karsten, daß du sie vor dieser ‹Nervenkur¤ rettetest. Fahles Absicht war es zweifellos, sie mit an Bord zu nehmen und sie ihre Heimat nie wieder sehen zu lassen; sein Plan wich nämlich um einiges von dem Arnes ab. Wir kennen den Rest der Geschichte: während der Ausreise wurde Arne von seinen eigenen Komplizen getötet. Sie wollten sich nicht mit einem Teil der Versicherungssumme abspeisen lassen, sondern zogen es vor, mit der ganzen reichen Beute zu verschwinden. Trotz allem war Arne ein Anfänger auf der Bahn des Verbrechens; mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet! So hängt es also zusammen. Ich weiß nicht, ob dem noch etwas hinzuzufügen ist. Ich glaube, wir können sagen, daß die -227-
Welt um ein okkultes Mysterium ärmer geworden ist.« »Wie kam Arne eigentlich in der letzten Zeit mit Fahle in Verbindung«, fragte ich. »Er war doch fast ununterbrochen mit uns zusammen.« »Du vergißt seine Fahrten nach Lillesund. Dort hatten sie ihren festen Treffpunkt; ich habe mich vergewissern können, daß sie dort verschiedentlich miteinander gesehen worden sind. Daß eine heimliche Verbindung zwischen den beiden bestand, geht auch aus der Art und Weise hervor, in der Arne über Fahle sprach. Immer versuchte er, die exzentrischen Seiten des Mannes zu decken; nach der Affäre mit Lizzie stellte er sie als hysterisch hin. Er wollte verhindern, daß Ebba sich in Fahles Privatleben mischte, und nach ihrem Besuch auf dem Pfarrhof versuchte er, sie lächerlich zu machen und die Geschichte zu bagatellisieren. Er wollte nicht, daß wir seinem Kompagnon allzuviel Aufmerksamkeit widmeten. Außer einem durchtriebenen Schurken war Fahle auch ein Erotomane...« Es entstand eine kurze Pause. Järn hatte lange mit einer Miene dagesessen, als koste es ihn die größte Überwindung, diesen Ausführungen zuzuhören. Als er feststellte, daß Tancred nichts mehr zu sagen hatte, kam wieder Leben in ihn; mit einer kampflustigen Bewegung ließ er ein Stück Zucker in die Kaffeetasse fallen. »Das war also deine Theorie«, sagte er. »Ich räume ein, daß du in einigen Punkten gute Beobachtungen gemacht hast, Tancred, aber die Theorie ist unvollständig. Über eine Reihe von Tatsachen bist du leicht und elegant hinweggegangen, weil sie nicht in dieses Bild passen. Ich habe eine andere Erklärung, die wohl weniger ‹natürlich¤ ist, dafür aber besser mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Ich zweifle nicht daran, daß deine Darstellung teilweise richtig ist - also hinsichtlich der Rolle, die Arne gespielt hat. Es war zweifellos seine Absicht, dieses Schauspiel zu arrangieren, -228-
um einen Versicherungsschwindel vorzubereiten. Es stimmt auch wohl, daß er mit Fahle in Verbindung getreten ist, der ihm Schiff und Mannschaft verschafft hat, und es ist wohl eine Tatsache, daß Arne von seinen Mithelfern getötet wurde, nachdem der Coup durchgeführt war. Soweit kann ich mit dir einig sein. Aber damit ist das Problem ja gar nicht gelöst. Ich möchte deine Aufmerksamkeit auf das lenken, was du als Löcher in deiner Theorie bezeichnest und was du nun mit einem losen Kitt von Vermutungen abzudichten versuchst. Du vermutest, daß dieses Schiff irgendwo im Ausland beschafft und umgebaut worden ist; du vermutest, daß die Mannschaft eine amerikanische Gangsterbande unter Fahles Leitung gewesen sei. Es ist eigentlich bewundernswert, wie du solche Banden aus der Luft zauberst: eine ‹Bande¤ hatte ja auch auf der ‹Tallin¤ gemeutert, nicht wahr? Gib zu, Tancred, daß dies ziemlich lose zusammenhängt; vor allem hast du auch nicht den geringsten Versuch gemacht, zu erklären, wer Fahle und Rein eigentlich sind. Ich werde diese Löcher für dich ausfüllen. Nehmen wir uns erst einmal Fahle vor. Was kennzeichnet ihn? Er ist ehemaliger Theologe, und sein Hauptinteresse ist das Studium des Satanismus - ja, das ist nicht allein sein Interesse, das ist die Luft, in der er lebt und atmet. Auf diesem Gebiet verfügt er über einzigartige Kenntnisse. Übrigens macht er den Eindruck eines weitgereisten und erfahrenen Weltmannes von außerordentlich sicherem Auftreten. Und er hat eine seltsam zwingende Macht über Frauen; selbst eine so nüchterne Frau wie Ebba wäre fast von ihm hypnotisiert worden. Aber haben wir nicht von einer anderen Person gehört, auf die diese Beschreibung paßt: ein weitgereister und weltkluger Mann, der auch Theologe war, der auch im schwarzen Kultus lebte und atmete, der auch Erotomane war und eine enorme Macht über Frauen hatte? Ein Mensch, von dem gerade Fahle uns eine so lebendige Schilderung gegeben hat, ein Wesen, das er so gut, so intim kannte, wie man sonst nur sich selbst kennt? -229-
Wir waren im Zweifel, wie alt Fahle sein könnte; sein Alter war undefinierbar. Aber als Ebba mit ihm allein im Keller war, als er sich in das rote Meßgewand gehüllt hatte und über sie gebeugt stand, da hatte sie plötzlich den Eindruck, daß seine Züge uralt und mumienhaft waren. Und Fahle ist tatsächlich auch älter als wir alle fünf zusammen. Er ist nämlich identisch mit Jörgen Uhl. Nur indem wir dies einsehen, können wir die Löcher in deiner Theorie ausfüllen, Tancred: dies erklärt all die ‹exzentrischen¤ Seiten Fahles, es erklärt die undefinierbare Angst, die wir ihm gegenüber immer gefühlt hatten, und es erklärt, wieso sich das Ölzeug und der Rettungsring von der ‹Tallin¤ in der Andenkensammlung des Pfarrhofs befanden. Als zweiter Mann an Bord der ‹Krebs¤ hatte er selbst das estnische Schiff mit gekapert. Für mich ist es auch einleuchtend, daß Rein und Jonas Korp ein und dieselbe Person sind. Arnes Plan lief also darauf hinaus, alles wertvolle Inventar aus dem Hause zu entfernen und einen Versicherungsschwindel durchzuführen. Aber damit verging er sich gegen die alte Bestimmung, daß nichts aus dem Kaperhof entfernt werden dürfte; er lieferte sich damit jenen gefährlichen Kräften aus, vor denen ich ihn die ganze Zeit gewarnt hatte. Er brauchte Mithelfer zu diesem Unternehmen. Doch die Ironie des Schicksals wollte, daß er sich gerade mit den Männern verbündete, die gekommen waren, seine Pläne zunichte zu machen, und er wurde faktisch ein Opfer der Rache Jonas Korps. Der Kaperkapitän holte sein Eigentum in jener Nacht, und das Schiff, das ihr verfolgtet, war wirklich die ‹Krebs¤. Die Welt ist nicht um ein okkultes Mysterium ärmer geworden - im Gegenteil. Diese Theorie klingt vielleicht verrückt. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, daß du sie nicht widerlegen kannst, Tancred; sie deckt sich nämlich mit allen Tatsachen. Das tut dagegen deine Hypothese nicht. Drei Fragen wirst du kaum -230-
beantworten können. Erstens: Wie willst du die Tatsache erklären, auf die ich euch schon früher aufmerksam gemacht habe: die Ähnlichkeit zwischen Fahles Händen und den Händen auf dem Kupferstich? Zweitens: Weshalb nahm Fahle gerade diesen Stich mit, einen Haufen alter Bücher über Magie und eine Auswahl von Andenken aus dem Bodenraum? Drittens: Weshalb hatte das Pferd panische Angst vor Rein? Ich erinnere daran, daß Fahle vor dem Stall stand, als das Tier zum zweiten Male wild wurde.« Järn schlug ein Bein über das andere und wippte herausfordernd mit der Schuhspitze. Seine Miene sagte: Jetzt habe ich dich festgenagelt! Tancred lächelte ein wenig müde. »Ich muß dich damit enttäuschen, daß ich darauf antworten kann«, sagte er. »Was die geheimnisvolle Ähnlichkeit betrifft, so ist sie einfach auf deine eigene Phantasie zurückzuführen, Karsten; keiner von uns anderen hat sie festgestellt. Den Kupferstich und die Bücher hat Fahle mitgenommen, weil sie sehr wertvoll und leicht zu transportieren waren; der Stich war ja ein kleines Meisterwerk, und die Bücher waren seltene, alte Kleinodien. Die Sachen auf dem Boden wurden mitgenommen, weil man sie an Bord des Schiffes brauchte, und das Ölzeug wurde bei der Aktion selbst benutzt. Was das Pferd betrifft...« Tancred zögerte ein wenig, als ob er nicht recht weiter wüßte. Aber Ebba kam ihm gleich zu Hilfe. »Laß mich das erklären«, sagte sie eifrig. »Dies gehört zur Psychologie, und da bin ich zu Hause. Es war ganz sicher Dörums Nähe, die das Pferd das letzte Mal unruhig machte; es ist eine Tatsache, daß er das Tier früher mißhandelt hatte. Dörum geht, wie wir wissen, immer in Ölzeug - selbst wenn strahlender Sonnenschein herrscht. Man braucht nicht viel von Tierpsychologie zu wissen, um zu verstehen, daß dieses Pferd vor allen Männern in Ölzeug Angst haben mußte; es verband diese Kleidung mit dem Erlebnis der Grausamkeit. Daß Tiere und Kinder so reagieren, ist durch zahllose Experimente -231-
erwiesen; es handelt sich um das Phänomen, das man als ‹bedingte Reflexe¤ bezeichnet. Auf einen bedingten Reflex war es zurückzuführen, daß das Tier bei Reins Anblick scheute, d. h. nicht der Mann selbst erschreckte das Tier, sondern das Ölzeug, das er anhatte.« »Bravo!« rief Tancred aus. »Das war dein letzter okkulter Strohhalm, Karsten; du bist genötigt, dich damit abzufinden, daß die Geschichte eine natürliche Erklärung hat.« »Aber meine Version ist immer noch nicht widerlegt«, erklärte Järn. »Und meine Erklärung ist die lückenloseste. Ich ziehe es vor, meine zu glauben.« »Und wir unsere«, sagte Ebba. »Es ist sonnenklar, daß Tancreds Theorie bestätigt werden wird, sobald die Polizei Fahle und Rein hochnimmt. Aber reden wir jetzt von etwas Netterem.« »Ja, tun wir das«, stimmte Monika zu. »Was gedenkt ihr, Paul und mir zur Hochzeit zu schenken?« In gewissem Sinne behielt Järn den letzten Trumpf. Fahle und Rein wurden nie gefunden, und niemand hat seither das Schiff gesehen, mit dem sie verschwanden. Ihre Steckbriefe wurden der Polizei der meisten europäischen und überseeischen Länder zugestellt, doch nirgends ließen sie sich in den Karteien identifizieren. Jetzt ist die Sache längst eingeschlafen. Tancred und Järn halten heute noch jeder an seiner Lösung des Problems fest. Ich hatte oft gedacht, daß es Spaß machen müßte, einen Kriminalroman zu schreiben, worin man eine Vielfalt von Fäden so ausspinnt, daß sie schließlich ein ganz unauflösbares Gewirr bilden, und worin man die unerklärlichsten Dinge geschehen läßt - so daß der Leser sich fragen würde: wie in aller Welt wird der Verfasser es fertigbringen, dies aufzulösen? Das Buch sollte mit folgendem Satz schließen: Der Fall wurde nie aufgeklärt. -232-
Selbstverständlich müßte man dann für ein Jahr wegen der vielen wütenden und rachgierigen Leser verschwinden, aber es wäre trotzdem der Mühe wert. Ich stelle fest, daß meine Aufzeichnungen über die Ereignisse auf dem Kaperhof vor neun Jahren ein solches Buch geworden sind.
-233-